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63280 januar–märz 2005___1 3. jahrgang MUSIKORUM Musik leben und erleben in Deutschland. DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRATS 7,40 m Der im Internet Elektro-akustische Räume im Netz Sound-Datenbanken, Geräusch- installationen und interaktive Projekte

Probedruck Studienbuch Musik

Renate Klöppel Die Kunst des Musizierens Von den physiologischen und psycho- logischen Grundlagen zur Praxis 288 Seiten, broschiert, 17,0 x 24,0 cm ISBN 3-7957-8706-8 (ED 8706) € 19,95 / sFr 35,–

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Axel Jungbluth Jazz-Harmonielehre Theoretische Grundlagen und praktische Anwendung 178 Seiten, broschiert, 17,0 x 24,0 cm ISBN 3-7957-8722-X (ED 8722) € 19,95 / sFr 35,– EDITORIAL

DER WERT DER

Christian Höppner Kreativität Redaktionsleitung

NEUE MUSIK – ein Schwerpunkt, der einige unerwartete Herausforderungen für die Redaktion bereithielt. So sehr gerade die Neue Musik einen Raum für Kreativität öffnet, so unterschiedlich sind die Meinungen, die über sie, ihren Wert und ihre Notwendigkeit in Umlauf sind. Im Entstehungsprozess dieses Themenhefts ist die Redaktion auf ein ebenso weit ver- zweigtes wie dichtes Netz solcher Meinungen, Beziehungen und Abhängigkeiten gestoßen – so dicht, dass es einer Doktorarbeit bedürfte, um die spannenden Verbindungen, die Zusammenhänge, aber auch die vielgestaltigen Abhängigkeiten, die in diesem Netzwerk bestehen, deutlich herauszuarbeiten. Gerade letztere scheinen immerhin so stark, dass einige der zugesagten Positionierungen nicht oder in nur stark abgeschwächter Form auf dem Redaktionstisch landeten – aus Furcht vor unliebsamen Resonanzen? Suchen, Finden und Erfinden sind zentrale Eigenschaften, die über die Zukunftsfähig- keit unserer Gesellschaft entscheiden. Noch immer wird – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – gerade dieses Potenzial zur Entwicklung von Kreativität, das sich eng mit der Neuen Musik verbindet, nicht ausreichend wahrgenommen. Freilich stellt sich auch die Frage, ob die Neue Musik die Rolle als Botschafter der Kreativität überhaupt akzeptiert. Das Prinzip l’art pour l’art wird in unserer Verwertungsgesellschaft als Geistes- und Handlungsgrundlage vergangener Tage belächelt. Nützlichkeitsdenken entscheidet heute über Sein oder Nichtsein. Eine Entwicklung, die zwar Freiräume für kreative Prozesse ein- schränkt, in der Folge aber nicht dazu führen darf, sich nicht mehr oder nur halbherzig um gesellschaftliche Akzeptanz zu bemühen. Dieser Zustimmung bedarf nun einmal auch die Szene der Neuen Musik, die sonst schwerlich für sich reklamieren könnte, den Nerv der Zeit zu treffen. Eine Akzeptanz, die man sich gesellschaftlich erwerben muss – und die letztlich, über kreativen Respons, wieder dem Publikum zu Gute kommt. Und all jenen, die mit und von der Neuen Musik leben.

Ihr

Christian Höppner

 MUSIK ORUM 3 INHALT

IM FOKUS: NEUE MUSIK FUNKTION, Neue Musik, Staat und Management 8 ENTWICK- In der Lücke zwischen U und E wächst das Bedürfnis nach Sinngebung und Wahrnehmbarkeit. Frank Schneider mit Skizzen aus der „Szene“. LUNG,VER- „…das Gefühl, gebraucht zu werden“ Komponist Paul-Heinz Dittrich im Interview zur Situation der zeit- 13 MITTLUNG genössischen Musik in Deutschland.

Warum Papa keinen Lachenmann mag „Response“: Bernhard König über einen Klassiker der Musikvermittlung. 16 Der Weg ist das Ziel… Neue Musik an der Schule? Es geht, beweisen Pädagogen in Zeuthen. 18 titelthemen porträt wirtschaft recht

Der Klang im Internet „Es ist blamabel, dass wir Mannheim setzt auf Sabine Breitsameter über neue von unserer Identität nichts Popmusik elektroakustische Räume im Netz wissen wollen“ Susanne Fließ berichtet über Marketing der Netze und die Entwicklung Dirigent Peter Gülke äußert sich zum der innovativen Art: Eine Stadt positio- interaktiver Soundproduktionen. 44 „Orchester als Instrument“, zur Erosion niert sich als Wiege von Trends und in der deutschen Klangkörper-Land- Talenten. 54 Peilton durch Kunst ersetzt schaft und zum Umgang der Gesell- www.imaginary-soundscapes.net – schaft mit ihrer Kultur. 52 Kehrtwende im die Entstehung eines Musikprojekts Urheberrecht? auf der Datenautobahn. 48 Referentenentwurf für die nächste Gesetzesnovelle stellt die Rechte und Interessen von Urhebern nicht mehr in den Vordergrund. 58

 4 MUSIK ORUM fokus

Foto: 104.6 RTL

Neue Musik als Reflexion ihrer Zeit 22 Beiträge Gesellschaftliche Realität in der Experimentierwerkstatt. Von Ulrike Liedtke. Statements zur Lage der Neuen Musik ab 12 Die Vermutung, Kunst könne Menschen bessern Britisches Kulturradio: „Die Deutschen kümmern sich um ihre Musik“ 30 Zwischen Rückblick und Perspektive: Komponist und Musiklehrer 24 Klangerzeugung der experimentellen Georg Katzer stellt Betrachtungen zur Gegenwartsmusik an. Nina Noeske über Katzers „D-Dur-Musikmaschine“. 27 Art: Deutsche Gesellschaft für ektro- akustische Musik als Sammelbecken künstlerischer Grenzgänger 32 Anstoß zur Suche nach wirklich Neuem Martin Christoph Redel zum JMD-Bundeswettbewerb „Komposition“. Get together: Ziele und Projekte der 35 Gesellschaft für Neue Musik 34 Unbequeme Kunst von Kulturfeindlichkeit betroffen Kompositionswettbewerbe in „D“ 37 Gerhard Baum zu Rundfunkpolitik und Neuer Musik. 42 Medien der Neuen Musik 40 bildung.forschung dokumentation Wie kommt das Neue in die Welt? Institut für Kulturelle Innovations- forschung in Hamburg erfasst und fördert Zukunftspotenziale. 56 präsentiert Projekte im deutschen Musikleben: Das McNally Smith College of Music in Lübeck. 62 Weichen gestellt für eine europäische Kultur-Charta Die Berliner Konferenz „Europa eine Seele geben“ verkündete die Absicht, einen Impuls rubriken zu setzen, um Kultur als Teil des politischen Handelns in der Europäischen Union wirk- samer als bisher ins Spiel zu bringen. Für Bundeskanzler Gerhard Schröder ist „plurale

Editorial 3 Vielfalt das Ziel“. 60 S Nachrichten 6 Rezensionen: CDs und Bücher 63 Finale, Impressum 66 MUSIKORUM januar–märz 2005___1

DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRAT

 MUSIK ORUM 5 NACHRICHTEN

Bundespräsident besuchte die Popakademie

Im Rahmen seines Antrittsbesuchs in Baden-Württemberg unternahm Bundes präsident Horst Köhler eine Stippvisite in der Popakademie Baden-Württem- berg (Bild rechts). Nach einem Livemusik-Programm der Studenten und einem Rundgang durch den Neubau der Lehrstätte lobte Köhler bei einem Gespräch mit Mitarbeitern, Do- zenten und Studenten die Bemühungen der jungen Akademie: „Es geht erst einmal die Entwicklung eines europäischen Studi- darum, das kreative Potenzial zu fördern, ums im Rahmen des Leonardo-Programms ˜ Bürokratie abbauen! sich auszuprobieren und dann auf die der EU vorantreibt. In den nächsten zwei- DEUTLICHE ERLEICHTERUNGEN Wirtschaftlichkeit der Popmusik zu set- einhalb Jahren wird unter Projektleitung für Eh- zen.“ der Popakademie Baden-Württemberg ge- renamtliche in steuerlichen und rechtlichen Wichtig sei, die Vernetzung auf euro- meinsam mit elf Partnereinrichtungen in Fragen hat die Bundesvereinigung Deut- päischem Level voranzutreiben. Köhler sechs Europäischen Ländern ein Popmu- scher Musikverbände (BDMV) gefordert. sprach damit ein aktuelles Projekt an, das sikstudium auf ECTS-Basis entwickelt. Mehr als 18000 ehrenamtlich geführte Orchester kämpften täglich mit „nicht mehr durchschaubaren bürokratischen Hürden“. Andererseits seien immer weniger Menschen ˜ Musikhochschulrektoren besorgt um Orchesterlandschaft bereit, sich neben der kulturellen Breitenar- beit auch noch mit den komplexen Fragen MIT GROSSER SORGE reagierte die Rek- sches Signal in einer Zeit sei, in der alle Ver- des Steuer, Haftungs- und Urheberrechts torenkonferenz der deutschen Musikhoch- antwortlichen immer wieder auf die bedenk- oder der Sozialversicherung zu beschäfti- schulen auf die geplante Schließung des liche Entwicklung im Bereich der musikali- gen. Münchener Rundfunkorchesters und die Dis- schen Erziehung und des kulturellen Lebens kussion um die Zusammenlegung des Rund- hinwiesen. Die Rektoren fordern die Verant- funk-Sinfonieorchesters Saarbrücken mit dem wortlichen eindringlich auf, ihre Entschei- wir trauern SWR-Rundfunkorchester Kaiserslautern. dung – besonders vor dem Hintergrund der In einer Presseerklärung betonen die mangelnden Wertschätzung musikalischer Herbert Saß † Rektoren, dass sowohl die komplette Schlie- Grundbildung – zu überdenken und sich ih- ßung eines Orchesters als auch die Zusam- rer Verantwortung für die kulturellen Werte Der langjährige menlegung zweier Orchester ein völlig fal- unseres Landes bewusst zu machen. und erste Gene- ralsekretär des Deutschen Musik- personalia rats, Herbert Saß, ist am 2. Oktober Sir (Bild), Chef- Deutschen Bundestag sprach sich im Alter von 89 dirigent der Berliner Philharmo- Kulturstaatsministerin Christina Jahren verstorben. niker, ist in mit dem Come- Weiss für eine Verankerung von Saß hat das deutsche Musikleben bis nius-Preis ausgezeichnet wor- Kultur als Staatsziel im Grundge- in die späten 70er Jahre maßgeblich den. Er erhielt die Auszeichnung setz aus. Weiss: „Eine Kulturnation mitgeprägt und gehört zu den Ideen- für sein „leidenschaftliches und wie Deutschland kann und darf gebern des Wettbewerbs „Jugend beispielhaftes Engagement, mit es sich nicht leisten, diesen essen- musiziert“. dem er seit Jahren Kinder und tiellen Bereich in ihrer Verfassung Jugendliche mit der Welt der unerwähnt zu lassen.“ Kultur sei Musik vertraut macht“. +++ eine der lebensnotwendigen Wendelin Müller-Blattau † Am 1. Dezember 2004 vollendete Prof. Grundlagen unseres Zusammenlebens. +++ Dr. Reinhold Kreile, GEMA-Vorstands- Der Senat der Freien und Hansestadt Ham- Im Alter von 81 Jahren verstarb am vorsitzender und Präsident der Vereinigung burg hat den Hamburger Musikverleger 1. Juni Prof. Dr. Wendelin Müller- der europäischen Verwertungsgesellschaften Prof. Dr. Hans Wilfred Sikorski mit der Blattau. Einen Namen machte er sich GESAC sein 75. Lebensjahr. Die GEMA Senator-Biermann-Ratjen-Medaille ausge- als Präsident des Saar-Sängerbundes ehrte den Jubilar mit einem festlichen Emp- zeichnet. Damit würdigte die Hansestadt und in verschiedenen Gremien des fang im Kaisersaal der Münchner Residenz. die Verdienste von Sikorski um das Musik- Deutschen Musikrats. +++ Im Rahmen der Haushaltsdebatten im leben in Hamburg.

 6 MUSIK ORUM BuJazzO eröffnete Kultur- wochen in Südafrika

Anlässlich der Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag des freien, demokratischen Südafrikas und dem Ende der Apartheid ging das Bundesjazzorchester (BuJazzO) im Oktober auf seine zweite Konzert- und Begegnungsreise nach Südafrika. Unter der Leitung von Peter Herbolz- heimer eröffnete das Orchester in Wind- hoek, der Hauptstadt Namibias, die vom Auswärtigen Amt initiierten Deutschen Kul- turwochen in Südafrika. Weitere Stationen Academy Benoni, Music Hall in New- Dr. Schaff, Kulturattaché der deutschen der Tournee waren: Kapstadt (Auftritte in town, Hector-Pieterson-Memorial in So- Botschaft in Pretoria gratulierte Peter der Nationalgalerie und in zwei stadtbe- weto) und Pretoria (DaimlerChrysler South- Herbolzheimer zur erfolgreichen Südafrika- kannten Jazzclubs), East London (Auftritte africa Headquarters). Alle Konzerte waren Tournee des Bundesjazzorchesters nach im Mercedes Benz-Werk für die Werksan- mit persönlichen Begegnungen mit jungen einem Konzert am Hektor-Pieterson- Memorial im Johannesburg-Township gehörigen und in einer Schule für die Zu- schwarzen, südafrikanischen Musikern ver- Soweto. lieferer), in Durban (Jazzdepartment der bunden, wobei die gemeinsamen Work- Natal Universität), Johannesburg (Music shops wertvolle Erfahrungen brachten.

Wahl des künstlerischen aus dem musikrat Geschäftsführers fiel auf Torsten Mosgraber Aufbruch zu neuen Ufern wusstsein schafft Ressourcen.“ Anlässlich der Tagung wurden mit der GEMA, der GVL Aufsichtsrat und Gesellschafterversamm- Der Deutsche Musikrat (DMR) hat sich im und dem Bundesverband Deutscher Privat- lung der Projektgesellschaft des Deut- Rahmen seiner zweitägigen Jahrestagung musikschulen e. V. drei neue Mitglieder auf- schen Musikrats haben Torsten Mosgraber im Berliner Abgeordnetenhaus auf ein genommen. Dazu DMR-Präsident Martin als neuen Künstlerischen Geschäftsführer Konzept der strategischen Ausrichtung Maria Krüger: „Es sind bedeutende neue ausgewählt. verständigt. Mitglieder hinzugekommen, die das Ge- Mosgraber, der sein Amt zum 1. Januar Der Vorsitzende der Strategiekommissi- wicht des Deutschen Musikrats weiter ver- angetreten hat, war zuvor u. a. Intendant der on, Generalsekretär Christian Höppner, stärken.“ Dresdner Festspiele und künstlerischer Be- stellte der Mitgliederversammlung das Kon- triebsdirektor des Theatre de la Monnaie in zept der musikpolitischen und inhaltlichen Seminar zu Musikkritik Brüssel. Arbeit vor und benannte DMR-Präsident Martin als Schwerpunkte der Ar- Im Anschluss an ihr Engagement beim Maria Krüger freute sich beit für 2005 die Themen Warschauer Herbst haben der Deutsche über die Entscheidung: Kulturelle Identität und in- Musikrat gGmbH und die Ernst-von-Sie- „Damit ist die Neustruktu- terkultureller Dialog und mens-Musikstiftung zur Förderung der rierung des Deutschen Mu- Musikvermittlung. bilateralen Kulturbeziehungen zwischen sikrats abgeschlossen. Un- „Ob Quotendiskussion, Deutschland und Polen das Projekt ser Land braucht einen die drohende Erosion bei „Musikjournalist“ ins Leben gerufen. starken Musikrat als Dach- den Rundfunkklangkör- Es ermöglicht vier jungen ausgewählten verband des deutschen pern, die Entflechtungsde- polnischen Musikwissenschaftlern, Praktika Musiklebens, der bei der batte oder die Situation in Kulturredaktionen namhafter polnischer Bewältigung der gesell- der musikalischen Bildung und deutscher Zeitungen zu absolvieren. schaftlichen Herausforde- in Schule und Musikschu- Damit verfolgen die Institutionen das Ziel, rungen aktiv mitwirken le“, so Höppner, „überall hoch qualifizierte, mehrsprachige Musik- kann. Wir sind überzeugt, ist der Deutsche Musikrat journalisten heranzubilden und kulturpoliti- dass Torsten Mosgraber un- als gesellschaftliche Kraft schen Nationalismus und Partikularismus zu seren Projekten, die hierzu gefragt. Wir müssen, stär- überwinden. Die erste Arbeitsphase der Sti- einen entscheidenden Bei- ker als bisher, das Bewusst- pendiaten begann Anfang November in trag leisten, wichtige Impul- sein für den Wert der Kre- Bonn mit einem Seminar zu den Themen se geben wird.“ Torsten Mosgraber ativität schärfen. Denn Be- „Musikkritik und Öffentlichkeitsarbeit“.

 MUSIK ORUM 7 FOKUS

Eine Skizze aus der Szene zeitgenössischer Klänge. Von Frank Schneider Neue Musik, STAAT UND MANAGEMENT

n aller Welt wird den Deutschen ein besonders inniges Verhältnis zur Treffpunkt ihrer Protagonisten und Adepten I Musik, ein tiefes Verständnis für sie nachgesagt und als besonders Geschichte gemacht haben. liebenswerte Eigenschaft gerühmt. Nicht zuletzt die jahrhundertelange Vernachlässigt man die seit 1922 jährlich stattfindenden Musikfeste der Internationa- politische Zersplitterung in unzählige Kleinstaaten hatte den musikalischen len Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) und Vorzug einer dezentralen und flächendeckenden Musikpflege, weil bei- mit ihnen eine seit den 20er Jahren grassie- nahe jeder Landesherr mit Opernhäusern, Orchestern und berühmten rende, regelmäßige Festivalbewegung auf re- Musikern glänzen wollte, um durch Kunstsinn seine Unabhängigkeit, gionaler und lokaler Ebene, so wurden nach Machtfülle und Konkurrenzfähigkeit zu demonstrieren. dem Krieg für die Bundesrepublik, neben Donaueschingen, vor allem die Internationalen Ferienkurse in Darmstadt zu einem signifi- Diese mäzenatische Rolle des Adels wur- Erinnert sei hier (abgesehen von den ins 19. kanten Dauerereignis der jüngeren Musikge- de seit dem 19. Jahrhundert weitgehend vom Jahrhundert zurückreichenden, jährlichen schichte. Denn hier bündelten sich kreative Bürgertum übernommen und als Kultur- Musikfesten des Allgemeinen Deutschen Energien, die international unter dem proble- pflicht des Staates – durch Subventionen der Musikvereins) an die vom Fürsten Max Egon matischen Begriff einer so genannten Darm- öffentlichen Hand in der Verantwortung der zu Fürstenberg seit 1921 geförderten Donau- städter Schule die vielfältigen Entwicklun- Kommunen und Bundesländer – bis heute eschinger Kammermusiktage, die ihre Fortset- gen avancierter Musik so unmittelbar wie erhalten. Auch Neue Musik, die in aller Welt zung 1927 bis 1929 in Baden-Baden und nachhaltig beeinflussten. Dies getragen von nicht von vornherein begrüßt und geliebt ihr vorläufiges Ende 1930 in Berlin fanden. der organisatorischen, dokumentarischen, wird, findet in Deutschland ein noch immer Nach kurzen Intermezzi 1934 „unter vor- wissenschaftlichen und publizistischen Ar- opulentes und differenziertes Netzwerk von wiegend nationalistischen“ und 1946/47 beit des Internationalen Musikinstituts Darm- institutionellen Strukturen vor, in das sie sich „unter vorwiegend provinziellen Gesichts- stadt (seit 1948) in der unvergleichlichen integrieren kann. punkten“ (Ulrich Dibelius) begannen dann Kombination von kompositorischem Expe- Seit dem 19. Jahrhundert hat sich – von 1950 in Zusammenarbeit mit dem Süd- riment, theoretischem Diskurs und auffüh- Deutschland aus – die Idee der musikali- westfunk jene bis heute ununterbrochen rungspraktischem Training. schen Festspiele über die Welt verbreitet. Sie stattfindenden Oktober-Tage der Neuen Mu- Weitere wichtige Förderinitiativen lassen waren und sind oftmals besonders attraktive sik, die als auch international wichtigster Ort sich auflisten, so – im Gebiet der alten Bun- Gelegenheiten zur Förderung Neuer Musik. für Uraufführungen der Avantgarde und desrepublik – die vielen Konzertreihen der Rundfunkanstalten und großen Städte (etwa der Studios für elektronische Musik in Köln und München, die vom Westdeutschen Informationszentrum der zeitgenössischen Rundfunk veranstalteten Wittener Tage für Musik: Das Internationale Musikinstitut neue Kammermusik, die Musica viva-Reihe, Darmstadt (IMD) beherbergt mit die Biennale für experimentelles Musiktheater über 30 000 Partituren eine in München, das neue werk in Hamburg und der weltweit umfangreichs- ten Notensammlungen zur Musik der Zeit in Köln) oder – für die DDR Neuen Musik. Konzeptio- – die Musikfeste in den Bezirken und in der nell wie organisatorisch ist Hauptstadt mit dem rigide konzipierten das IMD verantwortlich für Wechsel von Musik-Biennalen und DDR- die seit 1946 in Darmstadt Musiktagen. Demgegenüber könnte die stattfindenden „Interna- Dresdner Gründung eines Instituts für zeit- tionalen Ferienkurse“. genössische Musik im Jahr 1987 – wie manch andere Gründung seither – als verspäteter

 8 MUSIK ORUM International wichtigster Ort für Uraufführungen: die Musiktage in Donau- eschingen. Im Bild: das SWR Vokalensemble unter Leitung von Hans Zender Foto: SWR/Zoch bei der Aufführung des Stücks Triptychon von Rebecca Saunders.

und kaum noch gravierender Akt eines lo- dass das deutsche Musikleben nicht in mu- kalen Patriotismus gelten, der im nunmehr sealem Glanz erstarrt, sondern den kreati- sehr dicht geknüpften Netz lediglich eine ven Impulsen aus aller Welt genügend Fo- Lücke gestopft haben wollte: die Lücke des Das „klassische“ ren bietet, um den alten Ruf vom Musikland schlechten Gewissens einer europäischen Publikum beharrt auf Deutschland immer wieder erneuern und Kunststadt ohne institutionelles Bekenntnis der Neuen Musik genügend Zukunftschan- zu Neuer Musik. Die Tage der zeitgenössi- der Reproduktion des cen bieten zu können. schen Musik finden in Dresden immer noch Die existenziellen Probleme der Neuen statt – wie andernorts unter teils bedrängen- Bekannten und zeigt Musik rühren auch heute nicht in erster Li- den Finanzierungsproblemen. nie vom mehr oder weniger großzügig aus- Zurzeit gehören neben Darmstadt, Donau- kaum Neugier auf geprägten Engagement des Staates, der Län- eschingen und Witten die Berliner März- der oder Gemeinden und ihrer Förderpoli- Musik im Rahmen der bundesfinanzierten klanglich Neues tik her. Doch wird die Präsenz der Neuen Festspiele und das gemeinsam vom Deutsch- Musik im öffentlichen Raum labil und fragil, landRadio und dem heutigen RBB veranstal- wenn sie als Sondersparte ohne massenhaf- tete UltraSchall-Festival, die Kölner Musik- te Publikumsgunst und ohne nennenswerte Triennale, die Tage der neuen Musik in Han- torischer Virtuosität gehört. Insgesamt sind Lobbys an den Rand der sinnlichen Wahr- nover, die Stuttgarter Tage für neue Musik, 88 Ensembles für zeitgenössische Musik re- nehmung und des ästhetischen Diskurses die Tage Neuer Musik in Weimar und die gistriert, darunter so hervorragende Grup- gedrängt wird. Würzburger Tage der Neuen Musik zu den pen wie das „Boris-Blacher-Ensemble“ und Dies gilt insbesondere im Fall von Etat- wichtigen Treffpunkten der Szene und ihrer das „Kammerensemble Neue Musik“ aus kürzungen der öffentlichen Hand bei den Beobachter. Berlin, das Dresdner „Musica-viva-Ensem- reproduzierenden Institutionen und der da- Der Fülle der Veranstaltungen entspricht ble", die „musikFabrik NRW“, das „ensemble mit verbundenen Orientierung der künstle- eine Vielzahl von Ensembles für Neue Mu- recherche“ aus Freiburg/Br., das „trio basso“ rischen Entscheidungsträger auf konservati- sik, unter denen das 1980 gegründete, in aus Köln, das „Ensemble Avantgarde“ aus ve Bedürfnisbefriedigung und sichere Ein- Frankfurt/Main ansässige „Ensemble Mo- Leipzig, das Münchner „Ensemble für expe- nahmeerfolge. Ihre fortgesetzte Marginalisie- dern“ (mit festen Zuschüssen aus öffentli- rimentelle Musik“ oder das „Ensemble für rung ist dabei nur das Vorzeichen von pre- chen Mitteln nur unzureichend finanziert) Intuitive Musik“ aus Weimar. Ihre Initiativen kären Tendenzen bei allen gesellschaftlichen zur internationalen Spitzenklasse interpreta- und Aktivitäten tragen erheblich dazu bei, Gruppen, die am reproduktiven Akt des

 MUSIK ORUM 9 FOKUS

Musizierens beteiligt sind und die mitt- tureller Schwierigkeiten durch praktische chenden Orchester und Einrichtungen ja lerweile die Klassik-Szene insgesamt betref- Maßnahmen entgegenzuwirken. Es gilt, Subs- auch zur Verfügung stehen. Aber umso fen. tanz zu erhalten und – unter kulturpolitisch dringlicher ist die Spitze mit einer gehörigen Man muss – auf das heutige Konzertleben und rezeptiv schwierigen Voraussetzungen Breite und Tiefe des Angebots auszubalan- schauend – kein Prophet sein, um pessimis- – dennoch Angebote für gesellschaftlich not- cieren – als unverzichtbare Pflicht zur gleich- tisch zu werden, nimmt man doch die Symp- wendige, wenn sich auch wandelnde Be- sam demokratischen Rück-Sicht auf den tome einer Krise schon zum gegenwärtigen dürfnisse zu machen, von deren Notwen- Reichtum und die Vielfalt der geschichtlich Zeitpunkt aufgrund alltäglicher Beobachtun- digkeit und Richtigkeit man noch überzeugt produzierten Musik sowie zur Vor-Sicht ge- gen wahr. Das Publikum für klassische Mu- ist. Angebote, für die sich ein qualifiziertes genüber dem aktuellen kompositorischen sik wird nicht nur immer älter, sondern auch Minderheitenpublikum – es war nie anders Angebot, auch wenn dafür nur ein manifes- träger in seinen Bedürfnissen: Es beharrt auf – weiterhin gewinnen lässt. tes Interesse von Minderheiten aus Minder- der Reproduktion des Bekannten, neigt zur heiten festzustellen ist. Verführbarkeit durch glamouröse Sonder- Verantwortlichkeit für einen Es ist weniger notwendig, die längst durch- Events und zeigt kaum Neugier auf klang- Bildungsauftrag beimischen gesetzten Selbstläufer – das relativ kleine, lich substanziell Neues. Es darf bezweifelt aber hochbegehrte Segment der so genann- werden, ob die Musik des 20. Jahrhunderts Auch für das musikalische Angebot gilt ten klassischen Meisterwerke – mit öffentli- gleichberechtigt dem klassischen Kanon zu (nach Luther und Brecht), dass man zwar chen Mitteln zu stützen. Vielmehr verdient integrieren sein wird. Elternhäuser und Schu- dem „Volk aufs Maul schauen“, ihm aber gefördert und beachtet zu werden, was len versagen weithin bei den notwendigen nicht „nach dem Munde reden“ soll. Zwar durch die robusten Mechanismen des Mu- erzieherischen Ansätzen. Mit der Folge, dass wird es unvermeidlich sein, sich im Angebot sikbetriebs im engen Zusammenspiel mit sich die Jugend – zumeist im Banne modi- dem Geschmackswandel und sinkenden ästhe- den regressiven Neigungen der Ohren allzu scher Pop-Kultur – auf einen völlig anders- tischen Bildungsniveau anzupassen. Doch schnell verdrängt und vergessen wird: Das gearteten ästhetischen Trip begibt und für muss dem wachsenden Anspruch auf unan- Wissen um das riesige kreative Potenzial der die klassische oder gar die Neue Musik nur gestrengte Zerstreuung auf intelligente und Vergangenheit bis zum heutigen Tag sollte noch schwer zu gewinnen ist. sinnlich frappierende Weise ein Ferment der lebendig bleiben, die Neugier auf historisch Den traditionellen Orchestern, zur tarif- Verantwortlichkeit für einen gewissen Bil- wie aktuell Unbekanntes muss geweckt wer- vertraglichen Bequemlichkeit verführt, dungsauftrag beigemischt bleiben. Schließ- den – auch wenn dies nicht sogleich mehr- schrumpft das Repertoire durch Spezialen- lich haben wir präsent zu halten, was man heitsfähig ist und zu partiellen Aggressionen sembles. Von der qualitativen Konkurrenz einerseits als das Vermächtnis der Toten aus des Publikums führen kann. durch medial vermittelte Interpretationsstan- einer tausendjährigen europäischen Musik- Selbstverständlich muss beispielsweise je- dards und deren universelle, immer mühe- geschichte, andererseits als Anspruch kom- des Orchester zunächst seinem Publikum losere und vergleichsweise billige Zugäng- ponierender Zeitgenossen auf Verbreitung mit dem immer gleichen und stets wieder lichkeit gar nicht zu reden. Und dort, wo ein ihrer Produktion gerade durch öffentlich sub- begehrten Kanon der Meisterwerke willfah- Publikumsschwund sich abzeichnet, reagiert ventionierte Institutionen bezeichnen kann. ren. Aber jenseits des Kernrepertoires gibt die Politik sofort mit Schließung oder Fusio- Politik muss dann aktiv steuernd eingreifen, es für die Orchester ein weites und – wenn nierung von Einrichtungen, sodass generell wenn sich – wie seit längerem – die Gefahr man will – spezifisches Feld von möglichen eine Minderung und Veränderung des tradi- abzeichnet, dass mit großem materiellen Auf- Entdeckungen und Revivals oder des Enga- tionellen Konzertangebots zu erwarten ist. wand einseitig das Bedürfnis nach repräsen- gements für die zeitgenössische Musik. Hier Die Aufgabe der Produzenten von Mu- tativer Hochglanz-Verpackungskultur befrie- kann und muss neben der interpretatori- sik besteht normalerweise nicht darin, die digt wird. schen Stilistik und der Handschrift von Diri- „Teufelchen“ einer Musikkrise an die Wand Natürlich wird die Gesellschaft solcher genten im Bereich der Programmgestaltung zu malen (obwohl sie schon gehörig zwi- qualitativ hochkarätiger Spitzen-Events auch das individuelle Profil eines Orchesters ge- cken), sondern ihnen trotz wachsender struk- in Zukunft bedürfen, wofür die entspre- schärft werden.

Sorgt dafür, dass das deutsche Musikleben nicht in musealem Glanz erstarrt: das Leipziger „Ensemble Avantgarde“

 10 MUSIK ORUM Angebote für ein qualifiziertes Minderheitenpublikum sind wichtiger denn je: das Ensemble „musikFabrik NRW“. Foto: Rudolph

Diese Profilierung weiter zu betreiben, werden, die das Verstehen auch fremder – großen und langen kalten Kriegs zwischen sich durch Schwerpunkte unverwechselbar also namentlich Neuer Musik – erleichtern, West und Ost. In Europa ging die Frontlinie und attraktiv zu machen, scheint – gerade möchte man gern an bisher ungeweckte mitten durch Deutschland, wobei diese Front im Fall von auf engem Raum konkurrieren- Bedürfnisse glauben. Wenn die Programm- 1989 endgültig zusammenbrach, weil nicht den Ensembles – unvermeidlich und nütz- inhalte, Rahmenbedingungen, Serviceleis- zuletzt ein Grundwiderspruch seine Lösung lich zu sein, um politischer Ranküne vorzu- tungen und Kontaktformen für potenzielle erzwang: „Westwärts schweift der Blick, beugen. Freilich muss auch die Arbeit mit Hörer flexibilisiert werden, sind schlummern- ostwärts treibt das Schiff“ singt schon – ganz dem Publikum auf eine völlig neue, profes- de Interessen sicher zu wecken. Die Mög- unpolitisch – der Steuermann zu Beginn von sionelle, Barrieren beseitigende und Interes- lichkeiten, Publikum für klassische und Neue Wagners Tristan. Auch die Entwicklung der se weckende Art und Weise organisiert wer- Musik zu binden, muss man nicht für ausge- Neuen Musik und das Denken der Musiker den, wofür den Einrichtungen zurzeit aller- schöpft halten. Eher schon die Berechenbar- war von einem Grundwiderspruch der bei- dings meist die Mittel und das geschulte Per- keit der Politik, die manches auch in Zu- den Systeme geprägt: von einer populisti- sonal fehlen. kunft tun wird, um die künstlerische Szene schen Doktrin der musikalischen Effizienz Große Orchester und Konzerthäuser in Katastrophen zu stürzen – vermutlich eher im Osten und von Ideen einer zweckfreien, müssen durchaus für interpretatorische Ex- und heftiger als es jene generellen Umbrü- autonomen Avantgarde in der westlichen klusivität sorgen, weil von daher heute der che im Bedürfnisspektrum und Zuwendungs- Welt, die sich gegenseitig ausschlossen, sich Magnetismus auf das Publikum wirkt. Aber verhalten gegenüber entwickelter Musik ver- langwierig bekämpften, aber schließlich vor sie sollten daneben auch die vermeintlich mögen, die unsere Zeit über kurz oder lang den komplexen Realitäten kapitulieren muss- schwächeren Aspekte des Kulturbetriebs zu auch noch bereithalten kann. ten. Und die Fragestellungen nach Avantgarde ihrer unverzichtbaren Stärke machen. Die contra Popularität sind als Fortschrittskrite- Manager sollten einer nicht alltäglichen und rien ebenfalls längst Teil der Geschichte. exquisiten Programmvielfalt den Vorzug vor Es wächst ein Bedürfnis Das Komponieren heute weist, gemes- einem glanzvollen Mainstream geben, dem sen an den Postulaten vor einem halben Hegels geschichtsnotorische Furie des Ver- nach Sinngebung und Jahrhundert, vielleicht Züge von Regression, schwindens regelmäßig auf dem Fuße folgt. maßstabloser Pluralität und Orientierungs- Und sie sollten darauf hoffen, trotz derzeit Wahrnehmbarkeit in schwäche auf. Gleichzeitig wächst aber ein stagnierenden Zuspruchs des Publikums, dass praktisches Bedürfnis nach neuer sozialer sich diese Strategie im doppelten Sinne aus- den Lücken zwischen Sinngebung und Wahrnehmbarkeit in den zahlt: als Gewinn für ein weiterhin musik- zunehmend schmal gewordenen Lücken interessiertes, sich verjüngendes Publikum Unterhaltungsdelirium zwischen Unterhaltungsdelirium und Klas- und als politischer Wille, solchen Zuwachs sikrausch. So ist heute eben kaum verbind- an ästhetischem Kapital mit den dafür leider und Klassikrausch lich zu sagen, wer kompositorisch musikali- unverzichtbaren monetären Zuwendungen schen Fortschritt verbürgt, wo er zu suchen auch zukünftig zu ermöglichen. und wie er zu bestimmen ist. Elite-Avantgar- Trotz theoretischer Skepsis dürfte für die Den wichtigsten Beitrag zu ihrer Integra- dismus und Populär-Realismus als konzep- nächste Zukunft gleichwohl noch ein wenig tion in funktionierende Strukturen scheinen tive Alternativen musikalischer Weltverän- praktischer Optimismus Platz greifen. Immer- die Neue Musik und ihre internationale Sze- derung haben ihre alte Autorität längst ein- hin besitzt das originäre Konzerterlebnis – ne derzeit selbst zu betreiben, indem sie sich gebüßt und Alleinvertretungsansprüche preis- auch wenn es mit schwindender Sachkom- von den jahrzehntelang gepflegten Paradig- geben müssen. Wenn aber nicht kopflos Mit- petenz einhergeht – noch hinreichend An- men einer splendid isolation löst und neue telmäßigkeit und Allbeliebigkeit das Erbe an- ziehungskraft und eine einzigartige Aura der produktive Verhältnisse anstrebt – sowohl treten und in Zukunft allein noch das quod- erstaunlichen Vergnügung, namentlich im im Hinblick auf die Traditionen elitärer und libethaft Neue in der Musik bestimmen sol- historisch-festlichen Ambiente. Was durch populärer Klangwelten als auch in Rücksicht len, dann müsste schließlich eine orientie- alternative, moderne Aneignungsweisen wie auf die sich verändernden Bedürfnisse ihrer rende, soziologisch-politisch fundierte Theo- Radio, Fernsehen, CD, CD-ROM oder gar Adressaten. rie wieder gefragt sein, die den sachlichen Internet nicht zu ersetzen ist. Wenn neue, Resümierend war die deutsche Musikge- Gegebenheiten gegenüber nicht abstrakt offenere, entritualisierte Konzertformen und schichte seit dem Ende des Zweiten Welt- bleibt und nicht vor lauter post-moderner begleitende Veranstaltungen entwickelt kriegs eingebettet in die Geschichte eines Breite und Vielfalt abdankt. Wie immer sie

 MUSIK ORUM 11 FOKUS

zu denken wäre oder zu funktionieren hät- te: Der kritischen Erinnerung und vorurteils- freien Bilanz von Erfahrungen – besonders der problematischen in Vergangenheit und Gegenwart – dürfte sie sich nicht entziehen. Dann könnte deutlicher als schon jetzt her- Susanne Stelzenbach und Ralf Hoyer, vortreten, dass beide Lager, die sich damals Komponisten und Klangkünstler in Berlin: feindlich gegenüberstanden, in der alten, stark politisch determinierten Kontroverse um musikalischen Fortschritt Vorwärtswei- »Verpackung oft wichtiger als der Inhalt« sendes und Rückschrittliches, Gewinne und Verluste posthum zu bedenken haben wür- Die einschneidenden Veränderungen Unabhängig davon, was einen Besu- den. im allgemeinen kulturellen Umfeld sind cher veranlasst, in ein Konzert mit Neuer Wenn jedoch heute, als schnelles Fazit, unmittelbar spürbar, wenn man als freier Musik zu gehen, wäre es wichtig, dass er für Fortschritt gehalten wird, was ein biss- Komponist und Klangkünstler ohne jeg- am Ende das Gefühl hat, etwas gewon- chen Avantgarde mit ein bisschen Populari- liche institutionelle Anbindung arbeitet. nen – und nicht nur das Eintrittsgeld tät vermengt, dann kann das gewiss nicht Viele kulturelle Einrichtungen verschwin- verloren zu haben. Die Zahl derer, die alles sein, was wir zukünftig brauchen. Denn den bzw. kämpfen ums Überleben, für sich für Neues interessieren ließen, ist so etwas gab es immer schon und besonders künstlerische Projekte stehen immer sicher größer als die, die gegenwärtig zwischen den extremen Orientierungen in weniger finanzielle Mittel zur Verfügung. erreicht wird. Um Zuhörer zu gewinnen, der Neuen Musik des vergangenen Jahrhun- Umbruch bedeutet in vielen Fällen Ab- sollte deshalb nicht nur mehr, sondern derts! Schönberg nannte es kurz und bündig bruch ohne neuen Aufbruch, Kontinuität auch etwas anderes getan werden. und immer noch treffend den „Segen der als Voraussetzung nachhaltiger künstleri- Vielleicht sollte man sich mehr darauf Sauce“. Wie aber nun gutes Fleisch wächst, scher Arbeit wird damit fast unmöglich. besinnen, was Musik eigentlich bedeu- das weiß wohl Theorie derzeit vorgreifend Diese Situation erzeugt erheblichen tet, was sie kann, was sie für einen Wert nicht zu sagen. Erfolgsdruck und die Versuchung liegt darstellt – nicht nur im Sinne der Kennt- Umso sicherer kann sie jedoch davon nahe, mit äußerlichem Aufwand die nis eines klassischen Motivs, mit dem ausgehen, dass auch in Zukunft das Kom- Wichtigkeit eines Projekts, wenn es denn man Bildung zur Schau stellen kann, ponieren in einem weiten und differenzier- zustande kommt, bei den Geldgebern sondern als eine sinnlich wirkende, flüch- ten Sinne politisch geprägt bleibt – soweit es und kulturpolitisch Verantwortlichen zu tige und doch direkt ansprechende sich als Teil öffentlicher Angelegenheiten suggerieren. Erfahrung. kundgibt und ziemlich unabhängig davon, Oft wird so die Verpackung wichtiger Wir sehen uns hier als Künstler in der ob staatliche Obrigkeiten ihm freundlich oder als der Inhalt, damit verschieben sich Pflicht, durch Kreativität und Authentizi- feindlich gesinnt sind. auch die Proportionen der finanziellen tät zu überzeugen. Dabei sind wir immer Aufwendungen innerhalb eines Projekts wieder auf bereitwillige und kompetente entsprechend. Es ist auch zu fragen, ob Partner angewiesen, da sonst nicht die die Neue Musik gut beraten ist, wenn künstlerische Arbeit, sondern die Organi- Der Autor: sie sich von „Marketing-Profis“ zu einem sation und das Rennen nach potenziellen Prof. Dr. Frank Schneider absolvierte exotischen Zweig der Spaßkultur umfunk- Geldgebern die meiste Zeit in Anspruch ein Kapellmeister-Studium in Dresden tionieren lässt. Sicher müssen Konzerte nimmt. Denn nur mit solchen Partnern und studierte Musikwissenschaften an und Festivals professionell organisiert ist es möglich, eine individuelle künstle- der Berliner Humboldt-Universität, wo werden, doch es geht ja nicht darum, rische Position zu entwickeln, zu ver- er auch promovierte. Nach einer Tätig- eine faule Ware schmackhaft zu machen, öffentlichen und zu behaupten. Durch keit als Dramaturg an der Komischen sondern Kunst als Ergebnis spielerischer die Vielzahl solcher individueller Oper war er ab 1980 Wissenschaftli- Erfindung und kritischen Diskurses zu künstlerischer Positionen schließlich cher Mitarbeiter am Institut für Ästhe- präsentieren. kann eine lebendige, sich ständig tik und Kunstwissenschaften der Aka- wandelnde und interessante Musikland- demie der Wissenschaften der DDR in schaft bestehen. Berlin. Seit 1992 ist er Intendant des Konzerthauses Berlin und des Berliner Sinfonie-Orchesters. Susanne Stelzenbach und Ralf Hoyer arbeiten als freie Komponisten und Klangkünstler in Berlin und sind in der jüngsten Zeit vor allem mit Konzert- und Klanginstallationen sowie Musiktheater- projekten hervorgetreten. Sie sind Initia- toren und künstlerische Leiter des ensemble „pianoplus“ und der „Pyrami- dale“ in Berlin-Hellersdorf. www.hoyerstelzenbach.de

