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63280 juli–september 2005___3 3. jahrgang

Musik leben und erleben in Deutschland.

Mit 66 ist noch lange nicht Schluss

Das Themenheft zum aktuellen Altenbericht der Bundes- regierung

Musizieren im dritten Lebensalter DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRATS 7,40 m

Gemeinsame Sache: Bürgerschaftliche Sache: Wie WDR 3 mit Kulturträgern Wie Ehrenämter wieder neue eine Zweck-Partnerschaft eingeht Anerkennung finden sollen

Probedruck 337_BSS_Singen_A4_4c 14.06.2005 12:01 Uhr Seite 1

Singen mit Spaß

Gerade für die vielen älteren Menschen hat das Singen eine besondere Bedeutung. Denn durch die Freude am gemeinsamen Singen und die mit bestimmten Liedern verbundenen Erinnerungen können Geist und Körper gefordert und gefördert werden. So wird die Singstunde nicht nur zu einem fröhlichen Gemeinschaftserlebnis, sondern zugleich auch zum Trainingsprogramm für geistige und körperliche Fitness. Alle, die Musikstunden mit Senioren veranstalten, können mit den Materialien aus der Reihe „Singen mit Spaß“ ihre Singstunden einfach vorbereiten und durchfüh- ren. Durch die Playbacks auf der beiliegenden CD ist es möglich, alle Lieder zu begleiten, ohne dass ein Instrument benötigt wird. Die CD enthält außerdem alle Titel in Vollversion. Das didaktische Hand- buch für die Gruppenleitung umfasst neben Liedtext, Noten und Harmonieangaben auch Informationen zur Geschichte des Liedes und Anregungen zu Gedächtnis- und Bewegungsübungen und leich- tem Instrumentalspiel. Das Liederbuch im handlichen Format ist ausge- stattet mit Noten und Texten in Großdruck und einem abwasch- baren Einband. Die Melodien sind der tieferen Stimmlage älterer Menschen angepasst.

NEU Lieder zur Weihnachtszeit Liederbuch in großer Schrift Tanzlieder erscheint im Oktober Bereits erschienen: Liederbuch Lieder Liederbuch ISBN 3-7957-5623-5 (ED 9560) ISBN 3-7957-5608-1 (ED 9494) € 6,95 aus meiner Heimat € 6,50 uPr ab 10 Exemplaren € 5,45 ab 10 Exemplaren € 4,95* Liederbuch Grundpaket: 10 Liederhefte ISBN 3-7957-0442-1 (ED 9391) Grundpaket: 10 Liederhefte und Handbuch mit CD € 6,50 uPr und Handbuch mit CD ab 10 Exemplaren € 4,95 uPr ISBN 3-7957-5624-3 (ED 9560-50) ISBN 3-7957-5609-X (ED 9494-50) € 69,00 € 69,00 uPr Grundpaket: 10 Liederhefte Großpaket: 20 Liederhefte und Handbuch mit CD Großpaket: 20 Liederhefte und Handbuch mit CD ISBN 3-7957-5606-5 (ED 9391-50) und Handbuch mit CD € 69,00 uPr ISBN 3-7957-5625-1 (ED 9560-60) ISBN 3-7957-5610-3 (ED 9494-60) € 99,00 € 99,00 uPr Großpaket: 20 Liederhefte Handbuch für die und Handbuch mit CD Handbuch für die Gruppenleitung mit CD ISBN 3-7957-5607-3 (ED 9391-60) Gruppenleitung mit CD € 99,00 uPr Ring/Spiralbindung Ring/Spiralbindung ISBN 3-7957-5626-X (ED 9561) ISBN 3-7957-5611-1 (ED 9495) € 29,95 / sFr 50,60 Handbuch für die € 29,95 / sFr 50,60 uPr Gruppenleitung mit CD Ring/Spiralbindung uPr = unverbindliche Preisempfehlung ISBN 3-7957-5605-7 (ED 9480) € 29,95 / sFr 50,60 uPr BSS-337 · 06/05 EDITORIAL

MUSIK ALS

Christian Höppner Brückenbauer Redaktionsleitung

DIE EWIG JUNGEN nun auch beim Musizieren? Zwerchfell-Lifting für „musizierende Menschen im dritten Lebensalter“, egal, ob an der Bachtrompete oder im Chor? Wir nähern uns dem Thema von unterschiedlichen Seiten, machen damit deutlich: Keine Schublade ist groß genug, vorhandene Klischees darin aufzunehmen. Dieses Thema wird nicht erst in einigen Jahren relevant, wenn der demografische Wandel für jeden unübersehbar ist – es ist bereits jetzt aktuell. Die Alten sind da. Vitaler und anspruchsvoller denn je. Dabei ist eine eigenartige Melange zwischen Schwellenangst und Selbstbewusstsein zu beobachten, die die derzeitige Schieflage von Angebot und Nachfrage skizziert. Konzeptionell wie quantitativ. Der 87-jährige Herr, der vor einigen Jahren, in meiner Zeit als Musikschulleiter, schüchtern das Büro betrat, um sich verschämt nach einer Möglichkeit zu erkundigen, seine aus Jugendtagen verstaubte Geige unter Anleitung selber wieder zum Klingen zu bringen („Meine drei Enkel wollen im Quartett mit mir spielen“) – er ist vielleicht immer noch kennzeichnend für die gegenwärtige Situation. Umso mehr geht es nun darum, neue und veränderte Formen des Zusammenlebens darzustellen. Wobei die Musik ein idealer Brückenbauer sein kann, indem sie verhindert, dass wir in weitere „Getto- fallen“ steuern. Wir brauchen keinen „musikalischen Seniorenteller“, sondern Angebote, die generationen- übergreifend wirken können. Denn: Musik bewegt unabhängig vom Alter. Warum also nicht zum Beispiel bei „Jugend musiziert“ eine neue Kategorie Familienmusizieren einführen? Warum nicht die Altersbegrenzung in den Musikschulen aufheben, die noch das Präfix Jugend tragen? Erfreulicherweise gibt es zukunftsweisende Einzelaktivitäten einiger Verbände und Institutionen. Gerade die Laienmusikszene bietet viele Beispiele generationenübergreifenden Musizierens. Dennoch: Wir brauchen ein stärkeres Bewusstsein für den Wert der Kreativität in unserer Gesellschaft. Wir ver- nachlässigen in sträflicher Weise die Kreativpotenziale – insbesondere in den Bereichen der musikali- schen Frühförderung und im generationenübergreifenden Musizieren. Dazu gilt es auch, Zusammen- hänge deutlich zu machen, die das Musizieren be- oder verhindern. Die Forderungen nach mehr öffentlicher Wahrnehmung und Anerkennung bürgerschaftlichen Engagements und Entbürokratisierung der Rahmenbedingungen sind ein zentraler Bestandteil dieser Bewusstseinsarbeit. Die Laienmusikszene ist nun einmal das Fundament des Musiklebens in Deutschland. Übrigens: Dem oben erwähnten älteren Herrn konnte durch die Vermittlung eines hoch motivierten Musikschullehres geholfen werden. Nur ein halbes Jahr später berichtete er schon von aufregenden und beglückenden Quartettproben mit seinen Enkeln. Was gibt es für eine schönere Aufgabe, als bei diesem Brückenbau mitzuwirken?

Ihr

Christian Höppner

 MUSIK ORUM 3 INHALT

IM FOKUS: MIT 66 IST NOCH LANGE NICHT SCHLUSS – MUSIZIEREN Potenziale des Alters 10 IM DRITTEN Andreas Kruse kommentiert die Inhalte des 5. Altenberichts der Bundes- regierung, der die Stellung älterer Menschen in der Gesellschaft unterstreicht LEBENS- „Frühförderung ist Grundstein…“ Bundesministerin Schmidt: Musikalische Teilhabe älterer Menschen stärken!14 ALTER Ausbildungsdisziplin Musikgeragogik Wie Pädagogen, Musiker und Therapeuten musikalische Bildung in der Altenarbeit fördern, schildern Hans Hermann Wickel und Theo Hartogh 16 „Musizieren im Alter bewegt etwas!“ Der Physiologe Eckart Altenmüller plädiert für mehr Musiktherapie 19 titelthemen bildung.forschungneuetöne

Partnerschaft für mehr Kultur „Zuallererst Künstler“ Create yourself – WDR 3 entwirft Modell der Kooperation , Präsident des Kompo- create your market zwischen Rundfunksender und Kultur- nistenverbands, zwischen Funktionärs- In der Ausbildungskrise: Was ein Musik- trägern. Im Gespräch: Programmchef arbeit und künstlerischem Handeln. 36 studium eigentlich leisten müsste. 47 Karl Karst. 32 Alt = gut, neu = schlecht? Für alle, deren Fantasie Bürgerschaftliches Über Rock- und Pop-Präferenzen noch Flügel hat Engagement im Musikleben jenseits des Jugendalters. 39 Muster für Musikerziehung: das Kinder- Gitta Connemann, Vorsitzende der musical 3 Wünsche frei. 50 Enquete-Kommission „Kultur in Deutsch- Vielfalt statt Mainstream land“, plädiert für eine neue Kultur des Zugang zu Zeitgenössischem Ehrenamts. 34 Fünf Acts im Meisterkurs für Populäre Musik: PopCamp startet als Modell zur Zur erfolgreichen VdM-Initiative „Neue Spitzenförderung junger Bands. 41 Kammermusik für Musikschulen“. 60

 4 MUSIK ORUM fokus

Rock’n’Roll durch die Gleitsichtbrille 21 Jürgen Terhag über musikalische Sozialisation im dritten Lebensalter

Praxisbeispiele: Alter spielt hier keine Rolle Neue Didaktik: die Hamburger Musik-Akademie für Senioren 23 „Schreibe die Partitur deines Lebens selbst!“ Verein New Generation bringt ältere Menschen musikalisch „auf Trab“ 26 Rock’n’Roll is here to stay… In einer Band spielen und jung bleiben 28 Damit das Alter eine Zukunft hat Werbung für neuen Umgang mit dem Alter: der Verein „Aging-alive“ 30 porträt dokumentation Brückenbauer am Akkordeon Auf ungewöhnlichem Weg zur zeitge- nössischen Musik: Teodoro Anzellotti im Interview. 44 präsentiert Projekte im deutschen Musikleben: Das Beatles Museum Halle. 61 Was ist „guter Mehr jugendorientierte rubriken Musikunterricht“? Angebote nötig Deutscher Musikrat legt Positionspapier Jugend-KulturBarometer nimmt Interesse Editorial 3 mit sieben Thesen und weiteren Ausfüh- jüngerer Menschen an klassischer Musik Nachrichten 6 rungen zur „Musik in der Schule“ vor. 53 aufs Korn. 56 S Rezensionen: CDs und Bücher 62 Echo: Replik und Leserbriefe 64 Finale, Impressum 66 MUSIKORUM juli–september 2005___3

DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRAT

 MUSIK ORUM 5 NACHRICHTEN

wir trauern Kreile hält Plädoyer für Wert des geistigen Eigentums Reinhold Kreile, Vorstandsvorsitzender der satzauseinandersetzung um die Respektierung GEMA und anlässlich der Jahreshauptver- des geistigen Eigentums. Denn hier ging es sammlung Ende Juni in München zu ihrem nicht nur um Prozente, diese Prozente sind Ehrenpräsidenten gewählt, nutzte seinen Ausdruck von Wert und Würde des Schöpferi- letzten Geschäftsbericht vor Ende seiner schen.“ Amtszeit zu einer Grundsatzrede über Wert Der GEMA-Aufsichtsratsvorsitzende Chris- und Würde des geistigen Eigentums und tian Bruhn bedankte sich im Namen aller Mit- die Maximen des Urheberrechts. glieder bei Kreile für dessen Verdienste um Mit dem Hinweis auf den von der GEMA die musikalisch Kreativen in Deutschland: „Sie gewonnenen Streit mit der Tonträgerindustrie haben sich als unermüdlicher Kämpfer für die um die Höhe der Lizenzierung für Tonträger Belange der GEMA eingesetzt und sind welt- stellte Kreile fest: „Wir haben hier nicht nur weit geschätzt als die Führungspersönlichkeit einen Prozess gewonnen, sondern eine Grund- der musikalisch kreativen Menschen.“

personalia Foto: privat; aus: „Capriccio für Siegfried Palm“ (ConBrio Verlag) Siegfried Palm † Hans-Herwig des neuen Generalmusikdirektors Kent Geyer (Bild), Europa- Nagano – geleitet. +++ Hans Herdlein, Der ehemalige Vizepräsident des Experte des Deutschen seit 1972 Präsident der Genossenschaft Deutschen Musikrats, Siegfried Palm, Musikrats und Bundes- Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA), starb im Alter von 78 Jahren in seinem vorsitzender der bleibt weitere vier Jahre im Amt. Die Dele- Heimatort Frechen. Musikratspräsident Jeunesses Musicales gierten des Genossenschaftstags bestätigten Martin Maria Krüger würdigte die Ver- Deutschland, ist von ihn mit überwältigender Mehrheit. +++ dienste des Violoncellisten um das der Generalversamm- Aus Anlass des 60-jährigen Jubiläums des deutsche Musikleben. Als leidenschaft- lung des Europäischen Polnischen Komponistenverbands wurde licher Pädagoge und bedeutender In- Musikrats zum neuen der Präsident des Deutschen Musikrats, terpret Neuer Musik habe sich Palm Vizepräsidenten gewählt worden. „Die Martin Maria Krüger, in dessen Ehren- immer wieder mit bewundernswertem gesetzlichen Vorgaben aus Brüssel für die komitee berufen. Damit würdigte der Engagement für die Belange der Musik EU-Mitgliedsstaaten dürfen die kulturelle Verband die Unterstützung des Musikrats, eingesetzt. Krüger: „Der Deutsche Mu- Vielfalt Europas nicht bedrohen, sondern der sich immer wieder für die Förderung sikrat hat seiner Weitsicht und Tatkraft müssen sie befördern“, betonte Geyer nach des interkulturellen Dialogs zwischen den viel zu verdanken.“ Der Generalsekre- seiner Wahl. Er forderte eine neue Priori- beiden Ländern eingesetzt hat. +++ tär des Deutschen Musikrats, Christian tätensetzung auf Grund der kulturellen und Winfried Richter Höppner, vertrat den Musikrat bei der ökonomischen Bedeutung des europäischen (Bild), Landesvorsitzen- Trauerfeier und kondolierte den Ange- Musiklebens. +++ Bremens Bürgermeister der der Musikschulen in hörigen. Henning Scherf ist neuer Präsident des Schleswig-Holstein, wur- Der in Wuppertal geborene Palm Deutschen Chorverbandes. Bei der ersten de in Essen zum neuen studierte bei Enrico Mainardi. Neben Versammlung der Organisation, die durch Bundesvorsitzenden des Engagements als Solocellist im Städti- Verschmelzung des Deutschen Sängerbunds Verbands deutscher schen Orchester Lübeck, im Radio-Sin- (DSB) und des Deutschen Allgemeinen Musikschulen (VdM) fonieorchester Hamburg und im WDR- Sängerbunds (DAS) entstanden und mit gewählt. Vor der Wahl Sinfonieorchester Köln war er u. a. Di- insgesamt 1,85 Millionen Mitgliedern der wurden der langjährige rektor der Staatlichen Hochschule für weltgrößte Verband von Laienchören ist, Vorsitzende Gerd Musik Rheinland, Generalintendant der wurde Scherf in Magdeburg mit überwälti- Eicker, der stellvertretende Vorsitzende Deutschen Oper Berlin, Präsident der gender Mehrheit gewählt. +++ Der Direktor Klaus-Jürgen Weber und Bundesge- „Internationalen Gesellschaft für Neue des Wiener Burgthea- schäftsführer Rainer Mehlig, der nach Musik“ und Präsident des Deutsch- ters, Klaus Bachler 34 Jahren sein Amt an Matthias Pan- Französischen Kulturrats. Seit 1962 (Bild), wird im Septem- nes übergeben hat, feierlich verabschiedet. war Palm Dozent bei zahlreichen re- ber 2008 die Leitung +++ Robert von Zahn ist neuer Gene- nommierten Meisterkursen wie dem der Bayerischen Staats- ralsekretär des Landesmusikrats NRW, der Internationalen Ferienkurs für Neue oper in München über- mit der Neubesetzung auf neue Impulse Musik in Darmstadt und unterrichtete nehmen, nachdem der für das Musikleben des bevölkerungsreichs- am Königlichen Konservatorium in Vertrag mit dem desig- ten Bundeslandes hofft. +++ Der Kölner Stockholm, am Dartmouth College nierten Intendanten, Musikwissenschaftler Dettloff Schwerdt- (USA) in Rouen und Madrid. 2004 Christoph Albrecht, Foto: Inge Prader feger wurde zum 1. Januar 2006 in den wurde ihm das Große Bundesverdienst- gelöst wurde. Bis dahin wird das Haus von Vorstand der Stiftung und zum Geschäfts- kreuz verliehen. einem Interimsdirektorium – unter Vorsitz führer des Bach-Archivs berufen.

 6 MUSIK ORUM Staat soll Kultur schützen Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ hat ihren Zwischenbericht vorgelegt. Darin fordern die Mitglieder, den Schutz und die Förderung von Kultur im Grundgesetz zu verankern. Es fehle eine entsprechende Bestimmung über die geistigen und ideellen Dimensionen menschlichen Daseins, heißt es zur Begrün- dung. Daher solle das Grundgesetz um die Formulierung ergänzt werden: „Der Staat schützt und fördert die Kultur.“ Bundestags- präsident Wolfgang Thierse sprach sich, wie die Kommissionsmitglieder selbst, im Falle von Neuwahlen dafür aus, dass auch der Spitzengespräch in Sachen Kultur: Der kulturpolitische Sprecher der FDP-Bundestags- nächste Bundestag die Enquete-Kommission fraktion Hans-Joachim Otto, FDP-Vorsitzender Guido Westerwelle, die stellvertretenden Vorsitzenden des Kulturrats Christian Höppner und Claudia Schwalfenberg sowie Olaf einsetzen solle, um die noch nicht abge- Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats (von links). Foto: Hummelsiep schlossene Arbeit fortzuführen. ˜ Internationaler ARD-Musikwettbewerb gerettet Nationale Kultur- Auch 53 Jahre nach seiner Gründung wird der Internationale Musikwettbewerb der ARD politik stärken weiter bestehen. Darauf einigten sich die Intendanten der ARD auf ihrer Arbeitssitzung in Bremen. Der FDP-Vorsitzende Guido Wester- Der Wettbewerb stand als Gemeinschaftseinrichtung wegen ungeklärter Finanzierungs- welle hat sich nachdrücklich für eine fragen vor dem Aus. Die Hörfunkkommission der ARD hatte zuvor ein Sparpaket für den Stärkung der nationalen Kulturpolitik Musikwettbewerb vorgelegt, das nun von den Intendanten gebilligt wurde. Demnach wer- ausgesprochen. In einem Spitzenge- den die finanziellen Aufwändungen für den Klassik-Wettbewerb um rund ein Drittel redu- spräch mit dem Vorstand des Deut- ziert. Der Bayerische Rundfunk trägt als federführende Anstalt die Kosten für die Leitung schen Kulturrats ließ er aber offen, ob des ARD-Musikwettbewerbs und die festen Personalkosten. die bisherige Struktur gestärkt oder ein Bundeskulturministerium einge- richtet werden sollte. ˜ Fachtagung: Kultureller Dialog und Integration Mit Blick auf die Diskussionen um eine Mehrwertsteuererhöhung unter- „Musikland Deutschland – Wie viel kulturel- speziell auch der Musikrat mit seinen Mit- strich Westerwelle, dass er eine struktu- len Dialog wollen wir?“, lautet der Titel einer gliedern und Projekten Integration und ge- relle Veränderung des Steuersystems Fachtagung, die der Deutsche Musikrat am genseitiges Verständnis befördern können. anstrebe und eine Mehrwertsteuerer- 4. und 5. November in Berlin veranstaltet. Auch geht es um die Frage, welche politi- höhung generell ablehne. Weiter stellte Einwanderung ist ein aktuelles Thema in schen Forderungen und – daraus folgend – der kultur- und medienpolitische Spre- Deutschland und wird es in den kommen- Handlungsempfehlungen nötig sind, um cher der FDP-Bundestagsfraktion, Hans- den Jahren noch mehr sein. Gerade Künst- diese Integration voranzutreiben. Dabei Joachim Otto, klar, dass sich seine Par- ler und Kulturschaffende betonen gerne, richtet sich das Augenmerk ebenso auf den tei für die Stärkung der Künstlersozial- dass sie den „interkulturellen Dialog“ als be- kulturellen Dialog, der in Deutschland statt- versicherung einsetze. Die FDP werde reichernd empfinden, dass sie offen sind für findet, wie auch auf die Beziehungen zwi- die Künstlersozialversicherung erhalten in Deutschland lebende Migranten ebenso schen „Deutschland und der Welt“. und die Künstlersozialkasse wieder in wie für den künstlerischen Austausch mit Ziel der Tagung ist es, das Bewusstsein Ordnung bringen. Ein wichtiger Schritt anderen Ländern Europas und der Welt. für die Bedeutung und den Zusammenhang sei die tatsächliche Erfassung aller abga- Gleichzeitig aber gibt es auch Ängste und von kultureller Identität und interkulturel- bepflichtigen Verwerter. Abwehrmechanismen sowohl wirtschaftli- lem Dialog zu stärken, diese in das Zentrum Als wichtige kulturpolitische The- cher wie auch inhaltlicher Art. Egal, ob die (gesellschafts-)politischer Wahrnehmung zu men für die nächste Legislaturperiode Bedenken mit der Angst um Arbeitsplätze rücken und konkrete Forderungen wie Hand- nannte Westerwelle ein Gesetz zur Er- und Dumping-Honorare für „Konkurren- lungsempfehlungen an politische Institutio- leichterung der Gründung von Stiftun- ten“ aus dem Osten zu tun haben oder ganz nen zu formulieren. Daneben sollen Best gen sowie die Verbesserung ihrer steuer- einfach mit einem Gefühl der Fremdheit Practice-Beispiele erfolgreiche Modelle des lichen Rahmenbedingungen. Weiter gegenüber kulturell und musikalisch Unge- musikalischen Dialogs in der Praxis zeigen. sprach er sich nachdrücklich dafür aus, wohntem – wir müssen uns ihnen stellen Zur Teilnahme eingeladen sind Pädagogen im nächsten Deutschen Bundestag und mit ihnen umgehen. und Multiplikatoren, Kulturmanager aus der wieder eine Enquete-Kommission „Kul- Die Fachtagung will sich mit der Frage Praxis sowie Verbandsvertreter und Kultur- tur in Deutschland“ einzusetzen. beschäftigen, wie Kultur und Musik, wie politiker.

 MUSIK ORUM 7 NACHRICHTEN

Foto: Müller

Rekord: 2000 Teilnehmer beim Bundesfinale „Jugend musiziert“ in Nürnberg

Mit dem traditionellen Abschlusskonzert ging in Nürnberg der 42. Bundeswettbe- werb „Jugend musiziert“ zu Ende. Neun Tage lang wetteiferten rund 2000 junge Musiker aus Deutschland und deutschen Schulen im Ausland um Punkte, Preise und Stipendien. Sie bilden die Spitze von über 20000 hoch engagierten jungen Leuten, die sich bundesweit qualifiziert hatten. Mit dieser ningen ausgeschlagen – als Signal gegen die hohen Teilnehmerzahl meldete der Deut- drohende Abwicklung ihrer Musikschule. Als Botschafter in Japan: sche Musikrat erneut eine Rekordmarke. Spontan erklärte sich Bundesministerin Re- Bundesjugendorchester Erstmalig haben die Veranstalter in die- nate Schmidt bereit, die Finanzierung für sem Jahr den Sonderpreis der Stadt Schwen- dieses Jahr zu sichern. beim Deutschlandjahr

Im Rahmen des Deutschlandjahres in Japan stellt sich das Bundesjugend- orchester des Deutschen Musikrats im Juli mit vier Konzerten dem japa- nischen Publikum vor. Mit der Tournee folgt Deutschlands jüngstes Spitzenensemble (im Bild oben) einer Einladung des Auswärtigen Amts, das in Zusammenarbeit mit dem Goe- the-Institut die Koordination des Kultur- austauschs übernommen hat. Staats- ministerin Kerstin Müller zeigte sich über Pure Musizierfreude: Die „Jumu“-Preisträger zogen das Publikum in ihren Bann. Foto: Malter die Entscheidung, das Nachwuchsorches- ter in Fernost konzertieren zu lassen, er- ausgezeichnet freut: „Die jungen Musiker zeichnen sich durch eine wunderbare Mischung aus Michael Hirsch dem Paul Hindemith-Preis ausgezeichnet, höchster Qualität, mitreißender Begeis- (Bild) erhielt im Juni einem mit 20 000 Euro dotierten Kompo- terungsfähigkeit und Aufgeschlossenheit den Busoni-Komposi- nistenpreis. +++ Preisträger des mit aus. Einen besseren Vertreter in Japan tionspreis der Berliner 13 000 Euro dotierten Schneider-Schott- kann Deutschland sich kaum wünschen.“ Akademie der Künste Musikpreises 2005 ist der 35-jährige Neben einer Uraufführung des Leip- für seine grenzüber- Komponist, Dirigent und Pianist Enno ziger Komponisten Bernd Franke ste- schreitenden Genres Poppe, Stipendiat an der Cité Internatio- hen Werke von Karl Amadeus Hartmann mit Elementen von nale des Arts in Paris. +++ Die 1975 in und Gustav Mahler auf dem Programm. Hörspiel, Musiktheater Hamburg geborene Die musikalische Leitung übernimmt und Oper. +++ Der Sopranistin Mojca Dirigent Gerd Albrecht. mit 10000 Euro Erdmann (Bild) er- dotierte Händel-Preis der Stadt Halle geht hält den NDR-Musik- posthum an den Musikwissenschaftler und preis 2005. Mit der Kritiker Stanley Auszeichnung, die „Jugend jazzt“-Preisträger gekürt Sadie, der sich seit am 13. August beim Bei der 5. Bundesbegegnung „Jugend Anfang der sechziger Schleswig-Holstein- jazzt“ in Koblenz vergab eine Jury renom- Jahre in besonderer MusikFestival vergeben mierter Musikprofessoren 22 Preise im Weise mit Händels wird und mit 10 000 Wert von rund 60000 Euro. Erster Preisträ- Geburtsstadt verbun- Euro dotiert ist, werde ger wurde die sechsköpfige Band „Tee mit den fühlte. +++ Die – so die Begründung – eine Künstlerin Sahne“ aus Niedersachsen, die sich durch Ei- russisch-amerikanische geehrt, die extrem vielseitig sei und ein genkompositionen und ungewöhnliche Stil- Komponistin und breit gefächertes Repertoire von der Musik mischungen hervorhob. Sie erhielt den Stu- Pianistin Lera Auer- des Barock bis zu zeitgenössischen Werken dio-Preis mit Aufnahmen und Anschluss-

bach (Bild) wurde mit Foto: Steiner meistere. produktionen beim Deutschlandfunk.

 8 MUSIK ORUM ˜ Bach-Biografie auf der Bühne Unbekanntes Vokalwerk von Bach entdeckt In einer szenischen Biografie mit Bach’scher Originalmusik, Kammerorchester und Chor Unter den Beständen der Herzogin Anna im Oktober 1713 anlässlich des 52. Geburts- bringt das Berliner Atze Theater- und Amalia-Bibliothek in Weimar wurde eine tags des Herzogs Wilhelm Ernst von Sach- Konzerthaus im September das Leben von bislang unbekannte Komposition Johann sen-Weimar komponierte. Eine Erst- und Johann Sebastian Bach auf die Bühne. Sebastian Bachs entdeckt. Bei der eigenhän- Faksimileausgabe wird im Herbst 2005 im Das umfassende Künstlerporträt unter digen Partitur (Abb. unten) handelt es sich Bärenreiter-Verlag Kassel erscheinen. Auch dem Titel „Bach – Das Leben eines Musi- um eine Strophenarie mit Ritornell für Sop- eine Ersteinspielung unter der Leitung von kers in 33 Bildern“ zeigt den Komponisten ran, Streicher und Basso continuo, die Bach Sir John Eliot Gardiner wird vorbereitet. auch als Menschen seiner Zeit, dessen Kon- flikte mit weltlichen und kirchlichen Institu- © Bach-Archiv Leipzig tionen bis heute faszinieren. Auf Grundlage der wichtigsten Bach-Biografien und zahlrei- chen weiteren Quellen wirft Theaterleiter und Autor Thomas Sutter seinen Blick ne- ben der kompositorischen und musikhisto- rischen Leistung Bachs besonders auch auf dessen Persönlichkeit und gesellschaftlich- politischen Verstrickungen. Insgesamt wer- den 35 Musikstücke aus der Feder des gro- ßen Komponisten in theatralisch angemes- sener Form präsentiert. Zu den Besonderheiten der Aufführung – Premiere ist am 23. September – gehört, dass einige Musiker des Kammerorchesters (das als Hoforchester ins Bühnengeschehen eingreift) auch als Sänger des Thomaner- Chores und Schauspieler in kleinen Neben- rollen aktiv werden. U www.atzeberlin.de Das MIZ hilft bei der Suche nach dem richtigen Kurs ˜ Bundesmusikwoche „50plus“ für ältere Musikfreunde „Mein Kind möchte trommeln – aber wo?“ Wie finde ich Meisterkurse für Pianisten, wie Trommelworkshops für Kinder? Wen kontak- Der Bundesverband Deutscher Lieb- tiere ich, wenn ich an einem Seminar zum Thema Musikmanagement, einem musikwissen- haberorchester (BDLO) veranstaltet schaftlichen Kongress oder einer Fortbildung für Musiklehrer teilnehmen möchte? vom 7. bis 16. November in der Bayerischen Musikakademie Markt- Die Zahl und der Facettenreichtum der Kurse, sind im Kursinformationssystem auf der Home- oberdorf eine Bundesmusikwoche Fortbildungen und Kongresse im deutschen page des MIZ abrufbar. Dort finden sich Kurs- unter dem Motto „50plus“. Musikbereich sind so groß, dass es unmöglich angebote von Bundes- und Landesakademien Teilnehmer sind 80 Musikfreunde über erscheint, Pfade durch den Weiterbildungs- für musisch-kulturelle Bildung ebenso wie 50 Jahre, die Freude am Singen haben, ein dschungel zu finden. Eine Hilfe bietet das Meisterkurse von Musikhochschulen und Work- klassisches Orchesterinstrument (Streich- Deutsche Musikinformationszentrum (MIZ): shops von Verbänden und Vereinen. Zurzeit oder Blasinstrument) oder Blockflöte spie- Offen ausgeschriebene Kurse, Seminare, Kon- vermittelt das System ein Spektrum von über len. Als Angebote stehen zur Auswahl: Sin- gresse sowie weitere Fortbildungsangebote 1500 Veranstaltungen. U www.miz.org fonieorchester (Leitung: Jürgen Bruns, Ber- lin), Kammerorchester (Irina Schulika, Nürnberg), Kammermusik, Blockflötenchor (Bernd Fröhlich, Berlin) und Kammerchor (Thomas Hofereiter, Nordhausen). Es gilt, Musikstücke in ihrer Grundstruktur zu erfas- sen und auszuleuchten, was die Bereitschaft zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Werk erfordert. Mit der Musikwoche rea- giert der BDLO auf den Trend, dass immer mehr Senioren Kraft und Lebensfreude aus dem aktiven Musizieren ziehen und Musi- zieren als Herausforderung verstehen. U www.bdlo.de

 MUSIK ORUM 9 FOKUS

Aktueller Altenbericht unterstreicht die Stellung älterer Menschen in Wirtschaft und Gesellschaft

POTENZIALE DES

Andreas Kruse über den Beitrag von Senioren zum Zusammenhalt der Generationen

Der Altenbericht, für dessen Erarbeitung öhere Lebenserwartung und immer frühzeitigeres Ausscheiden aus Bundesministerin Renate Schmidt im Mai H dem Erwerbsleben haben eine neue Lebensphase herausgebildet, 2003 eine Sachverständigenkommission ein- in der die Menschen weitgehend von Verpflichtungen in Beruf und Familie setzte, will einerseits die Potenziale älterer Menschen in Wirtschaft und Gesellschaft frei sind, gleichzeitig aber leistungsfähig und leistungsbereit bleiben. aufzeigen und die gesellschaftlichen und „Dieser Lebensabschnitt sollte nicht nur individuell, sondern auch für die strukturellen Barrieren zur Nutzung dieser Gesellschaft genutzt werden“, so die Prämisse des Fünften Altenberichts, Potenziale aufdecken, zum anderen geht es den die Bundesregierung Ende August vorlegen wird. Das Know-how, die darum, praxisnahe Handlungsempfehlun- Kompetenz und die Lebenserfahrung Älterer dürften weder in der Wirt- gen und Umsetzungsstrategien für Politik, schaft noch in der Gesellschaft weiter ungenutzt bleiben. Wirtschaft und Gesellschaft zu geben und Zukunftsprognosen zu stellen. Der Heidelberger Gerontologe Andreas Kruse, Vorsitzender der Sachverständigen- Veröffentlichung einen Perspektivenwech- dungsangebote das ganze Leben lang nötig, kommission, hatte bereits im Vorfeld der sel angekündigt. Der Bericht werde Ent- vor allem für bildungsfernere Schichten.“ wicklungsmöglichkeiten und Chancen älte- Für das MUSIKFORUM gibt Kruse einen rer Menschen in und für die Gesellschaft in Einblick in die Inhalte des Fünften Alten- den Mittelpunkt stellen und mit überholten berichts, wobei er Überlegungen daraus auf Vorstellungen vom älteren Menschen auf- die Bedeutung der Musik für das Leben im räumen. Kruse: „Es kommt vor allem darauf Alter umsetzt. an, ältere Menschen ein selbstverantworte- tes Leben führen zu lassen. Dazu sind Bil-

1. Ein Beispiel für Potenziale des Alters in einer Grenzsituation des Alters: das Schaffen von Johann Sebastian Bach

Für das Verständnis des Alters ist das sätzlich verringerte und damit zu einer wei- Schaffen von Johann Sebastian Bach (1685- teren allgemeinen Schwäche beitrug. 1750) in hohem Maße aufschlussreich. Der Schließlich erlitt der Komponist einen große Komponist litt am Ende seines Lebens Schlaganfall, der letztlich zum Tode führte. an einem schweren Diabetes und verlor fast Doch diese hohen körperlichen Belastun- vollständig sein Augenlicht. Die erfolglose gen stehen im Gegensatz zur geistigen Augenoperation durch einen englischen Schaffensfreude des Komponisten zum „Meisterstecher“ (der auch Georg Friedrich Ende seines Lebens, ja sogar noch im letz- Händel behandelt hatte) verursachte eine ten Lebensjahr1: Bach brachte vor seinem schwere Virusinfektion, die ihrerseits die Tode unter anderem die Kunst der Fuge Anpassungsfähigkeit des Organismus zu- zum Abschluss, die aus musikwissenschaft-

 10 MUSIK ORUM entfalten. Damit ein derartiges Potenzial überhaupt entstehen kann, müssen mehre- re Bedingungen erfüllt sein. Zu nennen sind hier neben der anregenden, fordernden und fördernden Umwelt biografische Vorläufer, so vor allem: Offenheit für Neues, reflektier- te Auseinandersetzung mit neuen Erfahrun- gen, Entwicklung komplexer Problemlöse- strategien. Der Hinweis auf die Biografie ist wichtig. Denn er verdeutlicht, dass die krea- Alters tive Leistung nicht als ein einmaliger, außer- gewöhnlicher „Treffer“ zu verstehen ist („a one-shot affair“), sondern vielmehr als das Ergebnis einer lange anhaltenden, kontinu- ierlichen Beschäftigung mit einem Gebiet. Warum nun ist dieses Beispiel für das Verständnis des Alters hilfreich? Es zeigt, dass Menschen auch dann geistige (wie auch seelische) Potenziale zeigen können, wenn sie körperlich erkennbar geschwächt licher Sicht als ein „experimentelles Werk“, und eingeschränkt sind. Oder allgemeiner aus kognitions- und wissenspsychologischer ausgedrückt: Die körperliche Entwicklung Sicht als Ausdruck von Kreativität verstan- unterliegt anderen Entwicklungsgesetzen den werden kann. als die seelisch-geistige Entwicklung. ! Warum als Ausdruck von Kreativität? Kreativität beruht auf einer kommunizier- baren Originalität, die sowohl auf den Über- blick über die prinzipiell verfügbaren Optio- nen als auch auf eine fundierte Entschei- dung für eine im konkreten Fall gerade nicht nahe liegende, eher untypische, selten ge- wählte Option zurückgeht. Die Kunst der Fuge kann verstanden werden als eine Folge von Fugen (und Fugentechniken), die als in hohem Maße innovativ und damit als un- typisch anzusehen sind – dieses Werk zeugt von hoher Experimentierkunst und Experi- mentierfreude.

