ArchiveArchive in Thüringen

Nachlässe in Archiven

Sonderheft 2004 Inhaltsverzeichnis

Vorwort ...... 3

Bettina Fischer Über das Sammeln von Nachlässen in Archiven ...... 4 Jochen Golz Das Goethe- und Schiller-Archiv – Geschichte und Aufgaben ...... 8 Gerhard Schmid Ordnung und Erschließung von Nachlässen im Literaturarchiv ...... 15 Uta Grießbach/Manfred Koltes Vom Findbuch zur Datenbank. Die Weimarer Lösung für eine integrierte Archivaliensoftware . . 19 Marion Kazemi Gelehrten-Nachlässe im Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft und ihre Bedeutung für die Forschung ...... 24 Irina Lucke-Kaminiarz Musiker-Nachlässe im Thüringischen Landesmusikarchiv im Archiv der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar...... 30 Irene Streul Nachlässe Online: Die „Zentrale Datenbank Nachlässe“ im Bundesarchiv ...... 34 Jürgen Wetzel Bedeutung der Überlieferung von Landes- und Kommunalpolitikern im Landesarchiv . . . 38 Norbert Moczarski Probleme und Erfahrungen bei der Erfassung und Erwerbung von Nachlässen aus der Zeit 1945–1990 in Südthüringen ...... 45 Andrea Walther Bedeutung von Nachlässen für die zeitgeschichtliche Forschung ...... 50 Brigitte Streich Privates Schriftgut als Bestandsergänzung ...... 52 Werner Theuer Erwerbungspraxis und Möglichkeiten der Auswertung von privaten Unterlagen der DDR-Opposition in den Archiven der Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., Berlin ...... 59 Grit Ulrich Die Sicherung der Nachlässe aus den Archiven der Parteien und Organisationen der DDR in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv . . . . . 65 Walter Bayer Die Übernahme von Nachlässen durch Archive – Rechtsprobleme und vertragliche Gestaltungsmöglichkeiten...... 70 Birgit Richter Familienarchive in den Rittergutsbeständen der Staatsarchive...... 75 Wolfgang Wimmer Übernahme von Nachlässen in einem Unternehmensarchiv am Beispiel des Zeiss-Sippenarchives...... 79 Katrin Beger 53. Thüringischer Archivtag am 16. Juni 2004 in Arnstadt, Thema der Fachtagung „Archive und Jubiläen – Organisation, Finanzen, Kooperationen“ ...... 84 Tobias Kaiser Archive und Jubiläen – das 450jährige Jubiläum der Jenaer Universität und die bis 2008 neu zu schreibende Universitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts ...... 85 Cornelia Hobohm Wiederbelebung einer Autorin – Ein Ringen um das Werk der E. Marlitt...... 88 Tilde Bayer 120 Jahre SCHOTT in Jena – Beiträge eines Unternehmensarchivs zur Ausgestaltung eines Firmenjubiläums...... 94

Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

Vorwort Nach der durchweg positiven Resonanz auf den licher Einrichtungen Interesse wecken. Darüber im vergangenen Jahr vorgelegten Tagungsband hinaus nutzen auch Kolleginnen und Kollegen aus „Sammlungen in Archiven“ haben sich die Archiv- anderen Bundesländern die Gelegenheit zur Teil- beratungsstelle Thüringen sowie der Vorstand nahme an der Veranstaltung und zum länderüber- des Thüringer Archivarverbandes entschlossen, greifenden fachlichen Austausch. Der Thüringi- auch in diesem Jahr die bei der Frühjahrsweiter- sche Archivtag stand unter dem Thema „Archive bildung vom 3. bis 5. Mai in Eisenach sowie beim und Jubiläen“. Die Zahl von 108 Teilnehmerinnen 53. Thüringer Archivtag am 16. Juni in Arnstadt und Teilnehmern zeigt auch hier das besondere gehaltenen Referate in Auswahl zu publizieren. Interesse, sich mit Theorie und Praxis der Erinne- rungskultur vertraut zu machen. Ausführliche Be- Der Vermittlung und Vertiefung fachlicher Kennt- richte zu beiden Veranstaltungen sind im Mittei- nisse durch Aus- und Fortbildung kommt immer lungsblatt Archive in Thüringen, Heft 2/2004 ver- mehr Bedeutung zu. Ziel beider Veranstaltungen öffentlicht. war es, die Effizienz der archivischen Aufgabener- füllung durch die umfassende Beleuchtung eines Die Herausgeber des vorliegenden Tagungs- speziellen fachlichen Gegenstandes, seiner ein- bandes bedanken sich bei allen Referentinnen gehenden Diskussion sowie dem Vorstellen neuer und Referenten, die an der inhaltlichen Gestal- Erkenntnisse, Erfahrungen und Lösungsansätze zu tung der Weiterbildung und des Archivtages mit- erhöhen. Die Archivberatungsstelle konnte mit wirkten und die ihre Vortragsmanuskripte – zu- der Thematik „Nachlässe in Archiven“ bei über meist in überarbeiteter Form – zur Verfügung 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus Thürin- stellten. ger staatlichen, kommunalen, kirchlichen und Wirtschaftsarchiven sowie Archiven wissenschaft- Bettina Fischer

Sonderheft 2004 3 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

Über das Sammeln von Nachlässen in Archiven Üblicherweise verwahrt ein Archiv die amtliche Ein Nachlass enthält in der Regel amtliche Perso- Überlieferung seines Archivträgers. Dafür besteht nalpapiere, privat-geschäftliche Unterlagen, Ma- eine eindeutige Zuständigkeit. Schriftgut aus den nuskripte und Arbeitsmaterial, Briefe und Tage- Registraturen der Ministerien, Landesämter, Kom- bücher und u. U. auch dienstliches Schriftgut. Wir munalverwaltungen etc. wird bewertet und über- finden es in Form von Schriftgut und anderen In- nommen, geordnet und verzeichnet und zur Benut- formationsträgern wie Fotos, Filme, Tonträger so- zung bereitgestellt. Aus verschiedenen Gründen wie als sachgegenständliche Sammlungen und kann sich das Archiv allein mit dieser Überlieferung Erinnerungsstücke3. nicht begnügen. Die Unterlagen zeigen eine ein- seitig amtliche Sicht, ihre Aussagekraft ist manch- Einen Nachlass kann man auch als „persönlichen mal nicht gerade umwerfend. In der Gesellschaft Bestand“, „Bestand persönlicher Herkunft“ oder wirken jedoch unterschiedliche Gruppierungen, „persönliches Archiv“ bezeichnen4. Initiativen, Einzelpersonen. Daher lohnt es sich, für die Überlieferungsbildung auch den nichtamtli- Der Wert eines Nachlasses wird gemessen an sei- chen Bereich ins Auge zu fassen und Sammlungen ner Aussagekraft hinsichtlich anzulegen: Sammlungen von Zeitungen und a) der persönlichen Entwicklung und der gesell- Drucksachen, Plakaten und Flugschriften, Bilder- schaftlichen Bedeutung des Nachlassers selbst sammlungen, Tonträger, Filme, Videos und Nach- b) seiner Kontaktpersonen oder lässe. Dies ist insbesondere dann von Bedeutung, c) des von ihm vertretenen Aufgabengebietes wenn die amtliche Überlieferung Lücken aufweist, (Politik, Kunst, Wissenschaft u.a.)5. etwa wie dies in vielen kommunalen Einrichtungen für die Zeit zwischen 1933 und 1945 und darüber Nachlässe müssen ein bestimmtes quantitatives hinaus in der unmittelbaren Nachkriegszeit aber Mindestmaß der Überlieferung erreichen. Die auch in der Wendezeit 1989/90 der Fall ist. Handhabung ist in den einzelnen Archiven unter- schiedlich und immer von der Bedeutung des Die Legitimation zum Sammeln erhalten die Ar- Nachlassers abhängig. Einzelstücke und kleinere chivarinnen und Archivare aus dem Thüringer Ar- Überlieferungen sind aber eher in die Autogra- chivgesetz, § 2 Abs. 2: „Archivwürdig sind Unter- phensammlung des Archivs einzugliedern. lagen, die aufgrund ihres rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wertes 2. Nachlass-Typen als Quellen für die Erforschung und das Verständ- Man unterscheidet verschiedene Typen von nis von Geschichte und Gegenwart dienen…“. Nachlässen: Des weiteren wird in § 7 Abs. 1, der sich den Auf- gaben der Archive widmet, auf die Möglichkeit 1. Der Nachlass in seiner reinen Form beinhaltet des Erwerbs von nichtamtlichem Archivgut und nur Dokumente einer Provenienz. Er ist die Re- sonstigem Dokumentationsmaterial hingewiesen, gistratur einer natürlichen Person und hat kei- so weit daran ein besonderes öffentliches Inter- nerlei Zusätze. Er wird als echter Nachlass be- esse besteht1. zeichnet. 2. Daneben gibt es den angereicherten Nach- 1. Begriffsbestimmung lass. Die Anreicherung besteht in Fremdprove- Nachlässe bedeutender Persönlichkeiten sind nienzen – Materialien, die in irgendeiner Hin- wertvolle historische Quellen insbesondere dann, sicht den Nachlasser betreffen oder aus seiner wenn die Wechselbeziehungen zwischen den Tätigkeit herrühren und abgesandten Briefen handelnden geschichtlichen Persönlichkeiten und oder von den Erben zusammengetragene Un- den Zeitströmungen, denen sie unterlagen oder terlagen über seine Lebensgeschichte. Im Hin- die sie hervorriefen, mit ihnen erforscht werden blick auf Auswertung und Benutzung ist es oft- können. Nachlässe sind in Privateigentum ent- mals sinnvoll, bei der archivischen Bearbei- standen. Sie können von den Archiven als Depo- tung dem Nachlass noch bestimmte Unterla- situm – also unter Eigentumsvorbehalt – bzw. als gen als Anreicherung beizufügen (Materialien Schenkung oder auch käuflich erworben werden, über den Nachlasser, Nekrologe etc.). Dies ist was zur Eigentumsübertragung führt. m. E. legitim. Der angereicherte Nachlass ent- hält einen bedeutenden echten Nachlasskern. Ein Nachlass ist kein zufällig entstandenes Sam- Ist dies nicht der Fall, spricht man vom melsurium. Ein Nachlass ist die nachgelassene 3. unechten Nachlass. Er stellt eine Sammlung private Registratur einer Persönlichkeit. Für die von Materialien dar, die sich auf den Verstor- Bestandsbildung gilt also grundsätzlich das Pro- benen beziehen. Unechte Nachlässe sind häu- venienzprinzip2. fig in Bibliotheken anzutreffen.

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4. Einen weiteren Nachlasstyp bilden die Misch- 3.2. Innere Ordnung nachlässe des 17. und 18. Jahrhunderts. Als Es ist wohl eher selten, dass in einem Nachlass das Provenienzprinzip noch unbekannt war, eine Registraturordnung ermittelt werden kann. wurden Personalpertinenzen gebildet, d. h. Überwiegend wird es der Fall sein, dass er völlig alle eine Person betreffenden Unterlagen wur- ungeordnet ins Archiv gelangt und ein Ordnungs- den zusammengetragen und in Adels-, Guts- zustand erst hergestellt werden muss. Dabei und Familienarchiven vereinigt6. Auch heute sollte behutsam vorgegangen werden. Das Vor- können Nachlässe mehrerer verwandtschaft- gefundene hängt ab von den Gewohnheiten des lich miteinander verbundener Personen zu ei- Nachlassers, d. h. von der Art, wie er arbeitete nem Bestand zusammengefasst werden. Die und in welchem Umfang er sich auf schriftliche Tradition der Familienarchive wird z. B. bei u. a. Unterlagen stützte, des weiteren, wie viel er Persönlichkeiten der Wirtschaft gepflegt. des Aufhebens wert fand. Es gibt Personen, die 5. Besteht ein Nachlass fast ausschließlich aus alles ordnen und aufbewahren und andererseits Sammlungsgut des Nachlassers, während die solche, die fast ohne Apparat schaffen und nach persönlichen Unterlagen völlig zurücktreten, Abschluss eines Werkes alle Vorstudien, Entwürfe handelt es sich um einen Spezialnachlass. Dies u. ä. vernichten10. Natürlich muss auch einkalku- ist z. B. bei Fotonachlässen der Fall. liert werden, dass die Erben vor der Übergabe 6. Nachlässe können auch in Torso-Form auftre- der Materialien an das Archiv in die Überliefe- ten – als Teilnachlässe oder Nachlass-Splitter. rungsbildung eingegriffen haben. Dies sind unterschiedliche Materialien einer Provenienz, deren Substanz eine gewisse Viel- Die innere Ordnung eines Nachlass-Bestandes falt aufweist, z. B. mehrere Manuskripte eines kann in Anlehnung an verschiedene Ordnungs- Verfassers oder Briefe mehrerer Schreiber an modelle vorgenommen werden. Alle Modelle ge- eine Person. Ein Nachlass-Splitter muss als sol- hen bei ihrer Einteilung von den Funktionen des cher gekennzeichnet werden. Einzelstücke da- Nachlassers aus. Der Nachlass wird als „… das Er- gegen gelten nicht als Nachlass7. gebnis der schöpferischen, sozialen, amtlichen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen… Tätigkeit ei- In den Archiven finden sich größtenteils echte ner Einzelperson…“11 angesehen. und angereicherte Nachlässe. Sie können ent- sprechend der Tätigkeit des Verstorbenen unter- Ordnungsmodelle teilt werden in Nachlässe von Künstlern und Pu- Grundsätzlich bewährt hat sich die Dreiteilung blizisten, von Politikern und Militärs, Wissen- (einfache Klassifikation)12: schaftlern sowie von bedeutenden Persönlichkei- – Biografie ten der Wirtschaft. – Berufliche Tätigkeit und öffentliches Wirken – Private Korrespondenzen 3. Bestandsbildung und innere Ordnung ergänzt durch Sammlungen sowie provenienz- 3.1. Bestandsbildung fremde Dokumentationen über den Nachlasser. Für die Bestandsbildung gilt grundsätzlich das Pro- Die Nachlass-Klassifikation von Axel von Har- venienzprinzip. Neben juristischen Personen und nack13 sieht eine Unterteilung in acht Hauptgrup- deren Einrichtungen gilt auch jede natürliche Per- pen vor: son als Bestandsbildner. „Der Nachlass stellt wie 1. Personalpapiere jedes Registraturgebilde eine … Einheit dar.“8 2. Korrespondenz (empfangene Briefe und Kon- Diese Einheit muss gewahrt bleiben und in ihrem zepte der Antworten des Nachlassers) inhaltlichen Zusammenhang verdeutlicht werden. 3. Konvolute über einzelne Vorgänge im Leben Häufig anders gehandhabt wurde der Umgang mit des Nachlassers Nachlassmaterial in Bibliotheken. Dort wurden 4. Manuskripte Provenienzen aufgelöst, die Unterlagen formal 5. Handapparate oder Materialsammlungen oder systematisch gegliedert und in Autographen- 6. Ungedruckte Denkschriften, Gutachten, Re- sammlungen eingeordnet – etwa nach Korrespon- den denzpartnern gereiht und katalogisiert. Dies wurde 7. Erinnerungsniederschriften, Memoiren, Tage- v. a. zu dem Zweck vorgenommen, dem Benutzer bücher das Auffinden einschlägiger Materialien zu einzel- 8. Prozessakten (mit biografischem Quellenwert), nen Persönlichkeiten zu erleichtern.9 Spätestens Vermögens- und Steuerangelegenheiten. aber seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhun- derts ist erkennbar, dass auch im Bibliotheksbe- Eine Nachlassgliederung speziell für Wissen- reich das archivische Provenienzprinzip von grund- schaftler-Nachlässe wurde am Archiv der Akade- legender Bedeutung für die Nachlassbearbeitung mie der Wissenschaften in Berlin von Klaus Klauß ist und eine Verknüpfung von bibliothekarischen entwickelt14. Dieses Modell sieht zehn Haupt- mit archivischen Arbeitsregeln versucht wird. gruppen vor:

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1.Biografische Dokumente wie sich bestimmte gesellschaftliche Prozesse auf 2.Privatgeschäftliche Unterlagen sein Leben ausgewirkt haben. In Nachlass-Mate- 3.Wissenschaftliche Arbeiten rialien finden sich subjektive Abbilder von Ereig- 4.Arbeitsmaterialien nissen, die so nicht in der behördlichen Überlie- 5.Wissenschaftsorganisatorische Unterlagen ferung zu finden sind. Hier sind ideologische 6.Unterlagen über gesellschaftliche und politi- bzw. politische Einflüsse, persönliche Bekannt- sche Tätigkeit schaften, wissenschaftliche Positionen, Zunei- 7.Sammlungs- und Erinnerungsstücke gungen oder Abneigungen des Nachlassers 8.Korrespondenz nachvollziehbar. 9.Drucksachen 10.Provenienzfremdes Material. Dem Nachlass-Bearbeiter obliegt die Pflicht zu entscheiden, welche und wie Nachlässe für die hi- Eine weitere Studie zur Gliederung speziell litera- storische Forschung auf verschiedensten Gebie- rischer Nachlässe erarbeitete Gerhard Schmid ten überliefert und aufbereitet werden. Zum ei- beim Goethe- und Schiller-Archiv Weimar15. Er nen dienen Nachlässe Historikern für die Erfor- kommt verallgemeinernd zu folgendem Schema: schung politischer Prozesse, der Wirtschafts-, So- 1. Werke zial- und Wissenschaftsgeschichte, weil sie 2. Allgemeines Arbeitsmaterial punktuelle Einblicke in die jeweiligen Bereiche 3. Korrespondenzbeziehungen: Eingegangene geben und bestimmte Sachverhalte vorbehaltlos Briefe; Ausgegangene Briefe beleuchten. Zum anderen sind sie unerlässlich für 4. Tagebücher biografische Arbeiten. Der Schriftgutgruppe der 5. Geschäftlich-berufliche und persönliche Unter- privaten Briefe und Tagebuchaufzeichnungen lagen kommt herbei größte Bedeutung zu. Diese bio- 6. Sammlungs- und Erinnerungsstücke grafischen Dokumente offenbaren die Beweg- 7. Nachlassmaterial von Familienangehörigen. gründe für das Handeln des Nachlassers in be- stimmten Situationen. Erst damit kann das Wir- Erwähnt werden sollen hier auch – ohne näher kungsfeld des Nachlassers rekonstruiert werden, darauf einzugehen – die Richtlinien für die Ord- kann seine Persönlichkeit umfassend dargestellt nung und Verzeichnung von Nachlässen für alle werden. Parteiarchive der SED, Berlin 1978 sowie die „Re- geln der Nachlasserschließung“ (RNA), die 1997 Dem gestiegenen geschichtswissenschaftlichen vom Deutschen Bibliotheksinstitut und dem Un- Interesse wurde und wird insbesondere durch die terausschuss für Nachlasserschließung der Deut- Veröffentlichung von archivübergreifenden Be- schen Forschungsgemeinschaft verabschiedet standsverzeichnissen17 Rechnung getragen. wurden. Die Bedeutung eines Nachlasses ist keineswegs 4. Nachlässe als Quellen historischer identisch mit der Stellung und dem Einfluss der Forschung Persönlichkeit in der Gesellschaft, sondern eher Die Erwerbung von Nachlässen zur Ergänzung von seiner kritischen Beobachtungsgabe, seiner der Bestände war ab etwa dem 16. Jh. eine Do- Einstellung zur Schriftlichkeit und Aktenführung, mäne der Bibliotheken. Besonders in Universitäts- seiner Redlichkeit und Unbefangenheit und sei- und Fürstenbibliotheken begann man Nachlässe nem Mut zur Wahrheit abhängig18. Gerade für von Gelehrten und Schriftstellern zu erwerben, zeitgeschichtliche Forschungen vom Beginn der um v. a. unveröffentlichte Arbeitsergebnisse und Weimarer Republik über die NS-Zeit, zu den Arbeitsunterlagen nutzbar zu machen. In Archiven Nachkriegsjahren und insbesondere für die DDR- wurde viel später begonnen, Nachlässe aus Poli- Historie sind Nachlässe von Persönlichkeiten au- tik, Wirtschaft und Gesellschaft zu sammeln und ßerhalb gesellschaftlicher Spitzenfunktionen von zu erschließen, nämlich erst mit deren Umwand- Bedeutung. Diese Nachlässe – soweit vorhanden lung zu Stätten historischer Quellenforschungen – sind wertvoll für die Aufhellung der Schatten, etwa ab der 2. Hälfte des 19. Jh. Solange Archive mit denen geschichtliche Prozesse nur allzu oft in ihrer Funktion für die Wahrung landesherrlicher überdeckt wurden. Nachlass-Schriftgut sollte da- Rechte für die Öffentlichkeit verschlossen waren, her der Aktenüberlieferung des Staates und der gelangten sehr selten handschriftliche Nachlässe Wirtschaft vergleichend gegenübergestellt wer- leitender Beamter zusammen mit der behördli- den. Besonders zu denken ist dabei an Politiker, chen Aktenüberlieferung in die Archive.16 die auf zentraler und kommunaler Ebene aus un- terschiedlichen Gründen aus ihren Funktionen Nachlassmaterialien sind bedeutende Primär- gedrängt wurden, an Künstler, Geistliche und quellen für die Auseinandersetzung mit Leben Wissenschaftler, die in diesem politischen Span- und Schaffen eines Einzelnen. Sie verdeutlichen, nungsfeld ihre Tätigkeit ausübten.

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Wir Archivare sind gut beraten, die Frage nach Zeugnisse der gesellschaftlichen Entwicklung un- der Bedeutung von Nachlass-Schriftgut so umfas- wiederbringlich verloren. send wie möglich zu stellen. Benutzererwartun- gen sind schwer abzuschätzen und ein klares Ur- Von jedem erworbenen Nachlass sollte die Öf- teil über den Quellenwert jüngerer Nachlässe zu fentlichkeit auf geeignetem Wege in Kenntnis ge- fällen ist oft schwer. Bestandsergänzung mittels setzt werden, um ihn gezielt in Forschungsvorha- Nachlass-Schriftgut sollte in den Archiven jedoch ben einbeziehen zu können. unbedingt weiter intensiviert werden, und zwar nach allen Richtungen, sonst gehen einmalige Bettina Fischer

Anmerkungen

1 Thüringer Gesetz über die Sicherung und Nutzung von Archivgut (Thü- Otto Meisner/Wolfgang Leesch, Grundzüge einer deutschen Archivter- ringer Archivgesetz) vom 23. April 1992, GVBl. für das Land Thüringen minologie, in: AM 10/1960, S. 137; Heinrich Otto Meisner, Archive, Bi- 10, S. 139 ff. bliotheken, Literaturarchive, 1955, S. 180; Heinrich Otto Meisner, Pri- 2 Vgl. Gerhard Schmid, Archivische Erschließung literarischer Nachlässe vatarchivalien und Privatarchive, in: Archivalische Zeitschrift, Bd. 55 in: AM 27 (1977), 4, S. 123 (1959), S. 118 3 Vgl. Lexikon Archivwesen der DDR, Berlin 1976, S. 204 und Eckhardt G. 13 Vgl. Anm. 10, S. 262 Franz, Einführung in die Archivkunde, Darmstadt 1999, S. 67 14 Klaus Klauß, Vereinfachte Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätze für 4 Lexikon Archivwesen a. a. O., S. 204 die Bearbeitung von Nachlässen im Zentralen Archiv der AdW der DDR, 5 Vgl. Klaus Klauß, Führungskonzeption für die Abteilung Nachlässe des Berlin 1985, S. 1 ff. Zentralen Archivs der AdW der DDR, Berlin 1984, S. 4 15 Gerhard Schmid, (Hg.): Bestandserschließung im Literaturarchiv. Ar- 6 Vgl. Wolfgang Mommsen, Die Nachlässe in den deutschen Archiven, beitsgrundsätze des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar, München, Boppard 1971, S. 13 ff. New Providence, London, Paris 1996, S. 45 7 Ludwig Denecke/Tilo Brandis, Nachlässe in deutschen Bibliotheken, 16 Ebenda, S. 11. Boppard 1981 17 Zu nennen seien hier v. a. Mommsen, Die Nachlässe in den deutschen 8 Heinrich Otto Meisner, Archivalienkunde, Leipzig und Göttingen 1969, Archiven, Teil I Boppard 1971/Teil II Boppard 1982; Lülfing/Unger/ S. 62 Wolf, Schriftsteller- und Gelehrtennachlässe in den Bibliotheken der 9 Basierend auf den Richtlinien für die Handschriftenkatalogisierung, DDR, Teil 1–3, Berlin 1959, 1968, 1971; Ludwig Deneke, Die Nachlässe Deutsche Forschungsgemeinschaft, Bonn Bad Godesberg 1974, S. 16 in den deutschen Bibliotheken der BRD, Boppard 1969; Ludwig De- 10 Axel von Harnack, Handschriftliche Nachlässe von Politikern und Ge- neke/Tilo Brandis, Nachlässe in deutschen Bibliotheken, Boppard 1981. lehrten – Bedeutung, Verzeichnung und Bewertung, in: Zentralblatt für Die klassischen Nachschlagewerke fanden Fortführung in im Internet Bibliothekswesen, Leipzig 61/1947, S. 264 verfügbaren Portalen und Datenbanken wie dem Kalliope Portal. Dieses 11 Zygmunt Kolankowski, Die Sammlung und Ordnung von Nachlässen im Verbundinformationssystem Nachlässe und Autographen mit derzeit Archiv der Polnischen Akademie der Wissenschaften, in: AM 7 (1957), 1,2 Mio. Nachweisen führt gezielt an Quellen in über 1.000 deutschen S. 123 Bibliotheken, Archiven und Museen heran. Neben der Suche in der zen- 12 Vgl. Gunnar Teske, Nachlässe und andere fremde Bestände, in: Norbert tralen Datenbank Kalliope http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de Reimann, Praktische Archivkunde. Ein Leitfaden für Fachangestellte für bietet es auch Zugriff auf andere Nachlass- und Autographendatenban- Medien- und Informationsdienste – Fachrichtung Archiv, Münster 2004. ken. Das Bundesarchiv begann 1992 mit einer Neubearbeitung der Pu- S. 142 ff. Das von Teske erörterte Ordnungsmodell dürfte auf dem Glie- blikationen Mommens „Die Nachlässe in deutschen Archiven“ (Teil I derungsmodell Schreyers – vgl. Hermann Schreyer, Die Gliederung von und II) als Online-Version. Ergebnis ist die Zentrale Datenbank Nach- Nachlässen. Ein Beitrag über Ordnungsarbeiten an Nachlass-Schriftgut, lässe http://www.bundesarchiv.de. in: AM Heft 1, 1962, S. 14–20 – basieren. Schreyer wiederum orientierte 18 Vgl. Anm. 10, S. 264 sich an den Vorschlägen von Meisner und Leesch – vgl. hierzu Heinrich

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Das Goethe- und Schiller-Archiv – Geschichte und Aufgaben* Als am 28. Juni 1896 das Gebäude des Goethe- überging. § 5 des Testaments lautet: „Ich er- und Schiller-Archivs in Weimar von seiner Bauher- nenne zur Erbin des Goetheschen Familienar- rin, Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar- chivs, wie solches bei meinem Tode sich vorfin- Eisenach, feierlich seiner Bestimmung übergeben det, Ihre Königliche Hoheit die Frau Großherzo- wurde, markierte dieses Ereignis in mehrfacher gin Sophie von Sachsen. Es umfasst gedachtes Beziehung eine historische Zäsur. In der Residenz- Archiv die großväterlichen Schriftstücke, Akten stadt Weimar war das letzte große öffentliche Ge- usw., ferner das Privatarchiv meines Großvaters, bäude aus dem 19. Jahrhundert entstanden. Weit wissenschaftlichen, poetischen, literarischen, ad- über die Grenzen der Stadt hinaus aber setzte ministrativen, familiären Inhalts, sowie alle von dieses Bauwerk ein kulturpolitisches Zeichen. Das meinen Familiengliedern herrührenden persönli- Archiv stellte sich dar als Sinnbild reichspatrioti- chen Papiere, soweit sie sich in dem gedachten scher Klassikverehrung, Sinnbild einer Vereini- Archive vorfinden. Möge Ihre Königliche Hoheit gung von Geist und Macht, einer Synthese von die Frau Großherzogin dieses mein Vermächtnis, Goethe und Bismarck. Blickt man auf die Ge- ich sage besser: dieses Goethesche Vermächtnis, schichte des Archivwesens, so kam dem Gebäude in dem Sinne empfangen, in dem es Höchstder- noch eine weitere Bedeutung zu. Hier war erst- selben durch mich entgegengebracht wird, als ei- mals ein Aufbewahrungsort für literarische Nach- nen Beweis tief empfundenen, weil tief begrün- lässe entstanden, der Schönheit und Zweckmä- deten Vertrauens!“ Die Großherzogin sollte sich ßigkeit vereinigte und von den Zeitgenossen dieses Vertrauen in hohem Maße würdig erwei- durchaus als „Pantheon des deutschen Geistes“ sen. Der ihr zugeschriebene Ausspruch „Ich habe verstanden wurde. geerbt, und Deutschland und die Welt sollen mit Die eigentliche Geburtsstunde des Archivs war in mir erben“ bezeugt, dass sie es als nationale Auf- das Jahr 1885 gefallen, als nach dem Tod des gabe begriff, Goethes handschriftlichen Nachlass letzten Goetheenkels Walther Wolfgang von der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur Verfü- Goethe durch dessen testamentarische Verfü- gung zu stellen; 480 Archivkästen umfasst Goe- gung der literarische Nachlass des Großvaters in thes persönlicher Nachlass und der seiner Fami- den persönlichen Besitz der Großherzogin Sophie lie. Ihr größtes Verdienst ist es, eine Goethe-Aus- gabe begründet zu haben, die zwischen 1887 und 1919 in 143 Bänden erschien, in vier Abteilungen Goethes poetische Werke und seine Schriften zu Literatur und Kunst, seine Schriften zur Naturwis- senschaft, seine Tagebücher und seine Briefe um- fasste und die bis heute die einzige vollständige Goethe-Ausgabe mit wissenschaftlichem An- spruch geblieben ist; zu Recht trägt sie den Na- men Weimarer oder Sophienausgabe. Die Be- treuung dieser Ausgabe stellt zugleich die größte wissenschaftliche Leistung aus der Frühzeit des Archivs dar. Von Anfang an hatte Großherzogin Sophie ihre Vorstellungen über die künftige Funktion des Goethe-Archivs mit Wissenschaftlern von Rang erörtert – Wilhelm Scherer und Erich Schmidt ge- hörten dazu, ferner Gustav von Loeper -, und sehr bald war dabei auch der Plan eines eigenen Ar- chivgebäudes für die sachgemäße Unterbringung der Archivalien erörtert worden. Solche Pläne ge- wannen an Dringlichkeit, als 1889 Schillers Nach- lass nach Weimar gestiftet wurde. Die auf den 7. und 10. Mai datierte Stiftungsurkunde lautet in ih- ren Punkten 1 und 2:

1. „Der Freiherr Ludwig von Gleichen-Rußwurm zu Weimar und der Freiherr Alexander von Glei- chen-Rußwurm zu Darmstadt übergeben das Die Einweihung des Goethe-Schiller-Archivs in Weimar 1896, Schiller-Archiv, derzeitig zu Greifenstein ob Bonn- gezeichnet von Prof. Hermann Junke (SWKK, GSA, 10-175/18) land, enthaltend Schillers handschriftlichen Nach-

8 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle laß und Bibliothek, der hohen Besitzerin des Goe- trächtlich unterstützt hatte, brachte aus diesem the-Archivs, der Frau Großherzogin Sophie von festlichen Anlass 20.000 Reichsmark für ein Ar- Sachsen, königlichen Prinzeß der Niederlande, zu chivgebäude zusammen, eine respektable Besitz und Eigentum, der Fürsorge und dem ho- Summe, die Sophie zur „inneren Ausschmük- hen Sinne ihrer Königlichen Hoheit Schutz und kung“ des künftigen Gebäudes bestimmte. Das Obhut dieses bisher von ihnen gehüteten idealen Bauwerk selbst finanzierte sie aus ihrer Privatscha- Erbschatzes des deutschen Volkes anvertrauend. tulle: auf etwa 400.000 Reichsmark beliefen sich 2. Der Inhalt des Schiller-Archivs wird dem Goe- die Kosten. 1896 war der schlossartige Bau voll- the-Archiv zu Weimar angeschlossen. Zum Zei- endet. Sozusagen als Morgengabe stiftete die chen unzertrennlicher Vereinigung führt letzteres Goethe-Gesellschaft Goethes Briefe an Frau von von da ab den Namen Goethe- und Schiller-Ar- Stein (in sieben Bänden), für deren Erwerb 70.000 chiv. Sollte für das vereinigte Archiv nachmals, in Reichsmark zusammengebracht worden waren. Folge fortschreitender Erweiterung, eine andere Für die Erwerbungspolitik des Archivs fand des- Bezeichnung gewählt werden, so haben die hin- sen erster Direktor Erich Schmidt das Gleichnis sichtlich des Goethe-Archivs in diesem Betracht vom Magneten, der die Eisenfeilspäne anzieht. getroffenen Bestimmungen auch für das Schiller- Und für die Frühzeit des Archivs hat dieses Archiv zu gelten.“ Gleichnis durchaus seine Berechtigung. Nicht we- Noch bevor das Archivgebäude dann errichtet nige Autoren oder deren Nachkommen empfan- wurde, waren weitere Nachlässe aus dem klassi- den es als eine nationale Ehre und Verpflichtung, schen Umkreis, aber auch aus der nachklassischen im Pantheon der deutschen Klassik mit verewigt Periode ins Archiv gelangt, so z. B. die von Her- zu sein. Zu diesen frühen Erwerbungen, die dem der, Wieland und Goethes Kunstfreund Johann Goethe- und Schiller-Archiv seinen Rang auch als Heinrich Meyer. Archiv der nachklassischen Literatur sichern, ge- hören die Nachlässe von Ferdinand Freiligrath, Allgemein lässt sich sagen, dass damals auch an- Friedrich Hebbel, Otto Ludwig, Karl Immermann, dernorts in Deutschland Bestrebungen anzutref- Gustav Freytag und Fritz Reuter. fen waren, literarische Nachlässe zu sammeln und zu archivieren. Am 16. Januar 1889 fand in Berlin Diese Entwicklung aber brach schon um die Jahr- die Gründungsversammlung einer „Gesellschaft hundertwende ab. In dem Maße, wie in Weimar, für deutsche Literatur“ statt, und damals hielt Wil- einstmals Kapitale des geistigen Deutschlands, helm Dilthey einen Vortrag, der wenig später un- konservative Provinzialität ihre Wirkung auszu- ter dem Titel „Archive für Literatur“ publiziert üben begann, verlor die Stadt, verlor auch ihr Ar- wurde und im eigentlichen die wissenschaftliche chiv seine Attraktivität für Autoren der Moderne. Geburtsurkunde des Literaturarchivs darstellt. Wer künftig noch Nachlässe in das Goethe- und Dilthey plädierte für eigenständige Literaturar- Schiller-Archiv übereignete, tat dies nicht selten chive, die den bis dahin in Privatbesitz befindli- aus einem konservativen Traditionsbewusstsein chen, häufig zerstreut oder zersplittert überliefer- heraus – wie Ernst von Wildenbruch – oder aus ten literarischen Archivalien eine wissenschaftli- persönlicher Verbundenheit, so der Berliner Autor che Heimstatt bieten sollten. Die Sammeltätigkeit und Zeitschriftenherausgeber Julius Rodenberg. selbst dachte sich Dilthey durchaus regional zen- Außerdem hatte sich längst der Autographenhan- triert. Von weitreichender Bedeutung war insbe- del entwickelt, so dass es sich für Handschriften- sondere sein Vorschlag, dem Literaturarchiv zwar besitzer als durchaus lukrativ erwies, Handschrif- die gleichen Grundaufgaben wie einem Staatsar- ten zu verkaufen – was die Chancen eines mit chiv zuzuweisen, nämlich „Zusammenlegung der schmalen Mitteln ausgestatteten Archivs weiter Handschriften, systematisches Anordnen, vorsich- verminderte. Dennoch nannte das Goethe- und tiges Eröffnen derselben“, im Einzelnen aber me- Schiller-Archiv vor Beginn des Ersten Weltkriegs thodische Grundsätze zu entwickeln, die aus der bereits 35 persönliche Archivbestände und zahl- Spezifik des Gegenstandes herzuleiten waren. reiche Einzelautographen sein eigen. In den Jahr- zehnten zwischen den Weltkriegen, ohnehin Zei- Diltheys Überlegungen korrespondierten durch- ten der Stagnation für das Archiv, konnten nur aus mit der in Weimar sich vollziehenden Entwick- wenige bedeutende Erwerbungen vorgenommen lung, und seine Anregungen fielen in der Klassi- werden; eine bedeutsame Schenkung stellte die kerstadt auf fruchtbaren Boden. Am 8. Oktober des Büchner-Nachlasses durch den Insel-Verleger 1892, als Großherzogin Sophie und Großherzog Anton Kippenberg im Jahre 1924 dar. Carl Alexander Goldene Hochzeit feierten, wurde die Idee eines eigenen Archivbaus in die Öffent- Für das wissenschaftliche Profil des Archivs erwies lichkeit getragen. Die Goethe-Gesellschaft, die es sich lange Zeit als prägend, dass seine Direkto- von Anfang an das Archiv durch Spenden be- ren Germanisten waren und editorische Aufga-

