Stille Nacht: Von über Tirol in alle Welt Vor 200 Jahren erklang erstmals das bekannteste Weihnachtslied. Von Martin Reiter

In über dreihundert Sprachen bzw. Dialek- le Nacht!“ in Form eines Gedichtes verfasst. ten singen heute Menschen rund um den Erd- Die Entstehung von „Stille Nacht!“ fällt in eine ball das bekannteste Weihnachtslied der Welt. sehr schwere Zeit. Die Napoleonischen Krie- Joseph Mohr und Franz Gruber haben es im ge waren zu Ende gegangen und Europa hatte Jahr 1818 noch schnell „zusammengebastelt“, auf dem Wiener Kongress eine Neuordnung da die Kirchenorgel unspielbar war, aber die erfahren. Im Zuge dieser Ereignisse erfuhr Christmette trotzdem feierlich abgehalten wer- das geistliche Fürstentum Salzburg, das seine den sollte. Die Kirche, in der das Lied erstmals Selbstständigkeit verloren hatte, seine Säku- erklang, steht nicht mehr, aber das Lied lebt larisierung. Ein Teil Salzburgs kam 1816 zu heute mehr denn je. Dass das Lied zu dieser Bayern und der größere Teil zu Österreich. Der Bedeutung gelangte, haben Gruber und Mohr Uraufführungsort von „Stille Nacht“, Obern- einigen Zillertalern zu verdanken. Allen voran dorf bei Salzburg, wurde von seinem Stadt- dem Orgelbauer Carl Mauracher, der das Lied zentrum in Laufen getrennt (heute Bayern), da nach Tirol brachte und den Zillertaler Sänger- die Salzach zur Staatsgrenze wurde. Der Fluss gesellschaften Rainer und Strasser, die es dann bildete durch den Salztransport über Jahrhun- in alle Welt brachten, die Rainer-Sänger sogar derte die Grundlage für den Wohlstand in Lau- bis nach Amerika. fen/Oberndorf. Schifffahrt, Schiffer, Schiffbau- er und damit der ganze Ort gingen unsicheren Joseph Mohr hatte schon 1816 als Hilfsprie- Zeiten entgegen. In dieser Phase kam Mohr ster in Mariapfarr im Lungau den Text von „Stil- nach Oberndorf und blieb dort zwischen 1817

In Mariapfarr (Salzburg) brachte Joseph Mohr schon 1816 den Text „Stille Nacht, Heilige Nacht“ zu Papier.

195 Zu Weihnachten 1818 komponierte der Lehrer in Arnsdorf die Melodie zu „Stille Nacht“. und 1819. Sein voriger Dienstort Mariapfarr Gruber am 30. Dezember 1854 in der „Au- (1815-1817) hatte unter dem Abzug der bay- thentischen Veranlassung“ die Entstehungsge- erischen Besatzungstruppen zu leiden gehabt. schichte des Weihnachtsliedes „Stille Nacht! Gerade aus diesen Zeitumständen heraus be- Heilige Nacht!“. Gruber überreichte noch kommt der Text der vierten Strophe von „Stille am 24. Dezember 1818 dem musikkundigen Nacht!“ besondere Bedeutung. Diese drückt Mohr seine Komposition. Da diesem das Lied große Friedenssehnsucht aus. gefiel, wurde es im Rahmen der Christmette gesungen. Mohr sang Tenor und übernahm Zwei Jahre nach der Entstehung des Textes die Begleitung mit der Gitarre, Gruber sang komponierte der Lehrer Franz Xaver Gruber Bass. Das Lied fand bei der Oberndorfer Be- vor Weihnachten 1818 die zugehörige Me- völkerung (hauptsächlich Salzachschiffer und lodie im Schulhaus von Arnsdorf (Gemeinde Schiffbauer) „allgemeinen Beifall“. Lamprechtshausen). „Es war am 24. Dezember Über die Motive, die zur Entstehung des des Jahres 1818, als der damalige Hilfspriester Liedes führten, ranken sich viele Legenden Herr Josef Mohr bei der neu errichteten Pfarre und romantische Geschichten, die die Entste- St. Nicola in Oberndorf dem Organistendienst hungsgeschichte mit anekdotischen Einzel- vertretenden Franz Gruber (damals zugleich heiten ausschmücken. Eine Vermutung lautet, auch Schullehrer in Arnsdorf) ein Gedicht mit dass das alte Positiv der Kirche nicht spielbar dem Ansuchen überreichte, eine hierauf pas- gewesen sei und Mohr und Gruber deshalb sende Melodie für zwei Solostimmen sammt ein Lied mit Gitarrebegleitung schufen. Chor und für eine Guitarre-Begleitung schrei- Als dann 1819 der bekannte Zillertaler ben zu wollen.“ So beschrieb Franz Xaver Orgelbauer Karl Mauracher aus Kapfing bei

196 In der St. Nikolauskirche in Oberndorf (rechts im Bild) erklang am 24. Dezember 1818 erstmals „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Die Kirche der Erstaufführung wurde zwischen 1906 und 1913 abgetragen.

