März 2012 – Nr
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hamis -C so n - o P v - r t e r i s e 2 b l 0 e 1 d 2 A *** März 2012 – Nr. 7 :: Die neuen Preisträger: Michael Stavaricˇ, Akos Doma und Ilir Ferra :: LesArt.Festival Dortmund Inhalt :: 3 4 Verschwimmende Grenzen, unauslotbare Tiefen Liebe Leserinnen und Leser, Michael Stavaricˇ und seine immer wieder mit der siebten Ausgabe des »Chamisso« möchten überraschenden Texte wir Ihnen mit den aktuellen Förderpreisträgern Akos Von Beate Tröger Doma und Ilir Ferra zwei neue Mitglieder der Chamisso- Familie vorstellen. Die Porträts beider Autoren laden Sie auf eine Reise durch Ungarn und Albanien, nach Wien und Eichstätt ein. Ebenfalls nach Wien und ins tschechische Brünn entführt sie das Porträt unseres 10 Mit großem Beharrungsvermögen neuen Hauptpreisträgers Michael Stavaricˇ, vielen von Wie Akos Doma doch noch zu einem Ihnen als ehemaliger Förderpreisträger bekannt. Schriftsteller wurde Stavaricˇ ist in den letzten Jahren zu einem wichtigen Von Bisera Suljic´-Bosˇkailo Vertreter deutschsprachiger Gegenwartsliteratur ge- worden. Stavaricˇ’ ebenso liebe- wie humorvoll gezeich- netes Porträt seines 2011 verstorbenen Mentors und Trägers der Chamisso-Ehrengabe Jirˇí Grusˇa möchte ich Ihnen besonders zur Lektüre empfehlen. 14 »Beim Schreiben die Macht Dass sich Michael Stavaricˇ vom Förder- zum Haupt- ablegen« preisträger entwickelt hat, bestätigt sein hohes schrift- Ilir Ferra und sein Debütroman Rauchschatten stellerisches Potenzial und bestärkt uns in dem Vor- Von Helmut Neundlinger haben, die Förderung der Autoren konsequent weiter- zuführen. Die Robert Bosch Stiftung hat den Adelbert- 18 Adelbert-von-Chamisso-Preisträger von-Chamisso-Preis vor 27 Jahren ins Leben gerufen, im Deutschen Literaturarchiv um zu zeigen, dass Literatur eine Brücke zwischen den Eine Recherche in Mappen und Ordnern, Kulturen schlagen kann. Der Preis, der deutsch schrei- Kästen und Regalen bende Autoren nicht deutscher Muttersprache aus- Von Irene Ferchl zeichnet, hat sich seitdem fest unter den bedeutenden Literaturpreisen des deutschsprachigen Raumes eta- 21 Beziehungsgeschichte(n) bliert. Wir beschränken unseren Preis bewusst nicht auf Das LesArt.Festival Dortmund und der Preisgeld und Festveranstaltung, sondern unterstützen Adelbert-von-Chamisso-Preis die Preisträger kontinuierlich durch Arbeitsstipendien, Von Klauspeter Sachau eine Förderung ihrer Lesungen und von Festivals. Ein Beispiel ist die Beteiligung von Chamisso- 26 Erinnerungen Autoren am LesArt.Festival in Dortmund, das sich als Jirˇí Grusˇa – Impulse für das Leben, die Politik, eines der wichtigsten Literaturereignisse etabliert hat. Ironie und Literatur Vor allem Kinder und Jugendliche entwickeln hier lite- Von Michael Stavaricˇ rarische Begeisterung – im Ruhrgebiet, wo Fußball und Literatur kein Widerspruch sind. 30 Neue Bücher von Adelbert-von- Und Sie können nachlesen, was im Deutschen Lite- Chamisso-Preisträgern raturarchiv in Marbach über die Vorgeschichte des Buchvorstellungen von Klaus Hübner und Preises zu entdecken ist: wie die ehemals sogenannte Lerke von Saalfeld »Migrantenliteratur« zu einem selbstverständlichen Teil deutschsprachiger Gegenwartsliteratur wurde. 