Sonderheft 2004 9 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

ben im Vordergrund standen – neben der So- Testaments vom 22. März 1895 heißt es dazu im phienausgabe wäre hier auch die von Bernhard Einzelnen: Suphan herausgegebene große Herder-Edition zu nennen. Überdies darf man sich über die da- a) Das Goethe- und Schiller-Archiv soll mit Allem, malige personelle Kapazität des Archivs keinen Il- was dazu gehört, ein unveräußerliches Familien- lusionen hingeben. Neben dem Direktor und ei- Eigentum des Großherzoglichen Hauses Sachsen- nem fest besoldeten Archivar wurden wenige Weimar (Familien-Fideikommiss) sein und in dem- „Assistenten“ beschäftigt. Verständlich, dass alle selben sich dergestalt vererben, daß es nach mei- Mitarbeiter ständig nach Brotarbeiten Ausschau nem Ableben auf meinen Enkel, den Erbgroßher- hielten, um ihre schmalen Bezüge aufzubessern, zog Wilhelm Ernst, übergeht, von diesem aber in und diese Situation änderte sich nach dem Ersten allen weiteren Erbfällen auf den jedesmaligen Weltkrieg kaum. Häufig erwies sich Kippenbergs Chef des Großherzoglichen Hauses Sachsen-Wei- Insel als rettendes Eiland. Leider hatte die Kon- mar. zentration auf editorische Tätigkeit auch zur b) Mein Enkel Wilhelm Ernst und jeder nachfol- Folge, dass archivarische Ordnungs- und Ver- gende fideicommissarische Inhaber des Goethe- zeichnungsarbeiten in den Hintergrund traten. und Schiller-Archivs ist gehalten, für die Erhaltung Rudolf Schlösser, seit 1918 Archivdirektor, hatte und Verwaltung desselben die Einrichtungen bei- die Absicht, zusammen mit dem Staatsarchivdi- zubehalten, welche ich getroffen haben werde. rektor Armin Tille Grundsätze der Ordnung und Diese Einrichtungen werden nicht bloß auf für- Verzeichnung der Archivbestände zu entwickeln sorgliche Erhaltung, sondern auch darauf gerich- und diese dann in die Praxis umzusetzen, doch tet sein, die reichen geistigen Schätze dieser verhinderte sein früher Tod die Ausführung die- Sammlung der Mit- und Nachwelt nutzbringend ses Projekts. In den 20er Jahren entstanden ledig- zu erschließen. Von demselben Geiste sollen lich provisorische, keineswegs vollständige Kar- auch diejenigen Einrichtungen erfüllt und getra- teien der Archivbestände. Wissenschaftler von gen sein, welche die fideikommissarischen Nach- Rang wie Max Hecker und Hans Wahl hatten ihr besitzer zu treffen sich etwa bewogen finden Wissen im Kopf, und als beide kurz nacheinander möchten.“ 1948 und 1949 starben, war dieses Wissen nir- gendwo dokumentiert, so dass die Ordnung und Soweit die Bestimmungen der Großherzogin. Als Verzeichnung der Bestände seit Anfang der 50er das Haus Sachsen-Weimar nach dem Ersten Welt- Jahre neu aufgenommen werden musste. krieg von der politischen Bühne abtrat und zudem in den 20er Jahren Fideikommisse per Reichsge- Einen besonderen Aspekt in der Geschichte des setz aufgehoben wurden, fasste das Fürstenhaus Archivs stellen seine Besitzverhältnisse dar. Wäh- am 22. April 1925 einen „Familienschluss“, dem rend historische Archive in der Regel sich der Ob- zufolge das Archiv zum „freien Vermögen“ des hut des Staates erfreuten und erfreuen, literari- Chefs des Hauses erklärt, alle rechtlich-inhaltli- sche Archive nicht selten sich im Besitz von Verei- chen Bestimmungen aber erneut festgeschrieben nen befinden – so z. B. das Deutsche Literaturar- wurden. Veränderungen sollten nur zu Zwecken chiv in Marbach – hatte das Goethe- und des Archivs und zur Erfüllung der bisher dem Fi- Schiller-Archiv nach dem Willen des letzten Goe- deikommiss obliegenden Verpflichtungen vorge- the-Enkels den Charakter eines Privatarchivs. Die nommen werden. 1924 wurde eine Verwaltungs- Besitzerin, Großherzogin Sophie, sah dieses Ar- gemeinschaft gebildet, die sich die Kosten teilte: chiv indessen nicht als unbeschränkt verfügbares 48 % übernahm das Land Thüringen, 32 % die Privateigentum an, sondern als einen Besitz, an fürstliche Schatulle, 20 % die Goethe-Gesell- dem die kulturelle Öffentlichkeit teilhaben sollte. schaft. Entsprechend setzte sich der Verwaltungs- Es spricht für ihre Klugheit und ihren Weitblick, ausschuss zusammen, der über alle wichtigen Pro- dass sie zeitgleich mit der Errichtung des Archiv- bleme zu entscheiden hatte. Den Vorsitz führte gebäudes Verfügungen über dessen Zukunft traf. der Chef der Schatullverwaltung. Auf diese Weise Es sollte, so ließ sie beurkunden, „dafür Sorge ge- wurde das Goethe- und Schiller-Archiv bis ins tragen“ werden, „daß die in meinem Besitz be- Jahr 1947 hinein verwaltet. Die aus der damaligen findlichen Schätze der nationalen Literatur der ge- Rechtslage resultierenden Ansprüche des Hauses lehrten Forschung nutzbringend erschlossen und Sachsen-Weimar sind im Jahre 2003 Gegenstand Weimar erhalten bleiben, damit dieses, seiner einer Gütlichen Einigung zwischen dem Fürsten- großen Vergangenheit entsprechend, auch ferner haus und dem Freistaat Thüringen geworden. Im ein geistiger Mittelpunkt Deutschlands bleibe“. Zuge dieser Vereinbarung wurde durch das Haus Um dieses Ziel zu erreichen, begründete sie ein Sachsen-Weimar der Verzicht auf Ansprüche auf Familien-Fideikommiss unter dem Namen Goe- Kunst- und Kulturgut ausgesprochen – gegen the- und Schiller-Archiv zu Weimar. In § 24 ihres Zahlung einer Summe von 15,5 Mio Euro und der

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Einräumung einiger Sonderrechte. Das Goethe- Weimar noch zentrale Sammlungsaufgaben zuge- und Schiller-Archiv, seit 1953 Teil der damals ge- wiesen wurden. Die politische Entwicklung gründeten Nationalen Forschungs- und Gedenk- machte solchen Ansätzen bald ein Ende. Das stätten der klassischen deutschen Literatur in Goethe- und Schiller-Archiv nahm fortan seine Er- Weimar (NFG), bildet heute eine Fachdirektion in- werbungstätigkeit im oben skizzierten Sinne nerhalb der Stiftung Weimarer Klassik und Kunst- wahr. Heute besitzt es 120 persönliche Nachlässe sammlungen. sowie neun Bestände institutioneller Herkunft – diese in der Regel als Deposita – zum Beispiel das Mit der Eingliederung des Goethe- und Schiller- Leipziger Geschäftsarchiv des Insel Verlags, Ar- Archivs in die zentral geleiteten Nationalen For- chivbestände des Allgemeinen Deutschen Musik- schungs- und Gedenkstätten verband sich in vereins, der Deutschen Schillerstiftung, der Goe- mehrfacher Hinsicht ein Neuanfang. Der Nachlass the-Gesellschaft und der Shakespeare-Gesell- des Philosophen Friedrich Nietzsche war zusam- schaft. Außerdem verfügen wir über eine Samm- men mit dem Bestand des von seiner Schwester lung von Einzelautographen, in der noch einmal zusammengetragenen Nietzsche-Archivs bereits etwa 3.000 Autoren vertreten sind. 1950 ins Goethe- und Schiller-Archiv gebracht worden. 1954 gelangte der Nachlass des Kompo- Die Verantwortung für die Erhaltung der Be- nisten Franz Liszt ins Archiv. Beide Bestände ge- stände bildet den Kern archivarischer Tätigkeit. hören heute zu denen, die am meisten benutzt Den Zweiten Weltkrieg hatte das Goethe- und werden. Als 1968 die bis dahin selbständige Thü- Schiller-Archiv unbeschadet überstanden; die ringische Landesbibliothek den NFG einverleibt Handschriften lagerten in jener Zeit in den Keller- wurde, kamen vor allem zahlreiche Gelehrten- räumen. Ausgangs der 60er Jahre konnten die nachlässe ins Goethe- und Schiller-Archiv, jedoch Bestände in funktional ausreichende Magazin- auch eine Reihe von interessanten Schriftsteller- räume umgelagert werden. Seit 1991 wurden im nachlässen, unter denen die von Malwida von gesamten Archivgebäude moderne Brandwarn- Meysenbug und Gabriele Reuter genannt seien. und Sicherheitsanlagen installiert, konnten Maga- Wenngleich die Erwerbungsmittel zu DDR-Zeiten zine und Benutzerräume klimatisiert werden, sehr karg ausfielen und das Archiv auf dem west- wurde überhaupt ein zweiter, mit moderner Tech- lichen Autographenmarkt insgesamt nur eine nik ausgestatteter Benutzerraum in Betrieb ge- marginale Rolle wahrnehmen konnte, so war es nommen. Parallel dazu wurde die früher schon doch dank der weitreichenden Verbindungen des begonnene Mikroverfilmung der Bestände fort- langjährigen Archivdirektors Karl-Heinz Hahn, gesetzt, so dass wir mehr und mehr dazu überge- nicht zuletzt auch dank der Unterstützung der hen konnten, zur Schonung der Originale den Be- Goethe-Gesellschaft – bis zu seinem Tode war nutzern Filme am Lesegerät vorzulegen und nur Hahn ihr Präsident – möglich, nicht unbeträchtli- dann, wenn es die wissenschaftliche Aufgabe er- che Erwerbungen vorzunehmen. fordert und der Zustand des Archivale es zulässt, Originale zugänglich zu machen. Auch dies lässt Es ist insbesondere der politischen Nachkriegs- sich der konservatorischen Betreuung der Be- situation geschuldet, dass das Goethe- und stände zuordnen, und einen weiteren Schwer- Schiller-Archiv sich immer stärker in Richtung auf punkt in dieser Hinsicht bildet die Neuverpak- ein Facharchiv für die Kultur und Literatur des kung der Bestände in säurefreie Materialien, die 18.–20. Jahrhunderts entwickelte. Als sich im wir seit 1991 in größerem Maßstab mit ABM-Kräf- Jahre 1950 auf dem Gebiet der DDR die Deut- ten durchführen konnten und die inzwischen weit- sche Akademie der Künste konstituierte, entstan- gehend abgeschlossen ist. den auch dort nach und nach literarische Archive. Ohne dass eine Aufgabenteilung je offiziell fest- Hat das Archiv auf konservatorischem Gebiet ei- geschrieben worden wäre, fiel der Berliner Aka- nen soliden, wenngleich ständig auszubauenden demie die Aufgabe zu, Nachlässe aus allen Berei- Standard erreicht, so lässt sich das für die restau- chen der Kunst des 20. Jahrhunderts zu sammeln, ratorische Betreuung der Bestände leider nicht in während das Weimarer Archiv sich insbesondere gleichem Maße sagen. Rund 10 % des etwa fünf auf die Ergänzung und Anreicherung des bereits bis sechs Millionen Blätter umfassenden Bestan- Vorhandenen beschränkte und bei Neuerwerbun- des sind akut restaurierungsbedürftig, und immer gen aus dem 20. Jahrhundert den Berliner Akade- mehr Kernbestände unseres Hauses müssen für miearchiven den Vortritt ließ. Freilich war damals, die Benutzung generell gesperrt werden. Ich theoretisch zumindest, noch manches in Bewe- nenne hier nur den Briefwechsel zwischen Schiller gung. Auf einer gesamtdeutschen Archivtagung und Goethe, Goethes Briefe an Frau von Stein, wurde am 24. Januar 1956 in Marbach eine Ent- die Reinschrift des „Faust II“ oder den Nachlass schließung verabschiedet, in der Marbach und Georg Büchners. Generell ist abzusehen, dass nur

Sonderheft 2004 11 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

nahme des Goethe-Bestandes, der seiner Größe und seiner spezifischen Struktur wegen in der Ab- teilung 2 betreut wird. Die für den Gesamtbe- stand vorliegenden Findbücher sind elektronisch konvertiert worden und stehen in Gestalt der Ar- chivdatenbank (inklusive detaillierter Briefsuche) mit ca. 175.000 Datensätzen auf dem Datenserver der SWKK zur Verfügung; damit wird das vorläu- fige Bestandsverzeichnis von 1961 ersetzt. Um die Datenbanken im Internet zu präsentieren, sind noch umfangreiche Kontroll- und Abgleichungs- arbeiten zur Validität der Daten sowie EDV-tech- nische Vorbereitungen zu leisten. Während die nötige EDV-Arbeitskapazität archivintern bereit- steht, ist durch das Auslaufen befristeter Arbeits- verträge das Ziel gefährdet, die Archivdatenbank 2007 ins Netz zu stellen. Datenbanken stellen „works in progress“ dar. Zu den ständigen Aufgaben der Abt. 1 gehört die weitere (auch personalintensive) Erschließung der häufig nur summarisch verzeichneten Bestände, um aktuellen Anforderungen der Wissenschaft (Editionsprojekte, drittmittelgeförderte For- schungsprojekte, Sonderforschungsbereich SFB 482 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena) ge- recht zu werden. Einzelne Erschließungsprojekte werden bei der DFG beantragt (zur Zeit für den Freiligrath-Nachlass). Mit dem Bereitstellen von Intranet- und Internetpräsentationen erhöhen sich zudem die Anforderungen an hausinterne wissen- schaftliche Beratung. Das ist an den beiden Inter- Friedrich Schiller, Demetrius-Fragment netpräsentationen zu belegen, die von der Abtei- (SWKK, GSA 10-181/195), Foto: Sigrid Geske lung 1 bereits ins Netz gestellt worden sind: dem Repertorium der Nietzsche-Korrespondenz und den Personenakten der Deutschen Schiller-Stif- beträchtliche zusätzliche Mittel, wie sie die Zu- tung. wendungsgeber allein nicht aufzubringen vermö- gen, eine generelle Wende zum Besseren einlei- Abteilung 2 ten können. Es kann nicht oft genug auf die Ge- Die Erschließung des größten und wertvollsten fahr hingewiesen werden, dass unersetzliche Kul- Einzelbestandes, des Goethe-Nachlasses, Be- turgüter – und die Nachlässe Goethes, Schillers standteil der UNESCO-Liste „Memory of the und zahlreicher anderer Autoren gehören, das world“, ist einer eigenen Fachabteilung vorbehal- kann ohne Übertreibung gesagt werden, zur gei- ten, in der zwei Langfristprojekte betreut werden: stigen Kernsubstanz unserer Nation – von rapi- die Regestausgabe der an Goethe gerichteten dem Verfall bedroht sind, wenn nicht entschlos- Briefe und das Goethe-Inventar. sen gegengesteuert wird. Angemerkt sei nur, dass infolge fehlender Haushaltsmittel auch die Regestausgabe der an Goethe gerichteten Briefe Erwerbungstätigkeit gegenwärtig nahezu zum Er- Von dieser Ausgabe liegen sieben Bände vor; der liegen gekommen ist. jüngste, den Zeitraum 1816/17 umfassend, ist im Entsprechend seiner spezifischen Aufgaben be- Frühjahr 2004 erschienen. Methodisch gesehen sitzt das Goethe- und Schiller-Archiv heute drei nimmt die Regestausgabe eine Mittelstellung zwi- Fachabteilungen, die abschließend überblicksar- schen archivischer Erschließung und Edition ein. tig vorgestellt werden sollen: Erwerbung/Er- Sie enthält die Archivdaten zum GSA-Bestand der schließung/Benutzung (1), Goethe-Bestand (2) An-Briefe (der sich nahezu 100 prozentig im Haus und Editionen (3). befindet und ca. 20.000 Einzelstücke umfasst), in- formiert über Briefinhalte und stellt insofern eine Abteilung 1 Brücke zum Bestand dar, erschließt zudem die im In der Abteilung 1 sind die Erschließungsvorha- Brief vorhandenen Sach- und Personenbezüge, ben für den Gesamtbestand angesiedelt, mit Aus-

12 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle bringt aber keine Edition der Volltexte; diese liche Archivdaten aufgrund ihrer Datenstruktur müssen, sofern sie nicht schon ediert vorliegen, über Schnittstellen kompatibel. vom Benutzer gesondert herangezogen werden. Die vorgesehene Transkription sämtlicher Voll- Abteilung 3 texte kann nur sukzessive durch befristet tätige Editorische Tätigkeit zählt – auch in der Perspek- Mitarbeiter erfolgen. tive des Wissenschaftsrats – zu den Grundaufga- ben des Archivs. Die hier entwickelten Ausgaben Goethe-Inventar stellen Basisinformationen für kulturgeschichtli- Inventarisierung als intensivste Form der Erschlie- che Forschungen bereit. Perspektivisch bleibt ßung (in der Regel Einzelblattverzeichnung) bleibt Editionsarbeit ebenfalls ein Kernbereich des GSA. den großen und wichtigen Einzelbeständen des Diese Perspektive wird auch von der DFG akzep- GSA vorbehalten. Das Schiller-Inventar liegt ge- tiert, indem diese zwei editorischen Unterneh- druckt vor, vom Goethe-Inventar ist im Jahre mungen (zu Goethes Tagebüchern und Goethes 2000 Band 1 (mit dem Gedichtbestand) im Druck Briefen) eine Langzeitförderung zuerkannt hat. erschienen. Die Verzeichnung der Werkhand- Gegenwärtig befindet sich die Editionsabteilung schriften einschließlich der Schriften zur Naturwis- insofern im Umbruch, als drei große Editionen senschaft, bis 2002 von der DFG gefördert, ist bis (Schiller-Nationalausgabe, Heine-Säkularausgabe, auf die Maximen und Reflexionen und die Schrif- Herder-Briefausgabe) bis 2008 abgeschlossen ten zu Kunst und Literatur im Manuskript abge- werden und von da an drei Editionsprojekte das schlossen. Durch die Langzeiterkrankung und das Profil der Abteilung allein bestimmen werden: inzwischen erfolgte Ausscheiden einer Mitarbei- Ausgabe von Goethes Tagebüchern und von terin blieben diese Werkteile noch unbearbeitet. Werken und Briefwechseln Ludwig Achim von Ar- Der verbliebene Mitarbeiter ist mit der Redaktion nims (beide 1990 begonnen) sowie von Goethes der vorliegenden Erstinventare und mit der for- Briefen. Die Wertschätzung der Editionstätigkeit malen Vereinheitlichung der Daten zum Gedicht- des GSA erweist sich auch darin, dass das GSA im bestand für die im Entstehen begriffene Goethe- Februar 2006 Veranstalter der zweijährig stattfin- Datenbank des GSA beschäftigt. Parallel dazu för- denden internationalen Fachtagung der Arbeits- dert die DFG das Projekt einer Erfassung aller gemeinschaft für germanistische Edition sein weltweit vorhandenen Goethe-Werkhandschrif- wird. ten. Sukzessive werden die im Projekt ermittelten Daten mit den Inventardaten des GSA zusam- Weitere Perspektive des GSA mengeführt (zunächst wird der Gedichtbestand Durch seine Datenbanken, Inventare, Repertorien erfasst, dann die Versepen, die Dramen, die er- und Editionen leistet das GSA quellenbezogene zählende und autobiographische Prosa sowie die Forschung, in deren inhaltlichen Schwerpunkten theoretischen Schriften), so dass eine Gesamtda- sich die Kernaufgaben der SWKK widerspiegeln: tenbank zu Goethes Werk entsteht. In den Folge- die Orientierung auf Weimarer Klassik und Mo- jahren ist das Goethe-Inventar mit der Verzeich- derne. Hinzuweisen ist in solchem Zusammen- nung der Musikaliensammlung und des Teilbe- hang insbesondere auf den SFB 482 „Ereignis standes Goethe-Familie abzuschließen. Für die Weimar – Jena: Kultur um 1800“ an der FSU Jena, Verzeichnung der Musikalien ist eine Kooperation dessen Mitarbeiter in hohem Maße die wissen- mit der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ anzu- schaftlichen Serviceleistungen des Archivs in An- streben. Der Teilbestand An-Briefe wird durch die spruch nehmen; umgekehrt kommen deren wis- Regestausgabe erschlossen, ebenso die Manu- senschaftliche Erkenntnisse auch der Erschlie- skripte zu Goethes Tagebüchern im Vollzug der ßungs- und Editionstätigkeit des GSA zugute. historisch-kritischen Edition dieses Werkbestan- Solche Kooperationsbeziehungen sind auf ande- des. Goethes Briefe sind bereits vollständig in ei- ren Feldern gezielt weiterzuentwickeln. nem Internetrepertorium erfasst. Mit der Inventa- Quellenbezogene Goetheforschung bleibt für die risierung des Goethe-Bestandes (insgesamt 480 nahe und mittlere Zukunft eine Schwerpunktauf- Archivkästen) und der Hinzufügung der weltweit gabe des GSA. In solchem Kontext stellt sich das erhobenen Daten zu einer Gesamtdatenbank Problem der Erneuerung der Weimarer Goethe- wird der Forschung erstmals ein umfassendes de- Ausgabe, deren Abteilungen III (Tagebücher) und tailliertes Auskunftsmittel zur Verfügung gestellt. IV (Briefe) sukzessive durch die Weimarer Editio- Mit dem Abschluss des Projekts ist 2010 zu rech- nen ersetzt werden und deren Abteilung II (Schrif- nen. Perspektivisch sind die vorhandenen Daten ten zur Naturwissenschaft) durch die Leopoldina- zu den Beständen Nietzsche und Liszt den Inven- Ausgabe bereits weitgehend ersetzt ist. Eine not- tarisierungsgrundsätzen entsprechend zu vervoll- wendige Voraussetzung für die Neubearbeitung ständigen und in speziellen Datenbanken zu prä- der Abteilung 1 (Poetische Werke und kunsttheo- sentieren. Die Langzeitarchivierung aller Archiv- retische Schriften) bildet die in Weimar entste- daten ist gewährleistet. Untereinander sind sämt- hende Datenbank von Goethes Werken. Dort, wo Sonderheft 2004 13 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

die Bestandsermittlungen weitgehend vollstän- Eine Frage, die ich an den Schluss stellen möchte, dig vorliegen (bei Goethes Gedichten z. B. oder ist ernsthaft zu bedenken: Kann es genügen, bei den Manuskripten zu „Faust“), könnten ein- wenn das Archiv seinen im Prinzip abgeschlosse- zelne Editionsprojekte begonnen werden; gene- nen Bestand ergänzt und erweitert, oder sollte es rell sollte die Erneuerung der WA als Folge von sich wieder angelegen sein lassen, stärker den Einzeleditionen konzipiert werden. Bezug zur Literatur und Kultur der Gegenwart zu suchen? Es liegt nahe, im zweiten Sinne zu ant- Forschungen zur Moderne werden vom GSA worten, könnte doch sonst eines Tages das Goe- durch die Bereitstellung von Datenbanken im In- the- und Schiller-Archiv tatsächlich zu einer welt- ternet (Nietzsche-Korrespondenz, Personenakten abgeschiedenen „Bastion“ werden. Während das der Deutschen Schillerstiftung) sowie durch die Archiv bislang aufgrund seiner historischen Ent- Erschließung national-konservativer Autoren wicklung den Charakter eines „abgeschlossenen“ (Münchhausen, Bartels, Lienhard) unterstützt; hier Archivs besitzt, muss es künftig einen weiteren ergibt sich ein unmittelbarer Arbeitszusammen- Sammlungsschwerpunkt in der Kultur der Gegen- hang mit den kulturgeschichtlichen Projekten in wart bekommen – ein Grundsatz, nach dem schon der Direktion Forschung und Bildung, denen auch die Gründer des Archivs angetreten waren. Inhalt- eine detaillierte Erschließung des Nietzsche-Ar- lich sollte die Sammlungstätigkeit auf zeitgenössi- chivs (möglich geworden durch eine Förderung sche Autoren allgemein, darüber hinaus auf wis- der Volkswagenstiftung) zur Verfügung gestellt senschaftliche Nachlässe sowie auf Autoren von werden kann. In das Münchner Projekt „Hyper- besonderem Weimar-Bezug konzentriert und in Nietzsche“ (gefördert von DFG und Humboldt- sorgfältiger Abstimmung mit dem Deutschen Li- Stiftung) ist das GSA als Vertragspartner einbezo- teraturarchiv Marbach sowie anderen bestands- gen. Wenn wir Kenntnis von Projekten erhalten, bildenden Institutionen realisiert werden. Dies er- die Bestände des GSA einbegreifen, gehört es fordert auf mittlere Sicht eine beträchtliche Erwei- auch künftig zu unseren Aufgaben, sofern not- terung der Erwerbungsmittel sowie auch erwei- wendig, die betroffenen Bestände gezielt zu er- terte Magazinkapazität. schließen. An übergreifenden wissenschaftlichen Fragestellungen der SWKK beteiligt sich das GSA Jochen Golz mit Zuarbeiten zur Personendatenbank und zur Kunstdatenbank der Stiftung.

Anmerkungen

* Teilweise überarbeitete Fassung des am 3. Mai 2004 anlässlich der Wei- terbildungsveranstaltung der Archivberatungsstelle Thüringen gehalte- nen Vortrages.

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Ordnung und Erschließung von Nachlässen im Literaturarchiv Literaturarchive verwahren Nachlässe von Dich- Persönliche Archivbestände bezeichnen, ist ihre tern, Schriftstellern, Wissenschaftlern – von Per- Funktionalität: Sie entstehen als dokumentari- sönlichkeiten also, deren historische Bedeutung, scher Niederschlag im Zuge der Tätigkeit von wie unser darauf gegründetes Interesse an ihrer Personen auf unterschiedlichen Gebieten des öf- schriftlichen Hinterlassenschaft, auf ihrer Eigen- fentlichen und privaten Lebens, bei der Verfol- schaft als Autoren literarischer Werke im weite- gung unterschiedlicher Ziele, Aufgaben und Inter- sten Sinne beruht. Diese Eigenschaft hat zur essen – von denen das Ziel der Herstellung von Li- Folge, dass sich auch, und schon lange vor den teratur nur eines von vielen ist (und auch die Tä- Archiven, diejenigen Institutionen für literarische tigkeit der damit befassten Persönlichkeiten nicht Nachlässe interessiert haben, deren Arbeitsge- zu 100 % ausmacht!). Für die betreffende Person – genstand die literarischen Werke in ihrer abge- den Nachlasser – erfüllt das bei ihr erwachsende schlossenen, gedruckten Form sind: die Biblio- Schriftgut die Funktion eines internen Arbeitsin- theken. Die Konkurrenz, die damit entstanden ist, struments und der Gedächtnisstütze. Wenn das soll im Folgenden nicht Thema sein. Fakt ist, dass Schriftgut diese interne Funktion spätestens mit literarische Nachlässe in Handschriftenabteilun- dem Tode des Nachlassers verloren hat, kann es, gen von Bibliotheken, in Literaturarchiven, in Uni- in Abhängigkeit von dessen Bedeutung, allge- versitäts- und Akademiearchiven, in Staats- und meines historisches Interesse gewinnen: Es tritt Stadtarchiven verwahrt werden. Das ist um so we- jener Funktionswandel zur historischen Quelle niger aus der Welt zu schaffen, als ja auch in Zu- ein, der uns im öffentlichen, staatlichen Archivwe- kunft kein „Literat“ daran gehindert werden kann, sen auf dem Wege vom Registraturgut zum Ar- seinen Nachlass dem einen oder anderen Institut chivgut bestens vertraut ist. zu übergeben – so wenig wie seine Erben hier ir- gendwie gebunden werden können. 2. Aus diesen Überlegungen, die den Charakter aller Nachlässe als Archivgut erkennen lassen, er- Diese Gegebenheiten bilden den Hintergrund, geben sich mit Konsequenz die Grundsätze und wenn wir uns dem Thema der Ordnung und Er- Methoden, nach denen auch die literarischen schließung von literarischen Nachlässen zuwen- Nachlässe geordnet und verzeichnet werden den. Hier geht es um den eigentlichen Kern der müssen: nämlich archivwissenschaftliche Grund- Konkurrenz, von der eben die Rede war: Es ist we- sätze und archivpraktische Methoden. Auf dem niger wichtig, wo ein Nachlass aufbewahrt wird, Gebiet der Bestandsbildung heißt dies, dass auch als nach welchen Methoden er am besten geord- und gerade bei Nachlässen das archivische Pro- net und verzeichnet werden kann. Wir wollen uns venienzprinzip zu Grunde zu legen ist. Das wird diesem Gegenstand mit einer Reihe von Thesen inzwischen auch in den Handschriftenabteilungen und ausgewählten Beispielen zuwenden. der Bibliotheken anerkannt und zumindest bei Neuerwerbungen beachtet, während literarische 1. Literarische Nachlässe sind ein Teil des Archiv- Nachlässe hier früher auf der Grundlage des Au- gutes persönlicher Herkunft. Sie müssen in die- toren- oder Autographenprinzips auseinanderge- sem größeren Zusammenhang betrachtet wer- nommen worden sind. Nach dem archivischen den. Gegenüber den Nachlässen von Staatsmän- Provenienzprinzip bezeichnen wir als Nachlass nern und leitenden Beamten, von Politikern auf oder Persönlichen Archivbestand die Gesamtheit unterschiedlichen Ebenen, von Unternehmern des Schriftguts, das bei einer Person – gleich wel- usw. weisen sie natürlich Besonderheiten auf. chen Berufs, welcher Tätigkeit – im Laufe ihres Le- Wenn wir über ihre Ordnung und Verzeichnung bens aus eigenen Aufzeichnungen wie aus Brie- sprechen, sollten wir aber nicht von diesen Be- fen und Zusendungen anderer angesammelt wor- sonderheiten ausgehen, sondern vor allem den den ist und sich beim Tode dieser Person in ihrer Blick zunächst auf die gemeinsam für alle Nach- Hinterlassenschaft vorgefunden hat. lässe gültigen Merkmale und Grundsätze richten. Ein Problem bei den Diskussionen mit Bibliothe- Wenden wir das Provenienzprinzip auch auf den karen über die Nachlassproblematik besteht häu- Bereich der in solchem Sinne grundsätzlich fixier- fig darin, dass man diesen elementaren Gesichts- ten und abgegrenzten literarischen Nachlässe an, punkt dort ausklammert, weil man es im eigenen so müssen wir uns erinnern, dass dieses archivwis- Erfahrungsbereich ausschließlich mit literarischen senschaftliche Grundprinzip keine starres, unver- Nachlässen zu tun hat. rückbares Gesetz darstellt. Aus dem richtigen Verständnis seiner Wurzeln und seiner Funktion Das allgemeinste Merkmal aller Nachlässe, das heraus ist es, je nach den konkreten Gegebenhei- sie nach unserer archivarischen Auffassung als Ar- ten, flexibel und differenziert zu handhaben. Das chivgut qualifiziert und weswegen wir sie auch als gilt im Literaturarchiv, wo die historisch überliefer-

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ten Bestände in vielen Fällen erheblich von dem und Sammlungsstücke, so sprechen wir besser eben gekennzeichneten Idealtyp abweichen, in von einer Sammlung zur Person. besonderem Maße. Literarische Nachlässe waren seit langer Zeit Gegenstand spezieller Interessen: Eine gesonderte Frage ist, was mit Einzelstücken Nachkommen des Nachlassers sammelten seine geschehen soll, für die keine Anreicherungsmög- ausgegangenen Briefe sowie Materialien über ihn lichkeiten an vorhandene Nachlässe zu erkennen und fügten sie dem Nachlass zu. Verleger und sind. Als Lösung für solche Fälle bietet sich die Herausgeber suchten nach unveröffentlichten Einrichtung von Sondersammlungen an. Man kann Werken und brachten die Manuskripte an sich, sie nach dem Autographenprinzip anlegen, also – ohne sie zurückzugeben. Verehrer und Nachah- als letzte Möglichkeit – das Verfahren anwenden, mer waren bestrebt, Autographen zu erwerben. das in den Bibliotheken vor Zeiten die „erste Die Nachlässe wurden so in der Überlieferungs- Wahl“ war. Für Sammlungsstücke, bei denen der geschichte vielfach teils mit fremden Provenien- Autor keine Rolle spielt oder unbekannt ist, ließe zen und Sammlungsgut vermischt, teils – was we- sich eine Sammlung einrichten, die nach sachlich- sentlich einschneidender war – zersplittert. Auf inhaltlichen Gesichtspunkten geordnet ist. dem Autographenmarkt kommen damit häufig nicht ganze Nachlässe oder Teilnachlässe, son- 3. Auch für die innere Ordnung von literarischen dern einzelne Manuskripte, Briefe und Lebensdo- Nachlässen müssen archivwissenschaftliche Grund- kumente zum Vorschein, die sich so auch lukrati- sätze und Erfahrungen die Grundlage bilden. Da ver vermarkten lassen. ein nach dem Provenienzprinzip gebildeter Be- stand kein willkürliches Sammelsurium von Einzel- Was ist in solchen Fällen zu tun? Die Provenienz stücken ist, kommt es für den Archivar entschei- ist hier zuweilen nicht mehr feststellbar, manch- dend darauf an, die Beziehung der einzelnen mal auch unerheblich (vgl. Ordnungs- und Ver- Teile auf die Persönlichkeit des Nachlassers (Ver- zeichnungsgrundsätze für die staatlichen Archive tikalbindung) und ihre gegenseitigen Zusammen- der DDR, hrsg. von der Staatlichen Archivverwal- hänge (Horizontalbindung) in einem logisch kla- tung, 1964, OVG § 100; Bestandserschließung im ren, den ganzen Bestand einheitlich umfassenden Literaturarchiv, Arbeitsgrundsätze des Goethe- Ordnungssystem sichtbar zu machen. Für literari- und Schiller-Archivs in Weimar, 1996, OVG/GSA sche Nachlässe gibt es dazu eine Reihe von Vor- § 12), also nicht konstitutiv für das Interesse an schlägen, die in weitgehender Übereinstimmung dem Schriftstück. Das kann z. B. bei Briefen be- eine Gliederung in die Hauptgruppen Werke rühmter Autoren an ganz unbedeutende oder un- (oder Werkmanuskripte), Briefe, Tagebücher, Per- bekannte Empfänger der Fall sein. Wenn dieser sönliche Akten und Lebensdokumente vorsehen. Sachverhalt bei isolierten Einzelstücken auftritt Sie unterscheiden sich hauptsächlich in der Ab- und ein Nachlass der jeweiligen Provenienz nicht folge, die für diese Gruppen vorgeschlagen wird, vorliegt, ist es prinzipiell zulässig, sie einem Be- und in einer eventuell zweckmäßigen Unterglie- stand anderer Provenienz als sogenannte Anrei- derung. Durchweg erscheinen sie zunächst ganz cherung zuzuordnen. Das kann bei Briefen der sinnvoll und akzeptabel, geraten aber in der Pra- Bestand des Absenders sein, wenn er vorhanden xis in Kollision mit den gegebenen Fakten der ist. In anderen Fällen käme etwa ein Bestand in Nachlassüberlieferung. Zu den sich daraus erge- Betracht, zu dem es sonstige personelle oder in- benden Problemen seien einige Thesen aufge- haltliche Zusammenhänge gibt. Nachlässe, die in stellt: solcher Weise angereichert worden sind, bilden im Literaturarchiv mehr oder weniger die Regel. (1) Kein literarischer Nachlass ist auch nur annä- Oft sind sie schon vorarchivisch, z. B. durch Aktivi- hernd in einer dieser Systematik entsprechenden täten von Erben oder Herausgebern, entstanden. Ordnung überliefert. Nachlässe besitzen über- Das wird man im Archiv keinesfalls ändern, viel- haupt in keinem Falle eine durchgehende, in sich mehr im gegebenen Fall sogar fortsetzen, weil es systematisch abgestimmte Ordnung von Seiten den Interessen der Benutzung entspricht. Wichtig des Nachlassers. ist dabei nur, dass man sich über den Charakter (2) Keine überlieferte Ordnung ist einfach über- eines vorhandenen Bestandes als echter oder an- nehmbar, keine erfasst den ganzen Nachlass. Ein- gereicherter Nachlass (vgl. den Beitrag von Bet- griffe und Umordnungen sind also unvermeidbar tina Fischer) im Klaren ist. Von einem Nachlass und prinzipiell berechtigt. sollte dabei nur gesprochen werden, wenn ein (3) Andererseits ist kein überlieferter Nachlass provenienzmäßiger Kern enthalten ist, der den ohne Ordnung. Den „völlig ungeordneten Nach- Quellenwert des Bestandes wesentlich bestimmt. lass“ gibt es nicht. In aller Regel treten uns minde- Ist das nicht der Fall, überwiegen quantitativ und stens kleine Ordnungszellen oder Ordnungsin- qualitativ die provenienzfremden Anreicherungen seln entgegen.

