DEUTSCHLAND „Wir machen das gemeinsam“

Georg Schertz, letzter Polizeipräsident West-Berlins und erster Polizeipräsident des gemeinsamen Ber- lins, über die polizeilichen Herausforderungen rund um die deutsche Wiedervereinigung vor 30 Jahren.

Die Bilder des „Mauerfalls“ am 9. Wie sahen die Polizeistrukturen November 1989 in Berlin sind um die 1989 im geteilten Berlin aus? Welt gegangen. Wie haben Sie diesen Auf der einen Seite stand der Sicher- Abend erlebt? heitsapparat der DDR, einer Diktatur, in Die Ereignisse waren trotz allen der die SED – und letztlich die Sowjet- Wissens um die Destabilisierungsten- union – das Sagen hatte, auf der ande- denzen des Ostblocks für mich letztlich ren Seite die Berliner Polizei, die nach völlig überraschend. Nach den Ereignis- dem Viermächtestatus de jure für ganz sen im Sommer 1989 gab es zwar ab et- Berlin, de facto aber nur für die West- wa September 1989 interne Hinweise, sektoren, später West-Berlin genannt, dass die DDR möglicherweise bald tätig wurde. In West-Berlin regierte der Reiserleichterungen bekanntgeben wür- aus demokratischen Wahlen hervorge- de; unvorbereitete Grenzöffnungen wa- gangene Senat mit der ihm unterstellten ren aber nicht zu erwarten. Die Verwir- Polizei. In der DDR gab es die Volks- rung nach der plötzlichen Verkündung polizei, die auch für den Ostteil von von Ausreisemöglichkeiten aus der Berlin als zuständig angesehen wurde. DDR bei einer internationalen Presse- Der langjährige Innenminister Friedrich konferenz am Abend des 9. November Dickel war zugleich Chef der Volkspo- 1989 war groß. Der Grenzübergang an lizei. Das Überwachungssystem der der Bornholmer Straße wurde an diesem Georg Schertz, Berlins erster gemeinsa- SED zeigte sich auch an bestimmten Abend wohl deshalb als erster geöffnet, mer Polizeipräsident nach der Wende. Polizeifunktionen: So gab es innerhalb weil die DDR-Grenzbeamten von ihren der Volkspolizei in Ost-Berlin rund 500 Vorgesetzten nur abwartende Erklärun- gleich erst für einen ferneren Zeitpunkt. Abschnittsbevollmächtigte, die von der gen erhielten und letztlich allein gelas- Der wirtschaftliche Niedergang der Bevölkerung zunächst durchaus als ört- sen wurden. Mit den Menschenmassen DDR war wohl kaum aufzuhalten und liche Ansprechpartner angesehen, aber aus Ost-Berlin ging dann alles ziemlich der Wandel in der Sowjetunion bot im Laufe der Zeit zunehmend auch als schnell – so auch die ersten, wenngleich langfristig die Hoffnung, dass sich in Exponenten des „Schnüffelwesens“ zunächst nur mündlichen, informellen der Geschichte ein Fenster für einen empfunden wurden. An der Mauer wa- Kontakte zwischen der Berliner Polizei friedlichen Prozess öffnen würde. Ich ren DDR-Grenztruppen stationiert. An und den Grenzorganen sowie den Poli- habe allerdings nicht geglaubt, dass es den Grenzübergängen standen Passkon- zeikräften der DDR. Das war wirklich noch zu meinen Lebzeiten dazu kom- trolleinheiten, die zum Ministerium für bemerkenswert, da es fast dreißig Jahre men könnte. Mit dem Mauerfall war zu- Staatssicherheit gehörten. Im November keine polizeiliche Verbindung auf bei- nächst einmal naheliegend, dass sich 1989 prallten also zwei vollkommen un- den Seiten der Mauer gegeben hatte. das Regime der Sozialistischen Ein- terschiedliche Welten aufeinander. Besonders in Erinnerung ist mir eine Si- heitspartei Deutschlands, der SED, tuation am Grenzübergang Invaliden- nicht mehr lange in der DDR halten Gab es Anfang 1990 in der BRD straße am späteren Abend des 9. No- würde. Dadurch erwuchs die Hoffnung, schon konkrete Pläne für ein zukünfti- vember geblieben: Als ich dort ankam, dass nicht nur eine friedliche Kooperati- ges Polizeisystem in der DDR? um mir selbst einen Eindruck von der on beider deutscher Staaten, sondern ei- Ich halte es für wenig wahrschein- Lage zu verschaffen, sah ich, dass sich ne Wiedervereinigung erreichbar sein lich, dass das in Bonn zu Jahresbeginn einer meiner Beamten direkt vor der könnte. Dass sie aber innerhalb eines 1990 schon inhaltlich in allen Einzelhei- Mauer, also bereits in der DDR, befand. Jahres kommen würde, war nicht so ten durchdacht wurde. Klar war, dass Als ich ihm zurief, dass er in Ost-Berlin sehr von den innenpolitischen Entwick- man die überwiegende Mehrheit der stehe und zurückkomme solle, rief mir lungen abhängig, sondern vielmehr von Volkspolizisten für die Aufrechterhal- ein Hauptmann der DDR-Grenztruppen, den Westalliierten USA, Großbritannien tung der inneren Sicherheit benötigen der neben ihm stand, zu: „Das geht hier und Frankreich sowie der Sowjetunion. würde, zumal sich am Horizont schon schon in Ordnung, wir machen das ge- Wie die Verhandlungen dort laufen ein völlig neuer kriminalgeografischer meinsam.“ würden, war zunächst nicht einzuschät- Raum in Europa abzeichnete – mit zen. Klar war aber, dass ausschließlich Straftatbeständen und Deliktsformen, Haben Sie damit gerechnet, dass es die erkennbaren politischen Verände- die für die Polizisten der ehemaligen weniger als ein Jahr nach dem „Mauer- rungen in der Sowjetunion und die Ein- Ostblockstaaten gänzlich neu waren. fall“ ein wiedervereinigtes Deutschland stellung der dort Maßgeblichen der poli- Die Zukunft des Bundesgrenzschutzes geben würde? tischen Führung die allgemeine politi- war bereits ein Thema, denn durch den RIVAT