Fügen die Orgel in Arnsdorf bzw. Oberndorf allen heiligen Sterbesakramenten, entschlief er reparierte, sang man ihm wohl das neue Weih- am 24. May 1844 im 55. Jahre seines Alters nachtslied vor. Mauracher wäre kein sanges- sanft in die bessere Welth hinüber. Während freudiger Zillertaler gewesen, hätte er nicht so- fort Text und Melodie des Liedes aufgeschrie- ben. So brachte er das Weihnachtslied als er- ster vom Entstehungsort hinüber ins tirolische . Die Familie Mauracher in Kapfing war seit zirka 1720 im Orgelbau tätig, betrieb nebenbei auch das Tischlerhandwerk und ei- ne kleine Landwirtschaft. Karl wurde dort am 24. Oktober 1789 als Sohn des Orgelbauers Andreas Mauracher und der Elisabeth, gebo- rene Holzmeister von Zell, geboren. Karl Mauracher erbaute 1829 das sogenann- te Orgelerhaus in Kapfing, ein gemauertes Haus (2015 abgerissen), auf dem Firstbalken die Initialen K M 1829, mit einer schön getä- felten Stube und einem grünen Biedermeierka- chelofen. Er soll an die fünfzig Orgeln gebaut oder renoviert haben. Sein hübsches Grabmal an der Friedhofsmauer der Pfarrkirche Fügen ist aus weißem Marmor, zeigt oben im Halbbogen eine Lyra und darunter die Inschrift: „Hier liegt begraben der ehrengeachtete Karl Mauracher von Fügen. Hochverdienter Künstler im Orgel- baue nach längerer Krankheit, versehen mit Die „Stille Nacht Kapelle“ steht anstelle der alten Kirche.

197 Der Texter des Liedes, Vikar Joseph Mohr, in der Stille-Nacht-Kapelle in Oberndorf. hier im Thränenthale so manche Orgel seiner – Er ruhe in Frieden.“ Die Familie Mauracher Meisterhand Gottes Lob ertönt, stimmt er dort verlegte später die Orgelwerkstätte nach Salz- oben in die Lobgesänge der Engel, denn er burg. Karl Mauracher aber lebt im Gedenken war auch ein edler und tugendhafter Mann. der Zillertaler nicht so sehr als Orgelbauer,

Der Komponist des Liedes, Lehrer Franz Xaver Gruber, in der Stille-Nacht-Kapelle in Oberndorf.

198 sondern viel mehr als Überbringer des Liedes „Stille Nacht“, dessen Schönheit er als erster erkannte, weiter. Mit der Datierung 22. Juli 1819 fand sich das Lied – mit sieben (!) Stro- phen – im heute verschollenen Kirchenlieder- buch des Blasius Wimmer (Organist und Leh- rer in Waidring in Tirol). Dort lautet die erste Zeile der Strophen jedoch „Heiliger Tag! Stille Nacht!“. Außerdem hat Wimmer eine 7. Stro- phe mit dem Dreikönigsthema dazu gedichtet. Sie lautet wie folgt:

Heiliger Tag! Stille Nacht! Kön’gen auch kundgemacht Durch denselben glänzenden Stern, Tönt es laut durch Nähe und Fern;: /:Jesus, der Retter ist da!:/

Ob Wimmer das Lied von Mauracher be- kam, der auch in Waidring immer wieder an der dortigen Orgel werkelte, oder mit Gruber Orgelbauer Karl Mauracher brachte das Lied nach Tirol. in Verbindung stand, der den gleichen Beruf wie er ausübte, ist heute nicht mehr bekannt. Nationalsänger. Die Zillertaler, die bisher als Wie und wann genau das Lied ins Ziller- Händler mit Handschuhen und Ölen kreuz tal kam, ist nicht restlos geklärt. In Fügen im und quer durch die deutschen und europä- Zillertal ist es tradierte Überlieferung, dass die ischen Länder gezogen waren, wurden zu Geschwister Rainer, bekannt als „Ur-Rainer“ Boten des Tiroler Liedes und überall ihrer „Stille Nacht!“ in der Fügener Kirche bereits schönen Stimmen wegen gefeiert. Neben den in der Christnacht 1819 sangen. Im Zillert- Geschwistern Rainer teilte Karl Mauracher al begann damals gerade die große Zeit der das Lied auch den Geschwistern der Sän-

Das „Orgelerhaus“ in Fügen/Kapfing wurde inzwischen abgerissen. In der Nähe erinnert ein Denkmal an Mauracher.