 12 MUSIK ORUM Paul-Heinz Dittrich:

»DER KOMPONIST MUSS DAS GEFÜHL HABEN, gebraucht

ZU WERDEN UND NICHT ALS BETTLER DAZUSTEHEN«

Hand aufs Herz: Neue Musik wird heute in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Selbst im klassischen Konzertbetrieb spielt sie nur eine marginale Rolle. Komponist Paul-Heinz Dittrich äußert sich im Gespräch zur Situation in Deutschland

eue Musik findet statt in Befriedigt Sie die Situation der Neuen kommt der Komponist aus dem Kreis, den Netablierten anerkannten Musik in Deutschland? er sich dort geschaffen hat, kaum heraus – Zentren und Festivals wie Darm- Paul-Heinz Dittrich: Ganz klar: nein! und das ist verderblich für sein Schaffen. Dass sich die zeitgenössische Musik in Ich weiß, es ist eine Geldfrage. Und da stadt, Donaueschingen, Stuttgart, Deutschland – und international ist das ist der nächste Widerspruch: Die immer Berlin, Dresden. Als „Event“ ver- ähnlich – auf wenige Zentren konzentriert, geringer ausfallenden Fördersummen wer- marktete, oft mit großem Aufwand ist unbefriedigend, weil viele Initiativen den in immer mehr kleine Positionen zer- auf höchstem künstlerischen und Kompositionen überhaupt nicht mehr splittert – und jedes dieser kleinen Projekte Niveau produzierte Aufführungen, wahrgenommen werden und es für junge braucht das Geld natürlich zum Überleben. wie etwa die von Stockhausens Komponisten außerordentlich schwierig ist, So bleibt nur für ganz wenige die Chance, im großen Festival Fuß zu fassen. Jeder eine große Aufgabenstellung zu realisieren. Licht-Zyklus oder Lachenmanns Komponist braucht aber Öffentlichkeit. Mädchen mit den Schwefelhölzern, Das, was er zu sagen, anderen mitzuteilen Die Frage, was „musikalischer Fort- bringen ausverkaufte Häuser. hat, ist für ihn außerordentlich wichtig, schritt“ sei, stellt heute kaum noch jemand. weil er natürlich ein Feedback haben muss, Es gibt einen Pluralismus unterschiedlichster Jüngere Komponisten und Interpreten um sich zu finden und weiter seinen Weg kompositorischer und ästhetischer Orientie- schaffen sich mit kleineren, experimentell zu suchen. rungen. Sehen Sie darin mehr Unverbindlich- ausgerichteten Festivals und Künstlerinitiati- Die Möglichkeiten der kleinen Zentren keit, die in Beliebigkeit mündet, oder wirkliche ven, wie etwa der „Kryptonale“ in Berlin oder sind überhaupt nicht zu vergleichen mit schöpferische Vielfalt? Was sollte Neue Musik den „Randspielen“ in Zepernick, gemeinsam denen der großen. Was dort, in diesen Ihrer Meinung nach leisten? eine Plattform für Öffentlichkeit. Doch hängt kleinen Zentren, geschieht – der Name Dittrich: Was ist musikalischer Fort- ihre Existenz in der Regel von kleinsten För- „Randspiele“ sagt es ja schon –, wer nimmt schritt? Das ist eine der zentralen Fragen dersummen ab. das heute noch wahr? Die Öffentlichkeit und nicht ganz einfach zu definieren. Der Über diese „Schieflage“ unterhielt sich Bri- dort sind meist Freunde und Bekannte. Pluralismus der gegenwärtigen Postmoder- gitte Kruse mit Komponist und Hochschul- Rundfunkstationen sind nicht mehr vertre- ne ist für mich eine schwer vorstellbare lehrer Paul-Heinz Dittrich. ten, die Musikkritik kaum präsent. Oft Masse, eine Lawine kompositorisch-ästhe-

 MUSIK ORUM 13 FOKUS

Der Komponist muss das Gefühl haben, mit meinem geistigen Rüstzeug. Es ist ein dass er gebraucht wird, dass man von ihm Ausschluss von bestimmten Dingen, die etwas will und nicht, dass er als Bettler da- mir nicht wichtig erscheinen, es ist eine Aus- steht. Und nur, wenn man ihn mit neuen lese. Unabdingbar ist für mich – und hier Dingen beauftragt, wird er sich in ästheti- ist mein Denken dem meines Freundes scher Hinsicht bewegen und andere Wege eng verbunden – der gesell- suchen. Und da sind wir wieder bei der schaftliche Zeitbezug , den der Komponist Notwendigkeit einer Förderung und der niemals zu vergessen hat und niemals ver- leidigen Geldfrage. Aber anders kann es in gessen darf. der Kunst nicht sein. Sie haben lange Jahre als Professor In einem früheren Interview haben für Komposition an der Hochschule für Musik Sie die Notwendigkeit betont, über den geis- „“ gearbeitet, haben das Branden- tigen Anspruch, die geistige Haltung des Kom- burgische Colloquium für Neue Musik ins ponisten zu sprechen. Ist das für Sie noch Leben gerufen und dort jungen Komponisten, immer ein wichtiges Kriterium des Komponie- vor allem aus Osteuropa, ein Arbeitsforum rens? Finden Sie es in aktuellen kompositori- gegeben. Wie schätzen Sie die Entwicklung schen Strömungen wieder? Und: Gibt es das und die Arbeitsmöglichkeiten der jüngeren Bedürfnis bzw. ausreichende Möglichkeiten, Generation heute ein? tischer Orientierungen, die auf uns zurollt sich über ästhetische Fragen aktueller Entwick- Dittrich: Über das Brandenburgische und sehr viel Unverbindlichkeit in sich birgt. lungstendenzen der Neuen Musik, der Künste Colloquium für Neue Musik in Rheinsberg Das hängt aber auch mit der ersten überhaupt, zu verständigen? haben wir nach der Wende Leute erreicht, Frage zusammen: Wenn dem Komponisten nicht Alternativen mit größeren Aufgaben- bereichen gestellt werden, dann kann es sein, dass er sich in solch einem Pluralismus »Auf das Wort anpassen reagierte ich verliert und nach einer kompositorisch- ästhetischen Orientierung gar nicht mehr fragt. Nur um etwas Geld zu verdienen, wie ein Stier auf das rote Tuch« macht er eben dieses und jenes. (Paul-Heinz Dittrich nach der Wende 1989) Bei mir selbst kann ich zurzeit gerade den umgekehrten Prozess konstatieren. Neben meiner Arbeit als Hochschullehrer Dittrich: Das ist für mich – und ich die in der Vergangenheit nicht die Mög- hatte ich immer Aufträge. Ich habe darin denke: nicht nur für mich – eine sehr wich- lichkeit hatten, sich mit der Entwicklung auch meine Aufgabe gesehen, sie zu erfül- tige Frage. Der Komponist sollte sich über der westeuropäischen Musik nach 1945 len. Und ich glaube, gerade im Bereich der die ästhetischen Fragen und die Entwick- auseinander zu setzen. Das war eine sehr Kammermusik habe ich eine ziemliche Viel- lungstendenzen in der Musik bewusst sein, aufregende und sehr produktive Zeit. Dass falt geschaffen. Was mich auch immer sehr er sollte sie kennen, aus diesen Dingen das aus finanziellen Gründen nicht weiter- befriedigt hat. Jetzt bin ich aus Altersgründen heraus seinen eigenen geistigen Horizont gegangen ist, habe ich sehr bedauert. Mein nicht mehr Hochschullehrer und auch die abstecken und sich klar werden, was er will Augenmerk damals richtete sich speziell Frage der Auftragserteilung spielt für mich und was er nicht will. Es gibt leider schreck- nach Osteuropa, weil ich wusste, dass dort keine Rolle mehr. Weil mir niemand mehr liche Beispiele für manieristisches Kompo- in den vergangenen Jahrzehnten nichts einen Auftrag erteilt und ich auch nicht niergehabe bei jungen Leuten, weil sie Neues passiert ist. Auch gegenwärtig liegt mehr jede Aufgabenstellung erfüllen möchte. irgendwelchen Dingen nachrennen, die viel- in Moskau, St. Petersburg und anderswo Ich stelle mir meine Aufträge selbst. leicht up to date sind, aber nicht Bestand noch vieles im Argen, weil die alten Lehrer Und ich merke Tag für Tag, wie schwer haben. Ich habe das in früheren Interviews immer noch an den Hochschulen unter- es ist, abseits vom Trend Neue Musik zu gesagt, dass die Notwendigkeit für einen richten. Noch heute bekomme ich viele produzieren, namentlich, wenn es um grö- geistigen Anspruch heute ebenso besteht Briefe und Statements von jungen Kompo- ßere Arbeiten geht, die einen langen Atem wie damals. Und die geistige Haltung des nisten wie Olga Rajeva aus Moskau und verlangen. Arbeiten, die – und das ist die Komponisten ist für mich eine ganz wich- Anton Safronov, in denen sie betonen, wie Kehrseite der Medaille – niemand eigent- tige Ausgangsposition. Das hat nichts mit wichtig diese erste Anregung in der neuen lich verlangt. Du hast dann zwar keinen Heute und mit Übermorgen zu tun, das ist Zeit für sie war, um weiter zu arbeiten. Auftrag, du schreibst aber etwas nach dem immer aktuell. Die Schulen und Hochschulen können Motto: Irgendwann spielt es ja doch ein- Meine geistige Haltung zum Komponie- nicht alles leisten, was wir zusätzlich gerade mal jemand. Und dieses Irgendwann, Irgend- ren ist – wenn ich das so sagen darf – eine in Rheinsberg an der Musikakademie ge- wie, Irgendwas – das ist sehr sehr unbefrie- wirklich exklusive. Ich nehme einfach für macht haben. Auch das Meisterschüler- digend. Deswegen müssen gerade bei jün- mich in Anspruch, dass ich das erreiche, Prinzip, das wir in der DDR hatten, abzu- geren Kollegen Auftragsstellungen, Auftrags- was ich erreichen will, und dass anderes schaffen, halte ich für falsch, weil es genau vorgaben gegeben sein, weil sie eine exis- für mich gar nicht erst in Betracht kommt. die Orientierungshilfen bot, die ein Kompo- tenzielle Verbindlichkeit auslösen und die So bleibt ein gewisses Ziel übrig, das ich nist nach fünf Jahren Hochschulstudium Musik dann auch gebraucht wird. anvisieren muss mit meinen Möglichkeiten, dringend benötigt.

 14 MUSIK ORUM Ihre komplexen Partituren, aber nicht nur Ihre, verlangen exzellente Musiker. Finden Sie die? Wie sehen Sie die Situation der Interpreten für Neue Musik und wird in der Ausbildung genügend getan? Dittrich: Diese Frage kann ich mit ei- nem Ja und mit einem Nein beantworten. Sie sprechen von komplexen Partituren, das ist richtig – und man braucht wirklich exzellente Musiker dafür. Es gibt heute En- sembles in Deutschland, die diese Musiker haben: , und viele andere. Zurzeit erlebe ich gerade, wie ein junges Trio, Musiker des modern art sextets Berlin, mein Streichtrio, das ich für ensemble recherche geschrieben habe und das bis jetzt nie wieder aufgeführt wurde, mit großer Neugier und Begeisterung, mit Ausdauer und vorbildlichem Einsatz erar- beitet. Anders geht es nicht. Wenn man heute in schnellen Probenabläufen die Inter- pretation der Neuen Musik durchzieht – ich will das mal so salopp ausdrücken –, schadet es den Interpreten und schadet es einer guten Entwicklung der Neuen Musik. Ob in der Ausbildung genügend getan wird? Wir haben an den Musikhochschulen hervorragende junge Leute. Sie werden oft- mals nicht für Neue Musik ausgebildet oder herangezogen. Wie vor 50 oder 100 Jahren wird an den Musikhochschulen immer noch das klassische Repertoire überbetont. Her- vorragende junge Leute, die aus Korea, Japan und dem asiatischen Raum hierher- kommen, instrumental hoch begabt sind, können aber mit neuen Partituren oftmals Die Sopranistin Elizabeth Keusch in Dittrichs szenischer Musik Zerbrochene Bilder nicht umgehen. Und wenn sie fertig sind, (nach Texten u. a. von Heiner Müller), ein Auftragswerk der Musikakademie Rheinsberg, wollen sie es auch nicht, weil sie glauben, uraufgeführt am 3. Juni 2001 im Schlosstheater Rheinsberg. ihre große Karriere als Stars in der klassi- schen Musik machen zu können. Und dort ist es besonders schwer, sich durchzusetzen, weil der Markt gesättigt ist. In der Neuen Dittrichs Affinität zu Poesie und Literatur Musik werden die Interpreten genauso be- friedigende, große Interpretationen liefern ˜ Paul-Heinz Dittrich (*1930) studierte Kom- an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ können, wenn sie einmal gerade in solchen position an der Musikhochschule Leipzig Berlin und wurde im gleichen Jahr Mitglied komplexen Partituren einen neuen Horizont und war von 1958 bis 1960 Meisterschüler des Präsidiums der Akademie der Künste. gefunden haben, den sie aufarbeiten. Fazit: von Rudolf Wagner-Régeny an der Akade- Zwischen 1976 und1986 leitete er Kompo- Die Ausbildung ist hervorragend, aber nicht mie der Künste Berlin. 1976 aus der Hoch- sitionsseminare der Geraer Sommerkurse, ausreichend in Bezug auf Neue Musik. schule für Musik „Hanns Eisler“ aus politi- von 1991 bis zum Jahr 2000 war er künstleri- schen Gründen entlassen, wurde er 1978 scher Leiter des von ihm gegründeten Bran- Als Komponist, der sich an der west- Professor für Komposition und 1983 denburgischen Colloquiums für Neue Musik. europäischen Avantgarde orientierte, hatten Ordentliches Mitglied der Akademie der Eine enge Zusammenarbeit verbindet ihn Sie in der DDR aus kulturpolitischen Gründen Künste Berlin. Er war Gastprofessor an der mit verschiedenen elektronischen Studios, oft Schwierigkeiten, aufgeführt und verlegt zu Hochschule für Musik Freiburg/Breisgau etwa dem Experimentalstudio des Südwest- werden. Schwierigkeiten, die bis zum zeitwei- (1978), am Arnold-Schönberg-Institut und funks in Freiburg/Breisgau. ligen Aufführungsverbot gingen. Geht es Ihnen der Universität Los Angeles (1980) sowie in Die Vielzahl seiner Kompositionen (da- im vereinten Deutschland besser? Israel, Südkorea und Russland. 1983/84 runter 14 Kammermusiken, acht Klaviermusi- Dittrich: Danke für diese Frage! Da arbeitete er auf Einladung von ken, vier szenische Musiken) verrät eine muss ich etwas weiter ausholen. Nach der am IRCAM und der Pariser Sorbonne. 1991 starke Affinität zu Poesie und Literatur und Wende dachte ich, jetzt habe ich das er- erhielt er eine Professur für Komposition mehrschichtig-komplexem Denken. schreckende Mittelmaß der DDR-Kultur-

 MUSIK ORUM 15 FOKUS

politik hinter mich gebracht. Dieser Optimismus hat nicht lange angehalten. Vor 1989 haben sich die westlichen Verlage um die Stücke von mir förmlich gerissen. Das brachte mir Konflikte mit den zuständigen DDR-Be- hörden ein, dem Kultur- ministerium und auch dem Warum MfS, für die es nicht sein durfte, dass Dittrich gehörte zu den Schülern von Paul Stücke aus der DDR woanders aufgeführt Dessau (links), der sich neben seiner kompo- enn Kinder ein halbes werden. Das belegen heute zahlreiche MfS- sitorischen Arbeit für Film und Musiktheater Jahr lang selbst kom- auch immer für die musikalische Avantgarde W Akten. Die kulturpolitischen Schwierigkeiten poniert haben, dann kann es waren 1989 weg und ich atmete auf. Aber einsetzte. schon einmal passieren, dass sie nach kurzer Zeit hatte ich nun ökonomi- sche Schwierigkeiten, denn der Verlag, der Vielleicht wird dieses Zeitalter nie kommen, am Ende begeistert, voller ge- mich betreute (Breitkopf & Härtel), sagte aber es existiert als Utopie.“ (aus: Heiner spannter Neugierde und mit mir nach kurzer Zeit, ich müsste mich den Müller: Gesammelte Irrtümer I). gespitzten Ohren ein Orchester- kapitalistischen Bedingungen des Verlegens stück von Helmut Lachenmann von Neuer Musik anpassen: „Ihre Stücke Neue Musik hat ihr Publikum und verfolgen – während ihre verkaufen sich so schwer.“ dieses Publikum ist erfreulich jung und inter- Eltern verstört danebensit- Auf das Wort „anpassen“ reagierte ich national. Schaut man jedoch in die Schulen, wie ein Stier auf das rote Tuch. Ich habe dann werden eklatante Defizite deutlich. Hier zen und die Welt nicht mich 40 Jahre lang anpassen müssen aus spielt Neue Musik, E-Musik überhaupt, nur mehr verstehen. ganz anderen Gründen. Ich habe es nicht eine untergeordnete Rolle, wenn denn über- getan und hatte meine Schwierigkeiten. haupt Musikunterricht stattfindet. Aber braucht So geschehen bei einem Kölner Und ich dachte, das wäre jetzt zu Ende und es nicht ein gesellschaftliches Klima, den Wil- Response-Projekt, nachdem je ein nun sollte ich mich anpassen aus ökonomi- len, die Werte und Inhalte der mehr als 2000- Komponist und ein Interpret schen Gründen. Ich habe mich auch jetzt jährigen Kultur weiterzugeben? Haben nicht zeitgenössischer Musik über nicht angepasst und komponiere weiter. auch die Medien eine Verantwortung dafür? ein halbes Jahr hinweg regel- Heute, in meinem 74. Lebensjahr, arbeite Dittrich: O ja, das haben sie! Sie haben mäßig mehrere Schulklassen ich genauso viel wie früher. Und ich frage diese Verantwortung – sie nehmen sie aufgesucht hatten, sie spiele- auch keinen Verlag mehr. Ich weiß, dass nicht wahr. Die jüngste Tagung der Akade- risch auf dem Weg zu eigenen man jetzt ökonomisch rentablere Dinge mie der Künste hat gezeigt, dass den Kolle- Kompositionen begleitet hatten vorzieht. Ein Beispiel: Ich hatte einen Auf- gen die Problematik klar ist. Man macht und mit ihnen nun, zum Ab- trag von der musica viva in München, ein immer wieder neue Ansätze. Ob die genü- schluss, ein Konzert mit Neuer großes Orchesterstück. Der Auftrag wurde gen, kann ich hier nicht beantworten. Mein Musik in der Kölner Philharmo- vor Jahren honoriert. Das Stück ist bis heute alter, lieber Freund Josef Tal, Komponist nie besuchten. nicht aufgeführt worden, weil kein Verlag aus Israel, hat auf dieser Tagung etwas Unter den vielen Modellen da ist, der das Material herstellt. Der Veran- Wichtiges gesagt: Die Erziehung, die Ausbil- zur schulischen Vermittlung stalter fragt nun, ob ich das Material nicht dung in den Schulen beginnt damit, wie man zeitgenössischer Musik ist selbst herstellen könne. Das würde bedeu- die Lehrer ausbildet, um neue Möglichkei- Response sicherlich das ten: Ich bekam für die Komposition ein ten und Präsenz bei den Kindern zu finden. erfolgreichste und am nicht gerade üppiges Honorar. Das Orches- Bis heute werden die Lehrer an den Univer- besten erprobte. termaterial kostet etwa 20 000 Euro. Das sitäten und Hochschulen nicht zielgerichtet Anfang der 80er zu finanzieren, ist mir nicht möglich und so ausgebildet. Man beschäftigt sich mit viel Jahre in England liegt das Stück nach wie vor im Schrank – wissenschaftlichem, methodischem Krims- entwickelt und bis heute nicht aufgeführt. krams, der nicht notwendig ist und kommt 1988 vom „En- Und nun sage ich: Ich beauftrage mich erfahrungsgemäß nicht zu den Fragen, die semble Modern“ selbst. Mittlerweile liegen in meiner Schub- uns alle auf den Nägeln brennen. Die zweite nach Deutschland lade mehrere Partituren, die geschrieben entscheidende Antwort: Man muss viel gebracht, belegen sind, die niemand aufgeführt hat und die mehr die geistige Potenz der Schüler stei- seither viele Einzel- wahrscheinlich auch noch eine Weile liegen gern und entwickeln und dazu gehört aus projekte – u. a. in Berlin, werden. Ich muss konstatieren: Es findet meiner Sicht in erster Linie die Literatur. Bremen, Düsseldorf, Frankfurt oder am eine regelrechte Ausgrenzung statt, was ich Zum Schluss noch einmal Heiner Müller: Bodensee – immer wieder, dass diese in einem wiedervereinten Deutschland nicht „Was die Leute interessiert, ist das, was sie Projektform in hohem Maße geeignet ist, erwartet habe. So teile ich Heiner Müllers nicht brauchen, und das, was sie brauchen, über ihren handlungsorientierten Zugang Resumée: „... aber ich möchte nicht in einem interessiert sie nicht. Man muss wirklich bei Schülern und Schülerinnen Verständ- anderen Zeitalter leben mit dem Bild von Wege finden, das zu machen, was sie brau- nis für Neue Musik zu wecken. dem, was ich für ein neues Zeitalter halte. chen, obwohl sie sich dagegen wehren.“

 16 MUSIK ORUM Bernhard König über „Response“ – einen Klassiker der Musikvermittlung für Kinder

PAPA KEINEN LACHENMANN MAG

Bei so vielen positiven Erfahrungen ver- vergangenen 20 Jahre aufbauen zu können, Impulse erhalten – Anregungen und Hilfe- wundert es, dass bislang jegliche überregio- müssen sie stets wieder bei „Null“ beginnen. stellungen für die praktische Umsetzung nale Vernetzung, Bestandsaufnahme und Um diesem Mangel abzuhelfen, haben sowie Tipps und Materialien, um örtliche systematische Gesamtdarstellung von Res- sich die erfahrensten Response-Initiativen Geldgeber und Kooperationspartner für ponse fehlt. Das macht den Start für neue aus ganz Deutschland zusammengetan und diese Projektform zu begeistern. Initiativen, die auf dieses bewährte Modell ein „Response-Startpaket“ konzipiert. Mit Dabei werden selbstverständlich auch zurückgreifen wollen, Hilfe verschiedener Medien und eines Kon- die Teilnehmer zurückliegender Projekte häufig sehr schwer: tingents an Start-Workshops sollen regio- ausführlich zu Wort kommen – Kompo- Statt auf die Er- nale Initiativen, die vor Ort neue Projekte nisten und Lehrerinnen, Musikerinnen und fahrungen der ins Leben rufen wollen, die dafür nötigen Schüler. Denn manches, was von außen

betrachtet schwer nachvollziehbar sein mag, erschließt sich leicht, wenn man Res- ponse schon einmal miterlebt hat. So hatte denn auch beim Kölner Lachenmann-Kon- zert eine Viertklässlerin anschließend eine sehr einleuchtende Erklärung dafür parat, Response begleitet warum ihre Eltern sich so gar nicht mit Kinder spielerisch auf dem Gehörten anfreunden mochten: „Na dem Weg zu eigenen klar hat’s dem Papa nicht gefallen. Der hat Kompositionen. ja auch noch nie selber komponiert!“ Fotos: Büro für Informationen zum geplanten Response- Konzertpädagogik Startpaket: Büro für Konzertpädagogik, Postfach 300 302, 50773 Köln, Tel. 0221/139 09 23, Fax 222 58 52, [email protected] www.konzertpaedagogik.de

 MUSIK ORUM 17 FOKUS

Dem Musiktheater verpflichtet: Der Chor der Paul-Dessau-Schule bei der Aufführung von Mozarts Bastian und Bastienne in der Turnhalle. Foto: Paul-Dessau-Chor

as für ein schöner Traum – Weine Schule, die nicht Spezialschule für Musik ist, und Der Weg IST sich trotzdem der „ernsten“ und auch noch der Neuen Musik schwerpunktmäßig widmet, einer DAS ZIEL… relativ massen-unpopulären und wenig medienwirksamen Musik…

So eine Einrichtung wäre beständig in Er- Für den Lehrer an dieser Schule fangen richt würde noch weiter an Qualität gewin- klärungsnot, warum sie das tut, was sie tut. die Probleme schon damit an, dass er seine nen, wenn aktive Musiker und Musikwis- Schließlich wäre das weder marktrelevant Schüler – wie man so schön sagt – dort ab- senschaftler zur Lehrtätigkeit herangezogen noch massenkompatibel, weder leichtver- holen muss, wo sie sind, ohne sich an dieser werden könnten. daulich noch mit minimalem Zeitaufwand Stelle festhalten zu lassen oder gar von ih- machbar. Aber Musik ist nun mal nicht nur nen abgeholt zu werden. Andererseits bleibt Traum erfüllt? ein Konsumprodukt, sondern auch Kunst – der Biologe in seiner Lehrtätigkeit auch nicht und stößt, wie jede Form von Kunst, auf beim Pantoffeltierchen, der Mathematiker Ging der Traum von einer solchen Schu- Probleme bei Rezeption und Konsumtion. nicht beim kleinen Einmaleins und der Phy- le am 19. Dezember 1979 in Erfüllung? An Musik muss im Spannungsfeld von Tradi- siker nicht bei den Aggregatzuständen von diesem Tag erhielt die Polytechnische Ober- tion und Moderne gesehen werden, soll Mit- Wasser stehen, der Literat gar beim Abzähl- schule 1 in Zeuthen den Namen „Paul Des- tel sein, eigene Identität zu erfahren bzw. zu reim und der bildende Künstler beim Aus- sau“ verliehen, denn der Namenspatron hat- finden. Solch eine Schule würde also Inhalte malbuch. Das Ziel dieses Lehrers muss es te 14 Jahre lang mit Kindern dieser Schule lehren, die gelehrt werden müssen, um ver- sein, seinen Schülern die Komplexität der aktiv musiziert. Dazu gehörten auch das ständlich zu sein und goutiert werden zu kön- Dinge zu zeigen, sie zum Hinterfragen zu ani- Komponieren, die rhythmische Erziehung nen. mieren, ihr Bedürfnis nach Verständnis – und Gehörbildung. Paul Dessau schrieb nicht Einverständnis – zu wecken, um somit dazu: „Ich bin bei den Zeuthener Kindern Radikalität vorzubeugen. Darüber hinaus nie auf unüberwindliche Hindernisse gesto- möchte er seine eigenen Erfahrungen mit ßen und stehe auf dem unerschütterlichen dem Medium vermitteln, die natürlich aus Standpunkt: Jedes Kind ist musikalisch; das ungleich stärkerer Beschäftigung damit her- eine mehr, das andere weniger; und mit rühren als bei seinen Schülern. Der Unter- Ausdauer und bei guter Anleitung lässt sich

 18 MUSIK ORUM »…ich pfeif mir mein VERFEINERUNG und zeig Dir, wo der Himmel sitzt!« Peter Rühmkorf in: „Ganz entschiedenes Ausweiche-Lied“

alles erlernen. Dadurch, dass die Kinder an- sich mit den von Dessau vertonten Liedern gehalten werden, sich produktiv mit der von Brecht zu beschäftigen, mit Tierverse, Musik zu beschäftigen, wird ihr Genuss Kleines Bettellied, Der Pflaumenbaum, Der beim Anhören von Musik gesteigert sein Gottseibeiuns und anderen. Bemerkenswert und ihre Freizeitgestaltung eine neue Quali- dabei war, wie gut und erstaunlich schnell tät erreichen. Denken ist erste Bürgerpflicht. die 10- bis 14-Jährigen diese Musik erlernt Auch in der Musik. Und: Kritisches Denken haben und wie viel Freude sie daran hatten. ist noch besser.“ * Die beteiligten Lehrer befürchteten weitaus Aus Anlass der Namensgebung wurde größere Probleme bei der Annahme dieser ein Schulchor zusammengestellt, der die Fei- Art Musik durch die Kinder. erlichkeiten umrahmte. Dieser Chor, einmal In Anerkennung dieser Arbeit wurde dem vorhanden, wurde nun auch weitergeführt. Chor von Ruth Berghaus der Name „Paul Die Regisseurin Ruth Berghaus, Dessaus Le- Dessau“ verliehen. Von nun an entwickelte bensgefährtin, regte den damals noch gleich- sich der Paul-Dessau-Chor zum gemischten stimmigen Chor an, zum 90. Geburtstag Kinder- und Jugendchor, steigerte seine Qua- von Dessau sein Singspiel Rummelplatz zu lität immer weiter und fühlte sich dem Mu- erarbeiten. Diese Anregung wurde mit gro- siktheater verpflichtet. Alle paar Jahre wid- ßem Erfolg realisiert, inszeniert von einem mete er sich nicht nur seiner „üblichen“ Chor- Meisterschüler von Ruth Berghaus. Über die arbeit mit Werken verschiedenster Epochen Erarbeitung des Singspiels hinaus wurde und Stilrichtungen, sondern erarbeitete Sing- Dessaus Geburtstag zum Anlass genommen, spiele, eine Oper und mehrere Lehrstücke. Der Oper Bettina (von Friedrich Schenker) 1987 folgte 1989 Eisenbahnspiel (Robert Seitz/ Paul Dessau), 1994 Bastian und Bastienne (Wolfgang Amadeus Mozart), Ausnahme und Neue Musik an der Schule? Wie junge Menschen an Regel (Bertolt Brecht/Paul Dessau) und Or- pheus und der Bürgermeister (Robert Seitz/ ungewohnte Klänge herangeführt und dafür begeistert werden Paul Dessau), 1997 Der Jasager (Bertolt können, beschreiben Sigrid und Matthias Schella und Marina Brecht/Kurt Weill) und 2002 Das Badener Lehrstück vom Einverständnis (Bertolt Brecht/ am Beispiel der Paul-Dessau-Schule Eggerath ). Mit Der Jasager wurde der Chor sogar 1997 an das Berliner Ensemble zu einem Gastspiel eingeladen und hat es dort mehrmals aufgeführt. Darüber hinaus wurde 1999 ein Liederabend mit Werken Mit „Der Jasager“ von Paul Dessau erarbeitet. Außerhalb des von Brecht und Weill erfolgreichen Konzerts entstand eine CD mit gastierte der Paul- diesen Liedern. Die musikalische Erarbei- Dessau-Chor sogar tung aller Stücke erfolgte im Rahmen der schon im Berliner Musikausbildung der Schule, inszeniert wur- Ensemble. Foto: Maria Steinfeldt den sie aber von namhaften Regisseuren wie z. B. Maxim Dessau und Steffen Kaiser. Gerade die Arbeit mit den Regisseuren be- reicherte die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Stoffen.

Akzeptanz für andere Musik muss entwickelt werden Die Erarbeitung dieser Werke setzte nicht nur eine Auseinandersetzung mit Neu- er Musik voraus, sondern auch mit den Tex- ten und Inhalten. Die Schüler wurden ange- regt, ihre Kenntnisse in Geschichte, Literatur und Politik praktisch bei der Auseinander- setzung mit diesen Werken anzuwenden und zu erweitern. In diesem Sinne ist die Erarbei-

 MUSIK ORUM 19 FOKUS

tung fast wichtiger als die Aufführung, also mit dem Film Luigi der Weg das Ziel. Und dieser Weg ist nicht Nono – Il canto sospeso unproblematisch. auseinander. Auch die- Die Hörgewohnheiten unserer Schüler ses Projekt erweiterte liegen im Bereich von commercial music, die die Vielfalt der Beschäf- Akzeptanz für andere Musik muss erst ent- tigung mit Neuer Mu- wickelt werden. Nach unserer Erfahrung ge- sik an unserer Schule lingt uns das heute schneller als noch vor (siehe Artikel von Mar- zehn oder gar 20 Jahren, als wir begonnen garita Dittrich im Kas- hatten, Schüler damit zu konfrontieren. Ei- ten rechts!) nen wesentlichen Grund dafür sehen wir Fazit unserer Arbeit darin, dass die älteren Schüler mit ihrer Er- mit den Schülern ist, Werke des Musiktheaters erleichtern Schülern den Zugang zu neue- rer Musik. Foto: Marina Eggerath fahrung mit dieser Musik die jüngeren be- dass sich die Schüler einflussen. Das Beispiel der Älteren und de- durchaus an diese Mu- Die Schüler müssen viel von ihrer Freizeit ren Begeisterung für andere, auch Neue sik heranführen und – mehr noch – dafür opfern, was nicht selbstverständlich ist. Der Musik erleichtert den Jüngeren den Einstieg. begeistern lassen. Speziell bei Aufführungen Lehrstoff in allen Schulfächern muss bewäl- Ein anderer Grund ist die Vielfalt der Be- von Musiktheater ist zu spüren, dass die tigt werden – trotz zusätzlicher Proben auch schäftigung mit Musik an unserer Schule. Schüler im Laufe ihrer Beschäftigung mit an Wochenenden. Die zeitliche Belastung ist Nach 1989 bemühten wir uns im Ergeb- dem Werk viel dazugelernt, viel verstanden für Schüler nicht nur problematisch wegen nis der Erfahrungen in der Arbeit mit dem haben. Vor allem in der zweiten Hälfte der des Wegfalls von Freizeit, sondern auch we- Chor, den Schülern weitere Möglichkeiten Erarbeitung des Werks wachsen Verständ- gen teilweise fehlender Akzeptanz von Fach- zur Beschäftigung mit Musik zu erschließen. nis und Begeisterung. Leider trifft die Begeis- lehrern. In der intensivsten Phase der Erar- 1991 begannen wir, außerhalb des Schul- terung der Schüler für das Werk und seine beitung ist Rücksichtnahme von Kollegen unterrichts eine Instrumentalausbildung, Un- Umsetzung dann nicht immer auf die Ak- auf die Mehrbelastung der Schüler erforder- terricht in Musiktheorie, Musikgeschichte zeptanz des Umfelds. Um die Schüler nicht lich, aber nicht immer vorhanden. sowie Gehör- und Stimmbildung anzubieten. zu entmutigen, müssen sie aufgefangen, Wie nah sind wir also dem anfangs skiz- zierten Traum? Vor 25 Jahren hatten wir keine Vorstellung, wie sich die Dinge an unserer Schule weiter entwickeln werden. »Wir haben die Musik schätzen gelernt und begonnen, Rückblickend auf das Erreichte, auf Erfolge wie auf Probleme, können wir aber feststel- uns Gedanken um die Welt zu machen« len, dass wir auf einem steinigen Weg doch Ehemaliger Schüler an der Paul-Dessau-Schule sehr weit gekommen sind. Träume gibt es noch viele, aber aus den vorhandenen Mög- lichkeiten haben wir mit viel Engagement, also Zeit und Kraft, Ansehnliches geschaf- 1994 wurde unsere Schule zur musikbeton- manchmal regelrecht getröstet werden. Es fen. Wir haben viele Schüler erreichen kön- ten Gesamtschule mit gymnasialer Oberstu- ist auch häufig ein Problem, solche Projekte nen und ihnen Erfahrungen mit Musik und fe, Musik nun im Wahlpflichtbereich I (ab medienwirksam in der Öffentlichkeit darzu- mit sich selbst vermittelt, die sie oft ein Le- Klasse 7) angeboten. Schüler, die dieses Wahl- stellen, da das Sujet häufig als außerordent- ben lang begleiten werden. pflichtfach gewählt haben, erhalten Unter- lich unpopulär empfunden wird. Mit einer solchen Arbeit riskieren wir es, richt in den genannten Bereichen und sind Schüler, die sich noch nie vorher mit nicht nur unsere Schüler – weit über die Mitglieder eines Chors oder Instrumental- Musiktheater beschäftigt haben, stehen die- Schulzeit hinaus – zu beeinflussen, sondern ensembles. Schon bald wurde ein Nachwuchs- sem Vorhaben meist reserviert gegenüber, mit ihnen vielleicht auch die nächste Gene- Chor gegründet, der die jüngeren Schüler vor- aber während der Proben wächst ihr Ver- ration und das Publikum. Das könnte dazu bildet, bevor sie in den Paul-Dessau-Chor gnügen an Spiel und Gesang. Beim Verlas- führen, dass wir dafür mitverantwortlich sind, aufgenommen werden können. Konnte 1991 sen der Schule sind sie dann regelrecht trau- wenn in 30 Jahren noch immer Orchester, Unterricht nur in Klavier und Gitarre erteilt rig darüber, den Chor zu verlassen. Ein ehe- Theater, Chöre etc. die öffentlichen Haus- werden, so hat sich das Angebot inzwischen maliger Schüler formulierte es so: „Speziell halte belasten. Denn wir hätten eine künstli- um weitere zehn Instrumente erweitert. Die die Arbeit an Werken des Musiktheaters hat che Nachfrage nach Musik, auch Neuer Schüler können zu Beginn der Ausbildung ein uns enger zusammenrücken lassen. Darüber Musik geschaffen. Um von solch einem Er- Instrument wählen, um dann mindestens hinaus haben fast alle durch die Auseinan- gebnis träumen zu können, braucht es aber vier Jahre lang an diesem Instrument unter- dersetzung mit diesem Genre die Musik an der Schule „Überzeugungstäter“, die be- richtet zu werden, oder sie setzen eine schon schätzen gelernt und haben begonnen, sich reit sind, all ihre Kraft und viel Zeit in die begonnene Ausbildung an einem Instru- insgesamt mehr Gedanken um die Welt zu Bildung und Erziehung künftiger Generatio- ment an der Schule fort. Schüler unserer machen. Diese Möglichkeit, uns auszupro- nen zu investieren. Schule haben in den vergangenen Jahren bieren und Dinge zu tun, an die wir früher immer wieder mit guten Erfolgen am Wett- nie gedacht hätten, werden wir wohl kaum bewerb „Jugend musiziert“ teilgenommen. je wieder in unserem Leben haben.“ In einem fachübergreifenden Projekt setz- Bei allen positiven Effekten ist der Zeit- * Paul Dessau: Musikarbeit in der Schule, Berlin 1967. ten sich Musikschüler der Sekundarstufe II aufwand natürlich riesig für alle Beteiligten.

 20 MUSIK ORUM Fachübergreifendes Schulprojekt mit Musik von Luigi Nono

AUF DEN SPUREN NEUER MUSIK Jürgen Bruns, Dirigent:

1998 befasste sich eine Lehrergruppe Hölderlin, Thomas Manns Vorwort zum Neue Musik und der Paul-Dessau-Schule mit dem Film Buch Und die Flamme soll euch nicht ver- Luigi Nono – II canto sospeso, der für sengen, der italienische Faschismus, Picas- Klangkörper Schulprojekte an allgemein bildenden sos Bild Guernica bildeten eine wertvolle Schulen konzipiert war. Bereicherung für die Musikschüler. Im Mich beschäftigt immer häufiger die normalen Unterrichtsplan hätten sie da- Frage, ob die klanglichen Möglichkeiten Der Film thematisiert das durch Krieg von kaum etwas erfahren. des großen symphonischen Klangkörpers verursachte Leid und stellt den Schmerz Das Projekt wurde in fünf aufeinander nicht in nah abzusehender Zukunft aus- der Menschen mit einer Collage von folgenden Jahren in der Sekundarstufe II gereizt sind. Damit in engstem Zusam- Werken der politisch-engagierten Kunst fortgesetzt. Notwendige Voraussetzung menhang stellt sich die Frage, ob das und mit Dokumentarmaterial aus dem für eine erfolgreiche Arbeit mit den Schü- Ideal der frontalen „Konfrontation“ Zweiten Weltkrieg dar. Die Filmbilder lern waren deren gute Musikgrundkennt- Publikum – Künstler für die Neue Musik werden musikalisch wie ein cantus firmus nisse. Alle Schüler hatten bis zur 10. Klas- überhaupt noch interessant ist. begleitet von der Konzertaufführung von se das Fach Musik als erstes Wahlpflicht- Betrachtet man die Entwicklung der Il canto sospeso nach Briefen von zum fach belegt. Trotzdem musste man das Ver- letzten Jahre, so verstärkt sich der Trend Tode verurteilten Antifaschisten – ein ständnis für die Musik von Nono schritt- zum kleineren, flexiblen Ensemble. Dies Werk der klassischen Moderne, das Luigi weise aufbauen – durch Exkursionen in die erfordernd und ebenso dadurch bedingt, Nono in den 50er Jahren des 20. Jahrhun- Vergangenheit auf den Spuren der Neu- verweben sich die verschiedenen Künste derts komponierte. en Musik, um die Traditionsbezüge von immer stärker miteinander, oft bestehen Die Entscheidung, das Projekt fach- bestimmten kompositorischen Verfahren die klaren Trennlinien zwischen den übergreifend zu unterrichten, lag nahe. Es zu verdeutlichen. Auch Erläuterungen zu Künsten nicht mehr. Durch die Möglich- war eine verlockende, da sehr komplexe Grenzerscheinungen, wie z. B. Lautdich- keiten der Technik werden diese Tenden- Aufgabe. Im Musikunterricht der Schule tung des 20. Jahrhunderts, trugen dazu zen noch verstärkt und unterstützt. Um wurde das Projekt in den Mittelpunkt ei- bei, das Verständnis für den besonderen das alles kombinierbar und praktikabel zu nes Kursthemas für die Sekundarstufe II Umgang mit Sprache in dem Werk von lassen, muss die Musik sehr flexibel sein. gestellt und lenkte die Aufmerksamkeit Nono zu stärken. Desgleichen wird die Behandlung des nach vorbereitenden Schritten auf die Das Projekt Il canto sospeso motivierte Instrumentariums immer individueller, die Komposition von Nono. Erst danach Schüler und Lehrer. Die Unterrichtsfor- Instrumente werden quasi zu Individuen; lernten die Schüler den Film kennen. men und die Lerninhalte waren vielfältig somit werden auch die Anforderungen an Im Zuge des Kursthemas und nach und immer wieder wurde hierbei der Be- die Musiker immer spezieller. So sehr ich der Auseinandersetzung mit dem Film zug zu unserer Zeit deutlich. es für nötig erachte, dass Musiker in allen häuften sich Fragen, die auch durch an- Wenn man Schüler heute fragt, was Epochen der Musikgeschichte zu Hause dere Fachbereiche zu beantworten wa- für sie Neue Musik ist, hört man allzu oft sind, ist es doch nicht von der Hand zu ren. Die Musikschüler wurden von Leh- die Antwort: Die Musik der jungen Leute weisen, dass viele Techniken speziell für rern aus den Fachbereichen Deutsch, heute. Ist diese enge Auffassung nicht die Neue Musik erlernt werden müssen. Geschichte und Kunst in jeweils dreistün- auch die Folge einer großen Wissens- Auch die Herangehensweise an die Neue digen Seminaren außerhalb des schuli- lücke in Bezug auf Entwicklungen in der Musik muss oft (nicht immer) unter ganz schen Stundenplans unterrichtet. The- Musik des 20. Jahrhunderts? anderen Vorzeichen stehen als bei der men wie Hyperions Schicksalslied von Margarita Dittrich Musik vorhergehender Epochen. Der große symphonische Klangkörper wird als eine ein reiches Instrumentarium zur Verfügung stellende Institution ge-

Die Autoren: braucht werden, die sich aber schon mit Beginn des „Musikmachens“ in ihre ver- Sigrid Schella ist Leiterin der Musikausbildung an der Musikbetonten Gesamtschule schiedenen individuellen und flexiblen Paul-Dessau; seit 1979 leitet sie den Paul-Dessau-Chor. Teile auflöst. Matthias Schella ist Orchestermusiker am Staatstheater Cottbus, war selbst Schüler der Jürgen Bruns ist Künst- Dessau-Schule und arbeitet heute als Chorleiter an dieser Schule. lerischer Leiter der Kam- Marina Eggerath ist Mitglied des Fördervereins für Musikausbildung e.V. an der Musikbe- mersymphonie Berlin; tonten Gesamtschule Paul Dessau mit gymnasialer Oberstufe. europaweite Gastdirigate Margarita Dittrich ist Musikwissenschaftlerin und unterrichtet seit Beginn der 90er Jahre mit Schwerpunkt „Klassi- Musiktheorie für die Schüler der Musikausbildung in den Sekundarstufen I und II an der sche Moderne“; div. CD- Paul-Dessau-Schule. Einspielungen, TV- und Rundfunkproduktionen.

