Zeitschrift der Bundespolizei 05|2019

46. Jahrgang ISSN 2190-6718

30 Jahre Mauerfall Eine Zeitenwende – auch für die Bundespolizei

Interview mit Bundespräsident a. D. Joachim Gauck 22 „Ich würde es wieder tun.“ Erfahrungen aus dem G20-Einsatz 28 War es Hitze oder Angstschweiß? Auge in Auge mit einem zähnefletschenden Kollegen 42 Inhalt

36 22

06 28

Inhalt 05|2019

„„ Editorial „„In- & Ausland

28 „Ich würde es wieder tun.“ „„Titelthema Erfahrungen aus dem G20-Einsatz

06 30 Jahre Mauerfall 36 Ein Erfolgsmodell Eine Zeitenwende – auch für Zehn Jahre Internationale die Bundespolizei Einsatzeinheit

22 Interview mit Bundespräsident a. D. 38 Zu Besuch im Joachim Gauck Bundespolizeirevier Heilbronn „Das größte Problem ist die 24 Als die Mauer fiel ... Eigensicherung.“

26 Karikatur „„Redakteur in Gefahr 27 Kolumne Die Gnade der späten Geburt? 42 War es Hitze oder Angstschweiß? Auge in Auge mit einem zähne- fletschenden Kollegen

02 Bundespolizei kompakt 05|2019 Inhalt

50 42

38 48 56

„„Personal & Haushalt „„Zu guter Letzt

48 Unsere Kollegen 56 The Making-of Die Geschichte hinter „Bundespolizei Live – Großkontrolle an der Grenze“ „„Portrait

50 Der Super-Recognizer „„Leserbriefe Ein kurzer Blick reicht

„„Impressum „„Recht & Wissen

52 Wer im Recht nicht sattelfest ist ... „Polizeiflucht“ als verbotenes Auto- rennen anerkannt

54 Änderungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht Zuständigkeitserweiterung für die Bundespolizei

Bundespolizei kompakt 05|2019 03 Editorial

04 Bundespolizei kompakt 05|2019 Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

es gibt im Leben jedes Menschen eine Hand- Über Erinnerungen ganz anderer Art verfügt voll Ereignisse, zu denen er mit ziemlicher ein Super-Recognizer. Das ist ein Mensch, der Sicherheit sagen kann, wo er gerade war, ein fotografisches Personengedächtnis besitzt. als es passierte: die Terroranschläge vom Eine Gabe, die im Dienst der Bundespolizei 11. September 2001 oder der 7:1-Sieg nicht nur bei der direkten Fahndung oder unserer Fußballnationalmannschaft gegen Ermittlung ausgesprochen nützlich sein kann Brasilien im WM-Halbfinale 2014. Ganz sicher (Seite 50). gehört dazu auch der 9. November 1989, als die Mauer fiel. Wo waren Sie an diesem Tag? Ein weiteres für die Bundespolizei bedeuten- Ich würde jede Wette eingehen, dass Sie es des Ereignis war der G20-Gipfel in Hamburg, noch wissen. Ich war in Wismar, der Stadt, der selbst zwei Jahre danach Politik, Medi- in der ich aufgewachsen bin. Und wäre die en, Justiz und Polizei weiterhin beschäftigt. Mauer nicht gefallen, wäre mein Leben mit Prozesse, Urteile, Fahndungen, Identifizie- Sicherheit anders verlaufen. rungen stehen im Fokus und die Frage, was wäre beim nächsten Gipfel anders, besser Für die Angehörigen vom Bundesgrenz- zu bewerkstelligen. Auch Normen Großmann schutz auf der einen und von Volkspolizei und treibt dieser Gedanke um. Er hat den Gemein- Nationaler Volksarmee auf der anderen Seite samen Einsatzabschnitt Eingreifkräfte geleitet muss es noch unfassbarer gewesen sein. Sie und die ihm unterstellten Hundertschaften – in standen sich Jahrzehnte als Feinde gegen- der Spitze 29 – koordiniert und geführt. Wie er über, nachdem zuerst die Grenze geschlossen damals über diese enorme Herausforderung und neun Jahre später der „antifaschistische dachte und heute darüber denkt, lesen Sie in Schutzwall“ von Volkspolizei, Betriebskampf- einem ausführlichen Interview ab Seite 28. gruppen und Nationaler Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik Und dann hat sich auch für diese Ausgabe errichtet worden war. wieder ein Mitglied aus dem Redaktionsteam freiwillig in Gefahr begeben. Hunde haben ihn Geschichte kann so unterschiedlich interpre- angegriffen, über die Wiese gezerrt und or- tiert werden. Und wenn es nur um die Frage dentlich ins Schwitzen gebracht (ab Seite 42). geht: Wer von beiden hat nun eigentlich vor Und das hatte nichts mit dem auch in diesem und wer hinter der Mauer gelebt? Einen, der Jahr spürbaren Hochsommer zu tun. es wissen könnte, haben wir mit ähnlichen Fragen gelöchert: der ehemalige Bundespräsi- Ihre Helvi Abs dent Joachim Gauck im Interview (Seite 22). Redaktion Bundespolizei kompakt

Bundespolizei kompakt 05|2019 05 Titelthema

Bundesgrenzschutzbeamte regeln den Einreiseansturm der DDR-Bürger am Grenzübergang in Lübeck - Schlutup und verteilen Stadtpläne mit den Orten, an denen es das Begrüßungsgeld gibt.

06 Bundespolizei kompakt 05|2019 Titelthema

30 Jahre Mauerfall Eine Zeitenwende – auch für die Bundespolizei

Von Benjamin Fritsche Es klingt wie ein Märchen und ist doch eine wahre Geschichte – eine meiner liebsten. Aus den Ruinen des zweiten Weltkriegs entstanden zwei deutsche Staaten. Verschiedene Länder mit jeweils anderen Ideen für die Zukunft ihrer Bürger. Zwei unterschiedliche Völker scheint es, doch dem ist nicht so. Als bereits viele nicht mehr daran glaubten, fanden die Men- schen wieder zueinander. Nach mehr als vierzig Jahren der Trennung. Sie überwanden eine Mauer, die nicht nur in den Köpfen existierte, und wurden erneut zu einer Nation. Und das, ohne dass ein einziger Schuss gefallen ist. Ich bekomme jedes Mal Gänsehaut, wenn ich daran denke. Geht es Ihnen auch so?

Für den läutete die Grenzöffnung 1989 ebenfalls eine neue Zeit ein. Seine Kern- und Gründungsaufgabe, der Schutz der inner- deutschen Grenze, löste sich in den Geschichtsbüchern auf. Es begann eine langsame Metamorphose zur heutigen Bundespolizei. Was geblieben ist, sind viele Mitarbeiter, die diese Zeit selbst erlebt haben.

Ich gehöre nicht dazu. Bei meiner Geburt war die Wiedervereinigung bereits vollzogen und bei meiner Einstellung war der alte Bundesgrenzschutz längst ver- schwunden. Umso lieber lausche ich daher den Geschichten meiner Kollegen.

Einige von ihnen werden im Folgenden zu Wort kommen. Es sind keine Staats- männer, die alle Zusammenhänge und Hintergründe aufzählen könnten. Es sind Menschen, die ausschließlich ihren Teil der Geschichte erzählen. Doch vielleicht ist das gerade der interessanteste Teil.

07 Titelthema

Bernd Ruhe weist Kollegen ein. Polizeialarm „Eine Grenzöffnung war für mich schwer vorstellbar.“

Von Chris Kurpiers Bernd Ruhe (59) von der Bundes- da klingelte das Telefon. Es war mein Und nun sollte diese Grenze „durch- polizeiinspektion , ‚Spieß‘ und er sagte mir, dass die lässig“ werden? Wo käme er nun ist seit 42 Jahren Polizist. Nach Grenze offen sei, Polizeialarm aus- dienstlich hin, was werde mit seiner 12-jähriger Dienstzeit im Bundes- gelöst wurde und am Grenzübergang Frau, mit seiner kleinen Tochter? grenzschutz (BGS) und ungezähl- Helmstedt (Niedersachsen) Einsatz- Müsse er weg aus der Heimat? ten Streifen an der innerdeutschen kräfte benötigt würden.“ Und, was erwartet uns alle, wenn Grenze sollte für den damaligen es die innerdeutsche Grenze nicht Führer der Bereitschaftskräfte am Auf dem Weg zu seinem Dienstort, mehr gibt? 11. November 1989 das schwer in die damalige Bundesgrenzschutz- Vorstellbare eintreten: die Öffnung abteilung Goslar, war das Ganze Hunderte wollten die der innerdeutschen Grenze im für Bernd Ruhe schwer vorstellbar. Sperranlagen überwinden Eckertal (Niedersachsen). War er doch im Zonengrenzgebiet Seine Hundertschaft kam an diesem in Watzum (Niedersachsen), nur Abend nicht mehr zum Einsatz, „Am 9. November 1989 kam ich ge- zehn Kilometer vom innerdeutschen sondern wurde in die sogenannte gen 20 Uhr vom Fußballtraining nach Grenzverlauf entfernt, aufgewachsen Standortbereitschaft versetzt. Hause“, erinnert sich Bernd Ruhe. und hatte gleich nach dem Schul- „Gemäß Dienstplan war ich am „Ich wollte eigentlich gleich weiter zur abschluss am 3. Oktober 1977 sei- Samstag, den 11. November 1989, Geburtstagsfeier meiner Tante, aber nen Dienst beim BGS angetreten. als Führer der Bereitschaftskräfte

Tageschronik des 9. November 1989 0 9 Uhr

Offiziere des Innenministeriums der DDR entwerfen im eingefügt: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Auftrag des Politbüros die neue Ausreiseregelung. weitere Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandt- Der von der Sowjetunion zuvor genehmigte Rohentwurf schaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigun- sieht nur die ständige Ausreise direkt aus der DDR vor. gen werden kurzfristig erteilt.“

Gemäß Ministerratsbeschluss sollen alle Einschränkun- Die Verordnung soll bis zum Beschluss des Reise gen bei Anträgen auf eine ständige Ausreise aus der gesetzes gelten und am Freitag, dem 10. November, DDR wegfallen. Ausreisen müssen nach wie vor bean- 4 Uhr, veröffentlicht werden. tragt werden. Allerdings wird ein folgenschwerer Passus

08 Bundespolizei kompakt 05|2019 Titelthema

Meldung an den parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium Bernd Ruhe heute des Innern, Hans Neusel, am Grenzübersichtpunkt Lochtum-Abbenrode

eingeteilt. Gegen Mittag erreichte „Natürlich blieb ich noch auf der Die Grenztruppen öffneten nun ein mich die Nachricht, dass sich im Grenzlinie in der Mitte der Brücke Tor in der Betonsperrmauer und Grenzabschnitt auf der Seite der stehen. Das Betreten des gegen- innerhalb kurzer Zeit strömten nicht DDR, in Abbenrode und Stapelburg überliegenden Hoheitsgebietes war abreißen wollende Menschenmengen (beide Sachsen-Anhalt), mehrere in meiner Gedankenwelt unmöglich. durch den Grünstreifen über unsere hundert Personen aufhielten und Nach zwölf Jahren mit gleicher Auf- Behelfsbrücke zu uns, in den Westen. beabsichtigten, die Sperranlagen gabe, dem Schutz der innerdeut- Die Grenze im Eckertal war nun offen zu überwinden.“ In Stapelburg waren schen Grenze, fand hier und jetzt und ich war dabei“, berichtet Bernd zu diesem Zeitpunkt bereits drei Män- mein erstes Gespräch mit einem ost- Ruhe stolz. ner über die dortige Betonsperrmauer deutschen ‚Kollegen‘ statt“, resümiert geklettert und hatten Kontakt mit den Bernd Ruhe nachdenklich. Es wurde Seine damaligen Sorgen zerschlugen Grenzschützern aufgenommen. vereinbart, dass die kleine baufällige sich im Laufe der Jahre. „Ich bin glück- Brücke für die wartenden Menschen lich, dass damals alles so konfliktfrei Als Bernd Ruhe mit seiner Gruppe in nicht freigegeben werden kann. verlaufen ist und dass ich trotz meiner Eckertal, gegenüber von Stapelburg, Nur wie sollten alle trocken über den Befürchtungen meine Heimat nicht ankam, befanden sich bereits etwa Fluss auf die andere Seite kommen? verlassen musste. Lediglich dienstlich 100 Menschen an dem westlichen zog es mich in das gegenüber- Grenzabschnitt. Als Verantwort- Ein provisorischer liegende Hoheitsgebiet“, fügt er licher nahm Bernd Ruhe zuerst Grenzübergang war eingerichtet lächelnd hinzu. Kontakt mit zwei Angehörigen der „Meine Einheit organisierte kurzer- DDR-Grenztruppen auf. Dazu musste hand von einem benachbarten er das erste Mal in seiner Dienstzeit Grundstück mehrere Baubohlen eine alte Verbindungsbrücke über und legte sie über die Ecker. Ein den Fluss Ecker betreten. Grenzübergang war eingerichtet.

0 10 Uhr 12 Uhr 16 Uhr

Beginn zweiter Beratungstag des Mitglieder des ZK erarbeiten den Generalsekretär Egon Krenz Zentralkomitees (ZK) der Sozialisti- Reiseregelungs-Entwurf. Er wird verliest im SED-Zentralkomitee schen Einheitspartei Deutschlands an den Ministerrat weitergeleitet. den Reiseregelungs-Entwurf. (SED), Absetzung mehrerer erster Sekretäre sowie Rücktritt der Frauenbeauftragten des SED-Politbüros.

Bundespolizei kompakt 05|2019 09 Titelthema Systemwechsel „Ich musste mich komplett neu finden.“

Anwärterinnen der Offiziershochschule der Grenztruppen „Rosa Luxemburg“ in Suhl bei der „Niemand wollte die Uniform zurück.“ Ausbildung Ina Heitzmann mit Helm und „Kaffeebohne“ der DDR-Grenztruppen

Von Benjamin Fritsche Schon früh stand für Ina Heitz- macht sich Heitzmann nur weni- Der Weg war vorgeplant mann fest, sie wird einmal Offizier- ge Gedanken. Wenn die blonde Bereits in der achten Klasse weiß in bei den Grenztruppen der DDR. Wahl-Baden-Württembergerin von Heitzmann, was sie will. Entweder Auf der Offiziershochschule in den vergangenen 30 Jahren ihres wird sie einmal Pilotin oder Offizierin. Suhl lernte sie den Bundesgrenz- Lebens erzählt, dann spricht sie vor Ein Wunsch, den nicht wenige schutz als Instrument des Klas- allem von Glücksfällen. Das klingt Jugendliche in der DDR hegten. senfeindes kennen. Nach dem bescheiden für jemanden, der auch Soldaten galten für manche als Mauerfall wurde sie selbst ein Teil aufgrund seiner Arbeit bisher elfmal Helden und die Nationale Volksarmee von ihm. Die neue Arbeit und das umgezogen ist. Doch das ist ganz und Grenztruppen als ein abwechs- neue System boten ihr nicht nur nach dem Lebensmotto der 48-Jähri- lungsreicher Arbeitgeber. Zudem Herausforderungen, sondern auch gen: „Die gefährlichste Weltanschau- wuchs die gebürtige Karl-Marx-Städ- Möglichkeiten. ung ist die Weltanschauung derer, terin1 in einer systemtreuen Familie die die Welt nie angeschaut haben.“ auf. „Ich hatte immer das Gefühl, für Wie ihr Leben ohne die Wiederverei- Diesen Ausspruch lebt Heitzmann nigung verlaufen wäre? Darüber wie sonst wohl nur wenige. 1 Von 1953 bis 1990 offizieller Name der Stadt

17:30 Uhr 18 Uhr

Krenz händigt die Ministerrats-Beschlussvorlage Beginn der Live-Übertragung der Pressekonferenz und eine dazugehörige Pressemitteilung an den mit Schabowski, in der er über die Ergebnisse der Sprecher des SED-Zentralkomitees, Politbürositzung informiert. Günter Schabowski, aus.

10 Bundespolizei kompakt 05|2019 Titelthema den Staat und die Gesellschaft etwas malige Leiter der Bundesgrenzschutz- Dienst. Später wechselte sie erneut leisten zu müssen“, erinnert sich abteilung im bayrischen Coburg mit zum Bundesgrenzschutz und baute in Heitzmann. „Schon bei den Pionieren einigen seiner Anwärterinnen in Suhl Bayern eine mobile Fahndungseinheit nahm ich verschiedene Funktionen vor. Heitzmann fand Interesse, stellte auf. Sie war damals die bundesweit wahr.“ Im Jahr 1989 begann sie ihr sich dem Einstellungstest des mittleren jüngste Leiterin einer solchen Studium an der Offiziershochschule Dienstes und wurde angenommen. Observationseinheit. der Grenztruppen der DDR im thürin- gischen Suhl. Dort wurden seit 1985 „Meine erste Erfahrung mit dem Im Jahr 2004 reiste Heitzmann erst- alle vier Jahre je zwanzig Frauen zu ‚Westen‘ war unsere Busfahrt nach mals für ein Jahr nach Afghanistan. Politoffizieren ausgebildet. Später hät- Coburg“, erinnert sich Heitzmann. „Zu meiner Überraschung traf ich auf ten sie die politische Erziehung anderer „In Suhl sind wir immer nur auf den ein System, dass mir noch aus meinen Soldaten gewährleistet. Dementspre- Pritschen der W50-LKW transportiert Kindertagen vertraut war“, berichtet chend stark war das Studium durch worden. Auf einmal fuhren wir mit sie über ihre Eindrücke in dem auch die marxistisch-leninistischen Lehren Bussen.“ Ab da begann für sie eine sowjetrussisch geprägten Land. Spä- geprägt. Doch auch die klassische spannende Zeit voller neuer Entde- ter folgte eine Abordnung in das Bun- Militärausbildung kam nicht zu kurz. ckungen und Herausforderungen. desministerium des Inneren und ein weiteres halbes Jahr in Afghanistan. Ein Ende ohne Schrecken Neuanfang im Bundesgrenzschutz Auch aufgrund ihrer dort gemachten Im Herbst 1989 kündigte sich das Bei dem Gedanken an ihre erste Zeit Erfahrungen engagiert sich Heitzmann Ende der DDR auch in Suhl an. in Coburg kann sich Heitzmann ein bis heute bei dem Kinderhilfsverein Politische Instabilität und Arbeitskräfte- Lächeln nicht verkneifen. „In Suhl „Lachen helfen e.V.“. mangel forderten die Mitwirkung hatten wir das Unterrichtsfach Grenz- der Offiziersanwärter. „Während die aufklärung und lernten alles über die Heute arbeitet sie in der Führungs- Männer alle zur Unterstützung an die Uniformen der NATO-Staaten. Plötz- gruppe der Bundespolizeiinspektion Mauer nach Berlin geschickt wurden, lich hatte ich selbst eine an und das Karlsruhe. „Ich bin maßlos glücklich, sollten wir Frauen unter anderem in Grundgesetz vor mir liegen.“ dass alles so gekommen ist und ich der Lebkuchenfabrik Zella-Mehlis aus- Anfangs wurden die neuen Anwärter all diese Chancen bekommen habe. helfen“, erinnert sich Heitzmann. von ihren Ausbildungskollegen In der DDR wäre mein Leben sicher- Sie selbst unterstützte bei Operatio- misstrauisch beäugt. Heitzmann wun- lich auch spannend gewesen, aber nen im örtlichen Krankenhaus. derte das nicht. Um an der Offiziers- auf eine andere Weise. Ich kann froh hochschule der DDR studieren zu sein, dass der Umbruch so früh in Nach der Grenzöffnung verlor die Aus- können, war eine gute Personalakte meinem Leben kam.“ bildung in Suhl ihre Bedeutung. „Die nötig. Das führte zu Skepsis unter den wussten nicht mehr, was sie mit uns neuen Kollegen. Dennoch fühlte sie Besonders freut die zweifache Mutter, anfangen sollten“, erzählt Heitzmann. sich in Coburg gut aufgenommen und dass auch andere ehemalige Kommili- „Das Erste, was abgeschafft wurde, fair behandelt. „Wir pflegten eine sehr tonen ihren Weg bei der Bundes- war der Frühsport.“ Statt das Studium gute Kameradschaft. Gerade dadurch polizei gegangen sind. Teilweise des Marxismus-Leninismus fortzufüh- bin ich im neuen System gut ange- besetzen einstige Angehörige der ren, erhielten die Anwärter kurzerhand kommen“, resümiert Heitzmann. Suhler Offiziershochschule heute auch eine völkerrechtliche Unterweisung. Führungspositionen. Und wieder lä- „Mit gerade neunzehn Jahren Von Chancen und Glücksfällen chelt Heitzmann, als sie davon erzählt. musste ich mich komplett neu finden“, Nach der Ausbildung ging Heitzmann erinnert sich Heitzmann an diese Zeit. 1993 zum Bundeskriminalamt und Wie so oft, wenn sie über die Glücks- Im Frühjahr 1990 stellte sich der da- begann ein Studium im gehobenen fälle der vergangenen Jahre spricht.

18:57 Uhr

Kurz vor Ende der Pressekonferenz fragt der italienische der DDR auszureisen. ... also, Privatreisen nach dem Journalist Riccardo Ehrman nach, ob der Entwurf des Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reisegesetzes ein Fehler sei. Schabowski teilt daraufhin Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen mit, dass ab sofort Westreisen für jedermann möglich beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurz- seien: „Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, fristig erteilt ... Das tritt nach meiner Kenntnis, ähh, ist heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger das sofort, unverzüglich.“ der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte

Bundespolizei kompakt 05|2019 11 Titelthema Surreal und wie ein Abenteuer Vom Polizeialarm zum Betreuungsdienst zur ersten Trabi-Fahrt Von Achim Berkenkötter Ich war 17 Jahre, damals, am 9. November 1989. Vieles vergisst man, aber der Tag als die Mauer fiel, hat sich in meinen Erinnerungen verankert, als wäre es gerade passiert. Vier Wochen war ich erst beim Bundesgrenz- schutz (BGS) in Bad Bodenteich (Niedersachsen), einer damaligen Ausbildungsabteilung. Für mich als Müns- terländer war der Ort in der Lüneburger Heide, nahe der innerdeutschen Grenze, eine ganz andere Welt.