199 der I. von Russland im alten Fügener Schloss als Gäste des Kammerherrn Graf Ludwig von Dönhoff weilten, sangen die Rainer angeblich auch das Weihnachtslied vor den Majestäten. Sie hatten sich wegen Angst und Lampenfie- ber hinter einem Vorhang aufgestellt, aber der Zar war von ihrem Gesang so begeistert, dass er sie hervorholte und zu einem Besuch nach Sankt Petersburg einlud. Den Zar († 1825) sa- hen die Rainer nicht mehr, aber nach Russland kamen sie trotzdem, und es dürften auch sie gewesen sein, die das neue Weihnachtslied dorthin brachten. Zwar konnte der Großteil der St. Petersburger den deutschen Text nicht verstehen, aber da fand man alsbald einen „Dolmetscher“, der es in die „Heimatsprache“ übersetzte. Um 1830 veröffentlichte der Buchdrucker Joseph Greis vom Grünmarkt in Steyr wahr- scheinlich als erster den Text des Weihnachts- liedes in dem Liederheftchen „Vier schöne neue Weihnachts-Lieder“. In deutschen Landen wurde das „neue“ Die Grabtafel von Karl Mauracher an der Friedhofsmauer Weihnachtslied ebenfalls verbreitet. Jedoch neben der Pfarrkirche in Fügen. dürfte dies dort mehr von den Geschwistern Strasser als von den Rainern vorgetragen wor- gerfamilie Strasser aus Laimach (Gemeinde den sein. Vermutlich bereits 1831 sangen die Hippach) mit. Als im Herbst bzw. Winter 1822 Geschwister Strasser aus dem Zillertal „Stille Kaiser Franz I. von Österreich und Zar Alexan- Nacht“ am Leipziger Weihnachtsmarkt, wo sie

Mauracher-Denkmal im Fügener Ortsteil Kapfing.

200 als Händler ihre Waren anpriesen. Belegt ist die Aufführung des Liedes durch die Familie Strasser aber dann für das Jahr 1832 in Leipzig. Das „Leipziger Tagblatt“ schrieb dazu: „Das Concert der Geschwister Strasser, am 15. De- cember 1832 ... Auch hatten die Sänger dem in diesem Blatte ausgesprochenen Wunsche, das schöne Weihnachtslied: ,Stille Nacht, hei- lige Nacht’ vorzutragen, freundlich entspro- chen.“ Der im Tagblatt schon vor dem Konzert ausgesprochene Wunsch zur Aufführung des Mettengang im Zillertal, um 1818. Liedes deutet auf seine Bekanntheit in Leipzig hin – vielleicht von einer Darbietung aus dem als sie das Weihnachtslied am Weihnachts- Vorjahr. Der Aufführung in Leipzig folgte der tag 1839 vor der in Bau befindlichen Trinity Erstdruck, der vermutlich 1833 durch den Ver- Church in New York auf amerikanischem Bo- lag A. R. Friese (Dresden und Leipzig) geschah. den uraufführte. Die erste amerikanische Ver- In einem Notenheft mit dem Titel „Vier ächte öffentlichung stammt aus dem Jahr 1849, die Tyroler Lieder“ findet sich „Stille Nacht!“ – al- erste in England aus dem Jahr 1861. Das Lied lerdings ohne die Namen seiner Schöpfer und wurde aber sicherlich schon lange vorher auf erheblich verändert! Englisch gesungen. Erst 1866 erfolgte die Auf- Von den Rainer–Sängern wurde das Lied nahme des Liedes in ein „offizielles“ Salzbur- aber sicherlich nach England gebracht. Auch ger Kirchenliederbuch. dort wurde es schon bald in die Landessprache 1873 entdeckte auf der Wiener Welt­aus­ übersetzt, was sich die „zweite“ Rainer-Partie stellung der aus Tirol stammende Hofopern- unter Ludwig Rainer 1839 zunutze machte, sänger Joseph Bletzacher im amerikanischen

Die Ur-Rainer sangen angeblich bei der Christmette 1819 erstmals „Stille Nacht“ auf Tiroler Boden.

201 Schloss und Pfarrkirche Fügen im Weihnachtskleid. Das Stammhaus der Familie Strasser in Laimach.

Die Geschwister Strasser aus Laimach (Gemeinde Hippach) brachten „Stille Nacht“ nach Deutschland.