: P Ich habe immer eine Wiedervereini- sche Wetterlage langfristig zu unseren Wegfall von Reisebeschränkungen und OTO

F gung Deutschlands erwartet, wenn- Gunsten ändern könnte. zahlreiche neue Grenzübergängen zwi-

ÖFFENTLICHE SICHERHEIT 9-10/20 69 DEUTSCHLAND schen Ost und West gab es starke Ver- Bei vielen Volkspolizisten machte sich änderungen an der innerdeutschen Unsicherheit über die weitere berufliche Grenze. Zunächst wurden auf der politi- Existenz bemerkbar, sie wollten keine schen Ebene aber möglichst baldige Fehler machen und reagierten daher oft freie Wahlen gefordert, in der Erwar- gar nicht. Diese Unsicherheit verlor sich tung, dass sich dann weitere Schritte oh- auch nach der Vereinigung erst allmäh- nedies „von selbst“ ergeben würden – lich. zum Beispiel auch für die DDR eine fö- deralistische Staatskonstruktion einzu- Wie konnten 1990 in so kurzer Zeit führen. Die Polizei war in der Bundes- zwei derartig unterschiedliche Behörden republik im Wesentlichen immer in der Volkspolizist und West-Berliner Polizist wie die Polizei in West-Berlin und die alleinigen Zuständigkeit der Bundeslän- kurz nach der Wende: Verschiedene Volkspolizei in Ost-Berlin zusammenge- der angesiedelt. Dass es für den Fall der Uniformen und Streifenwagen. führt werden? staatlichen Einheit, also der Wiederver- Es gab keine Alternative. Berlin war einigung in Deutschland, keine zentrale terhin das „Gesetz über die Aufgaben das einzige deutsche Bundesland, wo Polizei wie in der DDR geben würde, und Befugnisse der Deutschen Volkspo- sich Ost und West quasi auf Knopf- war nie in Frage gestellt. Nach der ers- lizei“ als wichtigste Rechtsgrundlage. druck „zusammenzuraufen“ hatten – ten freien Wahl der Volkskammer in Die Bürger weigerten sich zunehmend, das war gerade im Bereich der inneren der DDR am 18. März 1990 steuerte zu- Anordnungen der Volkspolizei Folge zu Sicherheit besonders sensibel. Im West- mindest ab den Sommermonaten 1990 leisten, selbst wenn diese, wie zum Bei- teil Berlins zählten wir rund 20.000 Po- alles auf eine tatsächliche Einheit zu. spiel im Verkehrsrecht, durchaus legi- lizeibedienstete, im Ostteil – bei der Die 1952 aufgelösten Länder im Osten tim waren. Der rapide Verfall der poli- Volkspolizei – waren es etwa 11.000. Deutschlands wurden noch vor der Wie- zeilichen Autorität war gerade in Ost- Die DDR-Bürger waren es nach 40 Jah- dervereinigung wieder gegründet und Berlin augenscheinlich. Erst drei Wo- ren offensichtlich leid, polizeilichen nicht die DDR insgesamt, sondern die chen vor der staatlichen Vereinigung Anweisungen auf der Grundlage sturer „Neuen Länder“ traten gemäß dem da- verabschiedete die Volkskammer am Befehle Folge zu leisten. Dies war unter maligen Artikel 23 des Grundgesetzes 13. September 1990 ein Polizeigesetz, anderem auch der Grund für die soforti- am 3. Oktober 1990 der Bundesrepublik das sich weitgehend an den bundesdeut- ge Durchmischung des Personalkörpers bei. Für den Ostsektor Berlins geschah schen Länderbestimmungen orientierte. in Berlin. 