Der 1S (Bezeichnung für den Geheimschutzbeauftragten) auf die geschaut, die nun tatsächlich mit den olivgrünen erzählte noch von sowjetischen Militärangehörigen nahe BGS-Bullis an die Grenze fuhren und in die Nacht ver- der Unterkunft, die Grenzanlagen wurden erklärt und schwanden. Wir gingen derweil wieder zurück ins Bett, mit auch gleich vor Ort besichtigt: ein Holzturm und davor ein der Ungewissheit darüber, was noch kommen würde. Schild „Halt hier Grenze …“. Von den Demonstrationen in der DDR hatten wir einiges mitbekommen und auch „Der Betreuungsdienst gleich am Samstag schwarze Kanal“, eine Propagandasendung im DDR-Fern- Am darauffolgenden Tag sagte man uns, dass unser sehen, lief dann und wann in unseren Gemeinschafts- Standort eine vorübergehende Anlaufstelle für DDR- räumen. Wir waren an diesem besagten Abend fast alle Bürger werden sollte und hier Logistik zur Verpflegung schon auf unseren Stuben und „bettfertig“, als plötzlich und Übernachtung eingerichtet würde. Ein Kollege und laut die Signalpfeife durch den Flur hallte. ich wurden zum Betreuungsdienst gleich am Samstag ein- geteilt. Wir fuhren daher mit unseren Fahrgemeinschaften Jemand rief etwas von „Raus“ und „Polizeialarm“ nach Hause, um saubere Wäsche zu holen. Da wir noch „Polizeialarm? Das war etwas Größeres“, so hatte ich es keinen Führerschein hatten, brachte mein Vater uns mitten aus einer vergangenen Unterrichtung wage in Erinnerung. in der Nacht zum Samstag zurück nach Bad Bodenteich. Alle mussten raustreten und das in kompletter Uniform. Dann kam der Unterführer Bis dato war die A2 eine ruhige Autobahn. Doch als wir in vom Dienst (UvD) und er- Rheda-Wiedenbrück (Nordrhein-Westfalen) auffuhren, war klärte uns, dass die Gren- die Gegenfahrbahn übermäßig voll. Trabis, die ich bislang zen zur DDR auf sind. Ich nur aus dem Fernsehen kannte, kamen uns im Sekunden- konnte diese Meldung und takt entgegen. Hin und wieder standen leider auch welche deren Bedeutung noch mit Schaden auf der Standspur. Als wir in der Unterkunft gar nicht richtig begreifen. ankamen, war dort bereits Hochbetrieb. Viele Menschen Einige sollten raus an die aus der DDR hatten den Weg in den BGS-Standort gefun- Grenzübergänge. Der den, strahlende und glückliche Gesichter überall. erste reale Einsatz nach nur wenigen Wochen im Und irgendwann war es soweit, ich durfte auf dem Beifah- Dienst? Doch uns, den rersitz eines Trabis Platz nehmen. Ich freute mich wirklich 4. Zug, traf es nicht, und zusammen mit einem völlig Fremden drehten wir Wenige Monate nach dem Mauerfall – stattdessen das 2. Aus- Runde um Runde in der Unterkunft. Vereidigung der Einstellung 10/89 in Bodenteich bildungsjahr. Irgendwie mit Neid habe ich noch Surreal, Abenteuer und bis heute unvergessen.

19:04 Uhr 19:05 Uhr 19:41 Uhr

Noch vor den Eilmeldungen der Associated Press verbreitet als Deutsche Presseagentur westlichen Nachrichtenagenturen Eilmeldung: „DDR öffnet Grenze.“ meldet: „Die DDR-Grenze ... verbreitet der Allgemeine Deutsche ist offen.“ Die Agenturmeldun- Nachrichtendienst die Einzelheiten gen werden in der Hauptnach- der von Schabowski zuvor verkün- richtenzeit bis 20:15 Uhr zur deten, „sofort“ geltenden Reise- Top-Nachricht in Fernsehen freiheit. und Hörfunk.

12 Bundespolizei kompakt 05|2019 Titelthema „Im Ural haben wir angestoßen.“ Grenzöffnung über Funk im Werkstattwagen Von Achim Berkenkötter Manchmal sind es diese kleinen, sympathischen Begegnungen, die einen schmunzeln lassen. Während der Erstellung dieser Ausgabe traf ich in meinem Heimartort Oelde (Nordrhein-Westfalen) Ulf Nitschke (50) ganz zufällig während eines Abendessens. Er war aufgrund einer Schu- lungsmaßnahme seiner Firma im Münsterland und erzählte mir, dass er eigentlich aus Dessau (Sachsen-Anhalt) komme.

Mit dem Gedanken „30 Jahre Mauer- sich der ungewollte Halt bis in den fall“ im Kopf, fragte ich Ulf spontan: späten Nachmittag des 9. November. „Was hast du eigentlich damals am 9. November 1989 gemacht?“ Post- Was für eine Freude wendend kam seine Antwort: „Wir Hunger und Durst stellte sich bei haben im Ural1 gesessen und darauf den vier Soldaten ein, und wie es der angestoßen.“ Ich war perplex und Zufall wollte, kamen zwei neugierige Ulf Nitschke während der Vereidigung in Rostock wollte nun natürlich voller Neugierde Kinder in den Wald. Der Major fragte gemeinsam mit seiner späteren Frau Silke die ganze Geschichte wissen. die beiden, ob sie Essen und Bier besorgen könnten. „Ja“, entgegneten Ein ungewollter Zwischenhalt sie ihm und er gab den Kindern auf, die Grenzen sind auf!‘“ Schwei- Ulf erzählte mir, dass er 1989 Ange- 50 Mark. „Dein Geld siehste nie wie- gen, Unsicherheit und Freude! Was höriger der Nationalen Volksarmee der“, sagte Ulf Stunden später zu ihm, ist da passiert? All das wurde vom (NVA) war. Als Gefreiter rückte er am denn Nachschub war bislang Fehlan- Major mit den Worten: „Jetzt machen 6. November 1989 gemeinsam mit zeige. Doch plötzlich, so schildert er wir erstmal die Pulle Schnaps auf“, einem Major als Instandsetzungs- auch heute noch lächelnd, kamen sie durchbrochen. Im Werkstattwagen, trupp zu einem kleinen Manöver sei- mit einem Bollerwagen bepackt mit dem Ural, wurde mitten im Wald auf ner Kompanie in die Umgebung von Bier, Schnaps und Bockwürstchen den Mauerfall angestoßen. Rostock (Mecklenburg-Vorpommern) zurück. Was für eine Freude. aus, denn dort war er mit seinem Später in der Kaserne in Rostock ging motorisierten Schützenregiment stati- „Jetzt machen wir erstmal die es weiter, zwar leise und verhalten, oniert. Schon einen Tag später sollte Pulle Schnaps auf.“ aber auf den Stuben wurde hinter es wieder zurück in die Kaserne „Und dann ging alles ganz schnell“, verschlossenen Türen gefeiert. gehen, doch sein Aufenthalt verlän- erzählt der damalige Gefreite. „Wir Ulf Nitschke schilderte uns in Kürze gerte sich ungewollt. Die Kette eines waren von allen Nachrichten abge- seine ganz eigene Geschichte. Die gepanzerten Fahrzeuges riss und so schnitten, hatten nur Funk im Werk- Erzählung war so emotional und standen Reparaturarbeiten an. Da stattwagen. Ein Freund meldete sich spontan, als wäre es erst gestern erst Bolzen aus der Kaserne bestellt abends über unseren Kanal und rief gewesen. und geliefert werden mussten, zog ganz aufgeregt: ‚… die Grenzen sind 1 Russische LKW-Marke

Gegen 20:30 Uhr Gegen 21 Uhr Gegen 21:10 Uhr

Die ersten DDR-Bürger treffen am Die Situation spitzt sich zu. Die Der Bundestag beendet in Grenzübergang Bornholmer Straße diensthabenden DDR-Grenzsolda- Bonn aus Anlass der neuen (Berlin) ein. Der Grenzübergang ten haben bisher keinen Befehl zur Bestimmungen seine Sitzung ist aber weiterhin für DDR-Bürger Öffnung der Grenze. Die Menge mit dem Absingen der ohne gültiges Visum geschlossen. vor dem Übergang ruft: „Tor auf!“ Nationalhymne. Es kommen immer mehr Menschen zum Grenzübergang.

Bundespolizei kompakt 05|2019 13 Titelthema

1991 kam der der damalige Schleswig-Holsteiner in den Seehafen Rostock. Aus 3 Monaten wurden 28 Jahre Von Ellund nach Rostock

Von Manina Puck Zum Zeitpunkt des Mauerfalls Grenzschutzkommandos Küste in Im Herbst 1989 war Frank Schmoll war Frank Schmoll gerade einmal Lübeck-Blankensee. Technische in der Grenzschutzstelle Ellund an 26 Jahre alt. Aufgewachsen in Instandsetzungs- und -haltungs- der deutsch-dänischen Grenze tätig. Kappeln an der Schlei in Schles- arbeiten entlang der Grenze „Dass die innerdeutsche Grenze mal wig-Holstein wurde er im August zwischen der Bundesrepublik nicht mehr bestehen würde, habe ich 1980 in Lübeck in den damaligen Deutschland und der Deutschen damals nicht im Ansatz für möglich Bundesgrenzschutz eingestellt. Demokratischen Republik ge- gehalten“, erzählt der heute 56-Jäh- Nach der Ausbildung war er bis hörten zu dieser Zeit zu seinem rige. „Als die Mauer dann fiel, konnte 1986 Angehöriger der Techni- dienstlichen Alltag. ich es nicht glauben. Ich habe mir schen Einsatzhundertschaft des viele Gedanken darüber gemacht,

22:28 Uhr

In der Spätausgabe der „Aktuellen Kamera“ wird im Meldewesen hätten aber „morgen um die gewohnte DDR-Fernsehen ein letzter Versuch gestartet, die Zeit geöffnet“, und auch ständige Ausreisen könnten Entwicklung zu bremsen. „Auf Anfragen vieler Bürger erst erfolgen, „nachdem sie beantragt und genehmigt informieren wir Sie noch einmal über die neue Reise- worden sind.“ regelung des Ministerrates“, sagt der Nachrichtenspre- cher und weist ausdrücklich darauf hin, „dass die Reisen beantragt werden müssen.“ Die Abteilungen Pass- und

14 Bundespolizei kompakt 05|2019 Titelthema was jetzt auf uns alle zukommt. Dass neuen Bundesgrenzschützer mit „Ich fühlte mich hier an der Ostsee sich der Mauerfall noch entscheidend seiner Erfahrung und seinem Fach- sehr wohl. Wenig später wohnten auf mein Leben auswirken würde, wissen bei deren Aufgabenwahrneh- meine Frau und ich bereits in Graal- habe ich zu diesem Zeitpunkt jedoch mung unterstützen sollte. „Auf dem Müritz, gut 20 Kilometer von Rostock nicht geahnt.“ Weg nach Rostock wusste ich nicht entfernt“, blickt Frank Schmoll zurück. genau, was mich erwartet und was Die Frage nach dem Ort, der für ihn Abordnung in die „neuen Länder“ die neuen Kollegen im Gegenzug Heimat bedeutet, beantwortet er, Ein paar Monate nach dem 3. Okt- von mir erwarten würden. Ein wenig ohne nachzudenken, mit „Rostock“. ober 1990, der Wiedervereinigung unsicher war ich schon. Würde ich als Hier hat er sich mit seiner Frau ein Deutschlands, begannen die ers- ,Wessi‘ akzeptiert werden?“, fragte Zuhause geschaffen, hier sind seine ten Abordnungen von Kräften der er sich. Es stellte sich heraus, dass beiden Kinder geboren und hier fühlt Bundesgrenzschutzdienststellen im seine Bedenken grundlos waren: „Ich er sich auch dienstlich daheim. „In all Westen Deutschlands in die neuen wurde sehr gut aufgenommen. Das den Jahren habe ich es nicht einmal Bundesländer. „Mein damaliger Vor- Thema Ost-West war zwar präsent, bereut, diesen Schritt gegangen zu gesetzter suchte Freiwillige für einen aber nie auf der persönlichen Ebene.“ sein“, resümiert der Sachbearbeiter auf drei Monate ausgelegten Einsatz Öffentlichkeitsarbeit der Bundes- in der Hansestadt Rostock in Meck- Rostock ist heute seine Heimat polizeiinspektion Rostock. lenburg-Vorpommern“, erzählt Frank Die Abordnung sollte drei Monate Schmoll. Nach Gesprächen mit seiner dauern, geblieben ist er für immer. damaligen Freundin und heutigen „Nach zweimaliger Verlängerung Frau stellte er sich der Herausforde- meiner Abordnung habe ich letztlich rung. 1991 kam er in den Übersee- einen Versetzungsantrag gestellt.“ hafen Rostock, wo er als stellvertre- Rostock – die Stadt, das Arbeitsum- tender Kontrollgruppenführer die feld und die Menschen – gefiel ihm.

Frank Schmoll ist heute Öffentlichkeitsarbeiter in Kontakt mit Soldaten der Grenztruppen der DDR an der innerdeutschen Grenze bei der Inspektion Rostock. Ratzeburg vor 1989

Gegen 23 Uhr

Am Schlagbaum Bornholmer Straße wird es immer gängen der innerdeutschen Grenze strömen tausende bedrohlicher. War es ein Versprecher oder eine gültige DDR-Bürger in die Bundesrepublik und werden im Entscheidung? Die Grenzsoldaten sind völlig überfor- Westen begeistert empfangen. dert. Eine halbe Stunde vor Mitternacht entschließen sich einzelne Grenzkommandanten, die Tore einfach zu öffnen. Die Mauer ist gefallen. Auch an anderen Über-

Bundespolizei kompakt 05|2019 15 Titelthema „Ich war irritiert von der Boshaftigkeit.“ Im Visier der Staatssicherheit

Von Chris Kurpiers „Immer gegen den Strom schwimmend, aber nicht jammernd, sondern aktiv mitumgestaltend – heute und damals in der DDR“, James Mucha (55), der Kraftfahrer und die „gute Seele“ des evangelischen Pfarrers der Bundespolizeidirektion Pirna. James Mucha, der Fahrer des Pfarrers

Von ihm und seiner Lebensgeschichte und die Ablehnung des Armeediens- und „verwanzte“ ihre Wohnung, wie beeindruckt, bat ich James ein paar tes ließen die Arbeit selbst in einem Akten der Staatssicherheit, die James Zeilen schreiben zu dürfen. Und die staatlichen Dachdeckerbetrieb nicht nach der Wende einsah, belegen. Antwort war: „Ach Chris, wirklich? mehr zu. Er wechselte zur sächsi- Ich bin doch gar nicht so wichtig …“ schen Landeskirche, wo er dann „Medizinische Operation ist zu Diese Einstellung zieht sich wie ein noch aktiver gegen die verkrusteten organisieren/provozieren …“ roter Faden durch sein ganzes Leben Strukturen der DDR kämpfte. „Die Nachschau in meinen - und ist nicht negativ besetzt. Denn Akten sorgte bei mir für große James sah und sieht nie nur sich „Ich kann die heutigen Jugendlichen Enttäuschung. Nicht darüber, wer selbst, sondern kämpft für Menschen, sehr gut verstehen, die für ihre Ziele mich bespitzelt hat, sondern darüber, die sozial benachteiligt sind, ist aktiver auf die Straße gehen. Ich konnte welche Maschinerie in Gang gesetzt Kirchenmitarbeiter und setzt sich für damals auch nicht abwarten, zusehen wurde, um mir zu schaden, auch die Umwelt ein. und passiv bleiben. Die Kirche in der gesundheitlich. Ein Beispiel war, dass DDR war ein Ort der kleinen Frei- ich aus dem Nichts heraus in Dresden Allein sein englischer Vorname James heiten, der persönlichen Entwicklung, plötzlich an der Ruhr1 erkrankte. erregte wohl schon die Aufmerksam- der Weg neben der Staats-Ideologie, Genau zu einem Zeitpunkt, als wir keit der Staatssicherheit in der DDR; ein Mutmacher im alltäglichen Leben. daran ‚arbeiteten‘, den Bau eines dazu parteilos, aktiv in der Kirchenar- So geprägt war ich gut gefestigt, das Großtanklagers in der Dresdner beit, westdeutsche Verwandtschaft Regime zu überstehen.“ Heide zu verhindern. In der Akte ist und Verweigerung des Grundwehr- zu meiner Person handschriftlich vom dienstes in der Nationalen Volksarmee. Mit seiner Frau Claudia, die er 1985 örtlichen Chef der Staatssicherheit heiratete und mit ihr später zwei vermerkt: ,Eine Einlieferung in die 1982 schloss James seine Dach- Jungen aufnahm und großzog, fand deckerlehre ab und hatte begonnen, er eine Wegbegleiterin und Mitkämp- 1 Entzündliche Erkrankung des Gastrointes- sich sehr in der kirchlichen Friedens- ferin. Die Staatssicherheit nahm nun tinaltrakts, durch Bakterien oder Einzeller und Umweltarbeit zu engagieren. Dies beide in den Fokus, beobachtete sie hervorgerufen

24 Uhr 00:20 Uhr Zwischen 1 und 2 Uhr

Alle Grenzübergänge in Berlin 30 000 Soldaten der Nationalen Tausende West- und Ost-Ber- sind offen. Volksarmee werden in „erhöhte liner überwinden die Mauer Gefechtsbereitschaft“ versetzt. Da am Brandenburger Tor und in der Nacht weitere Befehle aus- tanzen vor Freude auf dem bleiben, stellen die Kommandeure Betonwall. Von den Übergän- der Grenzregimenter die Maßnah- gen strömen die Menschen men auf eigene Verantwortung ein. zum Kurfürstendamm, der bis zum frühen Morgen in eine Partymeile verwandelt wird.

16 Bundespolizei kompakt 05|2019 Titelthema

James Mucha zitiert während einer Stadtführung in Dresden aus den Auszug aus der Stasi-Akte Werken Erich Kästners. Medizinische Akademie, gegebenen- dringend um Einlass und Schutz. Wie auf Menschen, die in Nöten sind, falls auch Operation, ist zu organisie- sich herausstellte, waren sie auf ihrer und die, die Zuflucht suchen. Wenn ren/provozieren …‘ Dieses ernsthafte Flucht in die Prager Botschaft nur du einmal in die Augen geflüchteter Ansinnen, mir zu schaden, war mir noch bis Dresden gekommen.“ Kinder – damals aus der DDR, 1992 so nicht bewusst. Ich war sprachlos, aus Bosnien oder heute aus Syrien – denn eigentlich wollten wir ja nieman- Der Fahrer des Pfarrers geschaut hast, relativiert sich vieles dem etwas Böses, sondern ein Stück Nachdem James 19 Jahre in der sehr schnell. Das half mir immer, Natur und Heimat erhalten.“ Verwaltung des Sächsischen Land- damals und heute.“ tags tätig war und hier als Mitarbeiter, „Schon vor dem eigentlichen politi- Kraftfahrer und Personalratsvorsit- Nach wie vor ist James aktiver Christ, schen Umbruch war es schwierig, zender den Aufbau des Freistaates hilft in der Frauenkirche beim Gottes- Schritt zu halten. Denn neben den im- Sachsen miterlebte, suchte James, dienst und nimmt sich Zeit zum Ent- mer dramatischeren Meldungen aus nachdem er kirchlichen Fernunter- schleunigen beim Pilgern, Paddeln, den Botschaften der Bundesrepublik richt („ein kleines Theologiestudium Lesen, Handwerken und Rad fahren. und der spürbaren Unruhe, gerade sozusagen“) besucht hatte, ein neues Seine geliebte Heimatstadt Dresden auch nach den Vorgängen in China2, Betätigungsfeld und kam so 2011 in wollte und musste er nie verlassen. gab es auch noch die kleinen Dinge die Bundespolizeidirektion Pirna. Der Da hält er es mit dem Sohn der Stadt, vor Ort. So standen eines Tages im stille Beobachter, exzellente Zuhörer Erich Kästner, auf dessen Pfaden Sommer vor der Tür der Dreikönigs- und kluge Ratgeber James wird hier er spaziert und dazu gern Freunde kirche in Dresden aufgeregte Familien anerkannt und wertgeschätzt. und Kollegen für großartige, auch mit vielen kleinen, weinenden und philosophische Einblicke mitnimmt: ängstlichen Kindern und baten „Gegenseitige Achtung und vorurteils- „Ich bin ein Deutscher, aus Dresden freies Vertrauen, zuhören und offen in Sachsen. Mich lässt die Heimat 2 Gewaltsame Niederschlagung der Protest- miteinander reden, seine Meinung nicht fort …“ bewegung am Tian’anmen Platz durch die und Einstellung wertefrei vertreten; chinesische Regierung im Dienstalltag, aber auch im Hinblick

2 Uhr

Die Nachrichten von Radio DDR melden unter Berufung auf das DDR-Innenministerium, dass die Grenze „als Über- gangsregelung“ bis zum nächsten Morgen, 8 Uhr, unter Vorlage des Personalausweises passiert werden kann. Die politische und militärische Führungsspitze der DDR tritt in dieser Nacht öffentlich nicht in Erscheinung.