Freiheit älterer Menschen fördert Kreativitätspotenzial

Kreativität kann sich auf sehr unter- schiedliche Akte und Produkte beziehen und sich in sehr unterschiedlichen Bereichen ent- wickeln: Menschen können Kreativität im Um- gang mit Dilemmata in zwischenmensch- lichen Beziehungen ebenso entfalten wie in künstlerisch gestaltenden oder technologi- schen Bereichen. Unabhängig davon bewäh- ren sich kreative Lösungen häufig in breite- ren sozialen und kulturellen Kontexten, so- dass Personen durch die Entfaltung von Krea- tivität auch zum sozialen und kulturellen Wandel und damit zur weiteren Entwick- lung der Gesellschaft beitragen. Wenn ältere Menschen ein hohes Maß an Freiheit von bestimmten Leistungserwar- tungen und von Leistungsdruck empfinden, so kann sich ein hohes Kreativitätspotenzial

 MUSIK ORUM 11 FOKUS Ältere werden nicht in ihrem Humanvermögen für die Gesellschaft ! Aus diesem Grund wäre es in hohem halt der Generationen“ gewidmet; er wird Maße problematisch, wollte man von den Ende August 2005 der Bundesministerin für wahrgenommen, sondern körperlichen Prozessen im Alter unmittel- Familie, Senioren, Frauen und Jugend über- bar auf seelisch-geistige Prozesse schließen. geben und nach einer Abstimmung inner- nur als Belastung des In einer stark „körperorientierten“, die Ju- halb der Bundesregierung Anfang 2006 gendlichkeit des Menschen betonenden dem Deutschen Bundestag zugeleitet. Die Sozialsystems Kultur wie der unseren ist die Gefahr groß, Altenberichte sollen zum einen wissen- dass wir die seelisch-geistige Dimension des schaftliche Befunde zum Thema „Altern Menschen – speziell im Alter – übersehen und Alter“ zusammenfassend darstellen und mit einem Anstieg des Anteils 60-jähriger und damit an einer wichtigen Qualität des diskutieren, sie sollen zum anderen darle- und älterer Menschen von heute 23 Prozent Lebens vorbeigehen. gen, in welcher Hinsicht Lebensbedingun- auf geschätzte 36 bis 40 Prozent im Jahr gen und gesellschaftliche Altersbilder verän- 2050 – gewinnt die Frage, wie unsere Ge- dert werden müssen, um damit zu einem sellschaft mit dem Humanvermögen des 2. Zur „Geschichte“ erfüllten, kompetenten und produktiven Alters (hier verstanden als das Gesamt des der Altenberichte in Leben im Alter beizutragen. theoretischen und praktischen Wissens, der Erfahrungen, der materiellen Ressourcen, Deutschland des Hilfe- und Unterstützungspotenzials äl- 3. Inhalte des Fünften terer Menschen) umgeht, zunehmend an Die Altenberichte wenden sich primär Altenberichts Gewicht. Dabei kommt die Kommission zu an die Bundesregierung und den Deutschen einer für unsere Gesellschaft kritischen Be- Bundestag; sie sind jedoch gleichzeitig mit wertung: Das Humanvermögen des Alters Blick auf die breite Fachöffentlichkeit ge- Der Fünfte Altenbericht befasst sich mit wird, so wird dargelegt, viel zu wenig er- schrieben. In jeder Legislaturperiode des sieben Themenbereichen: Neben der Ar- kannt, anerkannt und sozial und kulturell Bundestags wird eine Expertenkommission beitswelt, der Bildung, materiellen Siche- genutzt. Ein Beispiel dafür ist der mit 60 Pro- aus zehn bis 15 Personen berufen, die zu rung und Einkommensverwendung im Al- zent sehr hohe Anteil an Unternehmen und einem vom Deutschen Bundestag aufgege- ter stellt er die Wirtschaftskraft Alter und die Betrieben, die keinen Menschen über 50 benen Thema einen nationalen Bericht er- Themenkreise Familie und außerfamiliäre Jahren mehr beschäftigen. stellen und in diesem politische Empfehlun- Netzwerke, Engagement und Teilhabe so- Es ist eine intensive gesellschaftliche – gen geben soll. Bislang wurden vier Alten- wie Migration dar. Für jeden dieser sieben und dies heißt: politische, kulturelle und so- ziale – Beschäftigung mit Fragen des Alters notwendig, um zu differenzierteren Alters- Längst keine bildern zu gelangen, die sowohl mögliche Pyramide mehr: Risiken des Alters (im Bereich der Gesund- Wo immer weniger Kin- heit und Selbstständigkeit) als auch mögli- der geboren und die Men- che Stärken und Kräfte des Alters berück- schen immer älter wer- sichtigen. Diese differenzierte Sicht auf das den, läuft die Bevölke- Alter ist derzeit nicht erkennbar: Alte Men- rungsentwicklung nach schen werden nicht in ihrem Humanvermö- oben nicht mehr spitz zu. gen für die Gesellschaft wahrgenommen, In Deutschland lag im Jahr 2003 das Verhältnis sondern vielmehr nur als eine „Belastung“ der Menschen im er- des sozialen Sicherungssystems. Zudem, so werbsfähigen Alter (zwi- zeigt die Kommission auf, ist die einseitige schen 20 und 64 Jahren) Orientierung an körperlichen Alternsprozes- zu den Älteren (ab 65 sen aufzugeben und durch ein umfassendes Jahren) bei Dreieinhalb zu Menschbild – welches in gleicher Weise die Eins. Im Jahr 2030 wird es körperliche, die seelisch-geistige, die soziale Zwei zu Eins betragen. Quelle: Statistisches Bundesamt und die existenzielle Dimension des Men- schen berücksichtigt – zu ersetzen. Denn erst unter der Bedingung eines umfassenden berichte erstellt.2 Der erste behandelte das Themenbereiche werden zentrale wissen- Menschenbildes werden die Potenziale des Thema „Alter und Gesellschaft“, der zweite schaftliche Befunde wie auch die aktuelle Alters offenbar. das Thema „Wohnen“, der dritte beschrieb gesellschaftliche Praxis diskutiert. Weiterhin Ferner ist es notwendig, die Heterogenität „Ressourcen des Alters“, der vierte rückte wird aufgezeigt, wo mögliche Stärken des der Gruppe älterer Menschen zu betonen. „Die Lebenssituation hoch betagter Men- Alters liegen (Beispiel: Expertenwissen älte- Die Unterschiede zwischen den Menschen schen mit spezieller Berücksichtigung der rer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Po- in den physiologischen, psychologischen und Versorgung demenzkranker Menschen“ in tenzial für die Arbeitswelt oder für das En- soziologisch-ökonomischen Parametern neh- den Vordergrund. gagement und die Teilhabe) und inwieweit men mit wachsendem Alter nicht ab, son- Der Fünfte nunmehr erscheinende Al- unsere Gesellschaft diese Stärken nutzt oder dern eher zu. Aus diesem Grunde ist sowohl tenbericht ist dem Thema „Potenziale des ungenutzt lässt. in der Theorie als auch in der gesellschaft- Alters für Wirtschaft und Gesellschaft – der Angesichts des tief greifenden demogra- lichen und politischen Praxis eine Orientie- Beitrag älterer Menschen zum Zusammen- fischen Wandels in unserer Gesellschaft – rung an dem Prinzip hoher Individualität der

 12 MUSIK ORUM Wichtig für den älteren Menschen: Musik versetzt

Kompetenzprofile wie auch der Lebens- Entwicklungschancen nachfolgender Gene- Denken, Fühlen und lagen sehr bedeutsam. rationen nicht beeinträchtigen. Aus diesem Wollen in Schwingung Grunde werden Fragen des Alters grund- Lebenslanges Lernen – sätzlich in Generationen übergreifenden und erhält die Reich- Recht und Pflicht Kontexten behandelt. Aus dem Leitbild der Generationenge- haltigkeit des Lebens Die Kommission geht von Leitbildern im rechtigkeit geht jenes des mitverantwort- Hinblick auf die Entwicklung, die Aufrecht- lichen Lebens älterer Menschen hervor: erhaltung und die gesellschaftliche Nutzung Ältere Menschen verfügen über kognitive, einer Situation, die von zahlreichen Verän- von Potenzialen im Alter aus. Das erste Leit- lebenspraktische, sozialkommunikative Kom- derungen bestimmt ist, im Einklang mit sich bild lässt sich umschreiben mit „Recht auf petenzen, die sie befähigen, innerhalb unse- selbst zu stehen. Zugleich trägt sie durch die lebenslanges Lernen und Pflicht zum lebens- rer Gesellschaft ein mitverantwortliches Le- Polyfonie dazu bei, die zahlreichen Facetten langen Lernen“. Das geforderte Recht auf ben zu führen – zum Beispiel im Sinne des der Persönlichkeit – ihres Denkens, Fühlens lebenslanges Lernen wird sofort Konsens in Engagements in Kommune, Verein, in der und Wollens – in Schwingung zu versetzen unserer Gesellschaft finden, hingegen weni- Nachbarschaft. Damit die Kompetenzen für und damit die Reichhaltigkeit des Lebens ger die Pflicht zum lebenslangen Lernen. mitverantwortliches Handeln genutzt wer- auch in der subjektiven Wahrnehmung zu Die Pflicht zum lebenslangen Lernen ergibt den, ist es notwendig, dass unsere Gesell- erhalten. Sodann darf die Musik nicht in ih- sich aus der Tatsache des sozialen, des kul- schaft ältere Menschen in viel stärkerem rer Bedeutung für die kognitive Entwicklung turellen und des technischen Fortschritts, an Maße als mitverantwortlich handelnde im hohen Alter unterschätzt werden: Das dem ältere Menschen – im Hinblick auf die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger an- „reflektierte Hören“ bereits vertrauter Musik Erhaltung von Selbstständigkeit und Selbst- spricht. Dabei ist zu bedenken, dass – wie wie auch das „Einhören“ in neue Musik sind verantwortung wie im Hinblick auf erhalte- bereits die altgriechische Philosophie des Lernprozesse, die sich positiv auf die kogni- ne soziale Teilhabe – in gleichem Maße parti- Aristoteles sehr klar beschreibt – der tive Entwicklung auch im hohen Alter aus- zipieren sollten wie jüngere Menschen. Dies Mensch im Kern ein zoon politikon, das wirken. Schließlich hat das Hören von Mu- erfordert Bildungsinteressen und Bildungs- heißt: ein politisch denkendes und handeln- sik eine wichtige „Erinnerungsfunktion“: Es aktivitäten auf Seiten des älteren Menschen des Wesen ist. In der Sprache der von Han- weckt die Erinnerung an frühere Ereignisse sowie entsprechende Angebote der ver- nah Arendt verfassten Schrift Vita activa oder und Erlebnisse und kann auf diese Weise schiedenen Einrichtungen der Erwachsenen- vom tätigen Leben 3 lässt sich dieser Sachver- zur Aufrechterhaltung von Identität beitra- bildung. halt wie folgt ausdrücken: Es geht darum, gen. Diese Erinnerungsfunktion der Musik Das zweite Leitbild lässt sich umschrei- dass wir das Alter in die Mitte der Gesell- lässt sich – darauf weisen zum Beispiel Un- ben mit Prävention in allen Phasen des Le- schaft (Polis) holen und nicht an den Rand tersuchungen des Instituts für Gerontologie benslaufs, wobei der Präventionsbegriff der Gesellschaft drängen. der Heidelberger Ruprecht-Karls-Universität nicht nur medizinisch, sondern auch sozio- hin – auch bei jenen Menschen nachweisen, logisch und psychologisch verstanden wird. deren seelische und geistige Situation auf- Es geht zum einen um die Vermeidung von 4. Zur Bedeutung der Musik grund einer schweren Demenzerkrankung Krankheiten und funktionellen Einschrän- für das Leben im Alter – tief greifend verändert ist. kungen, zum anderen um die Verringerun- Doch ist die Musik nicht allein aufgrund gen bestehender sozialer Ungleichheiten im Umsetzung einiger Über- ihrer Bildungsfunktion wichtig für das Alter Hinblick auf materielle Ressourcen, Bil- legungen des Altenberichts und für die Darlegung von Folgerungen aus dungsressourcen, gesundheitliche Versor- dem Fünften Altenbericht. Genauso wichtig gung, Wohnsituation etc. Eine zentrale ist hier die Tatsache, dass hoch betagte Mu- Komponente der Prävention ist die Vermitt- Die Musik gibt uns zunächst die Möglich- sikerinnen und Musiker vielfach über theo- lung von Kompetenzen, die für die selbst- keit, seelische und geistige Prozesse auszu- retische und praktische Expertise verfügen, ständige und selbstverantwortliche Lebens- drücken und auf dem Weg dieses Aus- die sie in die Lage versetzen, zu kreativen – führung wie auch für die soziale Integration drucks zu reflektieren. Durch die Reflexion im Sinne von innovativen, originellen – For- und Kommunikation im Alter bedeutsam werden erst Erlebnisse in Erfahrungen und men der Werkinterpretation zu gelangen. sind. Im Hinblick auf dieses Leitbild – wie Erkenntnisse transformiert. Sie bildet Mit diesem Kreaivitätspotenzial könnten sie auch des Leitbilds des lebenslangen Lernens weiterhin eine bedeutende Grundlage für nachwachsenden Musikergenerationen vie- – sind empirische Befunde von Bedeutung, das Werden zu sich selbst – eine Entwick- le wertvolle Anregungen geben. die auf die neuronale Plastizität (die Anpas- lungsaufgabe, die angesichts der Verände- sungsfähigkeit der Nervenzellen) und damit rungen, mit denen sich ältere Menschen in Expertise ermöglicht auf die Lern- und Veränderungskapazität ihrer Lebenssituation konfrontiert sehen (zu Interaktion mit Jüngeren des Menschen über den gesamten Lebens- nennen sind hier Veränderungen in den so- lauf hindeuten. Aus diesem Grunde sind zialen Rollen, der Verlust nahe stehender Wenn im Fünften Altenbericht von der Generationen übergreifende Bildungsange- Menschen, die an Intensität gewinnende Er- Stärkung des bürgerschaftlichen Engage- bote wichtig, die ausdrücklich auch die Bil- fahrung der eigenen Begrenztheit – und dies ments älterer Menschen – als einer Form dungsinteressen älterer Menschen anspre- sowohl in Begriffen der Zeit als auch in Be- des mitverantwortlichen Lebens – gespro- chen. griffen der Gesundheit), von hervorgehobe- chen wird, so besitzt diese Aussage für die Das dritte Leitbild betont die Generatio- ner Bedeutung ist. Musik besondere Relevanz. Denn hier ist nengerechtigkeit: Die Förderung der Le- Die Musik kann durch ihre Harmonie der Alternsprozess – trotz möglicher Einbu- bensbedingungen älterer Menschen darf die den Menschen dabei unterstützen, auch in ßen in der Technik – in aller Regel mit ei-

 MUSIK ORUM 13 FOKUS

nem kontinuierlichen Zuwachs an Expertise wortlichen Lebens im Alter wider: „Der verbunden, die den älteren Musiker in be- Kampf gegen die Diktatur hat ganz Spanien sonderer Weise in die Lage versetzt, in eine ergriffen – Studenten, Arbeiter, Intellektuel- s passt nicht in die Land- fruchtbare – von Geben und Nehmen be- le, Angehörige des Klerus –, und sie haben E schaft, Musikschulen zu stimmte – Interaktion mit jüngeren Musi- das Regime gezwungen, gewisse Konzessio- schließen.“ Mit diesen Worten kern zu treten. nen zu machen. Die einzigen Waffen, die kommentiert die Bundesministe- ich hatte, waren mein Cello und mein Takt- rin für Familie, Senioren, Frauen stock, und ich habe sie, so gut ich konnte, und Jugend, Renate Schmidt, eingesetzt, um die Sache zu unterstützen, an 5. Die Lebenseinstellung die Tatsache, dass immer mehr des Cellisten Pablo Casals die ich glaube – die Sache der Freiheit und Demokratie.“ … „Vielleicht werde ich Kata- – gerade auch ältere – Menschen als Beispiel für Offenheit lonien nie wieder sehen. Jahrelang hatte ich sich musikalisch betätigen und mitverantwortliches geglaubt, die Freiheit werde in mein gelieb- wollen. Vielmehr müssten die Leben im Alter tes Vaterland zurückkehren, ehe ich sterbe. „entsprechenden Rahmenbe- Nun bin ich nicht mehr so sicher. Der Tag dingungen“ geschaffen werden, wird kommen, das weiß ich, und dieses Wis- Der Cellist und Dirigent Pablo Casals – sen erfüllt mich mit Freude.“ die das Musizieren in Schulen, er verstarb 96-jährig im Jahr 1973 – hat mit Musikschulen und Vereinen 90 Jahren seine Erinnerungen aufgezeich- 1 vgl. Andreas Kruse: Das letzte Lebensjahr, Stuttgart ermöglichten. net, die unter dem Titel Licht und Schatten 2005. 4 auf einem langen Weg erschienen sind. Die- 2 Die Altenberichte wurden in der Schriftenreihe des Bun- Anlässlich des Bundesfinales des se Erinnerungen beginnen mit einer Refle- desministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Ju- Wettbewerbs „Jugend musiziert“ in Fürth xion über das Alter: gend veröffentlicht. bedauerte es Renate Schmidt, dass unse- 3 Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben, „Alter ist überhaupt etwas Relatives. Stuttgart 1960. re Gesellschaft die Kompetenzen und Er- Wenn man weiter arbeitet und empfänglich 4 Pablo Casals: Licht und Schatten auf einem langen Weg, fahrungen der älteren Menschen nicht bleibt für die Schönheit der Welt, die uns Frankfurt 1971. adäquat nutze. Im Gespräch mit Chris- umgibt, dann entdeckt man, daß Alter nicht tian Höppner unterstützte sie die Idee, notwendigerweise Altern bedeutet, wenigs- „Jugend musiziert“ um die Kategorie tens nicht Altern im landläufigen Sinne. Ich „Familienmusizieren“ zu erweitern und so- empfinde heute viele Dinge intensiver als je Der Autor: mit das generationenübergreifende Musi- zuvor, und das Leben fasziniert mich immer Prof. Dr. Andreas Kruse hält als Direk- zieren zu fördern. mehr.“ Dieses Zitat ist ein Beispiel für die tor des Instituts für Gerontologie der Offenheit im Alter. Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Es gibt immer mehr ältere Men- Seine Erinnerungen enden mit seinem einen Lehrstuhl für Gerontologie. Er ist schen in unserer Gesellschaft. Wie lässt persönlichen Beitrag zur Demokratie in Spa- Mitglied des 15-köpfigen Technischen sich die kulturelle Teilhabe auch für die nien sowie mit Gedanken an seine Heimat Komitees der Vereinten Nationen zur Bürgerinnen und Bürger im dritten Lebens- Katalonien, aus der er 1939 emigrierte Erstellung des International Plan of alter sicherstellen? (zunächst nach Frankreich, dann nach Puer- Action on Ageing und Vorsitzender der Renate Schmidt: Der Wunsch, to Rico), um dem Faschismus der Franco- Dritten und der Fünften Altenberichts- Kultur zu erleben, wird sich weiter ver- Diktatur zu entkommen. In diesem Beitrag kommission der Bundesregierung. stärken, und zwar für Menschen jeden spiegelt sich das Moment des mitverant- Alters. Da bin ich ganz zuversichtlich. Es gibt ein breites Bedürfnis, Kultur aktiv zu erleben, das heißt: nicht nur zu hören, sondern selbst zu singen oder ein Instru- ment zu spielen. Das ist eine frohe Bot- schaft, der wir alle Rechnung tragen sollten, indem wir für die entsprechen- den Rahmenbedingungen sorgen, die das Musizieren in Schulen, Musikschulen und Vereinen ermöglichen. Da passt es nicht in die Landschaft, Musikschulen zu schließen. Was ich hier bei „Jugend musiziert“ zum wiederholten Male erlebe, fasziniert mich in seiner Unverwechselbarkeit, „Alter bedeutet Qualität und Unvoreingenommenheit. nicht notwendi- Der Bundeswettbewerb ist aber nur die gerweise Altern“: Spitze des Eisbergs. Ohne die bestmög- Pablo Casals. liche Qualifizierung in der Breite – und zwar möglichst früh! – ist es später

 14 MUSIK ORUM Lieblingstermin: Bundesfamilienministerin Renate Schmidt beim 42. Bundeswettbe- werb „Jugend musiziert“ in Fürth, flankiert von Repräsentanten der gastgebenden Stadt und des Deutschen Musikrats. Foto: Malter

Bundesministerin Renate Schmidt:

»Frühförderung IST GRUNDSTEIN FÜR KULTURELLE TEILHABE ÄLTERER MENSCHEN«

schwer, Defizite aufzuholen. Kinder oder nicht adäquat genutzt werden. Deshalb Jugendliche, die selbst Musik machen, wer- engagieren wir uns in der Frage, wie die den dieses Bedürfnis auch im Alter haben. Potenziale des Alters nutzbar gemacht All die positiven Auswirkungen auf die werden können und wie wir im Rahmen Persönlichkeitsentwicklung, der Erwerb der generationenübergreifenden Freiwilli- von so genannten Schlüsselkompetenzen gendienste – zum Beispiel durch die Er- prägen ja den Menschen ein Leben lang. probung lokaler Freiwilligendienste durch Die Frühförderung ist also der Grundstein Seniorenkompetenzteams – diese Poten- für eine kulturelle Teilhabe älterer Men- ziale besser ausschöpfen können. Der schen. Allerdings ist es nie zu spät, zum demografische Wandel ist ja dann eine Beispiel mit dem Singen zu beginnen. Chance, wenn wir genau diese Kompe- tenzen älterer Menschen mit einbeziehen. Eines der Schwerpunktthemen des Denn wer die Zukunft sichern will, der Deutschen Musikrats wird das Thema „Musi- muss die Zivilgesellschaft stärken. zieren im dritten Lebensalter“ sein. Der Ver- band deutscher Musikschulen hat an über Das generationenübergreifende „Es gibt ein breites Bedürfnis, Kultur 50 VdM-Musikschulen sein praxisorientiertes Musizieren gewinnt angesichts der soziokul- aktiv zu erleben“: Bundesministerin Renate Modellprojekt „Musikalische Erwachsenen- turellen Entwicklungen zunehmend an Schmidt im Gespräch mit Christian Höppner. bildung“ erfolgreich durchgeführt. Im Bereich Bedeutung. Würden Sie ideell wie tatkräftig des Laienmusizierens gibt es schon seit Jahren eine Ausweitung des Wettbewerbs „Jugend vielfältige Zugangsmöglichkeiten für ältere musiziert“ mit der Kategorie „Familienmusi- Menschen. zieren“ fördern? finden, kann sich jeder vorstellen. Gibt es Doch angesichts der zu erwartenden Diese Idee findet meine volle Unter- einen musikalischen Traum, den Sie sich immensen Nachfragesteigerung von älteren stützung, denn das Familienmusizieren ist irgendwann gerne erfüllen würden? Bürgerinnen und Bürgern nach Angeboten ganz wichtig für das Verstehen und Mitei- Leider bin ich zu wenig begabt. Wenn zum aktiven Musizieren sind wir heute längst nander verschiedener Generationen, wenn ich singen möchte, schickt mich meine noch nicht gut vorbereitet auf das, was uns man Familie im weiten Sinne über die Familie immer in das Badezimmer und morgen erwartet. Gibt es in Ihrem Ministerium Generationen hinweg betrachtet. Dieser sagt, dass ich die Tür von innen schließen konkrete Überlegungen, das Thema zu beför- Aufgabe müssen wir uns alle stellen, und soll. Dabei finde ich meine Stimme ganz dern und etwa durch Pilotprojekte stärkere da haben der Musikrat und seine Mitglie- schön. So werde ich mich an dem erfreuen, Impulse für eine gesellschaftliche Realisierung der im Bereich der musikalischen Bildung was meine Kinder und Enkelkinder musi- zu setzen? eine besondere Verantwortung. kalisch auf die Beine stellen und sicher noch Es gehört zu den Absurditäten in unse- die eine oder andere schöne Veranstaltung rer Gesellschaft, dass die Kompetenzen Dass Sie als Ministerin keine Zeit des Deutschen Musikrats besuchen – das und Erfahrungen der älteren Menschen für eine eigene musikalische Betätigung hat sich bisher immer gelohnt!

 MUSIK ORUM 15 FOKUS

Wie Pädagogen, Musiker und Therapeuten musikalische Bildung in der Altenarbeit befördern. Von Hans Hermann Wickel und Theo Hartogh

AUSBILDUNGSDISZIPLIN Musikgeragogik

m Schnittfeld von Musikpädagogik und Geragogik (Altenbildung) das Pflegepersonal Musik in den Pflegealltag I beschäftigt sich Musikgeragogik mit den didaktisch-methodischen einbeziehen – sofern der zeitliche Druck Aspekten musikalischer Bildungsprozesse im Alter. Sie umfasst alle hierfür Freiräume lässt. Bei der sonst über- wiegend körperlichen Betreuung bietet das musikpädagogischen Bemühungen und Interventionen im Bereich der Musizieren und Musikhören die Möglich- Altenarbeit, die nicht erzieherisch oder therapeutisch intendiert sind, keit, bei den sozialen und emotionalen Be- und zielt auf die Unterstützung musikalischer Bildung und musikbezo- dürfnissen der Klientel anzusetzen und so- gener Erfahrungen im Alter.1 mit auch demenziell erkrankte Menschen einzubeziehen. Wegen der inhaltlichen Überschneidun- Das Spektrum der Arbeitsfelder ist breit ˇ und reicht von Seminarangeboten in Senio- (Musik-)Pädagogen in der Erwach- gen im methodischen Bereich ist Musikthe- senenbildung rapie eine wichtige Bezugsdisziplin der Mu- ren-Universitäten über Musikschulen, Volks- ˇ hochschulen, Altenakademien bis zu Musik- Schulmusiker und Musiklehrer an sikgeragogik (vgl. Tüpker & Wickel 2001). aktivitäten in Alten- und Pflegeheimen so- den Musikschulen Unterschiede – vor allem gegenüber den ˇ Kirchenmusiker sozialpädagogischen und altenpflegerischen wie in der offenen Altenarbeit. ˇ Aufgrund der institutionellen Vielfalt Musiktherapeuten Zugriffsmöglichkeiten – sind besonders im ˇ kommen für eine musikgeragogische Tätig- Sozialpädagogen in Berufsfeldern Setting der Musiktherapie zu sehen, das auf der Altenhilfe und klaren Absprachen, Regelmäßigkeit und auf keit neben Ehrenamtlichen mehrere Berufs- ˇ gruppen in Frage: Pfleger. einer auf Anamnese und Diagnose aufbau- enden therapeutischen Beziehung beruht. Letztere stellen zahlenmäßig wohl die Daher erfordert die musiktherapeutische In- maßgebliche Bezugsgruppe dar, die beruf- tervention ein deutlich anderes Kompetenz- lich unmittelbar mit alten Menschen zu tun profil in der musikalischen, klinischen sowie hat. Musik zählt natürlich nicht zu ihren ur- psychotherapeutischen Ausbildung. eigenen Aufgaben, gleichwohl kann gerade Biografische Studien mit alten Menschen belegen, dass Musizieren und Musikhören Sinnerfahrung ermöglichen und unmittelbar auf Wohlbefinden und Lebensbewältigung wirken (vgl. z. B. Hartogh 2005, Muthesius 2002, Tüpker & Wickel 2001). Vor dem Hin- tergrund der biografischen Forschungen und zahlreichen Praxisstudien lassen sich als Ziele musikgeragogischer Arbeit formulieren:

ˇ musikalische Bildung ˇ Kommunikationsförderung (Aus- tausch von Meinungen, Erfahrun- gen, Gedanken, Gefühlen, Befind- lichkeiten, Stimmungen, Kontaktherstellung) ˇ das Schaffen von Atmosphäre ˇ Alltagsorientierung

 16 MUSIK ORUM ˇ Erinnerungsarbeit ˇ Wahrnehmungsförderung ˇ emotionale Aktivierung ˇ Vermittlung von Freude und Spaß ˇ Gedächtnis-, Konzentrations- und Koordinationstraining ˇ Trauerbegleitung, Trostsuche, Hilfen zur Bewältigung von personellen und materiellen Verlusten ˇ Gesundheitsförderung (Motorik, Stimme, Atem, Einflussnahme auf das vegetative System, Bewältigung geistiger und körperlicher Beein- trächtigungen) ˇ Ausdrucksförderung und Reaktivie- rung von Ausdrucksfähigkeit „Musikstunde“: Pädagogen und Studierende ˇ Vermittlung von Erfolgserlebnissen ˇ von der Hochschule für Musik und Theater Steigerung des Selbstwertgefühls. Leipzig bringen im Rahmen des Lehr- und Biografische Bezüge stellen in diesen Lernangebots „Musikalisch-künstlerische methodischen Zugängen einen wesentlichen Arbeit mit Gruppen im späten Erwachsenen- Ansatzpunkt dar. Musik kann eine Brücke alter“ Abwechslung und schöpferische Mit Musik Gefühle leben zur Erinnerung an Personen und Ereignisse Initiative in ein Leipziger Altenheim. Das MUSIKFORUM berichtete über das Projekt und wiedererleben darstellen und Ressourcen für die Gegen- wartsbewältigung freilegen. im Heft 3/2004. Auch der Vierte Bericht zur Lage der äl- Musikalische Biografiearbeit verlangt teren Generation des Bundesministeriums vom Musikgeragogen neben musikalischem für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissen vor allem Toleranz, Lernbereitschaft, (2002) forderte, dass Patienten, denen kog- Neugier und große Offenheit. Situatives nitiv-verbale Wege der Kommunikation Aufgreifen der musikalischen Möglichkeiten krankheitsbedingt immer weniger zur Ver- der Agierenden, ein feines Aufspüren der eine entscheidende Rolle für eine gelunge- fügung stehen (dazu zählen in erster Linie Bedingungen und ein verständnisvolles Ein- ne musikgeragogische Begegnung. demenziell Erkrankte, deren Zahl in den beziehen der Bedürfnisse sowie ein Einge- Im Einzelnen umfasst musikgeragogische nächsten 30 Jahren um mindestens 60 Pro- hen auf individuelle Erfordernisse verlangen Ausbildung: zent zunehmen wird), Gelegenheit erhalten, nach einem Zugang, der sich nicht über ˇ Schulung von Ehrenamtlichen: Ge- in dem Erleben von Kunst und Musik oder musikalische Zielvorgaben, sondern über mäß Bundessozialhilfegesetz § 75 soll alten auf dem Weg eigenen Gestaltens Gefühle verstehendes Handeln und den Aufbau Menschen die Teilnahme am Leben in der zu leben und wiederzuerleben. einer Beziehung durch Musik erschließt.2 Gemeinschaft ermöglicht werden. Hierzu Konkret bieten sich für die musikgerago- Insofern spielen auch nichtmusikalische gehören die Hilfe zum Besuch von Veran- gische Praxis vor allem folgende Handlungs- Schlüsselkompetenzen, wie sie z. B. im Be- staltungen oder Einrichtungen, die der Ge- felder an: reich der Gesprächsführung (Rogers) gelten, selligkeit, der Unterhaltung, der Bildung oder den kulturellen Bedürfnissen alter Men- schen dienen. Diese Forderung ist ohne das ˇ Singen (Volkslieder, Kirchenlieder, ˇ Anekdoten und Berichte aus der Engagement von Ehrenamtlichen in der Al- Bewegungslieder, Schlager, Operetten- Musikgeschichte tenhilfe nicht zu erfüllen. melodien etc.) ˇ Biografiearbeit ˇ Grundlagen musikgeragogischer ˇ Themenzentrierte Musikarbeit ˇ Aktives Musizieren (Orffsches Instru- Arbeit für Musikstudenten: Die Musik- („Morgen“, „Frühling“ etc.) mentarium, ggf. Instrumente, die noch ausbildung ist naturgemäß sehr stark auf die ˇ Rhythmusarbeit, z. B. auch mit dem beherrscht werden) Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ausge- körpereigenem Instrumentarium ˇ Verklanglichungen von Geschichten, richtet. Erst allmählich finden sich in den ˇ Sitztänze Gedichten, Bildern, Erlebnissen, Curricula der Hochschulen Ansätze des Inst- ˇ Wahrnehmungs-, Konzentrations-, Alltagssituationen rumentalunterrichts mit erwachsenen oder Stilleübungen ˇ Improvisationen nach musikalischen gar älteren Personen. Meist halten diese ˇ Traumreisen, Klangreisen, Fantasie- oder außermusikalischen Vorgaben Konzepte auf Umwegen – über Kurse, Vor- reisen ˇ Malen nach Musik träge und Weiterbildungen – Einzug in die ˇ Liedwerkstatt (Texte schreiben zu ˇ Vorbereitung und Durchführung von Musikhochschulen. Da der Arbeitsmarkt bekannten Melodien) Konzertbesuchen der Absolventen im Wandel begriffen ist ˇ Musik hören und beschreiben, ˇ Textunterlegungen mit Musik und der „Kundenkreis“ weit über das ge- Stellung nehmen zur gehörten Musik, (Melodram). wohnte Arbeitsfeld hinausgeht und mit zu- Ratespiele nehmender Tendenz hinausgehen wird (bei- spielsweise durch die Arbeit mit älteren

 MUSIK ORUM 17 FOKUS

»WÄRE Schülern oder mit Menschen mit Behinde- des zu verzeichnenden zunehmenden Inte- rungen), sollten (musik-)geragogische Inhal- resses an Bildungsangeboten in der Altenhil- te in den Ausbildungsplänen aufgenommen fe sind allerdings weitere musikgeragogische werden – auch um zu verhindern, dass Mo- Forschungen und Praxiserfahrungen not- WÜRDE ICH delle eines Anfangsunterrichts für Kinder wendig und wünschenswert. bzw. Schulcurricula auf die pädagogische Arbeit mit älteren Menschen unreflektiert 1 vgl. Theo Hartogh: Musikgeragogik – ein bildungstheo- übertragen werden. retischer Entwurf. Musikalische Altenbildung im Schnitt- ˇ Integration in die pflegerische und feld von Musikpädagogik und Geragogik, Augsburg sozialpädagogische Ausbildung: In den 2005. 2 Theo Hartogh und Hans Hermann Wickel: „Biografie- nächsten 25 Jahren wird der Anteil der über arbeit“, in: Theo Hartogh und Hans Hermann Wickel 60-Jährigen an der Gesamtbevölkerung von (Hg.): Handbuch Musik in der Sozialen Arbeit, Weinheim ca. 21 Prozent um die Jahrtausendwende 2004, S. 445. auf voraussichtlich 35 Prozent anwachsen. 3 vgl. z. B. Füller 1994; Harms und Dreischulte 2 2001, Leidecker 2004, Muthesius 2002; Tüpker und Wickel Dieser Trend erfordert einen enormen Be- 2001. rufsbedarf im Feld der Altenhilfe und noch viele Initiativen, um diesem Wandel gerecht zu werden. U. a. ist das Thema „Ästhetische Die Autoren: Praxis mit alten Menschen“ in Forschung und Lehre weiterzuentwickeln. Als einen Theo Hartogh studierte Schul- Schritt in diese Richtung bietet z. B. der musik, Klavier, Musikwissenschaft und Biologie in Hannover und Ham- burg und war von 1985 bis 1993 als Gymnasiallehrer tätig. Nach Promo- tion (TU Chemnitz) und Habilitation (Universität Leipzig) hält er seit 1993 einen Lehrstuhl für Musik/Musikpädago- gik an der Katholischen Fachhochschule Norddeutschland; Arbeitsschwerpunkte: Behinderten- und Altenarbeit. Hans Hermann Wickel war nach Musikstudium (Orgel, Klavier, Musik- theorie) und Universitätsstudium (Musikwissenschaft, Romanistik, Er- ziehungswissenschaft) zunächst als Lehrer und Erzieher, ab 1988 dann als Dozent für Musiktheorie, Gehörbildung und Analyse an der Musikhochschule Fachbereich Sozialwesen der Fachhoch- Münster tätig. Seit 1995 ist er Professor schule Münster in Kooperation mit dem für Musikpädagogik an der Fachhoch- Studiengang Musiktherapie an der Univer- schule Münster mit den Arbeitsschwer- punkten Musikgeragogik, Musicals, sität Münster regelmäßig Seminarangebote Improvisation, Hörschäden und Musik. zum Thema „Musik mit alten Menschen/ Musikgeragogik“ an. Im September 2005 wird sich der Bundeskongress Soziale Arbeit Literatur: in einer Arbeitsgruppe dieses Themas an- • Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und nehmen. Jugend: Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation ˇ Weiterbildung von musikinteres- in der Bundesrepublik Deutschland. Risiken, Lebensqua- sierten und musikbefähigten Personen lität und Versorgung Hochaltriger – unter besonderer Be- in der Altenhilfe: Da dem Umgang mit rücksichtigung demenzieller Erkrankungen, Berlin 2002. Musik in der Altenhilfe eine besondere Rol- • Füller, Klaus: Musik mit Senioren: Theoretische Aspek- te und praktische Anregungen, Weinheim 1994. le zukommt, sollten dort Tätige die Chance • Harms, Heidrun und Dreischulte, Gaby: Musik erleben haben, sich in musikgeragogischen Metho- und gestalten mit alten Menschen, Stuttgart 22001. den weiterbilden zu können: Die Fachhoch- • Hartogh, Theo: Musikgeragogik – ein bildungstheore- schule Münster reagiert auf diesen Bedarf tischer Entwurf. Musikalische Altenbildung im Schnittfeld von Musikpädagogik und Geragogik, Augsburg 2005. mit der bundesweit ersten Weiterbildung • Leidecker, Klaus: Das Leben klingen lassen. Musikinter- zum zertifizierten Musikgeragogen (www. vention in der Sozialpädagogik, Essen 2004. fh-muenster.de). • Muthesius, Dorothea: Musikerfahrungen im Lebenslauf Modelle erprobter praktischer Ansätze alter Menschen, Hannover 2002. • Tüpker, Rosemarie und Wickel, Hans Hermann (Hrsg.): 3 existieren schon seit geraumer Zeit. Auf- Musik bis ins hohe Alter. Fortführung, Neubeginn, Thera- grund der demografischen Entwicklung und pie (Materialien zur Musiktherapie, Bd. 8), Münster 2001.

 18 MUSIK ORUM ICH GESUNDHEITSMINISTER, MEHR Musiktherapie ANBIETEN!«

Interview mit Eckart Altenmüller, Professor für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover

hne Frage: Musizieren im dritten Lebensalter ist Ja, das kann man sagen. Leider beginnt Osinnvoll und kann etwas bewegen“, sagt der Musik- das Altern der Wahrnehmungsfunktionen physiologe Eckart Altenmüller. Er verweist auf neue Studien, schon ab 25 Jahren. Am Anfang geht es langsamer, später ein bisschen schneller. in deren Rahmen 60- bis 80-Jährigen erstmalig Klavierunter- Zur gleichen Zeit bilden wir aber neue richt erteilt wurde und die offenbarten, dass das Klavierspiel und präzisere Konzepte über die Erschei- bei Erwachsenen zu einer Verbesserung von Gedächtnis- nungen der Welt, sodass sich dieser Nach- funktionen und von gedanklicher Flexibilität führt. teil ausgleicht. Ab einem bestimmten Alter lassen auch zentrale Gedächtniskapazitäten Altenmüller tritt energisch Positionen nach. Hier ist von Bedeutung, dass Gedächt- entgegen – wie etwa der seines Kollegen nis ein Leben lang geübt wird. Man weiß Manfred Spitzer –, wonach es „zu spät“ sei, heute, dass sich sogar noch im hohen Er- wenn man mit 20 Jahren noch kein Instru- wachsenenalter neue Nervenzellen bilden. ment erlernt habe: „Das stimmt nicht, wie Vor allem dort, wo sie dem Gedächtniszu- vielfache Erfahrungen aus der Erwachsenen- griff dienen: in den Bereichen des unteren pädagogik und jetzt auch die neuen Studien Schläfenlappens, im so genannten Hippo- zeigen.“ kampus-Areal. Diese Neubildung von Ner- Mit dem Hannoveraner Musikphysiolo- venzellen wird durch Übung des Gedächt- gen unterhielt sich Hans Bäßler. nisses angeregt. Auf der anderen Seite weiß man von diesen Hirnstrukturen auch, dass Im Moment gibt es einen Run älterer die Zellenneubildung ihre Funktion zum Menschen hin zu Instrumentalgruppen und Beispiel bei Depressionen und anderen Chören. Dagegen steht die landläufige Auf- psychiatrischen Erkrankungen einstellt. fassung, Menschen im höheren Alter könnten Das erklärt auch, warum Depressionen sich – wegen der Alterungsprozesse des häufig auch mit so genannten Pseudodemen- Gehirns – kaum noch musikalisch aktiv zen, also mit dem Verlust von Gedächtnis- betätigen. Was passiert eigentlich, wenn funktionen, einhergehen können. der Mensch und sein Hirn altern? Altenmüller: Wenn das Hirn altert, Heißt das, man bekäme depressive dann lassen tatsächlich einige Funktionen Störungen in den Griff, würde man mit den nach. Das sind vor allem Wahrnehmungs- Patienten musizieren? funktionen, z. B. die Geschwindigkeit, mit Ja. Das Interessante dabei ist, dass sich der Bilder oder akustische Informationen die Neurogenese wohl wieder einstellt, Gegen Isolation und erfasst werden. Dazu gehören auch die wenn man diese Patienten mit Antidepres- Körperwahrnehmung, Hautsinne etc. Die siva behandelt. Es gibt Depressionsmodelle psychische Erkrankungen, Sinnesorgane lassen in ihrer Leistungsfähig- an Tieren, mit denen dies detailliert mit dem keit nach. Ältere Menschen brauchen mehr Modell der erlernten Hilflosigkeit erforscht für mehr Abwehrkraft Zeit, um Dinge zu erfassen. Aber dieser wurde. Tiere wurden in eine Situation ge- und Wohlempfinden – Nachteil wird durch die Erfahrung ausge- bracht, in der sie hilflos waren, was zu einer glichen. Erwachsene haben einen sehr Art Depression führte, wie bei uns Men- gerade im höheren breiten Erfahrungsschatz und können ihre schen auch. Dabei konnte man genau nach- Wahrnehmungen, auch wenn diese brüchi- weisen, dass die Nervenzellenneubildung Lebensalter wirkt ger und weniger deutlich sind, durch men- unter der Behandlung mit entsprechenden tale Repräsentationen, die sie durch Erfah- Medikamenten oder auch bei bestimmten Musizieren segensreich rung erworben haben, ergänzen. körperlichen Aktivitäten, die ja auch anti- depressiv wirken, wieder zunimmt. ! Gibt es ein Absinken der Wahrneh- mung insgesamt?