2.300 West-Berliner Polizei- dies über Artikel 3 des Einigungsvertra- beamte wurden in den Ostteil der Stadt ges. Damit war der Weg zur Errichtung ZUR PERSON versetzt, 2.700 Ost-Berliner Volkspoli- von neuen Polizeiorganisationen in die- zisten in den Westteil. Dadurch eröffne- sen Ländern letztlich vorgegeben. Georg Schertz, gebo- te sich auch ein Weg, bei dem sich ren am 24. April 1935 in Volkspolizisten durch die tägliche Zu- Im Laufe des Jahres 1990 berichte- Berlin als Sohn eines Ma- sammenarbeit mit West-Berliner Poli- ten Medien immer wieder von einer ge- jors der , zisten mit der westlichen Gesetzeslage wissen Unsicherheit und Ratlosigkeit in- studierte Rechtswissen- im polizeilichen Alltag vertraut machen nerhalb der Volkspolizei und einem an- schaften an der Freien Universität konnten. Das hat es weder in anderen geblich „rechtsfreien Raum“ in der DDR Berlin. Nach dem Abschluss mit der Berliner Behörden, noch in anderen bei der Kriminalitätsbekämpfung. Inwie- ersten juristischen Staatsprüfung Bundesländern in dieser Form gegeben. weit stimmte diese Darstellung? 1958 war er als Referendar im Kam- Für die Bevölkerung war dieser Schritt Es gab keinen „rechtsfreien Raum“, mergerichtsbezirk tätig. Auf die durch gemischte Polizeistreifen sofort aber die Volkspolizisten der DDR wa- zweite juristische Staatsprüfung sichtbar. Schon mit 1. Oktober 1990 ren stark verunsichert. Der ideologische folgte im April 1963 die Ernennung übernahm die West-Berliner Polizei mit Wandel vollzog sich für sie zu schnell, zum Gerichtsassessor in Berlin. Im Zustimmung der vier Besatzungsmächte ebenso der Versuch einer inneren De- Mai 1966 wurde Schertz in den die Polizeihoheit im gesamten Stadtge- mokratisierung der Organisation, bzw. Richterstand auf Lebenszeit als biet – dadurch konnten wir alle organi- was die Verantwortlichen darunter ver- Richter am Landgericht und im Ok- satorisch erforderlichen Maßnahmen für standen. Gleich nach dem Mauerfall tober 1970 als Richter am Oberlan- den Tag der Einheit unter einem ge- wurde in der DDR eine neue Regierung desgericht (Kammergericht) beru- meinsamen Dach rechtzeitig umsetzen. vom Reformkommunisten Hans Mo- fen. Im März 1971 kam er in die Se- So wurde ich schon zwei Tage vor der drow gebildet. Ende 1989 war das Ziel natsverwaltung für Justiz, wo er das Wiedervereinigung zum ersten Gesamt- noch die Sicherung einer „demokrati- Organisationsreferat leitete. 1973 berliner Polizeipräsidenten ernannt. Die ERLIN scheren“, aber weiterhin sozialistischen wurde er zum Vizepräsidenten der Aufgaben und Zuständigkeiten des Prä- B DDR. Ab März 1990, nach der Volks- Amtsgerichte in Berlin ernannt. sidiums der Volkspolizei wurden aufge- kammerwahl, verlor diese Zielvorstel- 1987 wurde er zum „Polizeipräsi- hoben, stattdessen wurde die organisa- AMMLUNG S lung von Monat zu Monat im Volk an denten in Berlin“ ernannt. Mit der torische Gliederung der West-Berliner Zustimmung und man blickte zuneh- Wiedervereinigung erhielt er am 1. Polizei nach Direktionen und Abschnit- mend innen- wie außenpolitisch in Oktober 1990 die Polizeihoheit für ten nach und nach auf den Ostteil über- Richtung Wiedervereinigung. Die tragen. Die Polizei in West-Berlin war das gesamte Stadtgebiet. 1992 trat OLIZEIHISTORISCHE Volkspolizei konnte mit diesem Tempo Georg Schertz in den Ruhestand. zwar damals schon hier und dort re- : P OTO nicht Schritt halten. Es galt für sie wei- formbedürftig, aber das hätte in einem F