Bundespolizei kompakt 05|2019 17 Titelthema

In dieser Zeltstadt waren wir nicht untergebracht. Familien mit kleinen Kindern durften vorrangig in den Stuben der Kaserne schlafen. „Für mich gab es keine Mauer.“ Wie sich erst nach 26 Jahren der Kreis schloss

Von Philipp Herms Wie habe ich den Mauerfall erlebt? Gar nicht, denn ich konnte gerade so laufen, als der eiserne Vorhang fiel. Alles, was mich noch an die Deutsche Demokratische Republik (DDR) erinnert, sind Hammer und Zirkel auf meiner Geburtsurkunde. Sowohl dieses Land als auch die Geschichte unserer Flucht kenne ich nur von Erzäh- lungen aus der Familie – und bis dato hielt sich mein Interesse daran auch zugegebenermaßen in Grenzen.

Mein persönliches Erlebnis mit dem Mauerfall hatte ich erst zurück in die Realität, denn nun, 26 Jahre später, 26 Jahre später. Im August 2015 betrieben wir anlässlich stand ich auf der anderen Seite, nämlich auf der der Migrationslage eine sogenannte Bearbeitungsstraße1 in der Aufnehmenden. der Bundespolizeiabteilung Deggendorf (Bayern). Von der DDR nach Deggendorf Während des Einsatzes telefonierte ich mit meiner Mutter. Vier Tage vor dem offiziellen Fall der Mauer beschlossen Sie fragte mich, wo ich denn sei. „In Deggendorf – ich meine Eltern, aus der DDR zu fliehen. Von der Möglich- muss arbeiten“, war meine Antwort. Was sie mir danach keit einer direkten Ausreise von der Tschechoslowaki- erzählte, beschäftigte mich: 1989 wurden auch wir genau schen Sozialistischen Republik (CSSR) in die Bundes- dort anlässlich der DDR-Ausreisewelle vom Bundesgrenz- republik Deutschland (BRD) erfuhren sie aus dem West- schutz (BGS) aufgenommen. fernsehen. Den Kofferraum des Trabis voll mit Stoff- windeln und Kinderbekleidung – für sich selbst aber Sofort hatte ich die typischen Bilder von hupenden Trabi- nur Stiefel und Winterjacke im Gepäck – machten sie Kolonnen und feiernden Menschen im Kopf – und ich war sich am Abend des 5. November 1989 auf den Weg. irgendwie mittendrin. 1 Die Bearbeitungsstraße ist ein Verfahren zur systematischen Erfassung Von Trabis war gerade aber nichts zu sehen. Der schier und Bearbeitung von Migranten an der deutsch-österreichischen Grenze. endlos erscheinende Andrang von Migranten riss mich

18 Bundespolizei kompakt 05|2019 Titelthema

Unterwegs hielten wir bei meiner Großmutter in Erfurt Für uns fiel also die Mauer bereits am 6. November 1989. (Thüringen). Aus Angst vor Repressalien war sie die Ein- Den 9. November erlebten wir nicht mehr in Deggendorf. zige, die erst jetzt von dem Vorhaben erfuhr. 1 000 Mark, Im oberbayrischen Dorfen bekamen wir für die ersten ein Brot und etwas Wurst gab sie uns mit. So sind sie 14 Tage eine Pension. Von dort ging es dann mit 200 DM eben, die Omas. in der Tasche in ein neues Leben.

Niemand wusste, ob man sich jemals wiedersieht. Auch Was bin ich? Flüchtling oder Migrant? noch 30 Jahre später treibt es ihr die Tränen in die Augen, Nach dem Telefonat fragte ich mich das öfter. Auch meine wenn sie erzählt, wie ich ihr zum Abschied noch durch die Familie ist fluchtgeprägt. Meine Eltern gaben ihr altes Heckscheibe des Trabis zugewunken habe. Leben auf und nahmen es in Kauf, Freunde und Familie niemals wiederzusehen. Kurz hinter Plauen (Sachsen) passierten wir die Grenze zur CSSR, dem heutigen Tschechien. Wenige Stunden 1991 zogen wir nach Niedersachsen. Für viele war ich später standen wir in einer endlos wirkenden Fahrzeug- dort der „Ossi“ – und warum? Wegen Hammer und Zirkel schlange vor der Ausreise in die BRD. Etwa 20 000 auf meiner Geburtsurkunde. Im Jahr 2003 zogen wir weitere DDR-Bürger hatten wohl die gleiche Idee. Den zurück in die alte Heimat, in die Stadt auf meiner Geburts- eigentlichen Grenzübertritt habe ich nicht mitbekommen, urkunde. Jetzt war ich der „Wessi“ – und warum? Weil ich denn ich habe geschlafen. dort aufgewachsen bin, trotz Hammer und Zirkel auf der Geburtsurkunde. Neulich sagte mein Vater scherzhaft: „Als ich das erste Mal in den Lauf eines Maschinengewehrs geschaut habe, Bin ich „Wessi“ oder „Ossi“? da hast du einfach gepennt.“ Ich sehe mich als Deutschen, der vielleicht etwas mehr im Land herumgekommen ist als manch anderer. Ich habe Jedes Auto wurde von schwer bewaffneten Grenzschüt- die Mauer nicht bewusst miterlebt – und dafür bin ich zern kontrolliert. Angst und Unsicherheit machten sich dankbar. Deutschland ist fast mein gesamtes Leben lang breit. Was ist, wenn die Grenzen kurzerhand geschlossen geeint. Manche Klischees und Witzeleien zeigen aber werden? Was passiert mit der Familie? Haben sie vielleicht hier und da noch ein Ost-West-Denken. Meiner Meinung schon Besuch von der Stasi2? Die zeitgleich in Leipzig ge- nach ist es langsam an der Zeit, dass auch die Letzten die forderte „Reisefreiheit“ und Schabowskis Pressekonferenz Mauer in ihren Köpfen zum Einsturz bringen. ließen nämlich noch auf sich warten. In den folgenden Migrations-Einsätzen an der bayrischen Hinter der Grenze gab es dann Decken, warmen Tee Grenze sah ich die ankommenden Menschen und ihren sowie einen Tankgutschein für den Weg ins Aufnahme- Weg ins Ungewisse sowie all ihre Entbehrungen für ein lager Deggendorf. Leben in Frieden, Sicherheit und Einheit mit etwas anderen Augen. Mit 200 Deutsche Mark (DM) in ein neues Leben In der BGS-Kaserne folgten Registrierung und viel Auch Omas Anekdoten vom Abschied und vom ersten Bürokratie. Nach drei Tagen sollte es erst weitergehen. Wiedersehen sehe ich heute aus einem anderen Blick- Einige der geschilderten Abläufe kommen mir heute noch winkel, obwohl ich sie womöglich schon mitsprechen bekannt vor. Wir schliefen in den leergeräumten Über- könnte; aber liebe Oma, es sei dir verziehen. nachtungsstuben. Dass dies nicht meine letzten Nächte in einer BGS-Unterkunft sein würden, wusste damals noch 2 umgangssprachlich für Ministerium für Staatssicherheit, keiner. Auch meine ersten Erfahrungen mit namhaften der Nachrichtendienst der DDR Einwegwindeln habe ich – zur Freude meiner Eltern – beim BGS in Deggendorf gemacht. Die Zeit des mühe- vollen Auswaschens von Stoffwindeln war vorbei. Dass der halbe Kofferraum wohl umsonst beladen war, schien jetzt nebensächlich.

Für mich ist es heute kaum mehr vorstellbar, dass mein erster Kinderwagen in der neuen Heimat aus einer Klei- der- und Sachspende stammt. Die Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft ist meinen Eltern noch genau so präsent wie die prüfenden Blicke der Niederbayern an der Tankstelle, als sie die Motorhaube ihres Trabis zum Tanken öffneten. Die 1 000 Mark von Oma wurden gegen 100 DM eingetauscht. Zusammen mit dem Begrüßungs- geld musste das vorerst reichen. Das bin ich heute. Von unserer Flucht gibt es keine Bilder. Den Fotoapparat mussten wir zugunsten von Stoffwindeln zurücklassen.

Bundespolizei kompakt 05|2019 19 Titelthema

Ernst-Henning Jahn (mittig), Landrat des Landkreises Wolfenbüttel (Niedersachsen), Erstes Kontaktgespräch zwischen Beamten des spricht mit Grenzschützern aus Ost und West am 19. November 1989. BGS und Offizieren der DDR-Grenztruppen

Grenzübergang Lübeck-Schlutup (Schleswig-Holstein) am 10. November 1989 Grenzöffnung in Rasdorf-Buttlar (Thüringen)

20 Bundespolizei kompakt 05|2019 Titelthema

Kilometerlang stauten sich Fahrzeuge an der Grenze.

Ausreise in überfüllten Zügen

Bundespolizei kompakt 05|2019 21 Titelthema „Die Kompetenz und Vertrauens- würdigkeit der Beamten haben mir imponiert.“ Interview mit Bundespräsident a. D. Joachim Gauck

22 Titelthema

Das Interview führte Helvi Abs „Lieber Herr Gauck, für die Oktober-Ausgabe der Gibt es noch heute eine Mauer in den Köpfen? t ließen wir Kollegen aus allen Bundespolizei- Das Bild halte ich für irreführend, denn es unterstellt eine kompakdirektionen folgenden Satz beenden: „Als die Mauer bewusst oder auch unbewusst ablehnende Haltung zwi- fiel …“ – und haben Gedanken, Gefühle, Erinnerungen schen den Menschen in Ost und West. Aber wir müssen erhalten, die einen guten Eindruck zu den ersten uns auch 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution ein- Stunden nach 18 Uhr am 9. November 1989 und gestehen, dass es noch Unterschiede kultureller, politi- zum Folgetag vermitteln. Wie würden Sie diesen Satz scher Art und in der Mentalität gibt. Dies liegt an den ganz beenden?“ unterschiedlichen Prägungen und Erfahrungen, die über Jahrzehnte in Ost und West gemacht wurden. So konnten „... war ich bei der wöchentlichen Großdemonstration in sich im Westen die Menschen über viel längere Zeit in meiner Heimatstadt Rostock. Bei uns war der Donners- eine eigenverantwortliche Bürgergesellschaft entwickeln, tag Demo-Tag und so haben wir erst am Ende des Tages während im Osten Anpassungsdruck und Ohnmacht vor erfahren, was sich in Berlin abspielte. Wir waren glück- dem Staat einen Großteil der Bevölkerung prägten. Der lich und stolz, denn die landesweiten Proteste hatten die Wandel von Mentalitäten vollzieht sich bei vielen Men- Staatsmacht gezwungen, die Grenze zu öffnen. Jetzt schen langsamer, als wir es erwartet haben. Davon sollten wurde jedem klar, dass es mit der Allmacht der Diktatoren wir uns aber nicht vorschnell frustrieren lassen, sondern bald ein Ende haben würde.“ auch wahrnehmen, dass sich in den 30 Jahren bereits viel getan hat, weil Ost und West auch im Bewusstsein vieler Wie betrachten Sie als ehemaliger Bürgerrechtler den Menschen schon ein gutes Stück zusammengewachsen Mauerfall an sich und die Jahre danach? sind. Der 9. November 1989 war der Höhe- und Endpunkt eines Aufbruchs, der lange vorher zunächst in kleinen Wann sind Sie das erste Mal mit dem Bundesgrenz- oppositionellen Zirkeln und Gruppen begonnen hatte und schutz in Berührung gekommen und welchen Ein- der dann immer größere Kreise zog. Ich denke an die druck hatten Sie? ersten friedlichen Demonstrationen etwa am 7. Oktober in Daran kann ich mich nicht genau erinnern. Aber es war in Plauen oder am 9. in Leipzig. In diesen Tagen überwan- der Zeit als ich nach der freien Wahl 1990 Abgeordneter den Zehntausende ihre Angst vor den Unterdrückern, weil der Volkskammer war. Die Kompetenz und Vertrauens- ihre Sehnsucht nach Freiheit größer war als ihre Furcht würdigkeit der Beamten haben mir imponiert. vor dem repressiven Staat. Als wir auf die Straße gingen, erhielten wir unsere Würde und Selbstachtung zurück – Neben vielen emotionalen Aspekten, die Sie damals allein dies war schon ein erhebendes Gefühl. Als dann die bewegten: Welche Lehren aus dem Umbruch haben Mauer fiel, war dies ein magischer Moment, der Traum Sie gezogen? unzähliger Menschen hatte sich erfüllt. Wir dürfen nie nur unseren Ängsten folgen; wir dürfen uns Vielleicht ist es ganz natürlich, dass in den Jahren nach für zuständig erklären, wenn es um unsere Angelegen- der Friedlichen Revolution sich bei vielen Ernüchterung heiten geht. Mancher mag es nicht glauben, aber: wir breit machte, weil sich auch in der errungenen Freiheit können mutig sein und sind fähig, Verantwortung zu nicht alle Träume erfüllen konnten und sich für manche übernehmen. sogar das Leben verschlechtert hat: Arbeitsplätze wurden gekündigt, Beziehungen gingen zu Bruch, das Leben in Was wollen Sie den Menschen hierzulande, wo sich einer offenen, vielfältigen Gesellschaft erschien einem Teil wieder alles im Umbruch befindet, mitgeben? der Gesellschaft als Zumutung, so mancher fühlte sich Der Blick zurück hat ja auch etwas unglaublich fremd, obwohl er in seiner angestammten Heimat lebte. Ermutigendes: Wir Deutschen können Freiheit! Und die 30 Jahre seit der Friedlichen Revolution haben auch ge- Welche Hoffnungen oder Erwartungen verbanden zeigt, dass sich unzählige Menschen in ihrer neuen Rolle Sie mit dem Mauerfall und inwieweit haben sich als Bürgerinnen und Bürger eines liberalen und demokra- diese erfüllt, oder nicht? tischen Staates zurechtgefunden haben und heute unsere Die Ziele der Demokratiebewegung 1989 waren Frei- gemeinsame Heimat aktiv mitgestalten. Wenn ich dies heit, Achtung der Menschenrechte, Errichtung eines hervorhebe, ist mir natürlich bewusst, wie schwierig dieser Rechtsstaates, und außerdem wollten wir ein integraler fundamentale Umbruch für viele war. Gleichwohl haben wir Bestandteil eines vereinigten Europas sein. Diese Ziele gezeigt, dass sich mit einer bejahenden Haltung zu unse- haben wir erreicht. Dass nicht flächendeckend „blühende ren Werten und unserer Gesellschaft viel erreichen lässt. Landschaften“ im Osten entstanden sind und dass es ein Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West gibt, ist nicht zu übersehen. Aber es sollte die positive Gesamtbeurteilung der Situation nicht zu sehr beeinträchtigen.

Bundespolizei kompakt 05|2019 23 Titelthema Als die Mauer fiel...

Dr. Dieter Romann, 57 Jahre, Karl-Bernd Wüstefeld, 61 Jahre, Pensionär, damals Präsident des Bundespolizei- Angehöriger des Sachgebietes Sicherheit der Grenz- präsidiums, damals Jura-Student schutzabteilung Duderstadt (Niedersachsen) in Bonn (Nordrhein-Westfalen) „Als die Mauer fiel, war es ruhig in unserem Grenz- „Als die Mauer fiel, fuhr ich am abschnitt. An diesem nasskalten Novemberabend nächsten Morgen um 6 Uhr mit deutete nichts auf ein besonderes Ereignis hin, wäre meiner alten Studentenkarre in da nicht Schabowskis Pressekonferenz gewesen. Be- die Bonner Innenstadt, um im Refe- reits gegen 21:30 Uhr sahen wir ungewöhnlich viele rendars-Repetitorium eine ‚Probeklausur‘ zu schrei- Fahrzeuge am DDR-Kontrollpunkt. Um 00:35 Uhr ben. Die Stadt war bereits voller qualmender Trabis, rollten dann die ersten Trabis die die Nacht durchgefahren waren. Was für ein Fest über die weiße Grenzmarkierung – und ich war auch froh, nicht mehr die älteste Karre auf der Straße. Menschen lagen zu fahren.“ sich in den Armen, Sektkorken knallten und auch die graublau- en Zweitaktabgase in der Luft Georg Nuß, 56 Jahre, am Grenzübergang ließen keine Kontroll- und Streifenbeamter in der Bundespolizei- Zweifel – die Grenze im Eichs- inspektion Stuttgart Flughafen, damals Stabskraft- feld war gefallen.“ fahrer in der Grenzschutzabteilung Süd 1 in Oerlen- bach (Bayern) Günther Bergmann, 62 Jahre, Leiter Sachbereich „Als die Mauer fiel, saß ich Organisation im Bundespolizeiaus- und -fortbildungs- am späten Abend nach dem zentrum Bamberg, damals Ausbilder bei der GSG 9 Dienst zu Hause am Fernseher und hatte Gänsehaut. Etwas „Als die Mauer fiel, war ich zu einem Fortbildungs- Unglaubliches, was ich damals programm in Kanada bei der Royal Canadian Mounted für fast unmöglich hielt, war in Police. Wir hatten die Berichte über die Montags- Erfüllung gegangen. Mir stan- demonstrationen in der DDR verfolgt, eine so plötzliche den die Tränen in den Augen.“ Änderung der Situation aber niemals erwartet. Von aktuellen Nachrichten aus Deutschland weitestgehend abgeschnitten, waren wir überrascht, als wir am Bodo Rafinski, 57 Jahre, 10. November 1989 die lokalen Zeitungen aufschlu- Bundespolizeiliche Unterstützungskraft in der gen und in riesigen Lettern „The wall is down“ lasen. Bundespolizeiinspektion Pasewalk (Revier Mit Freude über diese historische Entwicklung und der Pomellen), damals Zerspanungsfacharbeiter Ungewissheit, wie sich die Lage entwickeln würde, setzten wir unser Training fort. Die kanadischen Kolle- „Als die Mauer fiel, habe ich gear- gen fragten besorgt, ob wir Krieg in beitet. Ich erfuhr erst am nächsten Deutschland befürchten müssten. Tag von dem Moment, der für mich Nach einem Telefonat mit meiner Freiheit bedeutete. Ich engagierte Frau und ihrer Darstellung, dass die mich damals bereits bei den Mon- Freude in Deutschland eindeutig tagsdemonstrationen in meiner überwiegt, konnte ich die Kollegen Heimat. Es dauerte eine Weile, bis beruhigen.“ ich registrierte, dass die Mauer nicht mehr stand.“

24 Bundespolizei kompakt 05|2019 Titelthema

Gerhard Habel, 60 Jahre, Norbert Temmen, 59 Jahre, Dienstgruppenleiter in der Ermittlungsbeamter in der Bundespolizeiinspektion Bundespolizeiinspektion Würzburg, damals Angehöriger Münster, damals Einstel- der Beweissicherungs- und lungsberater in Münster Dokumentationseinheit in der (Nordrhein-Westfalen) 1. Grenzschutzabteilung Süd 1 Oerlenbach (Bayern) „Als die Mauer fiel, saß ich vorm Fernseher und „Als die Mauer fiel, alarmierte mich meine Grenz- machte mir als junger schutzabteilung. Und als ich mich auf den Weg zum Einstellungsberater in Dienst machen wollte, stand zu meiner großen Freude Münster Gedanken darüber, was ich morgen die Ostverwandtschaft bereits vor meiner Haustür.“ den Bewerbern erzähle, wo doch das Berufsbild des ‚Grenzschützers‘ ab sofort in Frage gestellt war.“

Dieter Teves, 58 Jahre, Leiter Standortservice in der Bundes- Olaf Lehnert, 51 Jahre, polizeiinspektion Hamburg, Ermittlungsbeamter in der damals Sanitätsbeamter in der Bundespolizeiinspektion Grenzschutzabteilung T Nord Magdeburg, damals: Fähnrich- Winsen/Luhe (Niedersachsen) schüler der DDR-Grenztruppen im zweiten Studienjahr in Suhl „Als die Mauer fiel, verstand (Thüringen) ich die Welt nicht mehr. Es war für mich damals unvorstellbar. Aber uns blieb wenig „Als die Mauer fiel, saß ich gerade im Zeit zum Staunen. Wir wurden gebraucht, packten Zug von Suhl nach Hause. Am Bahnhof Berlin-Schöne- alles zusammen und fuhren an die Grenze.“ weide holte mich mein Vater ab und sagte mir, dass ‚die Mauer gefallen ist‘. Ich hatte zwar im August bei einem Urlaub in Budapest (Ungarn) die von geflüch- Matthias Zintl, 58 Jahre, Sachbearbeiter Geheim- teten DDR-Bürgern abgestellten und verlassenen schutz in der Bundespolizeidirektion Flughafen Fahrzeuge gesehen und nahm an, dass etwas Frankfurt am Main, damals stellvertretender Dienst- passieren würde. Aber so schnell und in solchem gruppenleiter beim Bundesgrenz- Ausmaß, das machte mich sprachlos.“ schutz-Amt Frankfurt am Main Flughafen Daniela Scholz, 49 Jahre, Angehörige der „Als die Mauer fiel, hatte ich Direktion 11, am 2. Oktober 1989 in den Bundes- Spätdienst und war sehr glück- grenzschutz eingestellt als Polizeihauptwachtmeister- lich und erleichtert als ich hörte, anwärterin 1. Grenzschutzabteilung Ausbildungseinheit wie friedlich das dann doch alles West in Swisttal-Heimerzheim (Nordrhein-Westfalen) über die Bühne ging.“ „Als die Mauer fiel, saßen fast mein gesamter Ausbil- dungszug und ich gegen 19 Uhr im Aufenthaltsraum Christian Altenhofen, 49 Jahre, und schauten Fernsehen. Dann liefen die Nachrichten Leiter der Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit in der und das Unmögliche wurde möglich: die Mauer war Bundespolizeidirektion Koblenz, damals Polizei- quasi nicht mehr da. Die emotionalen Bilder habe ich hauptwachtmeister in der Grenzschutzabteilung heute noch deutlich vor Augen und bekomme immer Mitte 2 in Bad Hersfeld (Hessen) noch Gänsehaut, wenn ich sie sehe. Für uns war es damals „Als die Mauer fiel, wurde ich plötzlich während einer eine riesige Sache, da wir mit Grenzstreife gegen 5 Uhr morgens zur Unterstützung zwei deutschen Nationen groß des Grenzschutzeinzeldienstes geworden sind - und jetzt gab nach Herleshausen (Hessen) ge- es keine Mauer mehr. Einfach rufen. Dort überquerten Hunderte Wahnsinn!!!“ von Trabbis in Zweierreihen mit fröhlichen, weinenden und eupho- rischen Menschen die Grenze zum Westen. Dieses Erlebnis be- reitet mir noch heute Gänsehaut!“

Bundespolizei kompakt 05|2019 25 Titelthema

Karikatur

Sascha Günther

26 Bundespolizei kompakt 05|2019 Titelthema

Kolumne Die Gnade der späten Geburt?