 MUSIK ORUM 21 FOKUS

Was an den Rand geredet wird, steht auch irgendwann dort: NEUE MUSIK ALS

Ulrike Liedtke über individuelle und gesellschaftliche Funktion, über Entwicklung und Vermittlung zeitgenössischer Tonkunst

u all dem Alten, Bewahrenswerten aus verschiedenen Kulturkreisen Musik reflektiert auf ihre Weise gesell- Z kommen neue Kunstwerte hinzu. Für jede noch so spezielle Kunst- schaftliche Realität, heterogen, dramatisch, richtung entstehen wieder Gruppen von Fachleuten und der Andrang auf divers strukturiert – gelegentlich auch am Rande gesellschaftlicher Kenntnisnahme. entsprechende Studienplätze steigt verständlicherweise. Noch nie war so Hat nicht das Desinteresse von Zuhörern und viel Kunst zu fördern, noch nie waren so viele Künstler und Kunstwissen- Musikmarkt an der so genannten neuen schaftler zu finanzieren wie jetzt. ernsten Musik zur Folge, dass der Kompo- nist völlig „frei“, unabhängig von Vorgaben, Kultur steckt in einer Krise, weil einer- der Reiz des Besonderen an. Musik ist „in“, weil auch unbeachtet schöpft? Man kann seits „gerechte“ Kulturpolitik gegenüber den neue Klänge sind es auch. also eh komponieren, was man will? Wo en- Kulturausübenden aussichtslos geworden ist Es war verlockend, ausgehend von der det das Experiment, wo beginnt die Orien- und andererseits Voraussetzungen zur brei- wissenschaftlich-technischen Revolution im tierungslosigkeit? ten Rezeption der Kulturfülle fehlen. Zum 20. Jahrhundert, auch an eine sich linear Musikalische Neuansätze bedürfen der Dilemma mangelnder Kulturfinanzierung* vollziehende Kunstentwicklung zu glauben. Experimentierwerkstatt, ebenso aber auch gesellt sich also die Frage, für wen denn Kul- Aber täglich entdecken Wissenschaftler alte der gesellschaftlichen positiven oder negati- tur zu finanzieren sei. Kunst wieder, die Anzahl der Museen steigt ven Resonanz. Das setzt einen selbstver- Das Positive zuerst: unaufhörlich an. Jede neue Information über ständlichen Umgang mit Neuer Musik vo- Täglich erscheinen neue Namen von bisher Unbekanntes führt künstlerische Blü- raus – normale Existenzberechtigung in der Komponisten auf den Spielplänen. Zu kei- tezeiten an unterschiedlichen Standorten Schule, im Konzertrepertoire, in den Me- nem anderen Zeitpunkt gab es so viele Spe- vor Augen, die nur schwer oder gar nicht in dien –, keine noch so gut geförderte Isola- zialensembles für Neue Musik. Die Suche geschriebene Kunstgeschichte hineinpassen. tion. Was an den Rand geredet wird, steht nach dem neuen (fernen) Klang bewegt jun- Wolfgang Welsch geht davon aus, dass mit auch irgendwann dort. ge Leute im Spiel mit Soundkarten am Com- der „Grundlagenkrise“ in der Mathematik „Alles“ kann zum kompositorischen Ma- puter zu Hause, Hausmusik. Das Hören von im Ergebnis der einsteinschen Relativitäts- terial werden, unwichtig, ob auf dem Noten- Musik steht an der Spitze der Freizeitbe- theorie „Wirklichkeit nicht mit Totalitätsan- papier oder am Computer, später musiziert schäftigungen von Schülern. Zu den Kate- sprüchen, sondern nur mit pluralen Model- im Konzertsaal oder dargeboten im Club. gorien des Wettbewerbs „Jugend musiziert“ len und situationsspezifischen Theorien bei- : „Es kann keine Vorgabe gehört zeitgenössische Musik. Die Anzahl zukommen ist. Die Wirklichkeit ist nicht geben, was Material zu sein hätte. Es kommt der Festivals für Neue Musik nimmt zu. homogen, sondern heterogen, nicht harmo- darauf an, was jemand damit macht, und Neue Musik hat Publikum. Es gibt sie noch, nisch, sondern dramatisch, nicht einheitlich, damit wird etwas zum Material.“2 Die Un- die kleinen Verlage und Labels für Neue sondern divers strukturiert. Sie hat – kurz terschiede liegen im Kompositionsverfahren Musik. Uraufführungen haftet nach wie vor gesagt – ein postmodernes Design.“ 1 und Strukturierungsgrad des Ergebnisses, si- cher auch in der Konsequenz, mit der ein kompositorisches Anliegen umgesetzt wird. Wie zu anderen Zeiten auch ist nicht alles gut, was komponiert wird. * Beklagenswerte Zustände sind aus der Uckermark zu vermelden, wo durch die Kom- Reflektieren – einschließlich aller Unvoll- mune alle Musikschullehrer entlassen worden kommenheiten – heißt Rückbesinnen, Nach- sind. Im Landkreis Ostprignitz-Ruppin wird denken über eigenes Tun, in Frage stellen, derzeit heftig über die Streichung aller Kultur- vergleichen, sich messen am Besseren, auch gelder debattiert, weil der Landkreis die Bus- entscheiden, was richtig oder möglicherwei- Beförderung der Kinder zu den wenigen noch vorhandenen Schulen ermöglichen muss, se falsch ist. Wer sich nicht mehr reflektiert ansonsten würde selbst die Schulpflicht in oder reflektieren lässt, wird der Oberfläch- Deutschland gegenstandslos werden. lichkeit anheim fallen. Kulturgeschichtlich

 22 MUSIK ORUM Reflexion ihrer Zeit

Komponist Wolfgang Rihm: folgt Vergessen, Gleichgültigkeit – eindeuti- stammenden Saal und das zeitgenössische ge Anzeichen eines drohenden Untergangs. Stück in ein architektonisch neues Gebäu- „Es kann keine Vorgabe geben, Fehlende gesellschaftliche Reflexion verbin- de, es wird bewusst für einen vorhandenen was kompositorisches Material det sich demzufolge mit dem Abbau von Raum komponiert oder ebenso bewusst der zu sein hätte.“ Zivilisation. Nicht zuletzt um dies zu verhin- Widerspruch zwischen Musik und Raum Foto: Universal Edition/Eric Marinitsch dern, entspricht Musikförderung, insbesondere provoziert. die der nicht populären Kompositionen, ei- Auch wenn es auf den ersten Blick nicht ner Investition in gesellschaftliches Entwick- so scheint, erweisen sich die Stoffe des zeit- Bewahrer von Material und Rechten werden lungspotenzial. genössischen Musiktheaters durchaus als Verhinderer von Aufführungen, Einspielun- Aber speziell Neue Musik verlangt das aktuell, wenn auch Texte oft den Umweg gen und Sendungen. In wessen Interesse? bewusste Hören des Einzelnen, nicht vorder- schriftstellerischen Erbes seit der Antike ent- ” Die Unterstützung von Notendruck, gründig als gesellschaftliches Ereignis. Die langgeschickt werden (was deren Kenntnis CD- und DVD-Herstellung neuer Musik Losgelöstheit des Einzelnen von Vorurtei- voraussetzt – oft ein Irrtum!). Das offenbart kann nur unabhängig von kommerziell-un- len, sein Freisein für Neues und sein Einzeln- vielleicht eine gewisse Sprachlosigkeit. Stof- ternehmerischen Absichten erfolgen. seinkönnen werden zu Voraussetzungen für fe zu aktuellen Themen – Klimawandel, Gen- Welche Voraussetzungen aber bringt der das Hören. Da neue Musik nicht „nebenbei“ manipulation, Hirnforschung – oder zu ge- Hörer mit? Viel Kluges über die Entwicklung zu konsumieren ist, besser über den direk- sellschaftlich relevanten Themen wie dem von Hörerwartungen liegt geschrieben vor. ten Zugang wirksam wird, gewinnt das Mu- Kampf oder Dialog der Kulturen bleiben Dabei müssen Anfänge nur weiterentwickelt sizieren aus dem Moment heraus an beson- eher selten. werden – durch die bundesweite Unterstüt- derer Bedeutung, also live, von Mensch zu Abgesehen von selbst gemachten Proble- zung des Wettbewerbs „Jugend kompo- Mensch. Tausend einzelne kleine Konzerte men bedarf Neue Musik, um tatsächlich niert“, frühzeitige Entdeckung kompositori- bewirken mehr als eine große Veranstaltung Wirklichkeit zu reflektieren, noch zu schaf- scher Begabungen in Klangwerkstätten, durch mit tausend Besuchern. Ein Plädoyer für fender Voraussetzungen: ” Kindergärtner- und Lehrerweiterbildungen, mutige kleine Projekte. Seit gut 50 Jahren bleibt eine Neuent- durch Unterstützung der dramaturgischen und Die Chancen für zeitgenössisches Musik- wicklung in den Kinderschuhen stecken, weil musikpädagogischen Begleitarbeit bei Auf- theater stehen bei visuell geprägtem Rezep- die Spezialensembles für Neue Musik keine führungen. Der „Schwarze Peter“ findet sich tionsverhalten nicht schlecht. Schließlich kann kontinuierliche Förderung erhalten können. wieder einmal in der Schule, im mangeln- keine Kunstform multimediale Aktionen so Von ca. 230 Ensembles in Deutschland kön- den Angebot, bei den Medien, also mitten gut in genreübergreifenden Formen präsen- nen nur vier ihrer Förderung sicher sein. in der Gesellschaft. Bei jedem von uns. tieren wie Theater. Die Kunstsymbiose von ” Klang-Räume müssen mitwachsen und Musik, Sprache, Theater, Tanz, Bildender Neugier auf eine sich selbstverständlich wei- Kunst und elektronischen Medien ist längst terentwickelnde Kunst wecken. ” 1 Wolfgang Welsch: „Moderne und Postmoderne“, in: Motiv nicht ausgereizt. Nur scheint zurzeit alles in- Das Miteinander von aktuellen Thea- 2/3, Berlin 1991, S. 6. teressanter zu sein als Theater im Theater. terstoffen und Musik stellt sich von alleine 2 Reinhold Urmetzer: Wolfgang Rihm, Stuttgart 1988, S. 65 ff. Zeitgenössisches Musiktheater meidet aus- ein, wenn Musiktheater als Gattung wieder getretene Wege des Guckkastentheaters, mediales Interesse findet. braucht verwandelbare Räume, entwickelt ” Spezielle Förderung von Auftragswer- Ideen auch aus Spiel-Räumen heraus. Klang ken, Uraufführungen und Wiederaufführun- Die Autorin: bricht den Guckkasten auf. Dank hoch ent- gen bleibt fortgeschriebene Aufgabe, ebenso Dr. Ulrike Liedtke, Leiterin der Bundes- wickelter Computertechnik ist es heute mög- Förderungen junger Komponisten. musikakademie Rheinsberg, ist Mitglied lich, ein komplexes Bild von nahezu jeder ” Als kontraproduktiv erweist sich die im Rundfunkrat des Rundfunks Berlin- bekannten kunsthistorischen Zeit herzustel- Rechnung des Veranstalters, der die Kosten Brandenburg (rbb) und im Rundfunk- len. In der Konsequenz gehört das Konzert für Aufführungsmaterial und -rechte den arbeitskreis der Landesmusikräte. mit der Alten Musik in den aus gleicher Zeit möglichen Einnahmen gegenüberstellt. Die

 MUSIK ORUM 23 FOKUS

Georg Katzer: »AUCH NEUE MUSIK STREBT DER VERMUTUNG NACH,

ünste wie die Neue Musik Wie sehen Sie den Stellenwert und es dieses Problem immer gegeben. Die K haben es heute schwer, sich die Funktion Neuer Musik aus heutiger Sicht? Komponisten mussten sich immer damit angesichts des allgemeinen „Unter- Georg Katzer: Wenn Sie nach der auseinander setzen und dies entsprechend Funktion Neuer Musik fragen, ist dies rela- ihrer sozialen Stellung, die sie hatten und haltungsterrors“ zu behaupten, tiv einfach zu beantworten. Neue Musik will die ihre Musik im Kontext von Gesellschaft sagt Georg Katzer, einer der be- nichts anderes als das, was Musik eigentlich einnahm. Musik war nie frei von Vorwür- deutendsten Vertreter der musika- immer will: Sie strebt der heute fast idealis- fen, sie würde sich von der breiten Masse lischen Avantgarde in Deutschland. tisch anmutenden Vermutung nach, dass entfernen oder würde nicht mehr „modern“ Der Zeuthener Komponist resig- Kunst den Mensch bessern könne, woran sein. Komponisten, die wir heute bewun- niert freilich nicht. Seiner Meinung auch ich zäh festhalte. Zum anderen soll dern, sind zum Teil für verrückt gehalten Kunst das Unterhaltungsbedürfnis der Men- worden. Im Grunde hat sich also nicht so nach entsteht Kunst ohnehin schen befriedigen und zwar auf einem Ni- viel verändert. Was sich hingegen verändert „immer an den Rändern“ und veau, das deutlich abgehoben ist von dem hat, ist die Einbettung der Künste und auch dort sei „Fruchtland“. der platten Zerstreuung und der Unterhal- der Neuen Musik in das Umfeld der Medien. tung. Kunst will immer die Konzentration Der Unterhaltungsterror ist heute so stark, Katzer, der durch die Aufführung seiner auf eine Sache und möchte auch Erhellen- dass die Künste es schwer haben, sich darin multimedialen Aktion L’homme machine – des zu dieser Sache beitragen. Der Weg zu behaupten. Vieles, was Künste entwickelt Der Maschinenmensch im November im hierzu ist zum Teil rational, geht aber auch haben, wird dann kommerzialisiert und zum Schlosstheater Rheinsberg und in der Kunst- wesentlich über das Emotionale, sollte im Massen-Event gemacht. Deswegen lastet und Ausstellungshalle in Bonn für Aufmerk- Endeffekt dann wie selbstverständlich Ratio- ein ungeheurer Druck auch auf den Künsten samkeit in der Szene gesorgt hatte (siehe nales und Reflektierendes beim Hörer aus- in ihrer Suche nach Neuem. Ich bin deshalb Artikel ab Seite 27), wurde vor allem durch lösen. der Meinung, dass Kunst immer an den seine sinfonischen Werke bekannt (darunter Rändern entsteht, nie in der Mitte. Denn Opern wie Das Land Bum-Bum, das Ballett Kann Neue Musik Ihrer Meinung dort, wo sich die Ränder befinden, da ist Schwarze Vögel und das Trio für , Vio- nach auch altern? das Fruchtland. loncello und Klavier Essai avec Rimbaud). Katzer: Neue Musik ist nicht abgehoben Mit dem heute 69-jährigen Hanns Eisler- von der älteren Musik, denn ältere Musik Meisterschüler sprach Birgit Jank. war auch einmal neue Musik. Insofern hat

 24 MUSIK ORUM Sie haben die Entwicklung der Neuen offiziellen Kulturpolitik oft einen recht kon- tik der Programmgestalter, in einer vorhan- Musik in der DDR und nun im Osten Deutsch- servativen Zug, mit dem wir uns als Kom- denen Trägheit des Denkens, da kaum lands ja nicht nur über Jahrzehnte mitgeprägt, ponisten Neuer Musik auseinander zu set- nachgeforscht wird, was es denn an Musik sondern haben sich auch politisch geäußert. zen hatten. Aber diese merkwürdige Stel- der Komponisten aus Ostdeutschland ge- Hat sich für Sie nach der politischen Wende lung des Künstlers, der nicht einzufunktio- geben hat und gibt. Die Musik in der DDR etwas grundsätzlich in der Wahrnehmung, in ren war in dieses politische System, die war nicht gleichbedeutend mit Musik der der Rezeption und vielleicht in den Produktions- brachte dem Künstler zum anderen eine DDR. Künstler, die sich am Weltstandard bedingungen Ihrer Musik geändert? besondere Beachtung – man könnte auch orientiert haben, haben keine „DDR-Musik“ Katzer: An den Produktionsbedingungen sagen: Beobachtung. Daraus resultierte ein geschrieben, sondern sie haben in der DDR hat sich nichts geändert, ich war ja immer hoher Stellenwert in der Gesellschaft. Das komponiert, was ein wesentlicher Unter- freischaffend. Insofern ist das für mich die ist total weggebrochen, der Künstler sieht schied ist. Ich vermute, dass dies vielen gleiche Situation, die ich immer hatte. Es sich heute mehr an der Peripherie der Programm-Machern nicht bekannt ist. Ich haben sich aber einige andere Parameter ver- Gesellschaft und er wird nur sehr begrenzt sehe manchmal hier auch einen Zug zur ändert: In der alten Gesellschaft, der Gesell- wahrgenommen, es sei denn, er gehört zu Ignoranz. Das muss nicht bösartig sein, aber schaft der DDR, hatten Künstler ganz allge- den fünf oder sechs Großen in seiner jewei- es ist das Sich-Bewegen in eingefahrenen mein einen hohen gesellschaftlichen Stellen- ligen Kunst. und gewohnten Denkmustern. Ich selbst wert. Das hing mit verschiedenen Dingen Dann gibt es natürlich auch Verände- werde ja relativ viel gespielt. Man kann zusammen: Zum einen hatte sich die politi- rungen im Musikbetrieb, die ich zu spüren Kammermusik schreiben und schöne Auf- sche Führung, die ja zum Teil aus der Arbei- bekomme. Es ist z. B. heute für Künstler aus führungen haben, aber das wird dann von terklasse kam, die Bewahrung und Pflege den Neuen Bundesländern sehr schwierig, der Presse, wenn es nicht an prominenten des kulturellen Erbes besonders auf die auf renommierte Festivals zu gelangen. Orten stattfindet, kaum wahrgenommen Fahnen geschrieben. Deshalb gab es in der Vielleicht liegt ein Grund hierfür in der Poli- und es ist, als hätte es das nicht gegeben. ! KUNST KÖNNEbessern!« DEN MENSCHEN Betrachtungen zu Gegenwartsmusik zwischen Rückblick und Perspektive

˜ Georg Katzer, 1935 im schlesischen 1986 Gastprofessor an der Michigan State Habelschwerdt geboren, studierte Kompo- University. Nach der Wiedervereinigung sition bei Rudolf Wagner-Régeny und Ruth gehörte er zwischen 1990 und 2000 dem Zechlin und Klavier in Ostberlin und an der Präsidium des Deutschen Musikrats an. dem in vielen Werken ein semantisches Akademie der Musischen Künste in Prag. Neben seiner kompositorischen Arbeit be- Fundament und/oder akustisches Rohma- Danach war er Meisterschüler von Hanns schäftigt sich Katzer auch mit Computer- terial. Darüber hinaus bedingte Katzers Be- Eisler an der Akademie der Künste der musik, Multimedia-Projekten und Improvi- mühen um visuelle Ausdrucksmöglichkei- DDR, zu deren Mitglied er im Jahre 1978 sation. ten die Entstehung von Werken, die für die gewählt wurde und die ihn zum Professor Katzers Werke wie sein Streichquartett Bühne konzipiert wurden, wie z. B. die für Komposition in Verbindung mit einer (1966/67) und sein Baukasten für Orches- Opern Das Land Bum-Bum und Gastmahl, Meisterklasse ernannte. Hier gründete er ter (1972) dokumentieren schon recht früh die die gesellschaftliche Realität der DDR 1982 das Studio für Elektroakustische Mu- die Ausprägung eines eigenen Stils, der thematisierten, sowie die Ballette Schwar- sik. Seit 1963 lebt Katzer als freischaffen- zum einen durch die Arbeit mit neuartigen ze Vögel und Ein Sommernachtstraum. der Komponist in und bei Berlin. Er ist Mit- Klangtechniken mit dem Schwerpunkt elekt- Katzer möchte seinen Hörern mitteilen, glied der Akademie der Künste von roakustischer Musik und zum anderen durch was ihn an Weltverhältnissen und Zeitum- Berlin-Brandenburg, der Freien Akademie die Aufhebung gattungsspezifischer Gren- ständen nachdenklich macht, zur Kritik nö- Leipzig und der Akademie für Elektroakus- zen gekennzeichnet ist. Verschiedene Ar- tigt und zur klanglichen Stellungnahme pro- tische Musik in Bourges/Frankreich, war ten des Umgangs mit Sprache bilden zu- voziert.

 MUSIK ORUM 25 FOKUS

Das ist aus meiner Sicht eine besondere ein Stück zu entwickeln, es zunächst ganz Die Maschinenhaftigkeit Schwierigkeit, mit der die Komponisten in harmlos, aber dann im Verlauf zu einem des Menschen: Ostdeutschland zu kämpfen haben. Nicht Stück werden zu lassen, das sich selbst auf Katzers multimediale Aktion wenige sind völlig in Vergessenheit geraten. die Füße tritt und diese „Neue Einfachheit“ L’homme machine ging im November im Schloss- zur Karikatur werden lässt. Ich hatte bei theater Rheinsberg lärmend Hat Neue Musik für Sie auch einen der Arbeit an dem Stück immer wieder die über die Bühne. Bezug zu musikalischer Bildung und Erziehung Vorstellung von einem Teufel, der da tanzt, Fotos: Jean Severin von Menschen, insbesondere von Kindern und nachdem in einen Automaten eine Münze Jugendlichen? geworfen worden ist. Mich hat seit dieser Katzer: Neue Musik für Kinder und Zeit immer wieder die Frage beschäftigt, Jugendliche ist für mich außerordentlich wie vermeintlich perfekte Ordnungen ent- wichtig. Auf Anfrage und Initiative der Aka- stehen und diese dann durch vermeintliche demie der Künste, deren Mitglied ich ja Störungen wieder zerfallen. Je weniger bin, war ich in Schulen im Land Branden- Toleranzen ein System hat, desto schneller burg unterwegs, um mit Schülern zu musi- zerbricht es dann auch. Das war ja das zieren und kleine Kompositionsversuche zu gesellschaftliche Problem in der DDR. wagen. Diese Erfahrungen waren für mich positiv und anregend. So habe ich z. B. in Im November wurde in der Musik- Perleberg an einem Musikbetonten Gymna- akademie Rheinsberg und in Bonn Ihre multi- sium eine Improvisationswerkstatt durch- mediale Aktion „L’homme machine – Der geführt, wo ich mit den Schülerinnen und Maschinenmensch“ in Auseinandersetzung Schülern zusammen improvisiert, nach gra- mit Textzitaten aus La Mettries Schriften fischer Notation und nach Dirigat gearbeitet aufgeführt, der wohl zu den radikalsten und habe. Die Schüler haben vieles nach dem meistgescholtenen Denkern der französischen Prinzip Vorschlag und Gegenvorschlag Aufklärung zählt. Was brachte Sie mit diesem selbstständig versucht. Herausgekommen Projekt nach Rheinsberg? ist ein anhörenswertes Stück, das wir auf Katzer: La Mettrie hat bereits im 18. eine CD aufgenommen und den Schülern Jahrhundert formuliert, dass der Mensch zugeschickt haben. Nach ihren Aussagen ha- unfrei und ein Automat sei. Deshalb sei für ben sie aus diesem Workshop mitgenom- einen Verbrecher zunächst der Arzt zustän- men, wie unterschiedlich Musik entsteht dig und erst dann der Richter. Diese und und dass auch ein Geräusch kunst- und andere Gedanken sind heute brandaktuelle musikfähig sein kann. Die Schüler haben Themen, mit denen wir uns auseinander nach meinem Eindruck eine Vorstellung setzen müssen. Rheinsberg ist für solche davon bekommen, wie aus Einzelteilen Produktionen ein idealer Ort. Es gibt dort eine Form entstehen kann und wie Kompo- ein Theater, das nicht ständig bespielt wird. nisten arbeiten. Musikunterricht sollte eine Man hat eine Bühne zur Verfügung, man Hör- und Kreativitätsschule sein. Und hier- kann dort Dinge ausprobieren und es gibt zu kann Neue Musik sensibel und sensibili- ein außerordentlich hilfsbereites Team. sierend vieles beitragen, besonders wenn Rheinsberg ist technisch hervorragend aus- Musik aktiv ausgeübt wird. gestattet, hat nicht nur die Bühne, sondern auch eine gute Licht- und Tontechnik. Ihre Komposition „D-Dur- Musik- Sehr wichtig war für mich, dass man in der maschine“ von 1973 ist ein frühes Zeugnis Musikakademie in der Zeit der Produktion Ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema wohnen, also rund um die Uhr mit dem Nachdem Erich Honecker 1971 in der Mensch und Technik. Wie kam es zu dieser Projekt beschäftigt sein kann. Es ist etwas DDR die offizielle Erlaubnis zum „tabu- Komposition? ganz anderes, als wenn man sich nur trifft, losen“ künstlerischen Schaffen gegeben Katzer: Diese Komposition hing mit ein paar Stunden probiert und dann die hatte (freilich nur unter der Vorausset- der damaligen Diskussion um die „neue Aufführung abspielt. Die theatralischen zung, dass dies auf sozialistische Weise Einfachheit“ in der Bundesrepublik zusam- Höhepunkte, die in Rheinsberg produziert geschehe) und damit auf die kulturellen men. Das kulturpolitische System in der werden und immer eine große Kraftan- Gegebenheiten nur reagierte, fühlte sich DDR oder besser: einzelne Verantwortli- strengung für die Akademie sind, halte ich die damals „jüngere“ Komponistengene- che wie Frau Ragwitz hatten dies wohl so für außerordentlich fruchtbar. Diese Auf- ration kurzfristig wie befreit. Es schien, als verstanden, dass nun einfache Musik für führungen, die zwar für die Region wichtig wären die Hindernisse nun endgültig die breiten Massen zu komponieren sei. sind, haben es trotzdem geschafft, eine weggeräumt, die einem bedingungslos Man hat uns Komponisten von politischer hohe überregionale Ausstrahlung und An- zeitgemäßen Komponieren zuvor im Seite her damals aufgefordert, uns hiermit ziehungskraft zu erlangen. Wege gelegen hatten; dass mit einigen auseinander zu setzen. Das hat mich schon Stolpersteinen noch zu rechnen war, gereizt, aber ich wollte dies auch ad absur- konnte zu diesem Zeitpunkt freilich nie- dum führen. So entstand die Idee, aus ei- mand ahnen. nem einzigen Akkord, dem D-Dur-Akkord,

 26 MUSIK ORUM »AUCH EINE MUSIK IST Maschine«

Nina Noeske über Georg Katzers „D-Dur-Musikmaschine“ (1973)

as Zitat aus der Überschrift stammt von Wolfgang Rihm, der im D Zusammenhang mit seiner Oper Hamletmaschine über die Motiva- tion seines Schaffens aufklärt.1 Ein solcher Satz gibt zunächst Rätsel auf: Was hat die musikalische Kunst, zumal im Singular, mit der „Maschine“ zu tun, die im Alltag bloßes Mittel zum Zweck ist, ohne dass sie als eigene sinnsetzende Instanz in Frage käme? Auf den ersten Blick scheint von der Idee des Kunstwerks kaum etwas Dies also in etwa die Ausgangslage, in der weiter entfernt zu sein als die Maschine: Wenn Musik also „Maschine“ ist, Georg Katzer 1973 seine D-Dur-Musikma- so müsste man schließlich fragen, welchem Zweck dient sie dann? Was schine für Orchester komponierte, die dann produziert sie, wie funktioniert sie – und wer hat sie konstruiert? Ist sie zwei Jahre später in Potsdam uraufgeführt unter diesen Umständen überhaupt als „Kunst“ zu bezeichnen? wurde.2 Vor dem Hintergrund seines dama- ligen kompositorischen Schaffens nimmt sich das Werk durchaus merkwürdig aus. als Inbegriff von „Tonalität“ auch in der Gang gesetztes D-Dur, das zudem erst beim Während zu dieser Zeit DDR unter Komponisten, die ernst genom- zweiten Versuch „funktioniert“, wenn auch seine Serenade 3 (für H[anns] E[isler]) fertig men werden wollten, verpönt. Er verirrte sich nicht ganz reibungslos. (Georg Katzer zufol- stellte und sich damit hinsichtlich der Ge- in musikalisches Schaffen allenfalls als Anspie- ge sollte es in der ursprünglich geplanten räuschkomponente in enger Nachbarschaft lung, die nur Augenblicke währte. Die D-Dur- Ballett-Fassung des Stücks der Teufel per- zu Helmut Lachenmann positionierte und Musikmaschine hingegen baut ganze Flächen sönlich sein, der das Geschehen in Gang Friedrich Goldmann seinen dritten, aleato- von D-Dur auf, ohne diese zu verlassen, und setzt, um jene „Lust“ zu produzieren). risch inspirierten Orchester-Essay vollende- gewährt „schönem Klang“ volle Entfaltung. Die Maschine scheint alt und partiell ein- te, verkörpert die D-Dur-Musikmaschine, zu- Schnell wird jedoch deutlich: Der Schein gerostet zu sein. So „leiert“ das D-Dur zu- mindest auf den ersten Blick, längst Obso- trügt. Handelt es sich doch um maschinell nächst, bevor das Gerät nach einiger Zeit letes. Denn zu dieser Zeit war der Dreiklang verfertigtes, mithilfe eines Münzeinwurfs in auf vollen Touren läuft und dabei auch das

 MUSIK ORUM 27 FOKUS

Ohr und den Blick auf (vermeintliche) Idyl- sehentlich von „DDR-Musikmaschine“).4 Es machine, in der er auf jenen Philosophen ver- len freigibt – es klingen Wagners Rheingold- ist somit nicht in jedem musikalischen Mo- weist, der im 18. Jahrhundert mit seinem Beginn, Almglocken und Tschaikowsky an. ment der „Avantgardist Katzer“, der sich äu- gleichnamigen Buch Aufsehen erregte: Ju- Die Idyllen schlagen jedoch nach einiger Zeit ßert, sondern der Komponist lässt das „An- lien Offray de La Mettrie behauptete in in Bedrohung um und die Komposition en- dere“ ebenso zu Wort kommen, um es in durchaus sozialkritischer Absicht, da er die det, fern von harmonischen Klängen, in Ge- seiner Unhaltbarkeit musikalisch zu entlarven. Seele des Menschen beim Sezieren nicht ge- räusch. Dies die Kurzfassung der semantisch (Man könnte hier von „Dekonstruktion“ funden hatte, dessen Maschinenhaftigkeit.5 verhältnismäßig eindeutig bestimmbaren sprechen). D-Dur stellt hier – so viel Raum Hiermit pointierte er nur den Zeitgeist eines Dramaturgie, deren Erkennbarkeit nicht zu- ihm auch eingeräumt wird – in erster Linie Jahrhunderts, in dem in der Enzyklopädie letzt Katzers Hang zur Lautmalerei zu ver- ein Zitat dar: Das mögliche Zusammenspiel Diderots und d’Alemberts zu lesen war: danken ist. von Idylle, Harmonie, Regression, Automa- „Der Philosoph ist eine menschliche Maschi- Hinsichtlich dieser Komposition bei der tik, Beschädigung, Funktionslosigkeit und ne wie jeder andere Mensch; aber es ist eine Analyse von Rhythmus und Harmonik stehen zuletzt ernsthafter Bedrohung muss jeder Maschine, die durch ihre Mechanik fähig ist, bleiben zu wollen, hieße, dem Stück nicht Rezipient für sich klären. Dass hier ein Zu- über ihre Bewegungen nachzudenken.“ 6 gerecht zu werden. Im Übrigen betonte der sammenhang besteht, ist jedoch kaum von Ähnliches ließe sich auch von der (selbst- Komponist selbst immer wieder, dass ihn der Hand zu weisen. Zusammenfassend lie- reflexiven) D-Dur-Musikmaschine sagen. weniger das „Material“ als die hiermit mögli- ße sich – um mit Adorno zu sprechen – von Mit der Faszination, die von La Mettrie che „Aussage“ interessiere.3 Nachdem das „Entfremdung durch die Kulturindustrie“ ausging, lassen sich u. a. auch jene zahlrei- D-Dur, wenn auch mit Hindernissen (z. B. sprechen, die sich in der massenhaften Au- chen Werk-Abschnitte besser verstehen, die Cluster-Glissandi), einigermaßen in Gang tomatisierung ästhetischer Bedürfnisse ma- innerhalb der Musik Katzers das mechani- gesetzt wurde, erfolgt nach etwa zwei Drit- nifestiert (Katzer selbst verwendete kürzlich sche Moment als das „Fremde“ prononcie- teln des Stücks, eingeleitet durch musikali- den Ausdruck „DDR-Spaßgesellschaft“). Auf- ren (zu denken wäre hier u. a. an die „Klari- sche Anarchie (in der Partitur heißt es: gelöst wird dieser Zustand erst durch des- nettenmechanik“ des Konzerts für Cembalo „Lärm“), ein radikaler Bruch. Dieser Bruch – sen kompositorische Thematisierung. und Bläser von 1977. Ein Pendant zum „Mu- auch als bedrohlicher „Abgrund“ vernehmbar Jene Vorgehensweise, in der eine (wie auch sikalischen Würfelspiel“, das im 18. Jahrhun- – wird schließlich von der Maschine einge- immer beschaffene) „Gegeninstanz“ im Werk dert bekanntlich beliebt war, kann zudem in holt, die nach einiger Zeit „überdreht“. Es fol- thematisiert wird, um sich mit dieser künst- Katzers mit akustischen Versatzstücken ar- gen wiederum Cluster, die (wie es in der Parti- lerisch auseinander zu setzen, ist in der DDR beitendem Baukasten für Orchester von 1971 tur heißt) einmal „hässlich“, einmal „schön“ in den 70er und 80er Jahren auffallend häu- erkannt werden). Es war der berüchtigte gespielt werden sollen. Doch in beiden, al- fig zu finden: Zumal das per-aspera-ad-astra- Marquis de Sade, der sich von La Mettrie ternativ zu spielenden Schlüssen baut sich Schema wiederholt musikalisch für obsolet ebenfalls inspirieren ließ; mit Blick auf des- noch einmal reinstes D-Dur auf. Das Stück erklärt wurde (z. B. in Friedrich Goldmanns sen Zeichnungen könnte man von insze- schließt – konsequenterweise – mit einem 1. Sinfonie); Friedrich Schenker setzte sich nierten masochistischen bzw. sadistischen leise nachhallenden Schlagzeug-Knall, wäh- zudem mit den negativen Implikationen von „Körper-Maschinerien“, künstlichen Körpern rend der Pianist stumm die Handflächen auf künstlerischer „Virtuosität“ als bloß äußerli- von gigantischem Ausmaß sprechen. De die Saiten legt. Der Spuk hat ein Ende. chem Effekt auseinander. „Tonalität“ (in die- Sade misstraute bei all dem den „totalitären sem Falle sowohl D-Dur als auch A-Dur) ist Tendenzen“ einer bestimmten Form sozia- Unverhohlene Bedrohung auch in Katzers beiden Streichermusiken ler Harmonie. 7 (1971 und 1972) Gegenstand der kompo- Gilles Deleuze und Félix Guattari nah- Dass hier die Auseinandersetzung mit sitorischen Reflexion. Der zweite Satz der men wiederum zwei Jahrhunderte später den „Schönheit“ und „Hässlichkeit“, vermeintli- zweiten Streichermusik soll- cher „Idyllik“ und deren Fratze, mit künstle- te ursprünglich sogar die Fähig, über Bewegung nachzudenken: Ulrike Sowodniok und rischer Wahrhaftigkeit gegenüber deren in- Überschrift „Vom wiederge- Franz Bauer in Katzers „Maschinenmensch“. dustriell verfertigtem Ausverkauf das zent- fundenen Dreiklang“ tragen. rale Thema ist, ist kaum von der Hand zu Doch nicht nur das akus- weisen. Künstlich hergestelltes D-Dur schlägt tische Klischee, auch der in seiner unerträglichen Penetranz unver- durch die Musikgeschichte mittelt in unverhohlene Bedrohung um. An verfolgbare Maschinen-To- dieser Stelle ist der Gegenwartsbezug deut- pos beschäftigte Katzer nicht lich erkennbar. nur einmal. So gibt es eine Die zu diesem Zeitpunkt in der DDR noch Musikmaschine Nr. 2, die zu präsente, ideologisch funktionalisierbare Idee Beginn der 80er Jahre vor des („tonalen“) Sozialistischen Realismus wird, allem mit Hilfe elektroakus- ebenso wie das in der Bevölkerung in West tischen Materials hergestellt wie Ost verbreitete Bedürfnis nach „Harmo- wurde und – ganz ähnlich nie“ und „Ruhe“, von Katzer in die Kompo- wie die Nr. 1 – hier opernhaf- sition hineingenommen, um sich mit ihr als te Idyllen in Form von Pucci- Gegeninstanz – werkimmanent! – auseinan- ni-Anklängen demontiert. der zu setzen. (Katzer berichtete, dass er das Ende der 90er Jahre verfass- D-Dur durchaus als „DDR“ verstanden wis- te Katzer seine „multimedia- sen wollte: Ein Kritiker sprach sogar ver- le szenische Aktion“ L’homme