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Zug mit der Bildung der „Gesamtberli- ner Polizei“ alle Beteiligten überfordert.

Welche Maßnahmen mussten Sie an- lässlich der Schaffung der „Gesamtber- liner Polizei“ zuerst in Angriff nehmen? Neben der sofortigen Durchmi- schung der Dienstkräfte wurde zu Be- ginn die Zuständigkeit von drei an der Sektorengrenze zu Berlin-Ost gelegenen Polizeidirektionen der West-Berliner Polizei auch auf den Ostteil der Stadt ausgedehnt – wir nannten sie „Erstre- ckungsdirektionen“. Die Gliederung in Direktionen und Abschnitte erfolgte später. Anfangs mussten wir die Inspek- tionen und Reviere im Ostteil weiter- führen. Angesichts der räumlichen Ge- gebenheiten und der Infrastruktur gab es dazu keine Alternative. Gemeinsame Funk- und Fernmeldeverbindungen Ost-Berlins Polizeipräsident Dirk Bachmann und West-Berlins Polizeipräsident Georg Schertz 1990 in Ost-Berlin. mussten neu geschaffen werden, es galt, die Ausstattung der Polizei im früheren raten. Zunächst wurden laut Einigungs- um und auch im Präsidium der Volks- Ost-Berlin zu modernisieren. Das be- vertrag alle am 3. Oktober 1990 beste- polizei mit seinen vielfältigen Aufga- gann bei den Uniformen und Dienstwaf- henden Arbeitsverhältnisse fortgeführt, ben. Die Generäle hatten Ausbildungen fen und ging über Möbel und Arbeitsge- ab Dezember 1990 oblag es dann in in der Sowjetunion durchlaufen, auch räte bis zur EDV-Technik. Auf den Berlin speziellen Personalauswahlkom- die sonstigen „Obristen“ vertraten zu- Fahrzeugen wurden zuerst die DDR- missionen, Empfehlungen zur weiteren meist ideologisch gefestigt die Linie der Embleme und die Aufschrift „Volkspo- Verwendung auszusprechen. Dabei wa- kommunistischen SED. Wären diese lizei“ entfernt. In der Mehrzahl wurde ren die persönliche Eignung und die Personen alle übernommen worden, hät- eine komplette Neulackierung vorge- fachliche Qualifikation der Kandidaten te dies in der neuen Gesamtberliner Po- nommen. Nach und nach wurde der zu bewerten. Die ehemaligen Volkspoli- lizei eine sofortige Dominanz von Per- Fuhrpark erneuert. Viele Volkspolizis- zisten mussten einen ausführlichen Fra- sonen des Höheren Dienstes, die mit ten mussten zu Beginn auf die Zutei- gebogen ausfüllen und Auskunft über dem SED-Regime verwoben waren, zur lung der grün-beigen West-Berliner ihre Ausbildung, aber auch über mögli- Folge gehabt. Eine Weiterverwendung Uniform warten, weil die Kleidergrößen che Verstrickungen mit der DDR- in hohen Führungsfunktionen erschien teils nicht kompatibel waren. In weite- Staatssicherheit geben. Noch vor dem daher im Allgemeinen nicht durchführ- rer Folge mussten DDR-Polizeiobjekte Beginn der Personalauswahl hatten wir bar, auch wegen des unterschiedlichen wie Wohnungen, Ferienheime oder die zahlreiche