 MUSIK ORUM 19 FOKUS

Und kann an diesem Punkt auch die Leuten auf sozialen Erkrankungen beru- Musik einwirken? hen, etwa Isolation, mangelhafte Möglich- Es gibt mindestens drei große Bereiche, keiten sich auszutauschen, der gesamte in denen Musizieren auch im höheren psychosomatische Komplex, die Gefühls- Lebensalter segensreich wirkt: Zunächst kälte, von denen viele Menschen umgeben kann das Musizieren in jedem Lebensalter sind, die dann zu Schmerzproblemen und emotional belohnend sein. Der zweite direkten psychischen Erkrankungen führen. Punkt besteht darin, dass das Musizieren In diesem Bereich könnte durch eine sorg- als Gruppenelement wahrscheinlich eine fältige Musikalisierung der Erwachsenen ganze Reihe von komplexen sozialen Skills ein enormes Potenzial entwickelt werden. (Geschicklichkeiten) übt und dann eine Pilotprojekte in Erwachsenenorchestern bessere soziale Integration und Akzeptanz beispielsweise zeigen, wie sich der Gesund- schafft. Das Chorsingen ist da ein Muster- heitszustand und das Gesundheitsverhalten beispiel. Und drittens gibt es einen direkten verbessern. Wenn ein Musikinstrument kognitiven Transfer, was vor kurzem in erlernt wird, dann bedeutet das nicht nur einer Studie aus Florida aufgezeigt wurde. Arbeit für den Körper, sondern auch Wahr- Dort erhielten 60-Jährige erstmals Klavier- nehmen und Achten auf den Körper. Das unterricht. Sie konnten nicht nur nach sind letztlich auch Dinge, die präventiv sechs Monaten beispielsweise leichte Prä- wirken. ludien von Bach spielen, sondern waren Ein weiterer Punkt: Abgesehen vom all- auch in Gedächtnisfunktionen, Aufmerksam- gemeinen sozialen Aspekt werden gerade keitsspanne und Problemlösungen verbessert beim Chorsingen bestimmte Abwehrkräfte im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die Eckart Altenmüller: direkt stimuliert. Heute wissen wir, dass diesen Klavierunterricht nicht bekommen beim Singen im Chor das Hormon Oxitoxin hat. »Musik lässt sich ausgeschüttet wird, was vor allem der Ab- wirkungsvoll einsetzen, wehrkraft, dem Gedächtnis und dem Kör- Gibt es Erkenntnisse, ob Musik und perwohlbefinden dient. Aspekte, die auch Bewegung in einem besonderen Zusammen- um Menschen, deren antidepressiv wirken. Ich glaube, es wäre hang mit dem musikalischen Lernen im Alter ein wichtiger Punkt, hier eine stärkere stehen? Bewegungsfähigkeit Aufklärungsarbeit zu betreiben und zudem Dieser Punkt ist sehr wichtig. Erst kürz- den Menschen auch die Scheu vor dem lich ist gezeigt worden, dass Säuglinge, die reduziert ist, wieder Singen oder Musizieren im Ensemble zu in einem bestimmten Rhythmus geschaukelt nehmen. werden, diese Rhythmen auch auditiv re- motorisch zu aktivieren.« präsentieren und sie besser und feiner unter- scheiden können. Es gibt also eine sehr enge Leben und Arbeit zwischen Verbindung zwischen Hören und Bewegen. Heute wissen wir, dass es beim Musizieren Ich würde eine enorme Förderung der Medizin und Musik und Musikhören durch die Verbindung von musikalischen Erziehung in der breiten Eckart Altenmüller studierte ab 1974 zunächst auditiven Mustern und aktiver Bewegung Bevölkerung befürworten und würde ent- Medizin, ab 1979 zudem Musik an der Musikhoch- zu einer Gehirnvernetzung kommt. So kann sprechende Mittel zur Verfügung stellen. schule Freiburg (Hauptfach Querflöte); zwischen 1983 und 1985 folgten eine neurophysiologische man zum Beispiel in der Musiktherapie Zudem würde ich in den Krankenhäusern Ausbildung in Freiburg und erste Arbeiten über Groß- wirkungsvoll die Musik dafür einsetzen, vermehrt Musiktherapien anbieten und die hirnaktivierung bei Musikverarbeitung; 1985 schloss Menschen, deren Bewegungsfähigkeit sich Ausbildung für Musiktherapeuten professio- Altenmüller sein Musikstudium mit der künstleri- reduziert hat, wieder motorisch zu aktivie- nalisieren. Eines der Probleme in Deutsch- schen Reifeprüfung ab, seither auch fortgesetzte Konzerttätigkeit als Querflötist; bis 1994 folgten Fach- ren. Das gilt für die Parkinson’sche Krank- land ist, dass die Musiktherapie nicht in dem arztausbildung, Habilitation und Oberarztposition heit, die ja sehr stark auf auditive Reize an- Maße angesehen ist, wie sie es eigentlich an der Neurologischen Universitätsklinik Tübingen. spricht. Wenn man diese Patienten rhyth- verdient. Das beruht teilweise darauf, dass Seit 1994 ist er Universitätsprofessor und Direktor des misch stimuliert, dann können deren moto- wenig empirische Untersuchungen vorliegen, Instituts für Musikphysiologie und Musiker-Medizin der Hochschule für Musik und Theater Hannover; rische Fertigkeiten gezielt geübt werden. die jetzt einfach durchgeführt werden müs- er forschte vor allem auf dem Gebiet der zentralner- Ein anderer Punkt ist die Alzheimer’sche sen. Aus anderen Ländern, vor allem aus vösen Verarbeitung von Musik und der Sensomoto- Krankheit. Man weiß heute, dass bei dieser den USA, wissen wir, dass ein enormes rik des Musizierens. Krankheit das Hörsystem am spätesten be- Potenzial brachliegt. troffen wird. Das heißt, man kann die Betroffenen mit musikalisch rhythmischen Könnte man wesentliche Kosten, die Stimulationen motorisch aktivieren. sonst für die medizinische Versorgung ausge- geben werden, einsparen? Wenn Sie Gesundheits- und Sozial- Davon bin ich fest überzeugt. Ich möchte minister wären – welche Konsequenzen wür- hierzu einige Bereiche ansprechen: Der den Sie aus diesem Ansatz für die Gesund- erste Punkt ist, dass ein entscheidender heits- und Sozialpolitik ziehen? Anteil der Erkrankungen gerade bei älteren

 20 MUSIK ORUM ROCK’N’ROLL DURCH DIE Gleitsichtbrille

Jürgen Terhag macht sich Gedanken zur musikalischen Sozialisation im dritten Lebensalter

ine der Hymnen der Popmusik lautet „Forever young“. Dieser opti- Programm und Konterkarierung: Sangen E mistische Song legt ebenso wie das James-Dean-Motto „Live fast, The Who vor 40 Jahren noch „Hope I die before I get old“, dreht Popstar Robbie die young“ oder der alte Sponti-Spruch „Traue keinem über 30“ den Williams das heutige Lebensgefühl um: trügerischen Schluss nahe, dass man durch Hören, Singen und Spielen „Hope I‘m old before I die.“ von Populärer Musik jung bleibe. Ja, er suggeriert sogar, dass Pop und Jugend ein und dasselbe seien. Dieser Schluss ist falsch.

Populäre Musik manifestiert sich zwar fore I get old“ gekleidet. Dieser Wunsch hat „Erwachsenwerdens“ einer jugendkulturel- auch in den unterschiedlichsten Jugendkul- sich jedoch nicht erfüllt, denn die Geschicht- len Musik. In Anlehnung an die viel zitierte turen, deren völlig entgegengesetzte musik- lichkeit auch der jüngeren Popstile hat in- Postman’sche These vom „Verschwinden und lebensweltbezogene Wertungsmuster zwischen dazu geführt, dass nicht nur das der Kindheit“ stellt sie die Frage nach dem sich nur dadurch verbinden lassen, dass sie Publikum immer älter wird, sondern auch Verschwinden des Erwachsenseins und be- von Menschen unter 25 stammen – hier die Aktiven auf der Bühne trotz der ersten schreibt das Verschwimmen der „traditio- aber endet dann bereits die „Gemeinsam- Enkelchen nicht ans Aufhören denken. nellen Definitionen der biologischen und keit“ von Jugendkulturen. Populäre Musik Spätestens hier wird deutlich, dass Populäre kulturellen Zeichenwelten“.2 umfasst längst nicht mehr nur jugendkultu- Musik keineswegs eine rein jugendkulturel- Geradezu euphorisch beschwört Arno relle Stile, sondern bezeichnet generations- le Erscheinung ist. So unterscheidet Silke Frank die Bedeutung in Ehren ergrauter Pop- übergreifend eine der zentralen musikbezoge- Riemann-Al Batrouny bei ihrer Beschäfti- stars: „Noch nie in der Geschichte der Pop- nen Ausdrucksformen des 20. Jahrhunderts. gung mit „alternden Rockstars“ zwischen musik waren die Alten so präsent und so Womit übrigens auch hier bereits die Gemein- „Jugend als Realphänomen und Jugend als wichtig wie heute. Die Pioniere der Jugend- samkeiten zwischen den verschiedenen Symbol“, wobei der erste Einschnitt im „heilen“ kultur sind ihre stolzen Greise.“3 Und er zi- Stilbereichen der Populären Musik enden. Generationsgefüge bereits entstanden war, tiert Robbie Williams, der die alten Mythen Vor 40 Jahren haben The Who in dem „als die Rockstars selbst Eltern wurden“.1 von der jungen Popmusik mit dem Spruch Song My Generation das damalige jugend- Die Autorin untersucht anhand zahlreicher konterkarierte: „I hope I‘m old before I die.“4 kulturelle Lebensgefühl der Rockmusik pro- Fallbeispiele aus der Rock- und Popszene Die heute noch lebenden Jazzfans der grammatisch in das Motto „Hope I die be- das im Jazz bereits bekannte Phänomen des ersten Stunde sind mittlerweile Groß- oder

 MUSIK ORUM 21 FOKUS Sgt. Pepper ist in

Urgroßeltern und viele derjenigen, die das Rock’n’Roll-Fieber der 50er Jahre mitten in die Seniorenresidenz ihrer Pubertät erlebt haben, sind inzwischen pensioniert. Sowohl unsere Alltagserfahrun- gen als auch wissenschaftliche Erkenntnisse eingezogen der Musiksoziologie zeigen, dass diejenige Musik, die wir im Alter von 20 bis 25 Jahren hören, während des ganzen Lebens eine den inzwischen nicht nur Politiker, sondern Im Bereich der Altenarbeit ist also musik- ganz besondere Saite in uns zum Schwingen auch Tagesschausprecher/innen selbstver- pädagogisches Fingerspitzengefühl erforder- bringt, wobei es unwichtig ist, ob wir diese ständlich benutzen. Sprache bestimmt das lich, nicht nur bei der Frage, wie und was Musik damals als Fans oder eher nebenbei Denken, und so konnte auch der ebenso man mit alten Menschen spielen und singen gehört haben. 5 Nach diesen Erkenntnissen ideologieverdächtige Ausdruck „Popular- und zu welcher Musik man tanzen soll. liegt es nahe, dass sich eine sinnvolle musik- musik“ im deutschen Sprachraum nur kurz Einerseits ist der Umgang mit aktueller Po- bezogene Altenarbeit heute auch mit Popu- die Erkenntnis verschleiern, dass es hier um pulärer Musik ein probates Mittel, um am lärer Musik befassen muss, denn beim Zu- populäre Musikarten geht. Puls der Zeit zu bleiben, andererseits erfüllt rückrechnen wird deutlich, dass inzwischen Häufig entstehen vermeidbare Probleme sie inzwischen von der nostalgischen Sehn- neben Louis Armstrong und Bill Haley zwischen verschiedenen Generationen, sucht bis zum musikhistorischen Weitblick längst auch Sgt. Pepper und Eleanor Rigby wenn Unterschiede im Lebensalter undeut- eine Menge von Funktionen, die sich unter in die Seniorenresidenz eingezogen sind. lich definiert oder geleugnet werden. So ha- Erinnerungsfähigkeit und Vergangenheits- Der Ausdruck „Senior/in“ ist in diesem ben wir als Pennäler den allzu „berufsju- bewältigung zusammenfassen lassen. Zusammenhang äußerst ideologieverdäch- gendlichen“ Rockpädagogen häufig viel Nach dem bekannten Wort von George tig: Dass wir den ursprünglich positiv besetz- negativer betrachtet als die für uns eindeutig Bernard Shaw sind alte Männer „gefährlich, ten Begriff der „Alten“ hinter dieser ver- einzuordnende Klassikverfechterin: Wäh- denn ihnen ist die Zukunft gänzlich gleich“. schämten Vokabel verbergen, ist nicht nur rend er mit seiner pädagogischen Taschen- Mit einer sinnvollen musikalischen Alten- ein negatives Resultat der „Sex-Drugs-and- lampe in „unseren“ subkulturellen Nischen arbeit haben wir eines der Mittel dazu in der Rock’n’Roll-Ideologie“ der 60er Jahre, son- herumleuchtete, lebte sie zwar auf einem Hand, dass sowohl alte Männer als auch alte dern vor allem unwürdig und peinlich. Des- anderen Stern, konnte jedoch von dort aus Frauen ohne pseudojugendliche Verleug- halb habe ich für den Bereich der musik- unserer Lebenswelt nicht gefährlich werden. nung ihrer speziellen Generationszugehörig- bezogenen Altenarbeit bereits zu Beginn der Hier wird deutlich, dass vor allem bei ge- keit in der musikalischen Gegenwart und 90er Jahre darauf hingewiesen, dass diese nerationsbezogenen „Verhandlungen“ über Zukunft verankert bleiben können. Vokabel „sprachlich ausweichend, männlich Populäre Musik eine ausgewogene Balance fixiert und auf die Oberschicht bezogen ist. zwischen Distanz und Nähe wichtig ist. Für 1 Silke Riemann-Al Batrouny: „Forever Young, auch noch mit 50? Alternde Rockstars“, in: Jürgen Terhag: Popu- läre Musik und Pädagogik, Bd.1, Oldershausen 1994, Wir sollten den letzten Abschnitt des Lebens S. 41 ff. 2 ebd., S. 49. 3 Arno Frank: „Pop im Altertum“ in der TAZ vom 14.10. als Höhepunkt an Lebenserfahrung darstellen 2004, S. 13. 4 ebd. 5 vgl. Morris B. Holbrook und Robert M. Schindler: „Some Exploratory Findings on the Development of Musical Die gewünschten Assoziationen bewegen die sich bei Jugendlichen anbiedernden Er- Tastes“, in: Journal of Consumer Research, June 1989. sich auf Gutsherrenebene: In der ‚Senioren- wachsenen habe ich in Abgrenzung zum 6 Jürgen Terhag: „Sind Senioren jünger als Alte?“, in: nmz residenz’ […] vermutet man keine Rentnerin, Begriff „Jugendkulturen“ die Bezeichnung 3/93, S. 13. 7 ebd. sondern braungebrannte männliche ‚Senior- „erwachsene Jugendkulturen“ vorgeschlagen, 8 6 vgl. Jürgen Terhag: Populäre Musik und Jugendkultu- chefs’ mit graumelierten Schläfen“. deren Mitglieder sich im Zeitalter des Ju- ren, Regensburg 1989. Hier geht es eindeutig um mehr als um gendkults nicht mit ihrer Erwachsenenrolle 9 vgl. Terhag: „Sind Senioren jünger als Alte?“, a. a. O., Begriffe, denn lächerliche Formulierungen abfinden wollen oder können.8 Solche Er- S. 13. wie „Seniorentreff“ wirken nicht nur forever wachsenen bieten Jugendlichen weder ein old, sondern „machen sich subtil über alte Abgrenzungs- noch ein Identifikationsmodell. Menschen lustig, ist doch jedem klar, dass Vergleichbares gilt auch für die musikpäda- Der Autor: wir mit ‚Senioren’ so sehr die Alten meinen gogische Altenarbeit: Wenn wir das Erken- Dr. Jürgen Terhag, Professor für Musik- 7 wie mit der ‚Reinigungshilfe’ die Putzfrau“. nen und das selbstbewusste Anerkennen pädagogik und Dekan für Musikpädago- Aus diesem Grund sollte man in der musik- der eigenen Generationszugehörigkeit als ein gik/Musikwissenschaft an der Hochschule bezogenen Altenarbeit das Kind beim Na- wesentliches Ziel der pädagogischen und für Musik Köln, ist Bundesvorsitzender men nennen. Natürlich ist der Begriff der betreuenden Arbeit ansehen, sollten wir des Arbeitskreises für Schulmusik (AfS), „Alten“ in unserer jugendfixierten Zeit im auch den letzten Abschnitt des Lebens als Vorsitzender des Kölner Regionalaus- Gegensatz zu früheren Zeiten negativ kon- einen Höhepunkt an Lebenserfahrung selbst- schusses beim Wettbewerb „Jugend notiert. Er könnte doch durch einen selbst- bewusst darstellen.9 Diese Forderung gilt vor musiziert“ sowie Sprecher der Födera- bewussteren Gebrauch aufgewertet werden allem im Bereich der zurzeit immer noch tion der musikpädagogischen Verbände – ähnlich wie der früher ausschließlich als fälschlicherweise mit Jugendlichkeit verbun- Deutschlands. Schimpfwort benutzte Begriff „Schwuler“, denen Populären Musik.

 22 MUSIK ORUM Endlich einmal das spielen, was man schon immer gern spielen wollte: Im Orchester- seminar der Musik-Akademie haben die Teilnehmer das Gefühl, „richtige“ Kammer- musik zu machen.

SPIELT HIERAlter KEINE ROLLE!

Praxisbeispiel 1: Mit neuer Konzeption und Didaktik wendet sich die Hamburger Musik-Akademie für Senioren an musikinteressierte ältere Menschen. Im Gespräch: Gründer Ernst-Ulrich von Kameke

ung bleiben durch aktives Musizieren, Überwindung von Sorgen und vorzügliche Betreuung und Ausbildung vom JEinsamkeit durch Musik und Gemeinschaft, Anregung zur Hausmusik Kleinkind bis zum Jugendalter haben. Eine und Überwindung von Generationsproblemen – das sind die Leitgedanken Ausbildung, die danach von allen, die es mögen, in den Chören oder Kammermusik- der in Hamburg ansässigen Musik-Akademie für Senioren (MAS), einem kreisen fortgesetzt werden kann – mit der gemeinnützigen Verein zur musikalischen Fortbildung, speziell ausgerichtet Möglichkeit, sich auch in den Konservato- auf die Interessen älterer Menschen. rien fortzuentwickeln. Ich hatte den Ein- druck gewonnen, dass für alle Bevölkerungs- Die MAS will die Liebe zur Musik neu Kameke war von 1959 bis 1991 Kirchen- teile vorzüglich gesorgt wird. Mit einer wecken oder erhalten – durch gemeinsames musikdirektor an der Hauptkirche St. Petri Ausnahme: der älteren Generation! Hier Musizieren und Singen, Instrumentalsemi- in Hamburg, bis er nach seiner Pensionie- schien mir eine Marktlücke zu sein. Zwar nare für Orchester, Kammermusik und Kla- rung das ehrgeizige Seniorenprojekt ins Le- konnte man sich pädagogische Anregungen vier, durch Vorträge über Musikgeschichte, ben rief. Für das MUSIKFORUM sprach holen, aber es gab von keiner Seite ein Komponistenporträts, Oper, Sinfonik, Kir- Hans Bäßler mit dem 79-jährigen Akade- halbwegs systematisches Lehrangebot im chenmusik, Kammermusik, Neue Musik, mieleiter. Sinne von Weiterbeschäftigung auf dem Unterhaltungsmusik, Tanz, Musiktherapie und Gebiet der Musik. -theorie. Wie kamen Sie zu der Idee, eine Gegründet wurde die Musik-Akademie Musikakademie für Senioren zu gründen? An sich gibt es ja verschiedene Ange- 1992 vom Organisten, Komponisten, Diri- Von Kameke: Bei meiner Abschiedsrede bote von Volkshochschulen. Warum reichen genten und Kantor Ernst-Ulrich von Kame- an der Hauptkirche St. Petri hatte ich auf diese nicht aus? ke. Unter seiner Leitung finden jährlich bis die Frage nach der Weiterbeschäftigung an- Sie reichen deswegen nicht aus, weil zu 40 Kurse als allgemeine Fortbildungs- gedeutet, dass meine Studien mich zu dem andere Gesichtspunkte hinzukommen, die und praktische Musikseminare statt. Von Ergebnis gebracht hätten, dass wir eine ganz die Volkshochschulen bis heute nicht ab-

 MUSIK ORUM 23 FOKUS

decken können. Die Atmosphäre etwa, in Wie viele ältere Menschen nahmen dabei geholfen, im Kloster Wennigsen bis der die Angebote stattfinden. Mir war klar: beim ersten Seminar teil und wie ist der heute eine pädagogische Heimat zu finden. Wenn ich die ältere Generation interessie- aktuelle Stand? ren will, dann darf es nicht nur um Musik Das erste Seminar in Travemünde – es Aber ist nie daran gedacht worden, gehen, es muss eine gesellige Komponente war mit „Was ist Musik?“ überschrieben – über die Initiativen der Bundesregierung und hinzukommen. Dies zu berücksichtigen, besuchten immerhin 40 Leute. Danach war des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen heißt, nicht irgendein Vortragsthema don- es nicht unbedingt Intention, eine ständige und Jugend Fördergelder zu erhalten? nerstags von acht bis zehn im Hinterhaus Zunahme der Teilnehmer bis hin zu einer Doch, aber leider ohne Erfolg. Es hat nur eines Konservatoriums oder einer Hoch- unübersehbaren Zahl zu erreichen. Dennoch einen Teilerfolg gegeben in Zusammenar- schule langweilig abzuhandeln, sondern es haben wir in den 13 Jahren unseres Beste- beit mit der Ostseeakademie in Travemün- an einem landschaftlich schönen Ort zu hens nicht in einem einzigen Jahr einen de. In diesem Fall gelang es uns mit Hilfe bündeln, es nicht nur an einem Abend, Besucherrückgang gehabt. Die Zahl ist eher, der Regierung, junge Musiker, Schüler und sondern an drei, vier Tagen anzubieten. mit meiner inneren Zustimmung, langsam Studenten aus Polen einzuladen. Wir konn- Womit dreierlei erreicht wird: erstens, die gestiegen. Wir sind heute bei knapp 1000 ten ein Symphonieorchester zusammen- Begegnung mit einem akademischen Dozen- Teilnehmern pro Jahr. Das Überraschende stellen, in dem 20 junge Polen zwischen ten, den man so in dieser Form nie erlebt; daran: Es sind nicht absolut 1000 Men- 14 und 18 Jahren mit 30 Senioren aus zweitens, die Möglichkeit, ein Thema in schen, die da zu uns kommen, viele besu- meiner Akademie im Alter von 55 bis 85 kurzer Zeit intensiv zu behandeln; drittens, chen bis zu acht Mal im Jahr eines unserer gemeinsam gespielt haben. dabei im Kreis der Teilnehmer die Gelegen- Seminare. Einfach, weil sie es für notwen- heit zu eröffnen, freundschaftliche Kontakte dig halten. Besonders erfreulich ist auch die Worin besteht das Besondere einer zu knüpfen. Schließlich kommen Sie in der gestiegene Zahl von Dozenten auf hohem Seniorendidaktik? älteren Generation mit Problemen wie Niveau: anfänglich noch zehn, sind es Das scheint ein absolutes Novum zu sein, Einsamkeit, Verlust des Partners oder heute über 40. Dazu kam eine ständige denn es gibt nicht viel Literatur darüber. Krankheit in Berührung. Erweiterung des Lehrangebots. Haben wir Ich persönlich halte die Seniorendidaktik im ersten Jahr noch acht bis zehn Seminare für ein ganz neues Feld, das man auch als Gab es damals schon die Idee einer angeboten, sind es heute 40. solches betrachten muss. Erstes Stichwort Seminarkonzeption? Was wir von vornherein angestrebt haben, war nicht nur ein Angebot für all- gemeine Musiklehre oder Grundsätze des Klavierspiels oder des Singens, sondern die systematische Aufgliederung eines Lehran- gebots im Sinne einer Hochschule. Mit dem Unterschied, dass sich das Angebot an ein völlig neues Klientel richtet, nämlich das der älteren Generation.

Worin bestehen die Inhalte? Mir kommt das Bild einer zweigleisigen Eisenbahnstrecke in den Sinn. Genauso funktioniert auch die Musik-Akademie für Senioren seit ihrem Start. Das erste Gleis ist die „Begegnung mit Musik“ – es ist die Angebotschiene für jedermann und enthält alle Fächer, die man allgemein interessier- Von Kameke im Kreis von Teilnehmern der Klavierklasse. ten, kulturell aufgeschlossenen Menschen anbieten kann. Das zweite Gleis ist das „Aktive Musizieren“ – es ist ein Angebot »Wir wollen kein Gegenüber von Lehrer und für diejenigen aus der älteren Generation, die es fertig gebracht haben, sich die Musik Schüler, sondern Partnerschaft!« als Wegbegleiter durch das Leben zu er- halten: der Arzt, der regelmäßig Quartett spielt, der Physiker, der in einem Chor singt. Finanziert sich die MAS vollkommen in diesem Zusammenhang wäre nicht das Merkwürdigerweise trafen wir auf einen aus eigenen Mitteln? Gegenüber von Lehrer und Schüler, son- nicht erwarteten stillen Gegner: die Ängst- Allmählich. Wir haben Unterstützung dern die Partnerschaft. Viele der Chorsän- lichkeit. Da waren Menschen, die sich bekommen, etwa von der Klosterkammer ger, die zu uns kommen, haben in ihrer eigentlich für alles, was wir anboten, inte- Hannover, die wichtige Beiträge geleistet Praxis in guten Chören bzw. von Chorlei- ressierten, die aber zu ängstlich waren, um hat. Der damalige Präsident Professor von tern erfahren, dass sie die Altersgrenze sich bei uns zu melden, weil sie ihre Voraus- Campenhausen hatte erkannt, welcher überschritten hätten und nicht mehr ge- setzungen als nicht ausreichend betrachte- Wert in der Betreuung der älteren Men- braucht würden – einer der schlimmsten ten. schen liegen kann und hat uns zum Beispiel Sätze, die man einem älteren Menschen

 24 MUSIK ORUM »Die Menschen müssen sich willkommen fühlen und mit einem professionellen Ambiente konfrontiert werden!«

sagen kann und die zu einer allgemeinen Verunsicherung führen. tisch. Wir brauchen, erstens, mehr Hilfe für Stipendien, die wir an Dies sind die Perspektiven aus der gesellschaftlichen Problematik Unbemittelte vergeben können. Ich wollte nie einen Verein für heraus, die uns in der Musik-Akademie begegnen. Die Konzeption, reiche, alte Leute machen – entsprechend bescheiden sind unsere die ich selbst für ein drei- bis viertägiges Chorseminar entwickelt Mitgliedsbeiträge. Zweiter Wunsch wäre, dass wir das Thema „Jung habe, sah von vornherein vor, dass das Alter überhaupt keine Rolle und Alt“ n den Vordergrund rücken, was freilich nur mit entspre- spielen darf. Es gibt keine Musik für ältere Menschen, die ich chenden Finanzmitteln zu schaffen ist. Vorstellbar wäre, ein bis zwei auszuwählen hätte. Es gibt nur schöne Musik, die Freude bereiten Orchesterkonzerte zu veranstalten und mit staatlicher Hilfe dabei kann. auch verschiedene Bundesländer und Städte besuchen zu können. Zweites Stichwort: Die Menschen müssen sich willkommen Dabei könnte man sich Partner vorstellen wie das Projekt „Jugend fühlen! Und drittens: Sie müssen mit einem professionellen Am- musiziert“ oder Konservatorien und Musikhochschulen. biente konfrontiert werden. Das heißt, keines der Seminare wird Der dritte Wunsch betrifft den Chorgesang und das Orchester- von mir allein geleitet. Ich habe meistens drei Mitarbeiter dabei, spiel. Sie kosten viel Geld. Wir müssten – aus sozialpädagogischen sodass wir in der Lage sind, sofort in geteilte Chorarbeit zu gehen Erwägungen heraus – unsere Orchester- und Chorseminare deut- und Stücke zu erarbeiten, die im Plenum so schnell gar nicht zu lich billiger anbieten – im Vergleich zu anderen Seminaren, die schaffen wären. Viertens: das Programm wird den Teilnehmern jedermann freistehen. Natürlich kommen die Teilnehmer auch trotz vorher zugeschickt – mit der Erwartung, dass sie es gut vorbereiten. der Gebühren. Aber gerade das Orchesterseminar, wo so intensiv Fünftens: Wir beginnen nicht mit Viva la Musica und mit Froh zu gearbeitet wird, müsste preiswerter sein. Und dafür bräuchten wir sein bedarf es wenig, um Stimmung zu machen, sondern mit einer Zuschüsse. Stunde Stimmbildung auf professioneller Basis. Es wird nicht da- U www.musik-akademie.de nach gefragt, was die Teilnehmer können, vielmehr werden sofort professionell die Atemtechnik, das Intervallgehör, die Intonation und die Frage nach dem Stimmumfang angegangen.

Gibt es eine Altersobergrenze? Nein, weder nach oben noch nach unten. Unsere Fragen nach der Untergrenze und danach, wann man eigentlich ein Senior ist, provozieren oft eine Diskussion darüber, ob solche Begriffe nicht schädlich sind. Ich selbst kann aus meiner internationalen Erfahrung nur gegen solche Begriffsverirrungen protestieren. Gerade in Fernost oder in Russland werden Menschen der älteren Generation beson- ders geachtet und verehrt. Diese Verehrung straft die unsinnigen Verhältnisse in unserer Gesellschaft, wo wir anscheinend betonen müssen, wie fantastisch jung wir doch alle sind und dass man trotz der 70 Jahre noch so fabelhaft aussieht. Wir in der Akademie be- kennen uns ernsthaft zum Alter, wir reden nicht davon, wie jung wir sind, sondern wir sind es einfach. Bei uns geht es darum, durch aktives Musizieren jung und gesund zu bleiben. Die Mischung, die darin besteht, dass Musik eben auch Musik- therapie sein kann, spielt eine große Rolle. Wobei die Begriffe Therapie und Pädagogik bei uns in der Akademie nicht benutzt werden. Es wird einfach praktiziert. Das gehört auch zu der Frage nach der Alterspädagogik und -didaktik.

Wie sieht die Zukunft der Arbeit der Musik-Akademie für Senioren aus? Diese Frage ist einfach zu beantworten. Die Stichworte hierzu sind: nicht nur hören, sondern auch weitergeben und weitersagen. Das führt hin zu der Perspektive, dass wir die Rolle des Großvaters und der Großmutter in der Familie stärken wollen, um die Freude der Enkel an der Musik zu verstärken. Es geht darum, eine direkte Verbindung in das Familienleben hinein zu schaffen.

Zu guter Letzt: Welche Wünsche gibt es an die Politik? Unser Wunsch ist es, zur Kenntnis genommen zu werden und nicht nur Komplimente zu bekommen. Was wir machen, ist poli-

 MUSIK ORUM 25 FOKUS

Der pure Spaß am Musizieren: Neue Vereinsmitglieder präsentieren sich auf dem New Generation-Sommerfest.

»SCHREIBE DIE PARTITUR DEINES LEBENS selbst!« Praxisbeispiel 2: Der Verein New Generation bringt ältere Menschen musikalisch und kulturell„auf Trab“. Von Peter Rümenapp

ast 40 Prozent der Deutschen selbst und für die Gesellschaft sinnvoll ein- Musik als ein Modell sinnerfüllter Le- Fsind über 50. Ab diesem Alter, zusetzen. Senioren sollen die eigenen Poten- bensgestaltung und lebendigen Austauschs in dem dem Menschen zunehmend ziale ausschöpfen und aktivieren können, und Miteinanders spielt im Angebot und in sollen neue Interessen entwickeln, aktiv das der Philosophie des Vereins eine wichtige mehr Zeit zur Verfügung steht, Leben gestalten, statt es passiv zu konsumie- Rolle. Das Veranstaltungsprogramm, das nimmt die Rolle der Kultur und ren – dies sind die Ziele von New Genera- New Generation seinen Mitgliedern anbietet, insbesondere der Musik zu. Man tion. „Schreibe die Partitur deines Lebens zeigt, wie groß das Interesse an Musik in ih- hat die Muße, sich mit den „schö- selbst“, bringt es ein Info-Flyer treffend auf ren verschiedensten Formen ist: Musikvor- nen Dingen“ zu beschäftigen. den Punkt. träge zu Komponisten oder auch Notenkur- New Generation, die „gemeinnützige Ein- se und Konzerte vor allem in den Bereichen Musik nimmt darüber hinaus aber auch richtung für Menschen ab 50“, hat inzwi- Klassik und Jazz sind stets gut besucht. eine soziale Funktion ein. Sie kann Menschen schen über 2000 Mitglieder. Sie wurde vor Das neue Domizil, in dem New Genera- verbinden, wirkt der Vereinzelung entgegen, zehn Jahren von Hermann Rauhe und Hel- tion seit dem vergangenen Jahr seine Ge- die in unserer Gesellschaft insgesamt, beson- ge Adolphsen, Hauptpastor der Hamburger schäftsstelle unterhält – das „New Living ders aber in höherem Alter zunimmt. St. Michaeliskirche, ins Leben gerufen und Home“ zwischen dem Tagesschau-Fernseh- Der in Hamburg ansässige gemeinnützi- in enger Kooperation mit dem Studiengang studio der ARD und Hagenbecks Tierpark, ge Verein New Generation weist mit einem Kultur- und Medienmanagement der Hoch- bietet für Konzertveranstaltungen optimale reichen Freizeit- und Kulturangebot Wege, schule für Musik und Theater Hamburg auf- Voraussetzungen. Es steht ein Musikzimmer die Zeit nach Abschluss des Berufslebens gebaut. Rauhe war zwischen 1978 und für kleinere Ensembles zur Verfügung sowie und familiärer Verpflichtungen für sich 2004 selbst Präsident der Hochschule. ein amphitheatralisch angelegter Konzert-

 26 MUSIK ORUM saal, das „Atrium“, in dem 200 Personen men, sei es in aktiver Rezeption, im eigenen New Generation ein unverwechselbares, ge- Platz finden. Musizieren, Chorsingen, im Tanz und refle- nerationenübergreifendes Profil.“ Eine zentrale Idee von New Generation ist xiven Umgang mit Musik, betrieben wird. Auf die Frage, welche Rolle die Musik in die Eigeninitiative. Viele Veranstaltungen der Konzeption von New Generation spiele, werden von den Mitgliedern selbst konzi- Wie kam es zur Gründung betont Rauhe, dass der musikalische Aspekt piert und organisiert. Die Teilnehmer am von New Generation? für ihn persönlich besonders wichtig sei. Treff „Klassische Musik“ etwa kommen nicht „Für ein harmonisches Zusammenspiel un- nur zu gemeinsamen Konzertbesuchen zu- Im Gespräch erzählt Hermann Rauhe, er serer körperlichen, seelischen und geistigen sammen, sondern tauschen sich auch über habe nach langjähriger Beschäftigung mit Kräfte bietet die Musik als harmonisches Gehörtes oder noch zu Hörendes aus, hal- der Frage des Alterns und der Seniorenar- Ganzes verschiedener Stimmen ein hervor- ten Kurzreferate zu Komponisten, setzen beit den Verein 1995 mit aus der Taufe ge- ragendes Modell, geradezu das Paradigma. sich mit der Musik auseinander. Es gibt hoben und in den vergangenen zehn Jahren Gerade in der Situation des Älterwerdens Tanzkurse und einen New Generation-Chor. als Präsident mit viel Freude geführt. Voran- kann Musik in ihrer positiven, ganzheitlichen Bereits seit ein paar Jahren gibt es auch den gegangen seien schon 1980 erste intensive Wirkung ein wertvoller und sinngebender New Generation-Song, komponiert von einer Gespräche mit Pastor Gerhard Engel, dem Bestandteil des Lebens sein.“ Deshalb spiele ehemaligen Kirchenmusikerin, die Mitglied Gründer der Seniorenakademie Lübecker Musik im Veranstaltungsprogramm eine zent- des Vereins ist. Bucht, denen 1983 die Begegnung mit Frank rale Rolle, so Rauhe. Wobei es nicht nur um H. Albrecht folgte, die Durchführung von Vorträge und Seminare zum Werk und Wir- Sinnerfüllte Lebensgestaltung Seniorenseminaren in Stade sowie die Ent- ken großer Komponisten und zur helfenden wicklung der Konzeption einer neuartigen und heilenden Wirkung von Musik gehe, Um die helfende und heilende Wirkung Seniorenwohnanlage in Buxtehude (Este- sondern auch um das gemeinsame Singen von Musik geht es in der Veranstaltungsrei- Wohnpark) mit einer integrativen, genera- oder das gemeinsame Musizieren von Groß- he „Musik macht Mut“. Ihr Initiator Her- tionsübergreifenden Kulturarbeit. Mit Ernst- eltern und Enkeln. Rauhe: „Hier wird die ge- mann Rauhe rückt darin vom reinen Vor- Ulrich von Kameke habe er 1992 die Mu- nerationenübergreifende Konzeption von tragsstil ab und erläutert musikalische Wir- sik-Akademie für Senioren (MAS) ins Leben New Generation deutlich.“ kungen und therapeutische Funktionen mu- gerufen, deren Vizepräsident und ständiger U www.new-generation-hh.de sikalischer Elemente, indem er die Erfahrun- Referent er bis heute ist (siehe Artikel über gen der Teilnehmer mit einbezieht. Genera- die MAS auf Seite 23). tionsübergreifend ist die Reihe „Singen mit „Ein wichtiges Ergebnis meiner vielfälti- Der Autor: Hermann Rauhe“, in der Kinder, Eltern und gen fruchtbaren Zusammenarbeit mit Wer- Dr. Peter Rümenapp studierte Musik- Großeltern zum gemeinsamen Singen zu- ner Klose vor allem im Tonträger-Bereich wissenschaft sowie Kultur- und Medien- sammenkommen. war die Entwicklung von New Generation als management in Göttingen und Ham- Das besondere Profil, das New Genera- Praxisprojekt für den Studiengang Kultur- burg; danach Tätigkeiten in der Konzert- tion von anderen Anbietern von Veranstal- management“, berichtet Rauhe. „Deshalb organisation sowie Presse- und Öffent- tungen unterscheidet, erhält der Verein arbeiteten viele Studierende, unter ihnen lichkeitsarbeit für verschiedene Organi- durch die Zielsetzung sinnerfüllter Lebens- der heutige Leiter der Komödie im Winter- sationen; derzeit Chefredakteur der gestaltung in der Gemeinschaft und durch huder Fährhaus, Michael Lang, von Anfang Zeitschrift NEW und Wissenschaftlicher den hohen Grad von aktiver Beteiligung, mit an bei der Umsetzung und Weiterentwick- Mitarbeiter bei Prof. Dr. Hermann Rauhe. der Musik hier in ihren verschiedensten For- lung des Konzepts mit. Dadurch gewann

Generationsüber- greifendes Singen: Hermann Rauhe singt mit Jung und Alt im „New Living Home“.

 MUSIK ORUM 27 FOKUS

Rock’n’Roll IS HERE TO STAY…

Praxisbeispiel 3: In einer Band spielen und jung bleiben – das Rezept von sechs quirligen Münsteranern, vorgestellt von Walter Lindenbaum

ir schreiben den 9. Juli 1955: Hinterfragt man aber die Namen der Älterwerden nicht von ihnen lassen. Sie tra- WRock Around The Clock Künstler, offenbart sich schnell: Der Rock’n’ gen Baseball-Caps genauso wie Turnschuhe von Bill Haley erreicht als erste Roll hat sich gewandelt. Nach Mick Jaggers und natürlich Jeans. Selbst ein Körperkult Äußerung aus dem Jahr 1974 dürfte es ihn wie Ohrringe gehören schon zum Reper- Rock’n’Roll-Platte überhaupt Platz 1 schon gar nicht mehr geben, denn: „Rock’n’ toire der Älteren. Allenfalls im Ausmaß der der amerikanischen Pop-Charts Roll ist etwas für Jugendliche. Sobald man Gestaltung des eigenen Körpers als Kunst- und bleibt acht Wochen lang an sich nicht mehr so fühlt, muss man aufhö- werk mag ein Unterschied in den Genera- der Spitze. ren.“ Das Durchschnittsalter der oben wahl- tionen feststellbar sein. Angesichts solcher los aufgezählten Stars liegt weit über 50, Grenzverschiebungen scheint es jedenfalls 50 Jahre später: Peter Maffay tourt durch wobei die Bandbreite von 42 (Tori Amos) berechtigt, mit Pierre Bourdieu zu resümie- Deutschland – genauso wie Tori Amos oder bis 60 (Lemmy von Motörhead) reicht. ren: „Jugend ist nur ein Wort“ – entschei- Meat Loaf, Black Sabbath oder Alice Cooper, Rock’n’Roll und seine Derivate sind wie dend ist nicht mehr das biologische, sondern Joe Jackson und Todd Rundgren, Helge kaum eine andere Musikrichtung mit dem das soziale Alter. Schneider und die Toten Hosen. Die Auf- Ideal der Jugend verknüpft. Songtexte er- zählung ließe sich endlos fortführen: Das zählen in mannigfaltigen Ausprägungen von Von Bill Haley bis Angebot an Rockkonzerten und Open-Airs dieser Verquickung. Es gilt, „Forever Young“ Westernhagen ist größer denn je – Rock’n’Roll lebt und al- zu sein und bloß nicht „Too old to Rock’n’ les, was sich aus ihm entwickelt hat. Roll, too young to die“. Und die Parole lau- Die Bilder auf diesen Seiten zeigen die tet: „Live fast, love hard, die Münsteraner Band „Cadillac“ bei zwei Auf- young“ (Faron Young, 1955). tritten im Mai 2005, zum einen beim müns- Inzwischen befindet sich die terschen Eurocityfest, zum anderen beim erste Generation von Rock’n’ 50. Geburtstag des Keyboarders. „Cadillac“ Rollern und auch Mick Jagger gibt es seit 1984 in der Besetzung Schlag- schon im Rentenalter – und mit zeug, Bass, zwei Gitarren, Keyboards und ihnen das Publikum. Zu vielen Tenorsaxofon. Den Gesang teilen sich die Konzerten pilgern Eltern – im Gitarristen mit dem Keyboarder. Bei größe- Zeitalter des Spätgebärens meint ren Auftritten verstärkt sich die Band gele- das nicht nur Menschen in den gentlich durch die „Chevy Horns“ mit Po- Zwanzigern – zusammen mit saune, Trompete und Altsaxofon. ihren Kindern, um die (vielleicht) Ihr Repertoire besteht aus etwa 130 gemeinsamen Helden zu feiern. Songs aus den Stilrichtungen Rock’n’Roll, Begünstigt wird diese Ent- Beat, Soul und Rock. Es umfasst Stücke von wicklung durch die zunehmen- Bill Haley, Gene Vincent, Eddie Cochran, de Ästhetisierung und Mediali- den Beatles, den Rolling Stones und ande- sierung unserer Lebenswelten. ren britischen Gruppen, von Wilson Pickett, So berichteten mittlerweile nicht James Brown, The Doors, Deep Purple, nur Jugend- und Musikzeitschrif- Westernhagen und vielen, vielen anderen. Gefühltes Alter: Die Alt-Rocker der Münste- ten vom Reunion-Konzert der Das Repertoire, schon jetzt beachtlich groß, raner Band „Cadillac“ sehen sich immer noch Gruppe Cream Anfang Mai, sondern bei- wird bei den wöchentlichen Proben ständig als „junge“ Band. spielsweise auch die Financial Times. erweitert und verändert. Die Auswahl neuer Der marktstrategisch vorangetriebene Ju- Stücke geschieht gemeinsam unter Berück- gendlichkeitskult führt dazu, dass Erwachse- sichtigung von Kriterien wie Machbarkeit ne jugendliche Züge annehmen bzw. beim und Musikgeschmack sowie dem Bestreben,

 28 MUSIK ORUM Aufhören? Warum? Beim Eurocityfest im »May your song always be sung, Mai in Münster zeigten die „Jungs“ von „Cadillac“ einmal mehr, dass sie nicht zum may you stay forever young« Bob Dylan alten Eisen gehören.

nicht in einem lieblos heruntergespielten nierung des eigenen Spiels einstellt, ist ein Musik und „Chemie“ gleichwertig berück- Programm zu erstarren. erwünschter Nebeneffekt, ebenso wie die sichtigt, denn Freundschaft untereinander Für bestimmte Aufgaben haben sich im Erfahrung, dass dem auch Grenzen gesetzt wird ebenso gepflegt wie die Einbeziehung Laufe der Zeit Zuständigkeiten in der Grup- sind. So konnte beispielsweise trotz aller der „Spielerfrauen“ und Familien. Alle zwei pe herausgebildet, sodass sich Fragen wie Vorlieben nie ein Stück der Beach Boys ins Jahre veranstaltet die Band „Cadillac-Parties“ diese gar nicht mehr stellen: Wer erhält die Repertoire gelangen, da mehrstimmiger Ge- ohne Eintritt für Freunde und Bekannte, zu Gage und verteilt sie? Wer erstellt die Play- sang nur bis zu einem bestimmten Qualitäts- denen regelmäßig knapp 1000 Menschen list für den Auftritt? Wer schreibt den Blä- level umgesetzt werden konnte. kommen. sersatz? Wer kümmert sich um die Plakate? Anders als bei vielen anderen Cover- Somit besteht auch kein Grund, das Pro- Wer macht die Verträge? Wer hört die Gi- Bands steht nicht ökonomisches Interesse jekt „Cadillac“ freiwillig zu beenden. Viel- tarrensounds heraus? im Vordergrund, sondern reine Spielfreude mehr hoffen die Musiker mit Bob Dylan: Geht man nach dem gefühlten Alter, ist auf möglichst hohem Niveau. Die allerdings „May your hearts always be joyful, may your „Cadillac“ eine junge Band – dies obgleich will nicht auf den Probenkeller beschränkt song always be sung, may you stay forever die Band im Mai dieses Jahres ihr 20-jähri- sein, sondern sich dem Publikum mitteilen. young.“ ges Bühnenjubiläum feierte und das Durch- So hat „Cadillac“ als regional bekannte Band schnittsalter der Musiker bei 50 liegt. Was im Laufe der Jahre mehrere hundert Kon- treibt sie noch an, in einer Band zu spielen? zerte im Münsterland, aber auch im Ausland „Es gibt so viele andere Dinge im Leben, die gespielt. Gagen werden dabei im Sinne ei- man mit dem Kopf macht, wo man sich dis- nes sich selbst tragenden Hobbys in aller Der Autor: ziplinieren muss“, sagt Gitarrist Stephan Sie- Regel wieder in Equipment investiert, wie Dr. Walter Lindenbaum ist Dozent am benkotten-Dalhoff. „Hier kann ich mich ent- z. B. in einen Höfner-Beatles-Bass oder ein Institut für Musikwissenschaft und falten, menschlich und musikalisch. Zum Original-Leslie-Kabinett. Musikpädagogik der Westfälischen Beispiel spiele ich Stücke in der Band ganz Wilhelms-Universität in Münster sowie anders als zu Hause.“ Worauf Bassist Jürgen Musik und „Chemie“ Vorsitzender des VDS NRW, Vizepräsi- Stehling ergänzt: „…was vermutlich daran dent des Landesmusikrats NRW und liegt, dass sich hier jeder auf den anderen Von Anfang an haben die Musiker der Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats einstellt und sich einbringt. Voraussetzung sozialen Komponente große Bedeutung bei- des rock´n´popmuseums Gronau; dane- dafür ist aber, dass es allen Spaß macht.“ Für gemessen. So haben „Cadillac“-Termine Pri- ben seit 1984 Sänger und Keyboarder ihn bedeutet das Spielen in der Band, „Mu- orität vor anderen musikalischen Aktivitä- der Münsteraner Band „Cadillac“. sik selber zu machen, sich die Musik, die ten. Die Band tritt immer geschlossen auf, man liebt und gerne hört, beizubringen“. es gibt keine Ersatzspieler. Aus der Urbeset- Dass sich durch permanentes Üben und zung sind noch immer drei Musiker dabei. Proben neuer (alter) Songs eine Perfektio- Bei „Neueinstellungen“ werden die Fächer

 MUSIK ORUM 29 FOKUS

Der Verein, der im Oktober 2004 von lter ist kein Mangel oder Makel, sondern ein Einklang dem Arzt und Psychotherapeuten Dietmar A mit der Zeit.“ Mit dieser Prämisse setzt sich der Verein Höhne sowie weiteren Fachleuten – Ärzten, „aging-alive – natürlich älter werden e.V.“deutlich ab vom Psychotherapeuten, einem Politologen so- wie einer Heilpädagogin – ins Leben geru- Anti-Aging und seinem Kampf gegen das Alter. fen wurde, versteht sich in seinen Aktivitä- ten als gesellschafts-politische Initiative für ein neues, natürliches Altersbewusstsein.