 28 MUSIK ORUM Faden de Sades auf und konstruierten u. a. die philosophische Idee des „organlosen Kör- pers“ als „Wunschmaschine“. Heiner Müller schließlich, der mit den Komponisten um Paul Dessau insofern in Verbindung stand, als er gern gesehener Gast in dessen Zeuthe- Stefan Fricke, Publizist und Vizepräsident der Deutschen Sektion der ner Domizil war, ließ sich nicht zuletzt vom Internationalen Gesellschaft für Neue Musik: Kafka-Buch eben dieser Autoren inspirieren. Müller hatte sich für seine Hamletmaschine (1979) den Gedanken der Geschichte als »Biotop Avancierte Musik extrem bedroht« quasi automatisch ablaufendem, meist un- heilvollem Gebilde künstlerisch zu eigen ge- Neue Musik ist keine pure Nischen- geschieht, heißt für die Zukunft deshalb macht. Das „Subjekt“ existiert hier als sol- kunst mehr. Die Zahl derer, die sich hier- auch, seine in diesem Bereich heraus- ches nicht, die Figuren spalten sich in ihre zulande für aktuelle, avanciert-subtile ragende Export-Position preiszugeben. Funktionen auf, Hamlet wird zur Frau und Kunstklangproduktionen interessieren, Einsicht, Fantasie, zukunftsorientiertes will, wie es zuvor Andy Warhol formulierte, sie hören und sich mit ihnen auseinander Vorstellungsvermögen und daraus „eine Maschine sein“. Auch in diesem Fall spie- setzen, wächst stetig, vor allem in jüngs- len – wie bei Katzer – Fund- und Versatz- ter Zeit. Ergebnis des jahrzehntelangen stücke der Konvention (hier der sprachli- intensiven und unermüdlichen Engage-

chen) eine wesentliche Rolle. ments von Komponisten, Interpreten, Foto: Karger Was zunächst wie schwärzester Ge- Musikologen, Vermittlern, Veranstaltern. schichtspessimismus anmutet, ist jedoch auf- Der erste Befund zur Neuen Musik lösbar mit dem Hinweis von Deleuze und heute heißt: Sie hat ihr Publikum gefun- Guattari, dass „die Entdeckung der Verket- den, man muss gar von Publika sprechen, tungen in der Immanenz […] dasselbe wie so vielfältig, bunt und verschieden sind ihre Demontage“ bedeute: „Und die De- die gegenwärtigen musikalischen Artiku- montage einer maschinellen Verkettung ist lationsformen, die unsere Zeit, die die das Erschaffen und wirkliche Beschreiten ei- uns umgebenden Parallelwelten mit den ner Fluchtlinie.“ 8 Es scheint, als hätte Katzer ästhetischen Mitteln von heute reflektie- mit seiner Komposition jene Fluchtlinie be- ren. treten. Die Bedrohung der Sozialismus-Ma- Der zweite Befund ist indes erschre- schine ist, zumindest ästhetisch, gebannt. ckend. Angesichts der finanziellen Dau- menschrauben, die die Politik zunehmend und vornehmlich im innovativen Kultur- 1 Wolfgang Rihm: „Notizen neben einer Probe. Reste von Pro- sektor fester dreht, ist das nun lebens- grammhefttext-Entwürfen“, in: Booklet zur CD Wergo fähig gewordene Biotop mit seiner stu- gezogene Konsequenzen könnten das 286195-2, S. 6 f. verhindern, die Situation sogar deutlich 2 Edition Peters, Nr. 10335. Das Werk ist als Tonträger bislang penden Artenvielfalt extrem bedroht. nicht im Handel erhältlich. Sollte das schon Argument genug verbessern: Man muss dafür noch nicht 3 vgl. Gerd Belkius, „Interview mit Georg Katzer“, in: Weima- sein, um die Neue Musik weiterhin zu einmal sehr mutig sein, sondern nur rer Beiträge 28 (1982), H. 4, S. 30-41, hier S. 32 und 36. fördern – arrivierte Musik egal zu welcher Ohren und Augen offen halten und 4 Katzer im Gespräch mit d. Verf. (September 2004). lernen wollen. 5 Ursula Pia Jauch: Jenseits der Maschine. Philosophie, Iro- Zeit bedurfte immer der nachhaltigen nie und Ästhetik bei Julien Offray de La Mettrie (1709-1751), Förderung und Zuneigung durch die München/Wien 1998, S. 455. öffentliche Hand –, so muss man sich 6 Zit. nach: Hans Ulrich Gumbrecht: „Tod des Subjekts als Eks- auch (wirtschaftlich) klar machen, dass Stefan Fricke, Publizist in Berlin, studierte tase der Subjektivität“, in: Postmoderne – globale Differenz, Musikwissenschaft und Germanistik und hg. v. Robert Weimann und Hans Ulrich Gumbrecht, unter Deutschland gerade mit seiner neuen Mitarbeit von Benno Wagner, Frankfurt 1991, S. 308. Musikszene eine einzigartige internatio- gründete 1989 gemeinsam mit Sigrid 7 Michael Pfister/Stefan Zweifel: Pornosophie und Imachina- nale Strahlkraft besitzt. Konrad den PFAU-Verlag (Saarbrücken); tion. Sade – La Mettrie – Hegel, München 2002, S. 212. Offensichtlich aber haben Politiker verschiedene Lehraufträge/Workshops an 8 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Kafka: Für eine kleine Literatur, und andere wichtige Entscheidungsträ- der Universität des Saarlandes, den Uni- aus dem Frz. v. Burkhart Kroeber. Frankfurt 1976, S. 83. ger unserer Gesellschaft immer noch versitäten Dortmund, Köln, Dresden, Leip- nicht bemerkt: Die gern so genannte zig, dem Konservatorium Wien, der Hoch- „Kulturnation Deutschland“ ist das Land schule der Bildenden Künste Saar; Dozent Die Autorin: der Neuen Musik. Gerade ihretwegen bei den Darmstädter Ferienkursen 2004. Er editiert verschiedene Schriftenreihen Nina Noeske studierte Musikwissen- kommen Musiker aus aller Welt seit Jahr- zur zeitgenössischen Musik, ist Mitglied im schaft, Musikpraxis und Philosophie zehnten in die Bundesrepublik, um hier Redaktionsbeirat der Musikzeitschrift in Bonn und arbeitet seit 2002 an einer das musikalisch Avancierte zu studieren, Positionen, ständiger Mitarbeiter der Dissertation zur Musik in der DDR. um die Möglichkeiten der mannigfachen „Akustischen Kunst“ vor Ort kennen zu Neuen Zeitschrift für Musik und Vizepräsi- lernen. dent der Deutschen Sektion der Interna- Die Förderung der Neuen Musik tionalen Gesellschaft für Neue Musik. derart zu minimieren, wie es momentan www .neue-musik-gesellschaft.de

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Im britischen Kulturradio schlägt die CD-Dokumentation „Musik in Deutschland“ Wellen: »DIE DEUTSCHEN kümmern SICH UM IHRE MUSIK«

ie wirkt die zeitgenössische aufgabe kommt Morgan zu dem Ergebnis, weis zu stellen. Von Fidelio F. Finke bis Ca- WMusik Deutschlands auf das dass das abgeschlossene Projekt insgesamt rola Bauckholdt, von und Ausland? Welches Profil haben heu- 1,5 Meter im Bücherregal beanspruchen Dieter Schnebel bis Friedrich Schenker und wird. Kein Zweifel, so der Publizist: „Die Friedrich Goldmann, von Hermann Reutter tige deutsche Komponisten andern- Deutschen kümmern sich um ihre Musik.“ bis Christoph Marthaler und Detlev Müller- orts? Und überhaupt: Haben groß Nicht weniger beeindruckend in den Au- Siemens – die Vielfalt der deutschen Nach- angelegte und aufwändige Reihen gen des Rezensenten ist die dazugehörige kriegsmusik wird klingend vor Ohren geführt. wie die CD-Dokumentation „Musik Dokumentation, der er „tadellosen wissen- Morgan: „Von der Neuen Romantik und der in Deutschland 1950-2000“ eine schaftlichen Standard“ bescheinigt. Jedes Neuen Einfachheit habe ich schon gespro- Daseinsberechtigung? Werk wird einzeln beschrieben – so staunt chen. Wenn man sich diese CDs anhört, so der Rezensent –, jeder einzelne gesungene ist der Unterschied zum Vorhergehenden wie Text abgedruckt. In Buchform würden die ein Schlag ins Gesicht! Vorher eine etwas Diese in Zeiten schwächelnder Konjunk- gesammelten Kommentare einen vollständi- trockene Experimentierkunst, nachher ein tur oft gestellten Fragen erhalten nun aus gen Überblick über die deutsche Nachkriegs- neues, fabelhaft reichhaltiges Gefilde. Man einer ungewohnten Ecke eine eindeutige und musik abgeben. Alles jedoch leider in einem erlebt diese 50 Jahre hautnah.“ ermutigende Antwort: BBC 3, der renom- gebildeten Wissenschaftsdeutsch, stöhnt Mor- Auch die ausgeglichene Behandlung von mierte Kultursender Großbritanniens, wid- gan: „Glauben Sie bloß nicht, dass Sie sich Ost und West im geteilten Deutschland wird mete der Edition in einer umfassenden Sen- mit einem Wörterbuch in der Hand hindurch- besonders geschätzt – im politischen Minen- dung zur besten Sendezeit eine ausführliche beißen können.“ Etwas kleinlaut wird der feld des Kalten Krieges eine lobenswerte Ei- Besprechung. Im lebhaften Dialog zwischen Wunsch nach einer englischen Übersetzung genschaft. Hier exemplarisch einige Zitate: dem britischen Musikpublizisten Nick Mor- zum Ausdruck gebracht, wenn auch nur on- Moderator: Wie ist es mit dem Titel: gan und einem wissbegierigen Rundfunk- line, um gleich danach – angesichts des Aus- „Musik in Deutschland 1950-2000“? Wird redakteur wurden das Wesen der deutschen maßes der damit verbundenen Arbeit – fal- ihm die CD-Reihe auch gerecht? Ist dies die Nachkriegsmusik und die besonderen Er- lengelassen zu werden. Geschichte der Musik eines Deutschlands, das rungenschaften der Dokumentation gründ- Die Dokumentation lebt jedoch bekannt- sich nach dem Weltkrieg spaltet und dann – lich unter die Lupe genommen. Das Fazit lich nicht vom Geschriebenen, sondern vom mit dem Fall der Mauer – wieder zusammen- der beiden Journalisten lässt sich in ein paar Hörbaren. Dementsprechend bringt die Sen- kommt? wohlerwogenen Worten auf den Punkt brin- dung auch ausgiebige Klangbeispiele, um Morgan: Ganz genau. Was beeindruckt, gen: „Ein wirklich verblüffendes Projekt!“ die große Bandbreite des Projekts unter Be- ist die Tatsache, dass das Projekt großartig Zunächst verblüfft das rei- ausgewogen ist. So haben ne Ausmaß der Edition, die „1,5 Meter im Bücherregal“: Britische Musikpublizisten loben die CD-Edi- wir faszinierende Parallelpfa- diesbezüglich vergleichbare tion „Musik in Deutschland“ wegen ihres Umfangs – und ihrer Qualität. de: die extreme Avantgarde Bestrebungen im Vereinigten im Westen, im Osten dage- Königreich vollends in den gen der sozialistische Realis- Schatten stellt. 150 CDs in mus, die „Ossis“ auf dem 19 Boxen, von denen zehn Weg, eine neue Freiheit zu in Großbritannien kommer- finden, die „Wessis“ dagegen ziell vertrieben werden sollen im Begriff, sich vom Elfen- – immer wieder werden die- beinturm der extremen se Zahlen mit Ehrfurcht zitiert Avantgarde abzuwenden. als Beweis dafür, wie ernst es Es ist eine faszinierende die Deutschen mit ihren kul- Geschichte, und ich glaube, turellen Leistungen meinen. sie ist durchaus repräsenta- Nach einer kleinen Rechen- tiv…

 30 MUSIK ORUM Moderator: Haben Sie den Eindruck, es werden dann und wann besondere Interessen verfolgt? Schließlich ließe sich irgendeine, auch leise angedeutete Tendenz oder politische Bevorzugung nur schwer vermeiden. Morgan: Den Eindruck habe ich nicht. Jörn Arnecke, Komponist und Teilzeitprofessor für Musiktheorie an Die Deutschen haben die Angewohnheit, der Hochschule für Musik und Theater Hamburg: rein gar nichts zu verbergen – man denke nur an eurotrash, hier lassen sie dement- sprechend alle Tendenzen selber zu Wort Hinein ins Musikleben – unter die Menschen! kommen. Ich kann zwar nicht mit letzter Sicherheit behaupten, es würde kein unbe- Die Lage ist besser als die Stimmung. genialischen oder unangepasst- kannter Komponist, keine Gruppe irgend- Natürlich gäbe es für einen Komponis- angepassten Gedankenturm. Er muss wo auf ungerechte Weise übersehen. Die ten viele Gründe zu klagen, sich unver- hinein ins Musikleben, unter die Men- Leistung als Ganzes jedoch ist verblüffend standen zu fühlen. Aber war das jemals schen, unter die Musiker und die Hörer. umfassend. anders? Und die Intendanten, die Veranstalter, ✽ Wir haben – immer noch und hoffent- die kaufmännischen Leiter – sie sollten Natürlich gibt es auch Kritikpunkte: Die lich immer weiter – viele Fördermöglich- ihn lassen. Denn nichts beweist besser Reihe „Angewandte Musik“ hätte besser un- keiten, gerade für junge Komponisten. als ein Mensch von Fleisch und Blut: terteilt werden müssen: 10 CDs in einer Das Musikleben nimmt wieder stärker Die Musik lebt! Box seien offensichtlich zu viel, zumal dort wahr, dass das Repertoire Abwechslung, die Kirchenmusik ausgesprochen fehl am Auffrischung braucht. Die Zeit der star- Platz wirke. Zu oft habe man Uraufführun- ren Gedankenkonzepte, der äußerlichen gen zuungunsten ästhetisch höherrangiger Perfomances ohne innere Überzeugungs- Wiederaufnahmen bevorzugt. Nur ein ein- kraft, der rein demonstrativen Experi- ziger Interpret – Dietrich Fischer-Dieskau – mente scheint vorüber. würde ins Rampenlicht gestellt; warum nicht Die zeitgenössische Musik befindet auch andere? Mehr ungekürzte Klangbei- sich ja nicht erst seit gestern in der Krise. spiele und weniger Auszüge wären auch Im Gegenteil: Jetzt, so ist mein Ein- wünschenswert gewesen. Interessenten, die druck, findet sie einen Weg hinaus – zu die deutsche Sprache nicht voll beherr- neuen Aspekten des Klangs, zu neuem schen, würden arg benachteiligt. Austausch mit dem Hörer. Dass dies in Alles in allem jedoch überwiegen die Zeiten schwieriger Rahmenbedingungen Pluspunkte: der Mut des Verlegers BMG geschieht – das sollte doch gerade für RCA Red Seal, ein solches Projekt über- die zeitgenössische Musik sprechen! haupt auf den Markt zu bringen; die Bereit- Und doch hat auch ein heutiger, willigkeit von BMG, weiterführende Anga- jüngerer Komponist Wünsche, Visionen: ben über die Klangbeispiele zu bringen, Dass Qualität sich durchsetzen möge auch wenn sie nicht von ihnen selber stam- und nicht Geschäftigkeit. Dass den Kom- men; die Offenheit des Deutschen Musik- ponisten Zeit gelassen wird und sie den rats, eher unbekannte Entwicklungen – Mut haben, sich Zeit zu nehmen. Dass Jörn Arnecke, Jahrgang 1973, lebt in Theatermusik, Filmmusik, Fernsehmusik – an den Schalthebeln Menschen sitzen, Hamburg, schrieb Auftragswerke u. a. für auch gebührend zu berücksichtigen; und die sich ein eigenes Urteil bilden und die Hamburgische Staatsoper (Das Fest im immer wieder die hohe Qualität der Musik nicht nur große Aufträge an große Meer) und die Bundesmusikakademie und der künstlerischen Wiedergabe. Namen vergeben. Dass die Rundfunk- Rheinsberg (Drei Helden). Seit Oktober Schließlich erhebt sich die „Gretchen-Fra- orchester sich an ihren Auftrag erinnern, 2001 ist er Teilzeitprofessor für Musiktheo- ge“ nach der Zielgruppe einer solchen Mam- Neues zu spielen und zu senden. rie an der Hochschule für Musik und Thea- mut-Reihe. Da ist Morgan nicht um eine Und ganz konkret: Dass die Sinfonie- ter Hamburg und hat einen Lehrauftrag an der Universität Hamburg (Musikwissen- Antwort verlegen: „Wer das alles kaufen orchester sich wenigstens eine einzige schaftliches Institut). Die Freie und Hanse- soll? Nun, die Reihe wendet sich vor allem Planstelle für einen Komponisten leisten, stadt Hamburg verlieh ihm 2003 das Bach- an den Wissbegierigen, an den inquiring der – für ein Jahr oder auch für länger – Preis-Stipendium. Im Sommer 2004 erhielt mind. Und sicherlich gibt es doch in dieser das Innenleben dieses Orchesters inten- er den Paul Hindemith-Preis des Schles- Welt inquiring minds. Als ich die Ankündi- siv kennen lernt, der für diesen Klang- wig-Holstein Musik Festivals. gungen der Reihe im Jahr 2000 zum ersten körper komponiert, seine Musiksprache Mal las, da dachte ich: Hurra! Mittlerweile dem Publikum vermittelt und sie in die www.arnecke.de sind drei Jahre verflossen, aber die Wartezeit Schulen und Musikschulen trägt. Wäre hat sich gelohnt.“ es so schlimm, wenn dafür (beispiels- J. Bradford Robinson weise) eine zweite Geige weniger im Orchester säße? Der Autor wertete den BBC-Sendemitschnitt für das MUSIK- Wir sind dabei umzudenken. Der FORUM aus und übersetzte in die deutsche Sprache. Komponist muss herunter von seinem

 MUSIK ORUM 31 FOKUS

KLANGERZEUGUNG DER experimentellen Art

Die Deutsche Gesellschaft für elektroakustische Musik als Sammelbecken künstlerischer Grenzgänger – porträtiert von Michael Harenberg

it der Auffassung, dass Die DecimE übernahm die bestehenden Das eigentliche Experimentalstudio für „M Klang mehr sei als in ganz- Mitgliedschaften in anderen Verbänden wie elektronische Klangerzeugung, in dem ab zahligen Verhältnissen schwingen- die der C.I.M.E., dem Deutschen Musikrat 1962 eigene Kompositionen produziert wur- de Materie und dass Audio-Kunst und der IGNM (Internationale Gesellschaft den, baute auf verschiedenen technischen für Neue Musik). Eine ihrer Hauptaufgaben mehr meint als der überlieferte Arbeiten in Adlershof auf. Diese setzten be- sieht sie in der Verbreitung elektroakusti- reits etwa 1949 ein, als Oskar Sala vom Ber- Musikbegriff, sucht die elektro- scher Musik sowie einer gerechteren Einstu- liner Rundfunk (DDR) den Auftrag erhielt, akustische Musik auch ein anderes fung dieser Musik bei der GEMA. In das ers- ein neuartiges Quartett- mit zwei Publikum als das, das sich – mit te Jahr der noch jungen DecimE fällt die Doppelspieltischen anzufertigen. Das Trau- einem Konzertabonnement ver- Gründung der bis heute vierteljärlich er- tonium wurde zwar entworfen, kam jedoch sehen – immer nur auf den be- scheinenden Mitgliederzeitschrift Mitteilun- offenbar nie zum Einsatz. Immerhin diente gen. Auch die weiteren Aktivitäten und Pro- rühmten Solisten kapriziert.“ es als Vorbild für die spätere Entwicklung jekte wie Mitgliederkonzerte, Teilnahme an des Subharchords, das in den frühen 60er Mit diesen Worten umriss Komponist Symposien und Festivals sowie die Grün- Jahren im „Labor für akustisch-musikalische Georg Katzer das Ansinnen elektroakusti- dung einer eigenen Audio-CD-Reihe haben Grenzprobleme“ von Ernst Schreiber ange- scher Musik. Sie habe nicht den streng deter- sich bis heute als zentrale Themen der De- fertigt wurde. Die Entscheidung zugunsten minierten Werkbegriff, wie er in der instru- GeM erhalten. der Entwicklung eines elektronischen Instru- mentalen Musik immer noch (und immer Nachdem 1994 die Mitgliedschaft in der ments fiel nicht zuletzt auf Grundlage der wieder) vorherrsche. „Sie neigt zu Grenz- C.I.M.E. nach langer Diskussion aufgegeben Kenntnis von Stockhausens Tonbandkom- überschreitungen, zu Verbindungen mit an- wurde, erfolgte die bis heute gültige Umbe- positionen der 50er Jahre. Ein derartig gro- deren Künsten“, so Katzer. Nicht zu überse- nennung zur Deutschen Gesellschaft für ßer Zeitaufwand für Schnitt- und Klebear- hen sei der Kreis der Hörer, der – vom Avant- elektroakustische Musik und damit der Bei- beiten schien selbst dem am Rundfunk- und garde-Rock kommend – keine Schwellen- tritt zur NICE (New International Commu- Fernsehtechnischen Zentralamt eigentlich angst gegenüber der elektroakustischen Mu- nity of ) als neue inter- für Magnettonentwicklung zuständigen Mit- sik empfände, sei doch z. B. der Bruitismus nationale Dachorganisation. Die NICE hat arbeiter, Gerhard Steinke, zu hoch. Interna- aus der Anfangszeit der musique concrète sich 2002 in gemeinsamem Einverständnis tionale Studiobesuche und Diskussionen in (letztlich der italienischen und russischen aller Mitgliedsorganisationen aufgelöst.* Köln, Mailand, Darmstadt, Gravesano und Futuristen) im Avantgarde-Rock zu einer Warschau bestärkten ihn in dieser Einschät- tragenden Säule geworden. Vorgeschichte: akustisch- zung, die international letztlich zur Entwick- Mit Katzers Leitsätzen zu den ersten musikalische Grenzprobleme lung hybrider Studios sowie des modularen Werkstatt-Tagen 1988 anlässlich der Grün- und spannungsgesteuerten Synthesizers führ- dung einer DDR-Sektion der internationa- Früher Vorläufer einer Organisation für te, wie LeCaine und Buchla ihn erstmals ge- len Dachorganisation C.I.M.E. (Confédéra- elektroakustische Musik in der DDR war tion internationale de Musique Electroacous- historisch sicherlich das Studio für künstliche tique) beginnt die interessante und bewegte Klang- und Geräuscherzeugung im Rund- * Details zu den hier lediglich gestreiften Vorgeschichte der heutigen Deutschen funk- und Fernsehtechnischen Zentralamt Themen finden sich in dem im Jahr 2000 Gesellschaft für elektroakustische Musik (RFZ) der Deutschen Post in Berlin-Adlers- erschienenen Portrait DEGEM – ein Rhizom (DeGeM). Gut zwei Jahre später folgt die hof, das eng mit der bis heute im Westen von Martha Brech auf der DeGeM CD-ROM weitgehend unbekannten frühen Geschich- „Klangkunst in Deutschland Nr. 1“ (Schott/ vereinigungsbedingte Neugründung nach Wergo 2000), das auf Grundlage von Inter- BRD-Recht mit 38 Gründungsmitgliedern te der elektroakustischen Musik in der DDR – und damit auch der Vorgeschichte der views mit Georg Katzer, Folkmar Hein und unter Leitung von Georg Katzer als „Deci- André Bartetzki entstand und als Vorlage für mE" (Deutsche C.I.M.E.). DeGeM – verbunden ist. diesen Beitrag dient.

 32 MUSIK ORUM baut und Moog ihn erfolgreich vermarktet unkünstlerisch bezeichnet oder polemisch das Ziel, möglichst alle elektroakustischen hat. Damit waren ästhetische Grundsatzfra- mit „konstruktivistischen Kompositions- Kompositionen des E-Musik-Bereichs aufzu- gen nach der adäquaten Arbeitsweise zwi- Methoden der spätbürgerlichen Musik“ gleich- listen und zu kategorisieren. Eine Fassung schen der medial orientierten musique con- gesetzt wurde. Um dieses sich andeutende mit über 18 000 Einträgen erschien zuletzt crète in Paris und der seriell-puristischen kulturpolitische Dilemma zu umgehen, zog auf der DeGeM-CD-ROM „Klangkunst in Elektronischen Musik des WDR-Studios in man sich – zumindest terminologisch – aus Deutschland Nr. 1“ (Schott/Wergo 2000). Köln endgültig obsolet und lediglich als Ent- der Affäre, indem man neutralere Begriffe Viermal im Jahr erscheint die Mitglieder- scheidungen der Ankopplung an unter- wie „Klangerzeugung“ oder „Elektronische zeitschrift Mitteilungen. Gründer und Schrift- schiedliche historische Traditionslinien er- Klangkunst" verwendete. leiter bis 1998 war Folkmar Hein. Die ers- kennbar geworden. Es folgten Schallplatten mit experimen- ten Ausgaben enthielten hauptsächlich Interna In der DDR verlief die weitere Entwick- teller Musik, die auch der insgesamt doch sowie das Kalendarium internationaler elekt- lung zweigleisig: Einerseits wurde das Sub- steigenden Popularität der elektronischen roakustischer Ereignisse (Konzerte, Festivals, harchord als Rundfunkinstrument und die Klangkunst in der DDR in den 60er Jahren Wettbewerbe und deren Einreichungsfristen Möglichkeiten elektroakustischer Musik von Rechnung trugen. Gerhard Steinke produ- etc). Bald jedoch wurde die Zeitschrift um Komponisten wie Paul Dessau begrüßt (selbst zierte 1965/66 eine 16-teilige Sendereihe einen Teil erweitert, der sich auf die Veröf- das Ministerium für Kultur wurde für Wei- im Deutschlandsender mit dem Titel Auf fentlichungen von Tonträgern und Büchern terentwicklung des Instruments sowie die dem Wege zu einer neuen Klangkunst. In ihr sowie Inhaltsangaben aus Zeitschriften und Einrichtung eines elektronischen Studios ge- wurden, beginnend mit dem Subharchord Festivalberichte bezieht. Gleichzeitig ent- wonnen), andererseits gab es große Wider- des RFZ, alle wesentlichen internationalen stand unter Andre Bartetzki neben Themen- stände gegen elektronische Musik, die als Ansätze und Studios der Zeit vorgestellt. heften ein wachsender redaktioneller Teil Allerdings wurde die Folge über Stockhau- mit Artikeln zu historischen, kompositori- Die Herausgabe einer CD-Reihe mit sen und das WDR-Studio in Köln letztlich schen und technologischen Schwerpunkten. elektroakustischen Werken ist eine der nicht gesendet. Zu den zentralen Aktivitäten zählt auch zentralen Aktivitäten der DeGeM. das DeGeM-Archiv im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsru- „Es wird immer weiter he. Dieses basiert auf der Idee der Einrich- gehen, Musik als Träger tung eines der Öffentlichkeit zugänglichen von Ideen…“ Archivs für elektroakustische Musik aus : Techno Pop, Electric Café, 1986 Deutschland. Neben Tonträgern soll es auch Partituren, Noten, Zuspielbänder, Auffüh- Die DeGeM versteht sich – als Mitglied rungshinweise und andere relevante Mate- eines auch ohne Dachverband weiterhin be- rialien enthalten. Auf der Jahresversammlung stehenden internationalen Netzwerks aus 1992 wurde eine entsprechende Koopera- Studios, Künstlern, Festivals und Symposien tion mit dem ZKM vereinbart, das bereits die – als breites und offenes Sammelbecken al- europäische Niederlassung des IDEAMA ler an ihrem Gegenstand Interessierten. Das (Internationales Digitales Elektroakustische können Komponisten, Ingenieure, Musiker Musik Archiv) beherbergt. Beide Archive und Musikwissenschaftler ebenso sein wie befinden sich noch im Aufbau, ihre Bestän- Techniker, Kritiker oder natürlich auch Hö- de sind aber bereits über Internet im ZKM rer. Ihr Hauptziel ist nach wie vor die künst- abzurufen. Die Aufnahme von Produktio- lerische Beschäftigung mit elektroakusti- nen in das Archiv ist geografisch sortiert, d. h. scher Musik und deren Förderung und nicht ausschließlich auf solche von Mitglie- Verbreitung auf den Ebenen der Informa- dern der DeGeM beschränkt. tion, Produktion, Rezeption sowie der bis Hatte die DeGeM bisher nur Audio-CDs heute in der Ausbildung wie in der For- herausgegeben, so entstand 1999 die Idee, schung vernachlässigten theoretischen Re- mit einer ersten CD-ROM nicht nur reine flexion. Sie ist damit einerseits Interessens- Musikprojekte, sondern auch Texte, Bilder vertreterin ihrer knapp 200 Mitglieder und Videos zur Präsentation medialer Wer- gegenüber anderen Institutionen, anderer- ke zu nutzen. Als Kuratorin konnte die Kom- seits zunehmend wichtiges Informations- ponistin Sabine Schäfer und als Konzep- netzwerk nach innen und außen. Mitglieder tions- wie Produktionspartner das Projekt können Einzelpersonen und Institutionen „Ästhetische Strategien – AUDIO“ des Fach- wie Musikhochschulen oder elektronische bereichs Kulturinformatik an der Universität Studios sein. in Lüneburg unter Rolf Grossmann gewon- Neben den zentralen Aktivitäten der nen werden. Die fünf aufwändigen, html- jährlichen Mitgliederversammlung sowie basierten, multimedialen Künstlerportraits der Audio-CD- und CD-ROM-Reihe, gab dieser Produktion erschienen unter der Pro- und gibt es immer wieder große Projekte, jektleitung von Michael Harenberg 2000 wie z. B. die „Dokumentation elektroakusti- bei Schott/Wergo. Weitere „Klangkunst in scher Musik“, die 1988 auf Initiative von Deutschland“-Portraits sind zwar geplant, Folkmar Hein begonnen wurde. Sie verfolgt fanden aber 2004 mit der CD-ROM „NETZ-

 MUSIK ORUM 33 FOKUS

MUSIK“ zu musikorientierten Seiten im In- ternet erstmal eine ganz andere, nicht weni- ger spannende und hochaktuelle Fortsetzung. Diese Veröffentlichung der Forschungsarbeit von Golo Föllmer von der Universität Halle konnte ebenfalls in Kooperation mit Schott/ Wergo realisiert werden. Ganz aktuell und in einer ersten Realisie- Ziele und Projekte der Gesellschaft für Neue Musik rungsphase ist die Idee, wiederum in Ko- operation mit dem ZKM ein Internetradio mit dem Schwerpunkt elektroakustischer GET Musik zu etablieren. Mit kurzen Moderatio- together! nen könnten so auch abseits von Konzerten und Mitgliederversammlungen aktuelle Wer- Sie versteht sich als Fachheimat der unterschiedlichen Berufs- und Interessengruppen ke präsentiert und/oder themenbezogene der zeitgenössischen Musik: Ein Kernpunkt der Arbeit der Gesellschaft für Neue Mu- Sendungen produziert werden. sik (GNM) liegt in der Vernetzung ihrer Mitglieder. Sie ist die Brücke für die Einzelmit- Es ist eine Tatsache, dass es keine medial glieder und die Verbindungsstelle ihrer korporativen Mitglieder, vor allem der zahlrei- vermittelte Musik mehr gibt, die nicht ein chen regionalen Gesellschaften für Neue Musik. technisches und digitales Stadium in Pro- duktion, Distribution und/oder Rezeption Der Zweck der Gesellschaft, so heißt gen, das in Zusammenarbeit mit dem re- durchläuft. Damit ist elektronische Musik – es in der Satzung, ist „die Förderung neu- nommierten „Ensemble Modern“ veran- wenn auch nicht mehr mit großem „E“ ge- er Musik unter Berücksichtigung ihrer in- staltet wird. schrieben wie im Köln der 60er Jahre – dividuellen und gesellschaftlichen Funk- æ Regelmäßig organisiert die GNM spätestens mit Stilen wie Elektropop in den tion, ihrer weiteren Entwicklung sowie Veranstalterkonferenzen zu aktuellen Fra- 80er Jahren, erst recht aber seit Techno und der Vermittlung zwischen Theorie und gen der Programmgestaltung, zu ökono- allen nachfolgenden stilistischen Weiterent- Praxis“. Der Zweck soll aufgrund einer mischen und juristischen Themen oder wicklungen und Ableitungen so populär, zu- unvoreingenommenen Analyse möglichst zur kulturpolitischen Situation. GNM- gänglich und verbreitet wie nie zuvor. Nur aller Arten lebendiger musikalischer Pra- Mitglieder können an diesen Veranstal- die wenigsten Anhänger der damit eng ver- xis verfolgt werden, ohne Ansehen der terkonferenzen kostenlos teilnehmen. bundenen Clubculture wissen allerdings, dass Person und ohne Rücksicht auf Ge- æ Die GNM ist auf wichtigen Festivals es neben und lange vor dieser heute zum schlecht, Rasse, Nationalität, Alter, soziale der zeitgenössischen Musik mit unter- großen Teil kommerziellen Bewegung die Herkunft und Stellung, religiöse und poli- schiedlichen Aktionen präsent. So haben künstlerisch-experimentelle Auseinanderset- tische Anschauung aller Beteiligten. Dies die Mitglieder die Möglichkeit der Präsen- zung mit Technologien und ihren ästhetisch- soll auf Bundes-, auf Länderebene und in tation am Stand der GNM bei den Do- musikalischen Anwendungsmöglichkeiten ge- regionalen und lokalen Zusammenhän- naueschinger Musiktagen. Ein „Get toge- geben hat und bis heute gibt. Wie schon gen geschehen sowie durch internationa- ther der Neuen Musik“ findet jährlich Katzer 1988 mit Hinweis auf Rockmusik an- le Aktivitäten. anlässlich der Musikmesse in Frankfurt deutete, ergeben sich so neue spannende æ Als gewachsener Treffpunkt der in- statt. Grenzgänge, auf denen es weiterhin viel zu ternationalen Szene bieten die Weltmu- æ Ein Newsletter, der regelmäßig als E- entdecken gibt – für beide Seiten! siktage der Internationalen Gesellschaft Mail erscheint, informiert über wichtige für Neue Musik (IGNM), die jährlich in Neuigkeiten der Gesellschaft. Im Print-Be- www .degem.de einem anderen Land durchgeführt wer- reich kooperiert die GNM u. a. mit der den, immer wieder auch deutschen Kom- neuen musikzeitung, in der sie von der ei- Der Autor: ponisten die Chance der Aufführung ih- genen Arbeit berichtet. Diese Plattform rer Werke vor internationalen Veranstal- steht auch den regionalen Gesellschaften Prof. Michael Harenberg beschäftigt tern und Fachleuten. für Neue Musik zur Verfügung. Weitere sich kompositorisch wie theoretisch æ Die GNM ist aktives Mitglied im Partner sind die Neue Zeitschrift für Musik mit computergenerierter Musik im Rah- Deutschen Musikrat. Ziel und Aufgabe der und die Zeitschrift MusikTexte. men instrumentaler, installativer sowie Arbeit ist es, in diesem Spitzenverband æ improvisierter Musik; diverse Preise Die GNM ist offen für alle Stilrich- der Musikinstitutionen in Deutschland und Stipendien sowie internationale tungen und ist auch schon vom Vereins- die zeitgenössische Musik in der hiesigen Vorträge und Publikationen zum zweck her zugänglich für jedermann. Sie Kulturlandschaft stark zu positionieren Schwerpunkt „Musik und digitale Me- hat bereits Mitglieder aus den unterschied- und kreative Prozesse anzuregen, die ihre dien“. Harenberg leitet den Studien- lichsten Bereichen der Komponisten, In- Stabilisierung und Weiterentwicklung be- gang Musik und Medienkunst an der terpreten, Veranstalter und Musikwissen- fördern. Hochschule der Künste in Bern als Pro- schaftler. Mitglieder aus der Elektronik, æ Die GNM engagiert sich für innova- fessor für Musikalische Gestaltung und dem Clubbereich und der spartenüber- Medientheorie und ist stellvertretender tive und zukunftsorientierte Projekte Neu- greifenden Szene sind willkommen. er Musik. Dazu gehört u. a. das regelmä- Vorsitzender der Deutschen Gesell- www.ignm-deutschland.de schaft für elektroakustische Musik ßig stattfindende Nachwuchsforum für (DeGeM). Komponisten, Interpreten und Musikolo-

 34 MUSIK ORUM »WIR GEBEN DEN ANSTOSS ZUR SUCHE NACH

ie Jeunesses Musicales DDeutschland (JMD) veran- wirklich Neuem« staltet im nunmehr 20. Jahr den bundesweiten Wettbewerb „Komposition – Schülerinnen und Im Interview: Martin Christoph Redel zu Absichten, Zielen, Schüler komponieren“. Visionen des Bundeswettbewerbs „Komposition“

Jahr für Jahr bewerben sich hier junge Leute mit ihren Kompositionen um einen der begehrten Plätze im anschließenden Förderkurs „Treffen junger Komponisten“. Martin Christoph Redel, Schlagzeuger, Kom- ponist, Professor an der Musikhochschule in Detmold und langjähriger Bundesvorsitzen- der der Jeunesses Musicales Deutschland, hob den Wettbewerb einst aus der Taufe. Kreativität fördern: Mit ihm sprach Susanne Fließ. Theo Brandmüller und Martin Christoph Die Jeunesses Musicales ist mit Mit- Redel erläutern Kursteil- gliedsverbänden in über 50 Ländern die größte nehmern unterschiedliche Klangmöglichkeiten. Jugendorganisation weltweit und bietet eine Fotos: Jeunesses Musicales schier unüberblickbare Anzahl von Projekten für junge Musiker an. Welches Segment deckt speziell die Jeunesses Musicales Deutschland ab, worin besteht ihre besondere Kompetenz? Martin Christoph Redel: Der Dachver- band, die Jeunesses Musicales International, hat seit 1945 ihren Sitz in Brüssel, die deut- sche Sektion wurde bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet. Die einzelnen nationalen Sektionen haben sehr unter- schiedliche Ausrichtungen und entscheiden auch innerhalb ihrer eigenen Gremien über die Inhalte. Beispielsweise ist unser direkter Nachbar, die JM Österreich, beinahe aus- schließlich als Konzertveranstalter tätig. Wir in der Jeunesses Musicales Deutschland ver- stehen uns als Ansprechpartner für junge Musiker, wenn es um Weiterbildung, inter- nationalen Austausch oder innovative Pro- jekte geht. Wir veranstalten zwar auch Kon- zerte, aber bei uns sind dies dann eher die Abschlüsse unserer Kurse. Wie die Inhalte im Einzelnen aussehen, darüber berät ein Gremium, das sich aus Vertretern unter- schiedlichster Provenienz zusammensetzt. Diese Menschen kommen aus der Praxis, aus Hochschulen, aus Politik und Kultur und beraten gemeinschaftlich über Kursangebo- te, weil sie die schulische Praxis kennen und den Bedarf, die Strömungen, die pädagogi- schen Fragestellungen. Im Moment bieten wir rund 100 Kurse und Projekte pro Jahr

 MUSIK ORUM 35 FOKUS

an, die sich auch an internationale Teilneh- sendung der Werke und mit der Auswahl Bewerbungen keine Rolle. Selbst in der mer richten, wie Opern- oder Kammermu- der Stücke und Komponisten durch die freien Kategorie nicht, in der das ohne wei- sikkurse. Jury. Die ausgewählten Komponisten wer- teres vorstellbar wäre. Dies liegt vielleicht den anschließend nach Weikersheim ein- an der dezidierten Instrumentenvorgabe, Unter den zahllosen Projekten der geladen und erarbeiten im Rahmen von bei der sich die Bewerber nicht trauen, wo- JMD befinden sich bis heute zwei Projekte für zwei Kursen – immerhin haben wir jedes möglich noch Elektronik hinzuzufügen, um zeitgenössische Komposition, ein Kurs und ein Jahr 20 bis 30 Preisträger – mit leibhafti- nicht von der Auswahl ausgeschlossen zu Wettbewerb… gen professionellen Musikern und ebensol- werden. Andererseits glaube ich, dass unser Redel: …wobei wir den Kurs mit dem chen Kompositionsdozenten ihr selbst kom- Bewerberkreis im Alter zwischen 10 und Titel „Jugend komponiert“ schon 1975 poniertes Stück. Zum Kurs gehört auch ein 21 Jahren wenig Gelegenheit hat, sich mit erstmals unter dem Dach der JMD durch- Tonmeister, der das live gespielte Stück „ernsthafter“ elektronischer Musik ausei- geführt haben. Dieser Kurs richtete sich an entsprechend aufzeichnet und abmischt, so- nander zu setzen, sieht man einmal von komponierende Laien. Sie konnten sich dass der Preisträger des Wettbewerbs mit der Nutzung gewisser Keyboard- oder PC- bewerben, mussten Kursgebühr bezahlen seiner eigenen CD nach Hause gehen kann Effekte ab, die aber dann eher im Bereich und dann wurde mit Dozenten und Musi- und ein Dokument seines Werks, gespielt der Popmusik einbezogen werden. kern und dem jungen Komponisten selbst von Profis, in Händen hat. Der Preis des im Rahmen des Kurses über seine Kompo- Wettbewerbs besteht also neben einem ein- Was verstehen Sie unter „ernsthafter sitionen diskutiert. 1983 kam dann das wöchigen Kurs auch aus der Aufführung elektronischer Musik“? „Forum junger deutscher Komponisten für des eigenen Werks mit professionellen Musi- Redel: Damit meine ich solche Aus- Orchestermusik“ ins Spiel, das der Kompo- kern und der Aufzeichnung der Komposi- prägungen, wie wir sie von Stockhausen, nist Klaus Wüsthoff initiierte. Es sollte für tion mit professionellen Mitteln. Boulez, Nono und anderen kennen. Hierzu junge Komponisten eine Möglichkeit sein, gehört ein technisches Know-how und ihre Werke mit Hilfe eines Orchesters zum Wie viele Nachwuchskomponisten Equipment, das keinem Jugendlichen zur Klingen zu bringen. Unser Kurs hatte, wenn beteiligen sich jedes Jahr am Wettbewerb? Verfügung steht. Hinzu kommt, dass die man so will, den Nachteil, dass man nicht Redel: Das hängt sehr stark von der Jugendlichen bis etwa 15 Jahre erfahrungs- musizierte, sondern über die eingereichten ausgeschriebenen Besetzung ab. Als einmal gemäß wenig Musikliteratur kennen. Und Kompositionen nur sprach. Die Dozenten ein Trio für Bassbariton, Flöte und Klavier wenn doch, dann sicherlich nicht elektro- machten sich natürlich sehr wohl ein Bild ausgeschrieben war, hatten wir bestenfalls nische Musik, sondern instrumentale. vom Klang der Stücke, junge Komponisten 50 Bewerber. Die Ausschreibung für ein hingegen hatten, aufgrund ihrer eigenen oder zwei Klaviere bzw. Klavier vierhändig Deutschland – Musikland: Für alle Kenntnisse, womöglich eine sehr reduzier- ergab weit mehr als 100 Einsendungen. Arten instrumentaler und vokaler Spielpraxis te Vorstellung ihrer Werke. Da ich auch im gibt es inzwischen Förderprojekte und Fortbil- so genannten Empfehlungsausschuss des Im Laufe der Jahre haben Sie sicher- dungsmaßnahmen. Wird Ihrer Meinung nach Forums saß, war es dann nur noch ein lich eine Reihe von Komponisten betreut, die für junge Komponisten genug getan? kleiner Schritt, die Verbindung zwischen inzwischen renommierte Künstler sind. Redel: Natürlich ist es nie genug, was Kurs und Forum herzustellen. So beschlos- Besteht denn ein institutionalisierter Kontakt man für junge Musiker tun kann, aber es sen wir dann, neben den bestehenden Kur- zu den „Ehemaligen“? gibt doch inzwischen eine beachtliche Zahl sen eine bundesweite Fördermaßnahme Redel: Als der Wettbewerb die ersten von kleineren und größeren Kompositions- mit Wettbewerbscharakter anzubieten. Der Jahre lief, haben wir, wie ich zugeben muss, wettbewerben und Workshops, auf natio- Wettbewerb heißt heute „Bundeswettbe- leider nicht so sehr auf die Dokumentation naler Ebene ebenso wie auf internationaler. werb Komposition“ mit dem Untertitel der ersten Ergebnisse geachtet. Vor einiger Und ohne das im Detail überprüfen zu wol- „Schülerinnen und Schüler komponieren“ Zeit haben wir jedoch via Internet eine um- len, möchte ich doch behaupten, dass der und ist in jedem Jahr ausgeschrieben für fangreiche Recherche durchgeführt und am „Bundeswettbewerb Komposition“ für viele bestimmte Instrumentenkategorien. Das Ende zwei volle A4-Seiten mit den Namen andere Initiativen den Anstoß gegeben hat. heißt, ein junger Komponist ist aufgefor- „unserer“ Preisträger zusammengetragen, dert, zum Beispiel für eine Besetzung mit die entweder tatsächlich Komponisten ge- Mit welchen ästhetischen Normen Klarinette, Akkordeon, Bratsche, Kontrabass worden sind oder aber in anderen professio- muss sich ein junger Komponist zu Beginn des und Schlagzeug ein Stück zu schreiben – nellen Bereichen der Musik tätig wurden. 21. Jahrhunderts auseinander gesetzt haben? wenn er nicht schon zufällig ein Stück für Teilweise genießen sie heute internationa- Was alles muss man wissen, wenn man be- genau diese Besetzung in der Schublade les Renommee, wie zum Beispiel Enno ginnen will zu komponieren? liegen hat – und es einzureichen. Darüber Poppe, Charlotte Seither, Harald Münz, Redel: Hierüber gehen die Ansichten hinaus darf in einer „freien Kategorie“ jedes Sebastian Stier oder Benjamin Schweitzer, weit auseinander. Der eine betrachtet hand- auch anders besetzte Werk eingereicht wer- um nur einige zu nennen. werkliche und stilistische Kenntnisse und den, sofern ein Tonträger beigefügt wird. Fähigkeiten als eine conditio sine qua non, Dieser kann die Originalbesetzung ebenso Wie sind die Werke junger Kompo- der andere empfindet sie als Ballast. Ich sein wie eine Computersimulation. nisten des 20. und 21. Jahrhunderts beschaf- persönlich bin der Meinung, dass jeder fen? Spielen beispielsweise die Möglichkeiten Komponist in der Kontinuität jahrhunderte- Und was macht den Wettbewerbs- elektronischer Klangerzeugung eine große langer kompositorischer Entwicklungsgänge charakter aus? Rolle? steht und sich dessen bewusst sein muss, Redel: Der eigentliche Wettbewerb be- Redel: Interessanterweise spielt die um in dem Wissen darum nach wirklich ginnt im Grund genommen mit der Ein- Einbeziehung von Elektronik bei fast allen Neuem suchen zu können. !