Vorruhestandsgesuche zu Ausbildungsstandes der Ost-Berliner Hochschule abgewickelt werden – es verzeichnen. Die Personalauswahlkom- Polizei. Das bedeutete aber nicht, dass gab keine Notwendigkeit mehr, sie wei- missionen empfahlen schließlich, von eine Weiterverwendung in niederrangi- terzuführen. Ein herausfordernder Be- 9.600 Angehörigen der Volkspolizei et- gen Funktionen ausgeschlossen war. reich war die Frage der Personalüber- was mehr als 1.000 zu kündigen und die Aus dem Höheren Dienst wurden tat- nahmen und die Besetzung aller Füh- übrigen zu übernehmen. Eine nicht ge- sächlich nur sehr wenige übernommen, rungspositionen bis zum Wachleiter. ringe Zahl von Volkspolizisten trug viele sonstige Personen in Führungs- zwar eine Uniform, aber hatte nie ei- funktionen wurden zwar weiter beschäf- Wie ging man bei der Übernahme gentlichen Polizeidienst ausgeübt – zum tigt, mussten jedoch aufgrund ihrer den ehemaliger Volkspolizisten in die „Ge- Beispiel Köche oder Bedienstete von bundesdeutschen Standards oft nicht samtberliner Polizei“ vor? Werkstätten. Einige Übernahmebeschei- entsprechenden Ausbildung neu einge- In einer so großen Stadt wie Berlin de mussten später aufgehoben werden, stuft werden und verloren ihre Leitungs- wäre es nicht denkbar gewesen, plötz- weil die „Gauck-Behörde“ eine - aufgaben. In all ihren Laufbahnlehrgän- lich auf die Mitarbeit aller 11.000 Vergangenheit der Betroffenen festge- gen hatte das Fach „Marxismus-Leni- Volkspolizisten zu verzichten. Natürlich stellt hatte. nismus“ eine zu hohe Priorität mit eben- ERLIN

B konnten auch nicht alle einfach so wei- so hohem Stundenanteil. Vielleicht hät- termachen wie bisher. Es trafen ja zwei Gab es Bereiche in der ehemaligen te man aus heutiger Sicht da oder dort

AMMLUNG völlig unterschiedliche ideologische Volkspolizei, die besonders stark von etwas differenzierter vorgehen können, S Systeme aufeinander. Für die Fragen Kündigungen betroffen waren? die Zeit, die zur Verfügung stand, war der Übernahme gab es keine geeigneten Ja, generell die Leitungsfunktionen. damals aber einfach zu kurz. Vorbilder. Die Ständige Konferenz der Die DDR war ein zentralistisch geführ- Innenminister der Länder hatte sich aus ter Einheitsstaat und gerade im Ostsek- War bei den ehemaligen DDR-Polizis- OLIZEIHISTORISCHE

: P gesamtdeutscher Sicht mit dem Thema tor fand sich eine große Zahl von hoch- ten anfangs Skepsis gegenüber dem OTO

F befasst und grundsätzliche Kriterien be- rangigen Polizisten – im Innenministeri- neuen System zu beobachten?

ÖFFENTLICHE SICHERHEIT 9-10/20 71 30 JAHRE WIEDERVEREINIGUNG

Polizeizusammenarbeit nach dem Fall der Berliner Mauer: Symbolische Öffnung der Straßenverbindung Charlottenstraße/ Zimmerstraße am 18. Juni 1990; -Einheiten von Ost- und West-Berlin 1990.

