Sa 4. Mai 2019 20:00 Kölner Philharmonie Musik Der Zeit – Mana
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
Sa 4. Mai 2019 20:00 Kölner Philharmonie Musik der Zeit – Mana Christian Dierstein | Schlagzeug WDR Sinfonieorchester Brad Lubman | Dirigent Michael Struck-Schloen | Moderation 19:00 Einführung in das Konzert mit Georges Aperghis und Gerhard Stäbler (Konzertsaal) Pause gegen 20:50 | Ende gegen 21:45 Das Konzert im Radio und als Livestream: 20:04 Uhr auf WDR 3 und WDR3.de Westdeutscher Rundfunk PROGRAMM Georges Aperghis Graffitis (1980) für einen Schlagzeuger Christophe Bertrand 1981 – 2010 Mana (2004 – 05) für 75 Musiker Deutsche Erstaufführung Georges Aperghis Étude IV Étude V Étude VI aus: Études I–VI (2012 – 14) für Orchester Pause Georges Aperghis * 1945 Le Corps à corps (1978) für einen Schlagzeuger und seine Zarb Gerhard Stäbler * 1949 Den Müllfahrern von San Francisco (1990/2019) Ein Akronym aus akustischen Erinnerungen an eine Reise für Orchester Kompositionsauftrag des WDR Uraufführung 2 ZU DEN WERKEN Die Werktitel und Werkkommentare … Das Publikum braucht sie, der Komponist hingegen vielleicht nicht einmal. Aber ohne Namen lässt sich vieles nicht benennen. Über Graffitis in der Musik ließe sich kaum reden, gäbe es nicht so manche Musikerfinder, die ihre Stücke so benannt hätten: z. B. Unsuk Chin oder Johannes Kalitzke, Georges Aperghis, Detlev Glanert oder Magnus Lindberg. Die Motivation dürfte bei jedem der Genannten eine andere gewesen sein, warum er sein Stück so genannt hat. Wahrscheinlich, weil er anonym auf Wände im öffentlichen Raum gesprühte Sprüche vertont oder die »Tags« ideell und mithin strukturell in die Musik integriert hat. Georges Aperghis (* 1945) indes dachte gar nicht mal an solche Mauer-Zeichen, -Zeich- nungen, als er 1981 das Stück Graffitis für einen Schlagzeuger kom- ponierte. Es war, wie er erzählt hat, das Notenbild der fertigen Parti- tur, das ihn an Graffitis erinnerte – »deshalb der Titel«. Die Notation für die verschiedenen, direkt mit den Händen zu spielenden Perkussi- onsinstrumente – der Instrumentalist darf selbst entscheiden, welche er verwendet – und des zu skandierenden Textes könnte man in der Tat als ein Graffiti-Graphem deuten. Der verwendete Text – weitest- gehend rhythmisch und auch in den Tonhöhen exakt vorgeschrieben – stammt aus Johann Wolfgang Goethes enigmatischer Tragödie Faust II (Kapitel 54 – Des Gegenkaisers Zelt): »Es war den ganze Tag so heiß, / So bänglich, so beklommen schwül, / Der eine stand, der andre fiel, / Man tappte hin und schlug zugleich, / Der Gegner fiel vor jedem Streich, / Vor Augen schwebt’ es wie ein Flor, / Dann summt’s und saust’s und zischt’ im Ohr; / Das ging so fort, nun sind wir da / Und wissen selbst nicht, wie’s geschah.« Ehe der Schlagzeuger diese Verse als Klartext artikuliert, nähert er sich ihnen allmählich an: über Ketten von Phonemen, Schnalz- und quasi Klicklauten, von betontem Atmen und einzelnen Worten aus dem Zitat. Während dessen starrt er ein, zwei rätselhafte Objekte an, versucht sie zu greifen, greift sie schließlich auch. Der rätselhafte, verschwommene Kampf gegen den hier nicht näher benannten Gegner (das andere Ich, die Außenwelt) bleibt und endet im Dunkel. Im finalen Schwarz wie auch in der dramaturgischen Grundidee erweist sich Aperghis’ Stück Graffitis als Schwesterwerk zu seinem 1978 komponierten Schlagzeug-Solo Le corps à corps. Über diesen »Nahkampf« für den virtuos rezitierenden Perkussionisten, der in seiner Zarb (auch Tombak genannt – eine persische Bechertrommel aus Holz) sich selbst und den Gegner in den eigenen Händen hält, 3 schreibt Aperghis im Werkkommentar: »Der Perkussionist ist sowohl der Erzähler einer epischen Geschichte als auch der zentrale Cha- rakter des Stücks. Im einzigartigen Kampf der Fiktion spiegelt sich derjenige Kampf des Musikers mit dem Instrument und mit seinem eigenen Atem wider.« Nur sehr selten hat Georges Aperghis, der vor allem als Komponist des Musiktheaters und theatralischer Kammermusik bekannt ist, Werke für Orchester geschrieben: aus Zeitmangel, wegen unge- eigneter Dirigenten und ausgebliebener Aufträge. Nach dem 1972 entstandenen Orchesterstück mit dem deutschen Titel Die Wände haben Ohren beschäftigte er sich erst ab 2012 – dank der Initiative der Neuen-Musik-Redaktion des WDR – wieder intensiver mit dem sinfonischen Klangkörper und komponierte die Six Études. Auf die Frage des Musikwissenschaftler Jean-Noël von der Weid, ob er diese Orchesteretüden für andere oder für sich selbst geschrieben habe, antwortete Aperghis: »Für mich. Ich versuche, das Orchester anders klingen zu lassen – auf meine Art. Ich will das Orchester abspecken, es von aller Dramaturgie, von allem Narrativen, vom postromanti- schen Pathos befreien. Daher auch die kurzen Stücke, zwischen drei und zehn Minuten lang, auf Farben basierende Klangmaterie. Diese äußerst dichten Klangpfade – Intensität und Präzision liegen eng bei- einander – erfordern das Orchester. Die sechs Etüden sind sechs unterschiedliche Arten, dieses Klangmaterial zum Leben zu bringen. Wenn man eine Idee ausgespielt hat, ihr sozusagen aus allen akus- tischen Winkeln heraus eine Form gegeben hat, wenn sie keinen Widerstand mehr bietet, ihren Lebenshöhepunkt durchlebt hat, geht man zur nächsten über. Auch die Musiker erleben unermessliche Momente, setzen zarte Tupfer, führen kleine Polyphonie-Stückchen aus … Sie müssen rhythmisch extrem genau spielen und völlig unge- wohnte Reflexe erlernen.