 36 MUSIK ORUM KOMPOSITIONSWETTBEWERBE IN DEUTSCHLAND

Die Absicht ist stets dieselbe: Kinder und Jugendliche sol- Deutschland führen sechs Bundesländer – teilweise im Ver- len an das Komponieren herangeführt und zur kreativen bund – ebenfalls Kompositionswettbewerbe durch. Unsere Beschäftigung mit Musik angeregt werden. Neben dem Tabelle informiert über Modus, Bedingungen, Kategorien Bundeswettbewerb „Komposition“ der Jeunesses Musicales und Preise der vier Wettbewerbe:

Baden-Württemberg Berlin/Brandenburg

Name des Wettbewerbs Landeswettbewerb „Jugend komponiert“ Gemeinsamer Wettbewerb „Jugend komponiert“ der Länder Berlin und Brandenburg Gründungsjahr 1991 1995, ab 1999 eine gemeinsame Ausschreibung von Berlin und Brandenburg Häufigkeit Alle zwei Jahre Jährlich Absicht Kinder und Jugendliche sollen zum Komponieren ange- Kinder und Jugendliche sollen zum Komponieren ange- regt werden, darüber hinaus sollen sie die Gelegenheit regt werden. Als Fördermaßnahme werden ihnen in einem haben, ihre Werke öffentlich aufzuführen. Kompositionsworkshop theoretische und praktische Kenntnisse vermittelt. Die Werke werden öffentlich in beiden Ländern aufgeführt. Dadurch erleben die jungen Komponisten den gesamten Prozess bis zur Aufführung. Dauer Februar bis November Mai bis Oktober (von Anmeldeschluss bis Preisträgerkonzert)

Kategorien A: Kompositionen für bis zu sechs Mitwirkende. A (Durchführung liegt bei LMR Brandenburg): vorgege- B: Kompositionen für sieben bis zu 17 Mitwirkende. bene Besetzung, von Duo bis Trio. Aus einem jeweils festgelegten Instrumentarium und B I-III (Durchführung liegt bei LMR Berlin): beliebige Gesang kann ausgewählt werden. Zwischen U- und E- Besetzung von Solo bis Orchester. Zwischen U- und E- Musik wird nicht unterschieden. Musik wird nicht unterschieden. Teilnahmebedingungen Baden-württembergische Jugendliche, die sich zum Junge Komponisten mit Wohnsitz in Brandenburg oder Zeitpunkt der Anmeldung nicht in einer musikalischen Berlin außer Studenten, die an einer Musikhochschule Berufsausbildung befinden. im Fach Komposition unterrichtet werden. Pro Kategorie darf jeweils ein Werk eingereicht werden. Pro Kategorie darf ein Werk eingereicht werden. Eine Eingereichte Werke müssen Originalkompositionen sein. Teilnahme an beiden Kategorien ist möglich, jedoch nicht mit ein und demselben Werk. Altersgruppen I: 12-16 Jahre I: 10-17 Jahre II: 17-21 Jahre II: 18-27 Jahre Preise Die 1., 2. und 3. Preisträger erhalten Geldpreise von Für A: Die 1., 2. und 3. Preisträger erhalten Geldpreise 400, 300 und 200 Euro. Preisträger und weitere von der von 200, 150 und 100 Euro, darüber hinaus Förderpreise. Jury nominierte Teilnehmer werden zu einem Förder- Sie werden zum Kompositionsworkshop in die Musik- kurs in eine Musikakademie in BW mit Fachreferaten akademie Rheinsberg eingeladen. Die Uraufführungen von Komponisten aus BW eingeladen. Die prämierten der eingereichten Werke werden im Rahmen eines Preis- Werke werden im Rahmen des Kurses bei einem Preis- trägerkonzerts mit professionellen Musikern erarbeitet. trägerkonzert von professionellen Interpreten aufgeführt. Für B: Die 1., 2. und 3. Preisträger erhalten Geldpreise von 150, 100 und 60 Euro. Im Rahmen eines Abschluss- konzerts werden die ausgewählten Kompositionen vom Komponisten selbst organisiert und mit eigenen Musi- kern aufgeführt. Jury Mindestens fünf Fachjuroren Drei Fachjuroren: Komponistinnen und Komponisten mit Lehrerfahrung Kontakt (Telefon) Landesmusikrat Baden-Württemberg: 07 21/94 76 70 Landesmusikrat Brandenburg: 03 31/280 35 25 bzw. Landesmusikrat Berlin: 030/39 73 10 87 !

 MUSIK ORUM 37 FOKUS

Worin besteht der Unterschied zwischen zu entsprechen, bestenfalls der von ihm Förderung der Kreativität ganz allgemein – der interpretatorischen Auseinandersetzung selbst erdachten. nicht nur kompositorisch – ist in unseren mit einem Musikstück und der Schöpfung Kursen ein wichtiges Anliegen, gerade in eines Musikstücks? Auch die Interpretation ist Als Leiter des „Bundeswettbewerbs einer Zeit, in der Kreativität immer seltener ja durchaus kreativ und voraussetzungsreich… Komposition“ haben Sie neben Ihren künstle- wird. So beziehen wir auch improvisatori- Redel: Das ist einerseits sicher richtig. rischen Aufgabenstellungen ja auch pädagogi- sche Elemente ein wie tägliches gemeinsa- Der Unterschied ist andererseits der, dass sche Arbeit zu leisten. Welche Rolle spielt die mes Singen. Sicherlich muss man dem man sich als Interpret ja nur bis zu einem pädagogische Seite im Wettbewerb? einen oder anderen Kursteilnehmer auch gewissen Grad von der Vorlage entfernen Redel: Ich sehe meine Aufgabe ganz schon mal deutlich machen, wo er mit sei- kann. Sie bleibt die Basis, auf der jede Inter- klar darin, immer und in jedem Fall einen ner Komposition stilistisch, ästhetisch oder pretation fußt. Der Komponist hingegen jungen Menschen zu ermutigen, kreativ zu handwerklich steht. Denn falsche Hoffnun- beginnt mit einem leeren Notenblatt – hof- bleiben und sich künstlerisch auszudrücken, gen oder Erwartungen in puncto Begabung fentlich mit dem Kopf voller Ideen – und auch wenn seine Kompositionen vielleicht und Befähigung aufkommen zu lassen, wie ist bestrebt, möglichst nicht einer Vorgabe keine bahnbrechenden Stücke sind. Die dies ahnungslose Familienangehörige gern

KOMPOSITIONSWETTBEWERBE IN DEUTSCHLAND

Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz/Saarland

Name des Wettbewerbs Landeswettbewerb „Jugend komponiert“ Landeswettbewerb „Jugend komponiert“ Gründungsjahr 1985 Seit 1994, gemeinsame Ausschreibung von Rheinland- Pfalz und Saarland Häufigkeit Alle zwei Jahre Alle zwei Jahre Absicht Kinder und Jugendliche sollen zum Komponieren Kinder und Jugendliche sollen zur kreativen Beschäfti- angeregt werden. In einem Kompositionsworkshop gung mit Musik angeregt werden. Die Uraufführung der werden den Teilnehmern theoretische und praktische prämierten Werke findet in der Hochschule für Musik Kenntnisse vermittelt. Die Preisträgerwerke werden und Theater Saarbrücken statt. öffentlich aufgeführt. Dauer Dezember bis Juni Juli bis November (von Anmeldeschluss bis Preisträgerkonzert) Kategorien Sparte A (Musik in traditionellen Kompositionsformen), A: Komposition für ein oder zwei Instrumente oder Sparte B (Musik in modern-avantgardistischen Kompo- Singstimme und ein Instrument, sitionsformen), B: Kompositionen für 3 bis 8 Spieler, solistische Besetzung Sparte C (Improvisationen, Tonbandmusik, Collagen, oder solistisch bzw. chorisch besetzter Gesang mit solis- Computermusik), tisch besetztem Ensemble aus 3 bis 8 Spielern oder Chor Sparte D (Musical). a cappella, C: Kompositionen für mehr als 8 Spieler. Alle musikalischen Bereiche sind zugelassen Teilnahmebedingungen Jede/r Schüler/in einer allgemein bildenden Schule in Alle Jugendlichen aus Rheinland-Pfalz oder Saarland. NRW. Jeder Teilnehmer kann bis zu drei Arbeiten Jeder Teilnehmer darf in jeder Kategorie mit einem einreichen. Komponisten können sich zu einem Team Werk teilnehmen. von maximal drei Personen zusammenschließen und Gemeinschaftswerke einreichen. Altersgruppen Keine Altersgruppen, aber das Alter des Komponisten I: 13 Jahre und jünger wird bei der Auswahl der zu prämierenden Werke II: 14-17 Jahre berücksichtigt. III: 18-21 Jahre Preise Es werden Geldpreise bis zu einer Höhe von 8.000 Euro In jeder Altersstufe können bis zu drei Geldpreise verge- vergeben. Die eingereichten Arbeiten sollen vom ben werden. Die Kompositionen müssen mit den Mög- Komponisten selbst oder von Mitschülern aufgeführt lichkeiten einer Schule oder Musikschule aufführbar sein. werden. Eine Unterscheidung zwischen U- und E-Musik Die Landesmusikräte sind bei der Vermittlung von Inter- findet nicht statt. preten behilflich. Teilnahme einzelner Preisträger als Sti- pendiaten am Kompositionskurs der Jeunesses Musicales. Jury Vier bis fünf Fachjuroren: Komponisten, Instrumentalis- Vier Fachjuroren ten, Dirigenten und Schulpraktiker Kontakt (Telefon) Landesmusikrat Nordrhein-Westfalen: 02 11/86 20 64 18 Landesmusikrat Rheinland-Pfalz: 0 61 31/22 69 12

 38 MUSIK ORUM Wenn beide Seiten voneinander lernen: Teilnehmer am Jeunesses Musicales-Förderkurs diskutieren eine Partitur mit Prof. Brandmüller tun, kann für den jungen Menschen und Inwieweit wird Ihre eigene Kompositionstätig- chive voll sind mit Aufnahmen unterschied- seine Lebensplanung zu Problemen führen. keit von diesem Austausch beeinflusst? lichster stilistischer Provenienz. Doch wird Redel: Ich zitiere gern den ersten Satz, die Auswahl der zu sendenden Stück von Steht der Wettbewerb für eine be- den Arnold Schönberg im Vorwort seiner Redakteuren bestimmt, die ihre persönlichen stimmte „Schule“ des Komponierens? Harmonielehre schreibt: „Dieses Buch habe ästhetischen Ansichten über den öffentlich- Redel: Das tut er definitiv nicht. Wir ich von meinen Schülern gelernt.“ Natürlich rechtlichen und somit pluralistisch zu erledi- bemühen uns sehr, so offen wie möglich profitiert nicht nur der Schüler vom Erfah- genden Auftrag der Rundfunkanstalt stel- zu bleiben und das Spektrum an Komposi- rungsvorsprung seines Lehrers, sondern len. Wo z. B. zählt die Berücksichtigung re- tionen so weit wie möglich zu halten. dieser wird durch die kritischen Hinterfra- gionaler Aspekte künstlerischen Schaffens gungen von Ansichten, die man für unum- wirklich noch etwas? Auch in den Konzert- Nun sind Sie nicht nur Leiter dieses stößlich betrachtete, zu neuem Nachdenken sälen bekommt man zeitgenössische Musik Wettbewerbs, sondern auch ausübender Musi- angeregt, und insofern lernen beide Seiten. kaum noch zu hören. Denn die Konzert- ker und Komponist. Hat Ihr kompositorisches veranstalter glauben, ihnen laufen die Abon- Schaffen einen Einfluss auf den Bundeswett- Im Bereich der U-Musik gibt es nenten davon. Ich habe durchaus schon bewerb? unzählige Stilistiken nebeneinander. Ist die viele Konzerte erlebt, in denen ein „norma- Redel: Ich hoffe, dass ich pädagogisch zeitgenössische Musik ähnlich variantenreich? les Publikum“ sich am Ende sehr viel mehr und auch handwerklich-technisch den Kurs- Redel: Selbstverständlich ist die zeitge- vom zeitgenössischen Beitrag als den teilnehmern etwas mit auf den Weg geben nössische Musik mindestens so varianten- „Klassikern“ beeindruckt zeigte. Sicherlich kann. Dass sich darüber hinaus vielleicht reich wie die U-Musik. Leider aber ist die- muss hier manches auf dem Gebiet der jemand auch an meiner Musiksprache orien- ser Reichtum – fast – nicht zu hören. Denn Musikvermittlung getan werden! tiert, ist niemals Intention, kann aber ande- anders als in der Popmusik fehlen vielen rerseits von mir auch nicht verhindert wer- Richtungen der zeitgenössischen Musik mitt- den. Allerdings bin ich fest davon überzeugt, lerweile die Kanäle, um hörbar zu werden. dass so etwas sehr, sehr selten geschieht. Der versammelte Rundfunk in Deutsch- land bildet die verschiedenen Segmente im Als Professor einer Musikhochschule Popmusikbereich viel eher ab – Stichwort: stehen Sie in ständigem Kontakt mit nachfol- Einschaltquoten – als die der zeitgenössi- genden Generationen und lernen voneinander. schen E-Musik. Und dies, obwohl die Ar-

 MUSIK ORUM 39 FOKUS

˜ Zeitschriften für Zeitgenössisches Grenzüberschreitend Genres der zeitgenössischen Musikproduk- informativ tion (z. B. Improvisation) mit ein. Schwerpunkt ihrer Berichterstattung sind die deutschspra- Ganz gleich ob Neue, neue, zeitgenössi- chigen Länder. MusikTexte präsentiert ihre sche oder aktuelle Musik – das musika- Inhalte in Porträts, Werkanalysen, Essays und lisch Anspruchsvolle hat gegenwärtig in Gesprächen. Informationen zu CD-Produk- Deutschland Konjunktur. Daran können tionen und Büchern zur zeitgenössischen auch die massiven Kürzungen und Musik sind rar. Gefährdungen offenbar wenig ändern, Der Zeitschrift angeschlossen ist eine Edi- denen sich die avancierte Musikproduk- tion MusikTexte, in der in zeitlich loser Fol- tion und deren Institutionen ausgesetzt ge Schriften von und über zeitgenössische sehen. Komponisten veröffentlicht werden. Das Web-Angebot beschränkt sich auf den Über- Das Bedürfnis nach einer musikkulturellen blick und die Bestellmöglichkeit bislang er- Grundversorgung drückt sich nicht zuletzt in schienener Hefte. Hier sind außerdem CD- der Nachfrage nach einem publizistischen Produktionen zeitgenössischer Musik, die auf Angebot aus, das gegenwärtig drei Zeit- dem deutschen Markt kaum vertreten sind, schriften für zeitgenössische Musik in ihren erhältlich. vielfältigen Ausprägungen und Verfransun- MusikTexte erscheinen 4-mal jährlich (Feb- Positionen erscheinen 4mal jährlich (Feb- gen zu befriedigen versuchen. ruar, Mai, August, November) im Umfang von ruar, Mai, August, November) mit einem ca. 96 Seiten und kosten im Abonnement Umfang von 64 Seiten und sind zum Preis von EUR 22,– zzgl. Porto und Versandspesen. EUR 22,– zzgl. Versandkosten zu beziehen. Bestellungen an: Musiktexte, Postfach Bestellungen beim Verlag Positionen, 190155, 50498 Köln, oder über musiktexte@ Großstückenfeld 13, 16567 Mühlenbeck. 1983 von vier Musik- musiktexte.de www.positionen-bznm.de journalisten als „verlagsunabhängiges Selbst- www.musiktexte.de hilfeprojekt“ begründet und von den Heraus- gebern Gisela Gronemeyer und Reinhard Oehlschlägel betreut, kooperiert die Zeit- schrift „MusikTexte“ (Druckauflage ca. 1300) mit der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik und unterstützt deren Toleranzgebot. Der Zeitschrif- Sie ist das inter- Die Zeitschrift, die auch zwanzig Jahre tentitel wurde bereits in den 80er Jahren in national führende nach ihrer Gründung in unverwechselbar der DDR gegründet: Herausgeberin Gisela Magazin für die Musik des 20. und 21. Jahr- schlichter Aufmachung daherkommt, will ein Nauck, die die Positionen (Auflage ca. 800) hunderts: „Neue Zeitschrift für Musik“ heißt aktuellen Themen und Autoren der neuen von Beginn an betreut, versteht das Heft als auch 170 Jahre nach ihrer Gründung durch Musik aufgeschlossenes Forum sein. Sie wid- „Zeitschrift für experimentelle und grenzüber- den Komponisten Robert Schumann die Zeit- met sich Komponisten aller Generationen schreitende Musik“. „Positionen“, so die Selbst- schrift, die sich aufgeschlossen gegenüber und bezieht von Zeit zu Zeit auch andere darstellung auf der Website, „bietet ein Fo- dem gesamten Spektrum der aktuellen Mu- rum zur Auseinandersetzung mit komponier- sikproduktion und den angrenzenden Küns- ten Werken, die in Material, Interpretation ten zeigt. Bei einer international verbreiteten und Aufführungspraxis Neuland betreten, mit Druckauflage von 6500 Exemplaren koope- Klanginstallationen, Improvisationsformen, mit riert sie mit verschiedenen Institutionen der der Synthese von Musik und anderen Küns- zeitgenössischen Musik, u. a. mit der Gesell- ten“. Positionen will mit fundierten Werk- schaft für Neue Musik (GNM) und der Deut- und Projektbesprechungen, Porträts, ästheti- schen Gesellschaft für elektroakustische Mu- schen Grundsatzartikeln, Diskussionen, Be- sik (DeGeM) sowie mit dem Label Wergo. richten von Konzerten, Festivals und Tagun- Die Zeitschrift, die im Verlag Schott Musik gen, mit Buch- und CD-Rezensionen aktuelle International erscheint, wird seit 1993 von Tendenzen in der zeitgenössischen Musik Herausgeber Rolf W. Stoll betreut und ver- begleiten und reflektieren. steht sich als ein „verlagsunabhängiges Fo- Das Web-Angebot von Positionen be- rum für alle Bereiche der gegenwärtigen an- schränkt sich auf den Überblick und die Be- spruchsvollen Musikproduktion“. In Themen- stellmöglichkeit (auch im Download) bislang heften widmet sie sich den vielfältigen histo- erschienener Hefte. rischen und gegenwärtigen Fragestellungen

 40 MUSIK ORUM und Tendenzen von Komposition, Interpre- tation und Rezeption. Ihr ausführlicher Rezen- sionenteil vermittelt einen aktuellen Über- blick über die Produktion von CDs mit zeit- ˜ CDs und DVDs für Zeitgenössisches genössischer Musik aller Genres inklusive Aus der Not des Markts leister allen Künstlern avancierter Musik of- eine Tugend machen fen. Die Aufnahme von Produktionen in artist.cd orientiert sich am Wergo-Standard. Die Dokumentation klangkünstlerischer Ausgewählt wird nach den Kriterien künstle- und performatorischer Leistungen jenseits rischer Ansatz, musikalische und technische von Fragen wirtschaftlicher Rentabilität – Ausführung. das ist der Kern eines innovativen Die Produktion der CDs und DVDs ge- Labelkonzepts, das das renommierte schieht im on-demand-Verfahren. Das be- Neue Musik-Label Wergo im vergangenen deutet: kürzeste Produktionszeiten, kein La- Herbst vorgestellt hat. artist.cd bietet gerrisiko, keine Überproduktion, keine Kapital- Künstlerinnen und Künstlern aus dem bindung, daher auch keine hohen Produk- weiten Spektrum der zeitgenössischen tionskosten-Zuschüsse. Die primäre Verkaufs- Musikproduktion neue Chancen der kommunikation findet parallel zu Konzert, Veröffentlichung und Vermarktung ihrer Performance, Ausstellung (Künstlerverkauf) CD- und DVD-Produktionen. statt. Immer häufiger stoßen Komponisten und Gleichzeitig sind im Web-Shop alle CD- Interpreten künstlerisch anspruchsvoller Ar- und DVD-Produktionen von artist.cd erhält- beiten der verschiedenen Genres auch und lich. Auf speziellen Seiten der Internetpräsen- Klangkunst, avanciertem Jazz und Improvi- gerade der zeitgenössischen Musik auf tation haben die Künstler darüber hinaus die sation, von DVDs und Musikbüchern. Schwierigkeiten ökonomischer wie techni- Möglichkeit, sich und ihre Arbeit vorzustellen. Der Zeitschrift angegliedert ist die edi- scher Art. Zugleich sind die traditionellen Die Websites von Wergo und Schott Mu- tion neue zeitschrift für musik, die Bücher Strukturen der Distribution von CDs und sik International/Zeitschriften sind auf www. (teilweise mit CDs) zur Musik der Zeit veröf- DVDs im Verschwinden begriffen – das Inter- cdartist.de verlinkt. Alle Produkte werden in fentlicht. net wird mehr und mehr zum Marktplatz auch die Online-Kataloge von Wergo und der SMI/ Die Web-Präsenz der Neuen Zeitschrift für klang- und bildkünstlerische Produkte. Zeitschriften sowie in den Endkundenkatalog für Musik hält ein vielfältiges Informations- Die Antwort auf diese Herausforderungen ist von Wergo integriert. Die Neuerscheinungen angebot bereit, das das Offline-Produkt Zeit- ein neues Konzept, das sich von gängigen auf artist.cd werden in der Neuen Zeitschrift schrift erweitert. Abonnenten der Zeitschrift Schemata der Labelarbeit und ihren spezifi- für Musik angezeigt, von unabhängigen Au- erhalten Zugang zu einem geschützten Be- schen Problemstellungen ab- und Lösungen toren besprochen und in das Shop-Angebot reich, auf dem sich weitere Informationen zuwendet, die auf zeitgemäßen Techniken der Zeitschrift integriert. und Beiträge zur zeitgenössischen Musik fin- wie burn on demand und internet sales beru- Die bislang unter artist.cd erschienenen den. hen: artist.cd. Aus der Not des Markts wird Produktionen sowie weitere Informationen zu In die Web-Präsenz der Neuen Zeitschrift eine Tugend gemacht. Konzept und Produktionsweise des Labels für Musik integriert, findet sich die bis 1988 Das Label nutzt konsequent diese techni- sind erhältlich unter: im gleichen Verlag erschienene Zeitschrift schen Möglichkeiten und steht als Dienst- www.cdartist.de Melos, die als Internet-„Plattform für ästhe- tische und wissenschaftliche Beiträge und Dokumente“ zur Musik der Zeit wieder auf- lebt. Das Angebot wird durch einen Shop er- gänzt, der Bücher, CDs und DVDs (verschie- dener Verlage) erhältlich macht. Die Neue Zeitschrift für Musik erscheint 6-mal jährlich (Januar, März, Mai, Juli, Sep- tember, November) mit einem Umfang von 88 Seiten und ist zum Preis von EUR 39,– zzgl. Versandkosten zu beziehen. Bestellungen über: Leserservice Neue Zeitschrift für Musik, Postfach 3640, 55026 Mainz oder zeitschriften.leserservice@schott- musik.de www.musikderzeit.de

 MUSIK ORUM 41 FOKUS

Gerhard Baum zu Rundfunkpolitik und Neuer Musik:

UNBEQUEME KUNSTFORMEN SIND VON Kulturfeindlichkeit BETROFFEN

ünchen war der Damm- Der SWR-Intendant Peter Voß ging in für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk he- „Mbruch“ – das war das Fazit seinem kürzlich dem Rundfunkrat vorgeleg- raufbeschwört: Die EU-Kommission – und einer Podiumsdiskussion Ende ten Papier zur „Zukunft der SWR-Klangkör- dies bestätigen interne Informationen aus per“ noch einen Schritt weiter: Er stellt den den vergangenen Tagen – wird ihre Prü- November in München, bei der Kulturauftrag der Sender überhaupt in Fra- fung, ob es sich bei den Rundfunkgebühren Wolfgang Rihm, , ge, indem er ihn nur noch als Teil des Bil- um unerlaubte Beihilfen handelt, intensivie- Peter Ruzicka, Siegfried Mauser, dungsauftrags akzeptiert. Anders als nach ren. Es geht um die Unterscheidbarkeit ge- Peter Sloterdijk und ich die gefähr- dem Krieg, als ohne rundfunkeigene Klang- genüber privaten Anbietern und jetzt auch lichen Kürzungen der Musikförde- körper kein Musikprogramm hätte stattfin- um die Umstände beim Zustandekommen rung diskutiert hatten. den können, sei heute „anspruchsvoller öf- der jüngsten Gebührenerhöhung. Das Voß- fentlicher Rundfunk auch ohne eigene Or- Papier ist Sprengstoff in den Händen der chester möglich“. Rundfunk habe einen Ver- EU-Kommission. Gemeint war die Entscheidung des Baye- mittlungs- und nicht einen Entwicklungsauf- Ernst Elitz, Intendant von Deutschland- rischen Rundfunks, das Rundfunkorchester trag. Und den könne er auch mit vorhande- Radio, hat zum Programmauftrag vor kur- aufzulösen – ein Orchester mit Tradition, nen Tonträgern erfüllen. Mit dieser Argu- zem ausgeführt: „Die Rundfunkgebühr ist Qualität und besonderen Verdiensten in der mentation begründet Voß Überlegungen, mehr als ein Finanzierungsinstrument. Sie ist Jugendarbeit. Eine inhaltliche Begründung sich vom Stuttgarter Festival Eclat zu tren- eine Qualitätssicherheitsgebühr, und daraus wurde nicht gegeben. Intendant Thomas nen, das Vokalensemble des SWR zu redu- ergeben sich Konsequenzen sowohl für die Gruber verwies auf die Gebührenentschei- zieren oder gar aufzugeben und möglicher- Politik wie für die Macher.“ dung der Ministerpräsidenten und auf die weise die Orchester Baden-Baden/Freiburg Voß und andere Intendanten haben besondere Verantwortung von Edmund und Stuttgart zu fusionieren. nicht die Verfassung auf ihrer Seite, wenn Stoiber – eine merkwürdige Interpretation sie den Programmauftrag so eng auslegen. von Rundfunkfreiheit, auf der Intendanten „Sprengstoff“ an die EU Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrück- sonst nachdrücklich bestehen. Der Einspar- lich betont, dass die „derzeitigen Defizite des effekt ist gering, andere herausragende Ein- Beim Fußball beschränkt sich Voß nicht privaten Rundfunks an gegenständlicher sparungen des Senders wurden nicht ge- auf die Vermittlung. Er kauft die Rechte und Breite und thematischer Vielfalt“ nur hinge- nannt. macht damit Profi-Fußball erst möglich. Der nommen werden könnten, soweit und so- Fußballer wird weiter bezahlt, der Musiker lange der öffentliche Rundfunk „in vollem nicht. Diese zynische Feststellung kommt Umfang funktionstüchtig“ bleibe. Das Ge- einem in den Sinn – auch wenn sich Kultur richt betont, der Programmauftrag habe zu und Sport nicht unbedingt vergleichen las- gewährleisten, dass der klassische Auftrag sen. des Rundfunks erfüllt werde, der neben sei- Hoffentlich weiß Voß, welche Gefahren ner Rolle für die Meinungs- und Willensbil- er mit der Einschränkung des Kulturauftrags dung, neben Unterhaltung und Information

 42 MUSIK ORUM seine „kulturelle Verantwortung“ umfasse. Maßnahmen sein, und sie dürfen nicht Züge Die Bestands- und Entwicklungsgarantie des einer willkommenen Strafaktion tragen, wie Staats für den öffentlichen Rundfunk sei nur die jüngsten Überlegungen einiger Intendan- zu rechtfertigen, wenn dieser auch seiner ten des öffentlichen Rundfunks vermuten kulturellen Verantwortung gerecht wird. lassen. Alle Entscheidungen müssen getra- Verfassungsrichter Paul Kirchhoff führt aus, gen sein von dem Wissen um die besondere dass eine freiheitliche Gesellschaft ihren Mit- Baum, ehemaliger Verletzbarkeit der Kultur und von der Ein- gliedern die kulturelle Prägung zur Freiheits- sicht, dass eine Gesellschaft ohne Kultur fähigkeit vermitteln muss – und dies ist auch Bundesinnenmister, nicht zukunftsfähig ist. eine Aufgabe des öffentlichen Rundfunks. Jahrzehnte lang wurden diese Forderun- Freund zeitgenössicher Diskussion zu leise gen für den Kulturauftrag erfüllt – beson- ders wirksam auf dem Feld der Musik. Die Klangkunst, befürchtet Ich fürchte, wir stehen erst am Anfang international herausragende Entwicklung einer Entwicklung, die zu empfindlichen Kahl- der zeitgenössischen Musik wäre in den ver- weitere Kahlschläge schlägen in der deutschen Musiklandschaft gangenen Jahrzehnten ohne zentralen Bei- führen wird. Es wird weitere spektakuläre stand des öffentlichen Rundfunks und sei- in der deutschen Entscheidungen geben – wie die Auflösung ner Klangkörper nicht möglich gewesen! von Orchestern bis zur Aufgabe von Musik- Hier wurde der Rahmen geschaffen, in dem Musiklandschaft festivals, aber auch viele nicht offensichtli- sich das gesamte Spektrum zeitgenössischen che Entscheidungen. Betroffen sind nicht nur Musikschaffens bis heute präsentieren und die Orchester und andere von der öffentli- dokumentieren kann. chen Hand unterstützten Klangkörper, son- Zugegeben, die Neue Musik hat es im dern auch die vielen freien Ensembles, die Vergleich zu zeitgenössischer Malerei und richt an den Schulen immer mehr vernach- Komponisten, die Konzerthäuser und natür- Literatur mit Blick auf eine breite gesell- lässigt wird. Philosoph Peter Sloterdijk sieht lich auch das an Musik interessierte Publi- schaftliche Akzeptanz besonders schwer. die „kontemplativen Eliten“ hinter den „Leis- kum. Der Geruch von elitärer Minderheitenkultur tungseliten“ verschwinden – ja, wir leben in Es ist ein schleichender Prozess im Gan- hängt ihr an. Produktionen sind bisweilen Zeiten zunehmender Kulturfeindlichkeit, ge – er betrifft uns alle! Die öffentliche Diskus- kostspielig, sie „rechnen“ sich nicht. Die von der unbequeme und herausfordernde sion hat begonnen, aber sie ist nicht intensiv „Quote“ wird nicht erfüllt. Beängstigend ist Erscheinungsformen in der Kunst besonders und laut genug. In seinem Papier mokiert allerdings, dass sich heute nahezu alles an betroffen sind – wie eben die Neue Musik. sich Intendant Voß über zu wenig Resonanz ökonomischer Effizienz orientiert und kul- Sicherlich können einschneidende Refor- auf die Entscheidungen des Rundfunks. turelle Bildung zunehmend einen geringe- men in unserem Land, die vielen Menschen Wenn die Musikszene sich nicht wehrt und ren Stellenwert einnimmt. Ein schlimmes Erhebliches zumuten, die Kultur nicht unbe- Strategien für die Zukunft entwickelt, wird Signal ist, dass der Musik- und Kunstunter- rührt lassen. Es müssen aber angemessene Unwiderbringliches zerstört werden.

SWR-Intendant Voß: „Anspruchsvoller DeutschlandRadio-Intendant Elitz: „Rund- Philosoph Sloterdijk: „Kontemplative Eliten öffentlicher Rundfunk auch ohne eigene funkgebühr ist mehr als Finanzierungsinstru- verschwinden heute hinter den Leistungs- Orchester möglich.“ ment. Sie ist eine Qualitätssicherheitsgebühr.“ eliten.“

 MUSIK ORUM 43 TITELTHEMA

Sabine Breitsameter über neue elektroakustische Räume im Netz der Netze DER KLANG IM Internet

ls das Internet Anfang bis Dennoch begannen immer mehr Künst- Instrument, mit dem jeder Internet-Nutzer A Mitte der 90er Jahre einer ler, sich mit dem Phänomen „Klang im von seinem heimischen Computer aus das breiteren Öffentlichkeit zugäng- Netz“ zu beschäftigen. Schließlich hatte sich Klanggeschehen seiner Opernaufführung mit dem Internet ein neuer elektroakusti- auf der Bühne live beeinflussen kann.4 Ein lich wurde, war sein Erscheinungs- scher Raum aufgetan. Das Interesse daran enormer Schub ging auch 1997 vom Hyb- bild bestimmt von alphanumeri- war unterschiedlich motiviert: Viele sahen rid Workspace der Kasseler Documenta X schen Zeichen und einfachen in ihm einen offenen, unkuratierten Raum, aus: Hier wurde deutlich, dass sich Künstler Icons. Wann und auf welche der die Möglichkeit bot, direkt an die Öf- aller Sparten für das Verhältnis von Klang Weise Klänge ins „Netz“ kamen – fentlichkeit zu gehen, ohne das Nadelöhr und Netz interessierten. Sie setzten sich ganz diese Geschichte muss erst noch der Radio-Redaktionen und Tonträger-Labels besonders mit der Tatsache auseinander, nun passieren zu müssen. Von dieser Seite wur- Zugang zu einem Medium zu haben. „Sen- geschrieben werden.1 de dem Internet emanzipatorisches, demo- der“ zu sein war mit dem Internet kein Privi- kratisierendes Potenzial zugesprochen. An- leg mehr. Per Streaming 5 konnten nun auf Um 1993/94 traf man immer häufiger dere sahen in ihm eine bislang noch nicht akustischem Weg andere Formen und Inhal- auf Klänge im Web. Man fand sie beim zu- da gewesene technische Struktur, von der te verbreitet werden als diejenigen der etab- fälligen Surfen, etwa als Vogelstimmen auf sie sich neuartige Organisationsformen von lierten Medien. Dennoch konnte das Web- der Website eines kalifornischen Naturkun- Klängen erhofften, neue Möglichkeiten für casting, das Senden im Internet nach dem demuseums oder auf der Universitäts-Home- Material und Form. Manche waren einfach Rundfunkprinzip „einer sendet – viele hö- page mancher US-amerikanischer Compu- neugierig und wollten das künstlerische Po- ren zu“, die meisten Künstler nicht wirklich termusic-Departments. Der freudigen Über- tenzial dieses neuen Raums erkunden, an- befriedigen. Sie begaben sich auf die Suche raschung folgte meistens die Ernüchterung: dere nutzten ihn ganz pragmatisch. nach Klang- und Musikformen, die für das Wer es geschafft hatte, sich die Klänge lang- neue Medium spezifisch sind. wierig „herunterzuladen“, musste von ihrer „Senden“ kein Privileg mehr Die transkontinentalen Loop-Aktionen erschütternd geringen Qualität enttäuscht der Rigaer Künstlergruppe „Relab.net“ wa- sein. Auch die frühen Streaming-Softwares So tauschten Mitte der 90er Jahre die ren hierzu – ab 1996 – ein erster Ansatz.6 konnten da nicht euphorischer stimmen.2 Komponistinnen Kathy Kennedy (San Fran- Sie zeigten, dass sich das künstlerische „Oh- Sie boten allerdings einen entscheidenden cisco) und Susan Frykberg (Vancouver) renmerk“ für akustische Kunstformen im Fortschritt: Nun war das Anhören von akus- akustische Dateien per Internet aus und pfleg- Netz von der Distribution hin auf prozess- tischen Inhalten möglich, noch während die ten so einen gemeinsamen Kompositions- hafte Gemeinschaftsaktionen richtete, die Daten aus dem Netz abgerufen wurden. prozess. Bereits 1994 nutzte das Stück State sich aus der flexiblen Sender-Empfänger- Alles in allem: Kein Wunder, dass die of Transition die Möglichkeiten und Struktu- Konstellation des Internets herstellen lassen. Skepsis gegenüber dem Internet namentlich ren des Internets und verband live je eine Auch so genannte Remote Performances unter Musikwissenschaftlern und Medien- Musiker-Gruppe in Graz und Rotterdam.3 kamen in den späten 90er Jahren regelrecht schaffenden groß war. Zur gleichen Zeit entwickelte der Kompo- in Mode und nutzten das Internet als eine nist am MIT/USA für die technische Struktur, mit der Musiker, die zur Homepage seiner Brainopera ein virtuelles gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten

 44 MUSIK ORUM spielten, gemeinsam konzertieren können. bote, in denen per Mausklick oder per drag Fundamente der Tonträger-Industrie zu er- Doch blieben viele dieser Performances un- and drop 10 etwa die Abfolge simpler musi- schüttern. Durch die verringerte Größe der befriedigend: Die technisch bedingte Zeit- kalischer Phrasen bestimmt und verändert Musikdaten wurde – im Zusammenwirken verzögerung beim Datenaustausch im Inter- werden kann, gab und gibt es zuhauf. Auch mit schnellen Rechnern und Netzwerk-An- net macht ein synchrones Zusammenspiel die zahllosen Co-Streaming-Projekte, bei de- bindungen – das illegale Kopieren von Mu- schwierig bis unmöglich, und nur selten fan- nen mehrere örtlich voneinander entfernte siktiteln per Internet plötzlich zum Kinder- den Musiker ästhetisch überzeugende Stra- Musikveranstaltungen ihre Streams live mit- spiel. Piraterie, widerrechtliche Aneignung, tegien, sie kreativ zu nutzen oder zu umge- einander austauschten und mischten, haben Bruch von Copyrights, Einkommensverluste hen. 7 die künstlerische Wertigkeit dieses Konzepts für Künstler, gar Existenzgefährdung – hier rasch verschlissen. Bei vielen Projekten er- zeigte sich die Kehrseite der vom Internet Kollaboration, Interaktion schienen Interaktion und Response aus- verheißenen Demokratisierung. tauschbar und beliebig: Bleibt der Input fol- Diesen Konfliktpunkt machte sich die kol- Gleichzeitig wuchs unter Künstlern aller genlos, kann an die Stelle einer kreativen laborative Internet-Produktion mp3q (2000) Sparten immer mehr das Bewusstsein da- Befriedigung oft Enttäuschung treten und ein des US-amerikanischen Komponisten Atau rüber, das Internet als einen öffentlichen Raum Gefühl der Ohnmacht. Der emanzipatorische Tanaka zum Thema: „The record business is anzusehen, in dem das Publikum die Gele- Anspruch derartiger vermeintlich offener quite threatened by the democratization genheit hat, ästhetische Prozesse nicht nur Systeme verkehrt sich dann in sein Gegen- which the Internet offers. I am interested in optional, sondern in ihrer klanglichen Subs- teil. Für manch künstlerisch ambitionierten the Internet as it may endanger my position tanz mitzugestalten. Teilnahme, Kollaborati- Interakteur damals wie heute eine schmerz- as a , so I am motivated in a crea- on, Interaktion – das waren die Schlagworte, liche Einsicht. tive way if my established position is put in mit denen derartige künstlerische Ansätze Doch entstanden Ende der 90er Jahre question.“11 Wer mp3q aufrief, sah zunächst beschrieben wurden. Schlagworte, die gleich- herausragende Arbeiten, die bis heute quali- auf dem Bildschirm einen Quader, der aus zeitig Skepsis provozierten: Hatten nicht tativ ihresgleichen suchen: Nur per Mund- einer großen Zahl grafischer Linien zusam- bereits die 60er und frühen 70er Jahre ge- propaganda oder über einschlägige Mailing- mengesetzt war. Indem man mit der Maus zeigt, dass die Einbeziehung des Hörers in listen wurde etwa die audiovisuelle Web- hin und her glitt, konnte der Quader ge- den musikalischen Gestaltungsprozess meist dreht, verkleinert oder vergrößert werden. in Belanglosigkeit mündet? Hatte sich nicht Man erkannte dabei: Die Linien sind Web- die Forderung nach medialer Zwei-Weg- Am Ende der 90er adressen, die zu mp3-Klangdateien führen, Kommunikation längst als naiv und ideolo- die auf unzähligen Servern im Netz weltweit gisch erwiesen? War das „Demokratie-Ver- wurde das Internet in verteilt lagern. Wer mehrere dieser Linien sprechen“, das man der interaktiven Gleich- gleichzeitig anklickte, löste pro Linie, pro berechtigung von Produzent und Konsu- Sachen Musik zum angeklickter mp3-Datei, einen Audiostream ment zuschrieb, nicht eigentlich immer in aus. Klickte man mehrere an, mischten sie sein Gegenteil umgeschlagen? Und waren Feld erbitterter Konflikte sich zu reizvollem Vielklang. Mehr brauchte die vielerorts beschworenen künstlerischen der Hörer zunächst nicht zu tun. Er konnte Neuerungen wirklich so neu? In der Tat: Konzeptionell wirklich neu Installation publik, ein früher Netz-Klassiker, sind die kompositorischen Modelle, die auf 1998 von der Berliner Künstlergruppe „skop“ Der japanische Komponist und Musikperfor- die technologischen Strukturen der Netz- produziert. Die Arbeit beruht auf der raffi- mer Atau Tanaka schuf mit Internet-Usern werke bauen, nicht. Prinzipien späterer „Netz- niert angelegten Navigation durch Bilder, multioptionale Klanggebilde. kompositionen“ findet sich in zahlreichen die ein altes, stillgelegtes Elektrizitätswerk dar- Kompositionen früherer Jahrzehnte, so etwa stellen oder alte elektrische Gerätschaften. in Henri Pousseurs (1957), in Karl- Bestechend sind vor allem ihre sorgfältig ge- heinz Stockhausens Musik für ein Haus arbeiteten Klänge und Geräusche, die beim (1968), in Max Neuhaus’ Public Supply-Serie Navigieren durch dieses Szenario mit Röh- (die Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre ren, Generatoren und Trafos entstehen und das Netzwerk des National Public Radio in die der User durch die Manipulation einer Nordamerika nutzte8) oder in Alvin Currans Reihe von Instrumenten zum Teil selbst ge- preisgekrönten Radio-Kompositionen A piece stalten kann.11 Die komplexe Audio-Ebene for peace und Crystal Psalms Mitte der 80er dieser Produktion entfaltet eine eigenweltli- Jahre. Aber: Was damals zum Teil nur mit che Kraft und macht dabei vergessen, dass großem Aufwand und immensen Kosten zu der Besucher der Website, angekettet an produzieren war, rückte mit dem Aufkom- Maus und Tastatur, eigentlich einer völlig men des Internets und einer zunehmend entsinnlichten Tätigkeit nachgeht. benutzerfreundlichen Technik ab Mitte der Doch mochte, speziell Ende der 90er 90er Jahre plötzlich wieder in den Bereich Jahre, eine „Web-Romantik“ nicht wirklich des Möglichen. aufkommen: Das Internet wurde in Sachen Andererseits machte es das Netz seinen Musik zu einem Feld erbitterter Konflikte. Nutzern damals wie heute schwer, die wirk- mp3 – das Klang-Datenformat, das seiner- lich interessanten Projekte aus dem Wust an zeit aufkam und sich durch deutlich verbes- Banalitäten herauszufinden. 9 Triviale Ange- serte Tonqualität auszeichnete – begann die