Wir mussten zunächst vielerorts veranstalteten wir erste Lehrgänge für „Insel des Wohlstandes“ deutlich. Als Überzeugungsarbeit leisten, um die gro- Führungskräfte zu Themen, die im Ost- „Delikt des Wendejahres“ firmierte der ße Zahl von bundesdeutschen Gesetzen, teil offensichtlich unbekannt waren – et- Ladendiebstahl mit einer Zunahme von Verordnungen und Dienstanweisungen wa zur Hausbesetzerszene oder zur Dro- 68 Prozent. Der Großraum Berlin mit zu internalisieren. „Wozu brauchen wir genkriminalität. Nach der Wiederverei- seinem Umland entwickelte sich zu ei- das alles?“ war eine oft gestellte Frage nigung wurden Anpassungsfortbildun- nem neuen kriminalgeografischen der Volkspolizisten. In der DDR war gen im Rahmen von „Jahreslehrgängen“ Raum. Der Waffenhandel im Verlauf von den Polizisten vor Ort, außer in für die ehemaligen DDR-Polizisten or- der Entmilitarisierung, Kfz-Verschie- Standardfällen, wenig entschieden wor- ganisiert. Da sich die Probezeit auf drei bungen, insbesondere nach Ost-Europa, den. Man telefonierte mit dem Vorge- Jahre belief, organisierten wir diese illegaler Zigaretten-, Rauschgift- und setzten auf dem Revier, der eventuell Lehrgänge von 1990 bis 1994. Das Ziel Menschenhandel nahmen ebenso zu wie mit seinem Chef. Die Verantwortung war es, mindestens 4.000 der neuen Urkundenfälschungen und Sozialhilfe- wurde nach „oben“ verlagert, der Poli- Mitarbeiter in möglichst kurzer Zeit auf betrug, insbesondere in Zusammenhang zist des Basisdienstes nahm seine Maß- ein annähernd gleiches Niveau der mit Bürgerkriegsflüchtlingen. Dazu ka- nahmen nicht „auf die eigene Kappe“, Rechtskenntnisse zu bringen und ihre men neue Deliktsformen wie Computer- das war aber eben auch nicht erwünscht. Handlungssicherheit zu erhöhen. Das kriminalität, Kreditkartenbetrug, Geld- Die Eigenverantwortung und die Dia- war nicht einfach, ist aus meiner Sicht wäsche und Bandenkriminalität. Krimi- logfähigkeit mit den Bürgern mussten aber in idealer Weise gelungen. Die nelle aus Ost und West trafen auf Frei- also erst einmal als wesentliche Be- Lehrgänge waren als „Schnellkurse“ räume, die durch die gravierende Umor- standteile der neuen polizeilichen Auf- konzipiert – an Stelle der üblichen drei ganisation der Sicherheitsbehörden und gabenstellungen begriffen werden. Das bzw. zweieinhalb Jahre dauerten sie ein die damit verbundene existenzielle Ver- war für die Volkspolizisten sicherlich Jahr und wurden einmal pro Woche an unsicherung von Mitarbeitern entstan- eine gewichtige Umstellung. der Polizeischule, ansonsten im Fernstu- den waren. Doch die Aufklärungsquote dium, abgehalten. Nach dem Bestehen stieg von 38,2 Prozent im ersten statisti- Hat sich nach der Wiedervereinigung aller Prüfungen konnten sich die neuen schen Gesamtberliner Jahr“ 1991 auf eine Art „Kulturwandel“ im Verhältnis Kollegen auf eine solide Ausbildung 49,7 Prozent im Jahr 2000 und erreichte von Volkspolizisten und Bevölkerung stützen. Das zeigte sich zum Beispiel damit den höchsten Stand seit 1968. Im eingestellt? daran, dass es ihnen zunehmend gelang, Zuge der EU-Osterweiterung wurde In der DDR kam es praktisch nicht bei den Bürgern Einsicht in die Rationa- Berlin, als wachsende Metropole nun- vor, dass sich ein Polizist einem Wider- lität ihres auf anerkannten rechtlichen mehr im Zentrum europäischer Ver- spruch ob einer von ihm verfügten Fundamenten basierenden Handelns zu kehrsströme gelegen, nicht nur Ziel, Maßnahme stellen musste. Es gab zu- erwecken. Damit wurde sowohl dem sondern auch Durchgangsgebiet für in- dem keine unabhängige richterliche Autoritätsverfall der ehemaligen Volks- ternationale Kriminalität. Durch das Überprüfung polizeilicher Verwaltungs- polizisten Einhalt geboten, als auch das Einbeziehen ehemaliger Ostblock-Staa- akte. Erst in der Endphase der DDR Vertrauen der Bevölkerung wiederge- ten in die europäische Wohlstandszone ERLIN B wurde ein offizielles „Beschwerde- wonnen. In der Regel erfolgte dann die änderten sich in Berlin auch die Er- recht“ gegenüber behördlichem Han- Übernahme in das Beamtenverhältnis. scheinungsformen der Kriminalität. Die AMMLUNG