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(4) Auch das obengenannte, für Literaturarchive ken von Einzelinformationen, und dazu wird auch vorgeschlagene Ordnungssystem mit den Haupt- weiterhin das traditionelle Findbuch gebraucht, gruppen Werke, Briefe usw. ist in sich nicht wider- das die Zusammenhänge in allen Quer- und spruchsfrei. Die Gruppen sind teils nach Schrift- Längsschnitten überschaubar macht. Aber die stückarten, teils nach inhaltlich-thematischen Ge- elektronischen Medien eröffnen uns doch, jen- sichtspunkten gebildet und überschneiden sich seits der linearen Alternative „Umordnen oder infolgedessen. So können z. B. in Zusammenhang Verweise bzw. Mehrfachverzeichnung“ eine Viel- mit Werken inhaltsbezogene Briefwechsel ent- zahl von weiteren Ordnungs- und Zugriffsmög- standen sein, die im Nachlass bei den entspre- lichkeiten. Das erleichtert die Entscheidung bei chenden Manuskripten überliefert sind. Zahlrei- Eingriffen in die vorgefundene Ordnung, und im che Überschneidungen ergeben sich zwangsläu- Extremfall ist es andererseits bei gegebenen Vor- fig zwischen der Gruppe der Persönlichen Akten aussetzungen durchaus denkbar, den überliefer- und den Briefen wie auch den Werken. ten Zustand überhaupt unverändert zu lassen und die Ordnung nach dem für zweckmäßig gehalte- Was folgt aus all diesen Feststellungen? An die nen System „nur“ virtuell vorzunehmen. Ordnung eines literarischen Nachlasses müssen wir sehr sensibel herangehen, und uns zunächst, 4. Zu den gegebenen Voraussetzungen gehört bevor wir Eingriffe vornehmen, genau über die naturgemäß auch eine nach Intensität und Me- auf den Nachlasser zurückgehenden Ordnungs- thode angemessene Verzeichnung. Vor der Lö- ansätze kundig machen. Sie gehören – gerade bei sung der damit verbundenen Einzel- und Spezial- einer literarisch, mit der Schrift arbeitenden Per- probleme geht es hier zunächst um die Entschei- son – zu den charakteristischen Eigenschaften dung über die Intensität der Verzeichnung, oder und Merkmalen, die für den Benutzer erhalten anders ausgedrückt: um die Bestimmung der Ver- und sichtbar gemacht werden müssen. Wenn ein zeichnungseinheit. Als Archivare sind wir dabei, durchgehendes Ordnungssystem eingeführt wird, mehr als etwa bei der Aktenüberlieferung aus be- sollte man daher weder in der Abfolge der Ord- hördlichen Registraturen, zu einer flexiblen Hand- nungsgruppen noch in ihrer gegenseitigen Ab- habung berechtigt und in der Lage. Entgegen ei- grenzung dogmatisch vorgehen. Die erwähnten ner zuweilen anzutreffenden Auffassung, die mit Vorschläge für Literaturarchive gehen z. B. davon der Anwendung bibliothekarischer Katalogisie- aus, dass prinzipiell getrennte, alphabetisch ge- rungsregeln zusammenhängt, ist deshalb hier ordnete Gruppen für eingegangene und ausge- ausdrücklich festzustellen: Auch bei einem literari- gangene Briefe vorgesehen werden sollen. Wenn schen Nachlass bildet nicht von vornherein jedes in einem überlieferten Nachlass aber Eingänge Manuskript, jeder einzelne Brief, jedes Doku- und Ausgänge zusammengelegt sind, oder eine ment, jede Notiz usw. eine Verzeichnungseinheit, rein chronologische Ablage der Korrespondenz die einzeln erfasst werden muss. Wie wir uns je- überliefert ist, wird man das natürlich unbedingt weils entscheiden, hängt einerseits ab von der Art so belassen müssen. Und wenn – ein anderes Bei- der vorliegenden Überlieferung, andererseits und spiel – ein Autor die Gewohnheit hatte, be- vor allem aber von deren Wert und damit natür- stimmte Teile seines Briefwechsels nach inhaltlich lich von der Bedeutung des Nachlassers. Es ist bestimmten Vorgängen abzulegen (etwa nach durchaus denkbar und entspricht auch dem übli- dem Zusammenhang mit einzelnen Werken), wird chen archivarischen Verfahren, wenn überlieferte man das bestimmt nicht zugunsten von allgemei- Faszikel, Konvolute, Mappen usw. mit einer zu- nen Serien der eingegangenen und ausgegange- sammenfassenden, dem Aktentitel entsprechen- nen Briefe auflösen. Man hilft sich dann eher mit den Inhaltsangabe verzeichnet werden. Selbst bei Verweisen oder mit einer Mehrfachverzeichnung Werkmanuskripten, etwa bei Gedichten, ist das an allen in Frage kommenden Stellen. nicht von vornherein auszuschließen. Bei Briefen war die zusammenfassende Verzeichnung, der je- Jedenfalls hat man sich bisher allenfalls damit be- weils von einem bestimmten Partner stammen- helfen können; und das führt uns zu den Möglich- den oder der an ihn gerichteten Stücke, z. B. im keiten, die uns heute und in Zukunft mit der elek- Goethe- und Schiller-Archiv, überhaupt die Regel tronischen Datenverarbeitung, mit der Einrich- im Rahmen der in den 50er und 60er Jahren tung von Datenbanken, bei der Nachlassordnung durchgeführten vorläufigen Verzeichnung und zur Verfügung stehen. Zu betonen ist dabei, dass dabei wird es unter Umständen – bei weniger be- wir uns nach wie vor Gedanken über das jeweils deutenden Beständen – auf Dauer bleiben. Ande- angemessene Ordnungssystem machen müssen, rerseits kann es hier, bei den Briefen, besondere in dem wir den Benutzern einen Nachlass über- Gründe geben, die Einzelverzeichnung möglichst sichtlich präsentieren wollen. Da geht es um mehr weit voranzutreiben – Gründe, die z. B. im Goe- und anderes als um die Möglichkeit zum Anklik- the- und Schiller-Archiv dazu geführt haben, dass

Sonderheft 2004 17 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

man in bestimmten Fällen über die Regeln der die Alphabetische Katalogisierung (RAK) auch auf dortigen OVG hinausgeht. Nachlasshandschriften anwenden. Diese Regeln sind am bibliothekarischen „Normalfall“ des ge- Was nun aber einerseits bei einer zusammenfas- druckten literarischen Werks mit den ehernen Ka- senden Inhaltsangabe zu einem Faszikel oder ei- tegorien von Autor, Titel, Verlag, Erscheinungs- ner Mappe mit vielleicht Dutzenden und mehr jahr usw. orientiert. Sie treffen also im Nachlass- Schriftstücken, andererseits bei einem einzeln zu bereich allenfalls für Werkmanuskripte zu, ohne verzeichnenden Gedichtmanuskript, einem Brief, allerdings archivisch interessante Merkmale wie einer persönlichen Urkunde, einem Verlagsver- die Stellung des Manuskripts im Entwurfsprozess trag usw. aufzunehmen ist, bildet ein sehr breites ausreichend zu berücksichtigen. Für alle anderen Spektrum unterschiedlicher Verzeichnungsanga- Teile auch von literarischen Nachlässen sind aber ben, auf das hier nicht im Einzelnen eingegangen die RAK ganz ungeeignet. So wenig man Bücher werden kann. Manches ist für Nachlässe aller Art auf der Grundlage archivischer Ordnungs- und vergleichbar anzuwenden; das dürfte z. B. auf Re- Verzeichnungsgrundsätze adäquat erfassen kann, geln für die überall auftretende Hauptgruppe der so wenig sind die bibliothekarischen Regeln mit Briefe zutreffen, wobei die Frage einer Erfassung ihrer Fixierung auf die formalisierbaren Merkmale des Inhalts – bis hin zur Regestierung – nur am von Autor und Werk geeignet, eine Überlieferung Rande erwähnt sei. Anderes – wie etwa der Be- vollständig und richtig zu beschreiben, die über reich der Werkmanuskripte – bedarf für literari- weite Strecken kaum formalisierbar ist, und bei sche Nachlässe spezieller Regeln; und so ist es der Autor und Werk zum Teil nur untergeordnete kein Wunder, dass sich in den OVG des Goethe- Bedeutung besitzen oder ganz irrelevant sind. Es und Schiller-Archivs nicht weniger als sechs Para- kann grundsätzlich nicht aufgehen, wenn Briefe grafen mit diesem Gegenstand befassen (OVG/ und alle Arten von Lebensdokumenten als GSA §§ 126–131). Es ist also auf jeden Fall festzu- „Werke“ behandelt und in das Prokrustesbett ei- stellen, dass dem Archivar bei der Verzeichnung ner bibliothekarischen Einheitsaufnahme ge- von Nachlassbeständen ein außerordentlich viel- presst werden. gestaltiges, flexibles Instrumentarium von Verfah- rensweisen, von unterschiedlicher Gestaltung der Es ist zu bedauern, dass es bei den Regeln, in de- Verzeichnungsangaben zur Verfügung steht. nen dies festgeschrieben ist und die teilweise un- Seine Handhabung setzt eine vielseitige archivari- ter der Regie der Deutschen Forschungsgemein- sche Qualifikation und Erfahrung voraus, und sie schaft (DFG) entstanden sind, keine rechtzeitige erfordert außerdem, dass sich der Archivar in je- Konsultation, geschweige denn Kooperation, mit dem Einzelfall in die Lebensumstände und Tätig- den Archiven gegeben hat. Eine Rolle spielt da- keitsgebiete des jeweiligen Nachlassers vertieft. bei, dass auch in manchen Literaturarchiven, vor Im Ergebnis eines solchen intensiven, von archi- allem in den alten Ländern, mehr oder weniger varischen Grundsätzen geleiteten Verfahrens nach bibliothekarischen Methoden gearbeitet kann dann eine wirklich dem Gegenstand und sei- wurde und noch wird. Es ist an der Zeit, die in den ner Bedeutung angemessene Erschließung von Archiven vorliegenden Erfahrungen auch und vor Nachlässen erreicht werden. allem bei der Bearbeitung von nicht-literarischen Nachlässen allgemein nutzbar zu machen. Dann Das gilt, um mit dieser Bemerkung abzuschlie- könnte es gelingen, in sinnvoller Verbindung bi- ßen, nur eingeschränkt für die Methoden, die in bliothekarischer und archivarischer Methoden ein den Bibliotheken vorwiegend angewandt wer- differenziertes, allen Gebieten der Nachlassüber- den. Im Bereich der Bestandsbildung und Ord- lieferung wirklich gerecht werdendes Verfahren nung haben sich die Verfahren oder zumindest der Ordnung und Verzeichnung zu entwickeln. die Ansichten zwar angenähert. Bei der Verzeich- Ansatzpunkte dazu bietet auf beiden Seiten viel- nung jedoch ist nach wie vor zu konstatieren, dass leicht die Arbeit an und mit Datenbanken und die die Handschriftenbibliothekare, jedenfalls wenn Notwendigkeit, sie kompatibel zu gestalten. sie sich an die geltenden Regeln halten, das starre Gerüst der Einheitsaufnahme nach den Regeln für Gerhard Schmid

Literaturhinweise

Von bibliothekarischer Seite: Autographen – dbi-Materialien 108. – Schriften der DFG. – Berlin 1991. Christoph König: Verwaltung und wissenschaftliche Erschließung von Nach- lässen in Literaturarchiven. Österreichische Richtlinien als Modell. München Von archivarischer Seite: usw. 1988. – Rezension dazu: Gerhard Schmid, in: Der Archivar 48 (1995), Bestandserschließung im Literaturarchiv. Arbeitsgrundsätze des Goethe- Sp.177–180. und Schiller-Archivs in Weimar. Hrsg. von Gerhard Schmid. München usw. Der Einsatz der Datenverarbeitung bei der Erschließung von Nachlässen und 1996.

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Vom Findbuch zur Datenbank. Die Weimarer Lösung für eine integrierte Archivaliensoftware

Im vorangegangenen Referat hat Gerhard Schmid Diese Software war zwar in der Lage, die vor- die vielfältigen Möglichkeiten zur Ordnung und dringlichen Aufgaben bei der Bestandserfassung Verzeichnung von Nachlässen in einem Literatur- zu erleichtern, eine umfassende Lösung konnte archiv vorgestellt. Traditionell werden die zu die- jedoch damit nicht verwirklicht werden. sen Nachlässen erarbeiteten Bestandsdaten der Archivare in Findbüchern, in Karteien, aber auch Dabei waren die grundlegenden Anforderungen auf Listen festgehalten. Diese Informationen wer- an eine zu konzipierende umfassende Datenbank- den dann sowohl von den Archivaren als auch lösung im Prinzip leicht zu formulieren: nach Mög- den Benutzern für die tägliche Arbeit an und mit lichkeit sollten die die Handschriften beschrei- den Beständen verwendet. Über die Vielfalt der benden Daten nur ein einziges mal erfasst werden dabei entstehenden Findhilfsmittel gibt das und die vielfältigen Nutzungen (Verwaltung der ebenfalls von Gerhard Schmid zusammenge- Zugangsinformationen, Beschreibung des Zu- stellte einschlägige Handbuch beredte Auskunft.1 stands und eventueller Restaurierungsmaßnah- Aufgrund der unterschiedlichen Funktionen und men, Sperrvermerke, vorhandene Sicherungs- Zielgruppen der Nachweismittel bleibt es nicht filme usw.) jeweils mit diesen Daten verbunden aus, dass bei der Erstellung und Pflege redun- werden. Gleichzeitig sollte die Herstellung von dante Arbeiten geleistet werden; eventuelle Kor- traditionellen Findhilfsmitteln unterstützt werden, rekturen an den Bestandsdaten müssen jeweils in kurz, sämtliche Informationen über das einzelne allen unterschiedlichen Verzeichnissen nachgetra- Archivale sollten in einer einheitlichen Struktur in- gen werden. formationstechnisch verwaltet werden. Eine wei- tere wesentliche Anforderung an das System be- Mit dem Einzug der EDV in die Archive bot sich stand zudem darin, dass eine Möglichkeit ge- erstmalig die Gelegenheit bei entsprechender schaffen wurde, den Zugang zu den gespeicher- Datenstruktur, aus einer einmal erstellten Daten- ten Informationen mit abgestuften Rechten zu basis unterschiedliche Nutzersichten zu erzeugen. versehen, da auch die externen Benutzer für Re- Dies ist nicht die Stelle, noch einmal alle Irrungen cherchen und Archivalienbestellungen auf Teile und Wirrungen der Anfangszeit auf diesem Weg der Bestandsinformationen zugreifen sollten. In zu beleuchten und zu beklagen, dennoch sollte diesem Fall sollten ihnen aber Einblicke in archiv- nicht vergessen werden, dass das Zusammenwir- interne Informationen verwehrt bleiben. ken von Informatik und archivischer Praxis zu- nächst von erheblichen Verständigungsschwierig- Eine Möglichkeit für die Umsetzung der Pläne bot keiten geprägt war. Insbesondere in den Litera- sich im Goethe- und Schiller-Archiv nachdem zwei turarchiven, und diese Beobachtung trifft zwei- Voraussetzungen erfüllt waren. Die erste lag in felsohne auf die meisten dieser Einrichtungen in der Entscheidung der Stiftung Weimarer Klassik3 Deutschland zu, hat diese Verständigungsschwie- begründet, das weltweit verbreitete Datenbank- rigkeit zu Verzögerungen bei der Einführung funk- system der Firma Oracle für die Datenhaltung an- tionierender und effizienter Datenbanken geführt. zuschaffen. Damit war gewährleistet, dass zur Die größte Schwierigkeit in diesem Prozess lag Speicherung der Bestandsdaten eine zuverläs- darin, die durch die Technik vorgegebene Algo- sige, stabile und zukunftssichere Lösung zur Ver- rithmen auf Seiten der Archive zu verstehen, fügung steht.4 Wichtiger noch als die Entschei- gleichzeitig aber auch die archivarischen Erfor- dung für die Datenbank-Software war aber die dernisse und Gepflogenheiten den beteiligten In- Bereitschaft des Archivs, eine Stelle aus dem Stel- formatikern zu vermitteln. lenplan des Archivs aufzugeben und eine eigene Anwendungsprogrammiererin für das Haus einzu- Im Goethe- und Schiller-Archiv begann man An- stellen. Vorangegangen war dieser Entscheidung fang der 90er Jahre damit, die Möglichkeiten der eine im Ergebnis unbefriedigend verlaufene Sich- EDV für die Verzeichnungsarbeit2 zu nutzen. Zu- tung des Angebots auf dem kommerziellen Soft- nächst wurden die Daten, die bei der Bearbeitung waremarkt. Die besondere Situation eines Litera- der Bestände anfielen, in eine möglichst einfache turarchivs mit seiner häufig extrem variierenden Struktur gebracht und mit dem an der Universität Erschließungstiefe wurde, zumindest im Entschei- Braunschweig erarbeiteten, in erster Linie in Bi- dungszeitraum 1995/1996, durch die wenigen bliotheken verwendeten Programm Allegro-C er- vorhandenen kommerziellen Lösungen nicht hin- fasst. Allegro-C war zu diesem Zeitpunkt kosten- reichend abgebildet. Aus diesem Grund ent- los zu bekommen – nicht nur in der Frühzeit des schloss sich das Archiv, eine eigene, an den Ge- EDV-Einsatzes ein unschlagbares Argument. pflogenheiten und Anforderungen des Hauses

Sonderheft 2004 19 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

Abb. 1: Übersicht Datensätze in Signaturenreihenfolge für einen ausgewählten Bestand

Abb. 2: Bearbeitung und Anzeige einer Signatur

20 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle orientierte Lösung anzustreben. Die Archivdaten- Felder wie Signatur, Datierung, Schrift; bank, wie sie sich gegenwärtig darstellt, ist somit – Präsentation der Rechercheergebnisse in auch das Resultat intensiver Zusammenarbeit zwi- Form von Kurztitellisten und entsprechender schen archivischen Mitarbeitern und der Soft- Detailanzeige; ware-Entwicklerin. – Erstellung von Findhilfsmitteln (Findbücher, Bestandsverzeichnisse, Rotuli); Bevor auf die Leistungsmerkmale der Archivda- – Generierung von Ausdrucken, wie z. B. Ergeb- tenbank des Goethe- und Schiller-Archivs näher nislisten, Ausgabe einzelner Datensätze, Eti- eingegangen wird, müssen einige grundsätzliche ketten; Überlegungen angesprochen werden. Auch wenn – Exportmöglichkeiten in gängige Formate, z. B. eine Datenbanklösung durch die erhofften Syner- Word, Excel, PDF; gieeffekte zur Erleichterung und Verbesserung – Erstellung von Statistiken; der Archivarbeit und der Auskunftstätigkeit füh- – Anbindung und Präsentation von Digitalisaten ren soll, steht am Anfang Mehrarbeit. Wichtig zu- der Handschriften; dem ist die Einsicht in die Tatsache, dass eine ein- – für jeden Nutzer individuelle Zugriffsrechte zu- mal getroffene Entscheidung für den Aufbau ei- ordenbar. ner Datenbank im Prinzip unumkehrbar ist. Am Beginn der Entwicklung muss die vom Aufwand Die inhaltliche Grundlage der Archivdatenbank her nicht zu unterschätzende Formulierung der bildete die händische Erfassung der vorhandenen konkreten Anforderungen stehen. Die ständige Findbuchinformationen, die zum größten Teil Bewertung der Programmierfortschritte zur ge- durch den Einsatz von ABM-Kräften ermöglicht genseitigen Zielkontrolle erfordert ebenso (Ar- wurde. In einem zweiten Arbeitsschritt wurden ei- beits-)Zeit wie die Erfassung und Bereitstellung nerseits weitere unter Allegro erfasste Bestands- von realistischen Testdaten. Wesentlicher Be- daten in die sukzessiv entstehende Datenbank- standteil bei der Formulierung der Anforderun- struktur übernommen, andererseits auch die Re- gen nimmt neben den archivischen Erfordernis- tro-Konversion vorhandener Daten durch die Ein- sen auch die Antizipation möglicher Nutzerwün- speicherung auf Karteikarten gehaltener sche ein. Um der aufzubauenden Datenbank die Informationen fortgesetzt. Nach einer ersten Er- nötige Flexibilität für spätere, veränderte Anfor- probungsphase wurden sämtliche bei neuen Ar- derungen zu geben, ist ein fundiertes Datenmo- beiten an den Beständen anfallende Daten unmit- dell und ein modularer Aufbau der entwickelten telbar in die Datenbank eingespeist. Software unabdingbare Voraussetzung. Gegenwärtig enthält die Archivdatenbank des Die Archivdatenbank verfügt über eine mit dem Goethe- und Schiller-Archivs etwa 125.000 Da- Entwicklungssystem Delphi5 programmierte Be- tensätze. Die stiftungsinterne Freischaltung er- nutzerschnittstelle, die den Zugriff auf die in der folgte im Sommer 2001. Seit diesem Zeitpunkt Oracle-Datenbank gespeicherten Daten gewähr- können die Mitarbeiter der Stiftung sowie die Be- leistet und folgende Möglichkeiten bietet: nutzer eigene Personen- und Sachrecherchen in- nerhalb des Stiftungsnetzes durchführen. Der Zu- – Erfassung der Archivalieneinheiten in verschie- griff auf ausgewählte Bestände des Archivs über denen Intensitätsgraden, von der summari- das Internet ist für Anfang 2005 geplant. schen bis hin zur Einzelverzeichnung; – Module zur Erfassung von Neuzugängen, Er- Die bislang gemachten Erfahrungen bei der Ent- haltungszustand und Verfügbarkeit, Kopien wicklung und dem Einsatz der Archivdatenbank der Archivalien; des Goethe- und Schiller-Archivs erlauben eine – Erfassung von Bestandsdaten, wie z. B. Be- Zwischenbilanz. Der Einsatz eines eigenen Soft- standsgeschichten und Kurzbiografien, biblio- ware-Entwicklers hat sich eindeutig bewährt. Die grafischen Daten sowie Schriftproben und Por- Datenbank verfügt mittlerweile über exakt auf träts der Nachlasser (vgl. Abbildung 3); die Bedürfnisse des GSA abgestimmte Nut- – komfortable Navigationsmöglichkeiten inner- zungsmöglichkeiten. Durch enge Zusammenar- halb der Datenbank, z. B. Präsentation der je- beit der Entwicklerin mit Archivaren zu jedem weiligen Bestandsstruktur mit Soforteinstieg Zeitpunkt der Entwicklung konnte sich diese ge- an der gewünschten Stelle; naue Kenntnisse der Arbeitsprozesse erarbeiten. – umfangreiche Recherchemöglichkeiten, z. B. Dabei ergaben sich sehr schnell beiderseits ver- ein Wortregister, das alle Begriffe aus den in- wertbare Synergieeffekte und eine Beförderung haltlichen Beschreibungen der Archivalienein- der gegenseitigen Ideenfindung zur Lösung von heiten umfasst, die Möglichkeit der Volltextre- Problemen. cherche sowie der Recherche über einzelne Die unmittelbare Präsenz der Entwicklerin erleich-

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Abb. 3: Beispiel für angereicherte Informationen zu einem Bestandsbildner

Abb. 4: Struktur für ausgewählten Bestand

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Abb. 5: Druckvorschau Findbuch für ausgewählten Bestand terte die ständige Weiterentwicklung der Soft- Von wirtschaftlicher Bedeutung ist zweifelsohne ware, die Einarbeitung neuer Erkenntnisse, eine auch der Aspekt, dass durch die Nutzung von schnelle Reaktion auf entstehende Bedürfnisse Standardsoftware zur Entwicklung der Applikatio- und Wünsche der Archivmitarbeiter. Direkte Ver- nen (Oracle, Delphi) auch für das Archiv eine Inve- besserungen der Arbeitsmöglichkeiten durch die stitionssicherheit gewährleistet bleibt. Zudem er- enge Zusammenarbeit ergeben sich für die Archi- folgt eine ständige Beobachtung der weiteren vare zudem in der Unterstützung bei der tägli- technischen und archivwissenschaftlichen Ent- chen Arbeit, z. B. durch die on-the-fly-Generie- wicklung außerhalb des Goethe- und Schiller-Ar- rung spezieller Datenabfragen und die anschlie- chivs. ßende Erstellung von Ergebnislisten. Uta Grießbach/Manfred Koltes

Anmerkungen

1 Bestandserschließung im Literaturarchiv. Arbeitsgrundsätze des Goe- aufbauenden Editionsprojekte wurden eigene, an den spezifischen An- the- und Schiller-Archivs in Weimar, hrsg. von Gerhard Schmid, Mün- forderungen orientierte Softwarelösungen gefunden. chen, New Providence, London, Paris 1996, hier bes. 113-132. Diese 3 Inzwischen ist durch die Fusion der „alten“ Stiftung mit den Kunst- Publikation ist auch auf den Internetseiten des Goethe- und Schiller-Ar- sammlungen der Stadt Weimar die Stiftung Weimarer Klassik und chivs unter http://www.weimar-klassik.de/media/dokumente/bestands- Kunstsammlungen entstanden. erschliessung.pdf abrufbar. 4 Gegenwärtig erfolgt in der SWKK der Umstieg auf die Version Oracle 10g. 2 Für die am Goethe- und Schiller-Archiv angesiedelten, auf die Bestände 5 Zur Zeit ist die Version 7 von Delphi in der SWKK im Einsatz.

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Gelehrten-Nachlässe im Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft und ihre Bedeutung für die Forschung

Das Archiv zur Geschichte der einen bedeutenden Gelehrten für die Gesell- Max-Planck-Gesellschaft schaft zu gewinnen und dann ein Institut nach Das Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesell- dem sog. „Harnack-Prinzip“ (benannt nach dem schaft wurde 1976 als zentrales Archiv der Max- ersten Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesell- Planck-Gesellschaft im ehemaligen Max-Planck- schaft Adolf von Harnack) ganz nach seinem Ge- Institut für Zellphysiologie in Berlin-Dahlem ein- schmack und seinen Bedürfnissen quasi „um ihn gerichtet, das nach dem Tode seines Direktors, herum zu bauen“. Das Harnack-Prinzip gilt in ge- des Nobelpreisträgers Otto Warburg, 1970 nicht wisser Weise noch heute und ist mit ein Grund für weitergeführt worden war. Es verwahrt Archiva- die überaus erfolgreiche Forschung in der Gesell- lien, ungedrucktes, aber auch gedrucktes Mate- schaft und für deren Ansehen. So waren bzw. sind rial sowie audiovisuelle Dokumente, die für die insgesamt achtundzwanzig Wissenschaftliche Mit- Geschichte der 1948 gegründeten Max-Planck- glieder und vier Präsidenten Nobelpreisträger, Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften zwanzig weitere wurden als wissenschaftliche Mit- als auch die ihrer Vorgängereinrichtung, der 1911 arbeiter oder Postdoktoranden an Instituten der gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Gesellschaft ausgebildet. Förderung der Wissenschaften, von Bedeutung sind.1 Auf die Geschichte beider Gesellschaften Nachlässe – Bestand und Akquisition kann hier nicht näher eingegangen werden, es sei Derzeit verwahrt das Archiv 207 Nachlässe2, dar- nur erwähnt, dass die Gesellschaft, ein überwie- unter die von elf Nobelpreisträgern (von den Che- gend aus Bund- und Ländermitteln finanzierter mikern Carl Bosch, Adolf Butenandt, Otto Hahn, Verein privaten Rechts, zur Zeit 78 Forschungsin- Richard Kuhn, Feodor Lynen, den Physikern Wal- stitute unterhält, in denen Grundlagenforschung ter Bothe, Peter Debye, Max von Laue, Ernst in den Naturwissenschaften, der Medizin sowie Ruska, dem Biologen Georges Köhler und dem den Geistes- und Sozialwissenschaften betrieben Chemiker und Mediziner Otto H. Warburg). Von wird. Max Planck und Fritz Haber sind die Nachlässe nicht erhalten, doch besitzt das Archiv zu beiden Das Archiv übernimmt sowohl die Akten der Ge- umfangreiche Sammlungen, die Nachlasssplitter neralverwaltung und der Leitungsgremien als enthalten. Zu erwähnen sind die Nachlässe der auch die der Institute, einzelner Abteilungen, For- Nobelpreisträger zum einen, weil sie meist um- schungsstellen oder Arbeitsgruppen, wenn sie fangreich und auch besonders interessant sind, geschlossen werden oder keinen Platz mehr für ohne damit den Wert der übrigen Nachlässe ihre Altregistratur haben. Daneben liegt der schmälern zu wollen. Zum anderen wird über be- Schwerpunkt der Erwerbungen auf den Nachläs- rühmte Wissenschaftler, die Nobelpreisträger nun sen hervorragender Persönlichkeiten, vor allem einmal sind, in der Regel wissenschaftshistorisch der Wissenschaftlichen Mitglieder und Direkto- mehr gearbeitet als über andere Wissenschaftler. ren, die in der Kaiser-Wilhelm- bzw. in der Max- Auch seitens der Medien besteht großes Inter- Planck-Gesellschaft tätig waren. Von diesen soll esse an ihnen. hier die Rede sein. Die Bereitschaft, Nachlässe dem Archiv zu über- Wissenschaftliche Mitglieder der geben, ist innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft Max-Planck-Gesellschaft dank einer aktiven und erfolgreichen Erwerbungs- Die Wissenschaftlichen Mitglieder der Gesell- politik erfreulich groß. Während in den Aufbau- schaft, deren Status heute etwa dem eines C 4-/ jahren der Schwerpunkt zunächst auf der Ermitt- W 2-Professors bzw. Lehrstuhlinhabers (Ordina- lung und Akquisition von Nachlässen bereits län- rius) entspricht, werden vom Senat der Max- ger verstorbener Wissenschaftlicher Mitglieder in Planck-Gesellschaft als „Nur“-Forscher ohne den Instituten und bei Angehörigen lag, stehen Lehrverpflichtung aufgrund ihres wissenschaftli- heute die potentiellen Nachlasser selbst im Mit- chen Ansehens berufen; sie stellen die Direktoren telpunkt des Interesses. Alle Wissenschaftlichen der Institute und sind Leiter eigener Abteilungen Mitglieder werden einige Monate vor ihrer Emeri- bzw. Arbeitsbereiche. Ein Wissenschaftliches Mit- tierung gebeten, ihre Unterlagen dem Archiv an- glied ist in seiner Forschung völlig frei, d. h. es zuvertrauen oder darüber eine testamentarische kann im Rahmen seines Institutes forschen, was es Verfügung zu Gunsten des Archivs zu treffen. Dar- möchte bzw. für aussichtsreich ansieht, auch das über hinaus konnte das Archiv vor einigen Jahren Forschungsgebiet völlig wechseln, wenn es dies erreichen, dass ein Hinweis auf das Archiv bereits für richtig hält. Die Berufungspolitik der Kaiser- in einem Schreiben enthalten ist, das der Präsi- Wilhelm-Gesellschaft zielte darauf ab, zunächst dent allen Wissenschaftlichen Mitgliedern einige

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Jahre vor der Emeritierung verschickt. Dieses Vor- denen naturgemäß und entsprechend dem Wir- gehen hat sich als recht erfolgreich erwiesen. kungskreis mehrere Einrichtungen interessiert Heute übernimmt das Archiv die Unterlagen sind. So sind die Nachlässe von Otto Hahn und meist von den Wissenschaftlichen Mitgliedern Otto Warburg auf zwei, der von Max von Laue so- selbst, also quasi als „Vorlass“, ansonsten nach ih- gar auf drei Archive verteilt. rem Tod aus den Instituten bzw. von den Erben, die sie in der Regel unentgeltlich überlassen. In Ergänzung und als privates Korrektiv der Sach- Viele Wissenschaftlichen Mitglieder und ihre An- akten der Institute legt das Archiv größten Wert gehörigen sind erfreut, dass das Archiv ihre Pa- auf Nachlässe, da sie nicht nur häufig farbiger als piere übernehmen möchte, um sie in „illustrer die Dienstakten sind, sondern sich aus ihnen der Gesellschaft der anderen Gelehrtennachlässe“ Prozess der persönlichen Willensbildung und Ent- quasi in der „Familiengruft der Kaiser-Wilhelm-/ scheidungsfindung, die Entstehung von For- Max-Planck-Gesellschaft“ für die „Ewigkeit“ bzw. schungszielen und die dabei angewandten Me- zur „Wiederbelebung“ durch Wissenschaftshisto- thoden, Fehlschläge und Irrwege, aber auch das riker sicher aufzubewahren. Befindet sich der forschungspolitische und organisatorische Wirken Dienstzimmernachlass eines verstorbenen Wis- rekonstruieren lässt. Hinzu kommt bei uns die Be- senschaftlers noch im Institut, wird er in der Regel deutung des Nachlassschriftgutes als Ersatzüber- auf Nachfrage übergeben. lieferung zu verlorenen Institutsakten. In den Insti- tuten kommt es zuweilen vor, dass die Geschäfts- Seitens des Archivs ist die möglichst vollständige führungs- oder sogar Verwaltungsakten in die Übernahme der Papiere zu Lebzeiten besonders Nachlässe gelangen, wie umgekehrt Nachlässe wünschenswert sowie die Mitwirkung bei der Ent- zuweilen in den Institutsakten enthalten sind; die scheidung, was davon aufbewahrt werden soll. Übergänge sind hier fließend. Da die Max-Planck- Die Erben bevorzugen häufig statt der Übereig- Gesellschaft aber eine private Organisation ist, in nung an das Archiv die Übergabe des Nachlasses der sowohl die Institute als auch die Direktoren als Depositum, dessen Eigentümer sie zwar blei- eine außerordentliche Eigenständigkeit besitzen, ben, dessen Sicherung und Verwahrung – manch- ist hier eine Reglementierung nicht durchsetzbar. mal auch die Nutzung – jedoch dem Archiv über- Letztlich ist jede Übergabe an das Archiv – seien antworten. Ist zu Lebzeiten oder mit den Erben es Institutsakten oder Nachlässe – eine Frage der nichts anderes vereinbart worden, unterliegen die guten Beziehungen zwischen Archiv und Institut. Nachlässe einer – dem Bundesarchivgesetz ana- logen – Schutzfrist von 30 Jahren nach dem Tod Umfang und Inhalt der Nachlässe variieren stark. des Nachlassers; bei den derzeit 50 Vorlässen Der Umfang reicht von Konvoluten, also Nach- entscheiden die Betreffenden selbst über eine lasssplittern, bis hin zu 84 lfm. Sie bestehen aus Benutzung durch Dritte. Material- und Datensammlungen – wie Messer- gebnissen, Fotos, Laborbüchern –, aus Manu- Naturwissenschaftler neigen unserer Erfahrung skripten, Vorlesungsskripten, Gutachten, Korres- nach weniger als Geisteswissenschaftler dazu, pondenzen, Unterlagen der Gremien und Körper- ihre Unterlagen aufzubewahren, da nach Mei- schaften, in denen sie tätig sind, Sonderdrucken nung vieler alles, was wichtig war, in ihren Veröf- ihrer und manchmal auch fremder Arbeiten sowie fentlichungen steht. Vielleicht ist ihr historisches aus bei ihnen angefertigten Diplom- und Doktor- Interesse weniger ausgeprägt als bei Geisteswis- arbeiten sowie Habilitationsschriften. Zunehmend senschaftlern oder erwacht erst spät. Aufgrund werden auch elektronische Datenträger mit wis- von Desinteresse oder von mangelndem Be- senschaftlichen Daten übergeben. wusstsein für die Wichtigkeit sind früher Registra- turbestände und Nachlässe in den Instituten im- Nachlässe – Bedeutung für die Forschung mer wieder abhanden gekommen; und auch Für welche Forschungen sind die Nachlässe von heute noch geschieht dies zuweilen trotz der Be- Bedeutung? Hier sind zuerst die Biografien zu mühungen des Archivs, dem entgegenzuwirken. nennen, für deren Abfassung der Nachlass eine Von den Hinterbliebenen wird sicher mehr aufbe- wichtige Quelle darstellt. Doch muss man ebenso wahrt, vor allem von den Witwen, die bestrebt die Briefwechsel in den Nachlässen von Kollegen sind, das Andenken ihres Mannes zu bewahren, heranziehen, denn nicht immer sind Kopien der was aber die Gefahr birgt, dass sie seinen Nach- eigenen Briefe vorhanden. Häufiger werden die lass „schönen“ oder bereinigen. Leider kommt es Nachlässe für Würdigungen oder Ausstellungen immer wieder vor, dass Nachlässe von privater anlässlich von Gedenktagen benötigt oder ergän- Seite nicht geschlossen übergeben, sondern auf zend zu den Publikationen, wenn es um den Bei- mehrere Archive „verteilt“ werden; dies betrifft trag des Wissenschaftlers zu einem speziellen vor allem die der berühmten Wissenschaftler, an Forschungsgebiet geht.