33 Neuigkeiten Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen mit der neuen Auszeichnungen, Termine, Neuerscheinungen Ausgabe des »Chamisso« und hoffe, dass Sie Lust be- kommen auf die Werke unserer Preisträger. 35 Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter Impressum Ihr Olaf Hahn Adelbert-von-Chamisso-Preisträger 2012 :: 5 Verschwimmende Grenzen, unauslotbare Tiefen Michael Stavaricˇ und seine immer wieder überraschenden Texte Von Beate Tröger »Zur Welt kommen, von irgendwoher. Angeblich Sprache Romane, Kinderbücher und Kritiken und gibt es mehr Sterne als Sandkörner am Meer, aber spä- übersetzt aus seiner Muttersprache Tschechisch ins ter wird man erwachsen, glaubt, alles sei endlich, bis Deutsche. es selbst für diese Kenntnis nicht mehr reicht. Ich war Für den damals Siebenjährigen müssen die Aus- bis zu meinem siebten Lebensjahr Kind, später dann reise und die plötzliche Konfrontation mit einer ihm nicht mehr.« unbekannten Sprachumgebung einen drastischen Der schmale Band, Nkaah. Experimente am leben- Bruch bedeutet haben. In der eingangs zitierten Pas- den Objekt, dem das Zitat entnommen ist, erschien im sage von Nkaah heißt es: »Ich war bis zu meinem sieb- Jahr 2008 bei kookbooks. Diese Sammlung von Prosa- ten Lebensjahr Kind, später dann nicht mehr.« Den- miniaturen in sieben Kapiteln zählt zu den bislang noch griffe eine biografische Lesart zu kurz. Nkaah fin- wenig zur Kenntnis genommenen Büchern von Michael det Worte dafür, wie vielschichtig sich (sprachliche) Stavaricˇ. Als Schutzwesen, Freund, womöglich sogar Fremdheitserfahrungen gestalten, wie der abrupte Alter Ego des Ich-Erzählers begleitet Nkaah mit seinen Abschied von der vertrauten Sprachumgebung und die mythischen und modernen Seiten ihn in seinen Träu- Konfrontation mit einem fremden Sprachsystem Ge- men und auf abenteuerlichen Reisen. Man kann den fühle von Ortlosigkeit und Alleinsein auslösen können, surreal-lyrischen Band probehalber lesen als poetolo- aber auch – gleich einem Pendelschlag in die Gegen- gischen Schlüsseltext des 1972 im ehemals tschecho- richtung – die Sehnsucht befördern, sich diese neue slowakischen Brno geborenen Autors, der 1979 mit Sprache anzueignen. Ihr nähert sich der Ich-Erzähler seinen Eltern und der jüngeren Schwester zu einer ge- mit Pioniergeist, er tut das auch über seine Lektüren, tarnten Ferienreise nach Jugoslawien aufbrach. Die Geschichten und Geschichte. In Nkaah spielen nicht Familie kehrte nicht nach Brno zurück, wanderte statt- nur fiktive Figuren wie Captain Ahab aus Herman dessen nach Österreich aus. Michael Stavaricˇ wuchs in Melvilles Moby Dick eine zentrale Rolle. Auch histo- Laa an der Thaya auf und studierte Bohemistik und risch verbürgte Abenteurer wie der Seefahrer Vasco Publizistik in Wien, wo er heute lebt. Er war Lehrbe- da Gama oder der Astronaut Neil Armstrong stehen auftragter für Inline-Skating an der Sportuniversität Pate für die Aufbruch- und Entdeckerstimmung des Wien, arbeitete gleichzeitig für die Wiener Botschaft Ich-Erzählers. der Tschechischen Republik. Schließlich entschied er Das Erkunden der neuen und die Trauer um die sich, unter anderem ermuntert von seinem Mentor zurückgelassene Sprachumgebung werden beim Lesen Jiˇir Grusˇa, ganz