Der Autor (42) ist Dienstgruppenleiter in der Bundespolizei- inspektion Hamburg und seit 2014 Redakteur der kompakt.

Gleich vorweg, ich komme aus den war neugierig und fragte sie: „Wie war zender2 und später im Freundschafts- 30 Jahren alten, aber immer noch neu- es damals? Was habt ihr früher ge- rat3. Bei schulischen Veranstaltungen en Bundesländern. Wer hätte bei dem macht? Wie habt ihr die Wende erlebt? hielt ich erste Reden. Wer sagt mir, Vornamen auch anderes erwartet? In Was ging in euch vor, als ihr hörtet, die dass ich trotz meiner familiären, mit meinen ersten Jahren beim Bundes- Mauer gibt es nicht mehr? Wie fühlt es dieser gesellschaftlichen Prägung grenzschutz wurde ich auch fast sich an, dem alten Feind zu dienen?“ und in dieser Enge nicht irgendwann täglich daran erinnert. Im Ausbildungs- auch bei den Sicherheitsbehörden zug waren zwar nahezu ausschließlich Antworten erhielt ich nur äußerst der DDR gelandet wäre? Wer sagt mir, Anwärter aus dem Osten der Republik, selten. Man sprach nicht darüber. dass ich nicht auch für ein berufliches aber die Ausbildung fand in den alten Es schien ihnen unangenehm zu sein. Vorankommen, einen Studienplatz, Bundesländern statt. Einige Ausbilder Warum verstand ich damals nicht. die Möglichkeit, das Abitur zu machen ließen kaum eine Gelegenheit aus, Auf die Kollegen aus den alten Bundes- oder aber auch um Nachteile für meine unsere vermeintliche Unfähigkeit mit ländern waren die meisten nicht gut zu Familie abzuwenden, als junger unserer Herkunft zu begründen. Ich sprechen. Während man im Osten Mensch Entscheidungen getroffen kannte jeden Ossiwitz. Aus heutiger 85 Prozent vom Gehalt bekam, erhiel- hätte, die ich nach der Wende bereut Sicht grenzwertig, aber damals ertrug ten die „Wessis“ mit dem „Buschgeld“ hätte? ich es. Immer die Worte meiner Oma lange Jahre ein zweites Gehalt und im Ohr: „Lehrjahre sind keine Herren- wurden durchbefördert. Im Übrigen Ich wünschte, ich könnte es klar jahre.“ Wir fuhren in der Ausbildung empfinde ich das Wort „Buschgeld“ verneinen und aus vollster Überzeu- auch Mitte der 90er Jahre noch an die heute auch völlig daneben. gung sagen: „Nein, ich wäre natürlich innerdeutsche Grenze und schätzten auf die Straße gegangen und hätte für Entfernungen mit einem Fernglas. Es gab sie auch Ende der 90er noch, die Werte, für die ich heute einstehe, die Grenze, die Grenze in den Köpfen. in erster Reihe gestanden.“ Kann ich Nun gut. aber nicht. Ich habe die Situation nicht Ich war zur Wende zwar noch ein erlebt und wurde glücklicherweise nie Nach der Ausbildung kam ich in die Kind, aber dennoch erinnere ich mich vor solche Aufgaben gestellt. Aber ich Bundesgrenzschutzabteilung nach an vieles. Ich erinnere mich an die hätte doch Haltung zeigen müssen, Blumberg. Meine Einsatzhundertschaft Pioniernachmittage. Ich erinnere mich werden jetzt einige empörte Leser hatte gerade einen neuen Hundert- an die mahnenden Worte meiner Leh- denken. Ja, hätte ich. Aber urteilen schaftsführer bekommen. Der alte rerin: „Die Werktätigen arbeiten hart, sollten doch bitte nur diejenigen, die war beliebt, so hörte ich, wurde aber damit ihr kostenlos zur Schule gehen auch in der Situation waren. Und wenn „gegauckt“. So hieß das damals, wenn könnt. Also strengt euch gefälligst an.“ Sie damals Haltung gezeigt haben, die Überprüfung der Stasiunterlagen- Ich erinnere mich an die Pflicht zur dann gebührt Ihnen mein tiefster behörde eine Zusammenarbeit mit der Teilnahme an schulischen Veranstal- Respekt. Staatssicherheit der DDR nachweisen tungen in Uniform, an Fahnenappelle, konnte. Im Klartext: Er wurde entlassen. an die Mai-Demonstrationen, an den Ronny von Bresinski Ernst-Thälmann-Subbotnik1, die ersten In meinem Einsatzzug gab es einen Leistungsabzeichen an meiner Brust 27-jährigen Polizeihauptkommissar und an das Bild von Erich Honecker im 1  Unbezahlter Arbeitseinsatz, bei dem wir als Kinder aus den alten Bundesländern, einen Speisesaal meiner Schule. Es war für zum Beispiel den Strand vom Müll befreiten. Polizeihauptmeister Mitte 30 und mich völlig normal und ich machte mir sonst nur Polizeimeister. Als ich zum darüber überhaupt keine Gedanken. 2  Der Gruppenratsvorsitzende ist vergleichbar mit Gruppenführerlehrgang durfte, war ich dem heutigen Klassensprecher. einer der Jüngsten. Viele der älteren Heute frage ich mich oft, was aus mir Kollegen hatten zuvor bei den Sicher- geworden wäre, wenn es die Mauer 3 Der Freundschaftsrat ist vergleichbar mit der heitsorganen der DDR gearbeitet. Ich noch gäbe. Ich war Gruppenratsvorsit- heutigen Schülervertretung.

Bundespolizei kompakt 05|2019 27 In- & Ausland

28 Bundespolizei kompakt 05|2019 In- & Ausland

„Ich würde es wieder tun.“ Erfahrungen aus dem G20-Einsatz

Das Interview führte Ronny von Bresinski Juli 2019, die Medien berichten über die bislang härtesten Urteile in einem G20-Prozess. Nach fünfzig Prozesstagen und fast fünfzehn Monaten muss der Täter vier Jahre in Haft. Fast zeitgleich veröffentlicht die Polizei Hamburg Bilder von dreizehn weiteren mutmaßlichen Gewalttätern. Es ist die sechste Öffentlichkeitsfahndung. Nahezu täglich werden Personen aus den Fahndungen identifiziert. Regelmäßig haben Angehörige der Bundespolizei (BPOL) – insbesondere der Beweissicherungs- und Festnahmehundertschaften – in Hauptverhandlun- gen der Hamburger Gerichte stundenlang mit Konflikt- und Szeneverteidigern umzugehen. Zwei Jahre nach dem Gipfel ist dieser noch immer fast täglich präsent.

Bundespolizei kompakt 05|2019 29 In- & Ausland

Straftäter setzten im Schanzenviertel Barrikaden in Brand. Eingreifkräfte waren an allen Brennpunkten im Einsatz.

n diesen Tagen treffe ich Normen Großmann. Der beiden Fragen: Wäre die hohe Zahl von Verletzten in den Inspektionsleiter der Bundespolizeiinspektion Hamburg eigenen Reihen vermeidbar gewesen? Und: Warum fielen Iwar als Leiter des Gemeinsamen Einsatzabschnittes qualifizierte Festnahmen, gemessen an der Gesamtzahl Eingreifkräfte (GEA Eingreifkräfte) im Einsatz. Ihm waren der Gewalttäter, so überschaubar aus? im Juli 2017 anfänglich fünfzehn Beweissicherungs- und Festnahmehundertschaften (BFHu’en) unterstellt. In der Und wenn einem diese Aspekte immer und immer wieder „heißen Phase“ waren es zeitweise bis zu neunundzwan- durch den Kopf gehen, wird anerkennender und wie Sie zig Einsatzhundertschaften. Seine Kräfte waren an allen sagen bisweilen ehrfürchtiger Zuspruch schon stark ver- Brennpunkten eingesetzt, in der ganzen Stadt, über Stun- wässert. Daher kommt man selbst wohl zu einem anderen den, Tage. Seine Erfahrungen dürften auch für zukünftige Ergebnis als ein außenstehender Betrachter. Einsätze von Bedeutung sein. t hatte die Möglich- keit mit ihm zu sprechen. kompak Ihre Antwort überrascht. Aber lassen Sie uns chrono- logisch vorgehen. Warum wurden Sie Leiter des Herr Großmann, viele Kollegen blicken fast ehr- GEA Eingreifkräfte? fürchtig auf die Leistungen Ihres Einsatzabschnittes Die Polizeiführer der Polizei Hamburg und der Bundespoli- (EA), aber auch auf Ihre Leistungen während des zei (BPOL) sowie deren Vorbereitungsstäbe kamen sehr Einsatzes zurück. Wie beurteilen Sie heute, mit dem früh zu dem Entschluss, dass es aufgrund der zu erwar- Abstand von zwei Jahren, den Einsatz? tenden Lage eines äußerst durchsetzungsstarken und Es war eine gigantische Erfahrung, die ich nicht missen robusten Einsatzabschnittes Eingreifkräfte bedarf. Es war möchte. Manche Situationen brauche ich allerdings auch zu erwarten, dass gewalttätige Störer sich fließend zwi- kein zweites Mal. Die eigentliche operative Einsatzbewäl- schen den Zuständigkeiten von Bund und Land bewegen tigung liegt in der Tat bereits zwei Jahre zurück, die politi- und beide Partner temporär einen hohen Bedarf an Ein- sche und mediale Nachbereitung ist noch nicht so lange greifkräften haben werden, den sie nicht alleine decken abgeschlossen und war nicht weniger anspruchsvoll. Die können. Das waren gewichtige Argumente für einen Ge- strafprozessuale Nachbereitung dauert nach wie vor an. meinsamen Einsatzabschnitt ( t 02|2016). Dann Sie wird Justiz und Polizei noch lange beschäftigen. stellte sich nur noch die Fragekompak nach dem EA-Führer. Es musste jemand sein, der schon einmal eine größere Natürlich habe ich auch die respektvollen und anerken- Anzahl von BFHu‘en in turbulenten Lagen geführt hat und nenden Rückmeldungen zur Leistung des EA wahrge- mit deren Einsatzkonzepten vertraut ist, der in Hamburg nommen. Vielmehr haben mich aber immer wieder einige ortskundig ist und das Vertrauen der beiden Polizeiführer, Fragen zu offensichtlichen Defiziten beschäftigt und aber auch der Einheiten genießt. Anscheinend habe ich ehrlich gesagt auch belastet. Dazu zählen vor allem die diese obligatorischen Anforderungsmerkmale erfüllt.

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Verdächtige oder friedliche Demonstrationsteilnehmer?

Was haben Sie gedacht, als man Sie gefragt hat, ob Sie sich vorstellen könnten, den Einsatzabschnitt zu führen? Ich habe es als Ehre und Herausforderung empfunden. Aber für mich als Inspektionsleiter Hamburg stellte sich natürlich auch die Frage, wer dann meine Dienststelle und den EA Hamburg Bahn führt. Ich denke, es ist nachvoll- ziehbar, dass mir das nicht egal sein konnte. Schließlich war klar, dass dies auch ein tragender Einsatzabschnitt der Bundespolizei werden würde. Hier musste eine für alle tragfähige und für mich beruhigende Lösung her. Der Schachzug, meinen Vorgänger im Amt des Inspek- tionsleiters Hamburg und guten Freund Jan-Christoph Möller dafür zurückzuholen, war ideal.

Welche Herausforderungen haben Sie gesehen? Natürlich die zu erwartende Lage, vor allem aber auch den angedachten Kräfteansatz. Selbstverständlich stellte sich die Frage, ob ein Einsatzabschnitt mit fünfzehn oder sechszehn BFHu‘en überhaupt führbar ist. Letztlich habe ich das vor dem Hintergrund bejaht, dass immer nur ein Teil unter meiner unmittelbaren Führung im Einsatz sein wird. Aufgrund der langen Einsatzdauer hätten sich stets auch Kräfte in Ruhe oder Bereitschaft oder in temporären Unterstellungs- verhältnissen bei anderen EA-Führern befinden sollen.

Darüber hinaus stand mir noch ein Abteilungsführungs- stab der Bayrischen zur Verfügung, dem ich, unter Bildung eines Unterabschnittes, Einheiten zur Erledigung spezifischer Aufträge unterstellen konnte.

Normen Großmann im Einsatz

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Über Stunden standen Kollegen im Steinhagel. Viele wurden dabei verletzt.

Was dann anders kam ... Allerdings! Real kam es dann leider anders. Wir waren alle fast durchgehend im Dienst. Nicht nur Teile des EA waren im Einsatz, sondern nahezu alle Kräfte. Es wurden keine unterstellten Einheiten an andere EA ausgeliehen. Im Ge- genteil: Dem GEA Eingreifkräfte wurden reichlich bundes- weit nachalarmierte Kräfte unterstellt. Die ohnehin schon große Führungsspanne wurde noch größer. Mit dem Zuwachs an Kräften erweiterte sich natürlich auch das Auftragsportfolio weit über den klassischen Auftrag von Eingreifkräften hinaus. Wir stießen in vielerlei Hinsicht an Grenzen: Denken Sie nur ganz praktisch an die begrenzte Kollegenchat aus dem Einsatz Anzahl zugewiesener Rufgruppen. Auch die handelnden Personen stießen an persönliche Grenzen. Schließlich hat ein Einsatzabschnitt keinen Führungsstab, sondern unterstellt. Das war ein Vertrauensbeweis, aber auch eine lediglich eine Befehlsstelle. Aber sowohl das Team in riesige Herausforderung. Aufgrund des Vertrauens und meiner festen Befehlsstelle als auch mein mobiles Team im Glauben, dass die Kräfte im GEA Eingreifkräfte den im Befehlskraftwagen (BefKW) waren super. Man braucht höchsten Einsatzwert hatten, wurden aber auch einige gute Leute, sonst ist man verloren. Mein Aufnahme- und Einsatzgrundsätze durchbrochen. Eine Kräftesammel- Entscheidungsvermögen waren noch nie so gefordert stelle oder auch die Verstärkung anderer Einsatzabschnit- und Schlafmangel steigert die Performance an der Stelle te hätte uns entlasten können. Kräfte im Zulauf meldeten bekanntermaßen nicht. sich bei mir beispielsweise vom Rasthof Kassel, wollten ihre Einsatzaufträge erfragen und wissen in welches Hotel Sie haben mehr als 3 000 Einsatzkräfte geführt. Ihre sie müssen. Oder sie erzählten mir, wie lange sie schon im Leute waren über Tage rund um die Uhr an allen Dienst waren. Neben der Bewältigung der Störerlage hat Brennpunkten in der ganzen Stadt im Einsatz. Bilder uns also auch das Eingliedern von alarmierten Kräften und von völlig übermüdeten und erschöpften Einsatzkräf- die Übernahme einiger „Fremdaufträge“ erheblich gefor- ten gingen um die Welt. Kamen Sie überhaupt dazu, dert. All diese Aspekte waren Gegenstand einer ausgiebi- zu schlafen? gen Nachbereitung und gehören hier nicht weiter vertieft. Von Donnerstagmittag bis Sonntagvormittag habe ich in Summe vielleicht vier oder fünf Stunden liegend im Bett Wie stark war Ihr Team? Waren das handverlesene geschlafen. Ab Donnerstagmittag gab es für uns nur noch Kräfte? Einsatzbewältigung und kaum Ruhe. Im Auto haben wir zwi- In der Befehlsstelle hatte ich zwei Staffeln, die sich im schendurch immer mal wieder kurz die Augen zugemacht. Zwölf-Stundenrhythmus abgelöst haben. Auch diesen Rhythmus haben wir nachher aufgelöst, weil wir mehr Wie kam das? „Köpfe“ in der Befehlsstelle brauchten. Beide Staffeln Ursächlich waren - kurz gesagt - natürlich das Störerver- waren eine Mischung aus Landes- und Bundespolizisten. halten, aber auch die sich entwickelnde Kräftelage. In Die beiden Leiter waren Bundespolizisten. Bei der mobilen der Spitze waren mir neunundzwanzig Hundertschaften Führung im Einsatzraum unterstützten mich fünf Kollegen

32 Bundespolizei kompakt 05|2019 In- & Ausland von Bund und Land in einem kleinen BefKW. Die statio- Brennpunkt unterwegs. Im Einsatzverlauf gab es immer nären und mobilen Teams haben auch unter Hochdruck wieder Szenen, in denen die „normalen“ Rettungswagen funktioniert, weil sie handverlesen und eingespielt waren. und Notärzte nicht mehr durchkamen oder die Einsatzorte aufgrund einer Gefährdung nicht mehr anfahren konnten. Als klar wurde, dass es in der Hamburger Bürgerschaft Unsere Ärzte und Rettungskräfte waren immer zur Stelle einen Sonderausschuss geben wird, hatte ich durchaus und hatten leider reichlich zu tun. meine Zweifel, ob ich die zu erwartenden detaillierten und kritischen Fragen zum Einsatzverlauf überhaupt Hatten Sie vorab Sorge, bestimmte Lagen nicht beantworten kann. Ich ging davon aus, dass aufgrund der bewältigen zu können? Dynamik der Lage und aufgrund des Kräfterahmens eine Uns war klar, dass wir uns nicht auf jedes mögliche Sze- lückenlose Dokumentation nicht erfolgen konnte. Das nario vorbereiten können und uns die eine oder andere hätte man den dafür zuständigen Kollegen überhaupt nicht Störaktion vor Herausforderungen stellen wird, auf die übelnehmen können. Mir ist es bis heute ein Rätsel, wie wir gegebenenfalls schlecht oder gar nicht vorbereitet die Mannschaft die Dokumentation gewährleisten konnte. sind – es dem Gegenüber also gelingt, uns „kreativ“ zu Aber bereits bei den ersten Ausschussvorbereitungen überraschen. Natürlich haben wir uns auf das vorbereitet, habe ich gemerkt, dass ich damit im Detail sprechfähig was einschlägige Quellen prognostiziert haben. Darunter war. Dafür auch auf diesem Weg noch einmal herzlichen waren einige extrem vorbereitungsintensive Prognosen. Dank, Respekt und Anerkennung. Denken Sie nur an die angeblichen Störvorhaben im Hafen, einem äußerst anspruchsvollen und auch für Eine Ergänzung noch zum Team: Absolut bewährt hat sich BFHu‘en nicht gewöhnlichen Einsatzraum. Erhebliche auch der Einsatz der beiden Ärzte der BPOL mit ihren Teile der zeitintensiven Vorbereitungen wurden im Einsatz- Sanitätern, die dem Abschnitt Eingreifkräfte unterstellt verlauf nicht abgerufen. Das Störerverhalten war vielfach waren. Sie waren hoch mobil zu Fuß mit den Einheiten am ein anderes als prognostiziert.

Bereitstellung für Zugriffe mit Wasserwerfer-Unterstützung In Brand gesetzte Barrikaden

Brennende Barrikaden in den Hamburger Straßen Einsatzkräfte mussten im Schutze der Wasserwerfer vorgehen.

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Womit hatten Sie nicht gerechnet? löst das beim Störer in der Regel eine „Rückwärts- Die Ziele der Störaktionen waren häufig beliebig und fielen bewegung“ aus. Dieser Effekt blieb hier häufig aus. oft in die Rubrik „untypisch und durch die Szene eigentlich nicht vermittelbar“. Angegriffene Objekte standen häufig in Gab es einen Punkt, an dem Sie sich ohnmächtig keinem Zusammenhang mit dem G20-Gipfel und entspra- fühlten? Oder hatten Sie zu jedem Zeitpunkt eine chen auch nicht dem Feindbild der Szene. Mit fortschrei- Lösung? tendem Einsatzverlauf verfestigte sich mehr und mehr der Es gab höchst unschöne Momente, die mir immer in Eindruck, dass nicht das Gipfelprogramm gestört werden Erinnerung bleiben werden! Am Freitagnachmittag in der sollte, sondern es um die hemmungs- und grenzenlose Phase des „versuchten Sturms auf die Elphi “ setzte eine Auseinandersetzung mit uns ging. BFHu der BPOL per Kennwort den bekannten Funknot- ruf für „Polizeivollzugsbeamter in Not“ ab. Ein Funkruf, Die Mobilität und das konspirative Vorgehen hat alles der bei gewalttätigen Versammlungslagen schon mal von übertroffen, was ich bisher aus unfriedlichen Großlagen einzelnen Beamten, oft beispielsweise von „ungünstig“ kannte. Einige Ideen waren nicht grundsätzlich neu, aber stehenden Verkehrsposten, abgegeben wird. Von einer in Qualität und Quantität bemerkenswert. Das Wechseln geschlossenen BFHu hatte ich einen solchen Funknotruf der Kleidung vor und nach Tatbegehung ist beispielsweise bis dahin noch nicht gehört. Ich habe dann versucht, ein bekanntes Vorgehen. Wenn dies aber von hunderten Kräfte zur Unterstützung dorthin zu entsenden, die aber von Personen aus vorbereiteten Depots auf „Bestzeit“ auf dem Weg selbst so massiv angegriffen wurden, dass erfolgt, stoßen bisherige Konzepte an Grenzen. sie den Ort der Nothilfe gar nicht erreichten. In einem Zeitraum von einigen Minuten, die mir wie eine Ewigkeit Hat Sie die Brutalität überrascht? vorkamen, haben wir niemanden aus der angegriffenen Überrascht hat mich die verschobene Hemmschwelle. Einheit erreicht, weder über Telefon noch über Funk. Teilweise konnte von einer Hemmschwelle gar keine Rede sein. Das habe ich so noch nicht erlebt. Was auch Das war eine grausige Situation, die am Ende auch zu überraschend war, war die begrenzte oder kaum sichtbare einer erheblichen Reduzierung des Personals in den Wirkung unserer Zwangsmittel. Das Gegenüber hatte eine Einheiten geführt hat. Da ist man natürlich ein Stück extrem hohe Schmerzbereitschaft oder Schmerzfreiheit. weit hilflos. Man hat so viele Kräfte, entsendet Einheiten Wenn mehrere BFHu’en geschlossen Anlauf nehmen für dorthin und sie kommen einfach nicht an, weil auch sie eine Räumung, gepaart mit einzelnen qualifizierten Fest- angegriffen werden. Ich werde den Moment nie verges- nahmen, massiv eigene Zwangsmittel einsetzen und dabei sen, als der BFHu-Führer mich nach minutenlanger Stille von mehreren Wasserwerferstaffeln unterstützt werden, zurückgerufen hat.