DAMIT DAS ALTER EINE Zukunft HAT

Praxisbeispiel 4: Wie ein Verein für einen neuen Umgang mit dem Alter wirbt

 30 MUSIK ORUM „Altern“, so sehen es die Vereinsgründer, Der Diskurs ist paradox: „Anti-Aging“, die Achtung und Wertschätzung, aktive ge- „ist ein natürlicher, lebenslänglicher Prozess, „50plus“, „Go Longlife“, „60plus“, „Mit 66 sellschaftliche Teilhabe in allen Bereichen den es nicht zu bekämpfen gilt, sondern be- fängt das Leben an“, „Silver Age“, „Best des öffentlichen Lebens und der Arbeitswelt wusst, verantwortungsvoll, achtsam und mit- Life“, „Fit and fun for ever“, „Forever young“, zur Notwendigkeit werden lässt. Alle Maß- fühlend wahr- und anzunehmen, in seinen „Morgen sind wir unsterblich“ (ein Buch- nahmen, die aus den alten Alten die neuen genussvollen wie auch in seinen schmerz- titel) – diese Formeln, als kapitalschlagende Alten machen wollen, bleiben kosmetisch, lichen und versagenden Anteilen, bis dass der Marketingstrategien, Beglückungsideologien sind kapitalgesteuert oder sollen Ratlosigkeit Tod uns scheidet.“ Diese Herangehensweise und Heilsverheißungen gepriesen und un- verschleiern.

soll durch individuelle Beratung, Fort- und ters Volk gebracht, beschreiben gleichzeitig Ohne einen neuen Umgang mit dem Al- Weiterbildungsseminare, Vorträge und Kur- das Alter als chronische Krankheit, die ein ter, ohne einen öffentlichen Diskurs in allen se mit altersrelevanten Inhalten und Frage- ganzes Leben lang behandelt werden muss. Bereichen unseres Gemeinwesens (das hat stellungen, durch öffentlich wirksame Medien- Altsein ist negativ besetzt und steht für nichts mit der herkömmlichen Alterskultur arbeit sowie das Zusammenwirken mit Insti- all die Misslichkeiten, die in unserer Gesell- von Seniorenprogrammen und Verbastelung tutionen, therapeutischen, psychosozialen und schaft für nicht erstrebenswert erachtet wer- zu tun) werden alle gut gemeinten Vorschlä- Bildungseinrichtungen vermittelt werden. den: Vereinsamung, Armut, Krankheit, Ein- ge einer Alterspolitik eher zu einer weiteren „Das Leben selbst ist älter werden“, so der schränkung von körperlicher und geistiger Entwertung des Alters, zu Diskriminierung Verein in seinem Plädoyer „für einen neuen Vitalität und Schönheit. Altern wird als per- und Gettoisierung älterer Menschen führen. Umgang mit dem Alter“. sönlicher Verlust und gesellschaftliche Be- Auch Mallorca ist ein Getto.“ Erstmals in der Weltgeschichte werden drohung verstanden und verschließt so stig- Was eine wirklich neue kulturelle Neu- bald mehr Alte als Junge die Welt bevölkern. matisiert Räume und Rollen in unserer bewertung und Begriffserweiterung auf der Doch kaum einer nimmt sie wahr – es sei Gesellschaft, in denen Alter sich entfalten praktischen Seite für die Umgestaltung un- denn als Rentner, Pensionäre, Pflegefälle könnte, als erfahrenes Leben, Begabung, Fä- serer gesamten Lebensräume, von Verkehr, und Demenzkranke, behaftet mit Krankhei- higkeit und Wissen. Wohnen, Produkten, Dienstleistungen, Fa- ten und Ausfällen, stigmatisiert durch Defizit, milienstrukturen und sozialen Umgangsfor- Behinderung und Unzulänglichkeiten. Von Neue Philosophie des men in Gang setzen müsste, ist nur vorstell- machem als „gesellschaftliches Nutzlosig- Älterwerdens erforderlich bar, wenn jeder sich angesprochen fühlt, das keitspozential“ angesehen, werden alte Men- Älterwerden wahrzunehmen, es anzuneh- schen – über eine gestaffelte Entsorgung – dem Dietmar Höhne: „Wir brauchen ein ganz men als ständigen Begleiter vom ersten bis „Gnadentod“ überlassen und dem „sanften anderes, auf den gewandelten Bedingungen zum letzten Tag. Sterben“ preisgegeben, was gelegentlich sogar fundiertes Verstehen vom Alter und Älter- Der Verein „aging-alive“ bietet ein Forum als „sozialverträgliches Frühableben“ mora- werden. Wir brauchen Strukturen, in denen für Aktivitäten, dieses lebendige Altersbe- lisch und politisch sanktioniert wird. die veränderte Realität, ein völlig neuer Le- wusstsein in allen Bereichen des öffentli- Über die Medien, insbesondere die Wer- benszyklus des bald größten Bevölkerungs- chen und privaten Lebens wach zu rufen, bung werden wir mit Botschaften bombar- anteils Gestalt annehmen kann. Die neue zu fördern und zu begleiten. Höhne: „Wenn diert: „Anti-Age-Gymnastik ab 25“, „das ers- Altersverteilung sowie eine um fast 30 Jahre wir uns vor dem Alter verbeugen, erweisen te Peeling mit Ende 20“, „Testosteron ab verlängerte Lebensspanne nach dem Aus- wir auch allen anderen Abschnitten des Le- 30“, „mit 40 an der Rentenschwelle“, „mit scheiden aus dem Berufsleben, für die wir bens, dem Anfang und dem Ende, der Ge- 50 das erste Facelifting“. So wird unsere überhaupt keine Modelle haben, erfordern burt und dem Tod die Ehre.“ Identität zerstört, im Bereich der Leiblich- eine Betrachtung und Praxis des Sozialen, Die Internetpräsentation des Vereins bietet eine um- keit, der sozialen Beziehungen, der Arbeit eine Philosophie des Lebens und des Älter- fangreiche Datenbank mit aktuellen Nachrichten, Texten, und Leistungsbereitschaft, der materiellen werdens, die dem Zugewinn, der Vielfalt Literaturverzeichnis und Veranstaltungshinweisen: Sicherheit sowie der Normen und Werte. und der Lebenserfahrung Rechnung trägt, U www.aging-alive.de

 MUSIK ORUM 31 TITELTHEMA

WDR 3 hat in Nordrhein-Westfalen ein beispielhaftes Modell der Gemeinsamkeit unter Kulturträgern entworfen. Im Interview: Programmchef Karl Karst

RADIO-PARTNERSCHAFT

nter dem Motto „Partnerschaft für mehr Kultur“ arbeitet das Kultur- URadio WDR 3 mit derzeit 80 Theatern, Konzerthäusern, Museen, Kulturorganisationen, Festivals, Theater- und Museumsnächten in Nord- rhein-Westfalen eng zusammen. Kern des Konzepts ist „die dauerhafte oder zumindest auf eine längere Zusammenarbeit angelegte unentgeltliche Kooperation der Kulturträger des Landes“, so Programmchef Karl Karst.

Ziel der Initiative ist eine möglichst direk- liches Auswahlkriterium sowohl für die te Zielgruppenwerbung für die Veranstal- Partnerschaft als auch für die Einbindung in tungen der Kulturpartner ohne Belastung WDR 3 ist die Kompatibilität mit unserem ihrer Etats. Beabsichtigter Nebeneffekt: ein Programmprofil WDR 3. Die Kulturpartner Imagetransfer, der für beide Seiten von Ge- dokumentieren ihre Partnerschaft durch winn ist. Durch mögliche Auslastungssteige- Logopräsenz in Druckwerken, vor Ort, auf rungen bei den Partnern führt sie in positi- Transparenten, Fahnen und so weiter. Da- ven Fällen auch zu wirtschaftlich spürbaren rüber hinaus können Einzelprojekte, zum Ergebnissen. Beispiel gemeinsame öffentliche Veranstal- Über die Bedeutung und die Konzeption tungen wie das „Kulturpolitische Forum der Zusammenarbeit sprach Katrin Pokahr WDR 3“, entstehen. mit dem WDR 3-Programmchef. Welchen Vorteil bietet dieses System WDR 3-Programmchef Karst: Welche Bedeutung hat das System für die Kulturpartner? „Ohne neue Kooperationen wird das der WDR 3-Kulturpartnerschaften in den Vielen Kulturpartnern fehlt das Geld für Kulturangebot der Kommunen und ersten vier Jahren seines Bestehens erlangt? teure Kommunikationsmaßnahmen. Sie Länder in der Zukunft nicht mehr Karl Karst: Es hat sich in Nordrhein- investieren ihren verbliebenen Etat vernünf- aufrecht zu erhalten sein.“ Westfalen fest etabliert – und auch in ande- tigerweise lieber in das eigene Programm- ren Ländern beginnen sich ähnliche Systeme angebot und in die Künstler als in Publika- zu entwickeln. Der Gewinn für alle Seiten tionen mit hohem Streuverlust. Die Part- aktivitäten aller Kulturangebote in NRW zu ist offensichtlich: Die Kultur in NRW hat nerschaft mit WDR 3 ermöglicht eine ziel- steigern, um effektiv, aber Ressourcen spa- deutlich profitiert und auch das Kulturradio gruppengenaue Kommunikation, deren rend Kulturpublikum zu erreichen. In der hat seine Bekanntheit gesteigert. Allerdings: Wirkung spürbar ist: Die Auslastungssteige- Summe also Effizienz für alle Seiten – nicht Wir sind an der Kapazitätsgrenze! Anfäng- rung bei Veranstaltungen, auf die WDR 3 zuletzt auch für das Publikum, das auf die- lich sollten es 40, dann 60 Partner werden, hingewiesen hat, ist evident. So zielgruppen- sem Wege ein Plus an Information und jetzt haben wir bei 80 einen Aufnahme- gerecht und weitreichend (bei 350 000 bis Angebot erhält. stopp erteilt, um die Qualität zu sichern. 420000 kulturinteressierten Hörern täglich) kann kein Medium in NRW für Kultur Bezieht das Konzept auch die beson- Wie funktioniert das Modell? werben. dere polyzentrische Struktur des Bundeslandes Die Kulturpartnerschaften sind vertrag- Nordrhein-Westfalen mit ein? lich fixierte Partnerschaften, die auf Dauer Und welchen Nutzen hat WDR 3 Eine der zentralen Zielsetzungen war es, angelegt sind. Sie gelten nicht nur zeitlich davon? die Vielfalt der Kultur in NRW besser zu begrenzt wie bei den punktuellen Präsen- Für WDR 3 besteht der Gewinn in einer spiegeln und mit diesem Konzept auch wei- tationen von Einzelveranstaltungen, die es Erweiterung seines Bekanntheitsgrads und ter in das Land hinein zu gelangen – und in vielen Programmen seit langem gibt, einer langfristigen Vergrößerung seiner nicht nur auf die Kulturzentren zu schauen. sondern bestehen permanent. Das bedeutet, Hörerschaft. Auch dafür gibt es positive Deshalb unterstützt WDR 3 unter anderem dass WDR 3 mit seinen Partnern in stetem Zeichen. Für WDR 3 gilt auch, dass es kaum die mobilen Landestheater NRW, die be- Austausch ist. Wir erhalten Programminfor- einen direkteren Zielgruppenkontakt geben sonders außerhalb der Kulturzentren des mationen unserer Kulturpartner und wei- kann als in den Räumen und Publikationen Landes unterwegs sind. sen in festen Sendeplätzen auf redaktionell der Kultureinrichtungen des Landes. Ziel ausgewählte Veranstaltungen hin. Wesent- ist es, die Kommunikation von Programm-

 32 MUSIK ORUM FÜR mehr Kultur

Hilft WDR 3 damit der Vernetzung Kulturpartnerschaft hat für diese Vielfalt von Kultur im kulturell vielfältigen NRW? eine Plattform geschaffen, die zuvor nicht Ich halte Vernetzung in unserer Zeit für vorhanden war. Auch der von uns gepräg- das Gebot Nr.1. Ohne Zusammenhalt und te Begriff „Kulturpartner“ hat sich sehr Ergänzung kann eine Kultur dieser Dichte schnell verbreitet und findet intensiven auf Dauer nicht existieren. Hier sind wir aber Gebrauch – leider auch für deutlich anders noch lange nicht am Ziel. Kirchturmspolitik konzipierte Partnerschaften. ! und Egozentrismen stehen noch an vielen Stellen der Gemeinsamkeit entgegen. Vernet- zung ist in unserem Medium sozusagen naturgegeben. Wir strahlen nur einmal in das ganze Land – und jeder, der sich für Kultur in NRW interessiert, kann WDR 3 auf einfachstem Wege, ohne zusätzliche Kosten, empfangen. Ich halte Vernetzung und Zu- Dokumentierte Kooperation: sammenführung für eine Verpflichtung und »Vernetzung Die Kulturpartner des WDR 3 für eine zentrale Aufgabe des öffentlich- ist eine zentrale präsentieren das Logo des rechtlichen Rundfunks – der dafür allerdings Senders in Werbedruck- sachen, vor Ort, auf Trans- die nötige Unterstützung durch ausreichen- Aufgabe des parenten und Fahnen. de Gebührenausstattung benötigt. öffentlich-rechtlichen Warum ist dieses Erfolgsmodell in anderen Ländern noch nicht in der gleichen Rundfunks« Weise umgesetzt worden? Das Konzept wurde aus- drücklich mit der Aufforde- rung zur Nachahmung an die Öffentlichkeit getragen. Es wird in adaptierter Form durchaus schon von ande- ren Kulturprogrammen übernommen, wenn auch nicht in dem Maß wie es in NRW und durch den WDR möglich ist. Unser Sendegebiet hat durch sei- ne immense Kulturvielfalt und durch seine Bevölke- rungsgröße eine besondere Stellung. In keinem ande- ren Sendegebiet der ARD gibt es eine vergleichbare Ballung von Musik- und Kultureinrichtungen. Kein anderes Bundesland ver- fügt über ähnlich viele Konzert- und Opernhäuser, Theater und Museen wie NRW. Das Modell der TITELTHEMA

WDR 3 hat in der jüngsten Media- Analyse sehr erfreulich abgeschnitten und behauptet seinen Spitzenplatz unter den ARD- Kulturradios. Führen Sie dies auch auf die stärkere Präsenz durch die Kulturpartner- schaften zurück? Es ist ein sehr positives Signal, das die Media-Analyse uns übermittelt hat. Das gilt es weiterhin zu beobachten. Ein Zuwachs MdB Gitta Connemann, von mehr als 40 000 Hörern ist im Kultur- bereich allerdings nicht allein mit guter Vorsitzende der Enquete-Kommission Werbung oder über Partnerschaften erreich- „Kultur in Deutschland“: bar. Sie brauchen dafür ein adäquates Pro- gramm. Wenn Profil und Image des Kultur- radios WDR 3 nicht stimmen würden, hätten wir auch keine Kulturpartner! Neben der Tageshörerzahl, über deren Zunahme wir uns sehr freuen, lässt sich aber die Stei- »Bürgerschaftliches gerung des Bekanntheitsgrads von WDR 3 zu einem guten Teil auf die verstärkte Präsenz im Land zurückführen. VORAUSSETZUNG FÜR EIN

Die statistischen Daten zeigen: Ohne Wir brauchen auch eine lebendige Brei- das Engagement der Bürger gäbe es das tenkultur, um unseren talentierten Nach- Musikleben nicht, um das Deutschland in wuchs entdecken und fördern zu können. der Welt beneidet wird. Leider werden Wie viele Kinder, deren Eltern den Besuch dieses Engagement und die Bedeutung einer Musikschule nicht finanzieren konn- der Breitenkultur für die Kulturlandschaft ten, haben nicht in einem Musikverein, in Deutschlands nicht so wahrgenommen wie einer Kapelle ein Instrument erlernt und es geboten wäre. damit den Zugang zur Musik gefunden. Umso wichtiger ist deshalb das Be- Wir brauchen die Breitenkultur, um ge- kenntnis unseres Bundespräsidenten Horst rade junge Menschen für Kultur zu begeis- Köhler zur Laienmusik. Er hat diese als tern. Denn Breitenkultur ist der fruchtbare unverzichtbar für die Pflege der Kultur in Boden, in dem Menschen in Zeiten perso- unserem Land, für den Erhalt und die Fort- naler und sozialer Mobilität Wurzeln schla- „Gemeinsam sind wir besser“: 80 Theater, entwicklung kultureller Werte bezeichnet. gen, persönliche Werte entfalten und sozia- Konzerthäuser, Festivals, Museen und Dies ist ein Beginn, mehr Anerkennung für le Beziehungen aufbauen können. Kultur Kulturorganisationen sind Partner von WDR 3. den Stellenwert der Breitenkultur in der stiftet Identität – Breitenkultur aber sichert Kulturlandschaft Deutschland zu gewinnen. Pluralität. Für eine Kulturpolitik mit Weit- Welche weiteren Projekte entstehen Bislang fehlt es daran häufig – sei es aus durch die Kulturpartnerschaften? Unkenntnis um das Vermögen der Brei- In jedem Jahr treffen sich die Kulturpart- tenkultur oder aber wegen eines vereng- ner einmal zum gemeinsamen Austausch. ten Kulturbegriffs, der sich auf die institu- Noch ist das Engagement Dabei entstehen immer wieder neue Ideen tionalisierte, die professionelle Kultur, be- für Kooperationen – auch untereinander schränkt. beeindruckend. Doch: und ganz ohne Beteiligung von WDR 3. Eine verantwortungsvolle Kulturpolitik, Die Bereitschaft, sich ehren- Ein Kooperationsmodell, das unmittelbaren die zur Sicherung der dichten Kulturland- Programmbezug hat, ist das „Kulturpoliti- schaft Deutschlands beitragen will, darf amtlich zu betätigen, nimmt sche Forum WDR 3“, das seit Beginn 2004 sich aber nicht auf die kulturellen Leucht- besorgniserregend ab! regelmäßig mit unseren Kulturpartnern an türme, die Opernhäuser und großen Or- unterschiedlichen Orten in NRW stattfindet chester, beschränken. Wir müssen diese und auf dem Sendeplatz „Forum WDR 3“ zum Strahlen bringen. Dies darf aber nicht (sonntags um 19.05 Uhr) ausgestrahlt wird. dazu führen, dass im Umland die Lichter sicht muss daher der Grundsatz gelten: Hier hat sich eine neue, eigene Linie aus ausgeblasen werden. Wir brauchen gerade Wer „Kultur für alle“ fordert, der muss auch den Kulturpartnerschaften entwickelt, die die vielen kleinen Kulturlichter, damit es „Kultur von allen“ fördern! wiederum als Marke für die Kulturland- für die Kultur in Deutschland insgesamt Wir brauchen das bürgerschaftliche En- schaft NRW werben kann. heller wird. Hochkultur und Breitenkultur gagement, um das kulturelle Leben vor U www.wdr3.de ergänzen sich. Ort zu gestalten. Das gilt besonders für den

 34 MUSIK ORUM ie Zahlen sprechen für sich: 22 Millionen Menschen in Deutschland Dsind ehrenamtlich tätig. Sie „investieren“ Jahr um Jahr 3,7 Milliar- den Stunden Arbeit, ohne dafür einen Cent zu erhalten. Die Aktivitäten in den Bereichen Kultur und Musik sind dabei von besonderer Bedeu- tung. Alleine in der Laienmusik erbringen 1,4 Millionen Sängerinnen und Sänger in 45000 Chören und 30000 Instrumentalgruppen absolute Spitzenleistungen. Engagement – LEBENDIGES MUSIKLEBEN«

ländlichen Raum. Bundesweit ist die Hälf- zur GEMA ebenso wie das Ausfüllen der te aller Musikvereine in Orten unter 2 000 Steuererklärung für den Verein kosten Einwohnern ansässig. Ein Beispiel für die Kraft und Zeit und lassen manchmal ver- Bedeutung privater Initiativen aus meiner zweifeln. Was ist also zu tun, damit die Ge- Heimat ist der Verein Junger Kaufleute in dichtzeile Wilhelm Buschs „Willst Du froh Leer. Er macht sich seit langem in der Or- und glücklich leben, lass kein Ehrenamt dir ganisation von Konzerten klassischer Mu- geben!“ nicht zu einem praktizierten Allge- sik um das kulturelle Angebot der Stadt meingut wird? verdient. Dank dieses ehrenamtlichen En- gagements gelingt es immer wieder, be- rühmte Musiker und Orchester nach Leer zu holen. Das Bedürfnis nach diesem An- Für eine neue Kultur des gebot zeigt sich in der Nachfrage und der Vergabe aller 800 Plätze an Abonnenten. Ehrenamts brauchen wir den Wir dürfen uns von den beeindrucken- Mut zu neuen Lösungen. den Zahlen bürgerschaftlichen Engage- ments aber nicht blenden lassen. Denn die Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu betäti- gen, nimmt besorgniserregend ab. Es droht Noch immer haben wir es leider im uns ein Generationenbruch als Folge der Blick auf die Breitenkultur mit einer terra nachlassenden Förderung in Schulen, Mu- incognita zu tun. Die Antwort der Bundes- sikschulen, Chören, Vereinen und Freizeit- regierung auf die große Anfrage der CDU/ einrichtungen. CSU-Bundestagsfraktion wird hier hoffent- Die Gründe für die wachsende Zurück- lich für mehr Klarheit sorgen. Und auch die haltung sind auch ganz praktischer Natur: Enquete-Kommission „Kultur in Deutsch- Chorsänger, Amateurschauspieler, Musi- land“ des Deutschen Bundestags hat sich ker, sie alle zahlen Beiträge, sie finanzieren in ihrer Bestandsaufnahme der Situation Noten, Instrumente, Kostüme, Konzerte von Kunst und Kultur intensiv mit Fragen selbst aus eigener Tasche. Ohne dass sie der Breitenkultur und des sie tragenden über eine entsprechende fachliche Ausbil- bürgerschaftlichen Engagements beschäf- dung verfügen, müssen Vereinsvorsitzen- tigt. de profunde Detailkenntnisse besitzen, sei Die aufgeworfenen Fragen lauten: Wel- es im Bereich des Sozialversicherungs- und che Anreize und öffentliche Anerkennung Gemeinnützigkeitsrechts oder des Urhe- motivieren Bürgerinnen und Bürger dazu, berrechts. Bei Verstößen haften sie mit ih- sich in Chören, Orchestern, aber auch in rem privaten Vermögen. Die Anmeldung Musikschulen zu engagieren? Wie lassen TITELTHEMA

sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen, das Gemeinnützigkeitsrecht, Zuwendungs- recht und Spendenrecht, verbessern? Wel- che Vereinfachungen sozialversicherungs- Manfred Trojahn, neuer Präsident des Komponistenverbands, rechtlicher Vorschriften sind nötig? Wo kann kann sich künstlerisches Handeln und politisches Denken nicht Bürokratie abgebaut werden? Welche Ver- einfachungen sind möglich – bei der Steuer- getrennt vorstellen – doch: erklärung für den Verein bis hin zur Anmel- dung zur GEMA? Welche Angebote zur Qualifizierung und Zertifizierung von ehren- amtlich Tätigen und welche Konzepte für die Kooperation zwischen Ehrenamtlichen »ICH BIN und Hauptamtlichen brauchen wir? Künstler Für eine neue Kultur des Ehrenamts brauchen wir den Mut zu neuen Lösungen. Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutsch- – ZUALLERERST« land“ hat die erste Hürde genommen und die notwendige Bestandsaufnahme geleistet. Der eigentliche Sprung, die Formulierung von Handlungsempfehlungen, steht dage- gen noch aus. Dazu bedarf es unbedingt der r ist einer der profiliertesten dirigierenden Komponisten mit breitem Wiedereinsetzung der Enquete-Kommission EWerkspektrum zwischen orchestralem Bereich und experimenteller in der kommenden Legislaturperiode. Nur Kammermusik – und seit einem Jahr ist er auch Präsident des Deutschen so lässt sich die begonnene Arbeit zu dem Komponistenverbands (DKV): Manfred Trojahn – ein Funktionär? „Ich bin erfolgreichen Ende bringen, das die vielen ehrenamtlich in der Kultur tätigen Bürge- ein Künstler und habe eine Verantwortung“, stellt er klar, „und die bezieht rinnen und Bürger zu Recht von ihr erwar- sich auf meine Arbeit.“ ten. Mit dem 55-jährigen studierten Flötisten, dadurch eine durchschlagende Handlungs- Gitta Connemann, Juristin aus Leer, ist Mitglied des Deutschen Bundestags für die CDU und Vorsitzende der seit 1991 eine Kompositionsklasse an fähigkeit verbaute – und daher muss man der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland sowie der Robert-Schumann-Hochschule in Düs- die Zielsetzung des Verbands so gestalten, Mitglied im Bundestagsausschuss für Verbraucher- seldorf leitet, unterhielt sich Christian dass die Forderungen von beiden Lagern schutz, Ernährung und Landwirtschaft. Höppner. als die ihren akzeptiert werden können. Eine Konzentration in der Themenvielfalt ist Nachträglich noch einmal herzlichen somit angesagt. Glückwunsch zum Amt des Präsidenten des Die Alternative – eine Trennung der Komponistenverbands! Sind Sie Präsident Bereiche in Einzelverbände – scheint mir aller Komponisten oder nur des Verbands? wesentlich weniger sinnvoll zu sein. Mit Manfred Trojahn: Verblüffende Frage! etwa 1300 Mitgliedern haben wir ohnehin Die Minorität der Mitglieder des Deutschen kein wirklich großes Gewicht in einer Ge- Komponistenverbands, die bei der Wahl sellschaft, in der Mehrheitsentscheidungen, am Ort war, hat mich mit einer deutlichen also Quantitäten, auf jeden Fall vor den Majorität vor den anderen Kandidaten in Qualitäten zu bevorzugen sind. Interessan- dieses Amt bestellt. Ich bin der Präsident terweise ist hier auch die heikelste Stelle der Mitglieder des DKV, auch wenn es in Bezug auf meine gesellschaftliche Verant- sich viele anders gewünscht hätten. wortung. Als Privatperson habe ich schon radikalere Vorstellungen eines Gesell- Was ist Grundlage Ihres Handelns: schaftsmodells als die, die ich in meinen die lobbyistischen Ziele Ihres Verbands oder Funktionen, sei es als Verbandspräsident, ein Teil gesellschaftliche Verantwortung? als Hochschulprofessor oder als freier Der DKVsollte als Berufsverband die Unternehmer – als solcher versteuert man Bedürfnisse seiner Mitglieder vor der Ge- ja als Komponist –, durchzusetzen versuche. sellschaft vertreten. Damit ist er eine Lobby- Als Künstler muss ich meine Vorstel- Organisation. Nun haben wir dadurch, lungen nicht diskutieren, ich muss sie dass unsere Mitglieder sowohl U- als auch umsetzen. Ein Verbandspräsident äußert E-Musik komponieren, eine sensible Vorstellungen, die im besten Falle konsens- Balance zwischen den Gruppen zu halten, fähig sind. Dieser zuweilen etwas anstren- Kernfrage: Was motiviert Menschen dazu, die es verhindert, dass eine Seite Forde- sich in Orchestern und Chören zu engagieren? gende Spagat prägt nun für einige Zeit Mit dieser und anderen Fragen hat sich die rungen stellt, die auf Kosten der anderen meinen Alltag, ganz sicher wird aber bei Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ Seite umgesetzt würden. Zuweilen mag meinem Temperament eines Tages die intensiv beschäftigt. das so aussehen, als ob der Verband sich künstlerische Haltung wieder ihre Aus-

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Kompositorische Vielseitigkeit: Manfred Trojahn schrieb Sinfonien, Streichquartette, Sonaten für verschiedene Instrumente, Lieder, Ballettstücke, den Zyklus Fünf Seebilder und die Oper Enrico. schließlichkeit einklagen! Bis dahin habe dung eines europäischen Dachverbands nicht getrennt vorstellen kann. Diese heute ich mir vorgenommen, meine Möglich- der Komponisten. etwas altertümliche Auffassung vom Künst- keiten als Vermittler zur Verfügung zu lertum habe ich so begriffen, dass ich von stellen, der die Genres der heutigen Musik Ist das, was Sie gerade skizziert haben, der Gesellschaft fordere, das „Künstlersein“ auf ihre Solidarität verpflichtet. ein Ist-Zustand oder eine Zielbeschreibung? als möglichst grenzenlose Individualität zu Das ist eine Zielsetzung. Der DKV hat ermöglichen. In einer Zeit, die inflationär Die Türen sind also offen für alle natürlich schon seit langer Zeit solche Fra- mit dem Begriff der Individualität umgeht, Genres heutiger Musik? gestellungen diskutiert, vielleicht ist es aber ist es nicht einfach, die außerordentlich Der DKV ist von seiner Konstruktion der Zeitpunkt gesellschaftlicher Umgestaltung elitäre Auffassung von Individualität, wie her immer offen gewesen für alle Genres heute, der uns verschiedene Haltungen sie nun mal zum Künstler gehört, zu kom- zeitgenössischer Musik, die von Autoren abverlangt; und daher müssen sicher viele munizieren. geschaffen wird. Es liegt auf der Hand, dass Aspekte, die den Verband neben den ge- Politische Arbeit, oder wenn Sie so wol- der Verband nicht der Ort sein kann, an nannten auch noch bewegen, in den Hinter- len: kulturpolitische Arbeit, die sich mit und dem ästhetische Vorstellungen debattiert grund treten. Es gilt, die Mitglieder von für Kunst einsetzt, hat sich also zuallererst werden. Nicht einmal zwei Komponisten Fragestellungen zu überzeugen, die vielen damit auseinanderzusetzen, wie sich die sind in der Lage, in derartigen Problemfel- zu weit von ihren Alltagsproblemen entfernt Gesellschaft, die ja heute der Träger der dern eine grundsätzliche gegenseitige Ak- sind. Die Kollegen, die darauf sinnen, Kon- Kunst vermittelnden Institutionen ist, zu zeptanz herbeizuführen. Schon die Zuge- zepte und Projekte für ihre nächste Auffüh- dem stellt, was die entgrenzte Individualität hörigkeit z. B. zum Bereich der E-Musik rung zu entwickeln, damit sie überleben in diesen Institutionen veranstaltet. Die erfordert eine Kompromissbereitschaft. können, und dabei auf Verbandsunterstüt- Gesellschaft muss begreifen, dass sie mit Künstler empfinden sich nicht als zugehörig, zung hoffen, begreifen oft nicht, dass es den Institutionen auch die Rolle derjenigen sie sind keine Mitglieder oder gar Anhän- dafür zu kämpfen gilt, dass es überhaupt übernommen hat, die einmal diese Institu- ger. Wenn sie es doch sind, der Form noch honorierte Aufführungen gibt. Der tionen geschaffen haben. Zu dieser Rolle halber, dann sind es aus der Notwendigkeit Verband wird sich in vielen Aspekten ver- gehört die Fähigkeit zur Rezeption – mit heraus, in einer Gesellschaft so zu funktio- ändern müssen, um wahrgenommen zu anderen Worten: Bildung. nieren, wie es diese von ihren Mitbürgern werden. Demokratische Politik, die versucht zu – oft mit guten Grund – erwartet. Dieser agieren, ohne an den Möglichkeiten zu domestizierende Aspekt ist sozusagen der Sie sind ja nicht erst seit Ihrer Präsi- ihrer Rezeption zu arbeiten, läuft in die Angelpunkt unserer Solidargemeinschaft. dentschaft ein sehr politisch denkender Mensch. Katastrophe, unter der wir heute leiden. Hier gilt es Themen zu entwickeln, die alle Was wäre die erste Botschaft des Kulturpoliti- Die Mehrheit hat genug von den lächerlichen Mitglieder des DKV bewegen. Zum Beispiel kers Trojahn für den Umbruch der Werte, Parolen, mit denen Wahlen gewonnen wer- die Frage nach der rechtlichen Verankerung von dem wir vorhin gesprochen haben? den sollen, ist aber nicht darauf vorbereitet, des Autors in der Mediengesellschaft, die Noch einmal: ich bin Künstler – zualler- die komplexeren Vorgänge zu verstehen. nach dem Anspruch auf soziale Absiche- erst! Wenn ich politisch denke, dann sicher Das Resultat nennt man Demokratiemüdig- rung in der Künstlersozialversicherung oder nicht kulturpolitisch. Diese Einteilung in keit, wo doch das Wort „Dummheit“ völlig die nach den Ansprüchen an einen öffent- Sparten ist ja vornehmlich pragmatischen hinreichend wäre. lich-rechtlichen Rundfunk. Gesichtspunkten geschuldet, und wenn ich Wenn jetzt nach Eliten geschrien wird, Nicht zuletzt muss man sich der Frage als Künstler politisch denke, dann sicher und in großer Eile unzureichende Förder- nach der Rolle der Komponisten in einem nicht in solchen Tortenstückchen. Ich ge- programme entwickelt werden, um solche vereinigten Europa stellen. Wir sind daher höre einer Generation an, die sich künstle- aus dem Nichts zu zaubern, wird man nicht beteiligt an den Überlegungen zur Grün- risches Handeln und politisches Denken mehr erreichen als die Abstände zu ver-

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größern, die eine Demokratie zur Klassen- dass dieses Gefühl durch nichts zu ersetzen lich zu. Kann auch nicht sein, denn es geht gesellschaft degenieren lassen. Zur Elite ge- ist, ob es nun im Gewand von E oder U letztlich nicht um isolierten Musikunter- hört die Bildungsschicht, die in der Lage ist, daherkommen mag. richt, sondern zunächst um das Einbringen die Elite zu begreifen. Ich wünsche mir, dass es allen so geht, von Kunst in ein gesellschaftliches Werte- bin aber bereit, einzugestehen, dass es konzept. Und da fehlt es auf der ganzen Steht die Zielsetzung als pragmatische genügend Gründe gibt, diese Erlebnisse Linie. Umsetzung über der strategischen Ausrichtung? nicht mit anderen teilen zu wollen – also Aber was Sie da als Frage ansprechen, Die Zielsetzung verdankt sich immer die Konserve zu bevorzugen. Musik ist ob nicht der Komponist intensiver an der pragmatischem Denken. Im Falle des DKV schließlich so sinnlich aufgeladen, dass Vermittlung seiner Arbeit beteiligt sein soll, und seiner heterogenen Mitgliedschaft ist immer noch eine Menge übrig bleibt. ist schon sehr zu differenzieren. Einerseits das überlebenswichtig. bin ich sehr dafür, dass die Komponisten Aber gerade bei Kindern und Jugend- alles dafür tun müssen, um im Musikleben Sehen Sie die Chance, Ihre Position lichen, die sich sehr viel in virtuellen Welten die Präsenz wieder zu erlangen, die sie an als Gegengewicht zum Mainstream einzusetzen aufhalten, gibt es ein steigendes Bedürfnis nach Regisseure, Dirigenten und Produzenten und dabei mehr Menschen „mitzunehmen“? ganz sinnlicher Betätigung. Nicht umsonst verloren haben. Doch ist dies nicht zu Zunächst interessiert es mich, mit den stehen zurzeit 70000 Schüler bundesweit auf verwechseln mit dem angloamerikanischen Positionen des Verbands noch mehr kom- den Wartelisten der Musikschulen. Modell des „Komponisten-zum-Anfassen“, ponierende Kollegen als Mitglieder zu ge- Ich bin kein Experte für Musikpädagogik der sich als composer-in-residence selbst ver- winnen. Künstler sind immer das Gegen- und kann daher nur meiner Freude Aus- mitteln muss. Ich denke, dass sich dieses gewicht zum „Mainstream“, und so ist es druck geben, wenn diese Zahlen stimmen. Modell einer materialistischen, unspirituel- die Aufgabe, deutlich zu machen, dass die Natürlich gehört für mich das Körperliche len Gesellschaftskonzeption verdankt, in der Menschen in einer Gesellschaft sich für sehr stark zur Musik, und das Selbstspielen der Künstler einer wie wir sein soll, einer, dieses Gegengewicht interessieren sollten, ist sicher eine wunderbare Voraussetzung, den man fragen kann und der nett ist. wenn sie eine Kunst haben wollen. Wenn auch Rezipienten zu schulen. Trotzdem Ich bin sehr in der Künstlervorstellung wir davon ausgehen, dass die Zeugnisse haben wir eine Tendenz, das „Machen“ des alten Europa befangen. Wenn ich eine vergangener Kulturen und Gesellschaften, gegenüber dem „Verstehen“ zu bevorzugen. 16-jährige Tochter hätte, würde ich nicht die uns heute auf verschiedenste Weise Nicht nur bei Neuer Musik. Wenn doch ruhig bleiben, wenn ihr eine „entgrenzte bewegen und erfreuen, nahezu immer beides zusammenkäme! Dann wäre die Individualität“ den Zugang zur Neuen künstlerische Zeugnisse sind, werden wir Konserve zum Kennenlernen, Wiederholt- Musik vermitteln sollte. uns fragen, ob wir ohne Kunst auskommen hören und Analysieren richtig genutzt, und können. Aber wie schon gesagt: Zu einer das Selbstspielen hätte Perspektiven, an Wie können Sie oder der Verband es Antwort auf diese Frage gehört ein wenig denen es doch oft bei denen mangelt, die schaffen, die Neugierde auf das Neue in der mehr als die Fähigkeit, an der richtigen instrumental gut vorbereitet an die Hoch- Neuen Musik noch stärker zu wecken? Oder Stelle ein Kreuzchen zu machen. schulen gelangen und später im Orchester ist das gar nicht Ihr Anspruch? sitzen. Ein Komponistenverband ist eine Berufs- Die zunehmende Virtualisierung organisation und kein Unternehmen zur unserer Lebenswelten hat Auswirkungen auf Die Hauptprägungsphase von Kindern geschäftlichen Beratung im Hinblick auf das Rezeptionsverhalten: Wird die gespeicherte und Jugendlichen ist im Alter zwischen elf und Umsatzsteigerung. Musik das Live-Erlebnis „erschlagen“? 13 Jahren abgeschlossen. Kinder haben auch Im Allgemeinen verlasse ich Schallplat- keine Vorbehalte, wenn sie mit verschiedenen Manfred Trojahn hat viele Haupt- tenläden, ohne etwas gefunden zu haben, Stilrichtungen konfrontiert werden. Was kann berufe. Ist das Springen zwischen den Welten, mit dem widerlichen Gefühl der Überfres- die Neue Musik dazu beitragen, Kindern eine von Insel zu Insel, Lust oder mehr Last? senheit. Aber natürlich habe ich schon breite Palette an Hörerfahrungen zu ermög- Ich habe sicher nur einen Hauptberuf, unübersehbare Mengen von CDs – und lichen? den ich ein wenig komplexer auffasse als ich höre auch oft Musik zuhause. Als Kom- Die Neue Musik trägt doch ungeheuer viele Kollegen das tun. Mich hat immer ponist wünsche ich meine Arbeiten durch- viel zur breiten Palette bei, allein dadurch, fasziniert, wie Hans Werner Henze im aus medial verbreitet. Also ein entschiede- dass sie da ist! Was nicht da ist, sind Ver- Musikleben gewirkt hat und wie er seine nes… Entweder und Oder! Nun glaube ich mittler, sprich: Pädagogen. Heute ist man Anregungen fand. Ich denke, ich habe ein an die Wirkung der Sinnlichkeit, und nahe- viel eher damit beschäftigt, didaktische oder ähnliches Naturell. Dazu gehört das Aus- zu nichts wird je das Gefühl übertreffen, methodische Konzepte zu entwickeln als probieren neuer Aspekte – also zum Bei- das mich überkommt, wenn ich eine sich über Inhalte zu unterhalten. Immer spiel einmal für eine gewisse Zeit dem DKV Sopranistin einatmen sehe, höre, spüre… wenn ich meine erhebliche Abneigung vorzustehen. Es möge nur niemand von und das kann die Konserve ja dann doch gegen Musikpädagogen artikuliere, stellen dieser Bereitschaft ableiten, ich hätte mich nur sehr unvollkommen vermitteln. Selbst sich allerdings hinterher die „Ausnahmen“ als Komponist zur Ruhe gesetzt und sei der Surround-Technik traue ich da nicht vor – diejenigen, die schon jahrelang Vor- nun bereit, als Funktionär in „Würde“ zu viel zu. Ich bin davon überzeugt, dass die- bildliches für die Neue Musik leisten. Den- machen, bis man mich mit dem Treppen- ses Konglomerat aus Spannungen, Leich- noch ist diese Arbeit wohl nur vereinzelt lift zur Ernennung zum Ehrenmitglied tigkeit, Konzentration… eben Sinnlichkeit, erfolgreich. Neue Musik gibt es seit über schafft. Ich bin ein Künstler und habe eine das mich im Konzert und vielmehr in der 100 Jahren – und es fehlt noch immer ge- Verantwortung – und die bezieht sich auf Oper noch zuweilen in die emotionale waltig am Verständnis. Da kann mir keiner meine Arbeit. Auflösung treibt und zu Tränen rührt – erzählen, es ginge in der Pädagogik vorbild-

 38 MUSIK ORUM Betagte Helden: Pink Floyd gehören zu den beliebtesten Bands – ihr Album The Dark Side Of The Moon liegt in der Gunst der 30- bis 50-Jährigen ganz vorne. ALT = gut, NEU = schlecht?