Pavillon die Melodie in einem dort ausgestell- ten Notenbuch, in dem sie als „Choral of Salz- burg“ bezeichnet wurde. 1870, 1873 und 1897 wurde immer wieder­ die Urheberschaft des Komponisten angezwei- felt. Diesmal hielt man nicht Haydn, sondern den Textdichter Mohr für den Urheber der Me- lodie. Nur durch die inzwischen im Stadtmu- seum aufbewahrten Dokumente und Nieder­schriften konnten die Söhne Grubers dessen Urheberschaft beweisen. So ist das Lied von Oberndorf über Tirol nach Deutschland und Amerika gelangt. Da- Das Strasserhäusl in Laimach ist heute ein Museum. mals dürften auch schon die ersten Verände-

202 Titelblatt „Vier ächte Tyroler Lieder“, Dresden um 1833. Die Strasser sangen sogar in der Pleissenburg in Leipzig.

Unter dem Titel „Vier ächte Tyroler Lieder“ wurde „Stille Nacht“ erstmals mit Noten abgedruckt (Ausschnitt). rungen an Wort und Weise geschehen sein. Es mpia Coadjutor 1816“ auf. Das Autograph würde zu weit führen, wollte man den Weg entstand vor 1830, eine Untersuchung legt des Liedes genau verfolgen. Schon nach we- nahe, dass sich die Datierung „1816“ auf den nigen Jahren (1840) erschien es in verschie- Zeitpunkt der Abfassung des Textes bezieht. denen gedruckten Liederbüchern; es wurde Das Autograph enthält weiters die Textzeile bald im evangelischen Norden Deutsch­lands ebenso gesungen wie im katholischen Tirol und im orthodoxen Russland. Es ist nicht nur in alle Kultursprachen der Welt, sondern auch in eine Reihe afrikanischer und ameri- kanischer Eingeborenen-Mundarten übersetzt worden. Das einzige Autograph aus der Hand von Joseph Mohr wurde 1995 in Salzburg iden- tifiziert und am 8. Dezember präsentiert. Es Das „Leipziger Tagblatt“ berichtete 1832, dass die Strasser weist den Schriftzug „Text von Joseph Mohr auch „Stille Nacht“ zum Besten gaben.

203 Am Heiligen Abend 1839 erklang durch die Zillertaler „Rainer family“ Stille Nacht erstmals in Amerika.

„Melodie von Fr. Xav. Gruber“, somit ist die Urheberschaft der Komposition geklärt. Die „Rainer family“ aus Tirol begeisterte auf einer mehrjäh- Anstelle der abgerissenen St. Nikola-Kirche rigen Tournee Tausende Amerikaner. in Oberndorf wurde 1937 nach zwölfjähriger Bauzeit die Stille-Nacht-Kapelle eingeweiht, rend des Jahres gesungen wurde Die Rainer die heute symbolisch für den Erstaufführungs- und Strasser haben damit den Grundstein zur ort des Weltfriedensliedes „Stille Nacht“ steht. Weltverbreitung eines österreichischen Kultur- Als die Ur–Rainer 1819 die Christnacht in der gutes gelegt, zur Ehre Gottes und auch zum Fügener Kirche mit dem neuen Lied verschö- Ruhme Österreichs. nerten und die Strasser in Leipzig sangen, wus- sten sie nicht, dass sie dazu beitragen würden, Im März 2011 hat die österreichische das „Stille Nacht, heilige Nacht“ in die Welt UNESCO-Kommission das Lied als „Stille zu tragen. Das Lied wurde schon nach kurzer Nacht – das Lied zur Weihnacht“ in die Li- Zeit so beliebt, dass es teilweise sogar wäh- ste des Immateriellen Kulturerbes Österreichs

Die „Rainer family“ singt vor dem Hamilton-Denkmal in New York am 24. Dezember 1839 „Stille Nacht“.

204 Lange Zeit wurde das Lied „Stille Nacht, Heilige Nacht“ für ein Tiroler Weihnachtslied gehalten, wie hier im „Musika- lischen Hausschatz der Deutschen“, der 1843 erstmals gedruckt wurde. aufgenommen (auch als Repräsentant für die nalen UNESCO-Kulturerbe (Gesamtliste) vor- im gesamten deutschen Sprachraum typischen geschlagen. Im Jahr 2016 erfolgte außerdem Weihnachtsfeiern), und auch zum internatio- die Aufnahme ins „EU-Liederbuch“.

Erst in seiner „Authentischen Ver- Die Verbreitung des heute berühmtesten Weihnachtsliedes der Welt begann erst anlassung“ von 1854 beschrieb relativ spät, dazu trugen u. a. ab etwa 1890/95 Weihnachtskarten sowie die Franz Xaver Gruber, von wem das ersten „Tonträger“ in Form von Lochplatten für Spieluhren bei. Heute wird das Weihnachtslied stammt. Lied in über 300 Sprachen und Dialekten auf allen Kontinenten gesungen.

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