für das Schriftstellerdasein. Seitdem von Nkaah vorstellbarer, auch demjenigen, der nie schreibt Stavaricˇ in der zweiterworbenen deutschen gezwungen war, sich eine andere Sprache anzueignen, 6::Adelbert-von-Chamisso-Preisträger 2012 Michael Stavaricˇ lässt sich von der Atmosphäre im Wiener Café Jelinek inspirieren. weil die vertraute nicht mehr verstanden wird. »Viele Ich-Erzähler, ein Waisenjunge, der bei Tante und Menschen wissen gar nicht, was Fremde überhaupt be- Onkel, nach dem Tod der Tante unter alleiniger Obhut deutet, wie sie sich anfühlt, ob sie irgendwann aufgibt, des Onkels aufwächst, lebt in einer Siedlung, in der die sich zurückzieht oder anhält ein Leben lang.« Die Im- Bewohner schon einmal von Geistern Besuch bekom- pulsivität und Zweifel des Entdeckers, der die neue men und archaische Rituale pflegen. Regelmäßig wer- Sprache wie einen unerforschten Kontinent sucht, rü- den Kuscheltiere und andere unnütz gewordene oder cken näher: »Manchmal will eine Reise getan werden, stark mit Affekten belegte Dinge verbrannt. Der Junge auch auf die Gefahr hin, nirgendwo anzukommen.« beteiligt sich mit freudigem Eifer an diesen Ritualen, Als vielfach ausgezeichneter Autor ist Michael denn er sehnt sich danach, hinüberzuwechseln in die Stavaricˇ heute längst in der deutschen Nicht-Mutter- geheimnisvolle Welt der Erwachsenen, die der unsen- sprache angekommen. Der prüfende Blick auf das timentale, abenteuernde, mit allen Wassern gewasche- Handwerkszeug, das Ablauschen, Imitieren oder Persi- ne Onkel verkörpert. Doch dem Impuls des Jungen, flieren von Redeweisen, die Lust am Wortspiel bleiben Kindheit und Vergangenheit hinter sich zu lassen, ste- aber Angelpunkte seines Schreibens. hen Ereignisse gegenüber, die seinen Eifer zügeln. Briefe der toten Mutter tauchen auf und gemahnen ihn Wie Nkaah umkreist auch Brenntage, Stavaricˇs an den Ursprung, auch an den seines eigenen Spre- zuletzt veröffentlichter Roman, narrativ den Abschied, chens. Auf einer imaginierten Zeitachse bewegen sich insbesondere den von der Kindheit. Der halbwüchsige die Brenntage in zwei Richtungen: Der Junge will vor- Michael Stavaricˇ :: 7 wärts in der Zeit, erwachsen werden. Doch die Kehr- seite dieses Vorwärtsdrängens, das sich in der zärtlich- rauhen Naseweisheit im Ton des Jungen Bahn bricht, ist die sich andeutende Abschiedsmelancholie. Die Kuscheltiere sind im Moment ihres Verbrennens regel- recht beseelt, wenn der Erzähler ihren »vorwurfsvol- len« Blick bemerkt, also womöglich ahnt, dass die eige- ne Geschichte nicht gelöscht werden kann, indem man ihre Materialisierungen tilgt. Geradezu ikonografisch wirkt dieses Abschieds- ritual vor dem Hintergrund einer These des amerikani- schen Psychoanalytikers Donald Winnicott, der das Kuscheltier als Übergangsobjekt definiert, ein vom Baby oder Kleinkind selbst gewähltes Objekt, das den Raum zwischen ihm und der Mutter einnehmen kann. Mit Hilfe des Kuscheltiers kann der Eindruck eines Zu- stands von Ungetrenntsein in Abwesenheit der Mutter aufrecht erhalten werden. Die Zerstörung des Kuschel- tiers in Brenntage zerstört diesen über das Tier her- gestellten Raum, das sichtbare Zeichen einer frühkind- lichen Bindung an die (tote) Mutter. Auch die Erzählzeit in