Andreas Kunz über Rock- und Poppräferenzen jenseits des Jugendalters

rüher war alles besser!“ Der abgedroschene Satz passt wie die Warum und Wieso eigentlich klar: Die jün- F Plattenspielernadel in die Plattenrille, nimmt man zur Kenntnis, was geren Stars sind meist Eintagsfliegen oder Musikliebhaber im Alter zwischen 30 und 50 über Popmusik und ihre deren Musik ist zu eintönig.“ Nun mag manch einer die Umfrage als Entwicklung denken. „Handgemachte Rockmusik“ liegt in der Beurteilung Besonderheit einer bestimmten Klientel ab- eindeutig vorne, mit modernem Elektrosound können die meisten wenig tun, sich vielleicht gar lustig machen über anfangen. Aber wird die aktuelle Musikszene überhaupt noch in ihrer vermeintlich altmodische Leser. Dem muss Breite wahrgenommen? man entgegnen, dass sich die Ergebnisse in vielerlei Hinsicht mit einer Umfrage unter Ende 2004 startete die Zeitschrift Stereo lisches Tongemälde The Dark Side Of The deutschen Musikexperten (Journalisten, eine Umfrage, bei der die Leser ihre drei Moon gewann schließlich vor Sgt. Pepper’s Musikern etc.) decken, die die Zeitschrift Lieblings-Popalben nennen durften. Das Er- Lonely Hearts Club Band der Beatles. Wenn’s Rolling Stone im November 2004 veröffent- gebnis der Auswertung: Rund 500 Teilneh- ans Eingemachte geht, setzen die Stereo- lichte. Unter Musikliebhabern zwischen 30 mer nannten etwa 400 verschiedene Titel, Leser also auf bewährte Größen der Rock- und 50 Jahren – die auch das Gros der auf die 50 meistgenannten entfielen dabei und Popgeschichte. Den Eindruck, dass eine Stereo-Leser ausmachen – scheint Einigkeit mehr als die Hälfte der Stimmen. Und das Mehrheit das Etablierte mag und stilistisch zu herrschen: Neuere Popmusik wird mehr- waren fast ausschließlich Platten der 60er, Neues ablehnt, unterstreichen die Leserbrie- heitlich weniger beachtet oder gegenüber 70er und 80er Jahre. Die Beatles, Rolling fe: „Mit Spannung und auch Genugtuung den Klassikern des Genres abgewertet. Die Stones, Dire Straits und Pink Floyd sind die habe ich die Ergebnisse der Pop-Bestenliste Gründe dafür scheinen vielfältig. So ärgert beliebtesten Bands. Pink Floyds melancho- in Stereo 2/2005 gelesen. Für mich ist das sich ein Leser über den Verriss einer neuen

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CD der Oldie-Gruppe The Shadows: „Die helfen, bietet sie doch neben emotionalen Live-CD The Final Tour zeigt noch einmal und körperlichen Funktionen wie dem Ab- sehr deutlich die große Klasse dieser briti- reagieren von Gefühlen, Entspannen, Tan- schen Instrumentalband… Welche Typen zen, Träumen etc. auch Identifikationsmus- beherrschen heutzutage noch so perfekt ter. Über Musik (Songtexte, Selbstdarstellung und sauber die Gitarren wie Hank Martin der Künstler in Videoclips etc.) werden Le- und Bruce Welch? Doch der Pop-Kritiker in bensstile (Kleidung, Frisur, Vokabular, Ver- Stereo 2/05 sieht alles ganz anders: Neues haltensrituale) inszeniert, die Orientierungs- war von den Shadows nicht zu erwarten – muster bei der Suche nach Verhaltenssicher- Fortschritt war nicht gerade ihr Ding… Un- heit geben. In der Kindheit noch geprägt vom glaublich!! Fortschritt kann auch Rückschritt Elternhaus, ab der Pubertät dann Musik- sein: Unmusikalischer monotoner Computer- Medien nutzend und sich stark an Gruppen sound, Schlagzeugmaschinen etc.“ von Gleichaltrigen (Peergroups) im sozialen Umfeld (Schule, Nachbarschaft) orientie- Unkenntnis über die rend, definieren sich Jugendliche über einen aktuelle Szene? Favoriten-Umfrage: Die Leser der Zeitschrift bestimmten Musikgeschmack und grenzen Stereo entschieden sich bei der Wahl der sich zugleich von Eltern und anderen Ju- Eine gerne verwendete Argumentation: beliebtesten Popalben klar für „Oldies“ aus gendlichen durch Musik kollektiv ab. Die Früher wäre Popmusik noch „handgemacht, den 60er, 70er und 80er Jahren. Musik der Jugend wird so zum Teil der eige- authentisch“ gewesen, heute herrsche ein nen Identität. Und jede Generation hat künstlicher Elektroniksound vor. Abgesehen „ihre“ Musik. Stereo-Leser bevorzugen nicht davon, dass in ähnlicher Weise vor einem druck wird vor allem durch Massenmedien umsonst Rock und Pop der 60er bis 80er halben Jahrhundert von Klassik-Freunden wie die Bild-Zeitung, Servicewellen oder Jahre. Dass dieser Befund durchaus auch ty- gegen Rockmusik-Fans gewettert wurde – davon geprägt, wer bei „Wetten das“ das pisch für die Gesamtbevölkerung ist, belegt natürliche Instrumente wie die Geige contra Geplänkel der Gäste überbrückt. Und da der Jahreswirtschaftsbericht 2004 der Fono- verzerrter Krach von elektrischen Gitarren –, haben Bohlen & Co die weitaus größere grafischen Wirtschaft: So ist in der Alters- zeigen diese Äußerungen eine Unkenntnis Präsenz. Aber reicht das als Erklärung aus? gruppe bis 20 Dance am beliebtesten, bei über die gegenwärtige Musikszene. Der Sie- Im Freundes- und Bekanntenkreis haben ja den Mittdreißigern Pop und Rock, ab 50 geszug der Dance-Musik etwa (Techno, viele Äußerungen auch einen Beigeschmack dann Volksmusik, Schlager und Klassik. House etc.) ist längst vorbei. Der Anteil von von Selbstbestätigung etwa nach dem Mot- Dance am Gesamtumsatz der Tonträgerin- to: „In meiner Generation waren die Rock- Musik im Erwachsenenalter dustrie sinkt seit Mitte der 90er und lag 2004 musiker noch echte Typen, das gibt’s heute bei lediglich 5,6 Prozent. Das Gros des Um- nicht mehr.“ Nach älteren Studien schwindet nach der satzes machen immer noch Rock und Pop Jugendzeit ab etwa 30 die Bedeutung von mit 57,3 Prozent aus – und das nicht allein Musik im Jugendalter Musik. Verschiedene Gründe werden ange- wegen Oldies wie Joe Cocker oder Elton führt. Aufgrund des Alters spielten die Hor- John. Solche Äußerungen weisen darauf hin, mone nicht so schnell „verrückt“ wie früher, Gerade in jüngsten Jahren sind jede wie nachhaltig das Musikfaible aus der Ju- durch Familie und Beruf bliebe weniger Menge hochtalentierter junger Bands und gend den Geschmack im späteren Leben Zeit, etwas Neues kennen zu lernen, man Künstler auf der Bildfläche erschienen, die prägt. Jugendliche hören Musik länger und hätte inzwischen begriffen, dass Musik „die musikalische Persönlichkeit ausstrahlen und häufiger als Ältere und gehen öfter in Kon- Welt nicht verändert“ etc. Manches scheint gleichzeitig an Vorbilder der Vergangenheit zerte. Aufgrund der reifungsbedingten Hor- aber darauf hinzudeuten, dass die Musik für anknüpfen, somit auch für „konservative“ monausschüttung erleben sie Musik intensi- Erwachsene weniger stark an Bedeutung Pophörer akzeptabel wären. Hierzu gehören ver. Egal ob Gemeinschaftserlebnisse oder verliert als früher angenommen. So kauften neben erfolgreichen jungen deutschen Künst- der erste Kuss – sehr oft ist auch Musik mit 2004 – im Verhältnis zum Anteil an der lern (Wir sind Helden) etwa Adam Green, im Spiel. Bei der Akzeptanz des eigenen, Bevölkerung – die 20- bis 49-Jährigen die Travis, Coldplay, Ryan (nicht Bryan!) Adams sich explosionsartig verändernden Körpers meisten Tonträger! Heißt das aber, dass oder The Strokes. Ins Bewusstsein älterer ist sinnliches Erleben vorrangig: Bei hoher Hörer dringen sie aber nur selten ein. Deren Lautstärke spürt man die Schallwellen leib- Eindruck ist eher: „Früher gab es die Beatles haftig, kann durch Tanzen den eigenen Kör- und Rolling Stones, heute Deutschland sucht per erfahren. Tiefenpsychologen sprechen den Superstar.“ Ein Vergleich, bei dem „das von einer Vertreibung der „Urangst“ durch Neue“ zwangsläufig erbärmlich abschneiden einen gleichmäßigen Beat, der die Herzge- muss. räusche der Mutter symbolisieren soll. Zudem Sind wieder einmal die Medien schuld? steht für die Konditionierungen mehr Zeit Musikzeitschriften wie der Rolling Stone, als im höheren Lebensalter zur Verfügung, Spex, Stereo, die Feuilletons renommierter wegen der Emotionalisierung finden effekti- Tageszeitungen oder Spartensendungen im vere Lernprozesse statt. Fernsehen und Radio versuchen wie eh und Die Jugendzeit ist auch die Phase, in der je, (auch) auf interessante Newcomer auf- sich die Identität eines Menschen am nach- Man weiß, was „drinsteckt“: merksam zu machen. Doch der Gesamtein- haltigsten entwickelt. Die Musik kann dabei Markenzeichen Sting.

 40 MUSIK ORUM „PopCamp“: Fünf Acts im Meisterkurs für Populäre Musik Musik für Pubertierende angesichts der Konkurrenz von Computer, Internet, Han- dy etc. unwichtiger geworden ist? Die Jün- geren brennen ja Unmengen von Musik, la- den sie von (illegalen) Internetplattformen, STATT tauschen die gebrannten CDs massenweise Vielfalt auf Schulhöfen aus. Und best agers jenseits der Fünfzig kaufen vielleicht nur deshalb am MAINSTREAM wenigsten, weil sie bereits über eine große Zahl an Tonträgern verfügen – die sie weiter- hin gerne hören. Über das Kompetenzmodell zur Spitzenförderung junger Qualitative wissenschaftliche Studien über Bands berichten Michael Teilkemeier und Matthias Krebs die Wertigkeit von Musik in unterschied- lichen Lebensphasen stehen noch aus; nicht zuletzt auch über die Frage, wie offen Ältere Populäre Musik aus Deutschland auf ein Deutschen Musikrats, in Begleitung durch ih- gegenüber neuer, unbekannter Musik sind. Niveau zu hieven, das im internationalen ren neuen künstlerischen Geschäftsführer Künstler wie Sting oder Eric Clapton haben Vergleich endlich wieder für die Aufmerk- Torsten Mosgraber und der finanziellen För- es da einfach. Sie sind Markenzeichen ähn- samkeit sorgt, die zu einer starken Markt- derung der Bundesbeauftragten für Kultur lich wie Mercedes oder BMW, man kann positionierung der Künstler und Bands und Medien, soll PopCamp diese Substanz sich auf die handwerkliche Qualität auch führt, ist erklärtes Ziel der staatlich getra- schaffen, indem das Profil vorhandener Ta- ihrer neuen Produktionen verlassen, weiß, genen Popförderung. lente in intensiver Arbeit geschliffen wird, bis was „drinsteckt“. Zum einen sorgen Einrichtungen wie die aus musikalischen Rohdiamanten möglichst Hat das Neue also per se keine Chance Mannheimer Popakademie und andere Aus- funkelnde Juwelen geworden bei Älteren, und – wenn ja – woran kann das bildungsinstitutionen seit einigen Jahren für sind. In gemeinsamer Kon- liegen? Weil mit Neuem die eigene (musika- die kompetente Ausbildung des musikali- zeption der beteiligten In- lische) Identität in Frage gestellt wird? In ei- schen Nachwuchses im akademischen Rah- stitutionen entstand der ner alternden Gesellschaft, in der bereits men. Zum anderen existieren in Deutschland Entwurf für ein aufwändi- jetzt rund zwei Drittel der Tonträgerkäufer musikalische Wettbewerbe auf Landes- und ges und innovatives Kompe- über 30 Jahre alt sind, ist der Aufbau junger, Bundesebene, deren strenge Wertungskrite- tenzmodell. am besten generationsübergreifender Idole rien einen gewissen Filtereffekt besitzen und für Musikindustrie, Medien und letztlich traditionell hochqualitativen Nachwuchs für Visionär auch öffentliche Institutionen (Musikschu- die Branche generieren. len etc.) lebenswichtig. Denn irgendwann Dennoch muss man mit Blick auf die „PopCamp versteht sich sind selbst die Rolling Stones unter der Erde Landschaft der Populären Musik in Deutsch- selbst als ein neuartiges – und was kommt danach? land über Mangelerscheinungen in jüngsten Coaching-Projekt mit klar Jahren klagen, verfügen doch die meisten ausgerichteter Zukunfts- Literatur: derzeitigen Projekte längst nicht mehr über vision für junge Bands auf Behne, Klaus-Ernst: „Musikpräferenzen und Musikge- Profilstärke, die ihren Erfolg auf Jahre hinaus dem Weg in die Professio- schmack“, in: Musikpsychologie, hg. v. Herbert Bruhn, sicherstellt. Vielmehr haben wir es mehr oder nalität“, beschreibt die Rolf Oerter, Helmut Rösing, Hamburg 1993, S. 339-353. weniger mit hochgezüchteten Casting-Acts Bundesbeauftragte für Gebesmair, Andreas: Grundzüge einer Soziologie des zu tun, deren Lebenszyklus am Markt der musi- Kultur und Medien, Chris- Musikgeschmacks, Wiesbaden 2001. kalischen Eitelkeiten mehr als überschaubar tina Weiss, das Selbstver- Kunz, Andreas: Aspekte der Entwicklung des persönli- ist. In der Regel verschwinden die meisten chen Musikgeschmacks, Frankfurt am Main 1998. ständnis von PopCamp. Die Formationen nach ihrer totalen Vermarktung Leitung dieses anspruchsvol- Rösing, Helmut: „Musikalische Sozialisation“, in: Kompendium der Musikpädagogik, hg. v. Siegmund Helms, Reinhard in einem kurzen Zeitraum von der Bildfläche. len Projekts liegt bei Michael Schneider, Rudolf Weber, Regensburg 1995, S. 349-372. Bestenfalls werden ihre Protagonisten noch Teilkemeier. Ausgewählte zur Resteverwertung durch die Mühlen der Preisträger, teilweise schon Boulevardmedien gejagt, weil sich das eine in bestehenden Bandwett- oder andere ehemalige Sternchen nach den bewerben gekürt, werden Der Autor: obligatorischen Auftritten bei The Dome im Rahmen des Projekts Andreas Kunz sammelte nach Studium oder als Gaststar bei Big Brother nun im mit gezielten Fördermaß- der Systematischen und Historischen Dschungelcamp oder in anderen Erlebnis- nahmen durch alle wich- Musikwissenschaft und Psychologie in Formaten des von Harald Schmidt unlängst tigen Arbeitsfelder der Hamburg Erfahrungen als Klavierlehrer als „Unterschichten-TV“ bezeichneten Medi- hauptberuflichen Tätig- und in der Erwachsenenbildung; er war ensegments verabschiedet. keit als Musiker beglei- wissenschaftlicher Begleiter des HipHop- Konstanz im Erfolg durch Substanz in der tet. Erklärtes Ziel des Projekts „Straßenkrach“ im Auftrag des Qualität könnte der Schlüssel zur neuen Modells ist eine Spitzen- Landesmusikrats Hamburg; Redakteurs Langfristigkeit in der Musikwirtschaft sein. förderung der Besten beim Fachblatt Musik Magazin, seit Davon ist Udo Dahmen, der PopCamp durch ihres Fachs. 1999 Redakteur bei Stereo. alle Phasen als Kurator begleitet, überzeugt. „Experimentierfreudi- In Trägerschaft der Projektgesellschaft des ge und innovative Bands

 MUSIK ORUM 41 NEUE TÖNE

Teilnahme an PopCamp, da sich hier unter den förderspezifischen Aspekten herausragende musikalische Begabung, ein homogener Ge- Schicken junge Bands samtauftritt und die professionelle Form des auf den Weg in eine Demo-Materials in Qualität und Vermarktbar- mögliche Professionalität: keit kanalisieren lassen. Die PopCamp-Jury 2005 mit Rolf Stahlhofen, Zwischenbilanz im Andreas Kiel, Katharina Franck, Udo Dahmen November (Juryleitung), Till Man darf gespannt sein auf die Ergebnisse Brönner, Henning Rümenapp, Patrick von PopCamp. Spätestens am 25. November, Ressler, Alex Richter wenn die fünf Teilnehmer ihre Performance im (stehend von links nach Rahmen der Abschlussveranstaltung live on rechts), Axel Erler, Peter stage präsentieren, wird man eine erste Zwi- Wölpl, Daniel Bax und schenbilanz ziehen können. Dann stehen sich Projektleiter Michael Künstler und Publikum in der Berliner Kultur- Teilkemeier (hockend). brauerei in Echtzeit gegenüber – und die Wir- Foto: Elisabeth Nihues kung eines Konzerterlebnisses beim Besucher ist bekanntermaßen eine der prägendsten, was den späteren Erfolg einer Band ausmacht. Na- sollen durch PopCamp auf hohem Niveau ge- Betreuung auf höchstem Niveau freuen. So türlich soll es nicht darum gehen, ähnlich einer fördert werden. Mit der ersten Jurysitzung hat grundverschieden ihre musikalische Ausrich- praktischen Prüfung die Lerninhalte der Coa- der Deutsche Musikrat eine hervorragende tung auch sein mag, allen Teilnehmern ist ein chings auf die Bühne des Abends zu transpor- Basis für dieses ambitionierte Projekt geschaf- professionelles Verständnis von Musik als tieren und sie hier abrufbar zu machen. Der fen“, resümierte Udo Dahmen, künstlerischer emotionalem Medium zum einen und ver- Liveauftritt steht und fällt mit der Spontaneität Leiter der Popakademie Mannheim und Auf- marktbarem Produkt zum anderen gemein- des Künstlers auch mit unvorhergesehenen Si- sichtsratsmitglied des Deutschen Musikrats. sam. Die Hochwertigkeit von Produktion und tuationen geschickt umgehen und die Zuhörer Als Kurator hatte Dahmen die hochkarätig be- Arrangement der Songs verbunden mit ju- begeistern zu können. Dennoch haben die setzte Jury zu ihrer ersten Sitzung Ende Mai gendlicher Frische und dem nötigen Maß Bands hier Gelegenheit, erste neu erworbene nach Berlin geladen. Eigenständigkeit überzeugte in allen fünf Fäl- Erfahrungen live umzusetzen. Unter der Maxime Vielfalt statt Mainstream len die Jury vollends. trafen sich die Musikredakteure Daniel Bax Bestes Beispiel: Cyminology aus Berlin. Die von der TAZ und Patrick Ressler von Radio Fritz Jazz-Formation um die deutsch-persische Sän- (der Jugendwelle des RBB), die renommierten gerin Cymin Samawatie legte ihr Debutalbum Musiker Till Brönner, Katharina Franck, Rolf per se vor, erschienen auf dem Label des Ma- Stahlhofen und Guano Apes-Gitarrist Henning gazins Jazzthing. Die für die Ohren der Jury Rümenapp, Four Artists-Macher Alex Richter, nahezu perfekte Musik und das exzellen- Gitarrendozent Peter Wölpl sowie Axel Erler te Artwork der Berliner erschienen allen von Universal Music und Andreas Kiel von der Juroren als optimale Voraussetzung zur EMI Music Publishing Germany. Die Zielset- zung des Tages bestand in der kompetenten Auswahl von fünf Bands aus einem Bewerber- pool, in dem sich zu Beginn der Sitzung 24 Bands und Projekte befanden. Die schwierige Aufgabe der Jury bestand darin, aus dem vor- liegenden und größtenteils bereits auf hohem Niveau produzierten und arrangierten Material die fünf Bands auszuwählen, die als Teilneh- mer in den Genuss der Spitzenförderung von PopCamp kommen sollen. „Hip hopt Klassik“: Die Jungs von eins- Hochwertige Produktion hoch6 aus Mün- und jugendliche Frische chen ziehen ins PopCamp Nach verschiedenen Arbeitsphasen in Klein- ein. gruppen und einer mehrstündigen intensiven Diskussion am Runden Tisch wählte die Jury die fünf Teilnehmergruppen aus (siehe rechte Seite!). Die Acts dürfen sich nun auf eine ei- gens auf ihre Bedarfsfelder zugeschnittene

 42 MUSIK ORUM CYMINOLOGY

Die Abschlussveranstaltung von PopCamp wird auch ein gelungener Anlass sein, das Pro- jekt der Spitzenförderung erstmals einer brei- ten Öffentlichkeit erlebbar zu machen, wofür die bunte Kulturszene der Hauptstadt sicher- einshoch6 lich den optimalen Rahmen bietet.

Regelmäßig aktualisierte Informationen Jazz-Quartett aus Berlin zum Projekt PopCamp im Internet: U www.musikrat.de/popcamp Die Teilnehmer am VELVET JUNE PopCampPopCamp 20052005 Termine PopCamp 2005: Klassik-HipHopper aus München 18.–23. September _ 1. Arbeitsphase in der Bundesmusikakademie Trossingen JUPITER JONES 19.–25.November __ 2. Arbeitsphase in der Landesmusikakademie Berlin 25. November _____ Abschlusskonzert in der Kulturbrauerei, Berlin Rock-Pop-Ladies aus Frankfurt/Main ENOLA

Punkrock aus Rheinland-Pfalz

Alternative-Punk aus Köln

 MUSIK ORUM 43 PORTRÄT

ein, auf den ersten Blick und das N erste Ohr hin mag dieses Instru- ment gar nicht zur Avantgarde und zur Neuen Musik passen. Allzu leicht ver- knüpfte man das Akkordeon mit Heimat- klängen, argentinischem Tango oder Pariser Musette. Wäre da nicht einer, der uns gründlich vom Gegenteil überzeugt: Teodoro Anzellotti.

Er zählt zu den Erneuerern der Akkordeontech- nik, erschloss das „Schifferklavier“ der zeitgenössi- schen Musik und hat damit das Klangbild der Avantgarde entscheidend geprägt: Teodoro Anzel- lotti, gebürtiger Süditaliener und jetzt nahe Freiburg lebend, setzte Impulse, die zur neu gewonnen Be- deutung seines Instruments beigetragen haben – und machte dabei Karriere. Mit dem Künstler, der heute an der Hochschule für Musik und Theater des Kantons Bern unterrich- tet und regelmäßig internationale Meisterkurse gibt (seit 1992 auch als Dozent bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt) sprach Andreas Bausdorf.

Wie haben Sie zu Ihrem Instrument, dem Akkordeon, gefunden? Anzellotti: Das ist keine außergewöhnliche Geschichte. Mein Vater hat in einer kleinen Gruppe mit einem Geiger und einem Gitarristen Feste auf dem Akkordeon begleitet. Er konnte keine Noten lesen, war aber in der Lage, alles sehr schnell nach dem Gehör zu spielen. Das Akkordeon war das zentrale Instrument meiner Kindheit, und so habe ich mich riesig gefreut, als ich zum ersten Mal das Instrument meines Vaters spielen durfte.

Wie kam es zu der Entscheidung, ein Hoch- schulstudium in Deutschland zu beginnen? Mein Vater kam in den 60er Jahren nach Deutschland. Die Familie zog nach; ich bin also ein Immigrantenkind. Zunächst hatte ich Unter- richt bei einem Akkordeonlehrer, der ebenfalls aus Italien emigriert war und hier unterrichtete. In der Regel wurden auf dem Akkordeon nur sehr banale Stücke gespielt. Ich dagegen hatte Glück, denn mein Lehrer hatte an einer Akademie in Mailand studiert und vermittelte seinen Schülern anspruchs- vollere Literatur. So spielte ich schon früh Etüden oder Sonatinen und interessierte mich für immer schwierigere und komplexere Stücke für das Akkor- deon. Schnell war mir klar, dass ich auf diesem Weg weitergehen wollte. Nach einer Teilnahme beim Wettbewerb „Jugend musiziert“ ermutigte ein

 44 MUSIK ORUM Brückenbauer AM AKKORDEON

Der ungewöhnliche Weg des Teodoro Anzellotti zur zeitgenössischen Musik

Hochschullehrer meine Eltern, indem er relevante originale Stücke ihnen riet, ich solle eine professionelle entstehen. Die Auseinan- Karriere mit dem Instrument anstreben. dersetzung mit dem Neuen, Mir kam das recht und danach war die die auf der Höhe der Zeit Hochschule in Karlsruhe nicht mehr weit. stand, führte mich dann nach Darmstadt, Witten Welche beruflichen Perspektiven und Donaueschingen. haben Sie tatsächlich mit dem Studium Damals gab es für das verbunden? Akkordeon fast keine Über meine Zukunft hatte ich mir keine Avantgarde-Literatur. Man größeren Gedanken gemacht. Zunächst war musste gemeinsam eine ich extrem glücklich, meine Passion zum neue und auch fremde Beruf machen zu können, und als Akkor- Klangwelt entdecken, zu deonlehrer gab es immer Möglichkeiten. der es noch keine Brücken Wichtig war mir allerdings, das Akkor- oder Wege gab. deonspiel in den Mittelpunkt meiner Ar- »Ich musste für das beit zu stellen und von den besten Lehrern Was empfindet man, wenn einem zu lernen. Außerdem wollte ich mir den dieses Vorhaben gelungen ist und man seinem Akkordeon eine neue jugendlichen Rausch, die Leidenschaft für Instrument einen neuen Raum im Musikleben mein Instrument, erhalten und das tun, verschafft hat? und fremde Klangwelt was ich wirklich liebe. Ein Modell eines Kunst ist primär etwas ganz Privates und konzertierenden Akkordeonisten gab es eine Kommunikation mit sich selbst. Wenn entdecken, zu der es damals noch nicht – und das war vielleicht mir Dinge gelingen und ich ausdrücken besonders reizvoll. kann, was ich möchte, wenn ich also mit noch keine Brücken mir selbst zufrieden bin, kann sich das auch Der Unterricht bei auf andere übertragen und es entstehen oder Wege gab« und Ihre Teilnahme an den Darmstädter vielleicht sogar neue Räume. Natürlich bin Ferienkursen haben Sie stark beeinflusst. ich glücklich und fühle mich etwas privile- Wann und wie entstand der Wunsch, sich giert, daran mitgearbeitet zu haben. um ein eigenständiges Repertoire für das Akkordeon zu bemühen? Zahlreiche Komponisten wie z. B. zu finden. Es ist spannend, ihre geistigen Der Wunsch entstand schon während Luciano Berio, Heinz Holliger, Mauricio Kagel, und kulturellen Leistungen aufzunehmen. der Studienzeit. Man muss dazu wissen, Wolfgang Rihm oder Hans Zender haben für Manchmal steht etwas Klang-Sinnliches dass man damals als Akkordeonist an der Sie Werke geschaffen. Wo liegt in der Zusam- im Vordergrund, das andere Mal ist das Hochschule nicht sehr angesehen war. menarbeit mit den Komponisten für Sie die Experiment oder das Intellektuelle das Kaum jemand nahm mich wahr, geschwei- größte Herausforderung und was treibt Sie Entscheidende. Die Zusammenarbeit ist ge denn ernst. Die Kompositionsstudenten an, sich immer neuen Aufgaben zu stellen? bereichernd, denn es entstehen inspirieren- waren da anders. Sie waren neugierig, und Es ist natürlich ein gewisser Stolz, der de Begegnungen mit sehr starken Persön- natürlich interessierte auch ich mich für Erste gewesen zu sein. Und es ist immer ein lichkeiten. Durch diesen Umgang muss ich deren Welt. So habe ich früh Kontakte zur Neubeginn einer ästhetischen Erfahrung, mich immer wieder hinterfragen und kom- Neuen Musik geknüpft und enge Freund- deren Ausgang ein gewisses Risiko birgt. me durch einen kritischen Blick auf meine schaften in dieser Gruppe gehabt. In der heutigen Zeit gibt es keine einheit- eigene Arbeit zu neuen Ideen und Ansich- Mir war auch klar, dass mein Instrument liche Stilform. Komponisten müssen tief in ten. Ich erlebe das gerade in Köln, wo ich nur wachsen kann, wenn interessante und sich hineinhorchen, um einen eigenen Ton komponierte Transkriptionen von Mozart,

 MUSIK ORUM 45 PORTRÄT

Machaut und Scarlatti für Soloakkordeon zum Beispiel – momentan ja auch heftige CREATE mit dem WDR Sinfonie-Orchester auffüh- Einschnitte angekündigt werden und auch ren werde. Der Komponist Salvatore Sciar- stattfinden? rino hat eine völlig eigene Sicht der Inter- Diese Kürzungen sind wahnsinnig traurig. pretation, die für mich neu, sogar fremd, Ich beobachte zum Beispiel, mit welch zyni- aber dennoch überzeugend ist. Ich konnte scher Offenheit beim SWR wichtige Struk- mich auf seine Vorstellungen einlassen und turen abgeschafft werden sollen und so die mein Bild beiseite stellen. So zu arbeiten ist Neue Musik in extremer Weise in Frage selbstverständlich anstrengend, aber vor gestellt wird. Ohne ein gewisses Maß an allem enorm anregend. Hilfe kann sich die junge Kunst nicht ent- wickeln. Es ist ja nicht so, dass die Musiker Hätten Sie Ihre Ziele und Ihre Ideen nicht arbeiten, bis sich ein lukrativer Job auch in einem anderen Land realisieren anbietet. Das Gegenteil ist der Fall: Es wird ie Krise des Musikbetriebs können und warum haben Sie Deutschland unglaublich viel Zeit investiert und extremer Dist nicht nur eine der Kon- als Ihren Lebensmittelpunkt gewählt? Einsatz erwartet – oft ohne konkrete Produk- zertveranstalter, der Orchester Ich habe mir nie die Frage gestellt, ob tionsmöglichkeit. Ohne Förderung verküm- und der Labels, sondern auch ich in einem anderen Land leben möchte, mert dieser Bereich. Es wäre verheerend für denn ich bin hier aufgewachsen und hatte die Kunst, wenn inhaltliche Ziele dem Ren- eine der Ausbildungsstätten. nach dem Studium hier meine Möglichkei- tabilitätsdenken untergeordnet würden. Gerade letztere müssen sich die Frage ten. Außerdem finde ich die deutsche stellen, ob die Art und Weise der Ausbil- Musikszene sehr spannend. Sie ist ernst, Sie unterrichten seit 1987 an der dung ihrer Studierenden – angesichts der vielschichtig und hat eine große Tradition, Hochschule der Künste in Bern, jetzt an der sich verändernden Bedingungen für die was man sowohl bei Komponisten als auch Musikhochschule Freiburg und bei den Ferien- Ausübung des Musikerberufes – dem bei Interpreten spürt. Hinzu kommt, dass kursen in Darmstadt. Was möchten Sie an die Auftrag noch gerecht wird, junge Musi- wunderbare Menschen aus der ganzen Welt nächste Generation von Musikern weitergeben? kerinnen und Musiker optimal auf ihren nach Deutschland kommen und diese Immer wieder werde ich gefragt, warum Beruf vorzubereiten. Tradition ergänzen. Vieles spielt sich auf ich überhaupt unterrichte, obwohl ich selbst Wie sieht der Arbeitsmarkt aus, in viel konzertiere und daher viel studieren den die zukünftigen Absolventen ein- und reisen muss. Ich glaube, es ist für Stu- treten und was müsste ein Musikstu- denten äußerst interessant, einem konzer- dium heute leisten? tierenden Musiker regelmäßig zu begegnen Zuerst die gute Nachricht: Seit 1996 und zu erleben, wie er denkt, arbeitet und ist die Zahl der abgelegten Prüfungen in Teodoro umsetzt. Gerade das Akkordeon hat in den den Fächern Instrumental- und Orches- vergangenen 20 Jahren eine rasante und termusik an den deutschen Musikhoch- Anzellotti unglaubliche Entwicklung erlebt. Literatur, schulen um 132 Prozent gestiegen, im Spielkultur, Technik, Klang, Pädagogik usw. wurde in Candela, Apulien, geboren und studierte Jahr 2004 gab es 1797 Absolventen. Die haben sich enorm entwickelt. Durch die deutschen Musikhochschulen erfreuen an der Musikhochschule in Karlsruhe; später ergän- „kurze“ Tradition der E-Musik auf dem sich also einer hohen Beliebtheit, was sie zende Akkordeonstudien an der Hochschule in Tros- Akkordeon sollten gerade auch die Musiker nicht zuletzt ihrem hervorragenden Aus- singen; mehrere 1. Preise bei internationalen Wett- unterrichten, die regelmäßig auf den Büh- bildungssystem verdanken. nen zu finden sind, um so ihre Erfahrun- bewerben; rege Konzerttätigkeit in allen Zentren der U www.themen.miz.org/bildungausbildung gen direkt an die Jugend weiterzugeben. Neuen Musik Europas, den USA, Russland und bei Nicht ganz so erfreulich ist das Zah- internationalen Festivals für Neue Musik. Zusam- Hätten Sie Wünsche oder Anregun- lenmaterial, das den Arbeitsmarkt der menarbeit und über 100 Uraufführungen u. a. von gen an den Deutschen Musikrat? Musikhochschulabsolventen beschreibt: Luciano Berio (Sequenza XIII), Vinko Globokar, Heinz Es ist vielleicht einzigartig in der Welt, Bewarben sich 1980 durchschnittlich 16 Kandidaten um eine Orchesterstelle, wa- Holliger, Klaus Huber, Mauricio Kagel, Wolfgang dass die europäische Kunstmusik solch ein Kontinuum darstellt, das sich von den An- ren es im Jahr 1992 bereits 57 (Musikal- Rihm, Dieter Schnebel, Salvatore Sciarrino, Karl- fängen bis heute immer weiter entwickelt manach 1999/2000, S. 47-55). Seitdem heinz Stockhausen und Hans Zender. hat, und dass wir alle, die mit Musik zu tun hat sich die deutsche Orchesterlandschaft haben, ein Teil dieses Kontinuums sind. jedoch weiter verändert. Wurden damals Um das weiter lebendig zu halten, ist es noch 168 Orchester gezählt, so sind es hohem Niveau ab, sodass ich bisher die besonders notwendig, das Nichtkommer- heute 135. Die Planstellen sind zwischen hiesigen Umstände als förderlich bezeich- zielle zu stützen. 1992 und 2005 um knapp 16 Prozent nen kann und froh bin, hier gelernt zu Auch der Deutsche Musikrat spielt dabei zurückgegangen (von 12 159 auf 10 240 haben, hier leben und arbeiten zu können. eine verantwortungsvolle Rolle; er bietet Stellen) und sie werden – wie die aktuel- Plattformen in diese Richtungen. Ich finde le Diskussion zeigt – weiter schrumpfen. Halten Sie die angekündigten Kür- es gut, dass er eine Reihe von Initiativen U www.dov.org/newssyst zungen im kulturellen Bereich für berechtigt, unternimmt, damit die Arbeiten auf diesem Auf der anderen Seite des Markts – wenn man gleichzeitig berücksichtigt, dass in Gebiet eine bessere Außendarstellung be- nämlich bei den Hörern klassischer Mu- anderen Bereichen – dem sozialen Bereich kommen. sik – ist eine ähnliche Dynamik festzustel-

 46 MUSIK ORUM BILDUNG.FORSCHUNG yourself – CREATE YOUR market!

Es kriselt im Kulturbetrieb und in der Ausbildung. Martin Tröndle beschreibt, was ein Musikstudium heute leisten müsste

len: Der Markt ist kleiner geworden. Große Musik-Publikum ist im Durch- Teile der seit 1960 Geborenen haben nur schnitt weit über 50; bei ihm mäßiges oder gar kein Verständnis für klas- scheint sich die generelle sische Musik (siehe auch Artikel zum Überalterung in den westli- „Jugendkulturbarometer“ auf Seite 56). Dies chen Industriekulturen beson- hat mit einer musikalischen Sozialisation der ders niederzuschlagen. heute unter 45-Jährigen zu tun, die haupt- Auf breiter Front gilt, dass sächlich von populärer Musik geprägt ist, das klassische Musikereignis – deren Ästhetik eine vollkommen andere ist gleich ob Konzert-, Oper- als die der klassischen Musik. Die Musik- oder Kammermusik – bei den sprache vergangener Jahrhunderte und zu unter 45-Jährigen an Relevanz weiten Teilen auch die der Neuen Musik ist verloren hat, und zwar als äs- jüngeren Hörern fremd. Leider belegen thetische wie als soziale Insti- nahezu alle empirischen Untersuchungen, tution. Wie Frank Schneider dass mit steigendem Alter die Wahrschein- festhält, funktioniert für dieses lichkeit einer musikalischen Präferenz für schon längst die Majorität bil- klassische oder Neue Musik abnimmt. Das dende Publikumssegment das heißt, es ist nicht davon auszugehen, dass Ereignis des klassischen Kon- man im Alter „von alleine“ auf den Ge- zerts bloß noch mit der Aura schmack der klassischen Musik kommt, wie der historisch-festlichen Ver- manche Musikschaffende und Konzertver- gnügung (MUSIKFORUM 1/ anstalter glauben.1 2005, S. 11). Festivals in histo- rischem Ambiente wie das „Ernstes“ Musikpublikum Rheingau Musik Festival profi- ist deutlich gealtert tieren von dieser Verschie- bung der Rezeptionspräferen- Sollte das stimmen, bedeutete dies, dass zen, das Abonnementen- und Veränderte Rahmenbedingungen: Immer mehr Studenten die heute unter 45-Jährigen in den nächsten Liebhaberkonzert hingegen an Musikhochschulen stehen vor der Frage, ob ihre Ausbil- Jahren nicht von selbst ins Abonnement- verliert. Dies bekommen nicht dung noch optimal auf den Beruf vorbereitet. segment der ernsten Musik hineinwachsen nur die Orchester und Chöre werden. Vielmehr ist anzunehmen, dass sie zu spüren – deren Misere Konzerte ihrer ebenfalls alternden Jugend- vom Feuilleton begleitet und idole besuchen werden, um sich der „alten damit sichtbar wird –, sondern in weit stär- rufschancen junger Musiker. Allerdings muss Zeiten“ zu erinnern. Beobachten kann man kerem Maß gilt dies für die Kammermusik- angemerkt werden, dass zum Beispiel an dieses Ritual in den Konzerten der „Stars der konzerte, Liederabende und Rezitale. Die deutschen Musikhochschulen mehr als ein 60er, 70er und 80er“, in denen die alten Hits Ensembles, Pianisten, Gitarristen, Sänger etc. Drittel der Studierenden aus dem Ausland mittlerweile auf eine gut situierte Hörer- haben keine Lobby. Sie agieren als Einzel- stammt und die meisten von ihnen nach ih- schaft stoßen. Der bisher einzige empirische personen auf einem hart umkämpften rem Diplom wieder in ihr Heimatland zu- Langzeitvergleich bestätigt ebenfalls diese Markt, der einerseits schrumpft und auf rückkehren. Solche differenzierenden Rela- These, mit einem überproportional schnel- dem andererseits die Konkurrenz wächst: tivierungen bei der Interpretation des Zah- len Anstieg des Durchschnittsalters beim E- Zwischen 1994 und 2004 verdoppelte sich lenmaterials entschärfen teilweise das gern Musik-Publikum. Karl-Heinz Reuband un- nahezu die Anzahl der selbstständigen Mu- gezeichnete düstere Zukunftsszenario der tersuchte die soziale Zusammensetzung des siker (von 20 198 auf knapp 37 000), die ernsten Musik. Doch trotz des ebenfalls an- Opernpublikums in Köln zwischen 1980 Umsatzleistung hingegen schrumpfte. gebrachten Optimismus hinsichtlich einer und 2004. Fazit der Untersuchung ist, dass U http://www.themen.miz.org/musikwirtschaft/soendermann. php herausragenden Musiklandschaft in Deutsch- sich das Durchschnittsalter des Opernpubli- land gilt, dass die Bedingungen, auf die die kums in diesem Zeitraum um 17 Jahre er- Dieses Zahlenmaterial gibt einen unver- Absolventen nach dem Austritt aus der höhte, während das der Gesamtbevölke- stellten und leider wenig ermutigenden Aus- Musikhochschule treffen, sich in den vergan- rung nur um zwei Jahre anstieg.2 Das ernste blick auf die zukünftige Entwicklung der Be- genen 15 Jahren massiv verändert haben. !