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Wer über die Geschichte einzelner Institute, Diszi- Weise den Krieg überdauert haben und von de- plinen oder Entdeckungen arbeitet, findet viel- nen einige nun in unserem Archiv liegen. So leicht Material, das Entwicklungen veranschau- konnte das Archiv kürzlich einem Benutzer mit licht, Ereignisse erklärt bzw. den Weg der Entdek- mehreren Geheimberichten der Lilienthal-Gesell- kung aufzeigt oder bei Prioritätenstreitigkeiten schaft für Luftforschung weiterhelfen, nach denen exakte Datierungen ermöglicht. Denn in den offi- er schon lange gesucht hatte. ziellen Akten der Gremien und der Institute lassen Der Wert von Nachlässen für die Forschung soll sich zwar Entscheidungen und Geschehnisse an zwei Beispielen veranschaulicht werden, einem nachvollziehen, doch nicht immer sind die zur Geschichte der Wiederentdeckung der Men- Gründe hierfür offengelegt. Dies trifft besonders delschen Vererbungsgesetze um 1900, rund 30 für die Zeit des Dritten Reichs zu, wo beispiels- Jahre nach ihrer Veröffentlichung, und einem zur weise Sitzungsprotokolle oft nur knappe Ergeb- Geschichte der Entdeckung der Kernspaltung, nisprotokolle sind, aus denen nichts über die Ent- die das Atomzeitalter eingeläutet hat. scheidungsfindung, über Widerstände oder Ein- wände der Beteiligten hervorgeht. Hier können Beispiele Privatkorrespondenzen entscheidende Hinweise I. Die Wiederentdeckung der Mendelschen bieten, auch wenn viele in ihren schriftlichen Äu- Vererbungsgesetze ßerungen während der Diktatur vorsichtig waren. Die Wiederentdeckung der Mendelschen Verer- In Nachlässen finden sich vertrauliche Mitteilun- bungsgesetze durch die Genetiker Erich von gen über Rivalitäten und Intrigen, über Gründe, Tschermak-Seysenegg, Carl Correns und Hugo warum jemand berufen oder nicht berufen wurde de Vries erfolgte nahezu zeitgleich um 1900. Bio- und so fort. logiehistoriker gingen überwiegend davon aus, dass die drei nicht selbst durch eigene Versuche Ein anderes Beispiel sind Geheimakten: Der Füh- auf diese Gesetze kamen, sondern die Mendel- rererlass vom 13. Juli 1944, im Falle einer feindli- sche Publikation gekannt hatten, nur Correns chen Besetzung alle wichtigen Akten in den öf- traute man zu, dass er die Gesetze selbst noch fentlichen Verwaltungen zu vernichten, galt auch einmal entdeckt hatte. Der erhaltene Teil seines für die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und wurde Nachlasses liegt im MPG-Archiv. Er besteht über- von ihr befolgt; es sind keine Geheimakten über- wiegend aus seinen vollständig erhaltenen, zahl- liefert. Doch haben einzelne Wissenschaftler sol- reichen Versuchsprotokollen aus den Jahren che Unterlagen privat aufbewahrt, die auf diese 1888–1932.

Carl Correns zusammen mit seiner Frau beim Protokollieren Protokoll von Carl Correns zu Erbsenversuchen 1896 von Versuchsergebnissen (VI. Abt., Rep. 1 Correns, Nr. 10) (III. Abt., Rep. 17, Nr. 115 Pisum)

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Ein Biologiehistoriker, H.-J. Rheinberger, hat vor weil er ein völlig anderes Forschungsziel verfolgte einigen Jahren in monatelanger Archivarbeit Cor- und daher auch Mendels Publikation nicht ent- rens`Protokolle mit Mais und Erbsen durchgese- sprechend erfasste. Erst Ende 1899 habe Correns hen, um zu prüfen, ob er seine Kreuzungsversu- ihre Bedeutung endgültig erkannt.5 che in Kenntnis der Mendelschen Vererbungsge- setze durchführte oder ob er unabhängig auf die- II. Die Kernspaltung selben Ergebnisse gekommen war. Voraussetzung Die Kernspaltung, genauer die Spaltung von Uran hierfür war, dass Rheinberger selbst Genetiker ist, durch Bestrahlung mit langsamen Neutronen, er also in der Lage war, die Protokolle lesen und wurde im Dezember 1938 durch die Chemiker interpretieren zu können. Zu seiner Überraschung Otto Hahn und Fritz Strassmann am Kaiser-Wil- fand er eine Notiz vom 16. April 1896, in der sich helm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem ent- Correns über Mendels Ergebnisse äußert: „Men- deckt. Seit Mitte der 30er Jahre hatten die Physi- del unterscheidet dominierende und rezessive kerin Lise Meitner und der Chemiker Otto Hahn, Merkmale…“3. In einer viele Jahre später ent- beide Wissenschaftliche Mitglieder des Kaiser- standenen unveröffentlichten autobiographi- Wilhelm-Instituts für Chemie in Berlin-Dahlem, in schen Skizze gab Correns dagegen an, dass er die Konkurrenz zu Enrico Fermi in Rom damit begon- Arbeit erst während der Abfassung seiner „Wie- nen, durch Bestrahlung von Uran mit den damals derentdeckungsarbeit“ gefunden habe: „Es war gerade entdeckten Neutronen Transurane, also in einer schlaflosen Novembernacht gegen Mor- chemische Elemente schwerer als Uran, zu finden. gen, als mir auf einmal die Erklärung für die Beob- An diesen Arbeiten war auch Hahns Assistent Fritz achtungen an Pisum [Erbsen] und Zea [Mais] auf- Strassmann als exzellenter Analytiker beteiligt. Im gingen. Erst als ich die Veröffentlichung vorberei- Juli 1938 wurden die Arbeiten gestört, als Lise tete, sah ich die Literatur systematisch durch und Meitner überstürzt aus Deutschland fliehen fand nun, …dass Mendel das alles schon vor 35 musste, weil sie als Jüdin mit dem Anschluss Jahren gefunden und publiziert hatte.“4 In seiner Österreichs plötzlich unter die deutschen Rasse- Rekonstruktion von Correns’Experimenten kam gesetze fiel. Hahn und andere halfen ihr bei der Rheinberger zu dem Schluss, dass Correns ab Flucht in letzter Minute. Als im Oktober 1938 eine 1896 auf dieselben Befunde wie Mendel stieß, Publikation der Tochter von Marie Curie, Irène, deren Bedeutung aber zunächst nicht erkannte, zusammen mit Paul Savitch erschien, die durch

Einträge zu den Kernspaltungsversuchen Dezember 1938 im Taschenkalender Otto Hahns (III, Abt., Rep. 14B, Nr. 1)

Sonderheft 2004 27 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

Bestrahlung von Uran mit Neutronen ein Element sprochenen – Befund über das Jahresende mit ih- 93 gefunden hatten, das andere physikalische rem Neffen, dem ebenfalls emigrierten Physiker und chemische Eigenschaften als das vom Berli- Otto Robert Frisch. Sie kommen zu dem Schluss, ner Team beschriebene aufwies, gaben Hahn und dass Hahn und Straßmann einen völlig neuen Strassmann die Suche nach den Transuranen auf Kernprozess gefunden haben. Meitner schreibt und begannen sofort mit der Überprüfung der Pa- an Hahn am 3. Januar: „Ich bin jetzt ziemlich si- riser Befunde. cher, dass Ihr wirklich eine Zertrümmerung zum Was in den beiden nächsten Monaten geschah, Barium habt und finde das ein wirklich wunder- lässt sich im Nachlass Otto Hahns gut nachvollzie- schönes Ergebnis, wozu ich Dir und Straßmann hen anhand seines Taschenkalenders6 und seines sehr herzlich gratuliere.“8 Meitner und Frischs intensiven Briefwechsels mit Lise Meitner, inzwi- Deutung des von ihnen „Kernspaltung (nuclear schen in Stockholm, mit der er Fragen und Zwei- fission)“ genannten Prozesses erscheint am fel besprach und sie so an der Arbeit beteiligte. 11. Februar in der renommierten englischen Zeit- Auch ihre Flucht ist am 13. Juli im Taschenkalen- schrift Nature. der verschlüsselt erwähnt: „L. ab nach Wien. Abends Nachricht, dass gut ankommen.“ In Wirk- Diese kurzen Auszüge sollten belegen, wie gut lichkeit floh sie über die holländische Grenze. Am sich die Entdeckung der Kernspaltung allein an 21. Oktober notiert Hahn: „Arbeit von Curie + Sa- Hahns Notizkalender und seinem Briefwechsel mit vitch begonnen nachzumachen: der 3,5 Stunden- Lise Meitner nachvollziehen lässt, wenngleich es Körper scheint da zu sein! Aber Eig[enschaften] hierzu weitere wichtige Quellen gibt. Nur Hahn al- unverständlich.“ Vier Tage später schreibt er über lein wurde für die Entdeckung mit dem Nobel- diese ersten Befunde an Lise Meitner. Trotz zahl- preis für Chemie 1944 ausgezeichnet. Am Ge- reicher anderer Verpflichtungen, viel Lauferei we- bäude des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für gen Meitners Pension und der Verschickung ihres Chemie wurde 1956 eine Gedenktafel zur Erinne- Hausrats und ihrer wissenschaftlichen Unterlagen rung an die Entdeckung der Kernspaltung ange- nach Schweden, geht die Laborarbeit mit Hoch- bracht. Meitner ist auf ihr nicht erwähnt, doch wird druck weiter; dann, kurz vor Weihnachten, gibt es seit 1997 mit einer weiteren Tafel am Haus auf ihre ein überraschendes Ergebnis. Am 19. Dezember Mitwirkung an der Entdeckung hingewiesen. notiert Hahn in seinem Kalender: „Indikatorver- such: La[nthan]-Ge[rmanium] (M[e]s[o]th[or] 2 u. unser Ac[tinium] II.) unser Ac anders als Msth 2!!“ Noch am selben Abend schreibt er einen langen Brief an Meitner, in dem es u. a. heißt: „Zwischen- durch arbeite ich, soweit ich dazu komme, und ar- beitet Straßmann unermüdlich an den Urankör- pern, unterstützt von Lieber und Bohne [2 techni- sche Assistentinnen]. Es ist jetzt gleich 11 Uhr 1 abends; um /4 12 will Straßmann wiederkommen, so dass ich nach Hause kann allmählich. Es ist nämlich etwas bei den „Radiumisotopen“, was so merkwürdig ist, dass wir es vorerst nur Dir sa- gen … immer mehr kommen wir zu dem schreck- lichen Schluss: Unsere Radium-Isotope verhalten sich nicht wie Radium, sondern wie Barium … Ich habe mit Strassmann verabredet, dass wir vorerst nur Dir dies sagen wollen. Vielleicht kannst du ir- gendeine phantastische Erklärung vorschlagen. Wir wissen dabei selbst, dass es eigentlich nicht in Barium zerplatzen kann …“7 Kalender 21. Dezem- ber: „Im Institut fangen Ferien an. Straßm + ich schreiben unsere aufregende Arbeit.“ 22. Dezem- ber: Straßmann + ich + Bohne schreiben unsere „Ba-Arbeit“ fertig. Dr. [Paul] Rosbaud holt sie abends für die Naturwissenschaften ab.“ Die Mit- teilung erscheint bereits am 6. Januar 1939 in die- ser Zeitschrift. Erst dadurch erfahren die Kollegen aus Hahns Institut von den Ergebnissen. Meitner Lise Meitner und Otto Hahn anlässlich der Einweihung diskutiert den – in dem eben zitierten Brief ange- des Hahn-Meitner-Instituts für Kernforschung in Berlin am 14. März 1959 (VI. Abt., Rep. 1 Hahn/Meitner Nr. III.1/11).

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Auch für die Geschichte der Kernenergiefor- terzeichnern der ,Mainauer Kundgebung’ von 51 schung und Kernenergiepolitik der Bundesrepu- Nobelpreisträgern zum Verzicht auf Gewalt, ins- blik Deutschland in den 50er und 60er Jahren bie- besondere auf Kernenergie, und 1957 zu denen tet der Nachlass von Otto Hahn eine Fülle von der ,Göttinger Erklärung’ von 18 deutschen Material, da er sich als Entdecker der Kernspal- Atomforschern zum Verzicht auf Atomwaffen jeg- tung und Präsident der Max-Planck-Gesellschaft licher Art und friedlicher Verwendung der Kern- 1948-1960 an der öffentlichen Diskussion enga- energie. giert beteiligte. So gehörte er 1955 zu den Mitun- Marion Kazemi

Anmerkungen

* Leicht überarbeitete Fassung des Vortrags am 3. Mai 2004. 3 Nachlass Correns, III. Abt., Rep. 17, Nr. 115 Pisum-Kreuzungen. 1 Vgl. Führer durch das Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesell- 4 desgl., Nr. 1, Autobiographie S. 4 schaft. Anläßl. des 25jährigen Jubiläums 1978–2003 … neu bearb. von 5 Rheinberger, Hans-Jörg: Carl Correns’Experimente mit Pisum, Eckart Henning. Berlin 2003 (Veröffentlichungen aus dem Archiv zur 1896–1899. In: History and Philosophie of the Life Sciences 22 (2000) Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft. Bd. 17). 187–218. 2 Wegeleben, Christel: Beständeübersicht des Archivs zur Geschichte der 6 Nachlass Otto Hahn, III. Abt., Rep. 14B, Nr. 1. Max-Planck-Gesellschaft in Berlin-Dahlem. Berlin 1997 (Veröffentlichun- 7 Nachlass Otto Hahn, III. Abt., Rep. 14A,Nr. 4873. gen aus dem Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft. Bd. 9). 8 desgl. Nr. 4875

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Musiker-Nachlässe im Thüringischen Landesmusikarchiv im Archiv der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar

1. Anmerkungen zum Hochschularchiv/ Staatskapelle, die gleichzeitig Professuren an der Thüringischen Landesmusikarchiv an der Weimarer Orchester- bzw. Musikhochschule inne Hochschule für Musik hatten; das betrifft z. B. den Nachlass Hermann Die heutige Hochschule für Musik Franz Liszt Abendroths (1883–1956). Hinzu kommen die Nach- wurde 1872 als erste Orchesterschule Deutsch- lässe/Teilnachlässe der Komponisten und Hoch- lands im Auftrag Carl Alexanders von Sachsen- schullehrer Waldemar von Baußnern (1866–1931), Weimar-Eisenach durch Carl Müllerhartung mit Richard Wetz (1875–1935), Kurt Rasch (1902–1986), Unterstützung Franz Liszts, Hans v. Bülows u. a. Ottmar Gerster (1897–1869), Johann Cilencˇek gegründet. Das heutige Hochschularchiv wurde (1913–1998) und Joachim Thurm (1927–1995), die 1995 als öffentliches Archiv vom damaligen Rektor Wissenschaftler- und Pädagogen-Nachlässe von Prof. Dr. Wolfram Huschke aus den Beständen des Arno Werner (1865–1955), Heinrich Möller (1876– „Archivs und Instituts für Volksmusikforschung“, 1958), Franz Magnus Böhme (1827–1898), Carl gegr. 1951 von Prof. Dr. Günther Kraft (1907– Hartenstein (1863–1943), Günther Kraft (1907– 1977), den Notensammlungen und Hochschulleh- 1977), Richard Münnich (1877–1970), Alfred Thiele rernachlässen seit der Gründung von 1872 sowie (1902–1982), Paul Michel (1918–1986), Kurt Tho- dem Verwaltungsarchiv der Hochschule gegrün- mas (1920–2003) u. a. Umfangreich sind die Musik- det; sie bilden heute ca. 10 % der Bestände.1 Die Nachlässe und Sammlungen von Vereinen, Gesell- Benennung Thüringisches Landesmusikarchiv als schaften, Verlagen und Institutionen. Die Typolo- Struktureinheit für die Spezialsammlungen der gie der im Archiv befindlichen Nachlässe weist die Musicalia erfolgte 2001.2 Damit wurde es möglich, gesamte Spannweite des Begriffes auf. die Sammlungstätigkeit des Archivs weiter auszu- bauen. Die Idee eines Spezialarchivs für Musik ent- stand bereits 1911 in Vorbereitung auf den 100. Aus den vorhandenen Beständen sowie den An- Geburtstag Franz Liszts, die Protagonisten waren forderungen aus Lehre und Forschung ergeben Oskar von Hase und Richard Strauss, der einmal sich Sammlungsschwerpunkte des Archivs zur Weimarer Kapellmeister und Vorsitzender des von Musikgeschichte Thüringens des 17./18. Jh. so- Franz Liszt gegründeten Allgemeinen Deutschen wie der Weimarer und der Musikgeschichte Thü- Musikvereins (ADMV) war.3 ringens des 19./20. Jh. Hierzu gehören Volks- und Popularmusiksammlungen sowie die Noten- Die im Hochschularchiv/Thüringischen Landes- sammlungen und Archive Thüringer Adjuvanten. musikarchiv gesammelten Handschriften und Die Adjuvantenarchive sind wichtige Zeugnisse Drucke sind entsprechend der Archivordnung evangelisch-lutherischer Kirchenmusik, sie zeigen Quelle für Lehre und Forschung sowohl für die das hohe Niveau ländlicher Musikkultur des Hochschulangehörigen als auch für Musiker und 17./18. Jh. in den mitteldeutschen Ländern. In der Musikwissenschaftler aus aller Welt. Das bedeu- Folge der lutherischen Reformen wurden in den tet, dass Ordnung, Verzeichnung, Verfilmung und Dorfschulen das Singen und Spielen vom Blatt Restaurierung möglichste zeitnah und die wissen- genauso geübt wie Rechnen, Schreiben und Le- schaftliche Verzeichnung nach diesem speziellen sen, so dass der Gottesdienst von den Kirchge- Bedarf zu organisieren sind. Da viele der Nach- meinden musikalisch selbst ausgestaltet werden lässe und Sammlungen Grundlage für For- konnte.5 Das in den Adjuvantenarchiven erhal- schungs- oder Wiederaufführungsprojekte sind, tene Repertoire zeigt ein sehr hohes Niveau kirch- ist es möglich, Drittmittel für Verzeichnung, Verfil- licher Musikpraxis. Aufgeführt wurden Komposi- mung und Restaurierung einzuwerben. tionen örtlicher Kantoren, aber auch Werke von Heinrich Schütz, der Bach-Familie, von Schein, 2. Musiker-Nachlässe, Teilnachlässe und Scheidt, Monteverdi, Orlando di Lasso u. a., sie Sonderbestände im Hochschularchiv/ wurden – zum Teil 16-stimmig und mit Orchester- Thüringischen Landesmusikarchiv begleitung – selbst in kleinsten Kirchgemeinden (HSA/ThLMA) der Hochschule für Musik aufgeführt. Die Adjuvantenarchive sind eine mu- Franz Liszt Weimar 4 sikhistorische Besonderheit Thüringens, die zu Hierzu gehören u. a. Teilnachlässe des Gründers DDR-Zeiten in Vergessenheit geriet. Seit 2002 und langjährigen Direktors Carl Müllerhartung gibt es einen Rahmenvertrag zwischen der evan- (1834–1908), der Liszt-Schüler Karl Goepfahrt gelisch-lutherischen Kirche in Thüringen und der (1859–1942), Max Meyerolbersleben (1850–1927), Hochschule für Musik Franz Liszt, die wertvollen, des Liszt-Enkelschülers, Pianisten und Direktors oft stark beschädigten Archive in ihrem Bestand von 1915–1933 Bruno Hinze-Reinhold (1877–1964), zu erhalten, zu sichern und wieder zum Klingen zu Teilnachlässe zahlreicher Mitglieder der Hof- bzw. bringen. Sie bieten eine Fülle von Unikaten, de-

30 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle ren Bedeutung durch die wissenschaftliche Ver- A) einer Musikwissenschaftlichen Bibliothek, B) ei- zeichnung, Forschungs- und Wiederaufführungs- nem umfangreichen und hochrangigen Notenbe- projekte wieder ins Bewusstsein gerückt wird. Die stand des 17.–19. Jh., insbesondere zu den Adju- vorhandenen Nachlässe von Hofkapellen der vantenmusiken, C) einem Archiv seiner wissen- Thüringer Residenzen und städtische Kirchenmu- schaftlichen Forschungen, einschließlich Korre- sikbestände werden durch die dörflichen Adju- spondenzen, Forschungsdokumentationen etc., vantenarchive ergänzt und ergeben erst so ein es enthält u. a. einen unveröffentlichten General- Bild der Musizierpraxis des 17./18. Jh. in Thürin- katalog der Musiker in Sachsen, Sachsen-Anhalt gen, dem eigentlichen Musikland Deutschlands. und Thüringen, der sich großer Nachfrage erfreut. Auf der Grundlage von Depositalverträgen mit den Kirchgemeinden werden z. B. die Adjuvan- Zum Nachlass Arno Werners gibt es ein vorläufiges tenarchive der Kirchgemeinden Udestedt6, Groß- Gesamtverzeichnis. Davon wurde die Sammlung fahner/Eschenbergen7, Vogelsberg8 verwahrt, ver- der Musicalia inzwischen in einem gemeinsamen filmt, restauriert und vom Internationalen Quel- Projekt mit dem Répertoire International des Sour- lenlexikon der Musik wissenschaftlich verzeichnet. ces Nationales (RISM) fachspezifisch verzeichnet. Gemeinsam mit den Kirchgemeinden werden 3.2. Verzeichnung der Musikalien im Ausstellungen und Veranstaltungen zu den jewei- Répertoire International des Sources ligen Beständen durchgeführt. Musicale (RISM) RISM ist seit den 1950er Jahren ein internationa- Zu den wichtigen Beständen der Weimarer und les Gemeinschaftsunternehmen mit dem Ziel, die der Musikgeschichte Thüringens im 18.–20. Jh. weltweit überlieferten Quellen zur Musik umfas- gehören u. a. der Teilnachlass des 1861 von Franz send zu dokumentieren. Neben Drucken und mu- Liszt in Weimar gegründeten Allgemeinen Deut- sikwissenschaftlichen Publikationen werden vor schen Musikvereins (1861–1937) und das Musikar- allem die Musikhandschriften erfasst. Dokumen- chiv des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar (18.–20. Jh.). Das Musikar- chiv des DNT wurde in den Jahren 2002/03 in die Bestände des HSA/ThLMA übernommen, es weist enge Verknüpfungen mit den übrigen Be- ständen des Archivs auf, z. B.: – Johann Nepomuk Hummel, Mathilde von Guise, op. 80; im Musikarchiv des DNT befin- den sich Partitur und Stimmen, in den bereits vorhandenen Sammlungen befindet sich ein Klavierauszug mit Widmung an Maria Paw- lowna, – Peter Cornelius, Der Barbier von Bagdad; im Musikarchiv des DNT ist die von Franz Liszt in- strumentierte zweite Ouvertüre nicht vorhan- den, sie befindet sich jedoch als Handschrift im Notenarchiv des Allgemeinen Deutschen Musikvereins.

3. Der Nachlass Arno Werner (1865–1955) und die wissenschaftliche Verzeichnung seiner Notensammlung in einem gemeinsamen Projekt mit dem Répertoire International des Sources Musicales (RISM)

3.1. Anmerkungen zum Nachlass Arno Werner Prof. Arno Werner war langjähriger Ordinarius für Musikwissenschaft in Halle. Er sammelte Musica Theoretica und Musica Practica vom Mittelalter bis zum 20. Jh. mit den thematischen Schwerpunkten Kirchen- und Adjuvantenmusiken des 17. bis frü- hen 19. Jh. und den regionalen Schwerpunkten Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Der Nachlass umfasst 42 lfm und wurde von Günther Abb. 1: Digitalisat der Notenhandschrift Nun danket alle Gott von Johann Friedrich Doles (1715 Steinbach-Hallenberg. – Kraft erworben. Er besteht aus folgenden Teilen: 1797 Leipzig)

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tiert sind heute über 412.000 Werke von mehr als Bestimmungen von Werken, ebenso auch welt- 18.000 Komponisten, die sich in ca. 600 Archiven weite Bestellungen der bei uns vorhandenen und Bibliotheken in 31 Ländern befinden. Damit Handschriften als Reader-Printer-Ausdruck für ist RISM für Musiker und Musikwissenschaftler das Forschungs- oder Aufführungsprojekte. wichtigste Arbeitsmittel zu den vorhandenen b) Unvollständige oder fehlerhafte Bestimmun- Quellen, aber auch zunehmend für Archivare und gen können z. B. über Text- oder Notenincipit- Bibliothekare. Die Daten liegen als Thematischer suche berichtigt werden. Z. B. gab es in einem Katalog vom Sauer-Verlag auf CD-ROM vor, die der Adjuvantenarchive die Kantate eines Wil- immer halbjährig in aktualisierter Form erscheint. helm August Mozart. Die Notenincipitsuche Allein auf der neuen Ausgabe von Ende 2003 sind im RISM ergab, wie vermutet, dass es sich um über 500 Werke ausgewiesen, die sich im ein deutschsprachig umtextiertes Werk von HSA/ThLMA befinden. Die CD-ROM kann für Wolfgang Amadeus Mozart handelte. Es war 858 €, bei Fortsetzungsbezug für 658 € erworben auch möglich, den Druck zu identifizieren, der werden. Es gibt auch eine Internet-Variante, aktu- dem damaligen Schreiber als Vorlage diente eller ist jedoch die CD-ROM. Recherchiert wer- und auf dem von Mozarts Vornamen nur die den kann in den Sprachen Deutsch, Englisch, Buchstaben W. A. standen. RISM ist für alle, Französisch, Italienisch und Spanisch. Suchkrite- die sich beruflich mit Musik beschäftigen, un- rien sind Komponist, Einordnungstitel, alternative entbehrlich, wenn auch das jetzige PIKaDo-Sy- Titel und Texte, Besetzung, Werkverzeichnis, stem einige Schwächen aufweisen. Gegenwär- Tonart, Namen, Autograph, Musikincipits, Rollen- tig wird eine neue Software Kalliope vorberei- register, Provenienz, Archiv/Bibliothek, Signatur, tet, die für Bearbeiter und Benutzer einfacher Stichwort. Damit besteht z. B. die Möglichkeit: anwendbar sein wird. a) Handschriften, die als Anonyma geführt werden, zu bestimmen. Jeweils nach Erscheinen einer Seit Oktober 2002 befindet sich eine Arbeitsstelle neuen CD-ROM gibt es im HSA/ThLMA zahlrei- des Internationalen Quellenlexikons der Musik che Rückmeldungen über möglich gewordene (RISM) für die Verzeichnung der Musicalia im

Abb. 2: Suchmaske zur CD-ROM, 11. Folge, 2003, mit dem Hinweis auf das Archiv der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar und die o.g. Notenhandschrift

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Abb. 3: Beispiel zur Verzeichnung der o. g. Notenhandschrift in RISM

Hochschularchiv/Thüringischen Landesmusikar- 3.3. Beispiel zur Verzeichnung im Répertoire chiv. D. h. die ansonsten benötigte Personalstelle International des Sources Musicales 9 wird über das gemeinsame Verzeichnungsprojekt Zur Ergänzung dieses Abschnitts sei auf die Aus- mit RISM finanziert. In absehbarer Zeit wird es stellung zur Weiterbildungsveranstaltung 2004 auch eine Drittmittelstelle für die wissenschaftli- in Eisenach hingewiesen. Vorgestellt wurden che Verzeichnung des Sonderbestandes Musikar- dort aus den Beständen des Hochschularchivs/ chiv des Deutschen Nationaltheaters und der Thüringischen Landesmusikarchivs Notenhand- Staatskapelle Weimar im Archiv der Hochschule schriften, deren musikwissenschaftliche Ver- für Musik Franz Liszt geben. Der Bestand umfasst zeichnung im Répertoire International des Sour- rund 2.000 Werke in Partituren, Klavierauszügen, ces Musocales sowie CD-Einspielungen der Partien, Orchesterstimmen etc. auf 500 lfm. Werke. Irina Lucke-Kaminiarz

Anmerkungen

1 Irina Kaminiarz, Die Musiksammlungen im Archiv der Hoch- 6 Steffen Voss, Die Musiksammlung des Pfarrarchivs Udestedt schule für Musik Franz Liszt Weimar, in: Forum Musikbiblio- bei Erfurt. Quellenuntersuchung zur Musikkultur Thüringens thek 1–1997, Berlin 1997, S. 14–22 im 17. und 18. Jahrhundert, Hamburg 2000, S. 95–165 2 dieselbe, Das Thüringische Landesmusikarchiv im Archiv 7 Hans Rudolf Jung, Thematischer Katalog der Musikalien- der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, in: Landesmu- sammlung Großfahner/Eschenbergen in Thüringen, Kas- sikrat Thüringen. Informationen, 12. Jahrgang, Nr. 2, 12/02 sel, Basel, London, New York, Prag 2001 3 dieselbe, Richard Strauss. Briefe aus dem Archiv des Allge- 8 Jan Neubauer, Vorläufiges Findbuch zum Adjuvantenar- meinen Deutschen Musikvereins, Weimar, Köln, Wien chiv Vogelsberg, HSA/ThLMA 2004 1995, S. 9–33 9 Musikhandschriften nach 1600, Thematischer Katalog auf 4 dieselbe, Bestandsübersicht, in: Faltblatt des HSA/ThLMA, CD-ROM, 9., kumulierte Ausgabe 2003 (11. CD-ROM), Weimar 2004 hrsg. vom Répertoire International des Sources Musicales, 5 dieselbe, Adjuvantenarchive in thüringischen Kirchgemein- Zentralredaktion an der Stadt- und Universitätsbibliothek den, in: Sömmerdaer Heimathefte, Heft 13/2001, S. 7–11 Frankfurt am Main ISBN 3-598-40484-0

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Nachlässe Online: Die „Zentrale Datenbank Nachlässe“ im Bundesarchiv Seit Oktober 2002 ist die „Zentrale Datenbank gung ermöglichte es, die unvollständigen Infor- Nachlässe“ (ZDN) im Internet über die Home- mationen über Nachlässe in Archiven der DDR zu page des Bundesarchivs zugänglich (www.bun- ergänzen und damit ein wesentliches Defizit des desarchiv.de). In dieser Datenbank sind die Nach- Verzeichnisses von Mommsen zu beheben. Zwar lässe von 22.700 Personen mit rund 25.000 Be- war in der DDR im Jahre 1988 unter Federfüh- ständen und Teilbeständen erfasst (Stand Ende rung der Deutschen Staatsbibliothek Berlin mit April 2004). Die Einträge werden fortlaufend ak- der Erstellung eines Verzeichnisses der Nach- tualisiert und durch Neumeldungen der Archive lässe in Bibliotheken, Archiven und Museen be- ergänzt, so dass jetzt sowohl der historischen For- gonnen worden, aber ein vollständiges Bild er- schung als auch den Archiven und Bibliotheken gab sich trotzdem nicht, weil der Rücklauf der ein wertvolles Hilfsmittel zur Verfügung steht. Fragebögen viele Wünsche offen ließ. Nicht we- nige Informationen durften aus politischen Grün- 1. Vorgeschichte des Projekts den nicht weitergegeben werden, so dass es In der Vergangenheit war es ein mühsames Unter- manche Lücke zu schließen galt. fangen, sich über den Verbleib eines Nachlasses zu informieren. Es mussten mehrere gedruckte Im Sommer 1992 wurde im Bundesarchiv be- Verzeichnisse durchgesehen werden, die jedoch kannt, dass die Staatsbibliothek zu Berlin – Preu- zu keinem Zeitpunkt den aktuellen Informations- ßischer Kulturbesitz ebenfalls eine Neuauflage stand widerspiegelten. Da die Veröffentlichung des im Jahre 1981 veröffentlichten Verzeichnisses jedes Bandes langwierige Recherchen erforder- „Nachlässe in den Bibliotheken der Bundesrepu- lich machte, verging meist über ein Jahrzehnt, bis blik Deutschland“ von Denecke/Brandis plant. ein aktuelles Verzeichnis herausgegeben werden Unser Vorschlag, bei der Neubearbeitung der konnte. Hinzu kommt, dass dieses bei der Auslie- Nachlassverzeichnisse zusammenzuarbeiten, fand ferung an die Buchhandlungen bereits überholt in Berlin ein positives Echo. Vereinbart wurde, war. Mommsen hatte beispielsweise nach dem 1. dass das Bundesarchiv sofort mit der Aktuali- Abschluss seiner Erhebungen nicht weniger als sierung der Bände von Mommsen beginnt, vier Jahre für die Erstellung der umfangreichen In- 2. dass die Staatsbibliothek zwei bis drei Jahre dizes und für die Drucklegung benötigt, so dass später die Nachlassdaten in Bibliotheken er- Band II mit dem Bearbeitungsstand Mitte des fasst, und zwar nach dem Abschluss der Arbeit Jahres 1979 erst 1983 erscheinen konnte. an dem Verzeichnis der Autographen, 3. dass die Datenerfassung und die Auswer- In den folgenden Jahren war es aus personellen tungsmöglichkeiten für beide Projekte in ei- Gründen nicht möglich, die Arbeit im Bundesar- nem vereinbarten, standardisierten Verfahren chiv weiterzuführen. Informationen über Nach- erfolgen sollten, um neben der (getrennten) lässe wurden zwar in einer Kartei notiert und bei Veröffentlichung als Bücher auch in einem ge- Anfragen weitergegeben, aber nicht mehr syste- meinsam zu bearbeitenden Datenbanksystem matisch gesammelt. auf einer CD-ROM oder im Internet der Öf- fentlichkeit die Daten zugänglich zu machen. Der Verein Deutscher Archivare verabschiedete 1986 eine Resolution, in der die Fortschreibung Als erster Schritt wurde ein gemeinsames Erfas- der bekannten gedruckten Handbücher von sungsschema erarbeitet. Dann führte das Bundes- Mommsen „Nachlässe in deutschen Archiven“, archiv speziell für die Nachlass-Datenbank das in 1971 (Teil I) und 1983 (Teil II) unter Einsatz der der Staatsbibliothek bereits verwendete Soft- EDV als vordringliche Aufgabe bezeichnet ware-Programm „Allegro“ ein, um beide Dateien wurde. Mit dem Aufbau der Datenbank konnte später zusammenführen zu können. jedoch nicht vor 1992 begonnen werden. Erst zu diesem Zeitpunkt bestanden im Bundesarchiv 2. Konzeption die personellen Voraussetzungen für eine neue Mit Blick auf die Fülle der Datensätze, die in das Umfrageaktion. Auch die technischen Bedingun- neue Nachlassverzeichnis aufzunehmen waren, gen für die Bearbeitung der Meldungen und ihre wurde der von Mommsen benutzte Erfassungsbo- Speicherung in einem EDV-System waren vorher gen gestrafft. In dem Bewusstsein, den wesentli- nicht gegeben. Allerdings erwies es sich im chen Informationswert eines Haupteintrags nicht Nachhinein für den angestrebten Qualitätsstan- beschädigen zu dürfen, kam es zu folgenden Kür- dard sogar als günstig, dass die Fortschreibung zungen. des Nachlassverzeichnisses von Mommsen nicht 1. Auf eine genaue typenmäßige Klassifizierung zu einem früheren Zeitpunkt möglich gewesen der Nachlässe (echt, unecht, angereichert) war. Denn die inzwischen erfolgte Wiedervereini- wurde mit Rücksicht auf die Tatsache verzich-