Unfriedliche Demonstranten vor der Räumung Wasserwerfer gehen gegen Straftäter vor.

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Kräfte der Spezialeinheiten bei der Zugangssicherung. Spezialkräfte im Schanzenviertel

Am Freitagabend brannten im Schanzenviertel Barri- Angst, dass der Mob nicht nur auf die Dächer, sondern kaden, Geschäfte wurden geplündert und Randalierer auch in ihre Wohnungen kommt. Geschäftsleute berich- warteten auf den Dächern der Häuser. Wie haben Sie teten von Plünderungen und fragten, wo eigentlich die die Situation erlebt? Polizei bleibt? Das erzeugt Druck, Handlungsdruck. Auf Für mich ein weiteres Novum. Mehrere Einheiten äußerten der einen Seite will man helfen und auf der anderen Seite Bedenken gegen einen von mir erteilten Auftrag. Die Füh- hat man Einheiten vor Ort stehen, die dringend von einem rer der Einheiten erklärten mir bei gemeinsamem „Blick Vorgehen abraten. Und das Ganze vor dem Hintergrund, ins Gelände“ eindrücklich und nachdrücklich, warum sie und jetzt schlage ich wieder den Bogen zu der vorherigen den Auftrag, nämlich das Eindringen in das Schanzenvier- Lage, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon zweihundert tel und die Räumung des Straßenzuges „Schulterblatt“, verletzte Einsatzkräfte in meinem Abschnitt hatte. Einen so nicht für durchführbar hielten. Das musste ich ernst solchen Balanceakt muss ich kein zweites Mal erleben. nehmen. Gemeinsam mit dem Polizeiführer habe ich dann eine Lösung gesucht, und die war, zunächst unter Einsatz Haben Sie nach dem Einsatz adäquate Unterstützung von Sondereinsatz-Kräften die Gefahren von den Dächern erfahren oder standen Sie gefühlt „im Regen“? abzuwehren. Wir hatten Informationen, was uns erwarten Das Gefühl, „im Regen“ zu stehen, hatte ich zu keinem würde, wenn wir in die Gebäude eindringen und uns den Zeitpunkt. Die Familie BPOL oder das kurz gefasste WIR(!) Dächern nähern würden. Die Polizeihubschrauber der hat funktioniert. Sowohl von Vorgesetzten als auch aus der Bundespolizei waren in dieser Lage eine großartige Unter- Richtung Psychosozialer Notfallversorgung konnte ich mir stützung. Nach meiner persönlichen Einschätzung hat es keine bessere Rückendeckung und Begleitung wünschen. nur noch an wenigen „Schadensvertiefungen“ gefehlt, Insofern kann ich nur alle motivieren, natürlich rechtstaat- um die Lage unbeherrschbar eskalieren zu lassen. Der lich, aber vor allem konsequent und mutig zu agieren. Sturz eines Störers oder eines Beamten vom Dach, der Schusswaffeneinsatz gegen einen Störer oder das lebens- Bei der politischen und medialen Nachbereitung hatte bedrohliche Treffen eines Polizisten durch Beschuss mit ich – wie bereits an den meisten Brennpunkten im Einsatz einer Präzisionsschleuder hätten aus meiner Sicht solche – überwiegend die Rolle eines „Leih- oder Gastarbeiters“ Impulse sein können. Das galt es zu vermeiden. bei der Polizei Hamburg inne. Vereinzelt wurde ich ge- fragt, ob ich nicht wegen dieser besonderen Rolle Sorge Dem Entschluss folgte eine in dem Umfang nicht vorher- hätte, geopfert zu werden. Ich hatte eingangs schon das gesehene, lange Vorbereitungs- und Wartezeit. Die Kräfte hundertprozentige Vertrauen zwischen Polizeiführer und der Sondereinsatzkommandos waren natürlich in ihren EA-Führer als elementare Voraussetzung bei der Vergabe Aufträgen gebunden. Außerdem waren Fahrzeugbewegun- der Funktion erwähnt. Dieses Vertrauen bestand nicht nur gen im Stadtgebiet auch mit Sonderrechten und rustikaler vor dem Einsatz, sondern hielt auch während den „heißen“ Fahrweise kaum noch möglich. Dass die Maßnahmen da- Einsatzphasen und insbesondere in der anspruchsvollen durch erst nach mehr als einer Stunde beginnen konnten, Nachbereitung. Ohne diese Basis geht es nicht! war uns nicht klar. Wenn man sie heute Fragen würde: Würden sie es Und was in dieser Stunde noch passiert ist, war kaum noch einmal tun? auszuhalten. Es gab Notrufe aus dem Viertel. Bewohner (überlegt kurz …) Ja. hatten Angst um ihr Leben; Angst, dass die Feuer der brennenden Barrikaden auf die Gebäude übergreifen;

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Zehn Jahre Internationale Einsatzeinheit

Ein Erfolgsmodell Soforteinsatzpool von Frontex

Von Michael Vollmer Bereits 2005 wurde eine Auslandshundertschaft im Bundespolizei-Standort Gifhorn (Niedersachsen) aufge- stellt. Ein Jahr später löste man sie mangels personellen Zulaufs sowie fehlender Aufträge wieder auf. 2009 folgte der zweite Versuch, in der Bundespolizeiabteilung Sankt Augustin eine geschlossene Einheit für inter- nationale Einsätze (IEE) aufzubauen.

Our Duty – Entstehung und Auftrag der Außerdem wurde die Einheit im damaligen Krisen-Haus- 1. Internationalen Einsatzeinheit ordnungsdienst sowie für die Europäische Agentur für 2004 kam es im Kosovo zu gewalttätigen Ausschreitun- Grenz- und Küstenwache (Frontex) eingesetzt. War es gen mit 19 Toten und zahlreichen Verletzten. Sowohl die anfangs nur ein Engagement in Griechenland und Bulga- Polizeieinheiten der vor Ort eingesetzten United Nations rien, so werden die Beamten mittlerweile auch in Italien, Interim Administration Mission im Kosovo (UNMIK) als Albanien, Slowenien, Spanien und Ungarn für Frontex auch die kosovarischen Sicherheitskräfte waren aufgrund verwendet. mangelhafter Ausbildung und Ausstattung nicht in der Lage, darauf polizeilich zu reagieren. Es galt daher Einhei- 2012 folgte die Entsendung in die European Union Rule ten aufzustellen, die robust und flexibel in Krisengebieten of Law Mission im Kosovo (EULEX Kosovo)2, um eine agieren können. Das war die Geburtsstunde der Gifhorner Einheit aus drei multinationalen Zügen – bestehend aus Auslandseinsatzhundertschaft. Nach deren Auflösung bulgarischen, tschechischen, niederländischen, kroati- sollte eine Einheit gegründet werden, die geschlossen schen, türkischen und deutschen Kollegen – aufzustellen im In- und Ausland eingesetzt werden konnte. Hierunter und Pionierarbeit zu leisten. Die Aufträge reichten von zählten und zählen Einsätze für die Vereinten Nationen, die Durchsuchungen, Festnahmen, Gefangenentransporten Europäische Union (EU), aber auch bilaterale Projekte wie über multinationale Streifen und Grenzkontrollen bis hin das German Police Project Team. zum Schutz von besonders gefährdeten Objekten. Am 31. August 2009 war es soweit, 31 Beamte traten Um für alle Kollegen einheitliche Voraussetzungen zu ihren Dienst im Standort Sankt Augustin an. Es konnte mit schaffen, wird seit 2011 eine Verwendungsfortbildung dem strukturellen Aufbau begonnen werden. durchgeführt. Dort liegt der Fokus unter anderem auf theoretischen und praktischen Grundlagen der Auslands- Our Operations – Einsätze von 2009 bis heute verwendung, dem Geländefahrtraining sowie dem einsatz- Kaum aufgestellt, ging es auch schon los. Beim European mäßigen Schießen. Die Kommunikation erfolgt bei allem in Police Force Training1 im italienischen Vicenza musste englischer Sprache. Nach dieser Verwendungsfortbildung sich die neue Einheit innerhalb etablierter Polizeieinheiten werden die Angehörigen der Einheit kalendermäßig und aus 23 EU-Ländern beweisen. jeweils für die konkrete Auslandsverwendung taktisch, interkulturell und fremdsprachlich weiter fortgebildet. Wenig später mussten innerhalb von 5 Tagen 14 Beamte nach Mazar-e Sharif (Afghanistan) zur Ausbildung der dorti- 1  Gemeinsames Training europäischer Einsatzeinheiten gen Nationalpolizei entsendet werden. 2  Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union im Kosovo

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Ausbildung afghanischer Sicherheitsbehörden

Grenzschutz mal anders – Überwachung der EU-Außengrenze Die Verwendungsfortbildung – optimale Vorbereitung für einen anlässlich einer Frontex-Mission Einsatz im In- und Ausland

Die Expertise der Angehörigen der IEE ist weiterhin ge- fragt; ob als Trainer in Saudi-Arabien, Mali und Afghanistan German Police Project Team (GPPT) oder als Berater in der Ukraine. Neben den Auslandsein- Derzeit sind 19 Bundespolizisten (davon drei IEE) zum sätzen wird die Einheit als Teil der Bundesbereitschafts- Aufbau und zur Ausbildung afghanischer Polizeikräfte polizei als Einsatzhundertschaft zu unterschiedlichsten eingesetzt – seit 2018. Einsatzanlässen im Inland verwendet. Rechtsstaatlichkeitsmission der Our Future – Wie geht’s weiter? Europäischen Mission im Kosovo (EULEX) Der Bedarf an qualifizierten Polizeibeamten im Ausland Der Einsatz für die psychosoziale Unterstützung bei steigt stetig. Daher wurden schon vor einigen Jahren EULEX Kosovo wurde von 2012 bis 2015 durch die weitere Einsatzeinheiten der Bundesbereitschaftspolizei Kräfte der IEE durchgeführt und ist abgeschlossen. als „Aufrufeinheiten“ in Duderstadt (Niedersachsen) und Bad Düben (Sachsen) sowie eine Koordinierungsstelle Border Assistance Mission in für Internationale Einsatzeinheiten innerhalb der Direktion Moldova and Ukraine EUBAM Bundesbereitschaftspolizei aufgestellt. Aktuell sind in Derzeit ist hier ein Polizist der IEE im Einsatz, dieser allen Standorten der Direktion Bundesbereitschaftspolizei läuft seit 2018. „Aufrufeinheiten“ in Stärke eines Einsatzzuges gebildet worden. Europäische Grenz- und Küstenwachagentur Frontex Die internationale terroristische Bedrohung, die Unterstüt- Derzeit sind 4 Vollzugsbeamte in Griechenland. Der zung beim zivilen Wiederaufbau mit einer entsprechenden Einsatz für Frontex wird durch die IEE auch in den Sicherheitsarchitektur im Ausland, der Schutz der Schengen- Ländern Albanien, Bulgarien und Griechenland durch- Außengrenzen sowie die Bekämpfung von Schleuserban- geführt. Einsätze für Frontex finden seit 2011statt. den und Menschenhändlern werden die Gesellschaft, Politik und auch die Bundespolizei weiterhin fordern. Unterstützung Polizeiliche Daher ist es von entscheidender Bedeutung, flexible, Schutzaufgaben Ausland PSA/K-SAV spezialisierte und weltweit einsetzbare Polizeieinheiten Kräfte der IEE unterstützen PSA beim Objektschutz an vorzuhalten, um kurzfristig auf verschiedenste Heraus- den Standorten Kabul (Afghanistan), Bagdad (Irak) so- forderungen reagieren zu können. wie am Generalkonsulat in Erbil (Nordirak) mit derzeit 4 Polizisten.

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Das Bundespolizeirevier Heilbronn wird von der regionalen Presse Thorsten Kniehl zeigt die Stelle, an der die marode Bausubstanz auch als „Baracke“ bezeichnet. offensichtlich wird.

„Das größte Problem ist die Eigensicherung.“ Besuch im Bundespolizeirevier Heilbronn

Von Benjamin Fritsche Bis zum 6. Oktober 2019 fand unter dem Motto „Blühendes Leben“ die Bundesgartenschau in Heilbronn statt. Gleich neben dem Veranstaltungsgelände befindet sich im Hauptbahnhof ein Revier der Bundespolizeiinspek- tion Stuttgart. Angesichts seines baulichen Zustands ist von „blühendem Leben“ jedoch nichts zu spüren. Die Mängel sind so gravierend, dass sich seit Monaten sogar die regionale Presse mit der „Baracke“ beschäftigt. Die kompakt war vor Ort und hat sich selbst ein Bild gemacht. Kurz nach neun Uhr am Morgen treffe Vor mir steht ein 59-jähriger Haupt- Ermittlungsbeamte“, erzählt Natterer ich in Heilbronn ein. Gleich neben kommissar, dessen leicht ausgebli- über das Revier. Die Arbeit würde dem Bahnhofsgebäude erwartet mich chener Blouson sicherlich so manche eigentlich allen Spaß machen, höre ein kleiner Flachbau in einem verbli- Bahnhofsgeschichte erzählen könnte. ich. Die baulichen Zustände seien chenen Gelbton. Mir fällt auf, dass die Nach einer herzlichen Begrüßung aber miserabel. Er lädt mich zu einem schiefen Wände vom Boden aus etwa bietet mir Natterer im Aufenthaltsraum kleinen Rundgang ein. einen halben Meter neu verputzt sind. einen Kaffee und einen Platz auf der Später erfahre ich, dass der alte Putz Sitzbank an. Angesichts eines gewal- Wir beginnen in der Wache. Auf vor einiger Zeit in langen Rissen von tigen Risses im Polster sinkt jedoch wenigen Quadratmetern finde ich den Mauern gebröckelt ist. Dieses mein Vertrauen in diese Sitzgelegen- eine Mischung aus Funk-, Bear- verstörende Bild sollte den Besuchern heit. Der Kaffee ist sehr stark und zeigt beitungs- und Aufenthaltsraum für der Bundesgartenschau dann aber mir, dass hier nicht nur in Tagesschich- Delinquenten vor. Diese müssen auf doch erspart bleiben. ten gearbeitet wird. Kurz bereue ich, einer alten Holzbank, etwa zwei Meter diesen „ohne alles“ bestellt zu haben. vom Tresen entfernt, Platz nehmen. In Ein herzlicher Empfang dem Raum gibt es kein Sicherheits- Im Inneren erwartet mich bereits der „Insgesamt sind wir hier zurzeit glas, aber viele Möglichkeiten, auf die Revierverantwortliche Dieter Natterer. etwa 25 Leute, inklusive ein paar Beamten einzuwirken. „Hier haben

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Nur der Tresen trennt die Wache vom Wartebereich. Sonstige Abtrennungen gibt es nicht. schon oft Leute drüber gespuckt“, ist das Gebäude nicht einsturzge- gründen nur kurz aufhalten. Bei erzählt Thorsten Kniehl, der gerade fährdet. Zur Sicherheit wurden aber Bedarf müssen sie in den Gewahr- etwas am Computer schreibt, fast bereits ein paar zusätzliche Balken sam der übergeben schon beiläufig, „einmal ist auch an der Decke eingezogen“, erklärt werden. Eine andere Möglichkeit jemand drüber gesprungen.“ Eine ab- mir Natterer. Ich frage Weinmann, gibt es im Revier nicht. gesicherte Schleuse, wie auf anderen was wohl die Menschen denken, die Dienststellen, gibt es nicht. in seinem Büro vernommen werden. Auf der gegenüberliegenden Seite „Viele fragen mich, ob sie wirklich auf des Aufenthaltsraums schließen sich Durch enge Flure in kleine Räume einer Polizeidienststelle sind“, erzählt ein kleiner Flur mit einer Küche, zwei Über schmale und verwinkelte Gänge er und wird von Natterer ergänzt: „Ich Büros und Toiletten an. Beim Anblick geht es weiter zur Toilette. Diese habe oft andere Behördenleiter und letzterer bekomme ich Platzangst, muss von Beamten und Delinquenten Gäste zu Besuch. Viele von ihnen so schmal sind die Kabinen. „Ein gleichermaßen genutzt werden. The- sind erschrocken, wenn sie das hier Waschbecken gibt es übrigens nur oretisch zumindest. Aufgrund eines sehen.“ bei den Frauen“, erwähnt Natterer Wasserschadens ist beiläufig. die Funktion derzeit eingeschränkt. „Ich arbeite seit 1992 hier und kann mich Zwischen den Büros an keine weiteren Renovierungsarbeiten befindet sich noch ein Im angrenzenden Raum für erkennungs- Ermittlungsbüro erinnern als an zwei neue Anstriche.“ dienstliche Maßnahmen. treffen wir Dieter Dieser ist gleichzeitig der Weinmann. Er ist der Thorsten Kniehl - arbeitet seit 27 Jahren im Zugang zu einer Ab- örtliche Teamleiter des Bundespolizeirevier Heilbronn. stellkammer. „Wenn wir Ermittlungsdienstes. In Fotos von den Personen seinem Büro erinnern mich vor Wir gehen weiter und kommen an machen, müssen wir die Kamera allem die unzähligen Mauerrisse einem kleinen Vernehmungsraum raus auf den Flur fahren. Der Raum daran, dass ich noch immer im und einer Gewahrsamszelle vorbei, ist zu klein, wir würden die Person gleichen Gebäude bin. An der Wand die eigentlich keine ist. Man erklärt sonst nicht draufbekommen“, erklärt droht ein alter, dunkelgrüner Wim- mir, dass es sich bei dem schmalen, mir Weinmann. Nach einer Raumbe- pel des Bundesgrenzschutzes von braun gefliesten Raum um einen rechnung ist das Revier etwa 110 einem besonders großen Exemplar Verwahrraum handelt. Delinquenten Quadratmeter zu klein, erfahre ich. verschluckt zu werden. „Eigentlich dürfen sich hier aus Sicherheits-

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„Bis jetzt ist es immer gut gegangen.“ „Jeder Besucher kann die Natterer will mir das Gebäude noch von außen zeigen. Vorbei an den unzurei- Funksprüche der Wache mithören chend gesicherten Fenstern umrunden und vom Eingang aus auf die wir einmal den Flachbau. Im Sommer soll es durch die geringe Raumhöhe Computerbildschirme sehen.“ so heiß werden, dass kaum gearbei- tet werden kann. An einer Hausecke Alexander Hahn - achtet als Polizeitrainer zeigt Natterer auf den Boden. „Unter vor allem auf Eigensicherung. meinem Büro war früher ein Keller, den man vor ein paar Jahren irgendwie ver- füllt hat“, erklärt er. Weinmann ergänzt „Bis jetzt ist es immer gut gegangen. Hoffnung auf Besserung ihn: „Wenn der Boden mal nachgibt, Aber es wird Zeit, dass sich etwas Am Ende zeigt er mir noch die aus- sitzt Dieter eine Etage tiefer.“ Beide ändert.“ Und das wird es voraussicht- gelagerten Umkleideräume und die lachen herzlich. Überhaupt ist es auffäl- lich. Schon länger ist ein Umzug in das neuen Räumlichkeiten im Hauptbahn- lig, dass während unseres Rundgangs wenige Meter entfernte Bahnhofsge- hof. Stolz öffnet Natterer die Tür zur sehr viel gelacht wird. Wahrscheinlich bäude geplant. Die Pläne sind schon ehemaligen Sicherheitszentrale der ist es mit Humor etwas leichter, die gezeichnet, und es fehlt nur noch die Deutschen Bahn AG. Wir begehen die Situation zu ertragen. Unterschrift unter der Kostenfreigabe. moderne Schleuse und die großzügi- „Bis jetzt war es ein mühsamer Weg gen Bearbeitungsräume des neuen Bei einem Thema vergeht Natterer und ich hoffe, dass wir ihn bald endlich Reviers. Leider existieren sie bisher aber der Spaß. „Ich mache mir oft zu Ende bringen können“, bemerkt aber nur vor dem geistigen Auge von Sorgen um die Eigensicherung der Natterer dazu. Ich drücke ihm die Natterer. Kollegen“, erklärt er nachdenklich. Daumen.

Es scheint, als würde diese Wand nur noch von Schließfächer, Entladebox und Miniaturtoilette teilen sich Im Verwahrraum dürfen Personen Erinnerungen zusammengehalten. wenige Quadratmeter. nur kurzzeitig untergebracht werden.