 MUSIK ORUM 47 BILDUNG.FORSCHUNG

Ausbildung und Beruf spezialisierter Orchestermusiker. Letzterer ihrer Ausbildung zu verbessern. Nachhaltig- wird sicher weiter gebraucht, aber die neu keit bedeutet in diesem Kontext erstens, das Angesichts der veränderten beruflichen zu besetzenden Orchesterplanstellen wer- Gelernte – die musikalische Kernkompetenz Rahmenbedingungen der Musiker stellt sich den nur für einen geringen Prozentsatz der mit Hilfe der ergänzenden Kompetenzen – die Frage, wie die Musikhochschulen auf Absolventen Arbeit und Brot bieten. später zur Anwendung bringen zu können diese Situation reagieren. Zwar wachsen Mit Blick auf das vorangestellte Zahlen- und zweitens, damit einhergehend, aktive deren Studentenzahlen kontinuierlich, aber material sind in den Ausbildungsstätten Fra- Maßnahmen zur Gewinnung und Bildung gerade sie müssen sich die Frage stellen, ob gen wie die folgenden zu stellen: Wie wird zukünftiger Hörer zu entwickeln. Diese er- die Art und Weise der Ausbildung ihrer Stu- ein Musiker-Berufsleben in Zukunft aus- gänzenden Kompetenzen können im Be- dierenden dem Auftrag noch gerecht wird, sehen? Welche Trends zeichnen sich ab? griff Musikvermittlung zusammengefasst junge Musiker optimal auf ihren Beruf vor- Welche zusätzlichen Qualifikationen müs- werden. Sie stellen das notwendig geworde- zubereiten. Im Zentrum der Ausbildung sen neben der instrumentalen oder vokalen ne Handwerkszeug, um die Berufssituation standen und stehen technisches Können, erworben werden, um unter den veränder- zukünftiger Musiker zu verbessern. Folgt musikalisches Verständnis und künstleri- ten Bedingungen den Beruf des Musikers man Wahrigs Deutschem Wörterbuch, heißt sches Einfühlungsvermögen. Der Blick des ausüben zu können? vermitteln: „jemandem zu etwas zu verhel- Musikers ist einzig auf das Werk und seine Dazu sollen hier erste Antworten gege- fen“. Musikvermittlung kann somit heißen: Ausführung gerichtet, nicht auf das Publi- ben werden: ˇ den Musikern zu helfen ein Publikum kum, dessen Einstellungen und Hörweisen, ˇ Zum Ersten ist die Verdoppelung der zu finden, die sich im Gegensatz zum Repertoire er- Anzahl der wirtschaftlich selbstständigen ˇ dem Publikum zur Musik zu verhel- heblich verändert haben. Diese ausschließ- Musiker zu nennen. Nimmt man diesen fen. lich an der Kunst orientierte Praxis schlug Trend wahr, so ergibt sich für die Berufsaus- Musikvermittlung allein auf Konzert- sich auch im Ausbildungssystem der Hoch- bildung an den Musikhochschulen zwin- oder Musikpädagogik zu verkürzen, wird schulen nieder. Die Musikstudierenden wer- gend, dass Know-how im Musikmanagment dem Wortsinn nicht gerecht. 3 Musikvermitt- den einzig in ihrer Instrumental- oder Vo- (Öffentlichkeitsarbeit, Marketing, Finanzie- lung – in dem hier verstandenen ganzheit- kalkompetenz ausgebildet, wie und ob diese rung etc.) notwendiger Bestandteil des Cur- lichen Sinn – umfasst beide Bedeutungen, später zur Anwendung kommt, bleibt dabei riculums sein sollte. nämlich die erste, die eher die Themen außen vor. ˇ Zum Zweiten muss der angesprochenen Musikmanagement und Selbstmanagement Ein verändertes berufliches Umfeld erfor- veränderten Rezeptionskultur Rechnung ge- intendiert, und die zweite, die eher die The- dert auch eine veränderte Einstellung zum tragen werden. Die Musiker müssen auf he- men Konzertpädagogik und Musikdrama- Beruf, ein verändertes Berufsbild. Viele der terogene Publikumssegmente, die plurale Vor- turgie beinhaltet. Musikvermittlung muss heute an den Hochschulen Lehrenden sind stellungen vom Ereignis Konzert oder Musik- dramaturgische, künstlerische, historische, jedoch in der Tradition eines Berufsbildes theater haben, eingehen können. Audience soziologische und manageriale Aspekte mit- aufgewachsen, das der heutigen Berufssitua- Development, Musikdramaturgie, Konzert- einbeziehen. Dann rückt neben dem Werk tion nicht mehr entspricht. Es fällt ihnen pädagogik, Zielgruppengenauigkeit etc. sind das Publikum und vor allem die überlebens- Stichworte, die dieses Feld umreißen. wichtige Frage Wie erreichen wir mit unserer ˇ Zum Dritten wird die traditionelle Un- Musik ein Publikum? wieder ins Blickfeld. terscheidung zwischen Musikern, Produzen- Der Musiker der Zukunft – ten und Vermittlern durch den erleichterten Eigeninitiativ handeln Zugang zu neuen Produktions- und Distri- ein selbstständiger Generalist? butionsmitteln zunehmend aufgelöst. Die Ein Blick in Nachbardisziplinen kann dabei Musiker müssen in ihrer Ausbildung mit für den Musikbetrieb lehrreich sein, denn Produktions- und Distributionsmitteln ver- ihm steht bevor, was in der freien Theater- schwer, die Studenten auf die neue Situa- traut gemacht werden. Dass sich viele in ih- szene und den bildenden Künsten längst tion einzustellen. Damit soll nicht gesagt sein, rem handwerklich-künstlerischen Selbstver- Realität ist: Die Selbstverständlichkeit eigen- dass an deutschen Musikhochschulen im ständnis mit einer Mischung aus Stolz, Un- initiativ zu handeln. Der Betriebswirtschaft- künstlerischen und pädagogischen Bereich wissen und Technikfeindlichkeit immer noch ler spricht von Produktentwicklung und nicht hervorragende Arbeit geleistet wird – dem Computer verweigern, befremdet. Marktpositionierung. Das lässt sich für Mu- das Ausbildungssystem an den Musikhoch- siker oder Ensembles mit zwei Fragen einfa- schulen hat hinsichtlich der individuellen Kernkompetenz: Musik – cher formulieren: Was will ich und wie kann Betreuung und Förderung der Studierenden Ergänzungskompetenz: ich es erreichen? „Was will ich?“ bedeutet Modellcharakter für zukünftige Spitzen-Uni- Musikvermittlung create yourself, denn Musiker werben ja für versitäten. Doch: So wie sich die Berufsbil- sich auf einem Markt, das heißt: sie sind ihr der der meisten Berufe verändert haben Was bedeutet das für die Ausbildungs- Produkt. Create your market bedeutet, sich und sich weiter verändern, ist auch das des situation an Musikhochschulen? Im Gegen- auf einem Markt Gehör zu verschaffen. Musikers in Bewegung. Die Tendenz geht satz zur bisherigen Ausbildung, in der die Der Zuruf create your market bedeutet weg von einer linearen Karriere als Solist Musiker hauptsächlich zu interpretierenden jedoch nicht, nur künstlerisch selbstständig oder Orchestermusiker, hin zu einem mehr- Spezialisten erzogen wurden, müssten in zu agieren – beispielsweise als Ensemble –, schichtigen, patchwork-artigen Berufsbild. Der Zukunft vermehrt generalistische Aspekte in sondern auch, sich seinen Markt zu schaf- Musiker der nächsten Jahrzehnte wird mehr das Musikstudium einfließen. Der Bologna- fen, also eine künstlerische oder soziale Not- selbstständiger Generalist mit einer Kompe- Prozess bietet eine gute Möglichkeit, im In- wendigkeit. Einen neuen Markt, seinen Markt tenzvielfalt sein als ein festangestellter, hoch- teresse der Absolventen die Nachhaltigkeit zu erschließen, ist der Weg, der zukünftigen

 48 MUSIK ORUM Heutige Musiker müssen nicht nur wissen, was man wie anders machen soll, sondern sie müssen es auch anders machen wollen. was man wie anders machen soll, Diese veränderte Berufseinstellung, um ei- nem veränderten Beruf nachgehen zu kön- nen, beginnt im Studium – wo sonst? Das sie müssen es auch anders machen wollen sollte ein Musikstudium heute leisten. Mu- sikvermittlung eröffnete dann Perspektiven für Musiker und das Publikum – und nicht zuletzt für die Musik. Musikern bleibt, um sich neben anderen als der des 19. Jahrhunderts bedeutet. Was Kultur- und Erlebnisanbietern zu behaupten. heißt es heute, klassischer Musiker zu sein? Sie müssen mit inhaltlich überzeugenden Wofür steht das, was ich tue? Was kann 1 Martin Tröndle: „Das Publikum“, in: Selbstmanagement und sozial attraktiven Angeboten um ihr oder muss das Konzert des 21. Jahrhunderts im Musikbetrieb: Handbuch für Musikschaffende, hg. v. Publikum werben. Ob sie dies auf dem Feld leisten? Wer ist mein Publikum? Welche Re- Petra Schneidewind und Martin Tröndle, Bielefeld 2003. 2 der Konzertpädagogik, als spezialisiertes En- zeptionsgewohnheiten und Bedürfnisse hat Karl-Heinz Reuband: „Sterben die Opernbesucher aus? Eine Untersuchung zur sozialen Zusammensetzung des semble oder gar als Veranstalter tun, ist es? Welchen „Sinn“ transportiert das Ereig- Opernpublikums im Zeitvergleich“, in: Deutsches Jahr- vorerst zweitrangig. nis Konzert? Das Konzert, seine Inhalte und buch für Kulturmanagement 2003/2004, hg. v. Armin Erfolgreiche Beispiele solcher Initiativen Rahmenbedingungen müssen auf professio- Klein und Thomas Knubben, Baden-Baden 2005, S. 123- sind die meisten Ensembles für Neue Mu- nelle Weise neu erdacht werden. Kreativität 138. 3 siehe auch: Martin Tröndle: „Musikvermittlung: Varia- sik, Ensembles für Alte Musik, Festivalgrün- braucht es nicht nur bei der Verwandlung tion oder Invention?“, in: nmz, 6-7/8/05. dungen wie beispielsweise das Kammermu- eines notierten Musiktextes in ein lebendi- sikfestival Moritzburg, zahlreiche Initiativen ges Werk, sie ist vor allem nötig, um dieses im Bereich der Konzertpädagogik etc.; kurz: einem Publikum oder einem Veranstalter all das, was überall dort entstand, wo sich näher zu bringen. „Was will ich? Wie kann im bisherigen Betrieb Nischen auftaten. ich es erreichen?“, sind die elementaren Fra- Der Autor: Auch die Musiker, die einzig ihre Solis- gen in einer Musikerkarriere – beide wer- Martin Tröndle erwarb neben dem tenkarriere im Auge haben, benötigen ne- den jedoch im Musikstudium kaum oder Musikstudium (Hauptfach Gitarre) einen ben ihrer musikalischen Kernkompetenz er- gar nicht behandelt. Magister in den Fächern Kulturwissen- gänzende Kompetenzen, denn auch die schaften und Kulturmanagement am Karrieren der hoch begabten Solisten wer- Berufsbildveränderung Institut für Kulturmanagement in Lud- den zukünftig seltener sein. Nicht, dass es unterstützen wigsburg. Er war in der Redaktion Neue an musikalischem Nachwuchs mangelte, Musik des Südwestrundfunks tätig und ganz im Gegenteil, aber vor 25 Jahren ge- Die Musikhochschulen können den not- veranstaltete mit Hans-Peter Jahn die nügte es, wenn man einen renommierten wendigen Prozess einer Berufsbildverän- Orchesterreihe Rückblick Moderne Wettbewerb gewann. Das ist heute nicht derung auf dreifache Weise unterstützen: (1998). Mit Stephan Schmidt gründete mehr so. Auch jene Musiker müssen sich Erstens muss mit den Studierenden darüber er 2001 die Biennale Bern und war für Fragen wie diese stellen: Welches Reper- nachgedacht werden, was das Konzert heu- deren Management und teilweise auch toire spiele ich – und warum? Ist es für ei- te sein kann. Zweitens müssen die Studie- deren künstlerische Ausrichtung zustän- nen jungen Pianisten sinnvoll, eine weitere renden das notwendige Know-how erwer- dig. Nach weiteren praktischen Erfah- Einspielung der Chopin-Etüden als Debüt- ben, um ihre Ideen für alternative Angebots- rungen im Kulturbetrieb promovierte album anzustreben? Und falls ja, was bedeu- formen zu entwickeln und professionell Tröndle zum Thema Festivalmanage- tet das für seine Positionierung auf dem umsetzen zu können. Drittens können die ment. Zwischen 2001 und 2003 war er Musikmarkt? Wo und wie kann er sich über- Hochschulen den Studierenden Raum bie- Dozent für Musikmanagement und haupt auf einem Markt positionieren? Was ten, in dem die Studierenden ihre Ideen und Musikvermittlung an der Hochschule für ein Kommunikationskonzept sollte er Projekte ausprobieren und somit wichtige für Musik und Theater in Bern, danach dafür erarbeiten? Was heißt es, zielgruppen- eigene Erfahrungen für ihr späteres Musiker- Dozent am Studienzentrum Kulturma- genau zu kommunizieren? Was kommt in dasein machen können. In den Musikhoch- nagement der Universität Basel und die Präsentationsmappe? Wie verhandle ich schulen werden die zukünftigen Akteure Gastdozent am Institut für Kulturma- mit einem Veranstalter? Worauf ist beim des Musikbetriebs ausgebildet. Sie müssen nagement in Ludwigsburg; seit 2005 Vertragsabschluss zu achten? Wie finde ich dazu befähigt werden, ihrer Musik wieder ebenfalls Dozent an der Hochschule eine Agentur? Was macht die Agentur für einen angemessenen Platz zu erstreiten. für Gestaltung und Kunst Basel. mich? Wie kann ich meine eigene Lobby, Dem sollte das Fach Musikvermittlung die- mein Netzwerk, mein Publikum aufbauen? nen. Wobei gilt: Nur wenn inhaltliche, äs- thetische, soziale und manageriale Über- Konzerte müssen neu legungen Hand in Hand gehen und sich ge- „erdacht“ werden genseitig in einer integrativen Konzeption überzeugend stützen, werden erfolgreiche Der Musiker der Zukunft darf sich nicht Modelle für zukünftiges Konzertieren her- auf das Abspielen vorliegender Noten be- vorgebracht werden. schränken. Er muss neu darüber nachden- Musikvermittlung beginnt in den Köpfen ken, was Musik in einer völlig anderen Welt der Musiker. Sie müssen nicht nur wissen,

 MUSIK ORUM 49 BILDUNG.FORSCHUNG

s ist ein musikalisches Plädoyer E für die Fantasie und eine fried- fertige Kampfansage gegen die Glotze in deutschen Kinderzimmern: Das Kindermusical 3 Wünsche frei fand seit seiner Chemnitzer Urauf- führung 2001 in weit über 100 Schul- und Theateraufführungen in Deutschland und Österreich eine begeisterte Resonanz. Höhepunkt: eine Benefizaufführung in der Semperoper Dresden.

Unter dem Motto „von Kindern für Kin- der“ sind alle Inhalte und Anforderungen des Musicals so angelegt, dass sie von Schul- kindern zu bewältigen sind und das Stück von jeder Grund- und Mittelschule aufge- führt werden kann. Das Projekt ist vor allem vor dem Hintergrund einer nicht abreißen- den Diskussion um die musikalische Brei- Ein Musterbeispiel für musikalische Breitenarbeit und Erziehung: tenarbeit bedeutend. Während nämlich em- sig darüber debattiert wird, ob wir diese Breitenarbeit überhaupt noch brauchen und vielleicht nicht einige „Leuchttürme“ der Hochkultur genügen, nehmen die kommu- FÜR ALLE, DEREN nalen Musikschulen ebenso wie die allge- mein bildenden Schulen eine wichtige Rolle ein, wenn es um die Frage der ästhetischen Selbstfindung von Kindern und Jugendli- chen geht. Dabei sind auch die Leistungen der pri- vaten Musikschulen nicht zu vergessen. Wie wichtig die musikalische Breitenarbeit von der Früherziehung bis zur Seniorenarbeit staltungen für Musiklehrer vorgestellten Biedenkopf hat ein Chemnitzer Konzert sein kann, beweist das Beispiel der Chem- Kinderlieder fanden so große Resonanz an besucht und gemeint: „Das müssen wir nitzer YAMAHA Academy of Music. Ihr den Schulen, dass immer mehr abgefordert nach Dresden holen!“ Sie stellte 3 Wünsche Leiter Axel Schulze ist der Urheber des wurden. Irgendwann war genug Material frei in der Semperoper vor und die Ent- Musicals 3 Wünsche frei. Der erfahrene für ein Musical da, es musste nur noch scheidung fiel positiv aus. Wir durften auf Musikpädagoge und Komponist hat täglich vom Textautor Wolfgang Goldstein die dieser international bekannten Bühne spie- mit kindgerechter Musik zu tun. Er kompo- verbindende Geschichte geschrieben len. Heute wissen wir, dass davon ein nierte und arrangierte einen großen Teil der werden. deutschlandweiter Impuls ausging. Viele Musik – sein Sohn Patrick steuerte einige Schulen und Musikschulen im gesamten Lieder hinzu, Wolfgang Goldstein erdachte Sie haben einmal gesagt, dass nach deutschsprachigen Raum führen 3 Wünsche die Rahmengeschichte – und inszenierte den Vorstellungen in Chemnitz der eigentliche frei mittlerweile auf. Und unser Projekt hat schließlich das Musical. Erfolg des Musicals mit der Aufführung in der insgesamt über 50 000 Euro für Kinder in Hans Bäßler traf Axel Schulze zu einem Semperoper kam. Warum sind Sie nach Not eingespielt, vor allem Dank der Bene- Gespräch. Dresden gegangen? fizaufführung in der Semperoper. Ein Anliegen des Musicals ist es, Kinder Wie kam es zu dem Projekt eines auch an humanistisches und soziales Den- Wie viele Kinder erreichen Sie in der Kindermusicals? ken heranzuführen. Wir wollen ihnen zei- Musicalarbeit? Axel Schulze: Ich habe früher in der gen, dass sie gemeinsam durch und mit Im Musical gibt es 16 sprechende und Musikproduktion gearbeitet und mich zur Musik etwas bewegen können und haben singende Solisten sowie einen Chor. Bei Wende dann auf das besonnen, was ich dafür ein Projekt mit dem Namen „Sächsi- unseren Aufführungen wirken oft zwei einmal gelernt habe, also auf mein Hoch- sche Kinder singen für in Not geratene Chöre mit, ein Grundschulchor und ein schulstudium als Klavierlehrer. Trotz Grün- Kinder“ ins Leben gerufen. Ein Großteil Chor vom musischen Gymnasium. Anfangs dung einer privaten Musikschule kann der Aufführungserlöse wurde als Spende zählte der Chor der Gebrüder-Grimm- man das Liederschreiben natürlich nicht für Sozialprojekte der Gattin des damaligen Grundschule 35 kleine Sänger, nach drei lassen. Die von mir in Fortbildungsveran- Ministerpräsidenten übermittelt. Ingrid Jahren waren es 90! Viele Eltern haben uns

 50 MUSIK ORUM das Kindermusical 3 Wünsche frei FANTASIE NOCH Flügel HAT

Im Interview: Axel Schulze, Komponist und Leiter der Chemnitzer YAMAHA Academy of Music

erzählt, dass sie ihr Kind vor allem wegen bewahrt werden müssen. Wir greifen den des Musicalprojekts an dieser Schule ein- oft zu großen passiven Medienkonsum an, geschult haben. Im Raum Chemnitz kennt der gerade Fantasie und Kreativität verküm- fast jedes Kind zwischen vier und elf Jahren mern lässt. die Lieder des Musicals, da sie gern in den Schulen gesungen werden. Dank Internet Wenn Sie das Angebot an Musicals nimmt die Popularität durch Verkauf von für Kinder und Jugendliche beurteilen: Gibt es Notenbüchern, Lieder-CDs mit zusätzlichen aus Ihrer Sicht eigentlich genügend Stücke? Grundbandversionen, DVDs, Kostümanlei- Angeboten werden viele Musicals. Auch tung und auch kompletten Aufführungs- bei uns in der Chemnitzer Stadthalle gibt paketen inklusive Aufführungsrechten es oft Gastspiele von Theaterunternehmen, deutschlandweit und nach Österreich in denen Erwachsene für Kinder Musicals ständig zu. aufführen. Wir unterscheiden uns aber von diesen Produktionen, indem bei uns Kinder Wovon handelt „3 Wünsche frei“? für Kinder spielen und singen und das Oftmals reicht individuelle Stärke eines Stück letztlich auch für die Aufführung an Einzelnen nicht aus, um große Dinge zu Schulen gedacht ist. Musiklehrer suchen vollbringen. In unserer Geschichte werden ständig neue Lieder, vor allem mit aktuellem Träume nur wahr, weil sich die einzelnen Zeitgeist. Nehmen sie nur mal die Weih- Figuren mit ihren ganz persönlichen Stär- Kinder an humanistisches und soziales nachtslieder: Jeder Lehrer sucht vor dem ken zusammentun, um es gemeinsam zu Denken heranführen: Axel Schulze möchte Fest verzweifelt nach Material, um ein neues schaffen. Das spüren die Kinder sowohl Kindern zeigen, was sie gemeinsam mit Musik Weihnachtskonzert zusammenzustellen. bei der Ausführung des Musicals wie auch bewegen können. Deswegen haben wir im vergangenen Jahr im Sinn, den das Stück transportiert. Und drei Lieder aus unserem neuen Weihnachts- es geht darum, dass Träume und Fantasie musical Wundersame Weihnachtszeit in

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»Bei den kommunalen Entscheidungs- trägernträgern fehltfehlt offenbaroffenbar diedie Erkenntnis,Erkenntnis, Lehrerfortbildungen vorgestellt – mit dem Nun gibt es aber dass Musikschulen einen äußerst Ergebnis von ca. 8 000 Kartenvorbestellun- auch die ganz normale gen für die erste Aufführungsserie. Insgesamt Musikschularbeit. Bei Ihnen wichtigen Beitrag bei der gewaltfreien haben in 18 Veranstaltungen 11000 Be- zeichnet sie sich ja dadurch sucher in der Adventszeit 2004 dieses aus, dass die Gruppenarbeit Erziehung unserer Kinder leisten« Musical gesehen. Den Höhepunkt bildete im Vordergrund steht. erneut eine Benefizaufführung in der Sem- Welche Vorteile sehen Sie darin? peroper auf Einladung des Operndirektors. Der größte Vorteil besteht in der gegen- Fühlen Sie sich eigentlich an Ihrer seitigen Motivation der Schüler. Außerdem freien Musikschule unabhängiger als es etwa Und hat sich das Ganze für Sie öko- kann das kritische Zuhören und Beurteilen an einer staatlichen Schule der Fall wäre? nomisch gelohnt? beim Mitschüler hervorragend trainiert Für mich war es sicherlich leichter, etwas In den vier Jahren hat sich 3 Wünsche werden – auch für den später zu fördern- von Grund auf Neues mit eigenen Ideen frei so etabliert, dass wir wöchentlich ein den Einzelschüler eine wichtige Lernphase. verwirklichen zu können als sich in Bewähr- Aufführungspaket versenden. Gemeinsam Und in jeder Stunde gibt es Orchesterspiel tes einordnen und vielleicht Veränderungen mit dem Verkauf der Notenbücher, CDs mit ständigem gemeinsamen, rhythmischen bewirken zu müssen. Und mit dem finan- und DVDs schreiben wir für dieses Musical Training – alles Gründe für den Erfolg des ziellen Erfolgsdruck kann ich mittlerweile inzwischen keine roten Zahlen mehr. Bei Gruppenunterrichts. Natürlich braucht man leben. Ich möchte eigentlich nicht tauschen. Wundersame Weihnachtszeit werden wir auch ein gutes Unterrichtsprogramm und sicher noch ein Jahr brauchen, zumal wir ausgezeichnetes Unterrichtsmaterial. Wie haben Sie nach der Wende die völlig ohne Unterstützung durch öffentliche Schule gegründet? Mittel arbeiten. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Mit der Auflösung der staatlichen Ton- gleichzeitig so viele staatliche Musikschulen studios des Rundfunks der DDR, in denen Politisch wird ja häufig beklagt, dass geschlossen werden? ich schon vor der Wende freiberuflich als sich Kinder und Jugendliche fernab der Musik Ich kann es weder verstehen noch er- Arrangeur, Komponist und Studioleiter ge- orientieren. Bestätigen Sie diesen Eindruck? klären. Anscheinend fehlt bei den kommu- arbeitet habe, war ich im Prinzip arbeitslos. Ich kann nur für die Kinder sprechen, nalen Entscheidungsträgern oft die Erkennt- Ein Inhaber eines Musikhauses wusste von die zu uns in die Musikschule kommen, nis, dass Musikschulen einen äußerst wich- meiner pädagogischen Ausbildung und hat und für jene, die an den Musicalprojekten tigen Beitrag bei der gewaltfreien Erziehung mich auf das YAMAHA-Musikschulsystem teilnehmen. Für sie trifft diese Meinung und Bildung unserer Kinder und Jugend aufmerksam gemacht. Ich habe mir gesagt: nicht zu. Und wer sich mit Kindern musisch leisten. Chemnitz braucht so eine Schule! Zunächst beschäftigt, kann diese Erfahrung wohl gar begann ich mit gutem Erfolg in der Klein- nicht erst machen. stadt Hohenstein-Ernstthal, bis ich schließlich auch in Chemnitz mein Vorhaben realisie- Sie selbst arbeiten nun seit 14 Jahren ren und eigene Erfahrungen mit dem Schul- als Leiter einer Musikschule in Chemnitz. system von YAMAHA kombinieren konnte. Können Sie ihre Erfolgsstory – bezogen auf die Musikschule – einmal beschreiben? Und inzwischen ist die Musikschule Angefangen habe ich mit 80 Schülern, schon fast so etwas wie ein „Familienbetrieb“… zunächst beschränkt auf den Keyboard- Ja, meine Tochter hat inzwischen in und Klavierbereich. Aber Schüler- und unserer Musikschule den Bereich der Musi- auch Lehrerzahl sind schnell gewachsen, kalischen Früherziehung sehr erfolgreich mittlerweile auf 900 Schüler mit 25 Leh- aufgebaut. Mein Sohn steht kurz vor dem rern – Tendenz steigend. Das ist vor allem Abschluss des Klavierstudiums an der darauf zurückzuführen, dass wir eine richtige Dresdener Musikhochschule. Und er bringt Musikschule mit vielen Instrumentalfächern sich als Komponist und Studioleiter unver- und Gesangsausbildung geworden sind und zichtbar bei den Musicalprojekten ein. natürlich auf die gute Arbeit der Lehrkräfte. Außerdem unterrichtet er bereits Klavier Allein ein Drittel unserer Schüler ist zwischen und kümmert sich besonders um den vier Monate und sieben Jahre alt und be- Klaviergruppenunterricht, nicht nur, weil es sucht die Abteilung Musikalische Früh- auch das Thema seiner Diplomarbeit ist. erziehung. Das Neueste? Außerdem haben Sie jetzt auch noch Zurzeit produzieren wir Hörspiel- und Die Erfolgsstory geht weiter: Auch mit dem Lieder-CDs unseres Weihnachtsmusicals die Seniorenarbeit mit einbezogen… Nachfolgeprojekt zu 3 Wünsche frei, dem und auch die DVD der Semperoperauffüh- Ja, die Senioren fühlen sich einfach Weihnachtsmusical Wundersame Weihnachts- wohl hier in unserer Musikschule, lernen zeit, fanden Komponist Axel Schulze und rung. Zu haben sein wird hoffentlich alles viele Gleichgesinnte kennen, die sich mit seine jungen Interpreten ein positives Echo. ab September 2005 – rechtzeitig für das Musik beschäftigen. Es ist das soziale Umfeld, 11000 Besucher sahen in der Adventszeit nächste Weihnachtsfest, denn es gibt bereits, das ihnen gefällt, ihnen Freude und einen 2004 das neue Stück. bedingt durch die erfolgreichen Aufführun- wunderbaren Sinn in ihrem Lebensabend gen, viele Vorbestellungen. gibt. U www.3wuenschefrei.de

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Sieben Thesen des Deutschen Musikrats zur „Musik in der Schule“: WAS IST guter MUSIKUNTERRICHT?

Worin bestehen die Essentials für einen gelungenen gaben und Ziele des Musikunterrichts an deutschen Musikunterricht? Diese Frage beschäftigte den Deut- Schulen so griffig wie möglich formuliert. In der April- schen Musikrat in den vergangenen Monaten. Resultat Ausgabe des MUSIKFORUM bereits kurz vorgestellt, der intensiven Beschäftigung mit dem Thema – hier war veröffentlichen wir hier noch einmal die Grundthesen der Bundesfachausschuss Musikpädagogik federfüh- sowie die weiteren Ausführungen dieses Positions- rend tätig – ist nun ein Positionspapier, das die Auf- papiers, das zum weiteren Diskurs anregen soll.

Thesen Musikunterricht muss 1. Freude an Musik wecken durch tigung mit Musik zu erweitern und zu vertiefen; ˇ eigene wie auch gemeinsame Musizierpraxis (Singen, 5. die Vielgestaltigkeit der Musik, insbesondere in den Erschei- Tanzen, Instrumentalspiel) nungsformen der Neuen Musik, der Populären Musik wie ˇ vielfältige Hörerlebnisse und Hörerfahrungen auch der Musik außereuropäischer Kulturen, mit ihren ˇ eigenes musikalisches Gestalten und Erfinden; historischen Einschlüssen und in ihren aktuellen Gestaltungen 2. die Sensibilisierung und Differenzierung des Ohres und der erschließen; anderen Sinnesvermögen fördern; 6. die Vernetzung von Musik mit anderen Denk- und Tätig- 3. im Zusammenhang mit der sinnlich konkreten Erfahrung keitsformen sichtbar machen; von Musik Wissen über deren Entstehung, Struktur und 7. die eigene Musikkultur in Geschichte und Gegenwart Nutzung vermitteln; verstehen lernen. 4. anregen, außerunterrichtliche und außerschulische Beschäf-

Erläuterungen und Begründungen

Stellungnahmen zu Schule und Unterricht beinhalten, wenn 1. Zur Qualität von Musikunterricht sie verantwortungsvoll gemacht werden, sowohl eine Beschrei- bung als auch eine Bewertung des gegenwärtigen Zustands so- Die Frage nach der Qualität von Musikunterricht, die in der wie Vorschläge für die Verbesserung gegenwärtig als defizitär Frage mündet „Was ist guter Musikunterricht?“, suggeriert, dass empfundener Zustände. Der Deutsche Musikrat, als Gremium es so etwas wie einen objektiven Standard von Musikunterricht, aller musikbezogenen Verbände in Deutschland, fühlt sich zum eine Art archimedischen Punkt gibt, von dem aus Musikunter- gegenwärtigen Zeitpunkt in die Pflicht genommen, Entwicklun- richt beurteilt werden könnte, von dem aus sich Musikunterricht gen des schulischen Musikunterrichts mit großer Aufmerksam- zweifelsfrei als gut oder schlecht qualifizieren ließe – gleichgültig, keit zu verfolgen und in vollem Bewusstsein des Gewichts seiner an welchem Orte und zu welcher Zeit er realisiert würde. Diese Stellungnahmen, aber auch mit der gebotenen Vorsicht zu be- Vorstellung ist nicht unproblematisch. Zu vielschichtig ist das gleiten. Phänomen Musikunterricht, als dass eine hinreichende Anzahl Aussagen über Musikunterricht haben sowohl in bestätigen- notwendiger Bestimmungsmerkmale für das Urteil „gut“ – und der als auch in kritischer Absicht immer ein Bild des „guten“ oder dieses auch noch zeitunabhängig – gegeben werden könnte. „gelingenden“ Musikunterrichts – für die Fassung von „Qualität Die Frage „Was ist guter Musikunterricht?“ suggeriert weiter- des Unterrichts“ mag es viele Begriffe geben – vor Augen. Hier hin, dass es einen von allen subjektiven Interessen und Vorurtei- aber ist nicht nur der Deutsche Musikrat durchaus in einer len freien Standort gibt, von dem Musikunterricht als gut oder Schwierigkeit; denn – soweit zu sehen – haben sich in der Vergan- unzureichend bewertet werden könnte. Aber: Wer stellt jeweils genheit musikpädagogische, allgemeiner: erziehungswissenschaft- fest, dass Musikunterricht gut oder schlecht ist? Ist dies der Leh- liche Versuche, „guten“ Unterricht über ein Ensemble von Indika- rer? Ist es der Schüler? Ist es „die Gesellschaft“, vertreten durch toren zu definieren, als nicht tragfähig erwiesen. Die Schwierig- Interessensgruppen, die dieses Urteil im Hinblick auf musikpäda- rigkeiten, die dem Versuch einer derartigen Bestimmung zu gogischen, musikwissenschaftlichen, musikpraktischen Nach- Grunde liegen, können im Folgenden nur angedeutet werden. wuchs o. ä. fällen? – An diesem Punkt wird die kaum lösbare Sie müssen aber genannt werden, damit Fehldeutungen der Aufgabe einer Antwort auf die gestellte Frage sichtbar, eine allge- zuvor formulierten Thesen gar nicht erst aufkommen: mein verbindliche Aussage über die Qualität von Musikunterricht

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zu treffen. Denn konsequenterweise könnte ein Musikunterricht sen, musikpraktische Können, Formen des Umgehens mit nur dann als „gut“ bewertet werden, wenn alle Beteiligten und Musik, sie beeinflussen grundlegend die Struktur und die die Nutznießer von Musikunterricht übereinstimmend sagen Formen von Musikunterricht, wie er sich in einer einzelnen könnten: „Guter Musikunterricht sieht so und nicht anders aus.“ Klasse einer bestimmten Schule an einem bestimmten Ort So macht bereits das bekannte und historisch viel bemühte, überhaupt entfalten kann. jedoch verkürzende „Didaktische Dreieck“ – Schüler/Lehrer/ 2.2 Musikunterricht ist abhängig von der je konkreten LehrerIn- Gegenstand – darauf aufmerksam, dass es sich um einen Kom- nen-Persönlichkeit und deren je spezifischer Interpretation plex von Faktoren handelt, die in sich und in ihrer Wechselwir- ihrer Rolle als Musiklehrerin bzw. Musiklehrer. Verstehen sie kung ganz entscheidend unterrichtsbedeutsam und wirksam sind; sich vorrangig als Vermittler von Sachverhalten oder primär sie tragen jeweils in sich als auch in ihrem Zusammenspiel ganz als Anwälte der Kinder und Jugendlichen, denen bei der Ent- unterschiedlich zum Gelingen oder Misslingen von Musikunter- wicklung ihrer eigenen subjektiven musikalischen Welt und richt bei. dem Hineinwachsen in die so vielfältige objektive Kultur ge- Die Komplexität von Musikunterricht und dessen Abhängig- holfen werden muss? Richten sie ihr pädagogisches Augen- keit von einem vielschichtigen Geflecht von Einflussfaktoren wird merk wesentlich auf die Zukunft des Kindes als zukünftigen erst recht deutlich, wenn man das zuvor angedeutete und so ge- mündigen und für die musikalisch-ästhetische Dimension nannte „Didaktische Dreieck“ um die auch für Musikunterricht seiner Umwelt offenen Bürger oder leitet sie der Blick auf wesentlichen, darin noch nicht verorteten Faktoren erweitert: die Gegenwart, in der bestimmte Standards eingeholt wer- Situation – Institution – Gesellschaft. den müssen? Die Qualität pädagogischer Maßnahmen stellt sich – fast durch- gängig – erst viele Jahre später heraus. Im Hinblick auf Musik- 2.3 Musikunterricht ist abhängig vom Aus- und Fortbildungsstand unterricht heißt das: Für Schüler und Lehrer kann sich durchaus der MusiklehrerInnen. Haben diese während ihres Studiums „im Augenblick“ das Gefühl, guten Musikunterricht erlebt bzw. nicht nur die eigene Musikalisierung erweitern und vertiefen gestaltet zu haben, einstellen. Aber ob es wirklich guter Musik- können, sondern die zukünftige Rolle als Mittler zwischen unterricht – im Sinne eines (in welcher Form auch immer) vo- jungen Menschen und Musik erlernen und sie als persön- rausgesetzten Güte-Kriteriums – war, das wird sich erst in (u. U. liche Aufgabe für ihre eigene Zukunft annehmen können? ferner) Zukunft zeigen. Daraus folgt allerdings keineswegs, dass Leben Musiklehrer und Musiklehrerin noch weitgehend von man getrost die Hände in den Schoß legen und darauf warten dem, was sie einmal gelernt haben, oder verstehen sie sich kann, dass sich der Erfolg von Musikunterricht schon „von selbst“ auch als immer noch Lernende in einem Aufgabenfeld, das einstellen wird. auf lebenslanges Lernen geradezu angewiesen ist? Musikvorlieben, Nutzung von Musik, Kenntnisse von und über 2.4 Musikunterricht ist abhängig von dem geografischen und – Musik, musikpraktische Erfahrungen usf. heutiger Jugendlicher häufig damit aufs engste verknüpft – vom sozialen Ort der unterliegen einem ständigen Wandel und können nicht auf zu- jeweiligen Schule. Musikunterricht an Schulen mit einer künftige Schülergenerationen hochgerechnet werden. Eine Be- „schul-nahen“ Elternschaft, einer „schul-offenen“ Verbands- antwortung der Frage muss folglich so erfolgen, dass dadurch landschaft und einer von der Bedeutung von schulischem keine „unsinnigen“ Festschreibungen zum Gegenteil von „gutem“ Lernen überzeugten politischen Vertretung (städtischen Ver- Musikunterricht in der Zukunft führen. waltung) hat einen anderen Rückhalt im Vergleich mit Schu- len, denen all dieses abgeht. 2. Bedingungsfelder von Musikunterricht 2.5 Musikunterricht ist abhängig von der Selbstdefinition der je- weiligen Schule: Versteht sich die Schule als wesentlich na- Ungeachtet der Unmöglichkeit, ein für alle Male festzulegen, turwissenschaftlich oder sprachlich oder ästhetisch orien- was guter Musikunterricht sei, lassen sich jedoch Bedingungen tiert? Gewinnt sie demzufolge ihre Präsenz und Reputation nennen, die – falls sie nicht bedacht und die sich daraus ergebenden in der sie umgebenden Gesellschaft durch ihre naturwissen- Folgerungen (Forderungen?) eingelöst werden – einen guten, gelin- schaftlichen, literarischen. oder durch ihre ästhetischen (und genden, für Schüler und Lehrer befriedigenden, gesellschaftlich d. h. gerade auch: musikalischen) Aktivitäten? Hiervon hängt nützlichen usf. Musikunterricht unmöglich machen. Es dürfte un- u. a. ganz wesentlich ab, ob und in welchem Ausmaß außer- mittelbar einsichtig sein, dass die im Folgenden genannten Bedin- schulische Aktivitätsträger ihre musikalischen und musikbe- gungen nach dem zuvor Gesagten keinen Anspruch auf Vollstän- zogenen Aktivitäten in die Schule einbringen können. digkeit erheben können; ebenso wenig erheben sie einen Neuig- 2.6 Musikunterricht ist abhängig von der allgemeinen Organisa- keitsanspruch. tion von Unterricht an der jeweiligen Schule: Ganztagsunter- 2.1 Musikunterricht ist abhängig von einer jeweils spezifischen richt, Halbtagsunterricht, Relation der Betreuung zu Unter- Schülerklientel. Das für jede Klasse, für jeden Kurs, für jede richt usf. zu Phasen geblockter Musikunterricht oder wöchent- Gruppe spezifische Sozialverhalten – d. h. Umgangsformen liche, auseinander genommene Zweistündigkeit usf. Das heißt, der Kinder und Jugendlichen untereinander, das Erwachse- ob eine sinnvolle Musizierpraxis an einer Schule überhaupt ne-Jugendliche-Verhältnis, die Form(en) des Schüler-Lehrer- möglich ist und die in den Thesen formulierten Perspektiven verhältnisses, generell: die Einstellung zu Schule und Lernen einzulösen sind, hängt nicht unwesentlich von einer auf mu- überhaupt usf. – sowie das in jeder Klasse, jedem Kurs oder sizierende Schüler zugeschnittenen Organisation der Musik jeder Gruppe präsente spezifische musikbezogene Vorwis- in der Schule ab.