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tet, dass das Verzeichnis ein Verbleibsnach- 5.Umfang, wenn möglich laufende Meter, an- weis und damit nur eine Einstiegshilfe ist. sonsten Anzahl der Archivalieneinheiten, Map- 2. Die bei Mommsen teilweise sehr ausführlichen pen, Kartons biografischen Angaben wurden zwar vollstän- 6.Laufzeit dig übernommen, bei Neumeldungen haben 7.Kurze Zusammenfassung des Inhalts wir uns aber auf die wichtigsten Informationen 8.Freie oder eingeschränkte Benutzbarkeit beschränkt. 9.Erschließungszustand, z. B. unbearbeitet, Kar- 3. Frühere Verwahrorte wurden nicht mehr ge- tei, Summarisches Verzeichnis, Findbuch, Pu- nannt, weil sich ein Benutzer, der sich für die blikationsfindbuch Geschichte des Nachlasses interessiert, un- 10.Bezeichnung des aufbewahrenden Archivs schwer vor Ort erkundigen kann, welchen Weg 11.Hinweise auf andere Stellen, bei denen Teile die Papiere seit ihrer Entstehung genommen des Nachlasses verwahrt werden. haben. 4. Auch die Angaben zu den biografischen Quel- Was die Auswahlkriterien anbetrifft, so möchte len blieben auf die unbedingt notwendigen In- ich darauf hinweisen, dass grundsätzlich Nach- formationen beschränkt. Auf weiterführende lässe in die Datenbank aufgenommen wurden, Literaturangaben musste verzichtet werden, die Niederschlag der öffentlichen Tätigkeit des da ein solcher Service die Arbeit im Hinblick Nachlassers oder seiner Familienangehörigen auf das Gesamtziel unkontrollierbar ausgewei- sind. Der Schwerpunkt liegt also auf Papieren aus tet und die Veröffentlichung unnötig verzögert den Bereichen Politik, Verwaltung, Wirtschaft und hätte. Militär sowie Wissenschaft, Kunst, Literatur und 5. Das Gleiche trifft auf die archivinternen Be- Medien. Zu erwähnen ist darüber hinaus eine Viel- standssignaturen zu. Die Unterrichtung, unter zahl von Nachlässen evangelischer und katholi- welcher Signatur ein Nachlass im jeweiligen scher Geistlicher. Nicht aufgenommen wurden Archiv verwaltet wird, ist unter der Zielvor- Sammlungen von Dokumenten und Unterlagen, gabe, einen zentralen Verbleibsnachweis von die im Rahmen von privaten Sammelaktivitäten Nachlässen anzubieten, zweitrangig. In vielen oder Forschungsvorhaben einzelner Personen Verwahrstellen werden die Nachlässe nur mit entstanden sind und nicht im Zusammenhang mit dem Namen der Person gekennzeichnet, bei einer öffentlichen Tätigkeit des Nachlassers ste- der die Unterlagen entstanden sind, so dass es hen. Das bedeutet, dass wir Unterlagen, die eine keine besonderen Bestandssignaturen gibt. Person zu ihrer Familie gesammelt hat, nicht be- Bei anderen ist die Signatur dagegen komplex rücksichtigt haben, es sei denn diese Sammlung und ergibt sich nicht nur aus dem Namen. Feh- ist von überregionalem Interesse bzw. von beson- ler und ein besonderer Korrekturaufwand wä- derem exemplarischen Wert oder eine Person der ren unvermeidbar gewesen. Die Entscheidung Zeitgeschichte hat genealogisches Material zu- gegen die Erfassung besonderer Nachlass-Si- sammengetragen. gnaturen war in der Kontinuität zu Mommsen auch ein Versuch, die Arbeitsbelastung zu be- 3. Verfahrensweise beim Aufbau der grenzen. Datenbank Das Bundesarchiv hatte Anfang 1993 an ca. In einem Punkt haben wir Mommsen nicht ge- 700 Archive ein Rundschreiben mit Erfassungsfor- kürzt, sondern ergänzt und wissen aus Kontakten mular verschickt und konnte schon nach wenigen mit Benutzern, wie sehr dieser Zusatz begrüßt Monaten eine stattliche Anzahl von Rückmeldun- wird. Gemeint sind Informationen über Korre- gen verzeichnen, so dass dem Aufbau der Daten- spondenzpartner in den Nachlässen. Mommsen bank nun nichts mehr im Wege stand. Nicht we- musste hier verständlicherweise eine strenge Aus- nige Archive, insbesondere die mit großen Nach- wahl treffen, damit der Buchumfang überschau- lassbeständen, benötigten allerdings für ihre Ant- bar bleibt. Wir haben dagegen möglichst viele wort mehrere Jahre und Erinnerungsbriefe bzw. Korrespondenzpartner erfasst. -anrufe. In einzelnen Fällen mussten wegen perso- neller Engpässe die Recherchen auch selber vor- Der verwendete Erfassungsbogen hat nunmehr genommen werden. Die Zusammenarbeit vor Ort folgende Form: erwies sich aber ausnahmslos als sehr positiv, 1. Name, Vorname des Nachlassers, ggf. Ge- denn die Kollegen unterstützten die Arbeit nach burtsname, Pseudonyme, Adelsprädikat besten Kräften und bemühen sich seither, die Da- 2. Geburts- und Sterbejahr tenbank regelmäßig mit neuen Daten zu beliefern. 3. Beruf(e), Amt (Ämter), Lebenslauf 4. Biografische Quellen mit unmittelbarem Be- Ab Januar 1994 wurden außer den Neumeldungen zug zum Nachlass, z. B. Editionen des oder sämtliche Angaben aus den Mommsen-Verzeich- von Teilen des Nachlasses, Autobiographien nissen in die Datenbank übertragen. Das schließt

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die Personen-, Berufe-, Institutionen-, Orts- und dieser Verwahrstellen stellen deshalb nur eine Sachregister ein (rund 400 Seiten), die den Benut- Auswahl aus deren Beständen dar. zern den Zugriff erleichtern sollten. Diese Verfah- rensweise resultierte aus der Absicht, das Verzeich- Als das erste Rundschreiben verschickt wurde, nis wieder in Buchform zu veröffentlichen – sozusa- war nicht abzusehen, welchen Umfang das Pro- gen als „Mommsen“, Bände III und IV. jekt annehmen würde: in beiden Bänden von Mommsen sind insgesamt rund 7.000 Personen In den Verzeichnissen von Mommsen findet sich aufgeführt, die nun erstellte Datei nennt – wie auch die Beschreibung einzelner Nachlässe in Bi- gesagt – zur Zeit 22.700 Personen. Bereits seit bliotheken sowie in ausländischen Archiven. 1995 wurde die Datenbank im Bundesarchiv für Diese Einträge wurden in die Datenbank über- Recherchen intensiv genutzt. Sowohl die Zahl der nommen, um nicht hinter den erreichten Informa- schriftlichen und telefonischen Anfragen als auch tionsstand zurückzufallen und um dem Benutzer der Umfang der Datei legte die Entscheidung Doppel-Recherchen zu ersparen. Eine systemati- nahe, sie im Internet allen Interessenten zugäng- sche Recherche in Bibliotheken und bei ausländi- lich zu machen. schen Einrichtungen zur Aktualisierung der Nach- weise war jedoch nicht möglich. Es konnten nur Im Januar 1999 stellte die EDV-Abteilung des die Nachlassbeschreibungen der größten Archive Bundesarchivs die Weichen für die Internet-Prä- überprüft werden, wobei Neuerwerbungen insge- sentation und ersetzte das veraltete Allegro-Soft- samt unberücksichtigt bleiben mussten. Die in ware-Programm durch eine in Eigenregie entwik- der Zentralen Datenbank genannten Nachlässe kelte „Access“-Anwendung. Diese Anwendung

Abb. Ergebnis Datenbank-Abfrage

36 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle erwies sich als optimale Lösung zur Neueingabe Aktualisierung der Internetpräsentation aus per- und Pflege der Datenbestände, war jedoch für sonellen Gründen demnächst nicht mehr gewähr- die Präsentation im Internet ungeeignet. Im Zuge leisten. Zur Zeit wird in unserem Haus im Rahmen der technischen Entwicklung im Bereich Internet des Content Management Systems ein Pflegetool konnten hier nun Open-Source-Produkte ausge- „Zentrale Datenbank Nachlässe Online“ entwik- wählt werden, die eine einfache Portionierung kelt, das den Archiven online und dezentral die der Access-Datenbank gewährleisten und die selbständige Pflege ihrer Nachlässe in der Zentra- Entwicklung eines Pflegetools im Bundesarchiv len Datenbank ermöglichen soll. möglich machten. In der Anwendung selbst ist die Volltextrecherche realisiert, die eine komfor- Zur Identifizierung und Authentifizierung erhält table Suche nach Personen, Orten und anderen jedes beteiligte Archiv einen individuellen Ac- individuellen Begriffen ermöglicht. Damit konnte count bestehend aus Benutzername und Pass- auf die Darstellung von Indizes verzichtet wer- wort zur Anmeldung am LDAP-Server des Bun- den. desarchivs. Jede Dateneingabe ist nach einem gleichen Recherchebeispiele Schema aufgebaut und beginnt grundsätzlich www.bundesarchiv.de mit der Suche nach der Person des Nachlassers. 1. Recherche nach einem Namen, z. B. Herda zu Der Bearbeiter wird bei der Eingabe aller not- Brandenburg, Carl Christian von [Feld Name, wendigen Informationen Schritt für Schritt gelei- Vorname sind aktiviert] = führt zu Beständen tet. Er wird durch visuelle Prozessdarstellungen und Teilbeständen und zusätzliche Hinweise und Informationen un- 2. Recherche nach einem Korrespondenzpartner, terstützt. z. B. Sigmund Freud [Feld Erweiterte Suche: für Volltextsuche = „alle Felder“ aktivieren] Eine Anwendung für die interne Administration 3. Recherche nach Archiv (Auflistung der Nach- beim Bundesarchiv ermöglicht die Korrektur lässe), z. B. Archiv der Carl Zeiss Jena GmbH falscher Zuweisungen und die Verwaltung der Account-Daten. Das Pflegetool wird voraussicht- Die Zentrale Datenbank Nachlässe ist im Oktober lich ab Oktober 2004 zur Verfügung stehen. 2002 ins Netz gestellt worden und wird fortlau- fend aktualisiert, obwohl die redaktionelle Arbeit Noch nicht entschieden ist über die Zusammen- noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Der arbeit mit der Handschriftenabteilung der Staats- hohe Informationswert und das große Interesse bibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, mit von Benutzern war der Grund dafür, die Daten in der selbstverständlich sinnvollen gemeinsamen der vorliegenden Fassung zugänglich zu machen, oder zumindest abgestimmten Präsentation der wenngleich bei einer Reihe von Archiven Neumel- Nachweissysteme für Nachlässe in Archiven und dungen bzw. Korrekturen versandter Dateiaus- Bibliotheken im Internet. Anders als 1992 mit der drucke ausstehen bzw. bereits eingegangene Staatsbibliothek verabredet, steht die Neubear- Meldungen noch einzuarbeiten sind. beitung des Verzeichnisses der Nachlässe in Bi- bliotheken von Denecke/Brandis noch am An- Seit Januar 2003 hat das Bundesarchiv in einem fang. Die Arbeit an der Zentralkartei der Autogra- Rundschreiben allen Archiven für ihre Unterstüt- phen wurde jedoch weitergeführt. Unter der Pro- zung des Projektes gedankt und um weitere Mit- jektbezeichnung „Kalliope, Verbundinformations- arbeit gebeten, da nur so Fehler zu bereinigen system Nachlässe und Autographen“ ist die Zen- oder Auslassungen zu erkennen sind. tralkartei im Internet verfügbar unter der Adresse (www.kalliope.staatsbibliothek-berlin.de). Das bisher durchweg positive Echo auf die Inter- net-Präsentation und die Zusage von Kollegen Abschließend möchte ich allen hier anwesenden aus allen Bundesländern, auch künftig die not- Kolleginnen und Kollegen, die den Aufbau der wendigen Informationen zur Pflege der Datei zu Datenbank unterstützt haben, meinen Dank aus- liefern, findet in dem Vorhaben des Bundesar- sprechen und bitte Sie um Ihre Mithilfe bei der chivs seinen Niederschlag, alle drei Monate eine Pflege der Daten, damit die Benutzer im Internet aktualisierte Version der ZDN im Internet verfüg- stets möglichst aktuelle Informationen vorfin- bar zu machen. den.

4. Perspektiven Irene Streul In Zukunft wird es eine Änderung des Verfahrens geben, denn das Bundesarchiv kann die laufende

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Bedeutung der Überlieferung von Landes- und Kommunalpolitikern im Landesarchiv Berlin1

1. Bedeutung von Politiker-Nachlässen für die Das Landesarchiv Berlin verwahrt zur Zeit rund zeitgeschichtliche Forschung 200 Nachlässe und Teilnachlässe, darunter befin- Politiker-Nachlässe in Archiven können folgenden den aber sich nur 28 Politikernachlässe, überwie- Nutzen haben: gend aus dem 20. Jahrhundert2. Folgende – Ergänzung von Behördenakten: Sichtbarma- Gründe für die wenigen und nur aus dem vergan- chung von Entscheidungszusammenhängen, genen Jahrhundert stammenden Nachlässe kön- über die amtlichen Unterlagen wenig oder gar nen angeführt werden: Der Prozess der Individua- nichts aussagen. lisierung beginnt erst im 19. Jahrhundert, Verluste – Notizbücher/Terminkalender geben Hinweise durch Verfolgung und Emigration, Verluste durch über chronologische Abläufe von Besprechun- Krieg und Zerstörung, Vernachlässigung und gen und vom Tagesgeschehen. Misstrauen, Konkurrenz durch die Parteienstiftun- – Durch Korrespondenzen werden politische Zu- gen. sammenhänge und Verbindungen erkennbar. – Einblicke in Denken und Handeln von Politi- Zu den Konkurrenten bei dem Erwerb von Nach- kern, Informationen über den Erfahrungshori- lässen Berliner Politikern zählen: das Archiv der so- zont eines Politikers. zialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in – Autobiographische Darstellungen können Bonn-Bad Godesberg, das Archiv für Christlich- Handlungsmotive und Einsichten in das We- Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stif- sen eines Politikers vermitteln. tung e.V. in Sankt Augustin, das Archiv des Deut- – Quellenvergleich und Quellenkritik erlauben schen Liberalismus der Friedrich-Naumann-Stif- Verifizierungen der Aussagen amtlicher Unter- tung in Gummersbach. Eine Sonderstellung unter lagen. den Konkurrenten nimmt das Franz-Neumann-Ar- – Quellen für Politiker-Biografien, Grundlagen chiv e.V. in Berlin ein. Durch eine Vereinbarung für Quelleneditionen. mit dem Verein soll das Franz-Neumann-Archiv – Ergänzungsüberlieferung für verloren gegan- räumlich mit dem Landesarchiv vereinigt werden. gene Dokumente. Dadurch werden folgende Politiker-Nachlässe ins – Durch den persönlichen Bezug der Unterlagen Landesarchiv gelangen: Ella Kay, 1945–1948 Be- wird die Politik lebendig, die Politik erhält ein zirksbürgermeisterin von Prenzlauer Berg, 1955– Gesicht. Für die Geschichtsschreibung muss 1962 Senatorin für Jugend und Sport; Franz Neu- der private Bereich, müssen die schriftlichen mann, 1946–1960 MdSt u. MdA, MdB, Fraktions- Nachlässe herangezogen werden, um die Hin- vorsitzender der SPD, 1946–1958 Landesvorsit- tergründe politischer Abläufe besser beleuch- zender der SPD; Ilse Reichelt, 1971–1981 ten zu können. Senatorin für Familie, Jugend u. Sport; Harry Ri- stock, 1975–1981 Senator für Bau- u. Wohnungs- 2. Erwerbung wesen; Jeanette Wolff, geb. Cohn, Überlebende Die Erwerbung von Nachlässen im Landesarchiv des KZ Stuthof, 1946–1952 MdSt, MdA, MdB, Re- Berlin erfolgt in der Regel durch Initiativen des Ar- präsentantin der Jüdischen Gemeinde3. Keine chivs, durch die persönliche Ansprache, manch- Konkurrenten waren bisher die in Berlin ansässi- mal verbunden mit der Bitte um Anfertigung ei- gen Vereine und Stiftungen: das Archiv Grünes nes Filminterviews/Persönlichkeitsporträts oder Gedächtnis der Heinrich-Böll-Stiftung, das Archiv eines Beitrags für das Jahrbuch des Landesar- Demokratischer Sozialismus der Rosa-Luxemberg- chivs. Ebenso häufig erfolgt eine schriftliche An- Stiftung Gesellschafts-Analyse und Politische Bil- frage bei Politikern bzw. nach deren Tod bei den dung e.V. und das FFBIZ e.V. Berlin (Frauenfor- Angehörigen. Die Todesanzeigen der Tageszei- schungs-, -bildungs- und -informationszentrum). tungen werden regelmäßig durchgesehen. Es kommt auch vor, dass sich Politiker oder deren 3. Erschließung Angehörige direkt an das Archiv wenden, häufig Bei der Erschließung wird die vorgefundene Ord- durch Vermittlung von dem Archiv verbundenen nung nach Möglichkeit erhalten. Wenn keine Personen. klare Ordnung vorliegt, werden die Nachlässe in der Regel in folgende Gruppen eingeteilt: Durch den Abschluss eines Schenkungs- oder ei- A. Biografisches Material, nes Depositalvertrages wird der rechtliche Rah- B. Unterlagen aus beruflicher Tätigkeit, men der Übernahme geregelt. Der käufliche Er- C. Mitgliedschaft in Vereinen und Verbänden, werb dagegen ist sehr selten. In den letzten drei- D. Ehrungen, ßig Jahren sind nur drei Nachlässe vom Landesar- E. Korrespondenzen, chiv käuflich erworben worden. F. Fotografien.

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4. Politikernachlässe im Landesarchiv Berlin – Willy Kressmann (*1907 †1986), 1949-1962 BB und ihre Bedeutung für die von Kreuzberg zeitgeschichtliche Forschung Zunächst sollen hier alle im Landesarchiv befindli- 4.5. Polizeipräsidenten chen Politiker-Nachlässe kurz vorgestellt und als – Albert C. Grzesinski (*1879 †1947), 1925– Beispiele für die besondere Bedeutung für die 1926, 1930–1932, (1926–1930 Preußischer In- zeitgeschichtliche Forschung auf den Nachlass nenminister) von , Joachim Lipschitz und Hans E. – Johannes Stumm (*1897 †1978), 1948–1962 Hirschfeld näher eingegangen werden: 4.6. Hohe Beamte 4.1. Stadtverordnetenvorsteher/ – Hans E. Hirschfeld (*1894 †1971), 1950–1960 Parlamentspräsidenten Leiter des Presse- u. Informationsamtes, 1957– – (*1894 †1957), 1946–1955 1959 Chef der Senatskanzlei (1955–1957 Reg. Bürgermeister) – Karl F. Mautner (*1915 †2002), 1948–1958 – Otto Bach (*1899 †1981), 1961–1967 amerik. Liaison Officer beim Magistrat u. Senat (1951–1953 Senator für Sozialwesen) von Berlin – (*1945) 2001ff. – Oskar Mulert (*1881 †1951), 1920–1933 Minis- (1989–1990 Reg. Bürgermeister) terialdirektor im Preußischen Innenministe- rium, 1925–1933 Präsident des Deutschen und 4.2. Oberbürgermeister/ Preußischen Städtetages Regierende Bürgermeister – Otto Uhlitz (*1923 †1987), 1968–1975 Senats- – Heinrich Wilhelm Krausnick (*1797 †1882), direktor in der Senatsverwaltung für Justiz 1834–1848, 1850–1862 – Siegmund Weltlinger (*1893 †1974), 1945– – Alexander Dominicus (*1873 †1945), 1957 Referent für jüd. Angelegenheiten beim 1912–1920 OB von Schöneberg Magistrat u. Senat – Gustav Böss (*1873 †1946), 1920–1931 – Arthur Werner (*1877 †1967), 1945–1946 5. Beispiele – Ernst Reuter (*1889 †1953), 1948–1953 5.1. Ernst Reuter – Klaus Schütz (*1926), 1967–1977 Der bedeutendste Nachlass im Landesarchiv Berlin und der wichtigste für die zeitgeschichtliche For- 4.3. Stadträte/Senatoren schung ist der von Ernst Reuter (1889–1953). Reu- – Kurt Exner (*1901 †1996), 1959–1967 Senator ter entstammte einer bürgerlichen Familie, schloss für Arbeit und Soziales sich 1913 nach Abschluss seines Lehramtsstudiums – Paul Hertz (*1888 †1961), 1951–1961 Senator der Sozialdemokratischen Partei an, weil er der für Marshall-Plan und Kreditwesen, Bevoll- Überzeugung war, dass die sozialen Probleme in mächtigter für Kreditwesen, Senator für Wirt- Deutschland nur durch die Politik zu lösen waren. schaft und Kredit (Teilnachlass) Trotz seiner entschiedenen Kriegsgegnerschaft – Wilhelm A. Kewenig (*1934 †1993), wurde er zum Militärdienst eingezogen und an der 1981–1989 Senator für Wissenschaft und Kul- Ostfront verwundet. 1916 geriet er in russische Ge- turelle Angelegenheiten für Wissenschaft und fangenschaft. Dort begrüßte er 1917 die Russische Forschung, für Inneres Oktoberrevolution, lernte die Sowjetführer Lenin – Gustav Klingelhöfer (*1888 †1961), und Stalin kennen und wurde zum Kommissar der 1946–1951 Stadtrat für Wirtschaft Wolgadeutschen Republik ernannt. – Joachim Lipschitz (*1918 †1961), 1955–1961 Senator für Inneres 1918 nach Deutschland zurückgekehrt, betätigte – Walter Nicklitz (*1911 †1993), 1949–1951 Stadt- er sich als kommunistischer Funktionär und wurde rat für Bau- und Wohnungswesen 1921 zum Generalsekretär der KPD gewählt. In – Dieter Sauberzweig (*1925), 1977–1981 Senator dieser Funktion wehrte sich Reuter gegen die Bol- für Kulturelle Angelegenheiten schewisierung der Partei, gegen die ständige Ein- mischung aus Moskau und die kritiklose Unter- 4.4. Bezirksbürgermeister würfigkeit der deutschen Genossen. Noch im – Peter Bloch (*1900 †1984), 1959–1965 BB von gleichen Jahr wurde er als Generalsekretär abge- Steglitz setzt und kurze Zeit später aus der KPD ausge- – Adolf Dünnebacke (*1891 †1978), 1946–1960 schlossen. Er trat wieder der SPD bei, engagierte BB von Reinickendorf sich in der Berliner Stadtverordnetenversamm- – Walter Helfenstein (*1890 †1945), 1933–1945 lung als Kommunalpolitiker und wurde 1926 zum BB von Zehlendorf Stadtrat für Verkehr gewählt. Seine kommunalpo- – Herbert Kleusberg (*1914 †1997), 1967–1979 litischen Erfolge und sein Ruf als exzellenter Fach- BB von Spandau mann machten ihn deutschlandweit bekannt.

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Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft, nicht preisgeben könnt. Es gibt nur eine Möglich- keit für uns alle: gemeinsam solange zusammen- zustehen, bis dieser Kampf gewonnen, bis dieser Kampf endlich durch den Sieg über die Feinde, durch den Sieg über die Macht der Finsternis ge- wonnen ist. Das Volk hat gesprochen. Wir haben unsere Pflicht getan, und wir werden un- sere Pflicht weiter tun. Völker der Welt! Tut auch ihre eure Pflicht!“4

Nach Entstehung der Bundesrepublik waren Reu- ters Bestrebungen, wenn auch wegen des Ein- spruchs der Alliierten eine Eingliederung Berlins als 12. Bundesland nicht möglich war, Berlins enge Einbindung in das Rechts-, Finanz- und Wirt- schaftssystem der Bundesrepublik zu erreichen. Nach Einführung der neuen Verfassung 1951 nun zum Regierenden Bürgermeister Berlins gewählt, blieb er bis zu seinem frühen Tod 1953 der über- ragende Politiker der Stadt mit einer Bedeutung weit über die Grenzen Berlins und Deutschland hinaus.

Im Nachlass befinden sich Unterlagen aus allen Lebensphasen, auch über seine Familie und bür- gerlichen Vorfahren. Die Lücken, vor allem aus 1931 wurde er zum Oberbürgermeister von Mag- der Phase als KPD-Funktionär und Kommunalpo- deburg gewählt. Reuter, der sich in dieser Posi- litiker werden durch Interviews mit Zeitzeugen, tion und als Reichstagsabgeordneter als entschie- die im so genannten Reuter-Archiv zusammenge- dener Gegner der Nationalsozialisten auswies, tragen wurden, gefüllt. wurde gleich nach ihrer Machtergreifung aus dem Das Reuter-Archiv, das sich ebenfalls im Landes- Amt getrieben, verhaftet und ins KZ Lichtenburg archiv befindet, ist eine Dokumentation über verschleppt. seine berufliche Tätigkeit aus drei Jahrzehnten, die als Grundlage für die 1957 erschienene Reu- 1935 gelang ihm mit Hilfe englischer Quäker die ter-Biografie von und Richard Lö- Emigration in die Türkei. Dort betätigte er sich als wenthal (1957) diente. kommunalpolitischer Berater des türkischen Ver- kehrs- und Wirtschaftsministeriums sowie als Pro- Die Unterlagen des Nachlasses und des Reuter- fessor an der Verwaltungsakademie in Ankara. Archivs sind in der vierbändigen Edition „Ernst- Reuter. Schriften und Reden“ publiziert. Jeder, 1946 nach Berlin zurückgekehrt, wurde er wie- der vor allem über die dramatische Berliner Nach- derum zum Stadtrat für Verkehr gewählt. Gegen kriegsgeschichte, über die Blockade, die Spal- seine Wahl zum Oberbürgermeister legten 1947 tung, den Aufbau demokratischer Strukturen, den die Sowjets in der Alliierten Kommandantur ihr 17. Juni arbeitet, muss diese Unterlagen heran- Veto ein. Er wurde dennoch der unbestrittene ziehen. Reuter gehörte übrigens ebenso wie Otto Sprecher der Berliner im Kampf gegen die sowje- Suhr auch zu den Vätern des Grundgesetzes.5 tischen Expansionsbestrebungen sowie im Kampf um die Freiheit und Selbstbehauptung der Stadt. Der Nachlass von Klaus Schütz (*1926) ist dem Nach Verhängung der sowjetischen Blockade Landesarchiv Berlin erst vor wenigen Monaten überzeugte er die West-Alliierten, die Stadt nicht übergeben worden. Klaus Schütz, von 1967 bis preiszugeben und sie über eine Luftbrücke zu ver- 1977 Regierender Bürgermeister, trat – nachdem sorgen. Diese Appelle mündeten am 9. Septem- finanzielle Unregelmäßigkeiten eines Senatsmit- ber 1948 auf dem Platz vor dem Reichstag vor gliedes bekannt wurden – als Regierender Bür- mehr als dreihunderttausend Berlinern in der be- germeister zurück. Da er persönlich jedoch unbe- schwörenden Rede: „Ihr Völker der Welt, ihr Völ- lastet blieb, konnte er noch wichtige Ämter be- ker in Amerika, in England, Frankreich und Italien! kleiden. Von 1967 bis 1972 war er deutscher Bot-

40 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle schafter in Israel und anschließend fünf Jahre In- tendant der Deutschen Welle. Der Nachlass ist noch nicht erschlossen. Im Zuge der Übergabe in- terviewten Mitarbeiter des Landesarchivs Klaus Schütz und fertigten ein Filmporträt von ihm an.

Aus diesem Porträt sollen hier seine Äußerungen über den Tod Ernst Reuters zitiert werden: „Ernst Reuters Todestag war ein Tag, den die, die da- mals dabei gewesen sind, niemals vergessen wer- den, wie er die Stadt bewegt hat. Noch in der Nacht haben wir Kerzen herausgestellt, und die ganze Stadt war voller Kerzen. Wir haben selten einen Mann so zu Grabe getragen wie Ernst Reu- ter in den darauf folgenden Tagen. Der Sarg wurde auf dem jetzigen Ernst-Reuter-Platz aufge- bahrt, und wir sind dann mit ihm zum Rathaus Schöneberg gegangen, wir die Sozialdemokra- ten. Und am Tage darauf ist dann mit dem dama- ligen Bundespräsidenten Theodor Heuss und an- deren der Sarg auf den Zehlendorfer Friedhof ge- bracht worden. Ein großes Ereignis, ein trauriges, ein bewegendes. Ernst Reuter ist für alle, die da- mals in der Stadt gelebt haben und heute noch leben, immer noch die zentrale Politikerpersön- lichkeit, weil er neben den großen Fähigkeiten, die er als Kommunalpolitiker hatte, weil er damals durch seine Worte, durch seine mitreißenden Kundgebungen die Völker der Welt, insbeson- schaften befähigten ihn zu einem kraftvollen Poli- dere die drei Schutzmächte, vor allem die der tiker und einem erfolgreichen Verwaltungsfach- Amerikaner, für den Freiheitskampf Berlins, präzis mann. Er wäre der natürliche Nachfolger Willy gesagt West-Berlins, so gewonnen hat, dass sie Brandts nach dessen Wechsel als Außenminister große Risiken auf sich nahmen, um die Stadt frei nach Bonn gewesen, wenn ihn nicht der frühe Tod zu halten .“6 vorzeitig abberufen hätte. 5.2. Joachim Lipschitz Aus der Reihe der Senatoren-Nachlässe soll hier Lipschitz setzte sich für die Festigung des demo- der von Joachim Lipschitz (1918–1961) vorgestellt kratischen Staates und seiner Verfassungsorgane werden. Während der NS-Zeit wegen seines jüdi- ein, war Initiator mehrerer Gesetze, so des Be- schen Vaters in seiner Ausbildung und seinem zirksverwaltungsgesetzes, des Verwaltungsver- Fortkommen behindert, wurde Lipschitz dennoch fahrensgesetzes, des Landesbeamtengesetzes zum Wehrdienst eingezogen und im Krieg schwer und des Zuständigkeitsgesetzes. Als entschiede- verwundet. Nach dem Krieg schloss er sich der ner Gegner von Rechts- und Linksradikalismus bil- Sozialdemokratischen Partei an und gehörte zu dete er zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Si- den Politikern der ersten Stunde. Mit 28 Jahren cherheit und der östlichen Expansionsbestrebun- wurde er 1946 zum Stadtrat für Personal und Ver- gen die Freiwillige Polizeireserve. Es war vor al- waltung im Bezirk Lichtenberg und nach der ad- lem sein Verdienst, dass fortan Berlin zu einem ministrativen Spaltung Berlins 1949 zum Stadtrat Symbol der Freiheit wurde. für Finanzen im Bezirk Neukölln gewählt. Von 1955 bis zu seinem frühen Tod 1961 war er Innen- Durch die eigene leidvolle Erfahrung in der NS- senator. Zeit motiviert, setzte sich Lipschitz für eine groß- zügige Wiedergutmachung ein und wollte damit Der Nachlass und die Handakten vermitteln das das Vertrauen der Verfolgten des NS-Regimes in Bild einer außergewöhnlichen Persönlichkeit. Lip- den neuen Staat zurückgewinnen. Diesem Ziel schitz war glänzend begabt, sprachgewandt, dienten auch der Shanghai-Vergleich, die Stern- hatte einen scharfen Intellekt, überzeugte durch träger-Entschädigung, die Aktion „Unbesungene großen Arbeitseifer, besaß Überzeugungskraft Helden“ und seine zahlreichen Auslandsreisen und Kampfesmut. Er war ein hervorragender Red- nach Israel, England, Frankreich, Nord- und Süd- ner und ein Meister der Sprache. Diese Eigen- amerika. Als Helfer und Schützer besonders jüdi-

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scher Verfolgter kümmerte er sich persönlich um die Entschädigung bedeutender Persönlichkeiten wie Ernst Deutsch, Carl Ebert, Martha Eggerth, Jan Kiepura, Lilian Harvey, Fritz Kortner, um hier nur einige wenige Namen zu nennen.

Im Nachlass und den Handakten befinden sich Unterlagen aus allen Phasen seines Politikerle- bens: Korrespondenzen, Terminkalender und No- tizbücher, Interviews, Vorträge und Aufsätze, Fra- gebögen der Militärregierung, Referentenent- würfe für Gesetze, Unterlagen über Wiedergut- machungsangelegenheiten, über seine vielen Reisen sowie über die Mitgliedschaft in der Deutsch-Ibero-Amerikanischen Gesellschaft und des Verbandes Opfer der Nürnberger Gesetze. Dem Nachlass angegliedert ist der seiner Frau, Dr. Eleonore Lipschitz, geb. Krüger (1922–1981), Senatsrätin in der Senatsverwaltung für Arbeit, Gesundheit und Soziales, die sich vor allem als Sozialpolitikerin und als führendes Mitglied der Arbeiterwohlfahrt einen Namen gemacht hatte.