 MUSIK ORUM 45 TITELTHEMA

sich nun einfach zurücklehnen und zuhö- Während Frankensteins Netz von Anfang die Webdrum mit der Erfahrung einer „wirk- ren. Durch seine Auswahl ergaben sich im- an ein öffentlicher Prozess war, der durch lichen“ physischen Trommel nicht konkur- mer neue polyfone Konstellationen. Aus- die Kombination des Internets mit dem rieren. Das trifft sicher zu. Gleichwohl gibt drücklich forderte Tanaka die Besucher Broadcast-Medium Radio aus der rein indivi- es Interessenten, die sich gezielt zu einer be- seiner Website auf, die Webadressen eige- duellen Erfahrungswelt herausgehoben wur- stimmten Zeit auf dieser Website verabre- ner mp3-Dateien beizusteuern. Ein Text- de, so gilt doch für die meisten Klangprojek- den – mit Freunden, Familienangehörigen, fenster stand dafür bereit. Die Eingaben te im Netz, dass sie sich in erster Linie im Künstlerkollegen –, um dann, meist über die wurden von Tanaka auf etwaige Copyrights Privaten bzw. im kleinen Kreis abspielen. Hier Kontinente hinweg, gemeinsam dem virtu- geprüft und, soweit sie ästhetisch nicht kom- sind namentlich die „Multi-User“-Projekte zu ellen Trommelspiel zu frönen: Was die plett aus dem Rahmen fielen – so seine Aus- erwähnen. Sie bauen auf eine ganz beson- Webdrum ermöglicht, ist eine gemeinschaft- sage –, in das grafische Gebilde eingebaut. dere Eigenheit der Netzwerk-Kommunika- liche, spielerische ästhetisch-kommunikative Auf diese Weise wuchs es weiter. Gemein- tionsarchitektur: Während das Radio, von Erfahrung, ähnlich einer spontanen Trom- sam bauten Komponist und User an einem einem Punkt ausgehend, sternförmig an vie- melimprovisation im „wirklichen“ Leben. multioptionalen Klanggebilde. Die Medien- le sendet, während das Telefon die akusti- Max Neuhaus’ neueste Arbeit Auracle, architektur des Internets: Der „verteilte Raum“, sche Eins-zu-Eins-Kommunikation realisiert, die im Rahmen der Donaueschinger Musik- der aus Daten konstituiert wird, die auf welt- ist im Internet, zusätzlich zu den beiden ge- tage 2004 vorgestellt wurde, benutzt für ih- weit verstreuten Servern lagern, schuf hier nannten Kommunikationsflüssen, die Tele- ren Multi-User-Raum dieselbe Software die Möglichkeit der „verteilten Urheber- Kommunikation von vielen mit vielen mög- (Jsyn von Phil Burk). Das Interface, über das schaft“. Obwohl ein offenes System, klang lich. Eine derartige mediale Kommunikations- die Daten eingegeben werden, ist dabei mp3q nicht beliebig oder belanglos. Indem architektur ist neu und erst durch das Inter- allerdings nicht die Tastatur, sondern ein Tanaka als „Filter“ agierte, brachte er seinen net möglich. Erwähnt sei hier allerdings, dass Mikrofon. Über die Stimme und stimmliche „Masterplan“ mit den freien Eingaben der in der Frühzeit des Radios (vor dem 1. Welt- Veränderungen werden im Multi-User- Teilnehmer in ein produktives Verhältnis. krieg in den USA) Radio-Sender und -Emp- Raum Auracle Klänge erzeugt und gesteu- fänger auf derselben Frequenz waren. Das ert. Gemeinsam mit anderen, die an entfern- Ein autonomes Netz als Ganze war einem Chat im Internet ähnlich, ten Orten zur selben Zeit das Auracle- lief allerdings akustisch ab. Instrument benutzen, kann man in musikali- komponierendes Subjekt Einen solchen akustischen Multi-User- schen Dialog treten und auch hier gemein- Auch seine nächste größere Arbeit, die Raum, der erst wieder durch das Internet sam musizieren. interaktive Radio-Internet-Komposition Fran- möglich wird, schafft die WebDrum (1999) Von „Hausmusik“ spricht denn der Münch- kensteins Netz/Prométhée Numérique/Wire- von Nick Didkovsky und Phil Burk. Sie er- ner Künstler-Programmierer Jörg Stelkens, tapping the Beast12 (SWR 2002) basierte auf möglicht bis zu zwölf Teilnehmern, sich zu um die Art der musikalischen Aktivität zu den klanglichen Beiträgen von Internet-Usern. einer improvisatorischen Trommelsession beschreiben, die mit seinem System möglich Jeder einzelne Rezipient vor dem heimi- zusammenzufinden, egal wo sie sich auf der ist. Sein peersynth (2004) ist ein im Internet schen Computer hatte Gelegenheit – ent- Welt aufhalten. Wer die Website aufruft und zugänglicher Software-Synthesizer, den meh- sprechend der Thematik des Stücks – mit die notwendige Software erfolgreich instal- rere Spieler gleichzeitig und gemeinsam nut- eigenen Klängen, Bildern und Textbaustei- liert hat, erhält eine Auswahl virtueller Per- zen können, um miteinander Musik zu ma- nen eine Datenkreatur zu „füttern“. Da- kussionsinstrumente. Über ein grafisches In- durch konnte sich diese in stets wechseln- terface kann jeder Teilnehmer seine Trom- den Formen immer wieder neu und anders meln auswählen und sie variieren. Parame- darstellen. Die Klänge der Webbesucher ter wie z. B. Rhythmus, Tempo, Tonhöhe, gingen in eine dynamische Sound-Daten- Lautstärke, Geräuschfarbe können per bank ein und trugen so zur Substanz sowohl Mausklick individuell gesetzt, verändert, der permanenten Internet-Installation bei als während der gemeinsamen Session syn- auch der Live-Performance. Statt selbst als chronisiert und in Echtzeit dem Spiel der „Filter“ zu handeln, um das Material zu son- anderen Teilnehmer anverwandelt werden. dieren und zu ordnen, schuf Tanaka, zusam- Jeder Teilnehmer hört all das, was alle men mit dem Künstler-Programmierer An- „Trommler“ gemeinsam erzeugen. toine Schmitt, einen „virtuellen Performer“: Kritiker haben oft vorgebracht, allein Der wurde programmiert, um den Datenin- schon in ihrer sinnlichen Anmutung könne put auf dem Webserver zu prozessieren und fügte die vom Publikum eingebrachten Klän- ge gemäß einer vorab entworfenen Drama- turgie und ausgewählter kompositorischer Prinzipien zum Kontinuum. So trat das Netz – bzw. die Datenkreatur – selbst als auto- Gemeinsam musizieren: Über das Mikrofon als nomes, agiles System, als komponierendes Interface können User Subjekt in Erscheinung und thematisierte in Max Neuhaus’ neuem damit die uralte, bereits in Aischylos Prome- Werk Auracle in musikali- theus bearbeitete Furcht vor sich verselbst- schen Dialog treten. ständigenden Maschinen und Technologien.

 46 MUSIK ORUM Was wird aus der Kunst, wenn sich fer im Internet wären diese Projekte kaum denkbar. Was sich einst im „Netz der Netze“ innovative künstlerische Praxis formuliert hat, drängt nun in den realen Raum: interaktives Zuhören, das Teilneh- men am Austausch akustischer Daten. Das außerhalb der Öffentlichkeit vollzieht? durch Maus, Tastatur und Bildschirm ent- sinnlichte Hantieren hat damit also ein Ende. chen. Der Daten-Austausch funktioniert demonstrieren. Seine gekonnte Realisation Ob im Internet oder im realen Raum: Für mittels der durch die Musiktauschbörsen wird in der Regel die „Versuche und Irrtü- alle netzbasierten Kunstformen gilt, dass sie (Napster u. a.) bekannt gewordenen Peer-to- mer“ der Internet-User qualitativ überstei- Erwartungen, die sich aus einem tradierten Peer-Technik, die die Teilnehmer direkt mit- gen. Die Hörer können dabei die Erfahrung Rollenverständnis von Künstler und Rezipi- einander vernetzt. Das grafische Interface ist machen, dass die künstlerischen Ansprüche, ent ergeben, nicht erfüllen können. Bereits einfach zu bedienen, und – was besonders die das interaktive Konzept formuliert, wirk- die Rolle des Komponisten/Autoren hat bemerkenswert ist – seine klanglichen Mög- lich aufgehen und nicht nur bloße Absichts- sich verschoben: Er tritt nicht mehr als „Kon- lichkeiten sind äußerst vielfältig. Aus selbst erklärungen sind. Außerdem erfordert die zentrator“ auf, der Bedeutung destilliert und aufgenommenen Klängen lässt sich gar ein lineare Darbietung im Hörfunk (oder auch die Physiognomie eines Stücks bestimmt. eigener Materialpool erzeugen. Dieses Ma- Konzert) das konzentrierte, aufmerksame Eher fungiert er als Moderator, der ein The- terial kann von den Teilnehmern auf äu- Zuhören, das ja eine Voraussetzung für Ver- ma definiert, ein Set von Regeln und Prozes- ßerst vielfältige Weise verändert und prozes- stehen und Kritikfähigkeit ist. Eine Fähigkeit, sen formuliert und innerhalb einer gewähl- siert werden. Die Resultate – gemeinsame die im Zeitalter der vernetzten Interaktion ten Kommunikationssituation oder -archi- Klangaktionen und Improvisationen – rei- und des operativen Eingreifens in Musik tektur den Austausch in Fluss bringt. Daraus chen qualitativ von unbeholfenen, dilettie- mehr denn je der Anregung und Anlässe ergibt sich eine neue Rolle für den Hörer: renden Versuchen bis hin zum anspruchs- bedarf. Wo Wahrnehmen zum Teilnehmen wird, vollen Könner-Niveau. An welchem Punkt ist das Verhältnis von wird der Rezipient identisch mit dem Inter- Traditionell in der Musikkultur des 19. Musik und Netz heute angelangt? Inzwi- preten. Wo das verstehende Aneignen des Jahrhunderts wurzelnd, trifft die Bezeich- schen sind die meisten Möglichkeiten für Gehörten innerhalb eines Settings erfolgen nung „Hausmusik“ keine Aussage über das netzbasierte Musik und Audiokunst auspro- soll, das vom Rezipienten auszufüllen ist, er- Qualitätsniveau des Musizierens, sondern biert und durchgetestet. Vieles, was vor Jah- schließt das Werk sich nicht mehr durch über den Grad an Öffentlichkeit. Bei den ren noch als originell und innovativ galt, hat eine zurückgelehnte Wahrnehmungshal- heutigen Multi-User-Projekten im Netz ist sich als Konzept abgenutzt. Gleichzeitig er- tung, sondern durch Suchen, Versuchen, allein schon technisch der Kreis der Teilneh- scheint das Internet, aufgrund seiner techni- Abschreiten, Navigieren, Eingreifen, Vor- mer limitiert. Gleichzeitig sind derartige Pro- schen Limitierungen, für viele Komponisten schlagen, Verwerfen und wieder Versuchen. zesse für denjenigen, der rein rezeptiv zuhö- und Künstler nicht mehr attraktiv. Kompo- Das Tun ist stets reversibel. Ein „So-und- ren will, also außen vor bleibt und nicht sitionen, in denen sich „Netz-Prinzipien“ rea- nicht-anders“, ein vorab fixierbares akusti- operational involviert ist, nicht gedacht und lisieren, lassen sich heute innerhalb von sches Resultat gibt es dabei nicht. meist auch nicht wirklich befriedigend. technischen Strukturen umsetzen, die zwar Ein derart neu gefasster Rezipient muss anspruchsvoller zu handhaben und schwie- mitspielen, andernfalls wird die Produktion Radio wird „Meta-Kanal“ riger zu programmieren sind, dafür aber nicht manifest. Wer sich kritisch zu distan- auch ein Mehr an ästhetischen Möglichkei- zieren sucht, wird mit dem Werk selbst nicht Bleibt eine offene Frage und eine tröstli- ten bieten. Das Internet ist also nicht mehr in Kontakt kommen. So muss der User zu che Gewissheit: Unser tradierter Kunstbe- der alleinige Kanal für netzbasierte Musik einem Teil der künstlerischen Produktion griff lebt von einem Mindestmaß an Öffent- und Audiokunst. werden, deren Qualität mit vom Input ab- lichkeit – was also wird aus ihm, aus der Beispiele: Eine Reihe von Komponisten hängt. Kunst selbst, wenn sich innovative künstleri- und Künstlern hat Produktionen für ver- Was wird dabei aus der Musik, aus der sche Praxis und Praktiken außerhalb einer netzte Mobiltelefone geschaffen, so zum Kunst selbst? Wo der Komponist zum Mo- solchen Öffentlichkeit vollziehen? Und: Ge- Beispiel die Niederländerinnen Carolien derator wird, wo Rezipienten diese Struktu- koppelt mit den digitalen Netzen und deren Euser und Nathalie Faber.13 Der Komponist ren und Regeln mit Input füllen, wird die schwer fasslicher Öffentlichkeit gewinnt das Gerhard Eckel hat gemeinsam mit einem Verarbeitung, die Datenprozession der Ein- Radio als Rundfunk-Medium eine wichtige Team das „Listen“-System entwickelt: ein gaben, zu einer wichtigen Charakteristik der Rolle. Während eine teilnahme-orientierte digitales Netzwerk, mit dem sich im realen Komposition. Entsprechend der Program- bzw. interaktive Musikproduktion im Netz Raum hypertext-artige Klangstrukturen und mierung zeigt ein solches Kunst-„Werk“ immer wieder individuell, anders und un- interaktive Raumklang-Möglichkeiten her- Wandel und Agilität. Es „verhält“ sich, stellt verbindlich in ihrer Multi-Optionalität aus- stellen lassen. Zusammen mit dem Spanier sich immer wieder neu dar und ähnelt da- probiert werden kann, mit dem Risiko, den Ramòn Gonzalez-Arroyo hat er dafür einen durch einem Wesen oder einer dynami- Anspruch des Settings durch oberflächliche ersten künstlerischen Prototypen kompo- schen Umwelt. Eine Musik der Zukunft Interaktion zu trivialisieren, vermag eine niert.14 Die US-amerikanische Künstlerin kann vielleicht dem Modell folgen, das Roy Rundfunk-Ausstrahlung die Rolle eines Teri Rueb schafft mittels Global Positioning Ascott, Leiter des Zentrums für interaktive „Meta-Kanals“ einzunehmen: Durch die System interaktive Klanginstallationen im Kunst an der Universität Newport/Wales, Ausstrahlung als lineares Programm kann Watt vor Cuxhaven oder in den kanadi- folgendermaßen beschreibt: „Nicht so sehr der Künstler die Konsistenz seiner Arbeit schen Rocky Mountains. Ohne die Vorläu- Bedeutung, Inhalt, Erscheinung, kurz: die

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4 http://brainop.media.mit.edu/online/net-music/net-instru- ment/LabeledSharle.html 5 als lineares „Senden“ von akustischen Inhalten ähnlich ei- nem Radio-Programm. 6 An derartigen interkontinentalen Aktionen beteiligte sich eine Vielzahl von Künstlergruppen. Das Prinzip: Teilnehmer Nr. 1 schickt einen Audio-Stream ins Netz, Teilnehmer Nr. 2 greift diesen Stream auf, fügt ihm live eigene Klänge hinzu, stellt diese Mischung dem nächsten Teilnehmer zur Verfü- PEILTON gung. Dieser mischt wiederum seine Komposition darauf, schickt den Mix weiter, bis er an seinen Ausgangsort zurück- gekehrt ist – mit der internet-typischen Zeitverzögerung von zehn bis 30 Sekunden. Dann beginnt die Mischung erneut zu zirkulieren. Je öfter, desto geräuschhafter wird sie. 7 So z. B. die Network-Oscillator-Aufführungen der „Sensor- band“. Drei Künstler befanden sich an voneinander entfern- ten Orten. Jeder schickte durch eine speziell aufgebaute s begann mit einer Frage. Verbindung einen Sinuston auf die Reise durch das Netz: Petra Ilyes, vormals Frigo Schwingungen, die datentechnisch so codiert wurden, dass E sie sich gegenseitig nach physikalischen Gesetzen modu- (Radio Lyon) und Ende der 80er lierten. Dabei entstanden Verstärkungen, Auslöschungen, Jahre Mitbegründerin von Schwebungen, Interferenzen. 8 „Public Supply“ nimmt den „Loop“ vorweg, der hier später Radio-X Frankfurt, das sich vom im Text als akustische Aktion der Rigaer Künstlergruppe Re- „Piratensender“ zum Kunstradio lab.net dargestellt wird. 9 Um dieser Situation abzuhelfen, wurde 1998 die SWR-Web- und schließlich – mit Lizenz – zur site „Audiohyperspace“ gegründet, die sich speziell der Ge- lokalen Anbietergemeinschaft samtheit akustischer Kunstformen in Netzen und Datenräu- men widmet und sich als eine Art Guide versteht. entwickelt hat, meinte: „Dir fällt 10 dem immer wieder neuen Anordnen von Icons, die für mu- doch sicher was zu einer GEMA- sikalische Versatzstücke stehen. freien Nachtschiene ein?“ 11 Der Komponist in einem Interview mit der Autorin im Au- gust 2000. Vgl. auch: Sabine Breitsameter, Unterhaltungen im Internet. HörSpiel als Interaktion, SWR2, 2000, Skript S. Dynamische Sound-Datenbank: Die Frage bedarf der Erläuterung … 2 ff., unter: http://www.swr2.de/hoerspiel/audiohyperspace Tanaka-Klanginstallation Global String. /sendung/20001214/index.html Wie bei fast jedem so genannten freien 12 vgl. http://www.swr.de/swr2/audiohyperspace ger_ version Sender sind die Mitarbeiter von Radio-X /frankensteins_netz/index.html Freiwillige, die Arbeit ist unbezahlt und Semiologie werden für eine künftige Kunst 13 in ihrer Arbeit „Tele-Tap“, Amsterdam 2001. die Programmgestaltung obliegt der in den digitalen Netzwerken die wichtige 14 Titel: „Mit offenen Auren“, eine Produktion für eine Raum- jeweils sendenden Gruppe. Das resultie- Rolle spielen, sondern ihr Verhalten dem installation des Schweizer Künstlers Beat Zoderer im Kunst- museum Bonn 2003. rende Programm ist ein Patchwork, das Rezipienten gegenüber.“15 Musik wird also 15 vgl. Sabine Breitsameter, Unterhaltungen im Internet. Hör- keine thematischen Schwerpunkte oder kein Genre bleiben, das sich ausschließlich Spiel als Interaktion, SWR2, 2000. übergreifende Ausrichtung erlaubt oder zeitlich-linear (wie im Konzert) oder räum- anstrebt. Da kein Profit erwirtschaftet lich-situativ (wie in der Klanginstallation) wird, wird die sonst fällige GEMA-Ge- entfaltet. Sie kann vielmehr zu einer han- Die Autorin: bühr für einzelne Musiktitel durch einen delnden Wesenheit werden, die ihre Vielge- Pauschalbetrag abgegolten, der die Zeit stalt demjenigen zugänglich macht, der mit Sabine Breitsameter ist Gast-Profes- sorin für Experimentelle Klanggestal- des Sendebetriebs abdeckt. Nachts (ge- ihr in Dialog tritt. tung an der Universität der Künste Ber- nauer: zwischen 1 und 7 Uhr morgens) Die Gefahr: das Zerbröckeln unserer lin und baut dort derzeit – innerhalb wurde damals nicht gesendet, allerdings Selbstbestimmung, wenn nicht mehr klar ist, eines Teams – den Studiengang Sound musste aus rundfunktechnischen (oder ob wir es sind, die sich die Kunst aneignen, Studies – Akustische Kommunikation rundfunk-rechtlichen) Gründen ein Peil- oder es die Kunst, das System, die digitale auf. Seit Mitte der 80er Jahre arbeitet ton abgestrahlt werden. Hintergrund von Umwelt sind, die sich uns zu eigen machen. sie als Radioproduzentin (Autorin, Redak- Petras Frage war also, ob und wie es mög- Die Chance: Musik, die sich nicht aus- teurin, Regisseurin; u. a. Online-Maga- lich sei, den Peilton zu ersetzen, gege- schließlich als „Produkt“ versteht, sondern zin Audiohyperspace) und beschäftigt benenfalls durch Kunst. auch als Aktivität. Ein Musikverständnis, das sich dabei mit der Bandbreite experi- Kleiner Exkurs: Hier kommt etwas in eine lange Tradition aufweist und das, na- menteller akustischer Kunstformen Spiel, was ich auch aus anderen Bereichen mentlich in den Industriekulturen, wieder (experimentelles Radio, elektroakusti- kenne. Wird die Menge der planerischen, zu neuer Geltung gelangen kann. sche Musik, Klanginstallation, netzba- finanziellen und organisatorischen Ein- sierte Hörkunst, Akustische Medien- schränkungen in konventionellen Konstella- kunst u. a.). Breitsameter ist auch als tionen zu groß, wird manchmal Kunst als 1 Sie wird zweifelsohne eine Geschichte nicht allein der tech- Kuratorin und künstlerische Leiterin nischen Datenformate sein, sondern auch widerspiegeln, Korrektiv gesucht. Ein Gebäude z. B., das mit welchen Vorstellungen über die Rolle vom Klang im Netz von internationalen Festivals tätig. nach Fertigstellung eine ungenügende Be- Firmen und Programmierer im Lauf der Web-Geschichte ihre leuchtung hat, ist meist im gegebenen orga- Audio-Softwares entwickelten. nisatorisch-finanziellen Rahmen nicht mehr 2 Frühe Versionen von RealAudio. 3 von Sodomka/Breindl, x-space und Norbert Math; vgl. dazu umzugestalten oder umzubauen. Nachträg- die Dokumentation: http://kunstradio.at/1994B/stateof_t.html

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DURCHKunstKunst ERSETZT

Achim Wollscheid über die Entstehung eines Musikprojekts im Internet

liche künstlerische Gestaltung wird angefragt, öffentlichungsfreude schien als Anreiz für stellung stattfindet. Eine nicht gerade auf- weil hier ein Freiraum besteht, innerhalb von qualitativ anspruchsvolle Beiträge nicht aus- regende Vorstellung. Eine Revision dieser Systemen methodische Alternativen zu entwi- reichend und ebenso das Passieren even- Voraussetzungen schien angebracht. So- ckeln. Anders gesagt, es geht nicht ums Licht, tueller Selektionsschranken … Und wa- wohl das Problem der Auswahl als auch sondern um den Umbau. rum überhaupt Selektion? Wer wählt aus? das des Materials (und seiner kontextuel- Für das Radio galt es also, zwei Aufga- Nach welchen Kriterien? Für gegebene len Verknüpfung) mussten Teil der künst- ben zu lösen: eine automatische Ausstrah- Kontexte – wie z. B. die E-Musik-Program- lerischen Aufgabenstellung werden. Die lung in einem unbesetzten Studio zu be- me in den Rundfunkanstalten – ergeben Idee, die sich daraus entwickelte, könnte werkstelligen und dafür eine künstlerisch sich Kriterien aus tradierten ästhetischen man „strukturelle Mitbestimmung“ nen- nicht langweilige Form zu finden. Die nächst- Leitlinien darüber, was als gute „Neue nen: Anstatt jede Nacht dasselbe unter Ver- liegende Idee war die einer Klang-Galerie, Musik“ zu gelten hat. Ändert sich allerdings antwortung eines Einzelnen zu senden, vergleichbar mit der Präsentation von Bil- der Kontext, stellt sich die Frage, mit wel- sollte jede Nacht etwas Neues unter Ver- dern in einem dafür vorgesehenen Raum. cher Legitimation ebensolche Leitlinien antwortung aller Beteiligten entstehen. Sie- Dafür, um bei dem Beispiel zu bleiben, (und die damit verbundenen Urteile) in ben Teilnehmer, jeder zuständig für einen müsste nun aber die entsprechende Men- Anschlag gebracht werden können. Eine Wochentag, sollten an einem wechselseitig ge an Künstlern gefunden werden, die eine offene Frage … Als Metapher für die tech- transformativen Prozess teilnehmen. Tech- entsprechend große Anzahl an guten Bil- nische Umsetzung der Klang-Galerie hätte nische Voraussetzung für diesen Prozess dern malt … Dass dies geschieht, kann die Jukebox dienen können – einmal ange- war der Computer – als Vermittler und vielleicht für den musealen Kontext noch schaltet, spielt sie die gewählten Titel in fes- Schnittstelle zwischen den Beteiligten. vorausgesetzt werden, da dort den Künst- ter Reihenfolge ab. Gespeichert auf Com- lern entsprechende Gratifikationen zuteil puter-Festplatte hätte also dann jeder Klang Schubladen öffnen werden – d. h., die Zeit, die sie in ihre Ar- seinen festen Zeitpunkt gehabt – ein Pro- beit investieren, wird möglicherweise be- gramm, sechs Stunden lang, das sich Nacht Die grundsätzliche Idee war einfach: Je- zahlt. Ein Non-Profit-Projekt wie Radio-X für Nacht in identischer Form wiederholt, der Beteiligte musste zwei verschiedene kann dies selbstverständlich nicht tun. Ver- bis eine neue Selektion und Zusammen- Daten-Arten bereitstellen: Klang als digita- le Samples und kleine Programme – also Methoden, diese abzuspielen. Bereits dies sollte zu einer Vervielfältigung der Klang- Realisation führen, denn es entsteht durch- aus Unterschiedliches, wenn ein oder zwei Programme auf eine kleine oder auch gro- ße Anzahl von Samples angewandt wer- den. Um die Weite erreichbarer Komplexi- tät zu erhöhen, sollte nun jeder Teilneh- mer in der Lage sein, seine Daten den je- weils anderen zur Verfügung zu stellen – sozusagen: seine Schubladen zu öffnen und dafür auch in andere schauen und den In- halt benutzen zu können. Am Freitag konn- te man somit mit den Methoden vom Dienstag die Samples vom Sonntag spie- len; am Mittwoch und Donnerstag war es, wenn man wollte, möglich, eigene Sam- ples zu kombinieren und sie mit den Pro- grammen von Samstag zu testen … Dies war durchaus vorstellbar. Nun zeigt die Erfahrung, dass es nur wenige Kompo-

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nisten (oder sich mit Klang befassende mit war ein weiteres wesentliches Krite- wendige Mitte durch „SELEKTION“ bereit- Künstler) gibt, die sich tatsächlich mit dem rium zur Erzeugung GEMA-freier Klänge zustellen. Damit war eine weitere program- Programmieren von Klängen auf der Pro- erfüllt: Klänge, von PD synthetisiert, kön- matische Weichenstellung erfolgt. „SELEK- grammebene beschäftigen. Um diesen nen permanent „neu“ sein. Damit entfällt TION“ (www.selektion.com) war bis dato Problempunkt zu umgehen, hatte ich vor, die Idee der Wiederholbarkeit und, in ge- eine „Gesellschaft zur Herstellung und zum mit einer Gruppe von Interessierten eine wissem Sinn, die Nützlichkeit der Unter- Vertrieb von Informationsträgern“ gewesen zugangsfreundliche (Computer-)Sprache scheidung zwischen Original und Repro- – oder, besser gesagt: eine kleine Plattenfir- zu entwerfen, die das Zugangs- oder duktion. ma, die Künstler vertrat, die im Bereich ex- Schwellenangst-Problem aus dem Weg Kurz nachdem diese Entscheidungen perimenteller Geräuschmusik tätig waren. räumen sollte. Nach einigen Gesprächen gefallen waren, ergab sich eine folgenrei- und Versuchen in der Gruppe – damals che Veränderung der Rahmenbedingun- Hardware statt Software bestehend aus Dirk und Götz Witschke, gen. Radio-X hatte bis 2002 ein Streaming, Karl Kliem und Achim Wollscheid – zeig- d. h. es konnte weltweit als Web-Radio ge- Da auch hier strukturelle Veränderun- te sich aber, dass das Entwerfen einer hört werden. Ende des Jahres allerdings gen eingetreten waren – die Verschlechte- „einfachen“ Sprache (die ja später relativ wurde der Stream aus Kostengründen ge- rung der Marktlage im Mediensektor hatte komplexe Dinge tun sollte) weitaus kom- kappt. Was ich bis dahin nicht wusste: Die zum Zusammenbruch der nationalen und plexere Anforderungen an Konzeption Anzahl der Hörer ist ein Kostenfaktor. internationalen Vertriebe geführt –, lag es und Umsetzung stellte als bereits existie- Anders als beim konventionellen Radio, nahe, statt Hardware nun Software zu pro- rende Programmiersprachen wie MAX/ duzieren. Die strukturellen Rahmenbedin- MSP oder PD. gungen des klassischen Tonträgers – wie Nachdem es unumgänglich schien, Längenbegrenzungen oder festes Design – auf bereits Bestehendes zurückzugreifen, Seit Ende 2004 sind entfallen. Stattdessen beginnt die Ausei- wurde das Für und Wider der alternative nandersetzung damit, wie die Offenheit MAX/MSP und PD diskutiert. Beide die Imaginary Sound- der Netz-Situation ästhetisch zu bewältigen Sprachen sind, Aufbau und Bedienung ist. Das Team der Imaginary Soundscapes – betreffend, fast identisch und mit beiden scapes „live“ im Netz. mittlerweile bestehend aus Götz Witschke, kann sowohl auf Macintosh- als auch auf Dirk Witschke und Achim Wollscheid – PC-Ebene programmiert werden. Das Kritik und program- musste, bevor diese Offenheit in eine hör- kommerziell vertriebene MAX/MSP stellt matische Beiträge sind bare und anschauliche Form gebracht wer- dabei mehr Funktionen zur Verfügung den konnte, allerdings noch einige techni- und ist grafisch besser gestaltet – insge- erwünscht… sche Vorarbeit leisten. Dies beinhaltete die samt, wie bei Macintosh-Programmen Auswahl und Koordination der Pogramme, üblich, ansprechend und benutzerfreund- die das Streaming leisten sollten, das Instal- lich. Trotzdem fiel die Entscheidung für lieren eines open source-Betriebssystems PD. Eine politische Entscheidung in ge- dessen Wellen zumindest in einem be- (Free BSD), die konzeptuellen Überlegun- wissem Sinn, denn PD verdankt seine grenzten Sendegebiet omnipräsent sind, ist gen zur Gestaltung der interaktiven Schnitt- permanente Unausgereiftheit der Tatsa- der Hörer im Netz als Einzelner ans Tele- stellen und deren Umsetzung. che, dass es public domain und open source fonnetz angeschlossen, dessen Nutzung Diese Arbeiten wurden nach ca. einem ist; d. h., es kann kostenlos aus dem Netz Geld kostet und zwar in zwei Richtungen: Jahr abgeschlossen, sodass seit Ende 2004 heruntergeladen werden und ist – anders Einerseits bezahlt der Hörer für jede Minu- die Imaginary soundscapes „live“ im Netz als MAX – auch in den Quell-Dateien te seines Downloads, aber andererseits be- stehen. Mit dieser ersten Version sind die veränderbar. Zudem wird PD von einer zahlt auch der Anbieter – und zwar für je- möglichen Funktionen der Website keines- Gruppe Freiwilliger in mehreren Ländern des Byte des so genannten traffics, sprich: wegs ausgeschöpft. Der dort beigestellte Text permanent weiterentwickelt; es gibt also, des gesendeten Datenstroms. Kurz gesagt: fordert deshalb nicht nur zur musikalischen wenn erforderlich, Ansprechpartner und Je mehr Hörer, desto teurer wird es für den Mitarbeit, sondern auch zur Kritik und zu ein zugängliches Hintergrundwissen. Anbieter. Im Rahmen eines Projekt-Spon- programmatischen Beiträgen auf. sorings sind wohl einige Provider (also Fir- Klänge, die permanent men, die das Streaming technisch umsetz- „neu“ sind ten) bereit, einen kleinen Teil der ihnen zur Verfügung stehenden Bandbreite für einen Durch die Wahl dieser Programmier- begrenzten Zeitraum auszuleihen. Aber in Sprache war eine weitere wichtige künst- einer Situation, in der auf dem Markt um lerisch konzeptuelle Voreinstellung er- jeden Cent gekämpft wird, werden diese folgt. PD wie auch MAX sind Sprachen, Zeiträume beständig knapper oder ver- deren Fokus auf Echtzeit-Klang-Analyse, schwinden ganz. -Synthese und -Transformation liegt. Da nun das Radio für die imaginary- Klangformationen können also in Echt- soundscapes keine Basis mehr zur Verfü- zeit erzeugt oder verändert werden. Da- gung stellen konnte, entschied ich, die not-

 50 MUSIK ORUM Fußnote zum Projekt: Imaginary soundscapes ist ein work-in-progress. Es zielt darauf ab, das Konzept eines für die Teilnahme der Hörer offenen Web-Radios mit der Idee einer interaktiven Kom- position zu vereinen. Imaginary soundscapes wurde Klaus Feldmann, Musiker, Komponist und Dozent: 2003/2004 von Achim Wollscheid, Dirk Witschke und Goetz Witschke konzipiert und programmiert. Im derzeitigen (Anfangs-)Stadium bietet imaginary Es geht um Bildung und kulturelle Identität! soundscapes lediglich eine Grundstruktur sowie eine be- grenzte Zahl interaktiver Features. Wir haben beschlos- sen, in diesem frühen Stadium „auf Sendung“ zu gehen, Was hatte Bach für ein Glück! Und Man wird sie nennen in einem Atemzug da wir – der Idee einer offenen Struktur folgend – nicht Mozart! Auch Beethoven, alle, die nicht mit Bach, Mozart, Beethoven – wenn Sie nur auf den Input bereits programmierter Musikstücke hoffen, sondern auch Kommentare, Kritik und Vorschläge den segensreichen Errungenschaften Glück haben. Und wenn sie sich nicht bezüglich der Weiterentwicklung der interaktiven Grund- der modernen Mediengesellschaft aus- den segensreichen Errungenschaften struktur erwarten. geliefert waren! der modernen Mediengesellschaft aus- Imaginary soundscapes ist keine Website für Repro- Wenn Menschen ernsthaft äußern, liefern müssen… duktionen, d. h., es werden keine CDs oder andere Me- dien mit vorproduziertem Material angenommen. Sie dass Bach – lebte er heute – so kompo- stellt vielmehr das Grundgerüst für programmierte Stücke nieren würde wie Dieter Bohlen, muss bereit, die sich in Echtzeit entwickeln. man sich wohl endgültig auf den Unter- Dies geschieht aus zwei Gründen: Erstens ist diese gang des Abendlandes einstellen. Seite „ferngesteuert“ – Uploads sollten daher so klein wie möglich gehalten werden, d.h., sie sollten vielmehr Zumindest kulturell. Weil diese Entglei- aus Codes als aus Daten in wav- oder mp3-Form beste- sung kein Einzelfall ist, sondern bered- hen. Zweitens haben wir in einem späteren Stadium vor, tes Beispiel für die Art Wertschätzung, auch anderen Personen als dem betreffenden „Autor“ die der sich Komponisten klassischer Musik Gelegenheit zur Echtzeit-Transformation von Stücken zu bieten, die gerade „auf Sendung“ sind. Dies ist natürlich heute gegenübersehen. nur auf der Programmierungsebene möglich. Warum sollte heute nicht möglich Musikstücke für diese Seite müssen in PD program- sein, als klassischer Komponist unsere miert sein (einer open source-Programmiersprache, die man unter pure-data.iem.at herunterladen kann). PD-Pat- Gegenwart in adäquate tönende Ereig- ches können Samples (von bis zu 1 MB Dateigröße) bein- nisse zu verwandeln? Alle waren sie halten. Technische Details sind auf der Seite einzusehen. einst „Zeitgenossen“, Bach, Mozart, Wenn ein Patch eingesandt wird, sollte ein kurzer Beethoven, alle taten sie nichts anderes. Text über den künstlerischen und technischen Hintergrund sowie eine visuelle Information beigelegt werden, um es Doch eines hatten sie uns – neben dem Hörer zu ermöglichen, Einblick in den Kontext zu er- der Wertschätzung -– voraus: Sie waren halten. Bitte informieren Sie uns auch über die Adresse nicht gezwungen, im Interesse gnaden- Ihrer Webseite oder Links für weitere Informationen. Das Ziel dieses Projekts ist, einen offenen und expe- loser Vermarktungsprinzipien schnellst- rimentellen Gebrauch des Programmierens zu entwickeln. lebigen „Kurzzeitmüll“ über den wehr- Mit dem Ziel, ein bestimmtes Qualitätslevel zu bewah- losen Häuptern ihrer Hörer auszukippen, ren/unterhalten, können wir jedoch nicht garantieren, das wie dies heute allerorten geschieht. alles eingesandte Material gesendet (oder gekabelt) wird – obwohl es unsere Intention ist, so vielgestaltig wie Verbarrikadiert hinter der armseligen möglich zu bleiben. Behauptung, „die Leute“ wollten dies Klaus Feldmann studierte Gitarre und Senden Sie Patches an: so! Komposition an der Hochschule für Musik [email protected] Dummheit und Ignoranz auf beiden „Hanns Eisler“ Berlin, arbeitete danach als Seiten. Gewollt, geduldet. Musikalischer Leiter eines kleinen Theaters und befasste sich intensiv mit Bühnen- Mit zeitgenössischer klassischer Mu- und Schauspielmusiken. 1978 gründete er Der Autor: sik kann man nicht so umgehen, müssen zusammen mit seinem Bruder Rainer Feld- Achim Wollscheid arbeitet seit doch auch hier die Gedanken genauso mann das Gitarrenduo Feldmann, das Beginn der 80er Jahre im Bereich viel Zeit haben zu reifen wie zu Zeiten mehr als 20 Jahre erfolgreich musizierte. interaktiver Medienkunst, vielfach unserer musikalischen Vorfahren, geht Heute wirkt er als Gitarrist, Komponist, auch im Rahmen interdisziplinärer es doch um die Widerspiegelung kom- Dozent und CD-Produzent und komponiert Projekte. Sein Hauptinteresse gilt pliziertester gesellschaftlicher Prozesse. Kammermusik sowie Musik für Bühne, Film der Beziehung zwischen Klang, Das beansprucht mit Recht Achtung, und Fernsehen. Licht und Raum und den dadurch Beachtung. Mehr noch: Es geht um entstehenden Schnittstellen. Bildung. Es geht um unsere kulturelle Er ist Mitglied von SELEKTION, Identität. einer Organisation zur Herstellung und zum Vertrieb von Informations- Ich bin sicher, die Komponisten un- trägern. serer Gegenwart tun das Richtige, wenn sie sich nicht davon abhalten lassen, www.selektion.com kulturelle Tradition weiterzuführen. Am Ende werden sie triumphieren über eben diese Dummheit und Ignoranz.