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In Wirklichkeit stehen wir inmitten die Eindrücke sacken und verstehe Vielerorts renoviert die Bundespolizei eines heruntergekommenen Flures. nun, warum die regionale Presse das ihre Dienststellen oder baut sie neu. Überall lagern zurückgebliebene Revier als „Baracke“ bezeichnet. Und Der Zustand des Reviers Heilbronn ist Artefakte des Bahnbetriebs. Während doch bin ich auch etwas fasziniert von da zum Glück eine Seltenheit. Leider in den Schränken aber bei weitem alte Unterlagen nicht die einzige. verstauben, stapeln „Unpraktisch finde ich, dass Noch immer gibt sich auf dem Boden es viele Gebäude gelbe Warnschilder. die Umkleideräume vom mit gleichen oder Fast wäre ich gegen eigentlichen Revier abgesetzt anderen Mängeln. Es einen alten Eimer bleibt nur zu hoffen, gelaufen. Ich beneide sind.“ dass auch sie bald Natterer um seine Geschichte sind. Ich Vorstellungskraft und Elena Nowak - verbringt das erste bin beeindruckt, mit bewundere seinen Praktikum ihrer Ausbildung in Heilbronn. welcher Zuversicht Optimismus. Beschei- und welch großem den erklärt er mir Improvisationstalent zum Abschluss: „Wir wissen, dass es dieser kleinen Dienststelle und ihren die betroffenen Kollegen dennoch viele wichtigere Bauprojekte gibt als „Bewohnern“. Trotz der schlechten ihren Dienst verrichten. Alle anderen unser Revier. Aber es wäre doch auch Rahmenbedingungen fand ich eine und mich können sie dadurch viel- schön, wenn wir mal an der Reihe Gruppe herzlicher und zuversichtli- leicht unterstützen, die Wichtigkeiten wären.“ Ich werde nachdenklich. cher Bundespolizisten vor. Wo ich und Nichtigkeiten der kleinen Mängel auch hinschaute, herrschte zwar unserer eigenen Dienststellen besser Nach ein paar Stunden bin ich baulicher Verfall, aber auch liebevolle einzuordnen. wieder auf der Rückfahrt. Ich lasse Ordnung und Sauberkeit.

„Problematische Liegenschaften“

Das Bundespolizeirevier Heilbronn ist nicht die einzige Dienststelle mit baulichen Mängeln. Es gehört zu den zehn problematischsten Liegenschaften der Bundes- polizei auf Bahnanlagen. Diese werden in einer Liste erfasst. Die Mängel reichen von Feuchtigkeit in den Hauptbahnhöfen Hamburg und München über fehlen- de Gewahrsamszellen in Bonn bis hin zu 300 Quad- ratmeter fehlenden Flächen in Singen (Hohentwiel).

In allen Fällen versuchen die Bundespolizeidirektionen und das -präsidium gemeinsam mit der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben und der Deutschen Bahn AG, Lösungen zu finden. Doch neue Flächen in Bahnhofs- nähe sind teure Mangelware. Die Bundespolizei steht hier in direkter Konkurrenz zu Schnellrestaurants, Drogerien und Zeitschriftenläden.

Vor kurzem wurde mit Vertretern der Deutschen Bahn AG über die problematischen Liegenschaften beraten. Im Verwahrraum dürfen Personen Aufgrund eines Wasserschadens waren die Es wurde vereinbart, dass die Missstände schnellst- nur kurzzeitig untergebracht werden. Toiletten nur eingeschränkt nutzbar. möglich behoben werden sollten.

Bundespolizei kompakt 05|2019 41 Redakteur in Gefahr

War es Hitze oder Angstschweiß? Auge in Auge mit einem zähnefletschenden Kollegen

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Von Christian Köglmeier Es ist Mitte Juli, strahlender Sonnenschein, gefühlte 40 Grad. Eigentlich genau der richtige Zeitpunkt, das Büro am Münchner Flughafen hinter sich zu lassen und sich an die Isar oder in einen Biergarten zu bege- ben. Alternativ könnte man aber auch zum Hunde- ausbildungsplatz der Münchner Bundespolizei nach Ottobrunn fahren. Dort könnte man sich die schwe- ren Klamotten des Schutzdiensthelfers überziehen und im Schweiße seines Angesichts mit den Dienst- hunden „spielen“. Für alle, die mit dem Begriff des Schutzdiensthelfers auf die Schnelle nichts anfangen können: Das ist der „Wahnsinnige“, der sich bei der Hundeausbildung von den „Bestien“ anfallen und über die Wiese zerren lässt. Ich frage mich immer noch, wie ich auf diese Schnapsidee gekommen bin. Aber vielleicht mal ganz von vorne.

Ich bin Öffentlichkeitsarbeiter bei der Bundespolizei am Flughafen München und außerdem Redakteur der Bun- despolizei t. Mit Diensthunden habe ich so viel zu tun, wie derkompak deutsche Hinterwäldler mit dem Fliegen. Ich habe schon mal davon gehört. Nein, natürlich kenn ich unser Diensthundewesen, natürlich komm ich fast täglich in Berührung mit unseren vierbeinigen Kollegen und ihren „Mitarbeitern“. Schließlich gibt’s an einem großen Ver- kehrsflughafen genügend Arbeit für die Spürnasen. Auch in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit kann ich mich immer auf die Jungs und Mädels mit den vier Pfoten ver- lassen. Sie sind immer für ein paar Schnappschüsse von Pressefotografen oder Aha-Effekte bei Besuchergruppen zu haben.

Wenn man „ja“ sagt, ohne nachzudenken Vielleicht war dies der Grund, dass ich mich naiverweise zur Verfügung gestellt habe, als in der Redaktion bei der Themensuche für die Rubrik „Redakteur in Gefahr“ die Wahl auf die Teilnahme an der Diensthundeausbildung fiel und sich keiner gemeldet hat. Zu diesem Zeitpunkt war für mich klar: Mit den Viechern komm ich täglich in Kontakt, Angst hab ich auch keine vor Hunden; also was ist schon dabei?

Erst auf dem Heimweg von der Redaktionskonferenz habe ich doch einmal darüber nachgedacht, was auf mich zukommen könnte. Als erstes sah ich das hämische seinem Blick und ein leicht hämisches Grinsen gesehen Grinsen des einen oder anderen Hundeführers vor mir, zu haben. Fakt ist, er war nicht abgeneigt. In seinen Worten als zweites einen zähnefletschenden Köter, der mich klang das so: „… ich hab da schon ein paar gute Hunde für anspringt. Da war sie doch, die Angst – zumindest ein dich. Komm einfach am Montag nach Ottobrunn.“ Anflug davon. Aber nochmal: Ich hatte noch nie Angst vor Hunden, Respekt ja, Angst nein! Also freute ich mich auch Also fuhr ich an besagtem Montagmittag nach Ottobrunn. irgendwie auf ein ohne Zweifel einzigartiges Erlebnis. Vielleicht war es bereits ein Zeichen von höherer Stelle, dass ich verkehrsbedingt für die normalerweise maximal Ungläubige Blicke, verstecktes Grinsen, 40-minütige Fahrt vom Münchner Norden in den Süden dumme Kommentare der bayerischen Landeshauptstadt mehr als zwei Stunden Ein paar Tage später traf ich auch unseren Diensthunde- gebraucht habe. Der Vorteil dabei war aber, dass ich mich lehrwart Christian und eröffnete ihm meine Idee, oder so über die Verkehrssituation ärgerte, dass ich mir keine besser gesagt meinen Auftrag. Christian war sichtlich Gedanken darüber machte, was auf mich zukommen überrascht. Ich meinte auch, etwas Ungläubigkeit in würde.

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Christian und drei Diensthundeführer vom Münchner Auge in Auge mit der „Bestie“ Hauptbahnhof warteten vor Ort geduldig auf mich. Julia, Jetzt war das Kopfkino da. Ich sah die Hunde schon über Katrin und Mario saßen unter einem Baum im Schatten, mich herfallen. Mitten auf der grünen Wiese stehend, Christian war noch im Büro. Wahrscheinlich wollte sich fragte ich mich innerlich, im Dialog mit den Hundefüh- keiner von ihnen das Spektakel entgehen lassen. Das rern immer noch gekonnt entspannt lächelnd, ob ich unverhohlene Grinsen in den Gesichtern und die Kom- den „Fellungeheuern“ tatsächlich vertrauen sollte. Was mentare bei meiner Ankunft ließen das zumindest stark würden sie in mir sehen? Den großen Feind? Ihr überdi- vermuten. Die Diensthunde Bak, Keks und Bingo warteten mensioniertes Spielzeug? Oder vielleicht sogar einen gut im Zwinger, ebenfalls im Schatten, auf ihren Auftritt. Auch abgehangenen Fetzen Fleisch? Na ja, die Hundeführer behaupte ich nach wie vor, ganz klar die Freude der Hun- würden die Situation schon im Griff haben, die Hunde de auf das Kommende gespürt zu haben. ihr gelerntes Verhalten schon durchziehen, beruhigte ich mich. Bis zu dem Punkt, als ich bemerkte, dass der erste Hitze oder Angstschweiß? Vierbeiner mich schon von weitem fixierte und Mario sei- Ich für meinen Part gab mich gekonnt gelassen. Lächelte nen Bingo beim sogenannten Verbellen auf mich hetzte. mein mulmiges Gefühl einfach weg und versuchte, die Ich sollte nur ruhig stehen bleiben und das in meiner Kommentare mit lässigen Sprüchen und dem Hinweis, Hand versteckte Spielzeug fallen lassen. Es würde nichts dass ich mich schon richtig auf die nächsten Stunden passieren, hatte Christian immer wieder betont. Sein freue, zu kontern. Nachdem Christian mir eine Einweisung Wort in Gottes Ohr, dachte ich nur. Und dann ging es über den Ablauf verpasst und ein paar Verhaltenstipps los, der Schäferhund rannte wie ein Verrückter auf mich gegeben hatte, ging es auch gleich zu einem Schiffscon- zu. Er war so euphorisch, dass ich mir jetzt ganz und gar tainer, ein paar Meter entfernt auf dem Parkplatz. In dem nicht mehr so sicher war. Da stehst du, suchst dir einen Metallquader lagerten die verschiedensten Utensilien für festen Stand und möchtest aber eigentlich gar nicht die Hundeausbildung – unter anderem auch die Schutzan- stehen bleiben. Du denkst nur, bleibt der jetzt tatsächlich züge. Zwar tropfte der Schweiß bereits auf dem Weg dort- stehen oder nimmt der dich einfach ein paar Meter mit? hin von meiner Stirn und floss wenige Minuten später, als Hoffentlich sieht er das Spielzeug nicht und beißt mir ich die schweren Klamotten überzog, gefühlt in Strömen, nicht die Finger ab. Bingo kam nicht vor mir zum Stehen, aber es war ja auch eine Bullenhitze. Zumindest wollte ich musste sich an mir abstützen, saß dann vor mir, den Blick glauben, dass es an der Hitze lag. starr in meine Augen gerichtet, fletschte mit den Zähnen und bellte wie ein Wilder. Er sah die Beißwurst tatsäch- Allein das Anziehen der schweren, dicken Lederhose war lich auch erst, als ich sie fallen ließ. Dann war ich von schon fast eine Wissenschaft. Für die fette, von den vielen einer Sekunde auf die andere nicht mehr interessant. Hundebissen schon arg in Mitleidenschaft gezogene Beiß- schutzjacke nahm ich die Hilfe des Kollegen gerne an.

44 Bundespolizei kompakt 05|2019 Redakteur in Gefahr

Keks, ein Malinois, also ein belgischer Schäferhund, und Bak, ein schwarzer Mischling, taten es ihrem Vorgänger gleich, nur etwas geschmeidiger. Der Drang in mir, zurück- zuweichen, aber blieb auch bei den beiden „Jungs“. Das Interesse an mir ließ auch bei den beiden erst nach, als das in meiner Hand versteckte Spielzeug zum Vorschein kam. Resümee der ersten Übung: Die „Jungs“ haben ei- nen tollen Job gemacht und ich hab mich wacker geschla- gen, meine ich auf jeden Fall.

Weglaufen bringt nichts Dann wurde es kurzzeitig für mich ein wenig entspannter. Die drei Diensthunde mussten aber jetzt richtig ran: Un- terordnung hieß die Disziplin. Es fiel ihnen bestimmt nicht leicht, um mich herumzutanzen und mich nur aus dem Augenwinkel zu beäugen und ihren Herrchen beziehungs- weise Frauchen bedingungslos zu folgen. Aber: sie waren echte Profis. Wahrscheinlich wussten sie, was noch kom- men sollte. Als nächstes durften mich die drei einer nach dem anderen über die Wiese jagen und zur Strecke bringen. Was hat das für einen Spaß gemacht! Ja, mir auch – ein bisschen.

Los ging es dieses Mal mit Keks. Katrin ließ mir einen guten Vorsprung, bevor sie ihren Liebling von der Leine ließ. Weit kam ich trotzdem nicht. Schon das Laufen mit den schweren, dicken Klamotten war nicht leicht. Der Schweiß schoss aus allen Poren. Wenn dir aber auch noch eine hechelnde „Bestie“ im Nacken sitzt, du immer wieder – nennen wir es mal – respektvoll nach hinten schaust und darauf wartest, dass dich der Einschlag treffen wird, ’macht es das nicht einfacher. Dann, ich hörte kurz noch ein Schnauben, und

Bundespolizei kompakt 05|2019 45 Redakteur in Gefahr es war geschehen. Ich war geschlagen. Nachdem Keks Ruhe zu lassen. Egal, was ich auch versuchte. Erst als mir mich aus vollem Lauf von hinten angesprungen und sich die Kraft ausging und ich – im übertragenen Sinne – die in meinen linken Arm verbissen hatte, konnte ich mich weiße Fahne hisste, war der Bursche zufrieden. Christian nicht auf den Beinen halten. Am Boden liegend, entschied dann: Bak muss noch ein zweites Mal ran. So versuchte ich sofort wieder aufzustehen. Einer hatte euphorisch wie der Vierbeiner zur zweiten Runde mit mir da aber etwas dagegen und tat alles dafür, mir eine in den Ring stieg, sah es für mich eher nach „Dürfen“ als möglichst enge Bekanntschaft mit der Grasnarbe zu nach „Müssen“ aus. Lange Rede, kurzer Sinn: Das zweite ermöglichen. Ich schaffte es dann doch irgendwie, auf Mal segelte er ohne Umwege in meinen linken Arm und die Beine zu kommen. Keks allerdings beeindruckte das hielt sich unter Knurren und Zerren mit seinen „Beißer- wenig. Er zog und zerrte und knurrte und zog und zerrte, chen“ fest, bis ich wieder die Waffen streckte. Dann saß die Beißwerkzeuge tief in den Ärmel der Jacke gebohrt, er vor mir und blickte konzentriert an mir hoch. Christian das Maul fest verschlossen. Es gab kein Entrinnen. Erst und Julia zeigten sich jetzt voll und ganz zufrieden mit als ich mich geschlagen gab, sprich ruhig stehen blieb, dem kleinen schwarzen Racker. Ich meinte, außerdem ein ließ der „Wahnsinnige“ von mir ab. selbstzufriedenes, überhebliches Blitzen in Bak‘s Augen gesehen zu haben. Die Hundeführer nennen es Arbeit … Kaum hatte ich den Angriff verdaut, sollte es auch schon Nun ja, egal. Auf in die letzte Runde. Schließlich sollte wieder von vorne losgehen. Schließlich warteten auch Bingo auch noch auf seine Kosten kommen. Kaum los- Bingo und Bak auf ihren Einsatz, auch die beiden wollten gelaufen, lag ich schon wieder am Boden, piekten mich noch arbeiten, wie es die Hundeführer bezeichneten; oder die Grashalme in die Nase. Bingo, wie sollte es anders aber Spaß haben, wie ich es interpretiert hätte. sein, ließ mich nicht in Ruhe, versuchte mich über den Also nahm ich wieder die Beine in die Hand und machte Rasen zu schleppen. Völlig außer Atem gab ich mich mich auf die aussichtslose Flucht. Wenige Sekunden nach auch dieses Mal geschlagen. meinem zweiten Blitzstart lag ich erneut auf dem Boden. Bak, nach einer mehrmonatigen Trainingspause wohl noch Magenschuber mit dem Maulkorb nicht ganz so zielsicher, segelte zuerst knapp an meinem Ein Anruf aus der Dienststelle sollte mich erlösen – linken Arm vorbei. Eine gefühlte Zehntelsekunde und eine dachte ich. Bingo, Bak, Mario und Julia mussten zurück 180-Grad-Wende später hing der schwarze Mischlings- zum Münchner Hauptbahnhof. Es wartete Arbeit auf sie. rüde genauso wie eine Klette an mir, Ich fand‘s in dem Augenblick irgendwie schade, war aber wie zuvor sein Kollege. Auch er war auch froh. durch nichts dazu zu bringen, mich in

46 Bundespolizei kompakt 05|2019 Redakteur in Gefahr

sehr beeindruckt! Nachdem ich dann die Schutzausrüs- tung endlich ablegen durfte, suchten wir uns noch ein Plätzchen im Schatten und hielten einen kleinen Plausch unter Kollegen. Natürlich wollten Christian und auch Katrin wissen, wie es für mich war. Ich war begeistert – und komplett durch.

Keks, in seinem Dienstauto, war aber noch lange nicht durch. Katrin fragte mich, ob ich noch ein wenig mit ihm spielen wolle. Erst war ich mir nicht ganz sicher, war ich doch in den letzten Stunden sein Feind, oder besser gesagt, sein Opfer. Katrins Zuversicht aber überzeugte mich, dass Keks die Arbeit hinter sich gelassen hatte und jetzt einfach einen Kumpel zum Spielen suchte. So tobten wir noch ein wenig im Schatten und kämpften übermütig um das Spielzeug. Leider hatte ich nicht die Ausdauer meines vierbeinigen Kumpels und musste, wie schon bei der Arbeit zuvor, irgendwann klein beigeben.

Auch auf dem Heimweg war meine Begeisterung noch lange nicht verflogen. Die Eindrücke der vergangenen Stunden hallten heftig nach.

Mein Fazit war und ist: RESPEKT vor den Diensthunden Leider hatte ich nicht bedacht, dass ja Keks und Katrin und ihren Hundeführern! noch da waren. Christian hatte wohl mittlerweile auch Gefallen daran gefunden, mal einen Bürobullen in seinen Am meisten faszinierte mich die Leistung der Hunde, alle Fängen zu haben, den er seinen vierbeinigen Kollegen Situationen richtig einzuschätzen, das Gelernte in einer „zum Fraß vorwerfen“ konnte. Als er mich fragte, ob ich Stresssituation sicher umzusetzen und sich durch nichts noch Bock auf ne Maulkorbübung hätte, wollte ich mir von ihrer Aufgabe ablenken zu lassen. Auch das Zusam- natürlich keine Blöße geben. Und ganz ehrlich: Ja, ich hat- menspiel zwischen Hund und Mensch in diesen Situati- te auch Bock! Bis dato war es wahnsinnig anstrengend, onen, die Fähigkeit der Kollegen, eine – ja man muss es hatte aber auch irrsinnig Spaß gemacht, mit den „Jungs“ mal sagen – lebende Waffe immer einhundert Prozent im zu arbeiten. Griff zu haben, das sucht seinesgleichen.

Die Übung sollte dann wie folgt ablaufen: Katrin – mit Liebe Hundeführer in München: Ich werde wiederkommen dem maulkorbtragenden Keks an der Seite – sollte mich und mich als Dummy zur Verfügung stellen. kontrollieren und ich sie unvermittelt angreifen. Tja, beißen konnte Keks auf keinen Fall. Was sollte schon groß pas- sieren? Der folgende Magenschuber und meine jetzt noch sichtbaren blauen Flecken sollten mich eines Besseren belehren. Was war passiert? Katrin sprach mich an, verlangte mei- nen Ausweis. Ich wiederum wollte den nicht zeigen und griff sie an. Nein; ich versuchte sie anzugreifen. Soweit kam es nämlich nicht. Kaum hatte ich den Arm zum Schlag erhoben und einen Schritt nach vorne gemacht, spürte ich schon einen heftigen Schmerz an meinem rechten Un- terarmknochen und kurz darauf einen harten Schlag in die Magengegend. Ich musste erfahren, dass ein Diensthund keine Zähne braucht. Keks hatte seine „Chefin“ ver- teidigt, indem er einfach den metallenen Maulkorb als Waffe gegen den glatzköpfigen Aggressor einsetzte. Das Lob von Katrin nahm Keks wohlwollend zur Kenntnis. Ich dachte mir: „Ja, du hast leicht reden.“

Wir sind wieder Freunde Jetzt reichte es aber wirklich. Ich war durchgeschwitzt, die Knochen taten mir weh und die ersten blauen Flecken nahmen auch schon Farbe an. Und ich war beeindruckt,

Bundespolizei kompakt 05|2019 47 Personal & Haushalt

So vielfältig die Aufgaben der Bundespolizei sind, so verschieden sind auch unsere Kollegen. Spannend, lustig, geheimnisvoll, traurig, respekteinflößend und immer besonders sind ihre Geschichten.