 54 MUSIK ORUM Sieben Thesen des Deutschen Musikrats zur „Musik in der Schule“

2.7 Musikunterricht ist abhängig von den materialen Bedingun- 2. Der soziale Gebrauch von Musik, wie dieser nicht erst nur gen an der betreffenden Schule. In welchen Räumen wird unsere gegenwärtige Gesellschaft charakterisiert, sondern Musik in der Schule unterrichtet? Handelt es sich um Hör- eigentlich immer schon bestimmend gewesen ist, stellt be- saal ähnliche Gegebenheiten oder steht ein entsprechend sondere Anforderungen an Musiklehrerinnen und Musik- ausgestatteter Raum zur Verfügung? Gibt es „Kabinette“, in lehrer. Genauer müsste man sagen: an deren Aus- und die Schülerinnen und Schüler sich zur Partner- oder Grup- Weiterbildung. Als Ziel ihrer Ausbildung an Hochschulen penarbeit zurückziehen können? – Wie steht es mit der inst- und Universitäten sowie der Fortbildungsmaßnahmen für rumentalen Ausstattung? Steht nur ein Klavier (Flügel) und ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer – es ist schon so häu- – wenn es hoch kommt – ein Orff-Schlagwerk zur Verfü- fig formuliert worden – kann nicht die individuelle Höchst- gung oder bildet die instrumentale Ausstattung (inkl. neuer qualifizierung im Bereich künstlerischer Praxis gesehen Medien) jenen Anreiz, der Schülerinnen und Schüler dazu werden, sondern in dem komplexen Feld der Befähigung motiviert, in der Schule selbst zu musizieren? Welche finanzi- zur Vermittlung, und das heißt der „Zusammenführung“ ellen Mittel stehen für den Unterricht in Musik, für Musik in von Menschen und Musik(en), nämlich der Qualifizierung der Schule zur Verfügung? (Notenmaterial, Instrumenten- für die Anregung anderer, hier: junger Menschen, zum kauf, Wartung der Instrumente usf.) Musikhören, zum Musizieren, ja auch zum Genießen von 2.8 Musikunterricht ist abhängig von der – über ganz unter- Musik. Diese Erfahrung des gemeinsam mit Kindern und schiedliche Interessensgruppen artikulierten – Einstellung der Jugendlichen lernenden Umgangs mit Musik sollte am An- Gesellschaft zu Musik und insbesondere: zum musikalischen fang des Studiums stehen, aber auch das ganze Studium Lernen im Rahmen der allgemein bildenden Schule. weiterhin bestimmen. 2.9 Damit wird Musikunterricht abhängig von den personellen 3. Schule als sozialer Ort verstanden, der institutionell gegrün- und materiellen Ressourcen, die unsere Gesellschaft für Mu- det und durch eine je spezifische Organisationsform und sikunterricht bereitstellt (d. h. einerseits überhaupt bereitstel- curriculare Formation geprägt ist, bestimmt, wie oben an- len kann, andererseits bereitstellen will). gedeutet, Ort, Ausmaß und Gewicht von Musik in der Schule. Schule, als sozialer Ort verstanden, ist nicht herme- tisch gegenüber dem sie umgebenden sozialen Feld abge- schlossen. Für Musikunterricht heißt das: Begreift man Folgerungen und Forderungen Musik in der Schule – gerade auch in der Form von Mu- sikunterricht – als „substanziell nach außen offen“, dann Die zuvor genannten Bedingungsfelder für einen Musikunter- folgt daraus, dass alle musikbezogenen Aktivitäten des so- richt, der für die daran beteiligten Personen zufrieden stellend, zialen Umfeldes, Musikschulen, Verbände, ortsspezifische beglückend usw. sich erweist und der dabei zugleich den zukünf- musikalische Gruppierungen und Aktivitäten usf. Beteili- tigen gesellschaftlichen Bedarf an kompetenten Nutzern von Mu- gungen an Musik in der Schule in einer Weise wahrneh- sik zu entwickeln in der Lage ist – Schüler, LehrerInnen, Schule men können und müssen, die vor nicht allzu langer Zeit als Organisation und Institution, Gesellschaft –, verweisen auf ge- noch undenkbar waren. Diese Öffnung nicht nur prinzi- sellschaftliche und politische Rahmenbedingungen, deren Gege- piell zu bejahen, sondern auch weiterführend zu betreiben benheit erst die in den o. g. Thesen formulierten Perspektiven und institutionell abzusichern, dürfte wesentliche Aufgabe ermöglichen helfen. der nächsten Jahre sein. 1. Die durch die soziale und geografische Differenzierung be- 4. Eine Einwirkung auf die soziale, ökonomische und politi- dingte Unterschiedlichkeit der Schülerklientel macht eine sche Öffentlichkeit im Sinne einer Bewusstmachung der Differenzierung des Spektrums von zu erwerbenden mu- zuvor genannten Bedeutung von Musik und von Musik sikbezogenen Kompetenzen notwendig. Kompetenzen bezogenem Lernen in der allgemein bildenden Schule kann sind – aus pädagogischer Perspektive, und nur diese kann kaum intensiv genug erfolgen. Zwar gibt es viele Bekennt- für eine Schule für alle (auch das meint der Begriff „allge- nisse, die musikalische Bildung für unerlässlich halten. Geht mein bildende Schule“) angelegt werden – keine Gegeben- es jedoch um die Bereitstellung von Ressourcen, die zu de- heiten, die unabhängig von jenen Personen definiert wer- ren Verwirklichung in schulischen Kontexten erforderlich den können, die diese Kompetenzen erwerben sollen bzw. sind, dann erscheint oft betretenes Schweigen. Ansätze ei- wollen. Das gilt vor allem in Bereichen, in denen ästheti- ner konstruktiven Aufnahme langjähriger und nachdrück- sche Praxis, hier also musikalische Praxis, zentrales Mo- licher Hinweise nicht nur der Musikpädagogen, sondern ment von schulischem Unterricht werden soll bzw. ist. So weiter Kreise des gesellschaftlichen Lebens auf die Bedeu- wenig die zu erwerbenden Kompetenzen einer 12. Klasse tung von Musik und musikalischem Lernen für Kinder und mit denen einer 5. Klasse identisch sein können, ebenso Jugendliche in der Schule sind jedoch in der letzten Zeit wenig können die zu erwerbenden Kompetenzen einer 8. auch im politischen Raume anzuerkennen. Solche Perspek- Klasse einer Hauptschule in einem sozial schwachen Ge- tiven nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, sondern biet mit den zu erwerbenden Kompetenzen einer 8. Gym- immer wieder zeit- und situationsspezifisch angepasst zu nasialklasse in dem begüterten Stadtteil einer Großstadt in formulieren, dieses hat sich der Deutsche Musikrat für die eins gesetzt werden. nächsten Jahre zur ureigensten Aufgabe gemacht.

 MUSIK ORUM 55 DOKUMENTATION

„Jugend-KulturBarometer 2004“:

NUR mehr jugendorientierte ANGEBOTE MACHEN KLASSIK WIEDER ATTRAKTIV

Kein Interesse an „ernster“ Musik? – Susanne Keuchel regt mit Ergebnissen aus der großen Kultur-Umfrage des ZfKf eine Ursachenforschung an

ei der Neudefinition der künftigen Aufgabe von Orchestern wird gendlichen Ressourcen an sich bindet, hätte Bauch die Jugend im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen müssen, man kein Jugend-KulturBarometer durch- denn sie ist das Publikum von morgen. Im Jugend-KulturBarometer 2004 führen müssen. Helfen können die Ergeb- nisse jedoch bei der Ursachenforschung, des Zentrums für Kulturforschung (ZfKf) wurde untersucht, warum die den Gründen und Multiplikatoren, warum meisten Jugendlichen sich nicht für klassische Musik interessieren. einige wenige Jugendliche sich dennoch für Aber nicht nur die Ursachen benennt die Studie. Sie zieht auch Schluss- klassische Musik interessieren und warum folgerungen und macht Vorschläge, was konkret zu ändern wäre, um so viele eben nicht. Es wurde schon erwähnt, eine Verbesserung des Status quo zu erzielen. dass es von verschiedenen Seiten Bemühun- gen gibt, junge Leute an klassische Musik Junge Leute hören heute vor allem po- in Beziehung zur Krise der klassischen Mu- heranzuführen. Welche Personen und Insti- puläre Musik: HipHop, Techno, Dance Mu- sik. Das Musical, das sich an populäre Mu- tutionen begleiten also junge Leute bei Kul- sic, Pop etc. Nach dem Jugend-KulturBaro- sikstrukturen anlehnt, hat keine Akzeptanz- turaktivitäten? meter geben nur neun Prozent an, dass sie probleme bei jungen Leuten. Vielleicht Zunächst nehmen das Elternhaus und sich auch für Klassik interessieren. Zwölf funktionieren hier aber auch einfach nur die die Schule eine zentrale Schlüsselfunktion Prozent haben schon einmal ein klassisches Markt- und Werbemechanismen der unter- ein (siehe Grafik 1). Eine wichtige Rolle spielt Konzert besucht, acht Prozent mehrfach. Dass haltenden Musikindustrie, die das Musical zudem allgemein das soziale Umfeld: Freun- die Zahl der jungen Leute, die bisher ein im großen Stil populär machte. de, Nachbarn, Bekannte etc. Überraschend klassisches Konzert aufsuchten, wesentlich kann man jedoch feststellen, dass es einen höher ist als die Zahl der Interessenten, lässt Über den Einfluss von hohen Deckungsgrad gibt zwischen Schule sich auf die vielfältigen Bemühungen von Schule und Elternhaus und Elternhaus. 74 Prozent derjenigen, die Schule und Elternhaus zurückführen, junge schon einmal ein Kulturangebot mit der Leute an klassische Musik heranzuführen. Für die Erkenntnis, dass klassische Musik Schule besuchten, haben dies auch schon Die Oper schneidet noch schlechter ab: bei jungen Leuten nicht sonderlich beliebt mit den Eltern getan. Nimmt man nun als Der Interessentenanteil liegt bei drei Pro- ist und die Popbranche weitgehend alle ju- dritte Komponente die Schulbildung hinzu, zent. 13 Prozent haben schon einmal und sechs Prozent mehrfach eine Opernaufführung be- sucht. Von einer allge- meinen Krise des Musik- theaters kann man jedoch nicht sprechen, denn das Musical erfreut sich relativ großer Be- liebtheit bei jungen Leu- ten. Zum Vergleich: Die junge Interessentengrup- pe liegt hier bei 22 Pro- zent. Einmal ein Musical besuchten bisher 29 Pro- zent, mehrfach 18 Pro- zent. Man könnte daher den Eindruck gewinnen, die Krise der Oper steht Grafik 1: Bisherige Personen oder Institutionen, die gemeinsam mit jungen Leuten Kulturangebote besuchten.

 56 MUSIK ORUM schließt sich der Kreis. Denn wie auch bei der PISA-Studie korreliert die kulturelle Bil- dung der jungen Leute wie die Schulbildung sehr deutlich mit den Bemühungen und der Bildung des Elternhauses. Nur 15 Prozent der Hauptschüler bzw. Hauptschulabsolven- ten geben an, schon einmal mit der weiter- führenden Schule mindestens ein Kultur- angebot besucht zu haben. Wobei hier der Besuch eines Kulturangebots breit gefasst

2625 junge Menschen befragt Im Jugend-KulturBarometer 2004 befragte das Zentrum für Kulturforschung 2625 Personen zwi- schen 14 und 24 Jahren bundesweit zu ihren kultu- rellen Interessen und Einstellungen. Es wurde ge- fördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, von der Kunststiftung NRW, der Stif- tung Niedersachsen und dem Sparkassen-Kultur- fonds des Deutschen Sparkassen- und Giroverban- des. Kulturelle Interessen werden schon im Kindesalter geprägt: Das Jugend-KulturBarometer stellt den wichtigen Stellenwert der Eltern heraus. wurde, beispielsweise auch den Besuch ei- nes Technikmuseums beinhaltete. Bei den Gymnasiasten bzw. Abiturienten liegt der sche Orchestervereinigung hat mit dem nem siebenjährigen Zeitvergleich haben sich Anteil vergleichsweise bei 50 Prozent. Die „Netzwerk Orchester & Schulen“ und – in Ko- allein die halbjährlichen Besuche von zeitge- schulische Selektion bei der kulturellen Bil- operation mit Jeunesses Musicales Deutsch- nössischen Kunstausstellungen bei den jun- dung beginnt allerdings schon in der Grund- land – mit der Initiative „tutti pro“ schon ers- gen Leuten mehr als verdoppelt.1 Gemäß schule: 25 Prozent der Hauptschüler geben te richtungsweisende Projekte in die Wege des Jugend-KulturBarometers besuchten 52 an, früher schon einmal mit ihrer Grund- geleitet. Besondere Initiativen von Orches- Prozent schon mehrfach Museen und Aus- schule ein Kulturangebot wahrgenommen tern wie den Berlinern Philharmonikern und stellungen. zu haben, bei den Gymnasiasten haben dies ihrem Education-Programm „Zukunft@ Vielleicht trägt der Fankult, die Faszinati- jedoch 46 Prozent getan. Offensichtlich ha- BPhil“ unterstützen diese Bemühungen. Er- on eines außergewöhnlichen Künstlerlebens, ben sich nicht nur die Hauptschulen, son- wähnenswert in diesem Kontext ist auch die seinen Teil mit dazu bei, dass die visuellen dern beispielsweise auch Grundschulen in Initiative „Tusch“ (Theater und Schule), die Künste bei den jungen Leuten populärer sozialen Brennpunkten von der Vermittlung u. a. vom Berliner Senat gefördert wird, eine sind als die klassische und zeitgenössische kultureller Bildung weitgehend verabschie- Kooperation von 22 Berliner Bühnen, da- Musik. Man kann natürlich argumentieren, det. runter auch Musiktheater, und 33 Schulen. dies sei „Effekthascherei“ – die jungen Leute Realisiert wird „Tusch“ mittlerweile auch in müssten sich primär für die musikalischen Professionelle Live-Erlebnisse Hamburg. Inhalte interessieren und nicht für außerge- wecken Interesse wöhnliche Künstlergeschichten. Oftmals kann Idole der Jugend: dies jedoch als Mittel zum Zweck dienen Man könnte daraus eine erste kulturpoli- Popsänger und Filmstars und so indirekt Interesse wecken für musi- tische Forderung ableiten: Auch die „Verlie- kalische Inhalte. Man denke an den Film rer“ in unserem Bildungssystem sollten eine Bei den eben beschriebenen Initiativen Amadeus oder die Begeisterung für klassi- Chance erhalten, klassische Kulturgüter ken- geht es immer auch um die persönliche Be- sche Musik in der Fernsehwerbung à la Car- nen zu lernen, so auch klassische Musik. gegnung der Künstler mit jungen Leuten. mina Burana, die zu einer Renaissance der Was kann Schule für die kulturelle Bildung Diese Begegnungen sind wichtig, da sie erst- Aufführung dieses Werks führte.2 Um die tun, insbesondere wenn das Elternhaus „ver- mals (wieder) in der klassischen Musik Vor- Aufmerksamkeit junger Leute wird im Zeit- sagt“? In der Jugendumfrage konnte allge- bilder schaffen für junge Leute. Dass dies alter des Mediendschungels von so vielen mein beobachtet werden, dass die Art, wie dringend nötig ist, zeigen die Ergebnisse der unterschiedlichen Seiten gebuhlt, dass es oft der Musikunterricht und/oder der Musik- Jugendumfrage: Als künstlerische Idole oder schon ausreichen kann, wenn man es schafft, lehrer beurteilt wurden, nur geringfügig kor- Vorbilder werden mehrheitlich vor allem ein musikalisches Kunstwerk in den Alltags- reliert mit dem Kulturinteresse. Eine stärkere Künstler aus der Pop- und Filmbranche ge- medien, nicht in den Kultursendern zu prä- Beziehung zeigt sich jedoch, wenn die Schule nannt wie Eminem, Britney Spears, Robbie sentieren. Die Qualität spricht dann schon auswärtige Kulturbesuche unternimmt. Eine Williams etc. Daneben ist jedoch eine wei- für sich. professionelle künstlerische Darbietung live tere Künstlergruppe vertreten: Mit an vor- Ein anderes Problem, das die Akzeptanz zu erleben, kann also eher das Interesse jun- derster Stelle rangieren bildende Künstler klassischer und zeitgenössischer Musik ger Leute wecken. Wichtig ist daher die Öff- wie Picasso, Dali und van Gogh. Dies spie- hemmt, liegt in der immer noch gepflegten nung der Schule in Form von Kooperationen gelt das deutlich größere Interesse der jun- deutschen Begrifflichkeit von „U-“ und „E-“ mit lokalen Kultureinrichtungen. Die Deut- gen Leute an bildender Kunst wieder. In ei- Musik. Die jungen Leute wollen primär mit

 MUSIK ORUM 57 DOKUMENTATION

Kunst unterhalten werden und in Form des Musik bei der Jugend zu verbessern. Ein po- ständig musikalische Aufgaben in Schule Live-Erlebnisses die Authentizität eines sitives Beispiel für mehr Starkult und ein Ein- und Musikvereinigungen übernehmen. Werks genießen. Der Begriff „Ernste Musik“ dringen in den Medienalltag der Jugend ist Betrachtet man in Grafik 2 die Anteile negiert jedoch das Bedürfnis der jungen der Film Rhythm is it! Man kann sich über junger klassischer Musikinteressierter in ein- Leute nach einem unterhaltenden Kunster- den kurzfristigen Charakter solcher Projekte zelnen Bundesländern, die über eine ausrei- lebnis. Ein „Klassikliebhaber“ pflegt jedoch – streiten, aber die Medienwirksamkeit dieses chend große Fallzahl verfügen,6 könnte nicht neben allem analytischen Vermögen – immer Projekts ist unbestritten. Jugendliche Rand- zuletzt die eben beschriebene Ausbildung auch ein emotionales Verhältnis zur Musik, gruppen lernen die Faszination des Musik- mit dazu beigetragen haben, dass sich die sonst wäre er kein „Liebhaber“. Und nach werks Le sacre du printemps durch den en- jungen Leute in Baden-Württemberg ten- Schiller stellt sich die Ästhetik eines Kunst- gen Kontakt mit den Berliner Philharmoni- denziell eher für klassische Musik interessie- werks immer dann ein, wenn der Geist und kern und Sir Simon Rattle kennen, der mit ren. Besonders hoch ist zudem speziell der die Sinne gleichermaßen beteiligt sind.3 Es solchen Aktionen nach und nach selbst zum Anteil der klassisch Musikinteressierten (17 gibt also keinen Grund, an dieser Begrifflich- Jugendidol avanciert. Prozent) und der einfachen Besucher (19 keit festzuhalten, insbesondere da man mit Weniger spektakulär, aber ebenso wich- Prozent) in Berlin, was vielleicht ebenfalls dem Statusbewusstsein des Bildungsbürger- tig sind Aktionen, die in das soziale Umfeld auf die vielfältigen bereits skizzierten Aktio- tums die jungen Leute kaum mehr ködern der jungen Leute wirken. Ein gelungenes nen dieser Großstadt zurückgeführt werden kann. Dies gilt nach Umfragen des Zent- Beispiel ist der Opernklub Rheingold e. V. kann. rums für Kulturforschung auch schon für die in Düsseldorf. Dieser richtet sich nur an jun- mittleren Bevölkerungsgruppen. Nur 18 ge Leute und wird in Eigenregie organisiert. Jugendgerechtes Ambiente Prozent der jungen Leute meinen, dass Wenn die Mitglieder von Rheingold ein ge- in Konzerthäusern Kunst eine Wertanlage sei und der Kultur- wisses Alter überschreiten, müssen sie besuch zum guten Stil gehöre. Die vielfälti- Rheingold e. V. verlassen und können bei Junge Leute, die sich mittelmäßig, wenig gen Lebensstile, mit denen man sich heute Bedarf in den Förderverein der Oper wech- bzw. überhaupt nicht für Kultur interessie- von anderen gesellschaftlichen Gruppen ab- seln. Der Klub erfreut sich reger Beliebtheit, ren, wurden gefragt, was man ändern könn- grenzt, sind vielschichtiger als früher, als man da man einen eigenen Treffpunkt mit Sitz- te, damit sie sich mehr für Kultur interessie- den Wert kultureller Bildung auf „eine Frage gelegenheit in der Oper hat, spontan und ren. An erster Stelle wurde die Senkung von von wahr und falsch“4 reduzieren konnte. zudem sehr günstig Karten erhalten kann. Eintrittspreisen (54 Prozent) gefordert. Zwar Natürlich wird auch außerhalb der Oper ein kam an späterer Stelle in der Umfrage he- Klassik hat keinen Platz geselliges Miteinander gepflegt. Eine weite- raus, dass eben diese junge Zielgruppe oft- im Jugendalltag re Initiative der jeweiligen Kultusministerien mals gar nicht weiß, wie teuer bzw. günstig und Musikverbände, die in dieselbe Rich- die Karten wirklich sind. In Gesprächen Bei all dem darf nicht vergessen werden, tung zielt, ist die Ausbildung zu „Musikmen- wurde jedoch deutlich, dass die jungen Leu- dass klassische Musik im Jugendalltag kaum toren“ in Baden-Württemberg und im Saar- te, so lange sie den Wert eines solchen An- mehr präsent ist. In den Umfragen des ZfKf land. Junge Leute werden zu Fürsprechern gebots nicht kennen oder schätzen gelernt wird immer deutlicher, dass auch bei den der klassischen Musik, zu Musikmentoren, haben, ihre oftmals knappen finanziellen Res- mittleren Bevölkerungsgruppen schon das die versuchen, andere junge Leute für klas- sourcen lieber anderweitig ausgeben. Man Interesse an Popularmusik dominiert. Das ist sische Musik zu begeistern und die eigen- kann daher dringend anraten, die Eintritts- insofern zu bedauern, als das Ju- gend-KulturBarometer sehr deutlich den wichtigen Stellenwert der El- tern herausgestellt hat bei der Prä- gung kultureller Interessen. Eine provokative Abgrenzung der jun- gen Leute von den Interessen und Einstellungen der Eltern, wie dies früher die Regel gewesen ist, kann heute nicht mehr in dieser extre- men Form beobachtet werden. Eher grenzen sich junge Leute mit traditionellen Werten von den ju- gendlichen Bestrebungen vieler nicht alt werden wollender Alt-68er ab.5 Da aber schon die Elterngene- ration heute vielfach nur noch Rock und Pop hört, wird eine weitere Chance vertan, junge Leute mit klassischer Musik in Berührung zu bringen. Speziell die öffentlichen Medien sollte man stärker in die Pflicht neh- Grafik 2: Interesse der jungen Leute an klassischer Musik und der Besuch entsprechender Konzerte in men, das Image der klassischen einzelnen Bundesländern (mit genügend großer Fallzahl).7

 58 MUSIK ORUM preise für junge Leute besonders günstig zu gestalten und dies entsprechend publik zu machen oder besser noch kostenfreie Zu- gänge zu ermöglichen, z. B. über Schulen. Dies ist eine Investition in die Zukunft, die sich viele Wirtschaftsunternehmen selbst- verständlich leisten. Beispiel: die kostenfreie Bankkontoführung für junge Leute während der Ausbildung – mit dem Wissen, dass viele, wenn sie Geld verdienen, das Konto aus Gewohnheit behalten. An zweiter Stelle wurde bei eingangs skizzierter Frage das fehlende jugendgerech- te Ambiente in vielen Kulturhäusern beklagt Grafik 3: Beziehung (37 Prozent). Diese Klage richtet sich vor zwischen künstlerischen allem an Theater und Konzerthäuser. Viele Musikaktivitäten in der Freizeit und dem größere Kunstmuseen und Ausstellungshäu- Interesse an ser haben hier schon sehr früh reagiert. Man klassischer Musik. denke an viele sehr modern eingerichtete Museumscafés. In hausinternen Museums- shops werden Merchandising-Artikel ange- boten und auch das Rahmenprogramm fordern jedoch oft ein Zugreifen direkt zu Im Jugend-KulturBarometer finden sich richtet sich häufig an junge Leute, so bei- Beginn des Vorverkaufs. Für eine optimierte viele Argumente für eine stärkere Förde- spielsweise, wenn DJs abends in der Kunst- Nachwuchsarbeit sollte man öfter den Mut rung künstlerischer Aktivitäten bei Kindern und Ausstellungshalle der Bundesrepublik haben, günstige Karten bis zum Tag der Ver- und Jugendlichen. Die Studie zeigt viele Deutschland auflegen. Solche jugendgerech- anstaltung zurückzubehalten. Attraktiv wä- Wechselwirkungen auf zwischen Kunst, ten Angebote fehlen vielfach noch bei Mu- ren z. B. Internetbörsen für Last-Minute-An- Kultur und gesellschaftlichen wie Bildungs- siktheatern und Klassikkonzerten, wenn es gebote oder SMS-Nachrichten an die junge interessen. Man kann diese Argumente nut- hier auch schon positive Gegenbeispiele gibt, Stammkundschaft kurz vor Veranstaltungs- zen, um sich um eine stärkere praktische wie das neu eingerichtete Szenelokal im beginn mit dem Hinweis, dass noch Karten Musikausbildung junger Menschen zu be- Bonner Opernhaus. zu erwerben sind. mühen. Man sollte sich jedoch darüber im Oft kann beobachtet werden, dass ältere Klaren sein, dass dies nur ein wichtiger Besucher Kinder und Jugendliche in Oper Mehr musikalische Praxis für Schritt von vielen ist für eine erfolgreiche und Konzert als Störfaktor empfinden. Auch Kinder und Jugendliche Nachwuchsarbeit der klassischen Konzert- dies kann dazu beitragen, dass junge Leute häuser und Musiktheater. Ohne eine stärker sich in solchen Häusern nicht wohlfühlen. Um junge Leute stärker für klassische jugendorientierte Angebotsgestaltung wer- Die frühe Begegnung mit klassischer Musik Musik zu interessieren, wäre ein flächende- den die jungen Besucher auch weiterhin und vor allem der Oper ist jedoch beson- ckendes Angebot hilfreich, das allen Schul- fernbleiben. ders wichtig. Unter den befragten jungen kindern möglichst schon in der Grundschu- Leuten, die schon im Kindergartenalter kul- le ermöglicht, ein Musikinstrument zu erler- 1 Daten des ZfKf aus dem 2. KulturBarometer (ZfKf/Ifak; turelle Veranstaltungen besuchten, liegt der nen oder an einem guten Gesangsunterricht 1992) und 7. KulturBarometer (ZfKf/GfK; 1999). 2 vgl. Susanne Keuchel: Das Auge hört mit, Bonn 2000, S. 9 f. Anteil der heute sehr stark bis stark Kultur- teilzunehmen. Die Jugendumfrage zeigt sehr 3 vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung interessierten bei 43 Prozent. Bei den jun- deutlich, dass unter den jungen Leuten, die des Menschen, Stuttgart (1795) 1965. gen Leuten, die mit 18 Jahren erstmals eine selbst schon einmal in der Freizeit gesungen 4 vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der Kulturveranstaltung besuchten, liegt dieser oder musiziert haben, der Anteil der klas- gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main 1982, S. 518. 5 siehe Gerhard Matzig: „Rollenspiele der All-Age-Ge- Anteil nur bei 22 Prozent. In diesem Sinne sisch Musikinteressierten deutlich höher ist, sellschaft“, in: Süddeutsche Zeitung, 28. Februar 2005, S. 15. sollte man entweder spezielle Vorstellungen wie dies auch Grafik 3 verdeutlicht. 6 Für eine Darstellung mussten mindestens etwa 200 Be- für Familien etablieren, was vielerorts in den Im Zuge der verstärkten Bemühungen fragte pro Bundesland vorliegen. Die Fallzahl speziell in vergangenen Jahren schon geschehen ist, oder um Ganztagsschulen und der allgemeinen Berlin/Brandenburg, Niedersachsen und Nordrhein- Westfalen wurde im Vorfeld mit Blick auf eine erweiterte aber an das gängige Konzert- und Opern- Öffnung von Schulen tun sich vermehrt Länderauswertung erhöht und liegt jeweils zwischen 400 publikum appellieren, dass es den jungen Chancen auf, zum Beispiel „Musikklassen“ und 600 Befragten. Leuten, die möglicherweise das Überleben zu organisieren, die sich innerhalb ihres 7 siehe Matzig, a. a. O. der klassischen Musik und der Oper künftig Klassenverbands im Rahmen ihrer Schulzeit 8 Im Rahmen der Initiative „Hauptsache: Musik“ des Lan- garantieren, mehr Verständnis entgegen- verpflichten, Musikinstrumente zu erlernen desmusikrats und des Landes Niedersachsen wurden an niedersächsischen Schulen schon etwa 70 Bläserklassen 8 bringt. und gemeinsam zu musizieren, was aller- eingerichtet. Sehr wichtig ist zudem der spontane Zu- dings oftmals einen verstärkten finanziellen 9 bundesweite Sonderbefragung des ZfKf von Eltern in gang zu Veranstaltungen. Die jungen Leute Einsatz der Eltern erfordert, die hier jedoch Zusammenarbeit mit der GfK 2005 für das Jugend-Kultur- tendieren immer stärker dazu, sich im Vor- allgemein eine sehr offene Haltung einneh- Barometer. feld nicht zu binden und oftmals erst am men. Allein 62 Prozent der Eltern halten das Artikel erschien erstmalig in „Das Orchester“ 6/2005, selben Abend zu entscheiden, was man un- Fördern künstlerischer Aktivitäten ihrer Kin- Schott Musik International. ternehmen möchte. Günstige Platzkarten er- der für sehr wichtig bzw. wichtig.9

 MUSIK ORUM 59 BILDUNG.FORSCHUNG

VdM-Initiative „Neue Kammermusik für Musikschulen“ erfolgreich:

ZUGANG ZU Zeitgenössischem ERÖFFNET

ie Erfolgsgeschichte der Fort- che nicht den Erziehungsidealen der Musik- bildung in Trossingen und die Robert Schu- Dbildungen des Verbands schulen. mann Hochschule Düsseldorf gewonnen. deutscher Musikschulen (VdM) Im Rahmen der daraufhin im Jahr 2000 Unter der Federführung von Wolfgang vom VdM ins Leben gerufenen Initiative Rüdiger (Robert Schumann Hochschule) verzeichnet ein Novum: Erstmals „Neue Kammermusik für Musikschulen“, und Reinhard Gagel (Rheinische Musik- stand im Zentrum eines berufsbe- die Praxiserprobungen zeitgenössischer Kom- schule Köln) starteten im April 2003 20 gleitenden Lehrgangs die Unter- positionen umfasst, beklagten Ensemblelei- Pädagogen in die erste Akademiephase. Die richtung in zeitgenössischer Musik. ter einen Mangel an Weiterbildung zur mu- vier einwöchigen Akademieeinheiten in sikschulspezifischen Methodik und Didaktik Trossingen erstreckten sich über 15 Monate Doris Froese, Mitglied im VdM-Vorstand, der zeitgenössischen Musik. Dieses Interes- mit jeweils drei dazwischenliegenden Praxis- konnte im vergangenen Jahr bereits 15 Mu- se verwundert kaum: Engagierte Pädagogen phasen, in denen die Teilnehmer das Neu- sikpädagogen zum Bestehen des ersten Kur- stehen bei der Vermittlung zeitgenössischer erfahrene mit Schülerensembles daheim er- ses „Ensembleleitung Neue Kammermusik“ Musik im Ensemble vor einer Vielzahl von probten. gratulieren. Die Initialzündung für dieses Aufgaben, für die sie meistens nicht explizit Neben den Grundlagen des Ensemble- Projekt geht zurück auf den Musikschulkon- ausgebildet wurden. Setzt die Vermittlung spiels, elementaren Dirigiertechniken und gress 1999 in München. Dort stand die eines zeitgenössischen Werks im Einzelun- Tipps zur Aufführungspraxis wurden Nota- Situation der zeitgenössischen Musik an den terricht schon ein spezialisiertes Wissen des tionsformen und Spieltechniken anhand Musikschulen im Mittelpunkt einer Podi- Lehrers voraus, so potenzieren sich die An- ausgesuchter Werke breiter Raum gewährt. umsdiskussion, an der Komponisten, Verle- forderungen für die Einstudierung einer mo- Aber auch die Hinführung von Schülern an ger und Musikschulpädagogen teilnahmen. dernen Kammermusik um ein Vielfaches. zeitgenössische Musik mittels Improvisatio- Musikschulen, so der damalige allgemeine Der VdM nahm sich des Problems an nen erfuhr ein großes Interesse. Die Impro- Tenor, müssten als verantwortliche Träger un- und entwarf mit Unterstützung des Bundes- visation wurde als musikalische Basisarbeit serer Musikkultur Schülern neben Altbe- ministeriums für Bildung und Forschung entdeckt, um die Klangwelt von Neuer Mu- währtem auch verstärkt den Zugang zu zeit- eine Konzeption für einen vierphasigen be- sik spielerisch zu erfahren. genössischer Musik öffnen. Eine einseitige rufsbegleitenden Lehrgang zur „Ensemble- Gastdozenten wie die Komponisten Ma- Festlegung auf Tradition, Jazz- und Popmu- leitung Neue Kammermusik“. Als weitere thias Spahlinger und Charlotte Seither, Ar- sik oder sogar ein „Entweder-Oder“ von tra- Partner für diesen Modellversuch wurden min Köhler (Chef der Redaktion „Neue Mu- dierter und zeitgenössischer Musik entsprä- die Bundesakademie für musikalische Jugend- sik“ beim Südwestfunk und künstlerischer Leiter der Donaueschinger Musiktage) und Matthias Kaul (Mitglied des Ensembles „L’Art pour L’Art“) bereicherten die Lehr- gangsphasen. Fortgeführt wird der berufsbe- gleitende Lehrgang nach dem Projektende von der Bundesakademie Trossingen. Die Rückmeldungen der Pädagogen zei-

Foto: Thomas Karstens gen, wie motivierend die Impulse eines sol- chen Lehrgangs für den Unterrichtsalltag sind. Interessierte können sich davon anste- cken lassen, wie spannend und belebend Neue Musik in der Musikschule sein kann. Im Rahmen einer Fachtagung zum Projekt- ende in der Musikhochschule Düsseldorf präsentierte Doris Froese die VdM-Arbeits- hilfe „Ensembleleitung Neue Kammermu- sik“, die ausgewählte Konzepte der Kursteil- nehmer und der Auswahllisten der beiden Praxiserprobungen vorstellt. Die Werke aus diesen Erprobungen wurden von insgesamt 210 Ensembles an über 100 VdM-Musik- schulen auf ihre für das Umfeld geeignete Praxistauglichkeit überprüft. Erfolg bestätigt: Die musikalischen Beiträge bei der Fachtagung „Neue Kammermusik für Musik- schulen“ stützten die Bedeutung der VdM-Initiative „Ensembleleitung Neue Kammermusik“. U www.musikschulen.de

 60 MUSIK ORUM PRÄSENTIERT

In der Rubrik „Präsentiert“ stellt das MUSIKFORUM kurz und bündig Initiativen aller Sparten im deutschen Musikleben vor: ˜ Das Beatles Museum Halle hält mit über 5000 Exponaten die Erinnerung an die berühmteste Popband aller Zeiten wach. Stellen Sie Ihr Musikprojekt in dieser Rubrik vor! Mail an: [email protected]

Beatles Museum richte und viele Raritäten. Alle Exponate (bis Ungarn präsentiert. 1989 folgte die Eröff- Halle auf wenige Ausnahmen) sind Originale aus nung des nur 60 Quadratmeter großen der entsprechenden Zeit, oft signiert von den Beatles Museums in Köln, das bereits im Beatles selbst oder von Personen aus ihrem ersten Jahr von 5000 Besuchern aus aller Im April 2000 wurde das neue Beatles direkten Umfeld. Welt genutzt wurde. Das Beatles Museum Museum in Halle (Saale) eröffnet. Es doku- Das Museum unterstützt Recherchear- leistete – bis zu seinem Umzug nach Halle – mentiert auf über 350 Quadratmetern aus- beiten von Journalisten und Studenten. Es auch in Hinblick auf die Städtepartnerschaft führlich das Thema „Beatles bis 1970“ und bildet zur Zeit drei „Azubis“ aus den Berei- zwischen Liverpool und Köln einen bedeu- die Nach-Beatles-Zeit. Das Museum ist eine chen Einzelhandelskaufmann und Medien- tenden Beitrag. private Einrichtung, die sich finanziell selbst gestalter aus und stellt Praktikumsplätze für Geöffnet ist das Museum mittwochs bis trägt. Es zählt inzwischen zu einer der vielen Schüler zur Verfügung, die einmal miterle- sonntags (auch feiertags) von 10 bis 20 Uhr Sehenswürdigkeiten der Saalestadt. Die Be- ben möchten, was sich im Beatles Museum (im September nur samstags und sonntags). sucherzahl hat sich bei knapp über 70 pro tut. Für Fans der „Fab Four“ bringt das Mu- Öffnungstag eingependelt. Um die jungen seum die Zeitschrift Things heraus. Kontakt: Rainer Moers, Beatles Museum, Besucher gezielt anzusprechen, werden spe- Ursprünglich war das Beatles Museum Alter Markt 12, 06 108 Halle (Saale), zielle Veranstaltungen für Familien, Kinder, von dem im Jahr 2000 verstorbenen Mat- Fon 03 45 / 290 390 0, Fax 290 390 8, Schüler und Schulklassen angeboten. thias Bühring gegründet worden, dessen E-mail: [email protected] Ausgestellt werden über 5000 Exponate, Sammeltätigkeit in das Jahr 1964 zurück- U www.beatlesmuseum.net darunter erste Konzertplakate aus Liver- reicht. Zwischen 1975 und 1984 wurde das pool, Fotos und Autogramme aus der Ham- Phänomen Beatles in zahlreichen Ausstel- burger Zeit, Schallplatten, Filmplakate und lungen in der Bundesrepublik Deutschland, Schaukastenfotos, Souvenirs, Zeitungsbe- in Österreich, in den Niederlanden und in