Die zeitgeschichtliche Forschung wird in diesem Nachlass vor allem Material über die Bestrebun- gen nach dem Kriege zum Aufbau demokrati- scher Strukturen und vor allem über Entschädi- gungen und Wiedergutmachung von Verfolgten Hirschfeld war zunächst journalistisch im Presse- des NS-Regimes finden, die dazu beitrugen, das dienst der SPD tätig. 1921 holte ihn Carl Severin Vertrauen in die demokratische Entwicklung als persönlichen Referenten und Leiter der Infor- Deutschlands zurückzugewinnen7. mationsabteilung ins preußische Innenministe- 5.3. Hans E. Hirschfeld. rium. Wegen großen Mangels an qualifiziertem Als Beispiel eines politisch engagierten hohen Be- Personal im sozialdemokratisch geführten preußi- amten mit einem besonderen Schicksal sei hier der schen Regierungsapparat machte Hirschfeld dort Nachlass von Dr. Hans E. Hirschfeld (1894–1972) schnell Karriere. 1927 wurde er zum jüngsten Mi- vorgestellt. nisterialrat Preußens ernannt. Im Ministerium war er freundschaftlich verbunden mit den Gesin- Hirschfeld wurde als Sohn jüdischer Eltern in nungsgenossen Albert C. Grzesinski, Robert M. Hamburg geboren. Sein Vater war Arzt und Sozia- W. Kempner und Herbert Weichmann. Gemein- list. Bereits als Kind lernte er im Elternhaus die so- sam kämpften sie gegen die Feinde der Republik. zialdemokratischen Persönlichkeiten August Be- Im Visier der Nazis, gelang ihm nach der Machter- bel, Edurad Bernstein, Carl Legien, Rosa Luxem- greifung in letzter Minute die Flucht über Prag, burg und Karl Liebknecht kennen. Die beiden Wien und Zürich nach Frankreich. Dort schloss er Letztgenannten wurden auf der Berliner Partei- sich sozialdemokratischen Emigrantenkreisen an schule seine bewunderten Lehrer. Als 19-Jähriger und setzte publizistisch seinen Kampf gegen die trat er 1913 der SPD bei. Nach geschichtlichen, Nazis, gegen den Anschluss des Saarlandes und philosophischen und literarischen Studien in Ber- gegen die Besetzung des Rheinlandes fort. lin, Göttingen, Kiel und Hamburg wurde Hirsch- feld 1920 zum Doktor der Philosophie promo- 1940 überrollten ihn mit der deutschen Beset- viert. Seine Studien waren durch den Kriegsdienst zung Frankreichs die Ereignisse. Als kämpferi- unterbrochen worden, den er als Leutnant an der scher Gegner der Nazis, die ihn auf die Ausliefe- West-Front durchlitt. Im November 1918 wurde rungsliste der Vichy-Regierung setzen ließen, war er als einer der wenigen Offiziere in den Hambur- er besonders gefährdet. Wiederum in letzter Mi- ger Arbeiter- und Soldatenrat gewählt. Er wech- nute gelang es ihm mit seiner Familie in einer selte aber nicht wie viele seiner Gesinnungsge- abenteuerlichen Flucht über die Pyrenäen nach nossen zur KPD oder USPD, sondern blieb in der Spanien und Portugal, den Häschern zu entkom- SPD. men. Von Portugal aus emigrierte er mit seiner

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Familie in die Vereinigten Staaten. Dort knüpfte gliedert werden. Das Schicksal Hirschfelds, wie es er wieder Verbindungen zu deutschen Emigran- sich in den nachgelassenen Papieren widerspie- ten, diskutierte mit ihnen die deutschen Probleme gelt, weist in den entscheidenden Stadien charak- und arbeitete an Plänen über die Entwicklung im teristische Züge für eine ganze Generation sozial- Nachkriegsdeutschland mit. Aber ebenso wie in demokratischer Spitzenpolitiker auf. Frankreich war die deutsche Emigration in Ame- rika zu heterogen, um als geschlossene Gruppe Wegen des umfangreichen Materials vor allem auftreten zu können. Selbst unter den sozialde- aus der Emigration und aus der Tätigkeit im Senat mokratischen Flüchtlingen herrschten Zwietracht von Berlin ist der Hirschfeld-Nachlass der am häu- und Uneinigkeit. So schloss er sich vor allem den figsten benutzte im Landesarchiv. Der Nachlass befreundeten Sozialdemokraten Paul Hertz, Ma- enthält zahlreiche Unterlagen über die Emigration rie Juchacz, Fritz Hoch, Albert Grzesinski, Emil in Frankreich und in den Vereinigten Staaten, Ma- Kirschmann an, die alle mit Ausnahme von Grze- terial über deutsche Emigrantengruppen, über sinski im Nachkriegsdeutschland hohe Posten be- den Council for a Democratic Germany, über die kleiden sollten. Mit ihnen diskutierte er Fragen sozialdemokratischen Emigrantengruppen, über über die demokratische Entwicklung Nachkriegs- die der SOPADE, über die Friedensziele der deut- deutschlands und über Friedensziele der deut- schen Arbeiterschaft, über das Office of Strategic schen Arbeiterbewegung. Service und über Rückkehrbemühungen. Die Un- terlagen über seine Tätigkeit als Senatssprecher Hirschfeld arbeitete in Amerika als Mitarbeiter an enthalten u.a. Material über die Freiheitsglocke wissenschaftlichen Instituten und Colleges sowie 1950, den 17. Juni 1953, über das II. Deutsch- auch für die amerikanische Regierung im Rahmen landtreffen der FDJ 1954, die Viermächtekonfe- der OSS (Office of Strategic Servics). Er stellte auf renz 1954, Crusade for Freedom, über technische Grund seiner Erfahrungen im preußischen Innen- Kontakte mit der DDR, den Status von Berlin, das ministerium Persönlichkeitsprofile deutscher Poli- Chruschtschow-Ultimatum 1958, Material über tiker her mit der Bewertung über ihre demokrati- die Weltreise Willy Brandts 1958/59, den Kom- sche Zuverlässigkeit sowie Gutachten über die munalen Weltkongress 1959, Unterlagen über deutsche Wehrmacht. Diese Einschätzungen Ernst Reuter, über die Reuter-Institutionen und spielten bei der Personalpolitik der amerikani- die Mitgliedschaft in Vereinen und Gesellschaf- schen Militärregierung eine wichtige Rolle. Voller ten, vor allem über die Gesellschaft für christlich- Ungeduld wartete Hirschfeld nach dem Krieg auf jüdische Zusammenarbeit. Besonders hervorzu- ein Arbeitsangebot aus Deutschland. Aber erst heben ist die umfangreiche Korrespondenz mit 1949 erreichte ihn der Ruf Ernst Reuters. Der Ma- sozialdemokratischen Persönlichkeiten wie Willy gistrat ernannte ihn zum Leiter des Presse- und In- Brandt, Albert Grzesinski, Theodor Haubach, Paul formationsamtes. Als Sprecher des Magistrats Hertz, Fritz Hoch, Marie Juchacz, Emil Kirsch- und ab 1951 des Senats oblag ihm die Vermitt- mann, Carlo Mierendorff und Kurt Schumacher.8 lung zwischen der Verwaltung und der Öffentlich- keit. Diese Position bekleidete er nach Reuters Eine Reihe von Politiker-Nachlässen im Landesar- Tod auch unter den Regierenden Bürgermeistern chiv gehen in ihrer Bedeutung weit über den loka- Schreiber, Suhr und Brandt. 1960 wurde er von len Rahmen Berlins hinaus und enthalten wichtige Egon Bahr abgelöst. Von 1957 bis 1959 beklei- Quellen über die politische Entwicklung Deutsch- dete er auch noch das Amt des Chefs der Senats- lands im 20. Jahrhundert. Zahlreiche Unterlagen kanzlei. harren noch der Auswertung durch die zeitge- schichtliche Forschung. Mit diesem Nachlass konnte dem Landesarchiv eine einzigartige zeitgeschichtliche Quelle einge- Jürgen Wetzel

Anmerkungen

1 Der vorliegende Beitrag ist der überarbeitete Power-Point-Vortrag, den 5 Vgl. Wetzel, Jürgen: Nachlass Ernst Reuter. Repositur 200 Acc. 2326 der Verfasser auf der Fortbildungsveranstaltung „Bedeutung von Nach- (= Findbücher. Hrsg. v. Landesarchiv Berlin, Nr. 4), Berlin 1988: Lange, lässen für die zeitgeschichtliche Forschung“ der Archivberatungsstelle Axel: Ernst-Reuter-Archiv. Repositur 200 Acc. 1180 (= Findbücher. Thüringen am 4. Mai 2004 in Eisenach hielt. Hrsg. v. Landesarchiv Berlin, Nr. 18), Berlin 1994: Brandt, Willy/Löwen- 2 Vgl. die Findbücher LAB E Rep 200. thal, Richard: Ernst Reuter. Ein Leben für die Freiheit. Eine politische 3 Vgl. Berliner Archive, hrsg. vom Landesarchiv Berlin, 5. erweiterte Aufl., Biographie, Berlin 1957; Ernst Reuter. Schriften, Reden, hrsg. von Hans Berlin 2003, S. 63f. E. Hirschfeld u. Hans J. Reichhardt, 4 Bde, Berlin 1972-1975; Barcelay, 4 Zitiert nach einer Tonbandaufnahme der Rede, die sich in der Tonband- David E.: Schaut auf diese Stadt. Der unbekannte Ernst Reuter, Berlin sammlung des Landesarchivs Berlin befindet: vgl. auch Ernst Reuter, 1999; Breunig, Werner: Berlin und die Gründung der Bundesrepublik Schriften Reden, hrsg. von Hans E. Hirschfeld u. Hans J. Reichhardt, Deutschland, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Bd. 3, Berlin 1974, S. 479. Landesarchivs Berlin, Berlin 1999, S. 7–45; Wetzel, Jürgen: Ernst Reuter.

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Oberbürgermeister u. Regierender Bürgermeister von Berlin 1948– Berlin 1962; Neubauer, Kurt: Sicherheit in Berlin. Reden zum 10. Todes- 1953. Ausstellungskatalog des Landesarchivs Berlin 15. Berlin 2003. tag von Joachim Lipschitz und zum 10jährigen Bestehen der Freiwilli- 6 Ausschnitt aus dem Filmporträt mit Klaus Schütz. Das Landesarchiv Ber- gen Polizeireserve, Berlin 1971. lin besitzt rund vierhundert Filmporträts von Politikern, Unternehmern, 8 Vgl. LAB E Rep. 200-18, Findbuch Bd. 3: Wetzel, Jürgen: Der Nachlass Wissenschaftlern, Künstlern u. Beamten. Hirschfeld im Landesarchiv Berlin, Ein Beitrag zur Biographie, in: 7 Vgl. LAB E Rep. 200-32 (Nachlässe) u. B Rep. 4, Nr. 155–211 (Handak- Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, H. 3 (1974), ten); Joachim Lipschitz zum Gedenken, hrsg. vom Senator für Inneres, S. 447–452.

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Probleme und Erfahrungen bei der Erfassung und Erwerbung von Nachlässen aus der Zeit 1945–1990 in Südthüringen

Einleitung Rahmen des Projektes auf die Jahre 1945–1990 Der Übergang von einem bis dahin eher passiven konzentrieren. Während die zweite Bedingung Umgang mit Nachlässen und biografischen Daten methodisch kein Problem darstellte, war die Ge- zu einer aktiven Politik der Erwerbung von Nach- winnung einer kostenneutralen und zuverlässigen lassschriftgut im Thüringischen Staatsarchiv Mei- ABM-Kraft nicht so einfach zu bewerkstelligen. ningen wurde 1999/2000 vor allem durch zwei Er- Letztendlich gelang es aber, eine mit den Arbeits- kenntnisse ausgelöst: abläufen im Archiv bereits vertraute Person zu ge- winnen und diese sogar ein zusätzliches Jahr, also 1. Im Zusammenhang mit der Erarbeitung einer insgesamt zwei Jahre, zu beschäftigen. Allerdings umfangreichen Quellenedition der Protokolle muss das Thüringische Staatsarchiv Meiningen des Sekretariats der SED-Bezirksleitung Suhl seit April 2003 ohne diese Unterstützung am Pro- 1952/531 für die Reihe “Veröffentlichungen jekt weiterarbeiten. aus Thüringischen Staatsarchiven“ in den Jah- ren 1999–2001 machten sich starke Defizite im Ausgangssituation Vorhandensein und bei der Beschaffung von Zu Beginn des „Projektes Erinnerungskultur“ im biografischen Daten zu handelnden Personen Jahr 2001 verwahrte das Thüringische Staatsar- bemerkbar. Sie konnten nur mit einem großen chiv Meiningen insgesamt 57 Nachlässe bzw. Per- Kraftaufwand behoben werden. sonenfonds. Davon waren 32 Nachlässe zum Teil 2. In jenen Jahren erreichten das Thüringische weit vor 1990 übernommen worden. Der zeitliche Staatsarchiv Meiningen verstärkt Meldungen, Schwerpunkt dieser sogenannten Alt-Nachlässe dass umfangreiche Nachlässe von gerade ver- liegt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im storbenen Spitzenfunktionären des Bezirkes Zusammenhang mit der Übernahme des SED-Be- Suhl nur deshalb vernichtet worden sind, weil zirksparteiarchivs Suhl auf der Grundlage des Ein- die Angehörigen keine Verwendung mehr da- bringungsvertrages zwischen dem Freistaat Thü- für hatten bzw. der Platz für die Aufbewah- ringen und dem Landesvorstand Thüringen der rung, zum Beispiel durch einen erfolgten Um- PDS vom 7. April 1993 übernahm das Thüringi- zug in eine kleinere Wohnung, fehlte. Eine sche Staatsarchiv Meiningen weitere 25 Nach- Kontaktaufnahme mit einem öffentlichen Ar- lässe bzw. Nachlasssplitter von führenden Funk- chiv unterblieb aus Unkenntnis, wurde mitun- tionären der Suhler SED-Bezirksparteiorganisa- ter später (zu spät) als möglicher Weg zur Si- tion.2 Diese Nachlässe bzw. Personenfonds wur- cherung der Unterlagen erkannt. den in der Mehrzahl in den 70er und 80er Jahren den SED-Bezirksparteiarchiven in der DDR auf In Auswertung dieser Erkenntnisse entwickelte der Grundlage zentraler Parteibeschlüsse über- das Thüringische Staatsarchiv Meiningen für die geben bzw. wurden zunächst in Form von Samm- Jahre 2001–2005 unter dem Titel „Projekt Erinne- lungen angelegt.3 Die Nachlässe bzw. Personen- rungskultur“ ein Zweistufenkonzept zur Sicherung fonds aus dem ehemaligen SED-Bezirksparteiar- biografischer Daten und Materialien im Zustän- chiv Suhl liegen, mit einer inneren Ordnung ver- digkeitsbereich Südthüringen. Die erste Stufe be- sehen, weitgehend erschlossen vor. Diese, in der inhaltet die Erarbeitung einer „Historisch-Biogra- zweiten Hälfte der 80er Jahre durchgeführte Er- fischen Datenbank von Persönlichkeiten aus Poli- schließung, ist jedoch stark verbessungsbedürftig tik, Wirtschaft, Kunst/Kultur, Sport und Wissen- und müsste im Zusammenhang mit einer grund- schaft in Südthüringen/Bezirk Suhl 1945–1990“ legenden Prüfung des Erschließungszustandes und die zweite Stufe beinhaltet die unmittelbaren von Nachlässen und Personenfonds in naher Zu- Bemühungen zur Erwerbung von Personenfonds kunft überarbeitet werden. Eine Ausnahme bildet bzw. Nachlässen. dabei der quantitativ und qualitativ umfangreich- ste Nachlass des ersten Vorsitzenden des Rates Der Realisierung des „Projektes Erinnerungskul- des Bezirkes Suhl, Fritz Sattler (1894–1964). Die- tur“ im Thüringischen Staatsarchiv Meiningen la- ser Nachlass im Umfang von 1,7 lfm wurde 1985 gen in Anbetracht der angespannten Haushalts- von der damaligen Archivarin des SED-Bezirks- und Personalsituation im Archiv jedoch von vorn- parteiarchivs im Rahmen ihrer Diplomarbeit im herein zwei Bedingungen zugrunde. Um den er- Fachbereich Archivwissenschaft an der Hum- heblichen personellen Aufwand zur Durchführung boldt-Universität zu Berlin bearbeitet. Fritz Sattler des Konzeptes überhaupt zu bewältigen, musste gehörte zu den gebildeten Vertretern der KPD in man sich einerseits um eine kostenneutrale Ar- Mitteldeutschland. In den 20er Jahren war er Lei- beitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) beim Ar- ter verschiedener Presseverlage der KPD in beitsamt Suhl bemühen und andererseits den Chemnitz und Suhl. In der Zeit der nationalsozia-

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Alexander Reuter, Intendant des Meininger Theaters, 1956 auf der 3. Parteikonferenz der SED in Berlin

listischen Herrschaft saß er lange Jahre im Zucht- Daten gehen kann. Deshalb wurden zunächst haus Waldheim und im KZ Sachsenhausen. Nach „vorläufige“ Kriterien benannt, nach denen eine dem Krieg war er zunächst 2. Bürgermeister in Auswahl von Persönlichkeiten für den Eingang in Suhl und wechselte 1946 in die Thüringische Lan- die Datenbank vonstatten gehen sollte. So wurde desregierung über. Von 1952–1958 war er Rats- für die Datenbank folgender Personenkreis umris- vorsitzender im Bezirk Suhl. Seine volksverbun- sen: dene und undogmatische Arbeitsweise war der – Mitglieder des ZK der SED bzw. der Volkskam- regionalen SED-Führung stets ein Dorn im Auge mer; und sie war mehrmals bemüht, Sattler als Ratsvor- – Landtagsabgeordnete 1945-1952; sitzenden abzulösen. 1958 geschah dies dann – Sekretariatsmitglieder der SED-Bezirksleitung; aber in erster Linie infolge seiner angeschlagenen – Erste und Zweite Sekretäre der SED-Kreislei- Gesundheit. tungen; – ausgewählte Parteisekretäre bzw. Parteiorga- Historisch-Biografische Datenbank nisatoren des ZK der SED; Das „Projekt Erinnerungskultur“sah vor, in einer – Vorsitzende und 1. Stellvertreter von Räten der ersten Stufe eine Historisch-Biografische Daten- Kreise; bank von Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, – ausgewählte Oberbürgermeister bzw. Bürger- Kunst/Kultur, Sport und Wissenschaft in Südthü- meister; ringen/Bezirk Suhl 1945–1990“ aufzubauen. – Erste Sekretäre der bezirklichen Massenorga- Diese Datenbank sollte die bereits zu verschiede- nisationen; nen Anlässen erstellten biografischen Daten und – Chefs der BDVP, des MfS, des WBK, des GK Bilder von Persönlichkeiten der Region aufneh- Süd; men und dann mit neuen personellen Angaben – Generaldirektoren bzw. Kombinatsdirekto- erweitert werden. Es war den Bearbeitern der Da- ren/Werkdirektoren zentralgeleiteter Betriebe tenbank natürlich klar, dass es hierbei um keine bzw. von Betrieben mit gebietstypischer Pro- zufällige Ansammlung von personengebundenen duktion (zum Beispiel Christbaumschmuck);

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– ausgewählte Leiter von Betrieben mit anderen Natürlich wäre es illusorisch zu glauben, dass alle Eigentumsformen (Privatbetriebe, BSB, PGH Schreiben umgehend positiv beantwortet wer- und LPG); den. Von den 125 versandten Anschreiben ein- – Wissenschaftler, Erfinder, Ingenieure und schließlich Fragebögen in den Jahren 2002/2003 Ärzte von herausragender Bedeutung; erhielt das Thüringische Staatsarchiv Meiningen – ausgewählte Sportler und Trainer mit Erfolgen bisher 70 Rückmeldungen. Davon waren 10 Absa- bei Olympia und anderen internationalen gen. Dabei fiel auf, dass sich darunter vor allem Wettkämpfen; ehemalige leitende Wirtschaftsfunktionäre befin- – Intendanten und ausgewählte Schauspieler den. Den Briefen dieses Personenkreises ist eine des Meininger Theaters; erhebliche Verbitterung über die Entwicklung – ausgewählte Schriftsteller und bildende Künst- nach der Wende eigen. So schrieb der ehemalige ler; Betriebsdirektor des inzwischen liquidierten Vor- – ausgewählte Geistliche aller Konfessionen; zeigeunternehmens VEB Robotron-Elektronik – ausgewählte Arbeiterpersönlichkeiten (zum Zella-Mehlis, Walter B., wörtlich an das Staatsar- Beispiel Helden der Arbeit); chiv: “Ich kann Ihnen nur mitteilen, dass ich schon – herausragende Frauenpersönlichkeiten. vor längerer Zeit meinen letzten Fragebogen aus- gefüllt habe. Wenn alles, was mit viel Arbeit ge- In einer ersten Schätzung des Personenkreises schaffen wurde als marode platt gemacht wurde, wurde mit einem Umfang von 800–900 Personen kann man auch die beteiligten Personen verges- gerechnet. Diese Zahl wurde im Verlauf der Ar- sen. Die sogenannten „Offenlegungen“ der letz- beit an der Datenbank stetig nach oben korri- ten zwölf Jahre haben überzeugend gezeigt, wie giert. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind 1.100 “Historiker“ mit der Vergangenheit und Archiven Personen erfasst. Es ist davon auszugehen, dass umgehen. Dazu liefere ich kein zusätzliches Mate- die Datenbank beim vorläufigen Abschluss des rial. Ich bitte meinen Standpunkt zu akzeptieren Projektes Ende 2005 ca. 1.500 Personen umfas- und verbleibe. Walter B.“ sen wird. Bei der Auswahl der Persönlichkeiten richten sich die Bearbeiter in der Regel nach dem Die meisten Rückmeldungen enthielten allerdings obengenannten Personenkreis, allerdings wird umfangreiche biografische Lebensdaten über die berücksichtigt, dass bei der Prüfung der einzelnen betreffende Person bzw. in Ausnahmefällen die Biografien auch interessante, oft bereits schon des inzwischen verstorbenen Lebenspartners. In vergessene Persönlichkeiten zum Vorschein kom- einigen Fällen wurden auf Bitten der Angeschrie- men, die es wert sind, in die Datenbank mit auf- benen Termine zur persönlichen Konsultation in genommen zu werden. Als Primär- und Sekundär- der Wohnung bzw. im Archiv in Meiningen bzw. in quellen für die Datenbank dienen in erster Linie: der Außenstelle Suhl vereinbart. Hintergrund die- – biografische Nachschlagewerke bzw. Mono- ser Gespräche war das Bedürfnis, den archivi- grafien mit biografischem Teil; schen Gesprächspartner persönlich kennen zu ler- – Personalakten; nen bzw. den eigenen Lebensweg mündlich zu – verschiedene biografische Angaben aus staat- schildern. lichen Akten (u. a. der Polizei, der Justiz, des Sozialwesens); Es versteht sich natürlich von selbst, dass, durch – Angaben aus der Presse (u. a. Todesanzeigen); den Charakter der hier ermittelten Quellen bedingt, – Eigenangaben der betreffenden Personen im auch die somit erarbeitete Datenbank den Regeln Rahmen von Befragungen. des Personen- und Datenschutzes unterworfen ist. Demnach wäre eine externe Nutzung der Daten- Während die Quellen zu den eben aufgeführten bank nur unter bestimmten strengen Auflagen, die Punkten 1–4 mit mehr oder weniger Aufwand re- das Thüringische Archivgesetz vom 23.4.19924 be- lativ unproblematisch im Archiv ermittelt werden schreibt, möglich. Die interne Nutzung der Daten- können, bedarf es bei der Durchführung von Be- bank für das Archiv liegt auf der Hand. fragungen schon eines etwas größeren Aufwan- – Die Datenbank erleichtert die internen Ar- des. Im Thüringischen Staatsarchiv Meiningen er- beitsprozesse, vor allem Bewertung, Erschlie- folgte die Mehrzahl der Befragungen von Persön- ßung und Auskunftstätigkeit. lichkeiten seit Mitte des Jahres 2001 schriftlich. – Die Datenbank unterstützt die Erarbeitung Dazu wurde ein vier Seiten umfassender Fragebo- und Herausgabe von Publikationen des Ar- gen mit den wesentlichsten Angaben zur Person chivs, vor allem Quellenpublikationen und bio- erarbeitet. Dieser Fragebogen wurde mit einem grafische Handbücher. Anschreiben versehen und an die mitunter mit – Die Datenbank ist letztendlich der Ausgangs- großem Aufwand ermittelte aktuelle Adresse der punkt für die Erfassung und Erwerbung von Persönlichkeit verschickt. Nachlässen.

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FAUST-Erfassungsmaske Olga Brückner

Für die Datenbank selbst wurde auf der Basis des nachhaltig geprägt haben. Im Gegensatz zur Programms Faust 3.0 mit Bildbearbeitungskompo- zweiten Stufe, der Nachlasserwerbung, gibt es nente eine Erfassungsmaske entwickelt, in der alle hier keine Abgrenzungen bzw. Zuständigkeitsfra- wesentlichen Daten zur Person Aufnahme finden. gen. So werden in die Datenbank zum Beispiel auch Bürgermeister mitaufgenommen, um die Da es in der Regel nicht möglich und nicht not- sich nach einer bereits erfolgten Abstimmung in wendig ist, alle greifbaren Daten zur Person in die Südthüringen in punkto Nachlasserwerbung ganz Datenbank einzuarbeiten, aber dennoch jede allein die zuständigen Kommunalarchivare küm- Menge Papier zum Vorgang anfällt (Kopien aus mern müssen (vgl. Co-Beitrag von Andrea Wal- Akten, Korrespondenz mit der Persönlichkeit, Fra- ther, Stadtarchiv Suhl). gebogen etc.) wurde parallel zur Datenbank eine spezielle Hängeregistratur zur Aufnahme dieser Nachlasserwerbung Materialien angelegt. Auf diese wird dann zurück- Der unmittelbare Zusammenhang zwischen den gegriffen, wenn zur Vorbereitung eines Ge- Stufen Datenbank und Nachlasserwerbung liegt sprächs bzw. bei einer näheren Beschäftigung mit natürlich ebenfalls auf der Hand. Das Thüringi- der Biografie des Betreffenden mehr Informatio- sche Staatsarchiv Meiningen nutzte bzw. nutzt nen benötigt werden, als die computergestützte den doch beträchtlichen Aufwand bei der Erar- Datenbank hergibt. Es muss an dieser Stelle be- beitung der Historisch-Biografischen Datenbank tont werden, dass die Erarbeitung der Historisch- auch dazu, in der Frage der Nachlasserwerbung Biografischen Datenbank zwar eine erste, aber ei- aktiver zu werden. Das ist verständlich, denn ei- genständige Stufe des konzipierten „Projektes Er- nerseits ist das Archiv daran interessiert, die mit- innerungskultur“ darstellt. Es geht hierbei um unter inhaltlich aus verschiedenen Gründen dezi- eine möglichst vollständige Erfassung von bedeu- mierten staatlichen Bestände sinnvoll zu ergän- tenden Persönlichkeiten, die das gesellschaftliche zen, andererseits entsteht bei dem einen oder an- Leben in der Region in den Jahren 1945-1990 deren Angeschriebenen das Bedürfnis, neben

48 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle seinen Daten für die Datenbank auch die dazuge- seines Lebens. Das Archiv muss natürlich auch hörigen Materialien dem Archiv anzuvertrauen. solche Gespräche ohne greifbares Ergebnis Deshalb hat das Thüringische Staatsarchiv Mei- führen können; ningen im erwähnten Fragebogen auch die sensi- – der potentielle Nachlasser kann sich nicht ent- ble Frage eingebaut, ob das Archiv kurzfristig scheiden, wohin er seinen Personenfonds oder langfristig mit der Übernahme von persönli- letztendlich geben möchte. Dies ist mitunter chen Materialien rechnen könnte. Von den 70 bei Personen der Fall, die mehrere Ämter- Rückmeldungen zur Datenbank haben in den Jah- wechsel hatten. ren 2002/2003 insgesamt 23 Persönlichkeiten diese Anfrage positiv beantwortet. Davon be- In der Regel gelingt es aber dem jeweils zuständi- trachteten fünf Personen dies als eine langfristige gen Mitarbeiter des Thüringischen Staatsarchiv Zusage, 18 Personen waren dagegen zu unmittel- Meiningen, die zweifelnde Person davon zu über- baren Gesprächen über eine Übergabe bereit. zeugen, dass sein Personenfonds bzw. der Nach- Diese Gespräche begannen im Herbst 2003 und lass des verstorbenen Partners im Archiv gut auf- sind noch nicht beendet. Mitunter wünscht der gehoben ist. So konnte im Fall des Nachlasses Gesprächspartner, dass ein weiteres Gespräch des am 18.11.1896 in Haina bei Römhild gebore- stattfinden sollte oder er hat bei der Übergabe nen und am 22.2.1977 in Berlin (West) verstorbe- seines Personenfonds etwas vergessen und bittet nen deutschen Schauspielers Otto Graf sein lang- nun um einen neuen Termin. Trotz der vorläufi- jähriger Lebenspartner in Berlin letztendlich da- gen Zusage zur Übergabe sind die Gespräche von überzeugt werden, dass der Nachlass des auf nicht immer einfach und erfordern Zeit und Ge- großen Bühnen und im Film bekannt gewordenen duld. Im wesentlichen haben sich dabei folgende Künstlers im Staatsarchiv Meiningen in besten Probleme herauskristallisiert: Händen ist. Dieser Nachlass konnte im März 2003 – der potentielle Nachlasser zweifelt an der Zusi- aus Berlin geholt werden. Im Ergebnis solcher Be- cherung, dass seine Unterlagen nur mit Zu- mühungen wurden im Rahmen der zweiten Stufe stimmung seiner Person zur Benutzung frei ge- des „Projektes Erinnerungskultur“ bis zum ge- geben werden; genwärtigen Zeitpunkt immerhin 13 Personen- – der potentielle Nachlasser zieht den Kreis des fonds bzw. Nachlässe, davon zwei als Depositum, angebotenen Personenfonds zu eng (nur Bü- übernommen. Bei weiteren fünf ausgewählten cher, Bilder, Repräsentationsgeschenke); Persönlichkeiten steht vorrausichtlich eine Über- – der potentielle Nachlasser ist zu Gesprächen gabe im Spätherbst 2004 an. bereit, betrachtet diese aber nur als eine Art Ventilfunktion bzw. Möglichkeit zur Reflektion Norbert Moczarski

Anmerkungen

1 Vgl. Die Protokolle des Sekretariats der SED-Bezirksleitung Suhl. Von 3 Nähere Erläuterungen dazu bei Marina Wermes, Nachlass oder Perso- der Gründung des Bezirkes Suhl im Sommer 1952 bis zum 17. Juni nenfonds. Aspekte der Bewertung und Erschließung von persönlichem 1953. Bearbeitet von Norbert Moczarski. (Veröffentlichungen aus Thü- Schriftgut im Bestand SED-Bezirksleitung Leipzig, in: Bewertung, Er- ringischen Staatsarchiven [Veröffentlichung des Thüringischen Staats- schließung und Benutzung von SED-Beständen in den Archiven der archivs Meiningen]; Band 8). Weimar 2002. 1061 Seiten. [ISBN 3-7400- Neuen Bundesländer. Beiträge eines Workshops am 7./8. November 1162-9] 2001 im Sächsischen Staatsarchiv Leipzig, Dresen 2002, 70–75. 2 Vgl. Lutz Schilling, Einbringungsvertrag zwischen dem Land Thüringen 4 Vgl. Thüringer Gesetz über die Sicherung und Nutzung von Archivgut und dem PDS-Landesvorstand, in: Archive in Thüringen Nr. 5/1993, (Thüringer Archivgesetz – ThürArchivG) vom 23. April 1992, in: GVOBl, S. 2. für das Land Thüringen Nr. 10/1992 vom 30. April 1992, S. 139–143.

Sonderheft 2004 49 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

Bedeutung von Nachlässen für die zeitgeschichtliche Forschung Als das Suhler Stadtarchiv mit seiner jüngsten Pu- Sternstunden im Erwerbsgeschehen benennen. blikation „Suhler Bürgermeister seit 1832“ mit Von einem Automatismus kann man dabei aber den Vorrecherchen beschäftigt war, sind wir mit nicht sprechen. So war es am „Tag der offenen einem Problem konfrontiert worden, das Sie si- Tür“ im Jahr 2001, als der bedeutende Suhler cher aus Ihrer täglichen Arbeitspraxis zur Genüge Heimatforscher Ernst Fischer unsere Einrichtung kennen. Bei den meisten Bürgermeistern waren besuchte und uns spontan die Übergabe seines ausreichende Daten zu deren Biografie und Le- für die Forschung so wichtigen Nachlasses versi- bensleistung zu ermitteln. Bei anderen hingegen cherte. Überzeugt von unserer Arbeit und Quali- standen wir vor massiven Überlieferungsdefiziten. tät unseres Hauses, hatte er sich zu einem solchen In den eigenen Beständen war über die entspre- Schritt entschlossen. chenden Amtspersonen nichts zu finden. Was nun einsetzte, war eine unter Zeitdruck zu leistende Nachlässe von Amtspersonen Ermittlungstätigkeit. So traten wir zunächst in Zum Projekt „Nachlasserwerbung/Datenbank Per- brieflichen Kontakt mit glücklicherweise noch le- sonen 1945–1990“ des Thüringischen Staatsar- benden einstigen Bürgermeistern von Suhl. Nur chivs Meiningen, Nachlässe von Persönlichkeiten auf der Basis einer nunmehr einsetzenden Koope- Südthüringens bzw. des ehemaligen Bezirkes ration war die erwähnte Publikation dann auch zu Suhl zu erwerben, möchte ich folgende Gedan- realisieren. ken äußern:

Nachlässe – wichtige Quellen für die Es ist wichtig, dass das Thüringische Staatsarchiv kommunalarchivische Tätigkeit Meiningen dieses Projekt angeschoben hat. Un- Die einführende Situationsskizze verdeutlicht ein- verzichtbar für alle ist die gute Zusammenarbeit mal mehr, wie wichtig der rechtzeitige Erwerb von und der Austausch entsprechender Informatio- Nachlässen für unsere Arbeit ist. An dieser Stelle nen. Bei dem Projekt wurden zunächst die ent- möchte ich unterscheiden zwischen Nachlässen sprechenden Persönlichkeiten gebeten, ihren von: Nachlass dem Thüringischen Staatsarchiv Meinin- 1. Amtspersonen und gen zu übereignen bzw. Lebensdaten für die er- 2. Personen und Vereinen, die in irgendeiner an- wähnte Datenbank zur Verfügung zu stellen. deren Art und Weise wichtig für die Stadtge- 1. Aus Erfahrung weiß ich, dass mitunter auch in- schichte sind. dividuelle persönliche Erfahrungen entscheidend sind, wem der Nachlass übergeben wird. Das be- Zunächst möchte ich auf letztere Personengruppe deutet, dass ein Teil der angeschriebenen Per- eingehen. In erster Linie sollte sich jedes Kommu- sönlichkeiten statt dem Thüringischen Staatsar- nalarchiv um die Nachlässe von Persönlichkeiten, chiv Meiningen ihren Nachlass lieber einem be- deren Wirken für die Stadtgeschichte eine nach- kannten bzw. vertrauten Archiv oder Archivar haltige Bedeutung zukommt, bemühen. Dabei übergeben möchte. An dieser Stelle ist es ganz denke ich besonders an die Nachlässe von wichtig, dass das initiierte Projekt „nicht im Sande – Fraktionsvorsitzenden verläuft“, sondern dass die Archivare – egal ob – Architekten Thüringer Staatsarchiv oder Kommunalarchiv – – Pädagogen dem betreffenden Archiv den Zugang des ent- – Heimatforschern sprechenden Nachlasses mitteilen. – Ärzten 2. Das Thüringische Staatsarchiv Meiningen hat – Sportlern allen Kommunalarchiven im Südthüringer Raum – Künstlern eine Auflistung der angeschriebenen Persönlich- – Personen mit großem ehrenamtlichem Enga- keiten übergeben. Aufgabe des Thüringischen gement, z. B. in Vereinen u.v.a. Staatsarchivs Meiningen muss es sein, alle am Projekt beteiligten Kommunalarchiven über die Beim Erwerb des Nachlasses sollte man besonde- Reaktionen der angeschriebenen Personen zu in- ren Wert legen auf formieren. Hierbei gibt es zwei Varianten: 1. persönliche biografische Unterlagen, Variante 1 2. Informationen zum Wirken und Vermächtnis, Die Persönlichkeit übergibt ihren Nachlass dem 3. Bilddokumente, Thüringischen Staatsarchiv Meiningen. Eine ent- 4. im Einzelfall auch Tonaufnahmen. sprechende Mitteilung an das jeweilige Kommu- nalarchiv ist im Interesse einer einfachen Handha- Dabei hat es sich als vorteilhaft erwiesen, dass bung ausreichend. man sich als Archivar individuelle Kontakte auf- Variante 2 baut. Hier lassen sich für unser Archiv sogenannte Es erfolgt keine Rückantwort seitens der ange-

50 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle schriebenen Person an das Thüringische Staatsar- Fazit chiv Meiningen. Auch hier muss eine Rückantwort Ich bin der Auffassung, dass Nachlässe ehemali- an das entsprechende Kommunalarchiv erfolgen. ger Bürgermeister/Oberbürgermeister unbedingt An dieser Stelle muss zwischen dem Thüringi- in kommunaler Hand verbleiben sollten, da sie er- schen Staatsarchiv Meiningen und Kommunalar- ste und wichtigste Personen in der Verwaltung ei- chiv entschieden werden, ob eine erneute Verbin- ner Kommune waren und sind. Das Staatsarchiv dung durch das Staatsarchiv aufgenommen wird kann ja auch problemlos darauf zurückgreifen, oder ob sich der Kommunalarchivar um den be- falls diese Persönlichkeit in einem ehemaligen treffenden Nachlass bemühen muss. Kombinat oder auch als Funktionär tätig war.