 MUSIK ORUM 51 PORTRÄT

Im Gespräch: Peter Gülke zum Zustand der Orchesterlandschaft und zum

»ES IST blamabel, DASS EIGENEN IDENTITÄT NICHTS

ür ihn als Dirigenten ist das In diesen Tagen erleben wir eine in- Nur eines: In Zeiten, in denen bestimm- F Orchester das „Instrument“. tensive Diskussion über die Schließung diver- te Leute vollmundig von Leitkultur reden Zwar findet er es „unanständig, ser Rundfunkklangkörper. Ihr Kollege Hans und gleichzeitig Kulturträger reduzieren, in Zender hat in einem Beitrag für die Frankfur- denen wir von nationaler Identität reden eine Ansammlung ehrenwerter ter Allgemeine Zeitung vehement für deren und es plötzlich fein geworden ist, vom Personen“ als Instrument zu Erhalt plädiert. Wie sehen Sie die aktuelle Scheitern des multikulturellen Projekts zu bezeichnen, aber in diesem Fall Entwicklung? sprechen, anstatt von den Schwierigkeiten sei es nicht falsch. Peter Gülke: Ich stehe voll hinter dem, und Verpflichtungen, die immer bleiben, was Zender gesagt hat. Hinzufügen würde ist es schlicht blamabel, dass wir an dieser Im Übrigen beherrscht Kapellmeister und ich als einer, der lange Zeit unter undemo- Stelle von unserer eigenen Identität nichts Musikwissenschaftler Peter Gülke – er feierte kratischen Umständen gelebt hat: Es ist er- wissen wollen. in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag – selbst staunlich, wie undemokratisch Entscheidun- mehrere Instrumente, hat zunächst Cello gen zustande kommen können, die eine Warum ist es zu dieser Unempfind- studiert, dann mehrere mittelalterliche Ins- demokratische Öffentlichkeit betreffen. Das lichkeit der Entscheidungsträger gekommen, trumente, Gambe und – als Kapellmeister – hat auch damit zu tun, dass die Entschei- wenn es um eine nächste Welle von Orches- natürlich Klavier gespielt. dungsträger offensichtlich das Gefühl haben, terfusionen oder -schließungen geht? Für die Position eines Kapellmeisters, so einer Diskussion über die Tragweite der Gülke: Es gibt viele Gründe, die mich Gülke, sei es unabdingbar, neben dem Kla- Entscheidungen nicht gewachsen zu sein. schon in meiner Zeit in Wuppertal beschäf- vier mit mindestens einem weiteren Instru- Über Einzelheiten des skandalösen Vorha- tigt haben. Letzten Endes gibt es schon län- ment so umgehen zu können, dass eine bens – das betrifft ja nicht nur die Rund- ger eine Krise unseres Kulturverständnisses. musikalische Artikulierung ohne Schwierig- funkklangkörper, sondern auch weiterge- Nur: Lange Zeit ist Deutschland eines der keiten möglich ist. hende Diskussionen – möchte ich nichts wohlhabendsten Länder der Erde und im Aber: Ist nicht der Taktstock das „Instru- mehr sagen. Stande gewesen, die Defizite zu finanzieren. ment“ des Dirigenten? „Der Taktstock hilft der Verdeutlichung, hilft einer Disziplinie- rung der Schlagbewegung“, sagt Peter Gül- ke. „Manchmal ist er mir auch im Wege. Ich dirigiere Passionen, Oratorien und kleine Opern ohne Taktstock. Er ist kein Objekt für Glaubensbekenntnisse.“ Ohnehin beschäftigen ihn wichtigere Din- ge. Themen, wie die Schließung von Orches- tern, zu denen er im Gespräch mit Andreas Bausdorf Auskunft gab.

Werkstatt des Dirigentenforums 2003: Peter Gülke (2. v. l.) im Kreis der jungen Dirigenten Daniel Carlberg, Mihkel Kütson, Christoph Altstaedt und Hendrik Vestmann (von links). Foto: Barbara Frommann

 52 MUSIK ORUM Umgang der Gesellschaft mit ihrer Kultur

WIR VON UNSERER WISSEN WOLLEN«

Foto: Olaf Schepers Werkstatt 2000: Peter Gülke mit dem Staatsorchester Rheini- sche Philharmonie und Dirigent Michael Schmidtsdorff.

Das geht jetzt nicht mehr. Das hat dazu ge- teil. Hat sich die öffentliche Diskussion über dem Kontakt mit der jungen Generation führt, dass wir – statt über Kultur – nur über Kultur beziehungsweise der Umgang unserer der Austausch mit Kollegen und die Über- ihre Bezahlbarkeit reden, und dass die Frage, Gesellschaft mit ihrer Kultur verändert? zeugung hinzu, dass wir im Sinne des ge- worauf wir auf alle Fälle nicht verzichten Gülke: Die Handhabung der Recht- nannten Widerstands gegen eine falsche wollen, verdrängt wird durch die verengende schreibreform durch die harthörige Kultus- Art von Zeitgeist im Musikrat ein Gremium Frage: Was können wir uns noch leisten? ministerkonferenz ist durchaus dem Hand- haben, das für bestimmte Kooperationen streich vergleichbar, mit dem die Orchester bzw. Bündelungen unserer Aktivitäten sorgt. Müssen sich nicht auch Intendanten, aus den Planungen des Rundfunks heraus- Dramaturgen, Dirigenten und Orchestermu- katapultiert werden sollen. Die Reform Was wünschen Sie dem erneuerten siker den Vorwurf gefallen lassen, dieser Un- verbietet mir zu unterscheiden, ob ich viel- Deutschen Musikrat für die Zukunft? empfindlichkeit der Entscheidungsträger Vor- leicht mit der Kultusministerkonferenz eine Gülke: Dass er in der Öffentlichkeit schub geleistet zu haben, indem sie die über- Schlacht zusammen schlagen oder ob ich Beachtung finden möge und dass die Stel- ragende Bedeutung der Musikvermittlung für die Konferenz zusammenschlagen möchte. lungnahmen des Musikrats das Gewicht den Erhalt und die Fortentwicklung des Musik- Wenn Unterscheidbarkeit auf einem so haben mögen, das der Zahl der dort orga- lebens nicht erkannt haben? primitiven Niveau nicht mehr möglich ist nisierten Musikinteressierten und Musik- Gülke: Die Frage ist weder mit Ja noch und man darüber Diskussionen verweigert, schaffenden und dem Rang vieler, die dort mit Nein zu beantworten. Auf der einen gerät mein Glaube nicht nur an die Intelli- mittun, entspricht. Seite sind die von Ihnen genannten Perso- genz der Verantwortlichen, sondern auch nen, zu denen ich mich auch zähle, in an demokratische Gesinnungen ins Wanken. Sicherheiten gewiegt worden, die nicht mehr Ich bin glücklich, wenn der Druck der Dis- ˜ abgestützt waren durch ein dem deutschen kussion, den es im Sommer nochmals ge- Peter Gülke studierte Violoncello, Musik- Gemeinwesen eigenes Kulturverständnis. geben hat, vielleicht noch zu einer neuen wissenschaft, Germanistik und Romanistik Man hat geglaubt, man könne sich noch oder halbwegs tragbaren Lösung führt. in Weimar, Jena und Leipzig (Dr. phil Leip- Dinge leisten, ohne zu fragen, welche Ak- Weil Sie nach dem Kulturverständnis zig 1958, Dr. habil. Berlin 1985, Dr. h. c. Bern 2004). Kapellmeister bzw. Chefdirigent seit zeptanz Sie erwarten können. Der zweite fragten: Kulturelle Sachverhalte werden 1959 in Rudolstadt, Stendal, Potsdam, Stral- Grund, der eine halbe Entlastung darstellt, auf eine Weise bürokratisiert und pragma- sund, Dresden. Seit 1981 Generalmusikdi- läuft auf die Frage hinaus: Wie kommuni- tisiert, dass man den Bedeutungshinter- rektor in Weimar, von 1986 bis 1996 in Wup- zieren wir die Dinge, an denen uns liegt, in grund nicht mehr erkennt, der unsere pertal; 1996 bis 2000 Professor an der Hoch- einer Zeit, in der mediale Wirkungen breit Schreibweisen trägt. schule für Musik in Freiburg. Gastdirigent aufgefächert sind und wir bei Menschen, und Gastprofessor in fast allen europäi- die nicht von vornherein eine besondere Was motiviert Sie, sich als Vorsitzen- schen Ländern, den USA und Japan; zahl- Beziehung zu kulturellen Werten haben, der des Beirats Dirigentenforum ehrenamtlich reiche Einspielungen, Aufsätze und Buch- mit Mitteln werben müssen, die uns wider- für den Deutschen Musikrat zu engagieren? publikationen u. a. über Musik des Mittel- streben und bei denen uns andere Bereiche Gülke: Ich habe das Dirigentenforum alters und der Renaissance, Mozart, Beet- weit überlegen sind. Die Konkurrenz ande- von seinen Anfängen an miterlebt. Es be- hoven, Schubert, Bruckner und Brahms, rer „semikultureller“ Medien spielt eine gann mit einer Verabredung von Dirigen- Theorie der musikalischen Interpretation. große Rolle und entschuldigt die von tenlehrern in der DDR, deren Institutiona- Mitglied der Sächsischen Akademie der Ihnen eingangs genannten Personen halb. lisierung in den alten Bundesländern begeis- Künste und der Deutschen Akademie für tert aufgenommen wurde. Das Interesse Sprache und Dichtung. Als Mitglied der Deutschen Akademie und der Aktionsradius des Forums haben für Sprache und Dichtung nehmen Sie inten- einen Umfang erreicht, der fast nicht mehr siv an der Debatte über die Rechtschreibreform zu bewältigen ist. Für mich kommt außer

 MUSIK ORUM 53 WIRTSCHAFT

er Ruf der Musikwirtschaft ist zung. Hier und dort sind diese Stellen längst „Dseit etwa vier Jahren mit institutionalisiert, wenn sie auch vergleichs- schlechten Schlagzeilen beleumun- weise verborgen planen und arbeiten. In Baden-Württemberg, und hier na- det. In letzter Zeit registrieren wir mentlich in Mannheim, ist nun ein integ- vor allem Meldungen über an- riertes Fördermodell für Popmusik ent- schwellende Umsatzverluste bei wickelt worden. Tonträgerherstellern und über Der Reihe nach: Im Jahr 2000 gründeten inzwischen massiven Stellenabbau Vertreter aus Politik, Tonträgerwirtschaft, in der Branche.“ So lauteten die Musikbusiness und weiteren musiknahen Branchen und Stiftungen in Baden-Württem- ersten Sätze der Kulturstaatsminis- berg eine Arbeitsgruppe, um die wirtschaft- terin Christina Weiss, als sie vor liche und inhaltliche Tragfähigkeit von Pop- einem Jahr den zweiten Kongress musik als Wirtschaftsfaktor für das Bundes- „Musik als Wirtschaft“ in Berlin land nach allen Regeln der Kunst abzuklop- eröffnete. fen. Im Oktober 2002 lagen die Ergebnisse in Gestalt einer 96-seitigen Publikation vor Musik ist ein bedeutender Wirtschafts- (pdf-Version zum Download im Internet faktor in Deutschland, der Einbruch dieser unter: www.mfg.de/popmusik). Sie waren Branche hat spürbare finanzielle und soziale denkbar positiv. Folgen. Mit dieser Erkenntnis, die sich auf allen politischen Ebenen durchgesetzt hat, Sammelbecken für Kreative wird Musik daher nicht nur unter kulturel- len, sondern auch unter wirtschaftlichen As- Ganz offensichtlich bot sich hier ein opti- pekten gefördert. Dabei steht inzwischen maler Boden für kreative und innovative neben dem „klassischen“ Konzertbetrieb die Musikprojekte und Bands. In den deutschen Popmusik gleichberechtigt auf der To-Do- Charts rangierten Bands aus Baden-Würt- Liste der regionalen Marketing-Strategen. temberg seit den 80er Jahren immer wieder Das Etikett „Jugendkultur“ hat Popmusik unter den Top 10. Freilich blieb das „Länd- ohnehin nicht mehr verdient, denn längst le“ von den Folgen des bundesweiten Struk-

MANNHEIM SETZT

Susanne Fließ berichtet über Marketing der innovativen Art :

wird sie generationenübergreifend gehört: turwandels in der Musikwirtschaft nicht ver- Jugendliche Fans finden sich auf Popkonzer- schont. So schloss im Frühjahr 2000 nach ten neben Vertretern ihrer Elterngeneration 34 Jahren die einzige in Baden-Württem- wieder, weil die einen mit ihrem Star alt ge- berg ansässige Plattenfirma Intercord. Aber worden sind, während die Musik für die Jun- die Arbeitsgruppe konstatierte andererseits, gen Kult ist. dass sich im Laufe der Jahrzehnte ein außer- Auch wenn die Förderung von Popmu- gewöhnlich hoher Anteil an Spezialisten im sik unter wirtschaftlichen Aspekten wie die Bereich „Neue Medien“ angesiedelt hatte jüngste Entdeckung der Politik aussieht, der und daher beste Voraussetzungen gegeben Eindruck täuscht: In Köln gibt es den so ge- waren, um den Schritt zu einer Positionie- nannten „Pop-Beauftragten“ seit beinahe 30 rung Baden-Württembergs im Themenbe- Jahren und dort wurde immerhin die Pop- reich „Pop“ zu wagen. Komm erfunden. Frankfurt beschäftigt eben- Ein Zentrum der neuen Aktivitäten wur- falls seit vielen Jahren eine Beauftragte für de gesucht und gefunden: Mit der Ernen- Rock- und Popmusik, die sich vor allem nung eines Pop-Beauftragten in Mannheim Stehen für „Musik made in Mannheim“: strukturellen Aufgaben widmet wie der sys- schuf man die erste feste Stelle dieser Art in Xavier Naidoo, Jule Neigel, die Söhne tematischen Suche und Bereitstellung von einem Kulturamt in Baden-Württemberg. Mannheims und Rock- und Bluesröhre Proberäumen für Nachwuchsbands und dem Mannheim? Die Stadt der Blue-Collar-Jobs Joy Fleming (von oben). Umbau alter Bunker zur musikalischen Nut- und von BASF? Andererseits: Die Stadt der

 54 MUSIK ORUM für weitere Sponsoren sorgen, um Planungs- sicherheit zu haben“, sagt Viola Bronsema. So gehen Kulturdezernent Kurz und seine Stadtmarketing-Chefin nicht nur fokussiert, sondern auch durchaus unkonventionell vor. Ausgerechnet auf der PopKomm in Berlin präsentierte sich Mannheim als erste Stadt Allein auf weiter Flur: Auf der Berliner PopKomm präsentierte sich Mannheim als einzige Stadt mit eigenem Messestand. Foto: Svenson Linnert in Deutschland mit einem eigenen Städte- Stand. Von der „Ökonomie der Aufmerk- samkeit“ spricht Kurz in diesem Zusammen- hang, denn natürlich besteht das Stadt- marketing-Konzept von Mannheim aus mehreren Schwerpunktthemen. Doch inte- ressiert sich die Klientel einer Popmusik- AUF Messe naturgemäß punktuell für das Thema Popmusik „Popmusik“, und so wurde pointiert -– und mit goßem Erfolg – das „Mannheimer Mo- Eine Stadt positioniert sich als Wiege von Trends und Talenten dell“ vorgestellt.

Förderung auf „drei Beinen“ „Mannheimer Schule“, die die Instrumental- vation, die Stadt ist ein gutes Pflaster, um Das „Mannheimer Modell“ ist ein ganz- und Orchestermusik des 18. Jahrhunderts neue Formen zu entwickeln. Und sie bietet heitliches Pop-Netzwerk, das, neben der revolutionierte. Oder – großer Sprung ins den Schutzraum und das soziale Netz, um Staatlichen Hochschule für Musik und Dar- 20. Jahrhundert – die Heimat der lebendi- innovative Dinge auszuprobieren. Man fällt stellende Kunst und der Musikschule Mann- gen Jazz-Szene der 50er Jahre, die Stadt, die hier weicher als beispielsweise in Berlin. heim auf drei neu gegründeten Institutionen in den 60ern Joy Fleming, in den 80ern Jule Mannheim ist auch im technischen Bereich aufbaut: der Pop-Akademie Baden-Württem- Neigel und in den 90ern Xavier Naidoo her- innovativ: Hier wurde das Luftschifff erfun- berg, dem branchenspezifischen Existenz- vorbrachte. Und schließlich: Mannheim, die den, das Laufrad, das Auto, der Aufzug.“ gründerzentrum „Musikpark Mannheim“ Wiege des Techno, Vorreiter der Club-Kul- Die Stadtmarketing GmbH ist dem De- und der kommunalen Popförderung. Denn tur. Die Berliner Zeitung titelte anlässlich der zernat für Kultur, Sport und Bildung unter in Mannheim ist man überzeugt: Die Zeit vergangenen PopKomm neidvoll: „New der Leitung von Bürgermeister Peter Kurz der großen Labels ist vorbei und mit ihr auch York – London – Mannheim: Was Berlin unterstellt und wird als Public Private Part- die kurzlebige und auf schnellen Erfolg an- von Mannheim lernen kann. Der Pop-Beauf- nership geführt. Das heißt, öffentliche und gelegte Vermarktung der Künstler. Dage- tragte der kleinen Stadt erzählt, wie man mit private Partner arbeiten Seite an Seite. Gel- gen ist die Zeit der kleinen Labels angebro- Berlin rivalisiert.“ der, die das Stadtmarketing aus der Wirt- chen und Mannheim wird mit seinen Insti- „Das Image der Industriestadt stimmt schaft einwirbt, werden in gleicher Höhe tutionen daran mitwirken, die Bedingungen längst nicht mehr“, sagt die Geschäftsführe- von der Kommune zugeschossen. „Bis 2007 für die solide Ausbildung von Nachwuchs- rin der Stadtmarketing Mannheim GmbH, haben sich unsere Partner aus der Wirtschaft musikern im Rock- und Pop-Bereich zu opti- Viola Bronsema. „Mannheim steht für Inno- verpflichtet. Dennoch müssen wir ständig mieren. Mit der Einrichtung der genannten

 MUSIK ORUM 55 BILDUNG.FORSCHUNG

drei Institutionen versetzt man den Pop- Nachwuchs in die Lage, sich branchenspezi- fisches Know-how anzueignen, um sich so von falschen Beratern zu befreien und größt- mögliche Gestaltungsfreiheit und Eigenstän- digkeit zu erwerben. WIE KOMMT Die Pop-Akademie Baden-Württemberg das Neue bietet deutschlandweit die Möglichkeit einer staatlich anerkannten Ausbildung in den IN DIE WELT? Bereichen Musik und Musikwirtschaft. Der Musikpark Mannheim ist ein mehrere tau- send Quadratmeter großes Existenzgründer- zentrum für die Musikwirtschaft. Existenz- Das Institut für Kulturelle Innovationsforschung in Hamburg gründer mit dem Kerngeschäft „Musik“ kön- will Zukunftspotenziale frühzeitig erfassen und fördern. nen sich hier ansiedeln und für die Dauer von Von fünf Jahren nicht nur Büroräume zu günsti- Reinhard Flender gen Mietpreisen, sondern auch das Netzwerk zu anderen musikorientierten Unternehmen nutzen. Und schließlich berät der Rock-Pop- Beauftragte Markus Sprengler Bands und as haben Unternehmer und für die Integration von Kunst in der Gesell- Künstler mit Hilfe vernetzter Strukturen zu WKomponisten gemeinsam? schaft entwickelt und die Umsetzung in die Themen wie Events und Probemöglichkei- Sie müssen mit gewachsenen Praxis wissenschaftlich begleitet werden. An- dererseits will das IKI eine Bewusstseinsent- ten, Finanzierung von Projekten, Öffentlich- Traditionen brechen und in der wicklung für die Phänomenologie des „Neu- keitsarbeit und Logistik. Gegenwart ein Gespür für Ent- Die nordenglische Stadt Manchester hat- en“ im Diskurs von Verantwortlichen auf scheidungen entwickeln, die die te in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts verschiedenen Ebenen initiieren. schon einmal praktiziert, was man sich auch richtigen Weichen für die Zukunft Der Umgang mit dem Neuen erfordert in und für Mannheim wünscht: Dort hatte stellen. von allen Verantwortlichen ein hohes Maß man den Britpop als Standortfaktor entdeckt, an Kompetenz. Das Neue ist nur selten so- um der am Boden liegenden Industriemet- Das Neue, das nachhaltig Zukunft eröff- fort erfolgreich, es bedarf einer langen Vor- ropole wieder auf die Beine zu helfen. Zahl- net, ist schwer zu erkennen, weil es meist bereitungs- und Investitionsphase, bevor es lose Studenten, Künstler und Architekten „absichtslos“ (Wolfgang Rihm) am Rande als neue Institution, als innovatives Produkt waren in der Folge in die Stadt gezogen und oder im Verborgenen entsteht. Hier entwi- oder zukunftsweisendes Kunstwerk aner- verhalfen Manchester zu neuem Glanz. ckelt sich eine neue Dimension des Dialogs kannt wird. Auch das „Mannheimer Modell“, so jung es zwischen Kunst und Wirtschaft, die die alte ist, beginnt sich herumzusprechen und da- Funktion der Kunst als Repräsentationskunst Kann man lernen, mit steigt der Bekanntheitsgrad Mannheims. ablöst und gemeinsame Schnittmengen in Medienwirksame Unterstützung erhält die einer Thematik erzeugt, die zu den brennen- … eine solch anspruchsvolle Aufgabe zu Stadt durch Künstler wie die „Söhne Mann- den Fragen unserer Zeit gehört. bewältigen oder bleibt diese Aufgabe heims“, die ihre Herkunft sogar stolz im Na- Einen Dialog zwischen beiden Bereichen den wenigen charismatischen Künstler- men tragen, und Xavier Naidoo, den derzeit zu fördern, ist ein wesentlicher Aufgaben- und Führungspersönlichkeiten überlas- prominentesten Testimonial in Sachen Pop- bereich, dem sich das Institut für Kulturelle sen? musik. Innovationsforschung (IKI) widmet: Ziel ist, Zukunft ist, so wie Vergangenheit, eine Und schon in diesem frühen Stadium eine neue Beziehungsqualität zwischen Kul- Orientierungshilfe unseres Bewusstseins, die entfaltet die spezifisch musikalische Infra- tur und Wirtschaft zu entwickeln, von der in unsere sprachlichen Ausdruckformen in- struktur Mannheims eine bundesweite Sog- beide Partner profitieren können. Die Frage tegriert ist. In dem Ordner „Zukunft“ wird wirkung. So zog im Jahr 2003 beispielsweise „Wie kommt das Neue in die Welt?“ ist ein ein Gemisch von Wahrnehmungsprozessen der Verband der deutschen Musikprodu- genuin zeitliches Phänomen – und mit der abgelegt. Dazu gehören Prognosen, d. h. die zenten e. V. von Berlin nach Mannheim um. Entwicklung von zeitlichen Prozessen be- hypothetische Fortsetzung eines zyklischen Man hofft auf den Zuzug weiterer Institutio- schäftigt sich jeder Komponist und Musiker Geschehens, das auch unsere Gegenwart nen und damit auf neue Bürger und natür- besonders intensiv. Ein Komponist geht bestimmt; Vorahnungen von Ereignissen, lich auch Gäste in der Stadt. Sie sollen durch durch komplexe mentale Prozesse, um ei- die Diskontinuität erzeugen wie z. B. Krisen, ihren Besuch den Einzelhandel, die Gastro- nen Durchbruch zum „Neuen“ zu erzielen. bis hin zu Visionen, einem Gestaltungsfrei- nomie und Hotellerie beleben und werden Dies gilt ebenso für den Manager, der ein raum, der in unserem eigenen Imaginations- die übrigen Reize der Quadratstadt, wie Unternehmen in eine ungewisse Zukunft vermögen liegt. Mannheim wegen seines rechtwinkligen leiten muss. Es ist von daher kein Zufall, Die besondere Herausforderung besteht Grundrisses genannt wird, kennen und dass die Idee zur Gründung des IKI in der darin, in einem Wettbewerb der Ideen, Stra- schätzen lernen. Hochschule für Musik und Theater in Ham- tegien und Visionen den Gestaltungsfrei- www.mannheim.de burg entstanden ist. raum, den die Zukunft bietet, klar einzu- Das IKI fördert kulturelle Innovation ei- schätzen und in der Praxis erfolgreich nerseits dadurch, dass Best Practice-Modelle umzusetzen. Es fällt oft schwer, „Neues“ zu

 56 MUSIK ORUM akzeptieren, wenn es durch einen unvorher- und Flexibilität sind die Eigenschaften, die Gartiser (Metrum Management Beratung) gesehenen Parameterwechsel herbeigeführt den gemeinsamen Nenner von Künstler erörtert. Im WS 2001/2002 widmeten wir wird. Hier kann das Zukunftspotenzial des und Manager ausmachen. uns dem Thema „Musik und Musikvermitt- Neuen nur durch Umdenken erfasst wer- Die Arbeit des IKI gliedert sich in die Be- lung im 21. Jahrhundert“ und konnten den. Hier machen Künstler und Unterneh- reiche Lehre, Forschung und Transfer. Im hierfür die Referenten Sonia Simmenauer mer ähnliche Erfahrungen. Bolko von Oe- Bereich der Lehre geht es um Austausch. (Impressariat Simmenauer), Ulf Werner (En- tinger schreibt: „(Unternehmer) sind wie Deshalb bevorzugen wir die Form der Ring- semble Resonanz), Barbara Stiller (Universi- Künstler, sie sehen Möglichkeiten, bevor an- vorlesung. Hier werden Experten aus ihrem tät Bremen) und Karsten Witt (London) ge- dere sie entdecken. Überraschung ist ihr Me- beruflichen Umfeld gebeten, zu einem The- tier. Mit dem Neuen werden sie geschaffe- ma Stellung zu nehmen. Die Ringvorlesung ne Märkte stören, und das ist ihre Aufgabe im Wintersemester 1999/2000 hatte das Im Bild: Stipendiaten der internationalen als Unternehmer. Sie müssen ihren Mitarbei- Thema „Neue Musik und der Tonträger- Sommerakademie „Jeunesse Moderne“ bei tern das Neue erklären, denn was fremd ist, markt“ mit den Referenten Michael Fine der Improvisation im Haus von Jean-Jacques ist erklärungsbedürftig, sonst schürt es Angst (DG), Michael Haas (Decca) und Wolfgang Rousseau (Les Charmettes, Chambéry). und wird abgelehnt. Sie müssen sie durch Mohr (Teldec). Im Sommersemester 2000 Das IKI hat die im Jahr 2001 von Jeunesses diese Veränderung mit starker Hand führen wurde das Thema „Innovation im Konzert- Musicales Deutschland und dem Conserva- und werden dabei gestalterische Freude emp- saal“ von Peter Prick (Enschede), Ilona toire National Supérieure de Musique et de finden…“* Pioniergeist und Mut, Ausdauer Schmiehl (Die Glocke, Bremen) und Peter Danse Lyon gegründete Akademie mitkonzi- piert und übernimmt die wissenschaftliche Evaluation. Ziel ist es, mit jungen Nach- wuchsinterpreten die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts kennen zu lernen und aufzu- führen. Jedes Jahr werden Kompositionsauf- Der Umgang mit dem Neuen erfordert träge vergeben, die im Rahmen des Kurses uraufgeführt werden. von allen Verantwortlichen ein hohes Foto: Isabelle Replumaz (Jeunesse Moderne) Maß an Kompetenz

 MUSIK ORUM 57 RECHT

winnen. Im Sommersemester 2002 lautete das Thema „Zwischen Podium und Publi- kum“ mit Beatrix Borchard, Friedrich Loock und Peter-Michael Hamel. Im Bereich Forschung gibt es neben der Grundlagenforschung folgende Schwer- punkte: Strukturentwicklung an Musikhoch- Kehrtwende schulen (Neue Berufsbilder), Ensembles für Neue Musik in Europa (Repertoireentwick- IM URHEBERRECHT? lung und Organisationsstrukturen), Musik- Vermittlung (insbesondere für Kinder und Jugendliche) sowie Musikmarketing (insbe- sondere im Bereich Tonträger) und Kultur- Ein Referentenentwurf für die nächste Gesetzesnovelle betriebslehre (Konzerthäuser und Opern). stellt die Rechte und Interessen von Urhebern nicht mehr Die Erforschung kulturökonomischer Zu- in den Vordergrund. Von sammenhänge ist dabei von wesentlicher Ferdinand Melichar Bedeutung, denn Kultur kann nicht mit den ökonomischen Prinzipien gesteuert wer- den, die in der freien Marktwirtschaft gel- ten. mmer rasanter dreht sich die dem gegebenenfalls ein 3. Korb folgen wer- Im Bereich Transfer geht es darum, Best I Gesetzgebungsmaschinerie, de. Practice-Modelle zu konzipieren und zu eva- wenn es ums Urheberrecht geht. Der Gesetzgeber muss darauf achten, luieren. Dazu gehören z. B. die internationa- dass trotz dieser Geschwindigkeit die Quali- le Sommerakademie für zeitgenössische Kam- Das alte Urheberrechtsgesetz 1901 tät nicht leidet. Vor allem aber ist darauf zu mermusik „Jeunesse Moderne“, das Response- (LUG) befasste sich – dem damaligen Stand achten, dass nicht vor lauter dem Zeitgeist projekt „Reise in die Musik des 21. Jahrhun- der Technik entsprechend – mit der „Über- entsprechendem „fairen Kompromiss“ und derts“ , das „International Young tragung des Werks auf Vorrichtungen für „Interessenausgleich“ die eigentliche Aufga- Trainings Program“ sowie Fortbildungs- und Instrumente, die der mechanischen Wieder- be des Urheberrechtsgesetzes zu kurz kommt: Weiterbildungsprogramme im Bereich Mu- gabe für das Gehör dienen, insbesondere nämlich den Urheber in seinen geistigen sik und Wirtschaft. auf auswechselbare Scheiben, Platten, Wal- und persönlichen Beziehungen zum Werk Das IKI wird finanziell unterstützt vom zen, Bänder und sonstige Zubehörstücke unter Nutzung des Werks zu schützen (so new classical e. V. Die Hauptsponsoren sind solcher Instrumente“. Dieses Gesetz blieb der programmatische Paragraph 11 des Ur- die peermusic (Germany) GmbH und die bis 1965 in Kraft, ohne dass es wesentliche heberrechtsgesetzes). An diesem Maßstab Gerhard Threde Stiftung. Änderungen erfahren hätte. Die Rechtspre- muss sich der jetzt vorgelegte Referenten- Weitere Informationen: chung musste und konnte neue Nutzungs- entwurf zum 2. Korb messen lassen. möglichkeiten urheberrechtlich geschützter www.iki-hamburg.de Werke wie Schallplatte, Film, Radio, Fernse- ✽ hen und schließlich Tonband in das Rechts- system des LUG einordnen. Auch das Urhe- Der Referentenentwurf will das Urheber- * Bolko von Oetinger: Wie kommt das Neue in die Welt?, München 2000, S. 89. berrechtsgesetz von 1965 – mit dem erst- rechtsgesetz weiter „an die Entwicklungen mals in der Welt die private Überspielung im Bereich der Informations- und Kommu- gegen Bezahlung einer Gerätevergütung für nikationstechnologie“ anpassen. zulässig erklärt wurde – blieb 20 Jahre lang Im Mittelpunkt steht demgemäß erneut Der Autor: nahezu unverändert. die Behandlung der Privatkopie, wobei fol- Erst 1985 entschloss sich der Gesetzge- gende Kernfragen zu behandeln sind: Prof. Dr. Reinhard David Flender ber, insbesondere in den Bereichen private ˇ Bestimmte Verwerterkreise – insbeson- ist Komponist, Vizepräsident von Überspielung und Reprografie, zu grundle- dere aus der Filmindustrie – fordern, dass peermusic classical Europe und gender – und wieder international beispiel- die Privatkopie mit digitalen Mitteln grund- lehrt seit 1983 an der Hochschule gebender – Überarbeitung des Gesetzes. Seit- sätzlich verboten werden müsste. Der Refe- für Musik und Theater in Hamburg. her folgt eine Urheberrechtsnovelle der an- 1999 gründete er zusammen mit rentenentwurf kommt diesem Verlangen Prof. Elmar Lampson das Institut deren – teils von der EU (durch sieben Richt- vernünftigerweise nicht nach. Ein solches für kulturelle Innovationsforschung. linien) erzwungen, teils aber auch aus eige- Verbot würde bei den Nutzern auf keinerlei nem Antrieb (typisches Beispiel hierfür ist das Akzeptanz stoßen und wäre praktisch nicht Urhebervertragsrecht von 2002). Im Sep- durchsetzbar. Es bleibt also auch im Digital- tember 2003 wurde die wichtige EU-Richt- bereich dabei, dass private Kopien erlaubt linie zum Urheberrecht in der Informations- sind. gesellschaft in das deutsche Urheber- ˇ Umgekehrt wird – insbesondere von rechtsgesetz eingearbeitet. Das Justizminis- Verbraucherschützern – ein „Recht auf Pri- terium nannte dies „1. Korb“ und kündigte vatkopie“ eingefordert. Soweit die private gleichzeitig bereits an, in einem „2. Korb“ Vervielfältigung erlaubt ist, soll der hiervon weitere wichtige Themen zu behandeln, Begünstigte also auch das Recht erhalten,

 58 MUSIK ORUM diese gegebenenfalls gegen technische Maß- Maßnahme“ vorgeschlagen: „Die Vergütung nahmen (z. B. Kopiersperren) durchzuset- für die Urheber sollte durch eine Anpassung zen. Für den Bereich der Reprografie muss- der Vergütungssätze angemessen erhöht wer- te der Gesetzgeber ein solches Recht auf den“. Vervielfältigung aufgrund der zwingenden Mit dem nun vorgelegten Entwurf wird EU-Vorgabe bereits im 1. Korb institutionali- diese Vorgabe der Bundesregierung ins Ge- sieren (§ 95b Abs. 1 UrhG). Für den Audio- genteil verkehrt. An die Stelle des gesetzlich bereich und audiovisuellen Bereich lehnt geregelten und eingespielten Tarifsystems der Referentenentwurf ein Recht auf Privat- wird ein „Systemwechsel“ vorgeschlagen: kopie erneut ab mit dem begründeten Hin- Die Parteien sollen die Höhe der Vergütung weis auf den verfassungsrechtlichen Schutz nun untereinander regeln. Der Gesetzgeber des Urheberrechts. Unübersehbar ist ja auch geht dabei selbst davon aus, dass dadurch der Unterschied zur Reprografie: Dient das „die Belastungen pro Gerätetyp angemessen dort vervielfältigte Material vornehmlich der begrenzt werden und zum Teil unter denen Information, Bildung und Wissenschaft, so liegen werden, die im Augenblick in Rede geht es hier doch primär um Unterhaltung, stehen“. In der Tat würde die jetzt vorge- was einen Eingriff in grundrechtlich ge- schlagene Regelung dazu führen, dass selbst schützte Rechtspositionen doch wesentlich für die traditionellen Gerätetypen die Höhe erschwert. der Vergütung in Frage gestellt ist. Maßgeb- ˇ Von Seiten der Industrie wird gefordert, lich für die Höhe der Vergütung soll näm- die Pauschalvergütungen für private Über- lich vorrangig das „Preisniveau“ des Geräts spielung gänzlich abzuschaffen, da jeder Be- oder des Speichermediums sein. Diese ein- rechtigte die Möglichkeit habe, die private seitige Anknüpfung übersieht den verfas- Überspielung durch Kopiersperren unmög- sungsrechtlich gewährleisteten Anspruch der lich oder durch Digital Rights Management Urheber auf eine angemessene Vergütung (DRM) Systeme kontrollierbar zu machen. für die Nutzung ihrer Werke, der nicht etwa Die Industrie hätte hiervon einen doppelten nur Anspruch auf eine „Beteiligung“ an ei- Vorteil: Sie würde sich die Zahlung von Pau- nem Veräußerungserlös ist. Mit dem Kauf schalvergütungen ersparen und gleichzeitig eines Vervielfältigungsgerätes erwirbt und am Absatz der von ihr entwickelten DRM- bezahlt der Nutzer zum einen das Eigentum Systeme verdienen. Zu Recht geht dagegen an der Maschine, zum anderen vor allem der Referentenentwurf davon aus, dass auch aber auch die gesetzliche Lizenz zum priva- zukünftig die Pauschalvergütungen neben ten Kopieren. DRM-Systemen bestehen bleiben müssen. Es ist nicht akzeptabel, dass große Han- Hierzu zwingt schon die Tatsache, dass es delshäuser mit ihrer dem Geiz als Dogma auch zukünftig kopierbare Quellen geben zugrunde liegenden Preispolitik die „Ange- wird, die technisch nicht blockiert oder kont- messenheit“ der Urheberrechtsvergütung rolliert werden können (freie Radio- und festlegen. Diese muss sich vielmehr daran Fernsehprogramme, Printvorlagen etc.). orientieren, wie viele und welche Rechte Der Referentenentwurf kommt also zu der Nutzer im Rahmen der gesetzlichen Li- dem vernünftigen Ergebnis, dass die private zenz erwirbt. Digitalkopie in den bisherigen Grenzen er- laubt und die Urheber hierfür eine angemes- Werden Urheber nur noch sene Vergütung über die Geräte- und Leer- mit „Peanuts“ abgespeist? trägerabgabe erhalten müssen. So sehr die- ses Ergebnis zu begrüßen ist, so sehr ist die Die jetzt vorgeschlagene Neuregelung nun vorgesehene Ausgestaltung der Vergü- hätte zur Folge, dass die von den Verwer- tungsregelung zu kritisieren. Bislang war die tungsgesellschaften vertretenen Urheber und Höhe der Pauschalvergütung für Vervielfäl- Künstler über Jahre um die angemessene tigungsgeräte und Leerkassetten im Gesetz Vergütung für die private Nutzung ihrer selbst festgelegt. Bis heute werden diese ge- Werke streiten müssten, um schließlich mit setzlichen Vergütungssätze für traditionelle Peanuts abgespeist zu werden. Dabei bezieht Vervielfältigungsgeräte und das entsprechen- sich diese pessimistische Prognose nicht nur de Trägermaterial bezahlt. Für neue Geräte- auf die ohnehin im Streit befindlichen Gerä- typen sind diese gesetzlich festgelegten Tari- te und Materialien wie PCs, Festplatten und fe wichtiger Orientierungspunkt; dies gilt Drucker, sondern auch auf die traditionel- sowohl für die Fälle einvernehmlicher Fest- len Geräte. legung der Vergütungshöhe als auch der Ein weiteres wichtiges Thema im Refe- Festlegung durch Gerichte. Noch in ihrem rentenentwurf ist die Behandlung der so ge- 2. Vergütungsbericht aus dem Jahr 2000 hat nannten Archivrechte. Bis jetzt konnten Ur- die Bundesregierung als „gesetzgeberische heber Nutzungsrechte an zum Zeitpunkt

 MUSIK ORUM 59 DOKUMENTATION

des Vertragsabschlusses noch nicht bekann- Um die Zielrichtung dieser Vorgabe noch Urheberrechtspolitik“ versandt. In der Tat ist ten Nutzungsarten nicht übertragen. Nun deutlicher zu machen, bietet die Gesetzes- festzustellen, dass in wesentlichen Punkten wird – insbesondere von den öffentlich-recht- begründung zwei Beispiele: Ersetzt eine des Referentenentwurfs nicht mehr die lichen Rundfunkanstalten – beklagt, dass des- neue Nutzungsart nur eine alte, so kann die- Rechte und Interessen der Urheber im Vor- halb die in ihren Archiven ruhenden „Schät- ser „zusätzliche Vergütungsanspruch gegen dergrund stehen, sondern die der Wirtschaft ze“ im Rahmen neuer technischer Möglich- Null tendieren“ und in anderen Fällen soll be- und allenfalls noch der Verbraucher. Auch keiten (z. B. in Internet-Spartenkanälen) kaum rücksichtigt werden, dass „neue Nutzungs- wenn der Referentenentwurf in anderen – genutzt werden könnten, da es praktisch un- arten auf längere Zeit hinaus nur ganz be- weniger wichtigen und daher hier nicht dar- möglich sei, von jedem einzelnen beteilig- scheidene Erträge bringen“. Natürlich kos- gestellten – Bereichen durchaus begrüßens- ten Urheber individuell die Genehmigung tet die Einführung neuer Verbreitungsschie- werte Vorschläge enthält, so müssen ihn Ur- hierfür einzuholen. nen Geld, erfordert Investitionen. Dies war heber in den beiden Kernpunkten doch Der Wunsch, die Nutzung alter Aufnah- bei Einführung z. B. des Satellitenfernsehens grundsätzlich ablehnen. Bislang schützte das men in neuen Medien rechtlich zu erleich- nicht anders, als es bei Einführung von Web- Urheberrecht primär den Urheber, seine tern, ist durchaus verständlich. Der nun vor- casting sein wird. Während aber alle ande- geistigen und materiellen Interessen. Inso- gelegte Vorschlag im Referentenentwurf, ren an dieser Entwicklung Beteiligten nor- weit ist dieser Entwurf tatsächlich eine der dieses Ziel anstrebt, ist jedoch nicht ak- mal bezahlt werden (kein Manager, kein Tech- Kehrtwende. zeptabel. Das Verbot der Übertragung von niker, keine Sekretärin würde auf Gehalt ver- Nutzungsrechten an unbekannten Nutzungs- zichten, nur weil es sich hier um ein in Ent- arten soll gestrichen werden und der Autor wicklung befindliches Projekt handelt), sol- soll als Ausgleich dafür einen Anspruch auf len Urheber zu eben solch einem Verzicht eine „besondere angemessene Vergütung“ durch das Gesetz gezwungen werden. Auch für die Verwendung seines Werks in einer hier wird der verfassungsmäßige Rang des Der Autor: „später bekannten Nutzungsart“ erhalten. Urheberrechts ignoriert. Prof. Dr. Ferdinand Melichar, Auch hier zeigt sich wieder, dass das Urhe- Musik- und Rechtswissenschaftler, berrecht ökonomischen und wettbewerbs- ✽ ist Geschäftsführendes Vorstands- rechtlichen Gesichtspunkten weichen soll. mitglied der VG WORT und Hono- Bei Festsetzung der Höhe dieser gesetzli- Der Deutsche Kulturrat hat seine Stel- rarprofessor an der Ludwig-Maxi- chen Vergütung sollen nämlich die „wirt- lungnahme zu dem hier besprochenen Re- milian-Universität in München für schaftlichen Rahmenbedingungen“ zu be- ferentenentwurf mit der Überschrift „Kehrt- den Bereich Urheberrecht. rücksichtigen sein. wende des Bundesjustizministeriums in der