« Als sich der Komponist Gerhard Stäbler (* 1949) in den 1980er Jah- ren in San Francisco aufhielt, wurde er eines Tages frühmorgens jäh durch den Krach eines Müllwagens geweckt. »Zuerst war ich ver- ärgert, weil er wahnsinnigen Lärm von sich gab, der sich direkt in meinen Kopf bohrte und im Gehirn verkrampfte. In gut einer Viertel- stunde löste sich aber der Krampf, musste sich lösen, weil ich allmäh- lich von den lauten Klängen des Müllautos derart fasziniert war, dass ich die unfreiwillige Unterbrechung des Schlafens vergaß. Es waren 4 Klänge, äußerst klar konturiert, und immer von ziemlicher Dauer: Geräusche vom hydraulischen Auffahren und Aufklappen der hinteren Luke, und dann, während das Fahrzeug offen war, der Sound einer – meist erschreckend reinen – großen Terz, die plötzlich in ganz tiefe Frequenzbereiche zusammensackte …« Dieses Hörerlebnis bohrte sich in Stäblers Gedächtnis. Als er Monate nach dem USA-Aufenthalt vom WDR den Auftrag für ein Ensemblestück für die Wittener Tage für neue Kammermusik 1990 erhielt, ploppte es wieder auf und er integrierte die Erfahrungen in die Komposition Den Müllfahren von San Francisco. Ein Akronym aus akustischen Erinnerungen an eine Reise. Weitere Ingredienzien des Werkes, das Stäbler auf Anregung des WDR-Redakteurs für neue Musik Harry Vogt, nun für Orchester bearbeitet hat, sind Fragmente aus dem 1956 geschriebenen Lang- Gedicht America von Allen Ginsberg (1926 – 1997), einer Kritik an der US-Gesellschaft aus linker und homosexueller Perspektive, sowie zwei Gedichte von Angela Jackson (* 1951). Die afroamerikanische Schriftstellerin hatte Stäbler während seiner Reise kennengelernt und Bruchstücke aus ihren Poemen The Spider Speaks on the Need for Solidarity und The Spider’s Mantra rezitieren die Musiker auch. Hingegen grundieren die übernommenen Ginsberg’schen America- Partikel die rhythmischen Verläufe: Sie sind als geheime Botschaften – technisch sehr vereinfacht gesagt: als ausnotierte Morsezeichen – in die Textur eingegangen. Der Orchesterpartitur hat Gerhard Stäbler ein Zitat des Philosophen Byung-Chul Han vorangestellt (aus dessen Buch Psycho-Politik von 2014): »Das neoliberale Subjekt als Unter- nehmer seiner selbst ist nicht fähig zu Beziehungen zu anderen, die frei vom Zweck wären. Zwischen Unternehmern entsteht auch keine zweckfreie Freundschaft. Frei-sein bedeutet aber ursprünglich bei Freunden sein. … Man fühlt sich wirklich frei erst in einer gelingen- den Beziehung, in einem beglückenden Zusammensein mit anderen. Die totale Vereinzelung, zu der das neoliberale Regime führt, macht uns nicht wirklich frei. So stellt sich heute die Frage, ob wir die Frei- heit nicht neu definieren, neu erfinden müssen, um der verhängnis- vollen Dialektik der Freiheit, die diese in Zwang umschlagen lässt, zu entkommen. … Interessanterweise definiert auch Marx die Freiheit vom gelingenden Verhältnis zum Anderen her: ›Erst in der Gemein- schaft [mit Anderen hat jedes] Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich.‹ Frei sein heißt demnach nichts anderes als sich miteinander zu realisieren.« 5 Der vielversprechende französische Komponist Christophe Bertrand, dessen Werke von renommierten Interpreten weltweit in namhaften Festivals und Konzerthäusern aufgeführt wurden, konnte indes die- ses Miteinander nicht ausdauernd realisieren. Er nahm sich 2010 im Alter von 29 Jahren das Leben. Sein überaus beredt-rasantes Orches- terstück Mana (2004/05) erklingt im heutigen Acht-Brücken-Konzert als deutsche Erstaufführung, als Erinnerung und als Hommage an den Frühverstorbenen. Stefan Fricke 6 BIOGRAPHIEN Christian Dierstein Schlagzeug Christian Dierstein absolvierte sein Musik- studium bei Bernhard Wulff in Freiburg, bei Gaston Sylvestre in Paris und bei Wassilios Papadopulus in Mannheim. Er ist Preisträger zahlreicher Wettbewerbe und war Stipendiat der deutschen Studi- enstiftung sowie der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart. Seit 1988 ist er der Schlagzeuger des ensembles recherche und seit 1994 des Trio Accanto mit Nic Hodges und Marcus Weiss. Er beschäftigt sich intensiv mit außer- europäischer Musik und freier Improvisation.