S deln eingeführt. Schon vor der Wieder- organisierte Kriminalität bildet neben vereinigung hatten wir im Sommer Was für Veränderungen hat die Wie- politischem Extremismus und interna- 1990 mit mehreren Seminaren für dervereinigung bei der Kriminalitätsbe- tionalem Terrorismus aus meiner Sicht Volkspolizisten begonnen. Die Ziel- kämpfung gebracht? heute mehr denn je ein von der Öffent-

OLIZEIHISTORISCHE gruppe waren damals unter anderem Mit der Grenzöffnung wurde augen- lichkeit nicht selten unterschätztes Be- : P Revierleiter, die eine fachbezogene blicklich das erhebliche Gefälle von drohungspotenzial für die demokrati- OTOS F Grundeinweisung erhielten. Zusätzlich Berlin-West zu seiner Umgebung als schen und sozialen Strukturen.

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Welche Schritte hat die Berliner Poli- zei bei der Bekämpfung der „Nachwen- dekriminalität“ gesetzt? Die Berliner hat spe- zielle personen- und deliktsbezogen ar- beitende Organisationseinheiten und Sonderkommissionen aufgestellt. Als Beispiele fallen mir Ermittlungsgruppen zu Graffiti und Taschendiebstahl ein. Die Erfolge wurden durch enge Zusam- menarbeit mit ausländischen Polizei- partnern, den Zentralstellen des Bundes, dem Bundeskriminalamt, der aus dem entstandenen Bun- despolizei und insbesondere durch ge- meinsame Arbeits- und Ermittlungs- gruppen mit dem Zoll und den Kollegen im benachbarten Land Brandenburg er- zielt. Es gab natürlich noch spezifische Deliktsformen, die mit der DDR-Ver- gangenheit und der deutschen Wieder- vereinigung zusammenhingen. Für die- se wurde bei der Berliner Polizei 1991 eine eigene Behörde gegründet, die Zentrale Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität, kurz ZERV. In ihr waren nicht nur Berliner Polizisten, sondern auch Bundesbeamte und Beamte anderer Bundesländer tätig. Die ZERV verfolgte im Bereich der Wirtschaftskriminalität etwa Unter- schlagungen von DDR-Vermögen, Er- pressungen und Nötigungen von DDR- Bürgern oder Betrugsfälle rund um die Währungsunion, also die Übernahme der Deutschen Mark in der DDR ab 1. Juli 1990. Im Bereich der Regierungs- kriminalität ging es um heikle Fälle wie Verschleppungen von Personen aus der BRD, Auftragsmorde durch die Staats- sicherheit, Doping im Leistungssport oder Ermittlungen gegen „Mauerschüt- zen“. Die ZERV war bis ins Jahr 2000 aktiv.

Was bedeutete die deutsche Wieder- vereinigung für Sie persönlich? Als zehnjähriger Junge habe ich 1945 nach Bombennächten und letzten Kampfhandlungen das Ende des Krie- ges in Berlin erlebt. Ich bin ohne jede Unterbrechung in der Stadt geblieben. So habe ich, wie alle Berliner, die Tei- lung Deutschlands und die Teilung der Stadt ganz unmittelbar erlebt und als ei- ne ständige, nicht heilende Wunde emp- funden. Der 9. November 1989 und in seiner Folge der 3. Oktober 1990 waren für mich ein großes Wunder und ein bis heute tief empfundenes Glück. Interview: Gregor Wenda

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