Ehrenamt im Ruhestand Pensionär mit Nebenjob Gerd Wilcken (65), ehemaliger Mitarbeiter der Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit der Bundespolizeidirektion Bad Bramstedt

Von Manina Puck Wer Gerd Wilcken kennt, für den ist es sicher keine Aber jeder Fall, und davon gab es schon einige, in dem Überraschung, dass er nach seinem Eintritt in den ein Rentner nicht auf den Enkeltrick oder die falschen Ruhestand alles andere als ruhig geworden ist. Im Juli Polizisten hereinfällt, ist für ihn ein Erfolg. 2014 wurde der im positivsten Sinne umtriebige Sach- bearbeiter von seinen Kollegen in Bad Bramstedt aus Zweites Ehrenamt übernommen dem Arbeitsalltag in die Pension verabschiedet. Auch Da man bekanntlich auf einem Bein nicht stehen kann, wenn er sich über die neu gewonnene Freizeit freute, hat Gerd Wilcken seit 2016 noch ein zweites Ehrenamt schwang dennoch etwas Wehmut mit. Der Abschied inne. In der Kreisverkehrswacht Bad Segeberg kümmert fiel schwer. Was sollte er jetzt mit dieser Menge an Zeit er sich um die ganz Kleinen. In Zusammenarbeit mit den anfangen? Kindertagesstätten organisiert er Verkehrssicherheits- tage. Und so dauerte es nicht lange, bis seine Frau Heidi, mit der er seit 42 Jahren verheiratet ist, ihm nahelegte, Für seine Heidi und die gemeinsamen Hobbies Reisen sich doch bitte eine Beschäftigung zu suchen. Das tat und Golf sowie für seine Leidenschaft, das Kochen, er. Im Herbst desselben Jahres sah er im Fernsehen bleibt dennoch genügend Zeit. Das ist Gerd Wilcken bei eine Reportage über einen ehrenamtlichen Sicherheits- aller Begeisterung und Engagement für seine beiden berater für Senioren (SfS), sein Interesse war geweckt. Ehrenämter besonders wichtig. Er recherchierte darüber im Internet. Hier stieß er auf eine Anzeige der Landespolizei Schleswig-Holstein, die aktuell SfS suchte. Gerd Wilcken überlegte nicht lange und bewarb sich.

Bewusstsein für bestehende Gefahren schärfen Er wurde zu einem Vorstellungsgespräch in das Lan- despolizeiamt Kiel eingeladen und überzeugte. Ein paar Monate später nahm er an der notwendigen Einweisung an der Polizeihochschule in Kiel teil. Seit Mai 2015 arbeitet Gerd Wilcken nun ehrenamtlich als SfS im west- lichen Kreis Segeberg und Norderstedt (Schleswig-Hol- stein). Seitdem hielt er rund 120 Vorträge zu Themen wie „Falsche Polizisten und Enkeltrick“ oder „Senioren im Straßenverkehr“ und nahm an Veranstaltungen der Landespolizei zu Taschendiebstahl und Einbruchs- prävention teil. Alles Themen, die in der Öffentlichkeit Der Pensionär auf einer und bei den Strafverfolgungsbehörden hochaktuell sind. Reise mit Ehefrau Heidi. Gerd Wilckens Anliegen ist es, bei den Senioren das Bewusstsein für bestehende Gefahren zu schärfen und ihnen die richtigen Verhaltensweisen zu vermitteln. Gerd Wilcken während Dass er nicht alle Teilnehmer erreicht, ist ihm bewusst. eines Einsatzes

48 Bundespolizei kompakt 05|2019 Personal & Haushalt

Mit dem Modell eines Opel Manta holte Sascha Günther seinen ersten Preis. Mittlerweile sind einige dazu gekommen.

Täuschend echte und detailverliebte Szenerien entstehen in stundenlanger Arbeit.

Der Bastler

Sascha Günther (37), Kontroll- und Streifenbeamter in der Bundespolizeidirektion Flughafen Frankfurt am Main und passionierter Bastler

Von Ronny von Bresinski Daher wohl auch meine Faszination für Vor der Garage stehen mehrere die Simson-Modelle. DDR-Mopeds. Eine blaue Schwalbe aufgebockt direkt Nach und nach habe ich dann begon- neben einem roten Star aus den nen, Modellautos umzubauen. Eines 60er Jahren. Davor ein weißer meiner ersten Projekte war der Opel Lada Samara aus den 90ern Manta aus dem Film ‚Manta, Manta‘. neben einer Simson DUO1. Dieser hat damals sogar einen Preis Die täuschend echt wirkende gewonnen. Irgendwann habe ich dann Szenerie ist es nicht. Die Mopeds angefangen, eigene Modelle und sind gerade so groß wie ein klei- Miniaturwelten zu bauen. Ganz ohne ner Finger. Erschaffen hat diese Bausatz, Vorlage oder Ähnliches. Miniaturwelt aus Kunststoff und Stunden, meine Frau würde sagen Metall Sascha Günther. Tage, verbrachte ich dafür zeitweise in meinem Keller. Sie hat glücklicher- Das Basteln an den Modellen ist pure Entspannung. „Das künstlerische Talent wurde weise etwas für mein Hobby übrig und mir wohl in die Wiege gelegt“, hält mir oft den Rücken frei.“ erzählt mir der 37-Jährige. „Mein Uropa, meine Oma, mein Vater und Als Baumaterial dient Sascha alles, kann“, erzählt mir Sascha. „Aber auch meine Schwester haben eine was der Haushalt hergibt. Während für mich ist der Weg das Ziel. sehr ausgeprägte künstlerische wir eine Büroklammer sehen, sieht er Mich entspannt das Basteln. Und Ader. Keiner macht oder machte einen Ständer für sein neues Moped. fertig ist für mich ein Modell erst, beruflich etwas daraus, aber jeder Aus einem leeren Joghurtbecher wird wenn ich nichts mehr verbessern in seiner Freizeit mit Leidenschaft. ein Schutzblech. kann.“ Als Jugendlicher habe ich viel an Mopeds geschraubt und natürlich „Oft dauert es mehrere Anläufe, bis bin ich auch gefahren. Ich hatte so ein Modell fertiggestellt ist und ich 1  Dreirädriges motorisiertes Krankenfahrzeug eine grüne Schwalbe. es mit meiner Airbrushpistole lackieren für Personen mit Gehbehinderung

Bundespolizei kompakt 05|2019 49 Portrait

Ein kurzer Blick reicht

Der Super-Recognizer Ein kurzer Blick auf Fahndungsbilder ist ausreichend.

Von Ronny von Bresinski Viele Kollegen haben Talente, die im Verborgenen liegen. Manchmal wissen sie selbst nichts davon oder aber können sie im Dienst nicht anwenden. Die Redaktion der t hat einen Kollegen getroffen, der ein beson- deres Talent an sich entdeckte, nicht lockerließ und es jetztkompak äußerst erfolgreich im täglichen Dienst einsetzt.

Ein Bahnhof zur Rushhour. Hunderte, von etwa 50 Metern sehen. Trotz ein- Bei Unterstützungseinsätzen für die ja tausende von Menschen laufen geleiteter Fahndung ging er uns durch Hamburger Zivilfahnder war es plötz- durcheinander, hetzen zu ihren Zügen, die ,Lappen‘. Am Tag darauf war ich lich wieder da. Immer wieder erkannte zum Fahrscheinautomaten oder in die nachmittags im Hamburger Haupt- er Personen aus Fahndungen. zahlreichen Geschäfte. Hier jemanden bahnhof und erkannte den Mann auf wiederzuerkennen, den man zuvor dem Südsteg. Als ich das über Funk „Da wusste ich, ich will mehr noch nie gesehen hat, ist für die durchgab, glaubte mir natürlich kei- darüber wissen“ meisten unmöglich. Es gibt aber ner. Ich hielt den Mann aber einfach „Als ich zur Zivilen Fahndungsgruppe Menschen, denen dies gelingt und an und konfrontierte ihn mit der Tat. der Bundespolizeiinspektion Ham- die diese Gabe im täglichen Dienst Er gab sie sofort zu. Ich hatte Recht burg versetzt wurde, beschäftigte Erfolg bringend einsetzen können. gehabt und erntete ein ungläubiges ich mich immer intensiver mit dem Staunen. Erklären konnte ich es mir Thema und begann zu recherchie- Anfangs glaubte mir keiner nicht.“ ren. Es musste doch irgendetwas Einer dieser Menschen ist Chris. Der dazu geben, dachte ich. Bei der Re- 43-Jährige ist Angehöriger der Zivilen Die Gabe geriet in Vergessenheit cherche stieß ich auf einen Test der Fahndungsgruppe der Bundespolizei- „In den Folgejahren hatte ich immer Diplom-Psychologin Lara Petersen inspektion Hamburg. „Ich habe schon wieder ähnliche Situationen und von der Universität Kiel. Ich habe die- vor langen Jahren gemerkt, dass ich wunderte mich, dass ich weniger Pro- sen Test sofort gemacht und mit 98 Menschen besonders gut wiederer- bleme bei Wiedererkennungen hatte von 102 und mit 40 von 40 Punkten kennen kann. Ende der 90er war ich als andere.“ Nach seiner Zeit in der abgeschlossen. Auch die University Tatbeobachter in der Beweissiche- BFHu kam Chris auf eine Flughafen- of Greenwich bietet einen Test an, rungs- und Festnahmehundertschaft dienststelle. Hier konnte er sein Talent welchen ich mittlerweile erfolgreich (BFHu) der Bundespolizeiabteilung nicht voll ausspielen, das Publikum abgeschlossen habe. Auch hier habe Uelzen. Wir observierten Tatverdäch- ist doch ein anderes und das Thema ich ein sehr gutes Ergebnis erreicht. tige im Hamburger Norden, als es in geriet für ihn wieder in Vergessenheit. Etwa zwei Prozent der Bevölkerung der Nähe zu einem Fahrzeugaufbruch besitzen diese Gabe. Viele wissen kam. Der Täter flüchtete, aber ich 2014 wechselte er in die Mobile es nicht. konnte ihn kurz aus einer Entfernung Kontroll- und Überwachungseinheit.

50 Bundespolizei kompakt 05|2019 Portrait

Mittlerweile weiß ich auch, dass die Videobilder von aktuellen Taten Gelände. Nur an der Videoanlage wäre einzelne Polizeien gezielt auf dieses wirft. Nicht stundenlang, sondern ich nicht so erfolgreich.“ Thema setzen. Beim Oktoberfest ein kurzer Blick reicht ihm. Manch- 2018 hat die Polizei München zum mal erkennt er Personen schon auf Der Einsatz in einer Zivilen Fahn- Beispiel 37 Super-Recognizer ein- den Bildern wieder. Wenn nicht, dungsgruppe an einem Hot-Spot der gesetzt. Und auch die Bundespolizei dann speichert er sie ab, über Tage, Kriminalität dürfte für den Super- hat das Feld für sich erschlossen Wochen, Monate. Und er erkennt sie Recognizer die ideale Verwendung und beabsichtigt, eine bundeswei- auch, wenn sich ihr Äußeres verän- sein. Seine Dienststelle gewährt ihm te Projektgruppe einzurichten, um dert hat. Erst kürzlich identifizierte er die notwendigen Freiheiten, um seine die Kollegen mit ihren besonderen einen Hamburger Taschendieb aus seltene Begabung einzusetzen und Fähigkeiten zu identifizieren und die Bremen. Die Tat lag über ein Jahr Erfolge zu erzielen. Und Erfolg hat derzeit noch verborgenen Ressour- zurück und der Täter war nur zufällig die Zivile Fahndungsgruppe. Allein cen zu nutzen.“ in Hamburg. im letzten Jahr ist ein Rückgang von nahezu 25 Prozent bei den Taschen- Oft reichen kleine Ausschnitte „Wenn ich draußen bin, dann bin ich diebstahlsdelikten zu verzeichnen. „Ein Super-Recognizer prägt sich in so einer Art Suchmodus. Ich kann „Das ist nicht nur mein Verdienst. Wir Personen anhand von anderen es gar nicht erklären. Aber sobald ich sind ein kleines Team von Spezialisten Merkmalen ein, als Menschen, die eine Person aus den Fahndungen und ergänzen uns super. Ich glaube, diese Begabung nicht haben. Oftmals oder Videobildern im Bahnhof sehe, das ist unser Erfolgsrezept und ich reichen mir auch Ausschnitte des dann sticht sie für mich sofort aus bin froh, dass meine Fähigkeiten hier Gesichts. Vor kurzem habe ich einen der Masse heraus. Dafür brauche ich gefragt sind.“ Kioskaufbrecher festgenommen. keine hochauflösenden Bilder. Er hatte sich bei seiner letzten Tat Zum Abschluss will ich noch ein Bild vermummt. Ich hatte ihn auch nur auf Natürlich kann ich mich auch mal irren. von Chris im Hauptbahnhof machen. den Videoaufzeichnungen gesehen Aber meine Fehlerquote ist äußerst Wir verlassen das Revier und gehen und trotzdem wiedererkannt, hier war gering. Im letzten Jahr habe ich mehr die 150 Meter zum Südsteg. Auf dem die Körpersprache sowie die Motorik als 100 Personen wiedererkannt und Weg zeigt er mir drei Männer, die er des Täters ausschlaggebend.“ lag nur zweimal daneben.“ Ausschal- zuvor wiedererkannt hat. Für mich ten kann der 43-Jährige seine Gabe unglaublich. Chris erzählt mir, dass er zu Dienst- nicht. Auch in der Freizeit hat er schon beginn immer einen Blick in die aktu- Täter wiedererkannt und festgenom- ellen polizeiinternen Fahndungen und men. „Ich brauche aber den Blick ins

Unter den unzähligen Reisenden findet der Super-Recognizer den Gesuchten.

Bundespolizei kompakt 05|2019 51 Recht & Wissen

„Polizeiflucht“ als verbotenes Autorennen anerkannt Wer im Recht nicht sattelfest ist ...

Von Dr. iur. Marc Nüßer Der 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart1 Hinter dem Ortsausgang fuhr er auf einer teils kurvenrei- hat mit Beschluss vom 4. Juli 2019 erstmals entschieden, chen und unübersichtlichen Bundesstraße – bei partieller dass auch Fälle der sogenannten Polizeiflucht unter den Geschwindigkeitsbeschränkung auf 70 km/h – mit einer neuen Straftatbestand des § 315d Strafgesetzbuch Geschwindigkeit von mindestens 160 bis 180 km/h.4 (StGB) „Verbotene Kraftfahrzeugrennen“ fallen können. Abzielen auf die relative Höchstgeschwindigkeit Nach Ansicht des Gerichts verlangt der § 315d Abs. 1 § 315d Abs. 1 StGB Nr. 3 StGB nicht die Absicht, das Fahrzeug mit der ob- jektiv höchstmöglichen Geschwindigkeit zu führen oder Wer im Straßenverkehr es bis an die technischen oder physikalischen Grenzen auszufahren. Ausreichend sei vielmehr das Abzielen auf 1. ein nicht erlaubtes Kraftfahrzeugrennen ausrichtet die relative, eine nach den Sicht-, Straßen- und Verkehrs- oder durchführt, verhältnissen oder den persönlichen Fähigkeiten des Fahrers mögliche Höchstgeschwindigkeit. Die Absicht, 2. als Kraftfahrzeugführer an einem nicht erlaubten die höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, müsse Kraftfahrzeugrennen teilnimmt oder auch nicht der Haupt- oder Alleinbeweggrund für die Fahrt sein. Vielmehr könne auch in Fällen der „Polizeiflucht“ eine 3. sich als Kraftfahrzeugführer mit nicht ange- Strafbarkeit nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB vorliegen, passter Geschwindigkeit und grob verkehrs- wenn die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen im widrig und rücksichtslos fortbewegt, um eine Einzelfall festgestellt werden können. höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Sowohl der Gesetzeswortlaut als auch die Begründung mit Geldstrafe bestraft. sprächen nach Ansicht des Gerichts dafür, auch die „Polizeiflucht“ als tatbestandsmäßig anzusehen. Schließlich sei sie von einem spezifischen Renncharakter geprägt, in Der Angeklagte war vom Amtsgericht Münsingen2 am dem sich gerade die in der Gesetzesbegründung genann- 2. Oktober 2018 wegen eines verbotenen Kraftfahrzeug- ten besonderen Risiken wiederfänden. Auch wenn das Ziel rennens gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB verurteilt wor- des Wettbewerbs in dem zu entscheidenden Sachverhalt den. Hiergegen hat er eine sogenannte Sprungrevision3 nicht im bloßen Sieg, sondern in der gelungenen Flucht zum OLG eingelegt, die jedoch als unbegründet verworfen liege. Die risikobezogene Vergleichbarkeit mit den sportli- wurde. chen Wettbewerben liege auf der Hand. Es wäre vor dem Hintergrund des Schutzzwecks der Vorschrift und der Nach den Feststellungen des Gerichts flüchtete der Ange- intendierten Abgrenzung zwischen Fahrten mit Renncha- klagte mit seinem Pkw vor einer Streifenwagenbesatzung rakter – und damit abstrakt höherem Gefährdungspotential der Landespolizei, die ihn einer Verkehrskontrolle unterzie- – und bloßen Geschwindigkeitsüberschreitungen auch hen wollte. Nach Erkennen des Streifenwagens und des nach Auffassung des Gerichts sinnwidrig, für eine Straf- Haltesignals beschleunigte der Angeklagte sein Fahrzeug, barkeit – bei identischer Fahrweise und gleicher abstrakter um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Gefährdungslage – allein danach zu differenzieren, welche Dadurch wollte er die ihn nun mit Blaulicht, Martinshorn 1 und dem Haltesignal „Stopp Polizei“ verfolgenden Polizei- OLG Stuttgart, Beschluss v. 4. Juli 2019 - 4 Rv 28 Ss 103/19, veröffentlicht am 8. August 2019. beamten abhängen. Unter Missachtung der Sicherheits- interessen anderer Verkehrsteilnehmer fuhr er mit weit 2 AG Münsingen, Urteil v. 2. Oktober 2018 - 1 Cs 26 Js 12585/18. überhöhter Geschwindigkeit durch eine geschlossene Ort- schaft. Die Gegenfahrbahn nutzend raste er zudem über 3 Ein Urteil, gegen das Berufung zulässig ist, kann statt mit Berufung direkt eine rot anzeigende Ampel und setzte seine Fahrt durch mit Revision angefochten werden. den Ort bei erlaubten 50 km/h mit mindestens 145 km/h fort. Dabei wurde er von einer Geschwindigkeitsmess- 4 OLG Stuttgart, Beschluss v. 4. Juli 2019 - 4 Rv 28 Ss 103/19, Rn. 6, anlage „geblitzt“. (juris).

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2016 2017 2018

Entzug der Kfz-Durchbrü- Entzug der Kfz-Durchbrü- Entzug der Kfz-Durchbrü- polizeilichen che (inklusive polizeilichen che (inklusive polizeilichen che (inklusive Kontrolle Versuche) Kontrolle Versuche) Kontrolle Versuche) Gesamt 148 16 161 12 188 8 davon an 127 16 139 9 147 3 der Grenze zu Polen Anteil Grenze 86% 100% 86% 75% 78% 38% Polen

Motive die Absicht, eine höchstmögliche Geschwindigkeit nens wird strafrechtlich erfasst. So können die Organisa- zu erreichen, letztlich ausgelöst haben oder begleiten.5 toren solcher Rennen bestraft werden, auch wenn dieses Hintergründe zum Straftatbestand des § 315d StGB nicht stattfindet, weil es beispielsweise durch die Polizei Mit § 315d StGB wurde 20176 ein neuer Straftatbestand verhindert werden konnte. Ferner wird auch der einzelne im Strafgesetzbuch aufgenommen. Dieser stellt sowohl Auto- oder Motorradfahrer, der grob verkehrswidrig und die Veranstaltung als auch die Teilnahme von illegalen rücksichtslos wie bei einem Rennen rast, erfasst.8 Die Autorennen unter Strafe. Damit reagiert der Gesetzgeber Kraftfahrzeuge der Täter können nach § 315f StGB einge- auf die Zunahme illegaler Kraftfahrzeugrennen, bei denen zogen werden. Zudem stellt § 315d StGB eine Katalogtat Unbeteiligte getötet oder schwer verletzt wurden.7 zur Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) dar.

5 OLG Stuttgart, Beschluss v. 4. Juli 2019 - 4 Rv 28 Ss 103/19, Rn. 9 ff., Nach § 315d StGB kann mit Geldstrafe oder Freiheitsstra- (juris). fe bis zu zwei Jahren bestraft werden, wer ein verbotenes Autorennen ausrichtet, durchführt oder daran teilnimmt. 6 BGBl I 2017 Nr. 67, S. 3532 ff. Bei Tod, schwerer Gesundheitsschädigung eines anderen Menschen oder einer Gesundheitsschädigung einer gro- 7 BT-Drs. 18/12936, S. 1. ßen Zahl von Menschen droht sogar eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren. Auch der Versuch des Ausrichtens 8 Mit der Einfügung eines § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB sollen auch diejenigen oder die versuchte Durchführung eines illegalen Autoren- Fälle erfasst werden, in denen nur ein einziges Fahrzeug objektiv und subjektiv ein Kraftfahrzeugrennen nachstellt, BT-Drs. 18/12936, S. 2.

Bundespolizei kompakt 05|2019 53 Recht & Wissen

Änderungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht Zuständigkeitserweiterung für die Bundespolizei

Von Nils Neuwald1 Das Asyl- und Aufenthaltsrecht unterliegt einem Beim Zweiten Gesetz zur Verbesserung der Registrierung stetigen Wandel. Dies führte vor allem in den letzten und des Datenaustausches zu aufenthalts- und asylrecht- Jahren zu tiefgreifenden Änderungen und Anpassun- lichen Zwecken2 , so der ausführliche Titel des Zweiten gen. Zum 9. August 2019 traten mit dem Zweiten Da- Datenaustauschverbesserungsgesetzes vom 4. August tenaustauschverbesserungsgesetz (2. DAVG) erneut 2019, handelt es sich um ein Artikelgesetz. Mit diesem wesentliche Änderungen in Kraft. t widmet Artikelgesetz wurde unter anderem das Asylgesetz (AsylG) sich in diesem Beitrag den wichtigstenkompak Neuerungen und das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) geändert. für die Bundespolizei. Neuerungen im Asylrecht Bis zum Inkrafttreten des 2. DAVG am 9. August 2019 war die Bundespolizei als Grenzbehörde nur zuständig für die Entgegennahme eines Asyl- gesuches vor der Einreise an einer Grenzüber- gangsstelle, beziehungsweise unmittelbar nach der Einreise innerhalb des 30-Kilometer- Grenzbereiches. Nach Durchführung der erkennungsdienstlichen Behandlung durch die Beamten erfolgte eine unverzügli- che Weiterleitung3 an die zuständige Aufnahmeeinrichtung (§ 18 Abs. 1 und 5 AsylG). Über den Asylantrag selbst entschied das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in seinen Außenstellen.

