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Wolfgang Curilla. Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrußland 1941-1944. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag, 2005. 1041 S. gebunden, ISBN 978-3-506-71787-0.

Reviewed by Stephan Lehnstaedt

Published on H-Soz-u-Kult (May, 2006)

Das hier zu besprechende Werk ist keine mord dargelegt. Zunächst wendet Curilla sich leichte Kost. Das liegt zum einen am gewählten dem Schicksal der Juden in Deutschland bis zu ih‐ Thema, zum anderen an seinem Umfang. Fast 950 rer vollständigen Deportation zu, um anschlie‐ Seiten Text wollen bewältigt sein, und der Aufbau ßend einen Überblick über die Geschichte der der Untersuchung macht ein Lesen von vorne bis Ordnungspolizei im Dritten Reich zu geben. Da‐ hinten fast unmöglich: Wolfgang Curilla hat weni‐ nach folgt ein Aufriss der deutschen Vorbereitun‐ ger eine monografsche Interpretation der Bedeu‐ gen und Planungen für den Krieg gegen die So‐ tung der deutschen Ordnungspolizei für den Ho‐ wjetunion, den schließlich die „Einführung“ mit locaust im so genannten Reichskommissariat Ost‐ einem Kapitel über Auftrag und Handeln der Ein‐ land vorgelegt als vielmehr ein detailliertes Nach‐ satzgruppen bis zum Sommer 1941 abschließt. schlagewerk zu den Verbrechen der einzelnen Po‐ Diese werden im Buch auch an anderer Stelle aus‐ lizeieinheiten. Die gewählte Darstellungsform er‐ führlich besprochen, was etwas verwundert, innert stark an die Urteilsbegründung eines Ge‐ denn streng genommen sind sie richts, in der alle für das Strafmaß relevanten der und des Sicherheitsdienstes Fakten angeführt werden, einschließlich einer und mithin keine Truppen der Ordnungspolizei. Übersicht über die Vorbedingungen für das Ver‐ Eine explizite Begründung für ihre Aufnahme in brechen. Bedenkt man den Werdegang des Autors das Buch gibt Curilla nicht an. – Curilla ist Jurist und war von 1978 bis 1993 Se‐ Insgesamt referiert der einführende Über‐ nator in Hamburg, unter anderem für Justiz –, blick den aktuellen Stand der Forschung, ohne kann dies nicht wirklich überraschen. neue Erkenntnisse beisteuern zu können und zu So werden, bevor die Beteiligung der Ord‐ wollen. Schon hier ofenbart sich jedoch das Fai‐ nungspolizei am Genozid an den Juden unter‐ ble Curillas für Zahlen und Daten, wogegen die sucht wird, in einem ersten Teil auf über einhun‐ großen Linien und Interpretationen ein wenig zu‐ dert Seiten die Vorbedingungen für den Völker‐ rücktreten. Wer das Buch als Nachschlagewerk H-Net Reviews benutzen möchte, wird diesen ersten Teil als muss besonders die umfassende Diskussion der Hilfsmittel begrüßen; für die eigentlich zu unter‐ Opferzahlen: Curilla referiert die verschiedenen suchende deutsche Ordnungspolizei im Baltikum Zählungen und Schätzungen von Justiz und Histo‐ und in Weißrussland aber hätten auch deutlich rie, wägt ab und begründet anschließend seine ei‐ weniger Seiten als Einführung gereicht. gene Einschätzung sehr überzeugend. Ein Ver‐ Der Hauptteil des Buches mit über siebenhun‐ gleich mit dem ähnlich aufgebauten Buch Stefan dert Seiten widmet sich den verschiedenen Poli‐ Klemps über die Nachkriegsermittlungen gegen zeieinheiten im Reichskommissariat Ostland, wo‐ Polizeibataillone macht deutlich, wie ausführlich bei die Grobeinteilung geografsch nach Baltikum Curilla dokumentiert und erörtert. Klemp, Stefan, und Weißrussland erfolgt. Detailliert in Einzelka‐ „Nicht ermittelt“. Polizeibataillone und die Nach‐ piteln vorgestellt werden nun fast fünfzig ver‐ kriegsjustiz. Ein Handbuch, Münster 2005. Die schiedene Polizeibataillone, -regimenter, -direkti‐ methodische Refexion der Justizquellen ist dage‐ onen und -kommandos, Einsatzgruppen und - gen weniger ausgeprägt als bei Klemp, dessen In‐ kommandos sowie die Posten der Kommandeure teresse auch vorrangig der bei Curilla außen vor der Sicherheitspolizei, wobei im Text zahlreiche bleibenden strafrechtlichen Verfolgung der Ver‐ weitere Einheiten kurze Erwähnung fnden. Die brechen gilt. Allerdings ist auch anzumerken, Quellenbasis dafür bilden neben einem vierzigsei‐ dass Klemp in seiner wesentlich knapperen Form tigen Literaturverzeichnis und den einschlägigen sämtliche Polizeibataillone auf rund der Hälfte Archiven in Deutschland und Lettland vor allem der Seiten untersucht und dennoch eine deutlich west- und ostdeutsche staatsanwaltschaftliche Er‐ gelungenere Synthese vorlegt. mittlungs- und Gerichtsverfahren. Curilla übersah Im Anschluss an den Hauptteil werden sum‐ dabei allerdings die Ermittlungen des DDR-Staats‐ marisch die Verbrechen der Ordnungspolizei in sicherheitsdienstes. Der Nachweis der ansonsten den anderen Gebieten der Sowjetunion vorge‐ durchaus akribischen Recherche wäre aber bes‐ stellt. Die Darstellung beschränkt sich auf eine ser nicht bloß auf ein Verzeichnis der gerichtli‐ schlaglichtartige Auswahl der größten Massaker chen und staatsanwaltschaftlichen Entscheidun‐ und stellt nur eine kursorische Übersicht über gen beschränkt geblieben, sondern hätte auch den Tatkomplex dar. Das gilt auch für die immer‐ durch ein Quellenverzeichnis erfolgen sollen. So hin einhundert Seiten umfassende Beschreibung müssen sich die Leser/innen auf der Suche nach anderer Tätergruppen des Holocausts wie Sicher‐ den relevanten Beständen mühsam durch den heitspolizei, (Höhere) SS- und Polizeiführer, Zivil‐ umfangreichen Fußnotenapparat wühlen. verwaltung, und Wafen-SS. Ohne An‐ Die einzelnen Kapitel des Buches folgen ei‐ spruch auf Vollständigkeit werden hier Komman‐ nem immer gleichen, sehr systematischen Auf‐ doverhältnisse und Morde aufgezeigt, die eben‐ bau: Zunächst werden Informationen zur Aufstel‐ falls Gegenstand von staatsanwaltschaftlichen Er‐ lung der jeweiligen Truppe geliefert, vor allem mittlungen waren. Die Untersuchung bleibt je‐ zur geografschen Herkunft der Angehörigen, doch auf die individuelle Schuld reduziert. Kollek‐ dem Aufstellungsdatum und den Kommandeuren. tive Verantwortung, die Schafung von Bedingun‐ Nach der Nennung der betrefenden Justizverfah‐ gen für die Morde bzw. die Ausübung von struktu‐ ren werden die einzelnen Verbrechen der Polizis‐ reller Gewalt werden nur am Rande erwähnt. In ten mit allen verfügbaren Fakten zu Tatort und - diesem Sinne kann auch das „Die subjektive Seite“ zeit, Opfern, Tätern und Verantwortlichen aufge‐ titulierte Kapitel nicht überzeugen. Es bleibt weit‐ listet. Dabei wird jede Tat einzeln nummeriert gehend bei einer Zahlenstatistik zu den Bataillo‐ und detailliert belegt. Hervorgehoben werden nen stehen bzw. greift Einzelbeispiele von mehr oder weniger fanatischen Nationalsozialisten her‐