Andrea Walther

Sonderheft 2004 51 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

Privates Schriftgut als Bestandsergänzung Der Heimatliebe Pförtner sich um das Archiv einer Landeshauptstadt han- Ist unser treuer Gärtner delt, sagt dabei nichts über Größe und Bedeu- Die Pforten schloss er auf tung dieses Archivs aus. Ganz im Gegenteil: Jahr- Aus alter Zeiten Lauf. zehntelange Vernachlässigung, personelle Unter- besetzung, mangelnde Abgabemoral der Akten- In Worten und in Bildern, produzierenden städtischen Behörden und nicht die treu die Heimat schildern, zuletzt die Konkurrenz von Institutionen wie Lan- zeigt er aus jeder Zeit desbibliothek, Landesmuseum und Hauptstaats- der Stadt Vergangenheit. archiv hatten Entfremdungen und eine problema- tische Überlieferungssituation zur Folge, die zu So mög’ in buntem Reigen verbessern vielfach Nachlässe die einzige Mög- Die Gaertner-Sammlung zeigen, lichkeit bieten.5 wie einst es Jahr um Jahr in unsrer Kurstadt war. Der erste herbe Verlust, den das Archiv der Stadt Wiesbaden hinnehmen musste, war ein verhee- Und wer dies alles schaute, render Stadtbrand im Jahr 1547, der einen Groß- ist dankbar, daß uns baute teil des städtischen Schriftgutes vernichtete. In dies Denkmal unser Gaertner, den folgenden Jahrhunderten war die mangel- der Heimatliebe Pfoertner. hafte Unterbringung verantwortlich für vielfache Dezimierungen. Ein „Gerichtsgewölb auff dem Der in diesen Schüttelreimen gepriesene ”Pfört- Thurm” wird 1636 als Verwahrort städtischer Ur- ner der Heimatliebe” war Ludwig Gärtner,1 ein kunden genannt. 1716 wurden aus Platzmangel, großer Kenner der Wiesbadener Geschichte. und weil man das Schriftgut „vor unbrauchbar ge- Seine Verdienste um die Heimatgeschichte und halten”, seitens der städtischen Verwaltung weit- vor allem um das Stadtarchiv, das er durch seine reichende Kassationen vorgenommen, insbeson- Sammlungen und ein besonderes Erschließungs- dere Protokolle von Gerichtsverhandlungen, system benutzbar und überlebensfähig gemacht Rechnungen und Akten der freiwilligen Gerichts- hat, spiegeln sich in der Signatur seines dort ver- barkeit bis zurück zum 14. Jahrhundert vernichtet. wahrten Nachlasses wieder: Gärtner steht nämlich Bis 1873 lagerte das Archiv in einem Turm der mit der Nummer 1 am Anfang dieser Bestände- Stadtbefestigung, anschließend in den Dachkam- gruppe.2 Derjenige, der ihn 1942 würdigte, war in mern des alten Rathauses, der Marktkirche, dann seiner Wirkung nicht minder bedeutend, ist heute seit 1892 des neuen Rathauses, wo Mäusefraß, jedoch überaus umstritten: der Nauroder Heimat- Verstaubung und ungünstigen Witterungseinflüs- dichter Rudolf Dietz.3 Auch sein Nachlass mit der sen Tür und Tor geöffnet waren. Signatur NL 86 befindet sich im Stadtarchiv Wies- baden. 1851–55 wurde das bis dahin verwahrloste Schriftgut durch den Gymnasiallehrer und Archi- Diese beiden Beispiele von Nachlässen sollen, var Karl Rossel6 geordnet, der, nachdem er im auch aus begrifflichen Gründen, im Mittelpunkt Gefolge der 1848er Revolution den Schuldienst der Überlegungen zum Thema: ”Übernahme pri- hatte quittieren müssen, zu dieser Zeit als Sekre- vaten Schriftgutes als Ergänzung kommunaler Ar- tär des Vereins für Nassauische Altertumskunde chivbestände” stehen. Ihre Bedeutung für die Lo- tätig war. Er legte provisorische Listen zur Ord- kalgeschichte ist unterschiedlich, im Falle Gärtner nung und Nutzung des städtischen Schriftgutes allerdings unbestritten: Ohne seine im Laufe vie- an; über die Schwierigkeiten dieser Unterneh- ler Jahre gesammelten „Wisbadensia“, die er in mung berichtete er am 28. April 1851 dem Wies- eine Stiftung überführte und als „Wiesbadener badener Gemeinderat: „Die von mir unternom- Erinnerungen (Bücher und Bilder)“ 1949 testa- mene und nunmehr zu einem gewissen Abschluß mentarisch der Stadt Wiesbaden vermachte,4 gebrachte Arbeit war aber weder eine leichte, wäre nämlich das Stadtarchiv vermutlich noch noch eine sonderlich angenehme. Denn die zum heute nicht aus der Taufe gehoben und folglich städtischen Archiv gehörigen Urkunden und Ak- die lokale Geschichtsschreibung, wenn nicht un- ten befanden sich vor allen Dingen weder bei- möglich, so doch zumindest sehr erschwert. sammen, noch in irgend einer Art von Ordnung, dabei größtentheils im kläglichsten Zustand.”7 Er Um den Nachlass Gärtner in seiner Bedeutung für konstatierte, dass „fingerdicker Staub zerstörte, das Stadtarchiv richtig würdigen zu können, was die Mäuse noch nicht angefressen hatten”. möchte ich kurz auf die wechselvolle Geschichte Es sei „durch Unglücksfälle, mehr noch durch Ver- dieser Institution eingehen. Die Tatsache, dass es wahrlosung das Wertvollere längst zu Grunde ge-

52 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle gangen”. Rossel rettete außerdem das im Rat- gebliebenen Bildbestandes des Stadtarchivs end- haus noch befindliche Archivgut – mit dem man gültig den Besitzer. – Nach alldem kann es kaum seinem Bericht zufolge im Winter das Feuer in verwundern, dass das Stadtarchiv als eigenstän- den Öfen anzufachen pflegte – vor der weiteren dige Institution erst seit 1978 existiert; einigerma- Vernichtung. ßen gut untergebracht sind die Bestände seit 1989, seit etwa fünf Jahren ist auch die personelle Erster Wiesbadener Stadtarchivar wurde Chri- Besetzung nahezu zufrieden stellend. stian Spielmann,8 der durch ein Gehörleiden zur Aufgabe seines Lehrerberufes gezwungen wor- Lebensfähig wurde das spätere Stadtarchiv, wie den war. Er sorgte dafür, dass das Archiv am 9. oben angedeutet, erst durch die Sammlungen April 1892 in das neu erbaute Wiesbadener Rat- Ludwig Gärtners. Die Bedeutung des – zu diesem haus gebracht wurde und legte das erste hand- Zeitpunkt schon fast sprichwörtlichen – „Gärtner- schriftliche Repertorium an, das weit über 100 Archivs“ wurde anlässlich der Verlagerung dieser Jahre in Benutzung blieb. Nach dem Tode Spiel- Unterlagen in das städtische Rathaus im Jahr manns 1917 blieb dessen Stelle zunächst für drei 1942 in einem Zeitungsbericht gewürdigt: Jahre unbesetzt, und bald darauf begann für das Archiv wiederum eine unerquickliche Odyssee, „Diese umfassende Sammlung [ist] ein Denk- die von neuerlichen Schriftgutverlusten begleitet mal …, ein Denkmal im geistigen Leben unserer wurde.9 Stadt, aber auch ein Ehrenmal für unseren 78jäh- rigen Justizoberrentmeister i.R. Ludwig Gärtner, Von 1924 bis 1933 waren die Bestände in der das aus einer Sammlertätigkeit entstand, die sich Nassauischen Landesbibliothek untergebracht, fast über ein halbes Jahrhundert erstreckte. Seit deren Direktor nun formal als Leiter des Stadtar- 19 Jahren lebt Gärtner, wohl der beste Kenner chivs fungierte. Wie er die Bedeutung des Stadt- unserer Wiesbadener Stadtgeschichte, im Ruhe- archivs einschätzte, zeigt folgende Bemerkung: stand, und es ist begreiflich, dass während dieser „Die Hauptsache ist der Betrieb der Landesbiblio- Zeit seine Forschungsarbeiten ganz besondere thek und das Archiv ist vollkommen Nebensa- Erfolge aufweisen. Aber auch schon während sei- che”. Folgerichtig wurden die Archivbestände ner Dienstzeit wurde schon ein ansehnlicher durch Magistratsbeschluss Nr. 1338 vom 5. Juli Grundstock zu diesem einzigartigen Archiv ge- 1933 über die „Aufhebung des Stadtarchivs” an legt, das, schlicht in seiner Aufmachung, den das Preußische Staatsarchiv Wiesbaden abgege- flüchtigen Beschauer nicht ahnen lässt, welche ben, „da schon seit Jahren dauernd Klagen dar- ungeheure Summe von selbstloser Arbeit in die- über erhoben werden, daß das Stadtarchiv so sen Sammlungen ruht, die zugleich einen bedeu- schlecht untergebracht ist, daß die Bestände tenden materiellen Wert darstellen. Wer aber, wie praktisch für eine Benutzung nicht in Frage kom- der Schreiber dieser Zeilen, oft und gern die stete men”. Bücher und andere gedruckte Materialien Hilfsbereitschaft Gärtners und das reiche Material hingegen verblieben zunächst in der Landesbi- seiner Sammlungen in Anspruch genommen, der bliothek. neigt sich in Ehrfurcht und herzlichem Danke vor dem Manne und seinem Werke und wünscht nur, 1942 erfolgte die Auslagerung des älteren Teils dass noch recht viele Freunde unserer Ortsge- des Archivs in die Festung Ehrenbreitstein bei Ko- schichte den Weg zur Sammlung finden und sich 10 blenz. Die in der Landesbibliothek noch verblie- darin Gärtner Wegweiser sein lassen.“ benen Buchbestände führte man teilweise 1942 in das Rathaus zurück. Sie fielen dem Bombenan- Der Schreiber dieser Zeilen war der Lehrer und griff vom Februar 1945 zum Opfer, darunter der Heimatforscher Wilhelm Breidenstein,11 Verfasser komplette Zeitungsbestand. Das nach Ehrenbreit- einer großen Zahl heimatkundlicher Beiträge, der stein ausgelagerte Archivgut wurde am 11. Okto- sicher in besonderem Maße von Gärtners Bestän- ber 1948 zurückgegeben. Fast das gesamte im den profitierte. Er charakterisierte sie folgender- „Dritten Reich” entstandene Schriftgut der maßen: Hauptregistratur wurde allerdings auf Anordnung des NS-Bürgermeisters Piékarski vor Einmarsch „Da tritt uns zunächst eine Büchersammlung ent- der amerikanischen Truppen im März 1945 be- gegen, die über 700 Stück, ohne die Einzelnum- wusst vernichtet. Bei seiner Flucht nach Osten mern der Zeitschriften, enthält, die sich auf W. be- mitgenommene Personal- und Geheimakten ließ ziehen und die fast lückenlos alle Wiesbadensia Piékarski in Bad Elster verbrennen. Mit der Über- enthält, darunter eine lateinisch abgefasste poe- gabe des städtischen Museums an das Land Hes- tisch dargestellte Rheinreise vom Jahre 1571, sen 1972, einem absoluten Tiefpunkt städtischer worin W. erwähnt wird. Stiche, Radierungen, Ge- Kulturpolitik, wechselte auch ein Teil des erhalten mälde, Handzeichnungen, Lithographien und

Sonderheft 2004 53 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

Photographien, … machen eine Bildersammlung Der Heimatforscher Breidenstein konnte als Wie- aus, wie sie in gleicher Vollständigkeit nicht mehr derbegründer der städtischen Leihbücherei nach vorhanden ist. Aus der Zeit gegen Ende des 1945 ihren Wert sozusagen auch von Berufswe- 16. Jhs. ist ein Bild des Gemeinen Bades vorhan- gen ermessen; er schreibt darüber: „Weit umfas- den, das uns nicht nur eine vorzügliche Vorstel- sender und deshalb noch wichtiger für die hei- lung von dem damaligen Badebetrieb vermittelt, matliche Geschichtsschreibung ist die karteimä- sondern dessen begleitender Text auch zugleich ßig erfasste Wiesbadener Bibliografie, die bis in eingehend von den Heilwirkungen des „Siedend das 18. Jh. zurückgreift. Was irgendwo und ir- heißen Wißbadener Wassers” handelt. Das wert- gendwann Bedeutungsvolles – aber auch weniger volle Bildmaterial illustriert fast lückenlos die ge- Originales – über Wiesbaden veröffentlicht schichtliche Entwicklung unserer Stadt im Laufe wurde, ist in den kleinen Karteikästchen mit wah- der letzten 400 Jahre und steht in sachlichem Zu- rem Bienenfleiß zusammengetragen und wird sammenhang mit der von Ludwig Gärtner gesam- Tag für Tag ergänzt. Denn der rüstige 78jährige melten Chronik der Stadt, aus Ausschnitten Wies- arbeitet, mit jugendlicher Frische und Kraft an der badener Zeitungen zusammengestellt. Diese Zei- Vervollkommnung seines Werkes, durch das er tungschronik … gibt einen Überblick über die uns ein treuer und zuverlässiger Führer durch un- wichtigsten Ereignisse, die bedeutendsten Per- sere Heimatgeschichte mit Wort und Bild sein will sönlichkeiten dieser Zeit.“12 und sein wird.“15

Leider ist von den hier erwähnten Stücken einiges „Die Liebe zu meiner Heimat, das Interesse an ih- heute nicht mehr vorhanden, weder der Stich aus rer Entwicklung hat mich bewogen diese Kartei dem 16. Jh. vom „Gemeinen Bad”, noch das anzulegen. Möge sie gleiche Liebe zur Heimat Buch von 1571, vermutlich Sebastian Münsters und das Studium ihrer Geschichte fördern helfen”, Chosmographia von 1578, ist heute noch in dem so hat Gärtner selbst auf dem ersten Kärtchen sei- Gärtnerschen Nachlass auffindbar. Tatsache aber ner Kartei notiert, die bis zu seinem Tod 1953 auf ist, dass die von Ludwig Gärtner zusammengetra- etwa 14.000 Nachweise angewachsen war.16 gene Büchersammlung den Grundstock der heu- Diese Kartei liegt inzwischen längst als gebunde- tigen Dienstbibliothek des Stadtarchivs Wiesba- nes Buch vor. Kopien davon befinden sich im Le- den bildet; die Sammlung von Grafiken, Stichen sesaal und in jedem Büro und sind, insbesondere und Lithographien sowie auch die Postkarten- so lange ein Stadtlexikon Desiderat bleibt, das er- und die Plakatsammlung wäre nicht denkbar ohne ste Hilfsmittel für Anfragen. Die Kartei besteht in die Vorarbeiten und die Erwerbungen Ludwig einer alphabetischen Sammlung von Stichworten Gärtners. mit örtlichem und biografischem Bezug; es finden sich darin bibliografische Fundstellen zum Wirt- Ein weiterer wichtigerer Bestandteil seines Nach- schaftsleben der Stadt, zu Straßenbenennungen, lasses ist seine umfangreiche Zeitungsausschnitt- zu Vereinen, Personen, Ereignissen, zum Verkehr sammlung. Ohne dieses Hilfsmittel wäre eine und vieles mehr. Die Archivare haben den Wert Auskunftstätigkeit und Funktionsfähigkeit des der sog. Gärtner-Kartei schnell erkannt; sie wird Stadtarchivs in der zweiten Hälfte des 20. Jahr- seither – übrigens dem ausdrücklichen Wunsche hunderts – vor allem auch aufgrund chronischen Gärtners entsprechend – so gut es geht fortge- Personalmangels – wohl nicht denkbar gewesen. führt; heute naturgemäß mittels EDV. Inzwischen Die Zeitungsausschnittsammlung umfasst die Zeit umfasst dieses Hilfsmittel rund 650.000 Daten- von 1900 bis 1953 mit chronologisch aufgekleb- sätze. Sollte die Herausgabe eines Stadtlexikons ten Zeitungsartikeln, die der Verfasser sorgfältig eines Tages verwirklicht werden, so würde sie zu mit Datum und dem Namen der Zeitung, zum Teil einem Gutteil auf der sog. Gärtner-Kartei als auch mit eigenen Bemerkungen, versehen hat; je- Grundstock von Stichworten aufbauen. der Band wird durch ein Inhaltsverzeichnis er- schlossen.13 Diese Sammlung hat einen besonde- Die bislang genannten Bestandteile des Nachlas- ren Wert auch deswegen, weil der größere Teil ses Gärtner, Grafiken, Zeitungsausschnittsamm- der ausgewerteten Zeitungen im Original nicht im lung, Gärtner-Kartei, sind streng genommen – Stadtarchiv vorhanden ist. und dabei beziehe ich mich auf die von Momm- sen vorgeschlagene Definition von Nachlässen17 Ebenfalls wesentlich für die Funktion des Stadtar- – keine genuinen Nachlass-Bestandteile; Momm- chivs als umfassende Auskunftsstelle für die Wies- sen definiert sie als „Anreicherungen“, die zwar badener Stadtgeschichte ist die 1911 von Gärtner von der Provenienz her als echter Nachlassteil zu begründete und seither kontinuierlich fortge- verstehen, mit dem Nachlass ihrer Eigenart we- führte Kartei mit bibliografischen Nachweisen zu gen aber doch nur lose verbunden sind. Vor allem Wiesbadens Geschichte.14 die Sammlung von Drucksachen und Zeitungsaus-

54 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle schnitten rechnet Mommsen zu diesen Anreiche- Der Nachlass des bereits erwähnten ersten Wies- rungen. Man ist auch im Stadtarchiv Wiesbaden badener Stadtarchivars Christian Spielmann so verfahren, dass man die Grafiken und Fotos, wurde auf mehrere Institutionen verteilt: Das Postkarten und Plakate aus dem Nachlass heraus- Stadtarchiv besitzt rund zwei Regalmeter, die al- gelöst hat und sie gesondert lagert, was sich lerdings, wie die Gärtnerschen Sammlungen, zer- schon aus restauratorischen Gründen anbietet; splittert und auf die Bestände und Sammlungen die originalen Zeitungsausschnitte aber und die des Stadtarchivs verstreut waren, sie wurden un- originale Gärtner-Kartei ist immer noch Bestand- ter der Signatur NL 2 im Jahr 2000 neu zusam- teil des Nachlasses. Der Nachlass Gärtner wurde mengeführt und verzeichnet.22 Dabei handelte es 1987 verzeichnet;18 bis dahin waren viele Samm- sich zum einen um von Spielmann angelegtes lungsteile nach Pertinenzprinzip zerstreut worden. Sammlungsgut, zum anderen um Materialien, die Soweit sich der Zusammenhang rekonstruieren während seiner Dienstzeit im Rahmen seiner Tä- ließ, wurde bei der Verzeichnung eine Zusam- tigkeit für die Stadt entstanden waren. Spiel- menführung angestrebt. manns übriger Nachlass und seine Bibliothek wurde 1925 von seiner Witwe der Stadtbibliothek Insgesamt ergibt sich der Wert des Gärtnerschen in seiner Geburtsstadt Dietz übergeben. Ein an- Nachlasses weniger aus den eigentlichen Famili- derer kleiner Splitterbestand bildet neuerdings enpapieren – wenig mehr als 20 Nummern – son- einen Teilbestand im Hauptstaatsarchiv Wiesba- 23 dern eben aus den „Anreicherungen“: den Flug- den. Ebenfalls in das Staatsarchiv gelangte ein blättern, Prospekten, Theaterzetteln, Program- anderer Teilnachlass, bestehend aus Bauplänen men, Vereinsschriften, die Gärtner zu Wiesbaden, und Akten des – im zweiten Weltkrieg zerstörten – seinem Kurhaus, seinem Theater und seinen Kir- Hotels Vierjahreszeiten, einst eines der vornehm- chen, seinen Vereinen und Schulen zusammenge- sten Badhäuser Wiesbadens, sowie des Erbprin- tragen hat. zenpalais, heute Sitz der Industrie- und Handels- kammer. Beide Gebäude wurden zu Beginn des 19. Jhs. von Christian Zais,24 dem genialen Bau- Bedingt durch die Unterbringung des Stadtarchivs meister Wiesbadens, erbaut. Zais entwickelte Wiesbaden in Landesbibliothek, Staatsarchiv und städtebauliche Leitlinien, die noch heute den Museum konnte jahrzehntelang keine Samm- Charakter Wiesbadens entscheidend prägen; er lungstätigkeit erfolgen – viele gedruckte Materia- schuf das erste sog. „Gesellschaftshaus“, das er- lien, Fotografien, Stiche wie auch Nachlässe und ste Theater, die Parkanlagen und war maßgeblich Vereinsarchive, die man eigentlich im Archiv der verantwortlich für die spätere Entwicklung Wies- Stadt vermuten würde, muss man aus diesem badens zur Welt-Kurstadt.25 Die vor dem Krieg Grund in den genannten staatlichen Institutionen auf dem Dachboden der Villa Zais aufgefundenen suchen. Besonders schmerzlich ist das im Falle des Unterlagen stammen von Christain Zais und von Nachlasses des ältesten Wiesbadener Verlagshau- seinem Sohn Eduard, auch er seines Zeichens Ar- ses, der sog. Schellenbergschen Hofbuchdrucke- chitekt,26 und gelangten dann an das städtische 19 rei. Ihr Begründer war Ludwig Schellenberg, der Hochbauamt. Von dort wurden sie 1978 im Ein- 1803 die erste Buchhandlung und eine Leihbiblio- vernehmen mit einem Erben der Familie Zais dem thek einrichtete. 1805 folgte ein sog. Lesemu- Hauptstaatsarchiv überlassen.27 Sicher waren seum, 1808 wurde Schellenberg vom Nassauer auch in diesem Fall die schlechte Ausstattung und Herzog zum Hofbuchhändler ernannt und erhielt, der geringe Bekanntheitsgrad des – zu diesem nachdem er im Jahr darauf eine Buchdruckerei ge- Zeitpunkt gerade erst begründeten – Stadtar- gründet hatte, die Erlaubnis die Nassauer Staats- chivs, das überdies bis in die jüngste Zeit hinein Adressbücher zu drucken. Sein Sohn August meist als Alt-Registratur missverstanden wurde, Schellenberg verlegte ab 1852 das Wiesbadener und persönliche Beziehungen ausschlaggebend. Tagblatt.20 Der Nachlass, der zum einen mit einer vollständigen Reihe der Zeitschrift „Wiesbadener Anzeigen“ bzw. seit 1853 des Wiesbadener Tag- Wie wichtig gerade bei der Akquisition von Nach- blattes eine große Lücke im Zeitschriftenbestand lässen das Verhältnis von Nachlass-Geber und des Stadtarchivs geschlossen hätte, der zum ande- Nachlass-Nehmer sind, braucht nicht weiter be- ren umfangreiches Schriftgut zur Geschichte des gründet zu werden. Es bedarf immer langwieriger Verlagshauses und der Druckerei sowie Familien- Verhandlungen, um den Nachlassgeber davon zu papiere der Verlegerfamilie umfasst, in dem sich überzeugen, sich von seinen Unterlagen zu tren- dann aber auch Unterlagen zu verschiedenen nen. So war es auch im Falle des früheren Wiesba- Wiesbadener Firmen befinden, gelangte 1993 dener Oberbürgermeisters und Landtagspräsi- und 1995 als Depositum des Wiesbadener Tag- denten Georg Buch, einem auch heute fast zehn blatts bzw. der Familie Müller-Schellenberg in das Jahre nach seinem Tod überaus populären SPD- Wirtschaftsarchiv Darmstadt.21 Politiker.28 Der Prozess der Nachlassakquisition

Sonderheft 2004 55 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

zog sich über drei Jahre lang hin; verzögernd Wiesbaden insgesamt. Dass dieser Nachlass über wirkte unter anderem, dass neben dem Stadtar- weite Strecken den Charakter einer Ersatzüberlie- chiv auch das Archiv der sozialen Demokratie und ferung hat, hängt eng mit der Parteigeschichte das Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Interesse be- zusammen: Die Wiesbadener SPD beschloss kundet hatten. Aufgrund des persönlichen Ver- 1968 in einem quasi kulturrevolutionären Akt, trauensverhältnisses eines Mitarbeiters des Stadt- sämtliche Altakten zu vernichten, so dass der archivs erhielt schließlich letzteres den Zuschlag – Buch-Nachlass für die Frühgeschichte und die Re- übrigens handelte es sich um eine testamenta- organisation der Partei nach 1945 das einzige Ma- risch niedergelegte persönliche Schenkung terial darstellt, das die ortsbezogene SPD-Ge- Georg Buchs an den entsprechenden Mitarbeiter. schichte der Nachkriegszeit zu dokumentieren im Stande ist. Wie so oft, behielt sich auch in diesem Falle der Nachlassgeber vor, seine Materialien selbst noch Nicht nur die Geschichte der Wiesbadener SPD einmal durchzusehen und „auszumisten“. Dies nach 1945, auch die der CDU lässt sich weitge- führte schließlich dazu, dass zwar der Nachlass als hend nur aus zwei Nachlässen von Wiesbadener Ganzes erhalten blieb, dass jedoch sein Ord- Politikern rekonstruieren, dem des Wiesbadener nungszusammenhang komplett zerstört wurde Kämmerers und Mitbegründers der CDU Wiesba- und eine Einzelblattverzeichnung sich als unum- den, Heinrich Roos (1906–1988) und dem des gänglich erweist. Dies dürfte sich jedoch ange- Kämmerers und Bürgermeisters Karl-Anton sichts des Wertes dieses Nachlasses durchaus Lutsch (1912–1998).31 Der Nachlass Lutsch be- lohnen. Schon die Überlieferungsgeschichte ist ginnt mit seiner Einsetzung zum Kämmerer 1954 spannend genug: Georg Buch, Sohn einer Dienst- und umfasst Schriftwechsel und Handakten zu magd und gelernter Drucker, war seit 1919 Mit- den unterschiedlichsten Aufgabenbereichen, für glied in der Jugendorganisation der SPD, der die er als Kämmerer und Bürgermeister zuständig SAJ; 1921 trat er der SPD bei.29 Im Mai 1933 bei war. In den ersten Jahren waren dies unter ande- einem konspirativen Treffen zum Vorsitzenden rem der Wiederaufbau von Krankenhäusern bzw. der SPD-Ortsgruppe gewählt, organisierte Buch die Wiederaufnahme des Betriebes der Spielbank bis zu seiner Verhaftung 1941 wesentlich den Wi- – ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Kurstadt, derstand einer kleinen Schar von etwa 30 SPD- in der die Spielbank auch heute noch große Be- Genossen; in dieser Zeit waren seine persönli- deutung hat.32 Nach dem Amtsantritt als Bürger- chen Unterlagen bei einer mit seiner Mutter be- meister 1960 war Lutsch zuständig für das Perso- freundeten Wäscherin versteckt. Diese Unterla- nalwesen, für die Kulturpflege, den städtischen gen betreffen vor allem die Aktivitäten Buchs in Fuhr- und Reinigungspark, für das Garten- und der Sozialistischen Arbeiterjugend; sie stellen ei- Friedhofswesen und den Schlacht- und Viehhof. nen der wenigen geschlossenen Bestände dieser In seinem Nachlass finden sich aber auch Be- Art aus der Weimarer Republik dar. Außerdem treffe, die im Archiv der Stadt Wiesbaden eher enthält der Nachlass von Buch selbst mühsam zu- nicht zu vermuten sind, so Unterlagen zum Bau sammengetragenes Material aus der Verfol- der Wiesbadener Rhein-Main-Hallen.33 gungsgeschichte der SPD in der NS-Zeit, wie Dieses Großprojekt des Landes, das 1954 mit ei- Flugblätter, Zeitungen, Korrespondenz von Par- nem Architektenwettbewerb initiiert wurde, ge- teimitgliedern. langte aufgrund der Tatsache, dass Wiesbaden dem Planungs-Beirat angehörte und Gesellschaf- Nach seiner Befreiung im KZ Hinzert im April terin war, in den Nachlass Lutsch und damit ins 1945 kehrte Buch nach Wiesbaden zurück und Stadtarchiv. Von besonderem Wert sind sodann widmete sich der Kommunalpolitik. 1946 wurde die Akten und Schriftstücke, die aus seiner Tätig- er Mitglied der Verfassungberatenden Landesver- keit im Aufsichtsrat der Stadtwerke Wiesbaden sammlung Groß-Hessen, 1946–1950 und 1954– AG, der Kraftwerke Main-Wiesbaden AG, des 1974 war er Mitglied des Hessischen Landtags, Gaswerksverbandes Rheingau AG sowie verschie- von 1966 bis 1974 auch als dessen Präsident, dener Wohnungsbaugenossenschaften erwuch- 1959–66 Vorsitzender bzw. stellvertretender Vor- sen.34 Diese ehemals städtischen Betriebe, die zu- sitzender der SPD Landtagsfraktion, 1954–1962 meist bereits in den 1930er Jahren zu Aktienge- stellvertretender Vorsitzender des Bezirkes Hes- sellschaften umgewandelt worden waren, zeigen sen-Süd, 1971–1980 Vorsitzender des Kuratori- nämlich keinen großen Eifer, Akten an das Stadt- ums Unteilbares Deutschland, Landeskuratorium archiv abzugeben – wozu sie ja auch rechtlich Hessen.30 Für die Nachkriegszeit ist Buchs Nach- nicht verpflichtet sind. Inzwischen hat sich die Si- lass daher nicht nur wegen seiner Aussagekraft für tuation etwas entspannt und wir hoffen, dem- diese so eindrucksvolle Politikerkarriere wesent- nächst eine größere Abgabe zu bekommen. Im lich, sondern auch für die Geschichte der SPD Nachlass Lutsch sind seit Beginn der 50er Jahre

56 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle rund zwanzig Jahrgänge von Aufsichtsratsproto- wurde; diese Benennung erregt derzeit die Ge- kollen zu finden, dazu umfangreicher Schriftwech- müter. sel mit allen Beteiligten. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen tauchte Zur Frühgeschichte der CDU ist der Nachlass nun der Nachlass Dietz auf dem Antiquariats- Lutsch weniger ergiebig, erst seit Mitte der 50er markt auf. Es handelt sich augenscheinlich um ei- Jahre kann man hier das eine oder andere finden. nen bereinigten Nachlass: Über Dietz’ Parteimit- Dagegen bezieht der Nachlass Roos gerade hier- gliedschaften, die aus anderen Quellen belegt aus seinen Wert. Heinrich Roos, seit den 20er Jah- sind, ist daraus nichts zu entnehmen. Als einziges ren DDP-Mitglied und Mitbegründer der CDU, findet sich Schriftwechsel mit der Reichsschrift- hat Unterlagen aufbewahrt, die rund 40 Jahre, tumkammer, doch hält sich dieser im Rahmen von der Neugründung einer Demokratischen Ar- des Üblichen.36 Seinen Wert erhält der Nachlass beitsgemeinschaft als Vorläufer der zu gründen- aber aus der umfangreichen Korrespondenz und den CDU über einen Aufbau-Ausschuss zur Bün- aus den Unterlagen, die Dietz’ Tätigkeit als delung antinationalsozialistischer Kräfte bis zum Volksschullehrer im Rheingau der Jahrhundert- Schriftwechsel von Roos als Kommunalpolitiker wende, seine Lehrmethoden, Unterrichtseinhei- umfassen; hier findet sich das entscheidende Ma- ten usw., belegen.37 Die Originale seiner vielen terial für die Geschichte dieser Partei in der un- Gedichte, Familienpapiere, viele Programme mittelbaren Nachkriegszeit, darunter auch Wahl- und Druckschriften sowie vor allem auch Einla- plakate und Flugblätter, die sonst an keiner Stelle dungen, die aus dem gesamten Hessenland an überliefert sind.35 den Mundartdichter ergingen, von dem man sich einen launigen Mundartabend versprach – ver- Neben umfangreichen Nachlässen wie dem von gleichbar vielleicht mit den volkstümlichen Aben- Lutsch und Roos, von Buch und Gärtner und an- den, die heute an Wochenenden in den Regio- deren befindet sich im Bestand Nachlässe des nalprogrammen des Fernsehens angeboten wer- Stadtarchivs eine große Zahl von Splitterbestän- den – all dies macht den Wert dieses Nachlasses den, die oftmals nur eine oder wenige Mappen aus.38 mit persönlichen Papieren, Tage- und Stamm- büchern oder Lebenserinnerungen umfassen. Ein Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Mittelding, sowohl vom Umfang als auch von sei- Bestände von Archiven durch Nachlässe in sinn- ner Bedeutung her, nimmt der im vergangenen voller Weise ergänzt werden können und müssen. Jahr angekaufte Nachlass des Mundartdichters Nachlässe stellen vielfach eine wichtige Ersatz- Rudolf Dietz ein, auf den ich abschließend kurz zu überlieferung dar für Lücken, die, aufgrund wel- sprechen kommen möchte. Dietz wird, für einen cher Ereignisse auch immer, in der Überlieferung Außenstehenden oft nicht nachvollziehbar, in der regulären Registraturbildner eingetreten sind. Wiesbaden und Umgebung von der Bevölkerung Der Erwerb von Nachlässen ist allerdings häufig vielfach als einer der ihren, als volkstümlicher ein langwieriges Unterfangen, das große Geduld Dichter, verehrt. Dietz hat jedoch nicht nur Verse und Zähigkeit sowie auch persönliche Zuwen- wie die obigen zum Ruhme Ludwig Gärtners, ge- dung des Archivars gegenüber dem potentiellen schrieben, sondern auch solche politischen Inhal- Nachlassgeber – und darüber hinaus oftmals auch tes, die, vorsichtig gesagt, heute in einem demo- erhebliche finanzielle Mittel – erfordert. kratischen Gemeinwesen fehl am Platz sind. Poli- tisch ist Dietz umstritten, weil in seinem langjähri- Brigitte Streich gen Wohnort eine Schule nach ihm benannt

Anmerkungen

1 Geboren am 15.1.1864 in Wiesbaden, gestorben am 7.2.1953 in Bieb- 7 Dollwet, Beständeübersicht S. 16. rich. Vgl. Otto Renkhoff. Nassauische Biographie: Kurzbiographien aus 8 Spielmann, der am 12.10.1861 in Neuwied geboren wurde, wurde 13 Jahrhunderten. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für lange Jahre nur auf Honorarbasis beschäftigt, bevor er zum 1.4.1900 als Nassau 39). 2. Aufl. Wiesbaden 1992, S. 216. Beamter „auf Kündigung“ fest angestellt wurde. Er starb am 23.2.1917 2 Vgl. Jochen Dollwet, Stadtarchiv Wiesbaden – Beständeübersicht, 5. in Wiesbaden. Renkhoff. Nassauische Biographie S. 769; Dollwet, Be- Aufl. 2004, S. 51. ständeübersicht S. 16. 3 Geboren in Naurod bei Wiesbaden am 22.2.1863, gestorben in Wies- 9 Ebd. S. 17ff. baden am 14.12.1942. Renkhoff, Naussauische Biographie S. 136. 10 Wilhelm Breidenstein, Das Gärtner-Archiv. Eine Fundgrube für den Hei- 4 Dollwet, Beständeübersicht S. 19. matforscher, in: Wiesbadener Tagblatt vom 9.10.1942. 5 Vgl. zum folgenden Jochen Dollwet, Beständeübersicht, passim. 11 Geboren in Niederscheld am 8.10.1871, gestorben in Wiesbaden am 6 ohann Heinrich Karl Rossel, Gymnasiallehrer, Historiker, Archivar, geb. 22.7.1958. Renkhoff, Nass. Biographie S. in Wiesbaden am 10.12.1815, gestorben ebd. am 2.7.1872. Rossel war 12 Vgl. Anm. 10. seit 1869 Archivar am Nassauischen Staatsarchiv in Idstein. Renkhoff, 13 Stadtarchiv Wiesbaden, NL 1 Nr. 11–48 Nassauische Biographie S. 659. 14 Ebd. Nr. 105, 106.

Sonderheft 2004 57 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

15 Vgl. Anm. 10. kammer Wiesbaden, hg. von der Erich Haub-Zais-Stiftung für Denkmal- 16 Stadtarchiv Wiesbaden, NL 1 Nr. 105. pflege Wiesbaden 1993. 17 Wolfgang A. Mommsen, Die Nachlässe in den deutschen Archiven (mit 26 Eduard Zais, geboren in Maulbronn am 8.10.1804, gestorben in Wies- Ergänzungen aus anderen Beständen) (Verzeichnis der schriftlichen baden am 16.2.1895. Renkhoff, Nass. Biographie S. 892. Nachlässe in deutschen Archiven und Bibliotheken/Schriften des Bun- 27 Vgl. das Vorwort im Findbuch; Hessisches Hauptstaatsarchiv Nr. 3011. desarchivs 17/1) Bd. 1, Teil 1, S. XIX. 28 Axel Ulrich, Georg Buch (24. September 1903–5. August 1995). Zum 18 Stadtarchiv Wiesbaden, NL 1, S. 5 (Vorwort von Jochen Dollwet). 100. Geburtstag, Wiesbaden 2003. 19 Ernst Ludwig Theodor Schellenberg, geb. in Usingen am 25.3.1772, ge- 29 Bd. S. 13ff. storben in Wiesbaden am 23.2.1834. Vgl. Renkhoff, Nass. Biographie 30 Ebd. S. 27ff. S. 689. 31 Stadtarchiv Wiesbaden, NL 32, NL 74. 20 Karl August Emil Schellenberg, geboren in Wiesbaden am 18.4.1814, 32 Stadtarchiv Wiesbaden, NL 74, Nr. 132 ff; Nr. 65–67 (Spielbank). gestorben ebd. am 8.3.1869. Ebd. S. 688. 33 Ebd. Nr. 57-64. 21 Vgl. im Einzelnen die Bestandsgeschichte, in: Repertorien des Hessi- 34 Vgl. den Abschnitt 4., Tätigkeit in Aufsichtsräten, ebd. schen Wirtschaftsarchivs, Abt. 108 und 2003, L. Schellenberg’sche Hof- 35 Stadtarchiv Wiesbaden, NL 32. Vgl. besonders den 1. und dem 3. Ab- buchdruckerei und Depositum Müller-Schellenberg, bearb. v. Ute schnitt, Persönliche Papiere und Mitgliedschaft in der DDP sowie Neu- Mayer. gründung und Organisation der CDU. 22 Dollwet, Beständeübersicht S. 52. 36 Stadtarchiv Wiesbaden, NL 86 Nr. 12. 23 Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Nr. 1177. Der Nachlass be- 37 Ebd. Nr. 17–21. steht allerdings nur aus wenigen Nummern. 38 Zwischen 1908 und 1942 wurde er vom Hessen-Nassauischen Philolo- 24 Christian Zais, Architekt, geboren in Cannstatt am 4.3.1770, gestorben gentag, von der Literarischen Gesellschaft Wiesbaden, vom Akademi- in Wiesbaden am 26.4.1820. Vgl. Renkhoff, Biographien S. 892. schen Hilfsbund, vom Blindenverein, von der Universität Marburg usw. 25 Berthold Bubner, Christian Zais (1770–1820) in seiner Zeit. Zur Ausstel- eingeladen: „Rudolf-Dietz-Abende“ waren zu dieser Zeit offenbar ein lung vom 12.–26. Mai 1993 im Gebäude der Industrie- und Handels- gängiger Begriff.