Außerhalb der 30 Kilometer, also im Inland, war die Bundes- polizei nicht zuständig für die Entgegennahme von Asylge- suchen und die Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnah- men. Dies oblag ausschließlich den Ausländerbehörden oder den Polizeien der Länder. Bezüglich dieser sogenannten Inlandsfälle kam es zu einer weitreichenden gesetzlichen Änderung. Neben den Polizeien der Länder und den Ausländerbehörden ist jetzt auch

1 Der Autor ist Fachkoordinator der Fachgruppe Recht und Verwaltung am Bundespolizeiaus- und -fortbildungszentrum in Neustrelitz.

2 Verkündet am 8. August 2019 im Bundesgesetzblatt, Teil 1, S. 1131 ff.

3 Über die Verpflichtung, sich unverzüglich zur Aufnahmeein- richtung zu begeben, und über die Rechtsfolgen bei einer Missachtung ist der Ausländer nach § 22 Abs. 1 AsylG zu belehren.

54 Bundespolizei kompakt 05|2019 Recht & Wissen

die Bundespolizei im Inland zuständig für die Entgegen- wurde auch hier die Altersgrenze für die Abnahme von nahme des Asylantrages und die Weiterleitung des Antrag- Fingerabdrücken ab dem 1. April 2021 auf sechs Jahre stellers an die zuständige Aufnahmeeinrichtung (§ 19 herabgesetzt.7 Derzeit ist diese Maßnahme erst ab dem Abs. 1 AsylG). Ferner ist die Bundespolizei verpflichtet, vierzehnten Lebensjahr zulässig. erkennungsdienstliche Maßnahmen beim Betroffenen durchzuführen (§ 19 Abs. 2 in Verbindung mit [i.V.m.] § 16 Abschaffung der Fundpapier-Datenbank Abs. 1 AsylG i.V.m. Artikel 9 Abs. 1 Eurodac-Verordnung). Im Jahr 2005 wurde die Fundpapier-Datenbank einge- Nach § 16 Abs. 1 Satz 2 AsylG gehören hierzu die Ferti- führt. Ziel war es, Fundpapiere passlosen Ausländern gung von Lichtbildern und Fingerabdrücken. Die Ände- zuzuordnen. Bis zum Oktober 2018 wurden zwar 78 647 rung, Fingerabdrücke auch bei Kindern ab sechs Jahren Dokumente erfasst, allerdings konnte kein einziges einem zu nehmen, tritt zum 1. April 2021 in Kraft. Deshalb passlosen Ausländer zugeordnet werden. Ursächlich dürfen bei unter 14-Jährigen weiterhin nur Lichtbilder an- hierfür war vor allem die schlechte Lichtbildqualität der gefertigt werden (§ 16 Abs. 1 Satz 2 AsylG). Hintergrund Identitätsdokumente für einen gesichtsbiometrischen Ab- der erst ab 2021 geltenden Absenkung der Altersgrenze gleich.8 Die Abschaffung der Datenbank durch Streichung ist die geplante Reform der Eurodac-Verordnung. Diese der §§ 49a und 49b AufenthG war somit eine logische sieht eine einheitliche Anpassung der Altersgrenze für alle Konsequenz. Mitgliedstaaten vor.4 Ferner sind neben der erkennungs- dienstlichen Behandlung etwaige Identitätsdokumente und Bundespolizei ist eine zu konsultierende Sicherheits- sonstige wichtige Unterlagen5 in Verwahrung zu nehmen behörde oder die Person danach zu durchsuchen, um diese an- Bisher war die Bundespolizei als zu konsultierende Sicher- schließend an die Aufnahmeeinrichtung weiterzuleiten heitsbehörde im AufenthG nicht namentlich benannt. Dies (§ 21 Abs. 1 i.V.m. § 15 Abs. 2 und 4 AsylG).6 führte dazu, dass die Erkenntnisse der Bundespolizei gar nicht oder nur vereinzelt durch andere Behörden genutzt Neuerungen im Aufenthaltsgesetz wurden. Durch die explizite Aufnahme der Bundespolizei Wurde ein Ausländer im Inland durch die Bundespolizei in § 73 AufenthG soll sich dies in Zukunft ändern. kontrolliert und es stellte sich heraus, dass er in Deutsch- 4 Vgl. BT-Drs. 19/8752 (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 2. DAVG) land unerlaubt eingereist ist oder sich aufhält, so waren vom 27. März 2019, S. 75 und 78. bisher die Landespolizeien und die Ausländerbehörden für die erkennungsdienstliche Behandlung nach dem 5 Zum Beispiel Pässe, Visa, Flugscheine, Unterlagen über den Reiseweg AufenthG zuständig. Die Bundespolizei hatte diese Befug- etc. gemäß § 15 Abs. 3 AsylG. nis bisher lediglich im Rahmen der Kontrolle des grenz- überschreitenden Verkehrs. 6 Siehe BRAS 120, Abschnitt 7 bezüglich des konkreten (bundespolizei- internen) Bearbeitungsverfahrens. Diese unglückliche Regelung wurde geändert. Durch eine Anpassung des § 71 Abs. 4 AufenthG ist die Bundes- 7 Vgl. § 49 Abs. 6 Satz 2, Abs. 8 Satz 3 und Abs. 9 Satz 3 AufenthG. polizei jetzt auch im Inland befugt, erkennungsdienstliche 8 Maßnahmen bei unerlaubt eingereisten, beziehungsweise Vgl. BT-Drs. 19/8752 (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 2. DAVG) vom 27. März 2019, S. 68. aufhältigen Personen durchzuführen. Anschließend erfolgt die Übergabe an die zuständige Landespolizei oder Aus- länderbehörde. Die erkennungsdienstliche Behandlung selbst richtet sich spezialgesetzlich nach § 49 AufenthG. Sollte die unerlaubte Einreise nach Deutschland über eine EU-Außengrenze (sogenannte Dublin-Außengrenze) erfolgt sein, ist ergänzend eine erkennungsdienstliche Behandlung nach Artikel 14 Abs. 1 Eurodac-Verordnung vorzunehmen. Wie bei minderjährigen Asylsuchenden

Bundespolizei kompakt 05|2019 55 Zu guter Letzt

Moderator und Co-Moderator Blick in den Übertragungswagen

Live-Übertragung der Kontrolle

Die Geschichte hinter „Bundespolizei The Making-of Live – Großkontrolle an der Grenze“ Von Sebastian Brandt „Guck mal. Neue Idee!“, mit diesem Satz meldete sich Thomas Heise, Leiter Investigation von SPIEGEL TV, Anfang des Jahres beim Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums, Dr. Dieter Romann. Aus vorherigen Vor- haben kannte und vertraute man sich. Aber um was ging es jetzt?

Es sollte eine Reportage über die weitere Faktoren, die für oder gegen Stichwort: Datenschutzgrundver- Bundespolizei werden. Nichts Un- solch ein Projekt sprachen, wurden ordnung (DSGVO). Die Irritationen gewöhnliches, möchte man meinen. zusammengetragen, um letztendlich konnten ausgeräumt werden, sodass Doch diesmal sollte das Gewöhnli- eine vernünftige Entscheidungs- es pünktlich am 18. September che live und in Farbe im deutschen grundlage zu schaffen. Das Ergebnis 2019 um 20:15 Uhr auf Kabel Eins Fernsehen zur besten Sendezeit ist bekannt. dann endlich heißen konnte: „Bun- ausgestrahlt werden. Das war wiede- despolizei Live – Großkontrolle an rum etwas völlig Anderes und sorgte Der Auftrag zur Umsetzung erging der Grenze“. Rund 60 Kameraleute, für viele kontroverse Diskussionen. an die Bundespolizeidirektion Pirna. Techniker und Regieassistenten Funktioniert alles wie geplant oder Es folgten erste Abstimmungen mit der Produktionsfirma SPIEGEL TV gibt es unvorhergesehene Ereig- SPIEGEL TV und im Mai 2019 der begleiteten etwa 200 Bundespolizis- nisse, die eine Sendung völlig aus erste Probelauf. Spätestens danach ten bei ihrer Arbeit in einer Groß- dem Ruder laufen lassen? Haben die war allen Beteiligten klar, was dieses kontrollstelle auf einem Rastplatz an Moderatoren oder andere Teilneh- Projekt für eine Dimension hat und der Autobahn 4 an der polnischen mer des Projektes vielleicht einen dass alle bis zur Premiere noch Grenze. Am Ende schauten rund „Blackout“, der zu peinlichen Pausen einige „Hausaufgaben“ erledigen 900 000 Zuschauer die Sendung. führt? Musste unser Co-Moderator mussten. Und dann wurde es am Tag Fazit: Mission erfolgreich beendet, doch mehr als 2,5 Stunden Antwor- der Sendung nochmal richtig aufre- Wiederholung nicht ausgeschlossen. ten liefern zu Fragen, die er noch gend, stand auf einmal das gesamte nicht kannte. Diese und noch viele Projekt auf dem Spiel.

56 Bundespolizei kompakt 05|2019 Leserbriefe

Leserbriefe

Hallo liebes Redaktionsteam der Bundespolizei kompakt, oftmals sind Besuche bei der Verwandtschaft, allen voran Beim weiteren Blättern in der Zeitschrift stieß ich dann auf bei den Schwiegereltern, nicht unbedingt das, worüber der Seite 56 auf eine Anzeige des Bundesgrenzschutzes man Spannendes berichten kann. Bei einem Besuch mei- – dem Vorläufer der heutigen Bundespolizei. Eingerahmt ner Schwiegereltern fiel mein Blick auf eine Ausgabe der unter der Anzeige, in der für einen französischen Nasen- Zeitschrift BRAVO, die auf dem Couchtisch lag. ausrichter geworben wurde – welcher für eine schöne Nase sorgen sollte – und dem Kreuzworträtzel, warb der Eigentlich noch nichts Besonderes, aber diese Ausgabe Bundesgrenzschutz um Wehrpflichtige, die ihren Dienst war im März 1966 erschienen. Neugierig geworden, blät- beim Bundesgrenzschutz ableisten wollten. Auch damals terte ich die Zeitschrift durch, zumal die Ausgabe ja über wurde schon von Bundespolizeivollzugsbeamten gespro- 50 Jahre alt war. Vor allem interessierte mich, über wen chen. denn damals so in einer Zeitschrift für Jugendliche berich- tet wurde. So wurde zum Beispiel über Inge Meysel und Ich habe ein paar Schnappschüsse gemacht und Hans-Joachim Kulenkampff berichtet, die den silbernen beigefügt. Otto gewonnen hatten. Diese beiden gehörten in meiner Jugend schon nicht mehr zu den Idolen, die in der BRAVO Mit freundlichen Grüßen standen. Jens Mudder Auch über den Musikgeschmack der damaligen Jugend lässt sich streiten. So stand Chris Andrews mit seinem Song „Yesterday Man“ auf Platz 1 der deutschen Charts. Bereits auf Platz 2 befand sich Roy Black mit seinem Lied „Ganz in Weiß“. Und das noch vor den Beatles, die Platz 3 und 4 belegten.

Bundespolizei kompakt 05|2019 57 Leserbriefe

Hallo Redaktion, seit Mario Basler wissen wir, dass jede Seite zwei Medail- Leider ist es leichter, Korpsgeist zu diffamieren, als sich len hat. In der letzten Ausgabe der t wettert ein wissenschaftlich damit auseinanderzusetzen. Tatsächlich anonymer Leserbriefschreiber widerkompak den Korpsgeist und gibt es für den Bereich der Polizeien nur die Abhandlungen artikuliert seine Befürchtungen, dass die Organisation von des Hamburger Polizeiwissenschaftlers Rafal Behr, der einer uniformierten Subkultur namens Raubein unterwan- mehrere Fachartikel zu diesem Thema veröffentlicht hat. dert werde. Dabei bezieht er sich auf eine Kolumne, die er Nach Behr ist Korpsgeist ein funktionaler Integrationsme- als „sehr verständlich geschrieben“ bewertet. Offensicht- chanismus, durch den man sich jemandem gegenüber zur lich hat eine verständliche Schreibe aber nicht immer den Solidarität verpflichtet fühlt, und aus dieser Solidarität aktive gewünschten Erfolg, dass sie tatsächlich auch verstanden Unterstützungsleistungen resultieren. Wer sich seriös mit wird. Entgegen den Unterstellungen des Anonymus hat allen Facetten des Korpsgeistes auseinandersetzen will, der Kolumnist nämlich mit versteckter Provokation und muss einen Ausflug in die Sozialwissenschaften unterneh- feiner Ironie ein Plädoyer für den Korpsgeist formuliert und men und sich mit sozialen Konstrukten wie Zugehörigkeits- klargestellt, dass das facettenreiche Aufgabenfeld eines gefühl, Identifikation, Berufsgruppenidentität, professionelle Polizeibeamten jeglichen Versuchen widersteht, diesen in Solidarität, Gruppen- oder Binnenkohäsion, Ingroup/Out- eine bestimmte Schublade zu stecken. group, Vertrauenskultur, Corporate Identity und Ähnliches beschäftigen. Die Gründe für seine abweichende Auffassung liefert der Leserbriefschreiber gleich frei Haus. Wer seit vielen Jahren Es muss wohl Gründe dafür geben, dass der Präsident des keinen einzigen Artikel in der t gelesen hat und Bundespolizeipräsidiums Medienberichten zufolge in einem ausnahmslos im Einzeldienst kompakverwandt wurde, hat wohl Interview erklärte, dass nach seiner Kenntnis die Bundes nicht zur Kenntnis genommen, dass der Polizeibeamte polizei die einzige Organisation sei, die eine Seele habe. neuer Prägung nicht ausschließlich Empathie für Personen Auch muss es Gründe dafür geben, dass bei der Veranstal- in Not zelebriert, sondern sich in der Ausbildung und im tung „Wir in der Bundespolizei“ im Jahre 2016 unter Beteili- Einsatz auch der Bewältigung lebensbedrohlicher Lagen gung aller (!) Laufbahngruppen bei Bouranis Ohrwurm stellen muss. Die Konfrontation mit Abneigung und Gewalt „Auf uns“ Gänsehautfeeling aufkam und der Präsident in ist – wie der Kolumnist bildhaft ausführte – ohnehin schon seiner Rede ausdrücklich eine Textpassage zitierte: „Hier tägliches Brot, selbst bei Routineeinsätzen. Der Verfasser geht jeder für jeden durchs Feuer. Im Regen stehen wir des Leserbriefes wird auch nicht zur Kenntnis genommen niemals allein. Und so lange unsere Herzen uns steuern, haben, dass Polizeibeamte im Auslandseinsatz oder im wird das auch immer so sein.“ Wer das achselzuckend als wochenlangen Patrouillenbooteinsatz vor Samos nicht das bloße Führungslyrik abtut, der sei auf Goethe im Faust- Privileg haben, abends im Kreis der Familie Abstand vom Fragment verwiesen: Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s Dienst zu gewinnen. Wer noch nie bei einem Einsatz im nicht erjagen.“ Team besonderen Gefährdungen ausgesetzt war, wird auch nicht verstehen, dass die Berufung auf ein „geordnetes Bleibt für den interessierten Leser zum Schluss nur noch soziales Umfeld“ nicht das blinde Vertrauen in die Soli- die Frage, warum der Schreiber nicht das Visier hochklapp- darität des anderen ersetzt, das schnelles Handeln ohne te und seinen Namen nannte? Kam die Entscheidung von Rückversicherung in Ausnahmesituationen erst ermöglicht. der Redaktion, erhebt sich die Frage, warum derartige Und wer sich nicht mit den Phänomenen einer Polizei im anonyme Schreiben überhaupt veröffentlicht werden? War Wandel beschäftigt, wird nicht verstehen, dass die Gegen- es der Wunsch des Schreibers, ergibt sich die Frage, ob überstellung von „Bürger in Uniform“ und „paramilitärischem er wenigstens das Leitbild gelesen hat? Dort heißt es nicht Kämpfer“ aus der ideologischen Asservatenkammer des ohne Hintersinn: „Offenheit, Ehrlichkeit und gegenseitige vorigen Jahrhunderts stammt und von der Entwicklung Akzeptanz prägen unser Miteinander.“ längst überholt ist. Bernd Walter Erstaunlich ist nur, dass der Verfasser bei aller Kritikfreude offensichtlich unreflektiert die Positionen der Gegner des Korpsgeistes übernimmt, die sich insbesondere aus poli- zeikritischen Kreisen und aus der Zunft der linksorientierten Antwort der Redaktion: Kriminologen rekrutieren. Bei ihnen ist Korpsgeist grund- sätzlich pejorativ konnotiert, auf Deutsch: Er hat einen üblen Sehr geehrter Herr Walter, Beigeschmack. Bezeichnenderweise wird Korpsgeist dann auch nur in Zusammenhang mit Polizeiskandalen zitiert und aus persönlichen Gründen wurde seitens des Schreibers mit dem üblichen Denunziationsvokabular wir „Kumpanei“, auf die Namensnennung verzichtet. „Mauer des Schweigens“, „Code of Silence“, „Schwarze Schafe“ oder „kollektive Abschottung“ belegt. Ihre Redaktion kompakt

58 Bundespolizei kompakt 05|2019 Leserbriefe

Liebe t-Redaktion, kompak Zeitschrift der Bundespolizei 04|2019

46. Jahrgang ISSN 2190-6718 eine Sonderausgabe zu einem speziellen The- Ausgabe als Rückblick zu erhalten – ohne ma, wie ein Jahresrückblick, ist immer eine Her- durch andere Themen abzulenken, vielleicht ausforderung, bietet aber auch die Möglichkeit, sogar in einem anderen und einmaligen Design. frischen Wind in bestehende Strukturen und Ab- läufe zu bringen. Umso mehr hätte ich mir dies Insbesondere gerade dann, wenn man im Edito- auch bei der Ausgabe 04|2019 gewünscht. rial die Ausgabe als Jubiläumsausgabe tituliert.

Damals und heute 10 Jahre Bundespolizei kompakt Grenzüberschreitendes Polizeiteam Den Kriminellen auf der Spur 26 Und wieder ist Derbytag Fußballeinsatz im Ruhrpott 29 Ihr berichtet über 10 Jahre t, 60 Ausga- Ich bin mir sicher, von den 962 restlichen Der Herrscher über die Kaiserbäder Ein Polizeihauptkommissar auf Abwegen 44 ben und insgesamt 972 Beiträge.kompak Was für eine Beiträgen hätte man noch mehr als den zweiten Zeitspanne, was für eine Themenvielfalt, was für Teil der Zeitschrift füllen können. Aber vielleicht ein Potential. Aber leider findet dieser Rückblick gibt es dies ja bei der Ausgabe „Rückblick auf nach nicht einmal der Hälfte der Zeitschrift ein ein Vierteljahrhundert“. jähes Ende. Viele Grüße, Auch wenn 10 Jahre t mit 10 Artikeln als Kombination schwungvollkompak klingen und sehr Sebastian Grafe naheliegen, hätte ich es umso spannender ge- funden, bei so einer Gelegenheit eine gesamte

Antwort der Redaktion:

Sehr geehrter Herr Grafe, das Team der t hatte sich bewusst gegen eine komplette Jubiläumsausgabe ausgesprochen.kompak Wir gucken nach vorne und nicht zurück. Ihre Redaktion kompakt

Impressum

Herausgeber Intranet Bundespolizei Wir danken allen Beteiligten für ihre Mitarbeit. Bundespolizeipräsidium infoportal.polizei.bund.de/kompakt Für den Inhalt der Beiträge sind grundsätzlich die Verfasser verantwortlich. Redaktion Internet Alle Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Helvi Abs (V.i.S.d.P.), Enrico Thomschke, bundespolizei.de/kompakt Nachdruck und Vervielfältigung außerhalb der Achim Berkenkötter, Ronny von Bresinski, Bundespolizei nur mit ausdrücklicher Zustimmung Marcus Büchner, Benjamin Fritsche, Layout & Satz des Herausgebers. Dies gilt auch für die Aufnah- Dennis Goldbeck, Judith Haase, Philipp Herms, Barbara Blohm, Jennifer Khlief, Sarah Viebach, me in elektronische Datenbanken und die Verviel- Fabian Hüppe, Bianca Jurgo, Christian Köglmeier, Referat 66 – Medien fältigung auf Datenträgern. Die Redaktion behält Chris Kurpiers, Nathalie Lumpé, Michael Moser, sich vor, Beiträge und Leserbriefe zu kürzen. Druck Manina Puck, Daniela Scholz, Alexandra Stolze, Firma Appel & Klinger Torsten Tamm Redaktionsschluss dieser Ausgabe Druck und Medien GmbH 13. August 2019 96277 Schneckenlohe Anschrift Heinrich-Mann-Allee 103 Informationen zum behördlichen Datenschutz Auflage 14473 Potsdam finden Sie unter: bundespolizei.de/datenschutz 11 000

Telefon/Fax Bildnachweis: alle Bilder Bundespolizei, außer: Erscheinung S. 2 (o. M.), S. 22 J. Denzel – S. Kugler; 0331 97997-9420/-9409 sechsmal jährlich S. 2 (u. M.), S. 28/29 picture alliance/Christophe Gateau/dpa; S. 10 (o. l.) Thilo Wierzock; E-Mail Bundespolizei-Stiftung S. 20 (o. l., M.) Bernd Kahnert; S. 30-35 Frank [email protected] Informationen unter www.bundespolizei.de Schneider; S. 48 (u.) Bernd-Michael Domberg; S. 50/51 Rüdiger Gärtner

Bundespolizei kompakt 05|2019 59 Die Tätowierung eines Streifenbeamten aus einer

bayrischen Bundespolizeiinspektion zeugt von einer

hundertprozentigen Identifizierung mit dem Beruf.

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