2 H-Net Reviews aus. Weder bringt Curilla eine echte Synthese oder neue Interpretationen, noch stellt er tatsäch‐ lich individuelles Erleben dar. Hier muss Christo‐ pher Brownings Untersuchung des Polizeibatail‐ lons 101 weiterhin als Referenz gelten. Browning, Christopher, Ganz normale Männer. Das Reserve- Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek 1993. Trotz der oben genannten Einschränkungen hat Wolfgang Curilla ein wichtiges und wertvolles Buch vorgelegt. Seine Übersicht über die Beteili‐ gung der deutschen Ordnungspolizei am Holo‐ caust im Baltikum und in Weißrussland ist so voll‐ ständig, wie sie momentan nur sein kann. Die Be‐ nutzbarkeit der geordneten Darstellung wird durch den Fettdruck der jeweiligen Tatorte noch erhöht. Das mit zweiundvierzig Seiten äußerst umfangreiche Personen-, Orts- und Einheitenre‐ gister ermöglicht darüber hinaus einen weiteren schnellen Zugrif auf die gesuchten Fakten. Wer sich also künftig mit den deutschen Verbrechen im Reichskommissariat Ostland beschäftigt, wird dieses Buch äußerst nützlich fnden. Dazu sollte das Werk allerdings als Handbuch benutzt und nicht als Monografe gelesen werden.

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Citation: Stephan Lehnstaedt. Review of Curilla, Wolfgang. Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrußland 1941-1944. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. May, 2006.

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