 MUSIK ORUM 61 REZENSIONEN TONTRÄGER sinfonisches stilmix jazz

Who’s afraid of 20th century music? Lukas Ligeti Rova/Orkestrova Werke diverser Komponisten Mystery System: Pattern Transformation Electric Ascension Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Ltg. Ingo Metzmacher. / Moving Houses / Independence / New Atavistic ALP159CD. Sony Music SXP 130098, 6 CDs. York to Neptune / Delta Space Amadinda Percussion Group, Ethel, Pro- Landauf, landab erfreut Deutsch- cher wäre nicht Metzmacher, hätte Im Werk von John Coltrane cédé Rodesco-Letort lands Konzertsäle zum Jahreswech- er sein vergnügliches Unterhaltungs- Tzadik TZ 7099. nimmt das Album Ascension eine sel ein guter alter Brauch: die Auf- potpourri nicht mit lyrischen Atem- Schlüsselstellung ein. Es markiert den führung von Beethovens Neunter, pausen und kleinen Widerhaken Lukas Ligeti, Sohn von György Übergang Coltranes vom modalen die wahrscheinlich irgendwann den versehen. So taucht zwischen all den Ligeti, gehört in die Kategorie junger Jazz zum frei improvisierten Spiel. Beinamen Silvester- oder Neujahrs- leichtfüßigen bis schmissigen Polkas, Komponisten, die mit traditionellen Auf Einladung des Saxofonisten tra- sinfonie tragen wird. Zum Eintritt ins Märschen, Walzern, Säbeltänzen und Musiken der Welt ihren Stil zu hof- fen sich am 28. Juni 1965 zehn neue Jahrtausend hatte Ingo Metz- Galopps von Prokofjew, Schostako- fen finden, sich aber auch nicht den Musiker im Studio und spielten eine macher jedoch anderes im Sinn. In witsch, Khatschaturjan und Kaba- Möglichkeiten neuster Elektronik ver- Kollektivimprovisation ein, die nur Anlehnung an die Wiener Neujahrs- lewski, den rhythmisch zündenden schließen. Ligeti, der in Wien Jazz- auf einer Grundmelodie beruhte und konzerte gedachte er einen „bunten Hommagen an Jazz und lateinameri- Schlagzeug und Komposition stu- sich entlang den spärlich gestalteri- Strauß aus kurzen Stücken“ zu spie- kanische Musik eines Antheil, Mar- dierte und heute in New York lebt, schen Vorgaben des Bandleaders be- len, den der einstige Pianist und Di- tinu,° Gershwin, Schuller, Lieber- hat sich intensiv mit den vielfältigen wegte. rigent des jedoch mann, HK Gruber, Ginastera und Musizierpraktiken der unterschied- Das Rova Saxophone Quartet nicht mit Strauß und Lanner bestü- Revueltas auch gänzlich Unerwarte- lichen Regionen Afrikas auseinander- aus San Fransisco hat nun das Werk cken wollte, sondern mit Musik des tes, ja Verstörendes auf: z. B. Bernd gesetzt. Der Einfluss afrikanischer rekonstruiert und es mit einer erwei- 20. Jahrhunderts. Die Angst des bür- Alois Zimmermanns Stille und Um- Musik scheint in Ligetis Werk überall terten Besetzung vor zwei Jahren gerlichen Konzertsaals vor neuen kehr oder Dieter Schnebels zer- durch, nicht zuletzt durch die Domi- wieder aufgeführt. Gleichfalls wurde Tönen und ungemütlichen Dissonan- brechliches Mahler-Moment. Aber nanz perkussiver Elemente. Seine es in Electric Ascension umbenannt, zen entpuppte sich schnell als unbe- auch Lutos ⁄lawskis Interlude mit sei- Kompositionen kreisen um das Ge- um deutlich zu machen, dass es hier gründet, denn Metzmacher tischte nen fluoreszierenden Streicherfar- heimnis repetitiver Muster und ihrer um keine historisierende Nachemp- natürlich keinen Schönberg oder ben, Takemitsus schwindsüchtiges Möglichkeiten und erinnern dabei findung geht, sondern um die Neu- Stockhausen auf, sondern Stücke in „Green“ aus November Steps, Pärts entfernt an oder Steve interpretation des Stücks. Im En- „blendender Stimmung“, die in punk- Fratres und Cantus in memory of Ben- Reich. sembleklang des „Orkestrova“ nimmt to Spaßfaktor die Erzeugnisse der jamin Britten oder Klassiker der frü- Das Eröffnungsstück Pattern Trans- die Elektronik einen hohen Stellen- Wiener Walzerkönige oft noch über- hen Moderne wie Ives’ Central Park formation von 1988 basiert auf der wert ein. So kommen nicht nur elekt- trafen, zumal das Philharmonische in the Dark und The Unanswered Perkussionsmusik der Baganda im rische Instrumente wie E-Gitarre Staatsorchester Hamburg sich mäch- Question brechen den unbeschwer- heutigen Uganda, wo rasante Pattern und Bassgitarre zum Zuge, sondern tig ins Zeug legte. So wurde aus dem ten Divertimento-Charakter dieser ineinandergreifen, dabei sich lau- auch aktuelle Soundquellen wie „Millennium-Konzert“ zu Silvester „Tanz-Veranstaltung“ immer wieder fend verändern, um ein schillernd- Drum-Maschinen, Sampler und Turn- 1999 ein Publikumsrenner, der all- auf. Und dass man den abgründigen komplexes Gebilde von Marimba- tables. Sie tauchen das akustische jährlich als Live-Mitschnitt auf CD Militär-Musik-Reflektionen von Hei- klängen zu ergeben. Dieser Ansatz Instrumentarium von Saxofonen und erschien. Nun finden sich alle bishe- ner Goebbels Notiz einer Fanfare wird in Independence vertieft. In die- Violinen in ein digitales Klangbad. rigen fünf Produktionen, erweitert (2003) genausowenig Intentionen ser Komposition, meisterhaft von Die mehr als einstündige Interpreta- durch eine Bonus-CD mit einem kur- gemütlicher Konzert-Unterhaltung der ungarischen Amadinda Percus- tion bewegt sich in Wellen, schau- zen Interview und einigen Kostpro- zuschreiben kann wie Alexander sion Group präsentiert, schenkt Li- kelt sich gelegentlich zu ekstatischen ben von Metzmachers charmanten Mossolows unfassliche und mit ge- geti der Feinabstimmung disparater Verdichtungen hoch, um dann wie- Anmoderationen, in vorliegender waltiger Orchesterwucht vorwärts- Klangmuster größere Aufmerksam- der in ruhigere Passagen abzuebben. Sammelbox vereint – nicht nur sym- stampfende Maschinenmusik Die keit, die sich wie von Zauberhand zu Dazwischen haben diverse Solisten pathisches Dokument einer Silves- Eisengießerei (1928) steht wohl au- einer verblüffenden Einheit verbin- das Sagen, wobei besonders Nels ter-Tradition der etwas anderen Art ßer Frage. den. Stärker melodisch geprägt ist Cline mit schneidenden Gitarrenläu- mit 60 Werken von nicht weniger Manchmal, wenn auch selten das Stück Moving Houses, das Ligeti fen und Larry Ochs mit röhrendem als 51 Komponisten, sondern auch hier, muss man eben doch Angst 1996 für das Kronos Quartet Tenorsaxofonton brillieren. Der For- Reverenz an ihren charismatischen haben vor dieser Musik – Gott sei schrieb. Hier, wie in den anderen mation gelingt es, die Spannung über Erfinder. Dank! Stücken auch, ist das Ganze immer die ganze Länge der Aufführung zu Wer allerdings glaubt, diese süffi- Dirk Wieschollek mehr als die Summe seiner Teile. halten. ge Melange aus U- und E-Musik hät- Darin liegt die Magie der Mystery Christoph Wagner te außer kurzweiligen Orchesterpe- Systems. titessen nichts zu bieten, sieht sich Christoph Wagner angenehm getäuscht, denn Metzma-

 62 MUSIK ORUM DVD BUCH

Dieter Schnebel: Ekstasis Musik und Migration in Ostmitteleuropa Film von Peider A. Defilla Heike Müns (Hg.), R. Oldenbourg Verlag, München 2005; BR-alpha-Sendung: 16 Min. / Konzertfilm – Musikfassung: 55 Min. / Kommentierte Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Fassung: 104 Min. / DVD-Datenteil Europa, Band 23, 426 Seiten., 40 Abb., 39,80 Euro. Wergo NZ 51. Wechselbeziehungen zwischen Die aufwändig und liebevoll aus- Ohne theatralische Momente Bayerischen Rundfunks und der be- unterschiedlichen Musikkulturen und gestattete Publikation mit Beiträgen kann sich Dieter Schnebel sein Kom- gleitenden BR-alpha-TV-Sendereihe, die Migration von Musikern sind kei- von Teilnehmern aus West- und ponieren nicht denken. Das Energie- die Edition „Forum der Gegenwarts- ne neuen Phänomene, doch waren Ostmitteleuropa (Polen, Lettland, zentrum aller Theatralik wiederum musik“, die von Peider A. Defilla ihrer Erforschung bis zur politischen Estland, Russland, Slowenien, Un- ist für Schnebel die Sprache. Sie um- betreut wird. So sind auf der DVD Wende 1989 buchstäblich Grenzen garn) enthält u. a. Artikel über den hegt er, indem er sie akribisch und sowohl Defillas BR-Sendung zu se- gesetzt. Nicht zuletzt auch deshalb, noch unbearbeiteten Sammelbestand leidenschaftlich bisweilen bis zur Un- hen, wie ein eigens am Tag der Ur- weil zur Zeit des Kalten Kriegs die des russischen Germanisten Victor kenntlichkeit zerschreddert oder aufführung von Max Nyffeler mit meisten Archive in den ehemaligen Schirmunski in St. Petersburg sowie Sprachebenen überlagert. Die seman- Schnebel geführtes Interview über sozialistischen Ländern für die west- Moische Beregovskis Wachswalzen tische Mechanik bloßzulegen, um die Beweggründe und Ideen, die sich lichen Musikforscher nicht zugäng- mit jüdischer Musik in Kiev. Insbe- daraus kompositorische Funken zu in der Struktur von Ekstasis wieder- lich waren. sondere dem letzten Thema, dem in schlagen, ist stets Schnebels Ziel. Da- spiegeln. So konnten aufgrund der neuen der bisherigen Forschung weitge- rüber geraten seine Kompositionen Die Intention Defillas, die DVD Quellenlage erst bei der Tagung der hend durch zahlreiche Unsicherhei- seit je in ekstatische Zustände der solle den Konzertsaal auf keinen Fall Kommission für Lied- und Tanzmu- ten gekennzeichneten Umgang mit einen oder anderen Art. ersetzen, sondern ergänzen, erfüllt sikforschung, die im September den jüdischen Volksmusikern bzw. Mit Glossolalie (1959 bis 1961) sich bei dieser Produktion quasi von 2000 im Oldenburger Bundesinsti- „Musikanten“, wurde in diesem Band begann Schnebel eine Reihe groß selbst. Kein Wiedergabesystem kann tut für Kultur und Geschichte der breiter Raum gewidmet. angelegter Kompositionen, die ins die Abmessungen dieser Klang-Raum- Deutschen im östlichen Europa statt- Als Fazit bleibt festzuhalten, dass Offene, ins Ekstatische ausbrechen. Konzeption abbilden. Anhand von gefunden hat, die ersten Teilergeb- die osteuropäische Musikkultur völ- Jene Ideen, die Schnebel hier erst- Schnebels Erläuterungen begreift der nisse der vielfältigen musikalischen liges Neuland darstellt und noch vie- mals konzentriert formulierte, kul- Zuschauer, dass sich die Faszination Migrationsprozesse zwischen der le spannende Entdeckungen bereit- minieren in Ekstasis, einem monu- für ekstatische Phänomene nicht nur deutschen Musikkultur und der hält. Ferner muss der bislang vor- mental angelegten musikalischen durch sein gesamtes Œuvre zieht, Musik der ostmitteleuropäischen herrschende Eindruck, der Kultur- Katalog musik-sprachlicher Eksta- sondern dass es hier explizit formu- Nachbarländern präsentiert werden. austausch habe sich vorwiegend im sen. Schnebel beschreibt das Werk liert ist. Klar wird, dass moderne Sie brachten eine bemerkenswerte Sinne einer Einbahnstraße von West als „ein Stück philosophischer Mu- Metropolen für Schnebel Ekstasen Fülle neuer Erkenntnisse, die in dem nach Ost vollzogen, revidiert wer- sik“, als einen musikphilosophischen baulicher Art darstellen. So gibt es vorliegen Band publiziert werden. den: Eine Detailanalyse der komple- Traktat. Entstanden in den Jahren sechs so genannte Metropolis-Teile, Die einzelnen Beiträge legen die xen musikkulturellen Verflechtun- 1995/97 und 2001/02 als Auftrags- die quasi leitmotivisch die Komposi- vielfältigen politischen, sozialen und gen belegt den Transfer in beide werk des WDR Köln und der musica tion verklammern. Dazwischen wer- ökonomischen Gründe für die Mig- Richtungen. Das heißt: Nicht nur die viva des Bayerischen Rundfunks, den ekstatische Zustände von Men- ration dar und dokumentieren die Musikgeschichte Ostmitteleuropas kam die vollständige Fassung des schen wie Beschwörung oder Trance verschiedenen Formen der Migra- muss neu geschrieben werden, auch vorläufigen Opus Magnum Schne- musikalisch beschrieben oder Aktio- tion von Musikern, Musikinstrumen- der „musikalische Westen“ soll sich bels am 22. Juni 2002 im Münchner nen, sowohl aggressiven wie kom- ten, Repertoire, kompositorischen seiner „östlichen“ Anteile besinnen. Herkulessaal zu seiner Urauffüh- munikativen Charakters. Stets wird Ideen und infrastrukturellen Rah- Aus diesem Grund dürfte das mit zahl- rung. Ausführende waren Chor und deutlich, dass diese durchrhythmi- menbedingungen (Opernhäuser, reichen Notenbeispielen, seltenem Symphonieorchester des Bayeri- sierten Klanglandschaften sprachge- Lehreinrichtungen). So wurde bei- grafischen Material und einem Ver- schen Rundfunks, Isolde Siebert (Sop- boren sind. Und Schnebel bleibt sich spielsweise das Musikverlagswesen zeichnis deutscher Musiker in Sankt ran), Isao Nakamura (Schlagzeug), auch hier in seiner Abneigung, Bot- in Russland von deutschen Spezialis- Petersburg und Moskau versehene Michael Hirsch (Sprecher) sowie schaften zu überbringen, treu: „Wenn ten aufgebaut; der Mangel an Dru- Buch nicht nur für Musikwissen- Kindersolisten. Die Leitung hatte Lo- etwas allzu geradlinig wird, muss ich ckereien im Baltikum führte zur Ver- schaftler und Musikethnologen, son- thar Zagrosek. Der Komponist zeig- dem etwas entgegen setzen.“ So ist wendung lutherischer Choralbücher; dern auch für Musikpädagogen, Ge- te sich nach der Uraufführung eben- Ekstasis ein kompliziert und kom- das Repräsentationsbedürfnis an schichtslehrer und nicht zuletzt für so dankbar wie fasziniert. Weshalb, plex variiertes Klangsystem, eine deutschen und russischen Höfen zog „Musikpraktiker“ von Interesse sein, das erschließt sich eindrücklich auf Neuformulierung des Ritualbegriffs. böhmische und italienische Musiker zumal aus der Lektüre Anregungen der vorliegenden DVD. Mit ihr star- Wer den Kosmos von Schnebels an; die Aufnahme des slawischen für Kooperationsprojekte mit den ten das Label Wergo und die Neue Musik erfahren will, sollte zu dieser Liedguts in Lieder der deutschen neuen EU-Ländern geschöpft wer- Zeitschrift für Musik, ausgehend von DVD greifen. Jugendbewegung bot die Möglich- den können. der Konzertreihe musica viva des Annette Eckerle keiten indirekten Widerstandes etc. Alenka Barber-Kersovan

 MUSIK ORUM 63 ECHO

˜ Replik Kritik an der Kritik: Stark contra Büsser In seinem Beitrag „Die Zukunft der Popmusik“ (MUSIKFORUM 2/ HEUSCHRECKEN IM HIRN 2005) kritisierte Martin Büsser die Haltung der Tonträgerindustrie, Franz Müntefering hat uns allen erklärt, auch dann noch ganz einfach Geld für die den „Impuls von der Straße“, warum der Aufschwung nicht kommt: Strom und Miete verdienen. Deshalb bieten die progressiven Entwicklungen in Schuld haben ausländische Finanzjongleure, auch alternde Stars ihre künstlerischen Dienst- die Märkte und Marken wie Heuschrecken leistungen an – und verlieren irgendwann den Nischen negiere und sich nur überfallen und abgrasen. Wie Müntefering ihre rebellische Substanz, die bei vielen noch dem belanglosen Mainstream kennt auch die deutsche Musikkritik solche schon vorher in pubertierender Blüte nichts zuwende. schlichten Deutungsmuster seit Jahren, auch anderes als Pose war. In Erwiderung dieses Artikels ortet sie bellt und möchte so gerne beißen. Das In den zwanziger Jahren, als wir kulturell- Erklärungsmuster ist uralt, leider falsch aber humanistisch noch nicht vom Rest der Welt Musikjournalist Jürgen Stark die dennoch nicht tot zu kriegen: Die böse, böse abgeschnitten waren, wurden bereits die Problemzonen bundesdeutscher Musikindustrie ist an allem schuld, die beste Comedian Harmonists „gecastet“; wer Mu- Musikproduktion an ganz anderen Musik ist unkommerziell. Authentisch ist es, sikerkarriere machen wollte, der musste Stellen. wenn sich der Musikkritiker allein mit „sei- u. a. auch schauspielern können. In diesen nen“ Künstlern im abgedunkelten Raum er- frühen Jahren des vergangenen Jahrhun- lebt. derts entwickelte sich von Europa bis Ame- Martin Büsser lebt in einer anderen Zeit, rika eine Form musikalischer Bühnenpräsen- auch Tim Renner bekennt sich zu den neu- an einem anderen Ort. In seinem zwanzigs- tation, die wir schon lange Entertainment deutschen Umtrieben der frühen Achtziger ten Jahrhundert ist die Welt noch in Ord- nennen. An der Klasse des Auftritts erken- – und wurde Konzernchef bei Universal. In nung. Denn wenn es irgendwo im Musik- nen wir die Könner – und das ist auch gut der Tat haben Trends ihre Strahlkraft verlo- markt krankt, dann erhebt sich der Kritiker so. Wer was kann, der kann auch einfachen ren, wurde Popmusik dank Vermarktung von seinem pseudolinken Stammtisch, putzt Dingen einen künstlerischen Ausdruck ver- extrem ausdifferenziert und durch konven- sich mit ernster Miene seine Brillengläser, leihen. Das Märchen vom genialen Dilletan- tionelle Praxis normalisiert. Büssers These um dann im nächsten Moment als Volkstri- ten klingt in Wahrheit auch so, nämlich aber, dass „Grunge“ als einer der letzten ech- bun eine flammende Rede wie einst Lenin scheußlich. ten Trends am Schreibtisch eines A&R-Ma- auf der Obstkiste zu halten. Die dabei ge- nagers entstanden sei, ist grotesk. Nirvana setzten Standards wiederholen sich stereo- Die Authentizitätsfalle und Kurt Cobain hatten wirklich nichts, was typ. Die Fehler einer Branche werden dabei an Retorte erinnerte. Der Hauptvorwurf an wie folgt buchstabiert: Die guten musikali- Viele erlernten ihr professionelles Hand- die Adresse der etablierten Musikproduzen- schen Trends der Basis werden stets von werk übrigens an Kunsthochschulen, wie ten lässt das Argumentationsgebäude von den Vermarktern vergewaltigt und dann David Bowie oder der Punk-Kreateur Mal- Büsser schließlich zusammenkrachen: In- dem Mainstream als billige Kopie zum Fraß colm McLaren – „The Great Rock'n'Roll dustrie macht Mainstream und deshalb total vorgeworfen; der Mainstream ist ein Grund- Swindle"! Büsser & Co. verirren sich immer beschissenen Rundfunk (und ebensolches übel, dessen Verursacher ist wiederum die wieder in der Authentizitätsfalle, vor lauter „Wetten-dass-Fernsehen“). Wenn das so „Industrie“, die nur schlimmstes Mittelmaß Gitterstäben erkennen sie den selbstgebau- wäre, gäbe es keine Quotendiskussion. Wenn allerorten produziert, während wahre Musi- ten Knast gar nicht mehr, in welchem sie sit- man junge Künstler bei den TV-Machern ker doch stets nur Klasse anbieten; die gu- zen und grübeln. Musiker sind hoffentlich ernst genommen hätte, wäre nicht VIVA ten, guten „Independents“ retten unerschro- Künstler und keine Politiker. Wer mal die von Major Labels in Notwehr als eigener cken die Welt, an ihrer Seite die Musikkritik, politischen Statements vergangener Jahr- Musikkanal auf Sendung geschickt worden. die als strenge Geschmackspolizei Klänge zehnte aus der bundesrepublikanischen Rock- Achtung, aufgepasst: Wir leben in einer und Klangerzeuger nach „gut“ und „böse“ und Popszene auf ihren Gehalt untersucht, Marktwirtschaft, jeder trägt seine Profession sortiert und die Weltenrettung derart beglei- der wird nicht selten gruseligste Naivität an- oder seine Waren zu Markt, um möglichst tet. treffen, Sprücheklopferei und wenig ernst- hohe Preise damit zu erzielen. Was auch für Wenn Vadder Abraham mit „Techno- zunehmenden Diskurs. Lindenbergs „Bunte Journalisten gilt. Es gibt nur große und klei- Schlümpfen“ auf den Markt kommt, wenn Republik Deutschland“ ist wie Grönemey- ne Plattenfirmen, die von ganz unterschied- der hundertausendste Elvis-Imitator den ers Forderung „Kinder an die Macht“ eher lichen Menschen gemacht werden. Ex-EMI- „Pelvis“-Hüftschwung beim Straßenfest in auch nur Politfolklore, mehr nicht. Chef Heinz Canibol ist heute auch mit Wanne-Eickel simuliert, wenn Punkrocker Büsser attestiert der Musikindustrie eine seiner Kleinfirma 105 Music erfolgreich, weil Bierbäuche bekommen und dennoch eine Abkoppelung von einer einst „innigen Be- er u. a. viel von Musik versteht und mit sei- neue „Comeback-CD“ veröffentlichen (man ziehung“ zwischen Avantgarde und Main- nen Künstlern gut und vertrauensvoll um- betrachte mal die Innenseiten des Booklets stream. Dabei wird verkannt, dass die Ge- geht. Annett Louisan dankte ihm dieses bei von Billy Idols neuem Album!), dann haben staltung der Szenen und Ausdrucksformen ihrer ECHO-Rede. wieder mal die Agenten der Majors die Sze- niemals total manipulierbar war. Es ist wie Jeder Blick in ein Rock- und Poplexikon ne unterwandert. Ist die Wirklichkeit denn der Lebenslauf von Joschka Fischer: irgend- zeigt, dass die kritisierten Label zu allen Zei- wirklich so schlicht? wann ist Schluss mit Randale, und dann wird ten Bereiche mit progressiver, elektroni- Nein, Musiker kommen von ganz allein man eben Außenminister. Aus Punks wur- scher, harter, unruhestiftender Musik ebenso in die grauen Jahre und müssen bzw. wollen den Stern-Redakteure wie Hollow Skai, bedienten, wenn auch in eigens dafür ge-

 64 MUSIK ORUM ˜ Leserbriefe schaffenen Departments, gleich neben der Volksmusik. Natürlich entsteht das Produkt Das Schwerpunktthema des letzten MUSIKFORUM – „Hobby: Musik! – für Massen immer zuerst in den Nischen, Laienmusizieren in Deutschland“ – hat ein gegensätzliches Echo gefunden. welche sich heute – soziologisch gesehen – teilweise zu sektenähnlichen Gruppierun- Senden Sie Ihren Leserbrief an: gen entwickelt haben. Der Dogmatismus Redaktion MUSIKFORUM, Oranienburger Straße 67/68, 10117 Berlin. gewisser Fankulturen ist dabei oft eher un- Oder per E-Mail an: [email protected] demokratisch, intolerant und vor allem Die Redaktion behält sich das Recht auf Kürzungen vor. auch: unkünstlerisch! Daher irrt Büsser mit seiner Definition der musikalischen Welt vor allem auch im Kern. Was Künstler brauchen, ist Freiraum, Experi- Unverschämt mentierfläche, Zeit und gute Gelegenheiten. Was die oft eher einfältigen statt bösen Mu- Die Darstellung eines Tracht tragenden sikfirmen dabei unterlassen, ist etwas ganz Trommlers unter der Überschrift „Zwischen anderes. Künstler brauchen Beratung und Spielmannszug und Hausmusik am PC“ kann ein Umfeld, wie es ein Tony Visconti für sich ja nur um den misslungenen Versuch David Bowie schuf, oder das kreative Netz- handeln, das Thema ironisch aufzumachen werk der Beatles (von Astrid Kirchherr bis – typisch für die Vielzahl hochqualifizierter George Martin) oder die Warhol’sche Facto- Ensembles in diesem Bereich ist sie sicher ry für Nico und Velvet Underground. Das nicht. mit diesem Thema als das aktuelle Heft des ist das eigentliche Defizit. Der gewöhnliche Das Motiv zieht sich durch das gesamte MUSIKFORUM. A&R-Manager der Plattenfirmen hat eine Heft – bei der ersten Darstellung auf einer Es bleibt zu hoffen, dass politische Ent- kaufmännische Lehre absolviert – wie soll der Innenseite verbunden mit der Aussage „Vom scheidungsträger nicht zu den Lesern des etwas von Image- und Design-Fragen verste- Musikmachen kriegt man einen schönen MUSIKFORUM gehören oder zumindest hen? Deshalb wird einer singenden Nonne Durst!“. Unverschämt und geschmacklos besser über uns Bescheid wissen als der in den Charts ein Nonnenauflauf aller Label nenne ich diesen Versuch, damit das Enga- Deutsche Musikrat – großer Schaden wäre hinterher geschickt, aus reiner Verzweiflung, gement von mehr als 1,3 Mio. Menschen in sonst kaum zu vermeiden. simplem Kalkül und weit verbreiteter tiefs- unserem Verband zusammenzufassen! Geradezu nebensächlich mutet in die- ter Unkenntnis, was den langfristigen Auf- Leider verfestigt sich der erste Eindruck sem Kontext meine ergänzende Anregung bau großartiger Künstler betrifft. auch beim Lesen der „Fachbeiträge“. Recht an, statt einer Veranstaltung wie dem Chor- oberflächlich stellen sie im Wesentlichen wettbewerb doch eher beispielhaft die mu- Unwürdige Pop-Infrastruktur Statistikdaten und die Aktivitäten der Chor- sikalische und organisatorische Innovations- verbände dar. Was die Mitglieder unserer kraft zahlreicher Orchester darzustellen, wie Die Deutschen brauchen Stars, die uns Orchester angeht, so konzentriert sich die sie bereits seit Jahren von uns mit dem „In- gut unterhalten, jeden nach seiner Fasson. Berichterstattung weiterhin auf den paus- novationspreis Ehrenamt“ ausgezeichnet wer- Und auch ein Anti-Star ist ein Star. Das Geld bäckigen Tubisten und erhellende Sätze wie den. Neben dem „großen Durst“ entstehen der Labels wird für Investitionen in künstle- „Ich spiele im Orchester, weil das Fernseh- bei diesem Engagement offenbar stärkere rische Projekte weiterhin gebraucht. Die Kri- programm so schlecht ist“. dynamische Prozesse als in der Redaktion, tik der Beobachter sollte sich daher lieber der Neben der Tatsache, dass von der Inno- die für das aktuelle MUSIKFORUM verant- blamablen und unwürdigen Popinfrastruktur vationskraft, der Dynamik, der Vielseitigkeit wortlich zeichnet. des Landes zuwenden: den grandios schlech- in Repertoire und musikalischer Auffüh- Stefan Liebing ten Arbeitsbedingungen für junge Künstler rungsqualität in unseren Mitgliedsorchestern Generalsekretär der Bundesvereinigung (sowohl finanziell als auch insgesamt pers- an keiner Stelle zu lesen ist, vermisse ich die deutscher Musikverbände pektivisch), der geringen Anzahl an Ausbil- im Vorwort angerissene politische Dimen- dungsangeboten für populäre Musiker, dem sion des Themas: Wo sind die konkreten For- Neuer Wind Mangel an gelebter Musikkultur in Familie, derungen des Deutschen Musikrats? Wa- Schule und zunehmend auch im Freizeitsek- rum berichtet die Redaktion in Abwesenheit Vielen Dank für das MUSIKFORUM tor, der oberflächlichen und vom Boulevard- solcher Forderungen nicht über die „Stutt- zum Thema „Laienmusizieren“. Ich gratulie- Bazillus total verseuchten Medienlandschaft, garter Thesen“ der Bundesvereinigung? Die re zur lebendigen, frischen Art im Inhalt wie dem oft zu akademisch-blasierten Musikjour- im Vorwort erkannte Diskrepanz zwischen im Kleid, zur Auswahl der Themen und wie nalismus, der noch immer nicht an das Level Sonntagsreden und Montagshandeln scheint diese kreativ angepackt und kompetent aus- angelsächsischer Berichterstattung heran- sich ideal auf das Engagement anwenden zu gebreitet werden. Neuer Wind, wie er unse- reicht. lassen, mit dem der Deutsche Musikrat die rem Musikrat gut tut, ihm bestens ansteht, Jürgen Stark Interessen in den erstaunlicherweise immer wie er sich vielseitig und konstruktiv ins noch so genannten „Laienmusikverbänden“ Gespräch zu bringen weiß. Jürgen Stark gibt gemeinsam mit Dieter Gorny das Jahr- buch „Popkultur“ heraus, ist Mitglied im Fachausschuss vertritt. Freundlichen Ankündigungen und So weitermachen, nicht nachlassen, meint Popularmusik beim Deutschen Musikrat, Projektleiter der Diskussionen foIgen Taten, die mehr scha- Eckart Rohlfs SchoolTour im Auftrag der Deutschen Phono-Akademie den als nützen. Die Berichterstattung der Bild- und beim John Lennon Talent Award zuständig für Pro- Zeitung über die Veranstaltung in Markt- Generalsekretär der European Union of jektentwicklung. Music Competitions for Youth oberdorf zeigt mehr Sensibilität im Umgang

 MUSIK ORUM 65 Die Zeit… in der ältere Menschen den Lebensabend Posen, in denen sich Frauen und Männer MUSIKORUM zurückgezogen hinter den weißen Tages- ablichten ließen. Ebenso forsch gehen viele DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRATS gardinen ihrer Zweiraumwohnung friste- „Silver Surfer“ mittlerweile mit dem Internet ten, ist vorbei. Galten Menschen bislang um, das – längst keine Domäne mehr nur Die Herausgeber spätestens ab dem Renteralter als „out“ und für die Jungen – mit unzähligen Portalen, Deutsche Musikrat Projektgesellschaft mbH, abschiebefähig, so ist das dritte Lebensalter Foren und Chats die neue, aktive Lebens- Weberstr. 59, 53113 Bonn ([email protected]) inzwischen geradezu „in“: Die Werbung welt von Senioren einfängt. in Zusammenarbeit mit Schott Musik International, entdeckt die Alten als aktive, erlebnisfreudige Postfach 3640, 55026 Mainz Mitbürger und Konsumenten. Der Buch- Die Musik… ([email protected]) handel bestückt ganze Regale mit Ratgebern Koordination: Rolf W. Stoll für den vital erlebten Seniorenalltag. Selbst bleibt da nicht außen vor. Schließlich sind Verantwortlich i. S. d. Pressegesetzes: die Bild-Zeitung, die in ihrer Serie „Happy es die 40- bis 60-Jährigen, die den Umsatz- Geschäftsführendes Präsidium des Deutschen Musikrat e. V. Formel“ den „sicheren Weg ins Glück“ weist, einbruch der Fonoindustrie erheblich abmil- lässt eine porträtierte Rentnerin das dritte dern, in dem sie – in schwärmender Erinne- Die Redaktion Lebensalter souverän zusammenfassen: „Ich rung – das recycelte und verstärkt ins Sorti- Leitung: Christian Höppner, bin gelassen und heiter. Das ist das wirkliche ment aufgenommene Tonträgermaterial aus Oranienburger Str. 67/68, 10117 Berlin ([email protected]) Geschenk des Alters.“ Schon handelt eine den 60ern und 70ern nach Hause tragen Fon 030–308810-10, Fax 030–30 8810-11 halbe Generation, deren Haare zwar dünner, und auch für neue Klänge aller Genres Alenka Barber-Kersovan ([email protected]) deren Lebensgeister aber umso wacher ge- aufgeschlossen sind. Prof. Dr. Hans Bäßler ([email protected]) worden sind, nach dem Prinzip: Lieber ein Die Linien des Alters sind die Spuren Michael Bölter ([email protected]) Werner Bohl ([email protected]) aktiver Alter als ein seniler Senior! des Lebens – warum nicht auch die musi- Susanne Fließ ([email protected]) kalischen? Dass sich ältere Menschen mit Prof. Dr. Birgit Jank ([email protected]) dem Eintritt ins Rentenalter schon lange Dr. Ulrike Liedtke ([email protected]) Torsten Mosgraber ([email protected]) nicht mehr vom öffentlichen und sozialen Dr. Peter Ortmann ([email protected]) Leben lösen wollen, beweisen z. B. die Margot Wallscheid ([email protected]) Projekte, die in diesem Heft beschrieben Redaktionsassistenz: Kristin Bäßler wurden: Da finden Senioren, die früher einmal ein Instrument spielten, zurück zur Die Produktion und Schlussredaktion Musik, da wird in Gruppen über Kompo- BWM: Bohl e-Publishing ([email protected]) nisten und Werke diskutiert, da bildet man ISDN-DFÜ 03322– 2370 88 sich weiter in Notenkursen und Kammer- musikkreisen, da wird selbst noch im fort- Die Anzeigen geschrittenen Alter musiziert, gesungen Leitung: Dieter Schwarz Service: Almuth Willing und manchmal sogar gerockt. Schott Musik International, Musik kennt eben kein Alter. Postfach 3640, 55026 Mainz Fon 06131–24 6852, Fax 0 6131– 2468 44 ([email protected])

Die Kreativität… Der Vertrieb steht im Fokus der kommenden MUSIK- Leserservice: Nicolas Toporski, Verena Runde Schott Musik International, FORUM-Ausgabe. Wir klären, wie sich der Postfach 3640, 55026 Mainz Begriff historisch entwickelt hat, stellen neue Fon 06131–24 6857, Fax 0 6131– 2464 83 Vermittlungsformen im Hinblick auf die ([email protected]) Foto: Michael Tewes * ästhetische Ebene der Kreativität vor und Die Erscheinungsweise gehen der Frage nach, ob man Kreativität vierteljährlich: Oktober, Januar, April, Juli Die Kunst… erlernen kann. Zudem können Sie lesen, Einzelheftpreis: m 7,40 wie sich der Deutsche Musikrat in Zukunft widmet sich ebenfalls mit erhöhter Aufmerk- zu diesem in unserer Gesellschaft immer samkeit dem Thema des Älter- und Weiser- wichtiger werdenden Begriff positioniert. Die in den namentlich gezeichneten Beiträgen ver- werdens. „Wie leben die Alten?“, fragte Dieses und vieles mehr… tretenen Meinungen decken sich nicht notwendiger- eine vor kurzem zu Ende gegangene Foto- Kristin Bäßler weise mit der Auffassung des Herausgebers und der Ausstellung im Hamburger Museum für Redaktionsleitung. Kunst und Gewerbe – und räumte gründ- Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Unter- lagen wird keine Haftung übernommen. lich mit den ambivalenten Klischees von Das nächste MUSIKFORUM Nachdruck oder fotomechanische Wiedergabe, auch „vereinsamten Alten“ und „dynamischen erscheint am 15. Oktober 2005 auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Best Agern“ auf. Zu sehen waren tausend Herausgebers. Arbeiten junger Fotokünstler zu den Erfah- ISSN 0935–2562 rungswelten älterer Menschen. Dass das © 2005 Schott Musik International, Mainz Alter kein Versteckspiel mehr ist, bewiesen * Preisträgermotiv des Körber-Foto-Award 2005. Printed in Germany In der edition Körber-Stiftung erschien ein begleitender die selbstbewussten, teilweise offenherzigen Katalog (www.edition-koerber-stiftung.de).

 66 MUSIK ORUM WERGO WERGO – Music of Our Time seit/since 1962

THEODOR W. ADORNO · GEORGE ANTHEIL · CA- ROLA BAUCKHOLT · CATHY BERBERIAN · LUCIA- NO BERIO · GÜNTER BIALAS · JÖRG BIRKENKÖT- TER · HANS-JÜRGEN V. BOSE · PIERRE BOULEZ · EARLE BROWN · LUDGER BRÜMMER · JOHN CAGE · ELLIOTT CARTER · AARON COPLAND · MARTIN DASKE · MICHAEL DENHOFF · · WERNER EGK · DIETRICH EICHMANN · REINHARD FEBEL · MORTON FELDMAN · ERNST H. FLAMMER · BILL FONTANA · WOLFGANG FORTNER · JEAN FRANÇAIX · BURKHARD FRIED- RICH · HARALD GENZMER · LUTZ GLANDIEN · DETLEV GLANERT · VINKO GLOBOKAR · SOFIA GUBAIDULINA · G.I. GURDJIEFF · PETER M. HA- MEL · KARL AMADEUS HARTMANN · THOMAS DE HARTMANN · MATTHIAS HAUER · KARIN HAUSSMANN · BARBARA HELLER · PIERRE HEN- RY · HANS WERNER HENZE · DETLEF HEUSINGER · WILFRIED HILLER · PAUL HINDEMITH · YORK HÖLLER · ADRIANA HÖLSZKY · HEINZ HOLLI- GER · TOSHIO HOSOKAWA · KLAUS HUBER · KLAUS K. HÜBLER · CHARLES IVES · MAURICIO KAGEL · JOHANNES KALITZKE · ELENA KATS- CHERNIN · WILHELM KILLMAYER · VOLKER DAVID KIRCHNER · JULIANE KLEIN · ERNST AUGUST KLÖTZKE · BABETTE KOBLENZ · CHARLES KOECHLIN · JOACHIM KREBS · CLAUS KÜHNL · ULRICH LEYENDECKER · GYÖRGY LIGETI · ALVIN LUCIER · CLAUS-STEFFEN MAHNKOPF · MESIAS MAIGUASHCA · JÖRG MAINKA · MICHAEL MCNABB · OLIVIER MESSIAEN · MEREDITH MONK · GERHARD MÜLLER-HORNBACH · DETLEV MÜLLER-SIEMENS · JAN MÜLLER- WIELAND · · CONLON NAN- CARROW · LUIGI NONO · · CARL ORFF · HARRY PARTCH · KRZYSZTOF PENDE- RECKI · MATTHIAS PINTSCHER · ANTON PLATE · ROBERT HP PLATZ · BERNFRIED E.G. PRÖVE · ANDREAS F. RASEGHI · ALEXANDER RASKATOV · ARIBERT REIMANN · NIKOLAUS RICHTER DE VROE · MICHAEL RIESSLER · WOLFGANG RIHM · TERRY RILEY · JEAN-CLAUDE RISSET · NIKOLAJ ROSLAVEC · GERHARD RÜHM · PETER RUZICKA · ERIK SATIE · GIACINTO SCELSI · STEFFEN SCHLEIER- MACHER · ANNETTE SCHLÜNZ · DIETER SCHNE- BEL · ARNOLD SCHÖNBERG · ERWIN SCHULHOFF · WOLFGANG V. SCHWEINITZ · KURT SCHWITTERS · CHARLOTTE SEITHER · MATHIAS SPAHLINGER · GERHARD STÄBLER · VOLKER STAUB · CHRIS- TOPH STAUDE · GÜNTER STEINKE · KARLHEINZ STOCKHAUSEN · ULRICH STRANZ · IGOR STRA- WINSKY · MORTON SUBOTNICK · HEINRICH SUTERMEISTER · · JAKOB ULL- MANN · PETERIS VASKS · CASPAR J. WALTER · ANDRÉ WERNER · JÖRG WIDMANN · HEINZ WINBECK · CHRISTIAN WOLFF · JAMES WOOD · XIAOGANG YE · ISANG YUN · GERD ZACHER · HELMUT ZAPF · FREDRIK ZELLER · BERND ALOIS ZIMMERMANN · · …

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Wir sind am Zug! Musikalische Breitenbildung

In der YAMAHA BläserKlasse sind rungen schaffen Bestätigung und Informieren Sie sich unter die Kinder immer am Zug – auch, neue Motivation. www.blaeserklasse.de oder fordern wenn sie nicht Posaune lernen. Das System BläserKlasse beschert Sie unser Informationsmaterial an bei Die ganze Klasse bildet von Anfang dem Musikunterricht bislang unge- Gernot Breitschuh an ein symphonisches Blasorchester, ahnte Chancen und Perspektiven. Telefon: 04173 - 50 11 45 von der Flöte bis hin zum schweren Für alle, die mitmachen. Blech. Wie man´s macht und was man Dank einer ausgefeilten Methodik braucht: all das lernen und bleibt die Lust am Lernen nie auf trainieren Musiklehrer in den der Strecke. Regelmäßige Auffüh- Intensivtrainings.