WEICHEN GESTELLT FÜR europäische Kultur-Charta

EU will „Europa eine Seele geben“ und bekräftigte dies auf der Berliner Konferenz: Kultur soll im Einigungsprozess Europas erkannt und genutzt werden

er Präsident der EU-Kommis- Barroso sagte dies anlässlich der zweitägi- Länder und weitere Politiker sowie Kultur- Dsion, Jose Manuel Barroso, gen Konferenz für Europäische Kulturpoli- schaffende. sieht in Europa nicht nur wirtschaft- tik „Europa eine Seele geben“, die am 26. Schröder sprach sich in seiner Grundsatz- und 27. November in Berlin stattfand. Prä- rede gegen die Einrichtung eines europäi- liches, sondern auch kulturelles sentiert und gefördert durch die Kulturstif- schen Superstaates aus. Für ihn werde es im Potenzial. Dieses müsse genutzt tung des Bundes, mit dem Forum Zukunft Europa der Zukunft auch weiterhin Natio- werden, um Inspirationen für die Berlin e. V. als Projektträger, wollte die Kon- nalstaaten und Regionen mit eigenen Zu- Zukunft zu gewinnen. ferenz „einen Impuls setzen, um Kultur als ständigkeiten und Rechten geben. Im Zu- Teil des politischen Handelns in der Europäi- sammenhang mit den EU-Beitrittsverhand- schen Union wirksamer als bisher ins Spiel lungen mit der Türkei und der „historischen zu bringen“. Teilnehmer waren u. a. Bundes- Chance für Europa, eine Brücke in die isla- kanzler Gerhard Schröder, die Außen- und mische Welt zu schlagen", betonte der Bun- Kulturminister verschiedener europäischer deskanzler, nicht Abgrenzung in religiös de-

 60 MUSIK ORUM finierte Kulturen, sondern „plurale Vielfalt sie jedoch eine neue Dringlichkeit erhalten.“ Geld, um es der EU zu ermöglichen, sich als sei das Ziel“. Das Ziel des Berliner Prozesses bestand Weltmeister der Einheit in Vielfalt zu be- Auch Außenminister Joschka Fischer darin, das politische Paradigma dahingehend währen“. Aktive Toleranz könne sich darin konstatierte, dass dort, wo Europa bereits zu verändern, dass Europa diese Hierarchie ausdrücken, dass Immigranten sich mehr zu heute integrative Realität sei, sich weder die in seinem Handeln und Streben überdenkt. Europa und seinen Werten insgesamt hinge- Völker noch die unterschiedlichen Kulturen Es ging darum, Verfahren einzurichten, um zogen fühlten als nur zu einzelnen Mitglieds- und Sprachen aufgelöst hätten. Fischer den Fortschritt in den europäischen Institu- staaten, in denen sie sich ansiedeln – eine sprach das Kernelement dessen an, was die tionen und den Mitgliedsstaaten bei der Um- Vorstellung, die eindeutige Auswirkungen europäische Seele bedeute: „…nämlich aus setzung konkreter Initiativen und der nicht auf die Fortentwicklung des Begriffs der einem Jahrhundert des Totalitarismus die unbeträchtlichen Investitionen im Bereich Staatsangehörigkeit hätte. Konsequenz gezogen zu haben, dass Demo- europäischer Kultur zu überwachen und da- Der Berliner Prozess hat die Weichen kratie nicht nur ein politischer sondern auch rüber regelmäßig Bericht zu erstatten. gestellt für die Ausarbeitung einer Europäi- ein kultureller Grundwert unseres Zusam- Die Konferenz begrüßte außerordentlich schen Kultur-Charta, einen regelmäßigen menlebens ist. Und deshalb ist es von über- die Initiative der Kultusminister Frankreichs, Überblick über den Stand der gemeinsamen ragender Bedeutung, dass bei allen Beteilig- Deutschlands, Polens und Ungarns, für wei- Kulturpolitik und die verfügbaren Ressour- ten begriffen wird, dass das friedliche tere regelmäßige Zusammenkünfte zu sor- cen, den praktischen Fortschritt in der kultu- Zusammenleben möglich ist, wenn es auf gen, um die Debatte über den kulturellen rellen Integration und der interkulturellen den demokratischen Grundsätzen und der Gehalt der Europäischen Union zu vertie- Kompetenz sowie über die Rolle der Kultur Herrschaft des Rechts gründet.“ fen. Es bestand Einigkeit darüber, dass die bei der Gewährleistung von Sicherheit. Fischer zitierte Francois Mitterand, der in sich entwickelnde gemeinsame Außen- und Nach den Worten von Timothy Garton seiner letzten großen Rede vor dem europäi- Sicherheitspolitik auf den kulturellen Wer- Ash liegt Europas Seele in der wahren und schen Parlament gesagt hatte: „Der Natio- ten Europas basieren müsse. inspirierenden Geschichte „der Ausdehnung nalismus, das ist der Krieg.“ Dies sei Mitte- der Freiheit, Schritt für Schritt, über 60 Jah- rands Vermächtnis gewesen und das Ver- Politisches Potenzial der re“. Das Vermächtnis des Berliner Prozesses mächtnis seiner Generation. Fischer: „Die Kultur zur Grundlage der werde darin bestehen, die Fortführung die- Antwort der Europäer war das Europa der Außenpolitik machen ser Geschichte und die kreative Energie, die Integration, das Europa der Demokratie, der von ihr ausgegangen ist, fest in der politi- Herrschaft des Rechts, der Toleranz, der li- Richard von Weizsäcker wies darauf hin, schen Agenda der Europäischen Union zu beralen Demokratie. All das sind gewaltige dass Europa den Kampf der Kulturen ver- verankern. Kulturleistungen, all das macht die Seele meiden und den Dialog an seine Stelle set- Dieses Anliegen wurde von Bronislaw Europas aus. Wie tolerant wir untereinander zen sollte. Er plädierte dafür, dass Europa Geremek unterstützt, der dazu aufrief, „den und miteinander umgehen, gerade in unse- das politische Potenzial der Kultur zur Geist des Prometheus“ wieder aufleben zu rer Verschiedenheit, ist von überragender Grundlage seiner Außenpolitik mache. Von lassen und „mehr zu erstreben, als wir schon Bedeutung für unsere Seele.“ Weizsäcker zitierte dabei die schriftlich erreicht haben“. Die Hoffnung darauf, dass Kulturstaatsministerin Christina Weiss übermittelte Botschaft des Hohen Beauf- dieser Geist weitergetragen wird, wird dabei forderte, dass der Reichtum der kulturellen tragten Javier Solana (ebenfalls ein Mitglied besonders in die jungen Europäer gesetzt. und sprachlichen Vielfalt Eingang in ein des Kuratoriums dieser Konferenz), in der Viele von ihnen, insbesondere aus mittel- neues Marketing für die europäische Idee dieser betonte, Europa täte gut daran, „sich und osteuropäischen Ländern, waren aktiv finden müsse. Altbundespräsident Richard noch intensiver als bisher als Partner des an dieser Konferenz beteiligt. von Weizsäcker kritisierte demgegenüber, Dialogs der Kulturen der Welt zu betätigen“. Hans-Gert Pöttering, Mitglied des Euro- Kultur werde zu sehr vernachlässigt. Dabei In diesem Sinn beschloss die Konferenz, päischen Parlaments, schlug vor, zur Beför- sei es ihre Aufgabe, ein humanes Zusam- dass kulturelle Aktivitäten ein integraler Be- derung des Berliner Prozesses einen Len- menleben zu lehren. standteil der Außen- und Entwicklungspoli- kungsausschuss zu bilden. Die europäischen tik sein sollten und als solche vermittelt und Institutionen sollen einbezogen und der kul- „Kulturelle Werte sind höher gefördert werden müssten. Ferner wurde turelle Sektor und andere Teile der Zivilge- einzustufen als ökonomische“ die Notwendigkeit betont, einen wahrhaft sellschaft durch einen Beirat beteiligt wer- europäischen öffentlichen Raum herzustel- den. Ausschuss und Beirat würden dem EU- Die Berliner Konferenz hat Menschen, len – eine Agora, sei es in Form europawei- Ministerrat, dem Europäischen Parlament die in der europäischen Politik, Kultur und ter Medien, von Diensten für Kinder, von sowie den weiteren Zusammenkünften der Verwaltung verantwortlich sind, zusammen- Filmverleih, einer europäischen Bibliothek Berliner Konferenz über politische Fort- gebracht und dadurch einen Prozess initiiert, und Enzyklopädie oder eines wirklich euro- schritte und den weiteren Handlungsbedarf dessen Ziel es war, nachhaltiges kulturelles päischen Journals für Kritiken. Ein solch öf- Bericht erstatten. Die Berliner Konferenz Wachstum ins Zentrum des europäischen fentlicher Raum sei notwendig, um dem sollte alle zwei Jahre stattfinden und hätten Projekts zu rücken – „ein strukturelles Ele- Mangel an Solidarität und dem weit verbrei- die Aufgabe zu überwachen, welchen Stel- ment unserer Einheit“, wie Kommissions- teten öffentlichen Misstrauen gegenüber lenwert Kultur in der Entwicklung der Euro- präsident Barroso es nannte. Barroso: „In europäischen Institutionen entgegenzuwir- päischen Union jeweils erreicht hat. der Hierarchie unserer Werte sind kulturelle ken. Werte höher einzustufen als ökonomische.“ Hans-Dietrich Genscher bezeichnete „ak- Quellen: Für ihn seien die Fragen, was Europa für die tive Toleranz“ als einen grundlegenden www.berlinerkonferenz.net, www.bpb.de/themen Kultur und was die Kultur für Europa tun Wert. Lord Maclennan unterstrich diesen könne, nicht neu. „In diesem Kontext haben Punkt und forderte „Politik, Programme und

 MUSIK ORUM 61 PRÄSENTIERT

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 62 MUSIK ORUM TONTRÄGER REZENSIONEN orchester kammermusik

Gustav Mahler Eugène Ysaÿe Symphonien Nr. 1-9 / Adagio aus der Sinfonie Nr. 10 Sonates pour violon solo EuropaChorAkademie, Freiburger Domsingknaben, Aurelius-Sängerknaben Calw, SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Frei- Thomas Zehetmair, Violine. burg, Ltg. Michael Gielen. ECM New Series 1835. Hänssler-CD 93.130 (13 CDs).

Wenige Dirigenten wissen so viel der hymnische Schlussjubel kein En- Werkes stets auch schon das Ende Schon mit der Solo-Sonate op. 27 über Mahler wie Michael Gielen, der de nehmen will. Das Ganze, so Gie- im Blick, lässt die Form nie aus den Nr. 3 des belgischen Violin-Virtuo- dem titanischen Œuvre des großen len dazu kritisch, sei eine „äußere Ze- Händen gleiten und verschießt sein sen Eugène Ysaÿe hat Thomas Ze- Sinfonikers verbunden ist wie einem remonie“, eine „Stickdeckchen-Sache“ Pulver nicht vorschnell. Überrascht hetmair vor kurzem die Spannung guten Freund. Gielen musiziert Mah- und letztlich bewusst zelebrierter stellt man irgendwann – in der Durch- auf den kompletten Zyklus geschürt, ler nicht nur, er spricht auch über ihn Kitsch. führung eines ersten Abschnitts, als er sie mit Heinz Holligers Violin- und hat vor zwei Jahren einige dieser Die meisten der zehn Mahler-Sin- oder auch in einem späteren Satz – konzert aufnahm. Jetzt also liegen Gespräche in einem Buch festhalten fonien liegen in Einspielungen von fest, dass die oft unspektakulär insze- sämtliche sechs Solo-Sonaten op. 27 lassen (Paul Fiebig/Michael Gielen: Michael Gielen und dem SWR-Sinfo- nierte Akribie des Dirigenten und sei- vor. Und das Warten hat sich natür- Mahler im Gespräch – Die zehn Sinfo- nieorchester (früher SWF) auch ein- nes zumeist exzellenten SWR-Orches- lich gelohnt. Denn mit welchem ex- nien, Metzler-Verlag, Stuttgart 2002, zeln vor. Und vielleicht sind die be- ters eine Sogwirkung entwickelt, der pressiven Furor und welcher motori- 24,90 Euro). Ein bequemer Mahler- reits vorhandenen CDs dem jetzt er- man sich nur schwer entziehen kann. schen Energie Zehetmair bereits in Interpret aber ist er sicher nicht, ja be- schienenen Gesamtpaket sogar vor- Das gilt sicher auch für die neu op. 27 Nr. 3 eine fesselnde Eindring- quem sind seine Einspielungen ohne- zuziehen, denn dort wird Mahler vorliegende fünfte Sinfonie, deren lichkeit entwickelte, so unterschlägt hin selten. Nicht zuletzt im Hinblick sinnreich in Beziehung zu Schubert, Trauermarsch (Untertitel: Wie ein er auch in den fünf anderen auf Tempi hat Gielen oft eine eigen- Berg, Weber oder auch Schönberg Kondukt) sich fortschleppt wie ein jede Oberflächen-Brillanz. Stattdes- willige Position vertreten. Die Wie- gesetzt. Dennoch ist die Box mit 13 Leichenzug im knietiefen Schlamm; sen spielt Zehetmair seine techni- ner Philharmoniker brachte der heu- CDs alles andere als überflüssiger deren Scherzo (mit dem Hornsolo) sche Überlegenheit so aus, dass te 77-Jährige in Mozarts Es-Dur-Sinfo- Luxus: Weil Gielens Mahler-Lesart ebenso leichtgewichtig vorüberzieht Ysaÿes klangfarblichen Raffinessen, nie KV 543 mit einem raschen Beginn eigenständig und wegweisend ist – wie das bereits erwähnte Adagietto, sein Sinn für Noblesse und die poly- aus der Fassung, Beethovens Sinfo- und weil von ihm nun neu auch die während das an sich ausgelassene Fi- fonen Strukturen sich geradezu ent- nien trieb er systematisch die Behäbig- fünfte und die neunte Sinfonie vor- nale auch in der Heiterkeit nicht über- wickeln können. Die 1924 kompo- keit aus. liegen. mütig wird. Beeindruckender aber ist nierten und den legendären Geigern Für das berühmte Adagietto aus Freilich lassen sich Gielens Mah- Gielens ebenfalls neue Aufnahme der wie George Enescu, Fritz Kreisler der fünften Mahler-Sinfonie braucht ler-Interpretationen nicht über einen neunten Sinfonie. Er, der nach eige- und Joseph Szigeti gewidmeten So- Gielen in einer Einspielung aus dem Kamm scheren, doch gibt es deutlich nem Bekunden einst bei Schönberg naten wägt Zehetmair in ihrem Jahr 2003 – die jetzt im Paket mit erkennbare Grundpfeiler: Er musi- seine Liebe zur Klassik entdeckt hat rhythmisch komplexen wie musika- allen Mahler-Sinfonien vorliegt – nur ziert gerne leicht, zügig und ohne über- und sich der Meinung Adornos an- lisch anspruchsvollen Radius mit ei- achteinhalb Minuten, wo Bernstein triebene Bedeutungsschwere, die em- schließt, wonach der Kopfsatz der ner tonsprachlichen Ausdrucksüber- sich elf Minuten Zeit nimmt und Fa- phatisch erigierte Geste (die andere Neunten das erste Stück der neuen fülle ab. Und selbst die verdichtetsten bio Luisi mit dem MDR-Sinfonieor- Dirigenten gerade bei Mahler ausgie- Musik sei, ist hier in seinem Element. Stimmverläufe kann er mit einem chester gar 12 Minuten 37 Sekunden. big pflegen) liegt ihm nicht. Eine sei- Die neuartige Polyfonie kann Gielen Schwung auflockern, ohne dabei die Mahler selbst brauchte neun Minu- ner Maximen könnte, überspitzt for- stringent und linear entwickeln, das musikalisch-geistige Einheit zu diffa- ten. „Es ist schon ein sehr hübscher muliert, lauten: Präzision statt Emo- Gewebe stets bis auf den Knochen mieren, mit der Ysaÿe sich auch vor Satz", sagt Gielen, „aber er darf nicht tion. frei legend, ohne dabei unlyrisch zu Johann Sebastian Bach verbeugte. gewichtig sein, er muss wie im Traum Das verwirrt nicht nur im Prinzip, werden. Wie subtil er musizieren lässt, Guido Fischer vorübergehen.“ sondern auch beim ersten Hören wie durchdacht seine Klangregie ist, Der gebürtige Dresdner behält mancher Aufnahme. Denn dieser das betört. Konsequent lässt Michael stets die große Form im Blick und zwischen Welt und Gegenwelt, To- Gielen den langsamen Schlusssatz trachtet zugleich danach, jedes Detail destrauer und höchstem Entzücken auseinander fallen, gleichsam als Bot- vollkommen auszuarbeiten, anders taumelnden Musik Mahlers scheint schaft an eine spätere Welt, in der die gesagt: ein dialektisches Gleichge- man nüchtern nicht beikommen zu Bruchstücke unseres Lebens nicht wicht zwischen dem Einzelnen und können. Und tatsächlich enttäuschen mehr zu kitten sind. dem Ganzen herzustellen. Er ist stets bei Gielen die Kopfsätze etwa der Johannes Killyen auch der Skeptiker, der hinter dem Pa- sechsten und der siebenten Sinfonie in thos gerade bei Mahler einen Hohl- ihrer akademischen Gemessenheit. raum vermutet und in Erklärungsnö- Doch der große Protagonist der neu- te gerät, wenn etwa in der Siebenten en Musik hat beim Beginn eines

 MUSIK ORUM 63 REZENSIONEN TONTRÄGER

jazz

Hans Werner Henze Florian Ross Quintet Ballett-Variationen / Concertino / Das Vokaltuch der Kammersängerin Rosa Silber / Home & Some Other Place Kammerkonzert / Sinfonisches Zwischenspiel aus dem lyrischen Drama „Boulevard Intuition/Schott INT 3381 2. Solitude“

Christopher Tainton (Klavier), Matthias Perl (Flöte), NDR Sinfonieorchester, Der Pianist Ross hat längst den CD im akzentuierten Spiel mit be- Ltg. Peter Ruzicka. Beweis erbracht, dass er vom Piano- stimmten Kontrastpaaren. Home & Wergo 6663 2. Trio bis zur Bigband jede im Jazz Some Other Place lebt vom stets un- Dies ist die dritte – und letzte? – tionen wurde Henze durch den Be- denkbare Besetzung meistert. Zuletzt vorhersehbaren Wechselspiel zwi- Folge der bei Wergo erscheinenden such eines Gastspiels des Sadler’s setzte er als Hammond-Schwerge- schen statischen und dynamischen Reihe mit frühen Orchesterwerken Wells-Balletts inspiriert, bei dem Cho- wicht auf Nils Wograms CD Daddy’s Elementen, intimen und offenen Hans Werner Henzes. Beschäftigten reografien von Frederic Ashton zu Bones Akzente. Seine neue CD ent- Momenten. Mit seinem Titel bezieht sich die ersten beiden CDs vorwie- Strawinskys Scènes de Ballet und Cé- stand im Quintett mit Claus Stötter sich Ross gleichermaßen auf innere gend mit Kompositionen aus den sar Francks Variations Symphoniques (Flügelhorn), Matthias Erlewein (Te- wie auf äußere Orte. Die Erklärung fünfziger und sechziger Jahren, so kehrt gezeigt wurden. Elemente beider die- norsax), Dietmar Fuhr (Bass) und des Pianisten klingt so logisch, simpel die jüngste Veröffentlichung zu den ser Werke finden sich in Henzes Mu- Stéphane Huchard (Drums). Ross und einleuchtend, dass man sich Anfängen von Henzes Œuvre zurück sik wieder – bis hin zu dem von Franck setzt sich nicht nur einfach über De- wundert, warum derselbe Titel nicht und präsentiert einige der ersten Ver- entlehnten Part für Soloklavier. Peter markationslinien hinweg. Unauf- schon für tausend andere Alben lautbarungen des jungen Komponis- Ruzicka und das NDR Sinfonieor- dringlich und verspielt küsst er das zuvor verwendet wurde. Home steht ten auf dem Gebiet der Orchester- chester spielen in beiden Fällen die spontane Flair klassischer Blue Note- für das, was man kennt, Some Other musik und des Instrumentalkonzerts. revidierten Versionen, die Henze in Aufnahmen wach und übersetzt es Place ist der Ort, an dem man noch Erstmalig auf Tonträger erscheint bei- den neunziger Jahren anfertigte. Im in eine Sprache der Gegenwart. Da- nicht war. spielsweise Henzes offizielles opus 1, Falle der Ballett-Variationen handelt bei kommt er völlig ohne Pop- oder Home & Some Other Place ist eine das Kammerkonzert für Flöte, Klavier es sich gar um eine „Neuschrift“; es Elektronik-Platitüden aus. Als kon- unverhohlene Liebeserklärung an und Streicher von 1946. Und es ist wäre interessant, sie einmal mit der zeptioneller Denker ist er ganz in den Jazz, eine Musik, die niemals wirk- gerade dieses 13-minütige Stück, das ursprünglichen Fassung vergleichen Europa zu Hause, weicht der Berüh- lich entstand, nirgends wirklich zu als die große Überraschung der Ein- zu können. rung mit dem Mutterland des Jazz je- Hause war und niemals wirklich voll- spielung gelten kann. Zwar hat Hen- In den vier Zwischenspielen aus doch nicht aus. Stringent durchdach- endet sein wird, aber gerade deshalb ze hier noch nicht zu einer eigenen der Oper Boulevard Solitude tritt Hen- te Parts durchdringen sich immer zu keinem Zeitpunkt je an Aktualität Tonsprache gefunden – noch nicht ze dann als ausgereifter Komponist wieder mit spontanem Teamwork. eingebüßt hat. Eine Musik, in der Flo- einmal der für ihn später so wichtige vor uns – obwohl er selbst im Inter- Ross errichtet sein musikalisches rian Ross Geborgenheit findet und Einfluss Strawinskys ist hier zu spü- view sagt: „nicht ganz“. Doch seine Gebäude aus individuellen Stimmen. von der er sich herausgefordert füh- ren. Doch beeindruckt die Innigkeit unverwechselbare künstlerische Phy- Die Kraft, mit der er seine Meute len darf. der melodischen Erfindung – vor al- siognomie ist bereits in den ersten spielerisch anführt, erinnert an die Wolf Kampmann lem im Mitttelsatz – ebenso wie ihre Takten hör- und spürbar. Ruzicka magische Urgewalt eines McCoy Griffigkeit. Die leicht melancholische bietet eine betont dramatische, sehr Tyner in den sechziger Jahren. Für Lyrik, die Henzes spätere Musik bis spannungsgeladene Interpretation, Ross ist das Klavier per se kein ver- in die Gegenwart hinein beherrschen die gleichwohl den fatalistischen Un- geistigter Schönklangerzeuger, der sollte, erscheint hier bereits vorge- terton der Musik nicht vernachläs- fortwährend nach den Brücken zur prägt. Der junge Pianist Christopher sigt. europäischen Klassik sucht, sondern Tainton vermag in diesem gelungenen So schön es ist, dass nun Henzes nicht zuletzt auch ein perkussiver Gesellenstück ebenso zu überzeugen wichtigste orchestrale Frühwerke greif- Motor, der Druck, Reibung und wie im ein Jahr später entstandenen bar sind: Könnte man sich nun nicht Lärm hervorbringt. Concertino. Die spielmusikhafte Mo- auch seinen späteren Orchesterkom- So verschmilzt Ross gerade mit torik dieser Komposition findet sich positionen zuwenden? So vieles gibt Drummer Stéphane Huchard zu ei- in Henzes reifen Werken kaum je es, was noch der Veröffentlichung ner einzigen musikalischen Identität. wieder, scheint seiner künstlerischen auf CD harrt: von Los Caprichos bis Ross’ perkussiver und doch gleichzei- Persönlichkeit eher zu widerspre- zu den Sinfonien Nr. 8 und 10. tig oft weicher Anschlag und Hu- chen. Thomas Schulz chards sensibles Changieren auf den In den beiden vom Ballett inspi- Trommeln machen es zuweilen rierten Werken – den Ballett-Varia- schwer, die Pfade von Piano und tionen von 1949 und Rosa Silber von Schlagzeug zu separieren, und das 1950 findet dann Henzes tiefe Liebe obwohl die beiden nicht einmal eine zur Musik Igor Strawinskys ihren Aus- Probe hatten. Wie schon der Titel druck. Zur Komposition der Varia- andeutet, liegt eine Besonderheit der

 64 MUSIK ORUM BÜCHER

Neue Musik vermitteln Bin ich normal, wenn ich mich im Konzert langweile?

Analysen – Interpretationen – Unterricht Eine musikalische Betriebsanleitung Hans Bäßler, Ortwin Nimczik, Peter W. Schatt (Hg.) Christiane Tewinkel Schott Musik International, Mainz 2004, 352 Seiten, 39,95 Euro. DuMont Verlag, Köln 2004, 272 Seiten, 17,90 Euro. Neue Musik – welchen Stellen- Ligeti, Kagel, Henze, Cage, Pärt und „Dies ist das richtige Buch für Sie, Übrigen unbeantwortet geblieben. wert hat sie derzeit in Deutschland? Reich. Wobei die Autoren mit ihrer wenn Sie Musik mögen, aber nicht Dafür gelingen der Musikwissen- Ist sie immer noch eine unbekannte Auswahl keineswegs exemplarisch ins Konzert gehen.“ Das mag wohl schaftlerin und Musikredakteurin Größe? Nach den Studien der Auto- das Gesamtfeld der Neuen Musik sein, jedenfalls ist es nicht die im Un- gelegentlich kleine Kabinettstück- rensammlung Neue Musik vermitteln abzudecken versuchen. tertitel angekündigte musikalische chen in der Erläuterung komplizier- erscheint es dem Leser durchaus so. Mit durchaus unterschiedlichen Betriebsanleitung, vielmehr eine ter musikalischer Formen: „Drei gro- Behandeln Hans Bäßler und Ortwin individuellen Ansätzen der verschie- ebenso informative wie unterhaltsa- ße Teile also machen die Sonaten- Nimczik im ersten Teil des Buchs u. a. denen Autoren bietet das Buch Un- me Beschreibung der vermeintlich hauptsatzform – Exposition, Stress in doch die derzeitige Situation an deut- tersuchungen der Musikstücke, In- geheimen Gesetze der Musik wie der der Mitte und am Ende Beruhigung“. schen Schulen, wo in Lehrplänen die terpretationen, Einblicke in die ästhe- gelegentlich unheimlichen Gesetz- Knapper und anschaulicher kann Vermittlung von Neuer Musik durch- tisch-kompositorische Arbeit und mäßigkeiten des Musiklebens. man das kaum formulieren und zu- aus vorgesehen, die Realität aber zu zeigt perspektivische Wege zur un- Warum man im Konzert nicht treffender auch nicht, zumal mit dem großen Teilen eine ganz andere ist. terrichtlichen Vermittlung an. Durch essen soll, erschließt sich jedem Mu- Hinweis versehen, das alles könne Neue Musik zählt einerseits zum Hörbeispiele auf zwei CDs wird die- sikliebhaber wohl auch ohne erläu- allerdings ein bisschen dauern. kritisch-gesellschaftlichen Muss, ande- se Sammlung sinnvoll ergänzt. Wie ternde Hinweise. Warum dagegen Entgegen der übertriebenen An- rerseits erreicht ihre Botschaft kaum die Autoren selbst herausstellen, ist Konzerte so teuer und für den Besu- kündigung des Klappentextes bietet einen Schüler. Neue Musik erscheint die musikalische Erfahrung bei der cher gleichzeitig ausgesprochen güns- das Buch nicht die „Antworten auf als ein vernachlässigter und isolierter Vermittlung von Neuer Musik stets tig sind, erklärt die Autorin ebenso sämtliche Fragen zur Musik, die Sie Sonderbereich, sie spielt ebenso wie unabdingbar, ob hörend, improvisie- verständlich wie das Entstehen von immer schon hatten und doch nie zu die Alte Musik oder die Musik ande- rend oder nachgestaltend. Tönen, die Bedeutung von Noten, stellen wagten“. Dafür beantwortet rer Kulturen in der Musiklehreraus- Unter Beachtung genau dieses die Wirkung von Harmonien, die es manche Fragen, mit denen gar bildung lediglich eine marginale Rol- Aspekts ist das Buch Neue Musik ver- Besonderheiten von Instrumenten, nicht zu rechnen war, so z. B. die le. Hier definieren die Autoren das mitteln eine sehr empfehlenswerte die Herausforderungen für professio- ganz persönlichen nachhaltigen Mu- Ziel dieses Buchs: Der Kenntnisstand Ergänzung zu den bestehenden Un- nelle Musiker, die Gemeinsamkeiten sikerlebnisse und Konzerterfahrun- von „neuerer“ Neuer Musik bei Leh- terrichtsmaterialien. Hoffentlich bie- und Unterschiede von klassischer gen der Autorin. Da erkennt der Le- rer/innen soll erhöht werden, gleich- tet es für den einen oder anderen und zeitgenössischer Musik und die ser manches wieder und erfährt viel zeitig werden direkt anhand konkre- Musikpädagogen einen Anlass mehr, Verzweiflung von Komponisten, die Neues oder vieles neu. Und zugleich ter, praktischer Beispiele verschie- die Neue Musik auch wirklich in den sich an strenge Regeln halten müs- entsteht die ganz unwiderstehliche dene Zugangs- und Vermittlungs- Schulen für Schüler hör-, erfahr- und sen oder wollen, obwohl in der Mu- Vermutung, dies sei vielleicht auch möglichkeiten von Neuer Musik an- begreifbar zu machen. sik doch alles erlaubt ist. das richtige Buch für diejenigen, die geboten. Melanie Lemm Viele Leser werden an den origi- regelmäßig ins Konzert gehen, auch Wie schwer allein die Standortbe- nellen Zitaten besonderes Vergnü- wenn sie Musik nicht unbedingt mö- stimmung des derzeitigen Status von gen haben, so beispielsweise an der gen. Aber wer musikalische Betriebs- Neuer Musik in der heutigen Gesell- ideologisch verklemmten kritischen anleitungen am dringendsten braucht, schaft fällt, beschreibt Peter W. Schatt Auseinandersetzung des großen Theo- liest sie vermutlich am wenigsten. im zweiten Teil der Textsammlung. dor W. Adorno mit der „Legitima- Norbert Lammert Er versucht, Orientierungslinien zur tion von Chormusik“ (?!), anderen Zuordnung von Neuer Musik zu ge- mag die anekdotische Beantwortung ben, obwohl dem „Neuen“ qua Defi- der gestellten Fragen mit Beispielen nition kein eigenes Ordnungssystem aus dem Bekanntenkreis der Autorin zugrunde liegen kann. besonders gefallen. Gelegentlich über- Der nun folgende praktische Teil treibt sie allerdings diese berüchtigte bietet mit 19 Beiträgen namhafter Neigung zahlloser Klavierlehrerin- Musikpädagogen unterrichtsnahe Be- nen; dass z. B. „mein Freund Guido sprechungen von Neuer Musik, Ein- mich beim Wischen des Küchenbo- zelsätzen oder zusammenhängenden dens einmal gefragt hat, warum man Werken, die die Vielfalt der Neuen eigentlich noch immer nicht so weit Musik der letzten 30 Jahre des 20. sei, beim Putzen Melodien von Schön- Jahrhunderts widerspiegeln. Hier fin- berg zu singen“, ist wohl doch nur den sich unter anderen Werke von von begrenztem Interesse – und im

 MUSIK ORUM 65 Neue Musik… macht Spaß! „Nur wem?“, mag sich da der Und was bleibt schon an Musik hängen MUSIKORUM event-verwöhnte Virtuosenfreund fragen. nach einer Uraufführung? Nur selten be- DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRATS Die Instrumente kann man wohl ausschlie- gegnet man einem Liebhaber, der mit dem ßen. Wenn das Kollophonium auf die Büh- aus einem komplexen Logarithmus gene- Die Herausgeber ne bröselt, weil der Cellokorpus keinen rierten melodischen Materialkeim pfeifend Deutsche Musikrat Projektgesellschaft mbH, sauberen Klang hergeben will, wenn die aus der Tonturnhalle tritt, um sich sogleich Weberstr. 59, 53113 Bonn ([email protected]) Flöte durch ein übergezogenes Präservativ der Analyse der inhärenten Suprastruktur in Zusammenarbeit mit des Stücks zu widmen. Dem „echten“ Musik- Schott Musik International, Postfach 3640, 55026 Mainz gourmet läuft da im Konzert eher etwas ([email protected]) über die Leber als das Wasser im Munde Koordination: Rolf W. Stoll zusammen. Statt sich bisher ungehörten Verantwortlich i. S. d. Pressegesetzes: Klängen entgegenzustellen, mischt er sich Geschäftsführendes Präsidium des Deutschen Musikrat e. V. nach der Aufführung doch lieber unter das Flirren von mindestens vierzig gleichzeitig Die Redaktion schallenden Klingeltönen. Und begradigt – Leitung: Christian Höppner, am Südhang dieser Kommunikationsland- Oranienburger Str. 67/68, 10117 Berlin ([email protected]) schaft – die Narben auf der Leber mit Fon 030–308810-10, Fax 030–30 8810-11 einem guten Glas Rotwein. Alenka Barber-Kersovan ([email protected]) Instrument, Interpret, Hörer… wer blie- Prof. Dr. Hans Bäßler ([email protected]) be da noch, der vielleicht Spaß an zeitge- Michael Bölter ([email protected]) niemandem mehr ihre gewohnten Töne Werner Bohl ([email protected]) beibringt, kann einem das Klangwerkzeug nössischer Musik haben könnte? Der Kom- Susanne Fließ ([email protected]) nur noch Leid tun. Wie der Hörer auch, der ponist selbst? Bei der nicht sehr üppigen Prof. Dr. Birgit Jank ([email protected]) finanziellen Unterstützung, die die meisten Dr. Ulrike Liedtke ([email protected]) sich wünschte, die zweihundertste Aida- Dr. Peter Ortmann ([email protected]) Aufführung mit „Jetzt noch mehr echten der lebenden Tonkünstler (nicht: -erzeu- Margot Wallscheid ([email protected]) Elefanten!“ anzuschauen. „Lieber nur Hin- ger) erfahren, bleibt die Freude am Schaffen Redaktionsassistenz: Kristin Bäßler setzen statt Auseinandersetzen“ ist die wohl oft auf der Strecke. Er könnte aber Devise. zumindest ein eigenes Ensemble gründen, Die Produktion und Schlussredaktion Noch weniger Spaß haben meist die un- das noch weniger finanzielle Unterstützung BWM: Bohl e-Publishing findet. Geteiltes Leid ist halbes Leid! ([email protected]) freiwillig mit den Werken ihrer Zeitgenossen ISDN-DFÜ 03322– 2370 88 konfrontierten Musiker – wäre es nicht Überlassen wir unsere künstlerische Ge- lukrativ, von Zeit zu Zeit die Qual Neuer genwart also lieber den freudlosen Minder- Die Anzeigen Musik auf sich zu nehmen. (Selbst mit der heiten und klatschen weiterhin im 4/4- Leitung: Dieter Schwarz Rhythmus den Spaß aus uns heraus, damit Service: Ortrud Woschnitza Konsequenz, tatsächlich üben zu müssen). Schott Musik International, Für ein irgendwo im Stück sprachähnlich noch jeder volksnahe Sponsor sehen kann, Postfach 3640, 55026 Mainz formuliertes „Blnz-gr-lack“ kann man nicht dass wir ihn wirklich haben. Den Spaß! Fon 06131–24 6852, Fax 0 6131– 2468 44 ([email protected]) zu knappe Sonderhonorare einstreichen. Sermon Opitz Schließlich hat dies wenig mit dem regel- Der Vertrieb gerechten Orchesterdienst nach Vorschrift Neue Sicht… Leserservice: Nicolas Toporski, Maria Heuel zu tun. Schott Musik International, auf die Situation der Laienmusik in Postfach 3640, 55026 Mainz Deutschland eröffnet die nächste MUSIK- Fon 06131–24 6857, Fax 0 6131– 2464 83 ([email protected]) Neue Erfahrungen… FORUM-Ausgabe. Die aktuelle Position zu machen, ist andererseits Anreiz genug der Verbände wird hierbei ebenso thema- Die Erscheinungsweise für einige Instrumentalisten, sich tatsächlich tisiert wie die Motivation, sich in Organisa- vierteljährlich: Oktober, Januar, April, Juli m damit auseinander zu setzen, was ein Künst- tionen, Chören und Musikgruppen zu Einzelheftpreis: 7,40 ler zu sagen hat, der in derselben Zeit lebt. engagieren. Von der traditionellen Haus- Zwar fragt sich der genussorientierte Mensch, musik zur klanglichen Gestaltungslust am Heimcomputer – die Redaktion geht dem Die in den namentlich gezeichneten Beiträgen ver- wieso ein solcher Musiker sich tagtäglich tretenen Meinungen decken sich nicht notwendiger- neue Spielweisen aneignet, um der Wahlver- Umbruch im Laienmusizieren nach. Und weise mit der Auffassung des Herausgebers und der wandtschaft Stücke darzubieten wie raum- wir stellen junge Menschen vor, die sehr Redaktionsleitung. klangzeitachsensphäre IIa ... musikalische Kon- unterschiedliche Wege musischer Betäti- Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Unter- tradiktion nach wie vor Hölderlin oder Celan. gung gehen und sich hierüber austauschen. lagen wird keine Haftung übernommen. Doch scheinen jene Materialkämpfer neben Dieses und vieles mehr… Nachdruck oder fotomechanische Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Zustimmung des der Aussicht auf eine Stelle im Hartz IV- Herausgebers. Orchester noch etwas anderes aus ihrer ISSN 0935–2562 Arbeit zu schlagen. Was könnte das sein? © 2005 Schott Musik International, Mainz Spaß? Leider sind mehr komische Urauf- Das nächste MUSIKFORUM Printed in Germany führungen als urkomische Aufführungen erscheint am 15. April 2005 zu erleben…

 66 MUSIK ORUM WERGO WERGO – Music of Our Time seit/since 1962

THEODOR W. ADORNO · GEORGE ANTHEIL · CA- ROLA BAUCKHOLT · CATHY BERBERIAN · LUCIA- NO BERIO · GÜNTER BIALAS · JÖRG BIRKENKÖT- TER · HANS-JÜRGEN V. BOSE · PIERRE BOULEZ · EARLE BROWN · LUDGER BRÜMMER · · ELLIOTT CARTER · AARON COPLAND · MARTIN DASKE · MICHAEL DENHOFF · · WERNER EGK · DIETRICH EICHMANN · REINHARD FEBEL · MORTON FELDMAN · ERNST H. FLAMMER · BILL FONTANA · WOLFGANG FORTNER · JEAN FRANÇAIX· BURKHARD FRIED- RICH · HARALD GENZMER · LUTZ GLANDIEN · DETLEV GLANERT · VINKO GLOBOKAR · SOFIA GUBAIDULINA · G.I. GURDJIEFF · PETER M. HA- MEL · KARL AMADEUS HARTMANN · THOMAS DE HARTMANN · MATTHIAS HAUER · KARIN HAUSSMANN · BARBARA HELLER · PIERRE HEN- RY · HANS WERNER HENZE · DETLEF HEUSINGER · WILFRIED HILLER · PAUL HINDEMITH · YORK HÖLLER · ADRIANA HÖLSZKY · HEINZ HOLLI- GER · TOSHIO HOSOKAWA · KLAUS HUBER · KLAUS K. HÜBLER · CHARLES IVES · MAURICIO KAGEL · JOHANNES KALITZKE · ELENA KATS- CHERNIN · WILHELM KILLMAYER · VOLKER DAVID KIRCHNER · JULIANE KLEIN · ERNST AUGUST KLÖTZKE · BABETTE KOBLENZ · CHARLES KOECHLIN · JOACHIM KREBS · CLAUS KÜHNL · ULRICH LEYENDECKER · GYÖRGY LIGETI · ALVIN LUCIER · CLAUS-STEFFEN MAHNKOPF · MESIAS MAIGUASHCA · JÖRG MAINKA · MICHAEL MCNABB · · MEREDITH MONK · GERHARD MÜLLER-HORNBACH · DETLEV MÜLLER-SIEMENS · JAN MÜLLER- WIELAND · · CONLON NAN- CARROW · LUIGI NONO · · CARL ORFF · HARRY PARTCH · KRZYSZTOF PENDE- RECKI · MATTHIAS PINTSCHER · ANTON PLATE · ROBERT HP PLATZ · BERNFRIED E.G. PRÖVE · ANDREAS F. RASEGHI · ALEXANDER RASKATOV · ARIBERT REIMANN · NIKOLAUS RICHTER DE VROE · MICHAEL RIESSLER · WOLFGANG RIHM · · JEAN-CLAUDE RISSET · NIKOLAJ ROSLAVEC · GERHARD RÜHM · PETER RUZICKA · ERIK SATIE · GIACINTO SCELSI · STEFFEN SCHLEIER- MACHER · ANNETTE SCHLÜNZ · DIETER SCHNE- BEL · ARNOLD SCHÖNBERG · ERWIN SCHULHOFF · WOLFGANG V. SCHWEINITZ · KURT SCHWITTERS · CHARLOTTE SEITHER · MATHIAS SPAHLINGER · GERHARD STÄBLER · VOLKER STAUB · CHRIS- TOPH STAUDE · GÜNTER STEINKE · · ULRICH STRANZ · IGOR STRA- WINSKY · · HEINRICH SUTERMEISTER · · JAKOB ULL- MANN · PETERIS VASKS · CASPAR J. WALTER · ANDRÉ WERNER · JÖRG WIDMANN · HEINZ WINBECK · CHRISTIAN WOLFF · JAMES WOOD · XIAOGANG YE · ISANG YUN · GERD ZACHER · HELMUT ZAPF · FREDRIK ZELLER · · · …

Fordern Sie unsere Kataloge an. / Please ask for our catalogs. Vertrieb für den deutschen Fachhandel: WERGO · postfach 36 40 · 55026 Mainz · Germany Tel. 06221/ 720351 · Fax 06221/ 720381 E-Mail: [email protected] · Internet: www.wergo.de E-Mail: [email protected] Wir sind am Zug! Musikalische Breitenbildung

In der YAMAHA BläserKlasse sind rungen schaffen Bestätigung und Informieren Sie sich unter die Kinder immer am Zug – auch, neue Motivation. www.blaeserklasse.de oder fordern wenn sie nicht Posaune lernen. Das System BläserKlasse beschert Sie unser Informationsmaterial an bei Die ganze Klasse bildet von Anfang dem Musikunterricht bislang unge- Gernot Breitschuh an ein symphonisches Blasorchester, ahnte Chancen und Perspektiven. Telefon: 04173 - 50 11 45 von der Flöte bis hin zum schweren Für alle, die mitmachen. Blech. Wie man´s macht und was man Dank einer ausgefeilten Methodik braucht: all das lernen und bleibt die Lust am Lernen nie auf trainieren Musiklehrer in den der Strecke. Regelmäßige Auffüh- Intensivtrainings.