58 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

Erwerbungspraxis und Möglichkeiten der Auswertung von privaten Unterlagen der DDR-Opposition in den Archiven der Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., Berlin

Einleitung von Disziplin, Ordnung und Sicherheit. In ihren Bevor ich Ihnen einen Einblick in unsere Erwer- Augen waren Oppositionelle „feindlich-negative bungspraxis gebe und erzähle, welche Möglich- Elemente“, die sie mit Maßregelungen, straf- keiten der Auswertung bei uns bestehen, möchte rechtlichen Mitteln und geheimdienstlichen Me- ich unsere drei Archive der Robert-Havemann- thoden kriminalisierte und verfolgte. Diese Ab- Gesellschaft e.V. mit ihren spezialisierten Aufga- sichten und Verkürzungen bestimmen den Aussa- ben und Sammelgebieten kurz vorstellen. Auch gewert der behördlichen Akten über Oppositio- hier in Thüringen besteht ein solches Spezialar- nelle. chiv, das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte in Jena. Die Materialien der Opposition und Bürgerbewe- gung sind, neben ihrer allgemeinen Bedeutung Unsere Archive haben ihre Wurzeln in den oppo- für eine kritische Sicht auf die Geschichte der sitionellen Gruppen und der Bürgerbewegung DDR, die korrigierende Gegenüberlieferung „von der DDR. Die regimekritischen Texte und Selbst- unten“. Sie sind die authentischen Zeugnisse ei- zeugnisse von Verweigerung, Protest und wider- genständigen Handelns in der gerade vergange- ständigem Handeln wurden bis weit in die achtzi- nen Diktatur. Trotz drohender und realer Gefah- ger Jahre von einzelnen Beteiligten in verstreu- ren haben sich einzelne Menschen und Gruppen ten Verstecken aufbewahrt und nur an Vertraute im Alltag gewehrt, andere Vorstellungen entwik- weitergegeben, um sich selbst, den Freundes- kelt und der staatlich verordneten ihre eigene kreis, aber auch die Dokumente vor dem Zugriff Haltung und Lebensweise entgegen gesetzt. Die- der Staatssicherheit zu schützen. Eine erste ser Widerstandsgeist soll mit unseren Sammlun- Sammlung oppositioneller Schriften unter einem gen bewahrt werden. Eine Geschichtsschreibung, Dach entstand ab 1986 mit der Gründung der die die Möglichkeiten des Widerstehens außer Berliner-Umwelt-Bibliothek, die sich schnell zu ei- Acht lässt, würde nachträglich zur Rechtfertigung nem Zentrum der Gegenöffentlichkeit entwik- von Anpassung und Unterordnung beitragen. kelte. Der Kreis baute eine Druckerei mit Ormig- und Wachsmatrizen-Abzugsgeräten auf, gab die Ein Motiv unserer Archiv- und Bildungsarbeit be- „Umweltblätter“ heraus und druckte halblegale steht darin, die nach 1990 auftauchenden Ver- und illegale Schriften anderer Gruppen, die nicht harmlosungen des SED-Regimes und die Versu- nur verteilt, sondern auch für die eigene Arbeit che von Geschichtsklitterung nicht widerspruchs- aufgehoben wurden. 1989 hatte die Umwelt-Bi- los hinzunehmen, sondern uns am geschichtspo- bliothek die umfangreichste Text- und Schriften- litischen Diskurs und Prozess der Aufarbeitung zu sammlung, die knapp drei Jahre später den beteiligen. Dabei steht auch die Frage nach der Grundstock für das Berliner Matthias-Domaschk- Verantwortung des einzelnen am Funktionieren Archiv bildete. der Diktatur immer im Raum. Bei Besuchen von Schulklassen in unseren Archiven erfahren wir Die Archive der Robert-Havemann- von Schülern, dass ihre Eltern über das Leben in Gesellschaft e.V. der DDR viel zu wenig von sich und viel zu sehr Mit dem Untergang der DDR konnten die bisher auf einer allgemeinen Ebene reden. Den unbe- zwangsweise im Verborgenen bewahrten Doku- quemen Fragen nach dem persönlichen Verhal- mente in die Öffentlichkeit gebracht und zugäng- ten der Eltern wird in den Familien oft ausgewi- lich gemacht werden. Das war für uns aus mehre- chen. ren Gründen notwendig. Nach 1990 wurden die Staats- und Parteiakten der SED einschließlich der Nach dem Niedergang der Bürgerbewegung ent- Staatssicherheit geöffnet, die aus der Herrschafts- stand unter einzelnen Beteiligten das Bedürfnis, perspektive „von oben“ entstanden sind. Um zu die eigene Geschichte zu reflektieren. Im Novem- vermeiden, dass in den Auseinandersetzungen ber 1990 gründeten Mitglieder des Neuen Fo- und Forschungen zur DDR-Geschichte der Blick- rums, unter ihnen Bärbel Bohley, Katja Have- winkel der einstigen Macht mit den dazugehören- mann, Jens Reich und Sebastian Pflugbeil, die Ro- den Verzerrungen und Verdrängungen der Wirk- bert-Havemann-Gesellschaft in Berlin. Der ge- lichkeit erneut reproduziert wird, sind auch die meinnützige Verein hat das Ziel, die Geschichte Stimmen ihrer Gegner, Kritiker und Opfer wahrzu- und Erfahrungen der Opposition und Bürgerbe- nehmen. Die SED-Führung war vor allem am Er- wegung zu dokumentieren, zu erforschen und in halt ihrer Macht interessiert und dem Durchsetzen bildungspolitischer Arbeit zu vermitteln.

Sonderheft 2004 59 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

Für diese Aufgabe wurde im Mai 1992 das Ro- chiv die geschlossene Sammlung von Materialien bert-Havemann-Archiv gegründet. Zu den An- der DDR-Opposition aus den siebziger und acht- fangsbeständen gehörten der Nachlass von Ro- ziger Jahren. bert Havemann, den uns seine Ehefrau Katja schrittweise übergeben hat, die Akten und Mate- Die Bestände unserer Archive ergänzen sich auf rialien von der Bundesgeschäftsstelle und dem nahezu ideale Weise. Beide Archive arbeiten in- Berliner Landesverband des Neuen Forum, das zwischen wie eines. Im Jahre 2003 hat sich das Ar- Redaktionsarchiv der ersten unabhängigen Wo- chiv „Grauzone“ mit seinen Beständen aus der chenzeitung „die andere“, die von Januar 1990 ostdeutschen Frauenbewegung unserem Verein bis August 1992 in Berlin erschien und Teile des als drittes Archiv angeschlossen, das wir wegen filmischen und schriftlichen Nachlasses von Klaus seiner finanziellen Notsituation bereits einige Freymuth, einem Dokumentarfilmer, der im Jahre als Gast beherbergten. Leider kann dieser Neuen Forum aktiv war und der 1991 durch einen Archivbestand zur Zeit nur „nebenbei“ von uns Verkehrsunfall tragisch ums Leben kam. betreut werden. Die Bestände aller drei Archive bilden zusammengefasst den größten nichtstaat- Das Filmmaterial von Klaus Freymuth enthält lichen Archivbestand von Materialien der DDR- nicht nur die Video-Aufzeichnungen der ersten Opposition. beiden Sitzungen des Zentralen Runden Tisches, Aus der Erwerbungspraxis unserer Archive zu denen das Fernsehen noch nicht zugelassen Zu Beginn unserer Sammlungstätigkeit war die war, sondern birgt auch einen Schatz zu Robert Überlieferungslage völlig unübersichtlich und zer- Havemann. Klaus Freymuth führte im September rissen und ist es zum Teil noch heute. Die Materia- 1980 ein illegales Film-Interview mit Robert Have- lien befanden sich überwiegend im weit verstreu- mann zu seinem letzten Buch „Morgen. Die Indu- ten Privatbesitz von einigen hundert Menschen, striegesellschaft am Scheideweg“.1 Mit Körben die an den unterschiedlichsten Orten lebten. Al- als Pilzsammler getarnt, trafen sich beide, unbe- lein die Suche nach den in Frage kommenden merkt von der Staatssicherheit, auf einer Wald- ehemals Beteiligten ist sehr zeitaufwendig, da lichtung bei Grünheide. Nach den Aufnahmen viele von ihnen die Wohnadressen wechselten kam Klaus Freymuth auf die waghalsige Idee, den und sich die einstigen Gruppenzusammenhänge Film im Adlershofer Fernsehfunk sendefähig um- weitestgehend aufgelöst haben. Das Zusammen- kopieren zu lassen und beschriftete ihn mit dem tragen der verstreuten Quellen ist längst nicht ab- fingierten Titel „Alter Bauer über die Bodenre- geschlossen. Hierfür braucht es einen langen form“. Dies gelang ihm tatsächlich. Nachdem die Atem. Das über zehnjährige Bestehen unserer Ar- Sendekopie mit Hilfe akkreditierter Journalisten chive und der gefestigte Ruf unterstützen mittler- in den Westen geschmuggelt war, wurde das In- weile die Erwerbung, so dass wir vor allem in den terview von der ARD und dem ZDF ausgestrahlt. letzten vier Jahren umfangreiche Privatarchive übernehmen konnten. Mit den genannten Gründungsbeständen sind die Themen der Sammlungstätigkeit bereits umris- Bis jetzt haben wir privates Schriftgut und Materi- sen: zum einen die vollständige Biografie Robert alsammlungen von über 120 Menschen erhalten, Havemanns, sein Denken und Handeln während das aus ihrem Handeln in oppositionellen Zirkeln, des Nationalsozialismus und in der DDR, zum an- in Friedens-, Menschenrechts- und Ökologie- deren das Wirken der Bürgerbewegungen ab gruppen und der späteren Bürgerbewegung der dem Herbst ’89, wie z. B. ihre Tätigkeit am Zentra- DDR herrührt. len und an den regionalen Runden Tischen und in den Arbeitsgruppen und Bürgerkomitees zur Auf- Auch Angehörige, Freunde und Unterstützer Ro- lösung des Ministeriums für Staatssicherheit. bert Havemanns haben ihre Briefwechsel mit ihm und über ihn, Manuskripte, Notizen, Fotografien 1993 schloss sich das Berliner Matthias-Do- und Zeitungsausschnitte in unser Archiv einge- maschk-Archiv, das aus der Umwelt-Bibliothek bracht. Zu diesem Kreis gehört z. B. Manfred hervorgegangen ist, der Robert-Havemann-Ge- Wilke, der Robert Havemann vom Westen aus un- sellschaft an. Schwerpunkt und Sammelgebiet terstützte, besonders wirkungsvoll mit der Heraus- des Archivs sind die Dokumentation von Opposi- gabe von Havemanns autobiographischem Buch tion und widerständigem Verhalten einzelner Per- „Ein deutscher Kommunist. Rückblicke und Per- sonen und Gruppen anhand der überlieferten spektiven aus der Isolation“, das 1978 im Rowohlt Selbstzeugnisse und die Dokumentation ihrer Verlag erschien. Mit diesem Buch wurde der staatlichen Verfolgung mit Kopien aus der Akten- Hausarrest Robert Havemanns durchbrochen, der einsicht Betroffener. Durch seine Vorgeschichte in er darin mit dem äußerst provozierenden aber un- der Berliner Umwelt-Bibliothek unterhält das Ar- geheuer vorausschauenden Satz kommentiert

60 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle hatte: „Ich denke ja gar nicht daran, die DDR zu lien sind besonders gefährdet, bei nächster Gele- verlassen, wo man wirklich auf Schritt und Tritt be- genheit in Altpapier zu verschwinden. Kann man obachten kann, wie das Regime allen Kredit ver- dem zuvorkommen, fällt es meist leicht, ihre Ei- liert und schon verloren hat und es nur noch weni- gentümer davon zu überzeugen, sie besser ins Ar- ger äußerer Anstöße bedarf, um das Politbüro chiv zu geben. Es kann aber ebenso gut sein, dass zum Teufel zu jagen.“2 Dieser Satz, dessen Erfül- die Nachfrage die einstige emotionale Bindung lung Robert Havemann nicht mehr erleben an die Papiere zu neuem Leben erweckt. Dann konnte, sorgte damals für viel Aufregung, die in braucht es noch einige Zeit bis zur Übergabe. In den Briefwechseln Manfred Wilkes zu spüren ist. unserer Praxis hat sich gezeigt, dass günstige Zeitpunkte für den Erwerb bevorstehende Um- Ernst Piper, Sohn des Havemannschen Jugend- züge sind, wenn wir davon gerade noch rechtzei- freundes und Verlegers Klaus Piper, überließ uns tig über direkte oder verwinkelte Verbindungen neben vielen Briefen den ersten Verlagsvertrag erfahren. Dann gilt es oft, nach dem entscheiden- zwischen seinem Vater und Robert Havemann aus den Gespräch oder Anruf spontan zu handeln und dem Jahre 1943 und das Originalmanuskript von ein Auto für den Transport zu besorgen. Robert Havemanns letztem Buch „Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg“. Das Ma- Fast alle früheren DDR-Oppositionellen haben nuskript wirkt mit seinen handschriftlichen Korrek- gewisse Vorbehalte gegenüber staatlichen Insti- turen und eingeklebten Textänderungen recht le- tutionen. Wenn sie sich von ihren persönlichen bendig und unterscheidet sich wohltuend von Dokumenten und Sammlungen trennen wollen, den heutigen Computer-Manuskripten, denen übergeben sie ihre Materialien eher bewusst an keine Bearbeitungsschritte mehr anzusehen sind. unsere nichtstaatlichen Archive, die ihnen wegen der Gemeinsamkeiten in der politischen Lebens- Unser Bestandserwerb hängt von zwei grundsätz- geschichte nahe stehen. Dort soll ihr persönli- lichen Voraussetzungen ab: einerseits von den ches Archivgut im Sinne einer gesellschaftlichen Verbindungen der Archivmitarbeiter zu Personen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit zugäng- aus den damaligen oppositionellen Zusammen- lich sein. hängen, die in einigen Fällen über drei Jahr- zehnte weit zurückreichen, und andererseits vom Dazu trägt die öffentliche Wirkung und Ausstrah- Vertrauen der privaten Eigentümer von Doku- lung der Archive bei, wenn wir z. B. einzelne Be- menten zum Archiv. Gerade die Übernahme von stände durch Publikationen oder Ausstellungen persönlichen Archivbeständen beruht auf einem bekannt machen. Wir haben erfahren, dass di- besonderen Vertrauensverhältnis. Das trifft auf rekte Begegnungen und Gespräche, am günstig- den Nachlass Robert Havemanns zu, auf das per- sten im Archiv, die Menschen eher dazu bewe- sönliche Schriftgut von z. B. Bärbel Bohley, Mari- gen, ihre privaten Materialien abzugeben, als anne Birthler, Ulrike Poppe, Reinhard Schult und briefliche Anfragen, allgemeine Rundschreiben von vielen anderen, deren Namen und Handeln in oder Anrufe. der Öffentlichkeit kaum bekannt sind, aber auch auf die Kopien aus Operativen Vorgängen und Wir übernehmen die Materialien aus Privatbesitz Personenkontrollen der Staatssicherheit, die ver- entweder als Schenkung oder als Depositum mit folgte Oppositionelle nach der behördlichen Ak- entsprechenden Verträgen und Übergabeproto- teneinsicht in unseren Archiven hinterlegen. kollen. Wegen unserer vagen finanziellen Per- spektive und den damit verbundenen Unsicher- Viele ehemalige Oppositionelle hängen mit ihrem heiten – wir erhalten keine institutionelle Grund- Herzen an den eigenen Dokumenten, die Teil ih- förderung, sondern schlagen uns alle seit Jahren rer Lebensgeschichte sind. Selbst wenn sie uns mit jeweils zeitlich befristeten Projektmitteln vertrauen und die Vorstellung gutheißen, dass In- durch – haben wir in der Anfangszeit häufig Dau- teressierte in unseren Archiven mit ihren Materia- erleihverträge ohne künftige Eigentumsübertra- lien arbeiten und daraus bestimmte Erkenntnisse gung abgeschlossen. Ein Passus unserer Satzung gewinnen, können sich einige nur schwer davon sieht jedoch vor, dass diese Bestände im trennen. Bis sie sich endgültig für die Übergabe schlimmsten Notfall, der Auflösung der Archive, entscheiden, sind viele direkte Gespräche not- nicht reprivatisiert werden, sondern in einer ande- wendig, die sich in einzelnen Fällen über Jahre ren geeigneten Institution, die dann gefunden hinziehen können. Bei anderen sind mit dem werden muss, öffentlich zugänglich bleiben. Ende der politischen Lebensphase in der DDR- Opposition die Materialien in irgendeinem Keller Beim Erwerb persönlicher Archivbestände wün- in Vergessenheit geraten oder werden inzwischen schen wir uns, dass sie im Idealfall neben den als unwichtiger Kram angesehen. Diese Materia- Zeugnissen des politischen Handelns auch Doku-

Sonderheft 2004 61 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

mente enthalten, die dazu beitragen, das ge- Schreibmaschine abzutippen, um fünfzig Exem- samte Lebensbild einer Persönlichkeit zu verdeut- plare zu verbreiten und weitergeben zu können. lichen, wie das z. B. mit privaten Briefen und Auf- zeichnungen möglich ist. In vielen unserer Be- Ein bibliothekshistorisches Museumsstück in un- stände, die überwiegend den bruchstückhaften serem Bestand ist die „Illegale Bibliothek“, eine Charakter von Teilnachlässen oder Nachlasssplit- Sammlung von in der DDR verbotener Literatur tern haben, sind solche Zeugnisse eher selten. mit knapp 700 erhalten gebliebenen Bänden, die ein oppositioneller Kreis in Ostberlin seit den Ein Glücksfall ist der Nachlass Robert Havemanns, siebziger Jahren mit Hilfe westlicher Freunde und der zwar die wechselhaften Zeitläufe nicht unbe- Bekannter aufgebaut hatte. Diese Bücher wurden schadet überstehen konnte, aber mit biografi- damals heimlich in Umlauf gebracht. Das war schen Zeugnissen versehen blieb, die seine Per- strafbar in der DDR. sönlichkeit auch jenseits des wissenschaftlichen Möglichkeiten der Auswertung in unseren und politischen Wirkens beleuchten. Hierzu ge- Archiven hört neben den persönlichen Briefwechseln, Noti- Unsere Archive stehen grundsätzlich allen offen, zen und autobiographischen Manuskripten sein die mit den Beständen arbeiten wollen. Mit dem naturwissenschaftliches Zeichenheft aus dem Benutzungsantrag verpflichten sich die Benutzer, Jahre 1923, in dem der knapp Dreizehnjährige bei der Auswertung der Bestände die Persönlich- die Anatomie des menschlichen Schädels und Au- keits- und Urheberrechte zu wahren und uns von ges akribisch mit Tuschfeder darstellte, die inne- ihren Veröffentlichungen oder wissenschaftlichen ren Heftdeckel aber mit Bleistiftskizzen von Lasso Arbeiten ein Belegexemplar zu übergeben. werfenden Indianerhäuptlingen illustrierte. Ein Nachlass, der von derart charakteristischen Zeug- Generell haben wir keine gesperrten Archivbe- nissen beraubt ist, kann nur ein reduziertes Bild stände. Es gibt aber vereinzelte Ausnahmen für seines Schöpfers vermitteln und wirkt spröde und Teile eines Bestandes oder für bestimmte Quel- unvollständig. len, bei denen die Dokumentengeber vor der Be- nutzung um ihr Einverständnis gefragt werden Neben der schriftlichen Überlieferung, die auch wollen. Das kann aktuelle, noch unveröffentlichte Flugblätter, Plakate, und Ausgaben des politi- Manuskripte betreffen, wie wir sie z. B. von Harold schen und künstlerischen Samisdat umfasst, sam- Hurwitz aus seinen Forschungen zur Biografie Ro- meln wir Fotografien, Ton- und Filmaufnahmen, bert Havemanns erhalten haben, Tonbandinter- Transparente, Aufnäher, Anstecker und Gegen- views mit Zeitzeugen, die im Rahmen von For- stände aus der oppositionellen Tätigkeit. Ur- schungsprojekten aufgezeichnet wurden oder sprünglich gingen wir davon aus, dass aus Grün- einzelne Unterlagen aus den personenbezogenen den der Konspiration in den oppositionellen Akten der Staatssicherheit, wie Spitzelberichte, Gruppen wenig fotografiert wurde. Inzwischen die die Intimsphäre eines verfolgten Menschen haben wir entschieden mehr Fotografien von verletzen. nicht genehmigten Lesungen, Ausstellungen, Theateraufführungen, Konzerten und Festen in Bei der Auswertung von Materialien der Opposi- privaten Wohnungen und in Kirchen oder von Ak- tion werden vor allem die unerfahrenen Benutzer tionen einzelner Gruppen zusammengetragen, mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert, die sich als wir uns das je vorstellen konnten. aus den Besonderheiten des Archivguts ergeben. Unter den Bedingungen der Verfolgung und Be- Gegenstände aus der einstigen oppositionellen spitzelung und einer rigoros kontrollierten Öffent- Tätigkeit, wie handbetriebene Vervielfältigungs- lichkeit bestimmten Vorsicht, Misstrauen und geräte mit Kurbeln, Kleindruckstempel oder Sieb- Ängste das Leben und Verhalten der Menschen in druckrahmen haben in der jetzigen Zeit schon der DDR. Für oppositionelle Äußerungen und musealen Charakter. Mit ihrer Anschaulichkeit Handlungen bestanden bis zum Ende der achtzi- eignen sie sich gut für Ausstellungen und die hi- ger Jahre kaum legale Möglichkeiten, deren enge storische Bildungsarbeit im Archiv. Schüler und Grenzen schnell ausgeschöpft waren. Wer sich in Jugendliche sind mit der heutigen Selbstver- Gruppen verband, wie es die „Frauen für den ständlichkeit von Telefon, Kopierern und Compu- Frieden taten“, wer Verbindungen zu Gleichge- tern aufgewachsen. Sie können sich nur schwer in sinnten in östlichen und westlichen Ländern und den vergangenen DDR-Alltag hineinversetzen im anderen Teil Deutschlands suchte oder seine und sich kaum vorstellen, dass zum widerständi- kritischen Gedanken dort veröffentlichte, hatte im gen Handeln auch gehörte, einen kritischen Text, Handumdrehen nach DDR-Recht den Status der ein Flugblatt oder einen Aufruf zehn mal mit je Illegalität erreicht. Die wenigen Freiräume, die fünf Durchschlägen mühselig auf einer alten unter dem Dach der evangelischen Kirchen

62 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle durchgesetzt wurden, boten keinen wirksamen allein über 400 Positionen auf, darunter Manu- Schutz vor Verfolgung. Oppositionelle Bestrebun- skripte, ein großer Teil seines persönlichen Brief- gen waren daher immer mit einem gewissen Maß wechsels und seiner Bibliothek, die Schreibma- an Konspiration verbunden. Die damaligen Le- schine, Tonbandgerät und -bänder, die Fotoaus- bensumstände haben nicht nur die Menschen, rüstung und private Fotografien. Ein Teil der be- sondern auch das Bild der Überlieferungen ge- schlagnahmten Korrespondenzen wurde vor prägt. einigen Jahren in den ehemaligen Archiven der Staatssicherheit aufgefunden und an Katja Have- Die Überlieferungen aus der Opposition haben mann zurückgegeben. So gelangten sie an ihren überwiegend fragmentarischen Charakter, tradi- ursprünglichen Platz im Nachlass zurück. Nach tionelle Nachlassgeber gibt es kaum. Die seltene den Hausdurchsuchungen befanden sich die ver- Ausnahme sind die Unterlagen des Neuen Fo- bliebenen Papiere oft in einem heillosen Durch- rums, die wir von den Geschäftsstellen des Bun- einander. Der Nachlass Robert Havemanns ent- desverbandes und des Berliner Landesverbandes hielt zahlreiche aus ihrem Zusammenhang geris- als relativ geschlossenen Kernbestand übernom- sene Einzelblätter, die ich im Laufe der Zeit und men haben. Die Gruppen und Bewegungen, die mit gewachsener Kenntnis wieder zu ursprüngli- sich seit den achtziger Jahren vor allem basisde- chen Manuskripten und Briefen zusammenfügen mokratisch verstanden, existierten nur eine relativ konnte. kurze Zeitspanne und konnten keine ausgepräg- ten Organisationsstrukturen entwickeln. Netz- Um diese Überlieferungslücken halbwegs zu werkähnliche Verbindungen, kurzfristige Bünd- schließen, habe ich eine Ergänzungsdokumenta- nisse, aber auch Brüche, Fluktuationen oder Un- tionen angelegt, die auf eigenen Recherchen in terbrechungen gehörten dazu. den ehemaligen Archiven der Staatssicherheit und der SED beruht. Ein charakteristisches Merkmal der überlieferten Dokumente sind fehlende Entstehungszusam- Ohne das Wissen von Beteiligten lassen sich menhänge und sprachliche Andeutungen. Wenn sprachliche Verschlüsselungen in den Texten Robert Havemann an Freunde schreibt und bei- nicht immer deuten und fehlende Entstehungszu- läufig erwähnt, dass die „Kakerlaken“ im ganzen sammenhänge kaum noch rekonstruieren. Des- Hause wimmeln – kann da ein junger Archivbesu- halb ist es notwendig, auch das mündlich überlie- cher heute auf Anhieb verstehen, wen er damit ferte Wissen festzuhalten. Häufig helfen unsere meint? Das Aufzeichnen, Weitergeben und Auf- eigenen Erinnerungen weiter, da wir selbst ver- bewahren regimekritischer Gedanken war stets schiedenen oppositionellen Gruppen angehörten mit einer persönlichen Gefährdung verbunden. In und einige fehlende Entstehungszusammen- Ermittlungsverfahren waren derartige Dokumente hänge oder textliche Umschreibungen erklären belastendes Beweismaterial. Deshalb gibt es können. Dann wird das Archiv zur lebendigen nicht viele Selbstzeugnisse, die widerständiges Quelle. Diese Art ergänzender mündlicher Ge- Handeln, bestimmte Erlebnisse und Ereignisse schichtsüberlieferung kann sehr hilfreich sein, be- vollständig beschreiben. Es kam vor, dass Doku- sonders für ausländische Forscher und Studenten, mente in gefährlichen Situationen verbrannt wur- die sich ihrem Thema oft nur über solche Gesprä- den, z. B. bei Vorladungen zum Verhör oder bei che nähern können, oder für Schüler, die von uns Hausdurchsuchungen im Freundeskreis. Flugblät- mehr wissen wollen, als sie im Geschichtsunter- ter wurden aus Selbstschutz anonym verfasst oder richt erfahren. Für Fragen, die sich weder mit den mit fiktiven Gruppennamen versehen, um die vorhandenen Dokumenten noch aus unserer Staatssicherheit bei den Ermittlungen in die Irre Kenntnis beantworten lassen, können wir den zu führen. Entwürfe und Entstehungsstufen wur- Kontakt zu Zeitzeugen vermitteln. den von den Beteiligten beseitigt. Briefe können wegen der Postkontrolle der Staatssicherheit Ab- In der Regel verzeichnen wir unser Archivgut auf kürzungen und Umschreibungen enthalten, die der Ebene des Archivalienbandes oder der Ak- nicht leicht zu deuten sind. Es finden sich belang- teneinheit mit Enthältvermerken. Bei den Überlie- los klingende Formulierungen, die von Außenste- ferungen der Opposition und Bürgerbewegung henden nicht verstanden oder als unverfänglich bilden einzelne Personen, Zirkel, Organisationen wirkend überlesen werden sollten. und Bündnisse sowie Aktionen und Ereignisse eine unübersichtlich wechselnde und vielglied- Zusätzlich hinterließen Hausdurchsuchungen und rige Struktur, an die die Benutzer nur durch eine Beschlagnahmen wüste Lücken in den Papieren entsprechende Erschließungstiefe herangeführt der Betroffenen. Bei Robert Havemann weist ein werden können. Die Provenienz reicht in den mei- einziges Beschlagnahmeprotokoll vom April 1979 sten Fällen nicht als Kriterium aus, um zu einer

Sonderheft 2004 63 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

Fragestellung die gesuchten Informationen oder Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs her- Quellen aus den Archivbeständen zu finden. Des- aus, in der bisher acht Bände zu Themen der halb vergeben wir bei der Verzeichnung in der DDR-Opposition erschienen sind, davon drei zu Datenbank genormte Schlagwörter für die inhalt- Robert Havemann, einer mit Briefen an das Neue lichen Schwerpunkte eines Bandes, in Ausnah- Forum im Herbst 1989 und eine Quellenedition men auch für die einer einzelnen Archivalie. aus dem politischen Samisdat. Der zuletzt er- Ebenso werden die in ihnen vorkommenden Be- schienene Band 8 ist eine wissenschaftliche Un- zeichnungen von Gruppen, Organisationen und tersuchung der Verfolgungsmethode „Zersetzen“ Institutionen sowie die Personen- und Ortsnamen des Ministeriums für Staatssicherheit. Bei unseren als Suchkriterien festgehalten. Publikationen haben wir mit Wissenschaftlern un- terschiedlicher Einrichtungen zusammengearbei- Für die Erschließung der Korrespondenz im Nach- tet, bei denen zu Robert Havemann z. B. mit Man- lass von Robert Havemann habe ich zusätzlich fred Wilke vom Forschungsverbund SED-Staat an eine Einzeldokumentenverzeichnung angewandt, der Freien Universität Berlin.3 um die Auswertung zu erleichtern. Briefe sind äu- ßerst vielschichtige und facettenreiche Quellen. Im Juli 2001 bildeten die Historiker Ilko-Sascha Sie sind nicht nur zur Persönlichkeit der Korre- Kowalczuk, Stefan Wolle und Armin Mitter eine an spondenzpartner aufschlussreich, sondern geben die Robert-Havemann-Gesellschaft assoziierte auch eine Fülle von Informationen zu besonderen Forschungsabteilung, die vorerst ehrenamtlich ar- Ereignissen und zum zeitgeschichtlichen Hinter- beitet. Die drei Wissenschaftler wollen in Koope- grund. Die Erschließung und Auswertung ist ration mit uns Archivmitarbeitern langfristig die schwierig, da jeder einzelne Brief ein weites in- Kultur- und Sozialgeschichte von Opposition und haltliches Spektrum enthalten kann und oft meh- Verfolgung in der DDR erforschen. Das erste Er- rere Bedeutungsebenen mitschwingen. Bei den gebnis war die erwähnte Quellenedition aus dem Briefen habe ich neben der Vergabe von Schlag- politischen Samisdat, die Ilko-Sascha Kowalczuk worten den jeweiligen Inhalt in einer kurzen An- in unserer Schriftenreihe herausgegeben hat. Un- notation zusammengefasst. Eine solche Form der sere Publikationen, Forschungen und Bildungsar- eher dokumentarischen Erschließung ist jedoch beit stehen unter dem Anspruch der Geschichts- über Projektmittel kaum durchzusetzen. betrachtung „von unten“. „Von unten“, jenseits der Entscheidungsinstanzen der politischen Wir überlassen die Auswertung unserer Bestände Macht, haben oppositionelle Gruppen und die nicht nur den Benutzern, sondern greifen für ei- Bürgerbewegung den historischen Prozess aus- gene Ausstellungen, Publikationen und Veranstal- gelöst, der zum Untergang der DDR führte. tungen selber darauf zurück und beziehen es in unsere thematischen Archivführungen mit ein. Wir sind bestrebt, mit unserer Archivarbeit die Die jüngste Wanderausstellung des Matthias-Do- Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ein mög- maschk-Archivs zeigt unter dem Titel „Mut der lichst farbiges und differenziertes Bild der Ge- Wenigen“ die Protestaktionen vor allem von nicht schichte der Opposition in der DDR gezeichnet prominenten DDR-Bürgern gegen die Ausbürge- werden kann. rung Wolf Biermanns im November 1976. Seit 1996 geben wir in unregelmäßiger Folge die Werner Theuer

Anmerkungen

1 Robert Havemann: Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg. log. Meine politische Exmatrikulation. 2. Aufl., Berlin 2001; – Bd. 4: Tina Kritik und reale Utopie. München, Zürich: R. Piper & Co. 1980, 231 S. Krone: „Sie haben so lange das Sagen, wie wir es dulden.“ Briefe an 2 Robert Havemann: Ein deutscher Kommunist. Rückblicke und Perspek- das neue Forum September 1989 bis März 1990, Berlin 1999; Bd. – 5: tiven aus der Isolation. Hg. Manfred Wilke. Reinbek: Rowohlt 1978, Christof Geisel u. Christian Sachse: Wiederentdeckung einer Unperson. S. 29 Robert Havemann im Herbst 1989, Berlin 2000; – Bd. 6: Simone Hanne- 3 Die Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs im Überblick: Bd. 1: mann: Robert Havemann und die Widerstandsgruppe „Europäische Silvia Müller u. Bernd Florath: Die Entlassung. Robert Havemann und Union“, Berlin 2001; Bd. – 7: Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheit und Öf- die Akademie der Wissenschaften 1965/66, Berlin 1996; – Bd. 2: Martin fentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985-1989; Berlin 2002; Morgner: Deckname „Maske“. Die Künstlergemeinschaft Mecklenburg Bd. – 8: Sandra Pingel-Schliemann: Zersetzen. Strategie einer Diktatur. 1980/81; Berlin 1995; – Bd. 3: Siegfried Reiprich: Der verhinderte Dia- 3. Aufl., Berlin 2004.

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Die Sicherung der Nachlässe aus den Archiven der Parteien und Organisationen der DDR in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv

Entstehung und Aufgaben der Stiftung Der Sitz der Stiftung befindet sich in Berlin. Von Als die Stiftung am 4. Januar 1993 ihre Arbeit auf- 1993 bis 1995 in der Torstraße in Berlin-Mitte nahm, endete ein dreijähriges Ringen um den und seit Ende 1995 in der Finckensteinallee in Fortbestand und die Sicherung der Archive und Berlin-Lichterfelde/Steglitz. Mit dem Umzug nach Bibliotheken der Parteien und Massenorganisatio- Lichterfelde konnte die Zersplitterung der Be- nen der DDR. Etappen dorthin waren die Kon- stände auf neun Liegenschaften im Raum Ber- trolle und treuhändlerische Verwaltung des Ar- lin/Potsdam überwunden werden. Außer in Lich- chiv- und Bibliotheksgutes durch die Unabhän- terfelde sind lediglich im Zwischenarchiv in Dahl- gige Kommission, die Änderung des Bundesar- witz-Hoppegarten einzelne Bestände, v.a. Biblio- chivgesetzes vom 13. März 1992 und der Erlass theksbestände, der Stiftung untergebracht. Der über die Errichtung der Stiftung vom 6. April 1992. Umzug nach Lichterfelde brachte auch den Vor- Gemäß § 2 Abs. 9 des Bundesarchivgesetzes fal- teil, dass die Bestände der Abteilungen DDR und len unter den Begriff „Archivgut des Bundes“ Reich des Bundesarchivs am selben Platz ver- auch solche Unterlagen, die bei Parteien und Mas- wahrt werden und parallel zu den Beständen der senorganisationen der DDR in Wahrnehmung Stiftung benutzt werden können, was für die Be- staatlicher Aufgaben entstanden sind. Diese Un- nutzer von zusätzlichem Nutzen ist. Die Organi- terlagen sollten in das Vermögen der Stiftung sation der Stiftung trägt ihrer doppelten Funktion übergehen. Da sie aber untrennbar mit denen ver- als Archiv und Bibliothek Rechnung. Sie gliedert bunden sind, die die Wahrnehmung partei- oder sich in zwei Gruppen, eine Gruppe Stiftung Ar- organisationsspezifischer Aufgaben dokumentie- chiv und eine Gruppe Stiftung Bibliothek mit je- ren, die Enteignung der Parteien und Organisatio- weils drei Referaten. Bei der Archivgruppe er- nen ohne Entschädigung verfassungsrechtlich be- folgte die Aufgabenverteilung nach Archivbe- denklich und die Enteignung mit Entschädigung ständen. So gibt es eines für fachliche Grund- politisch nicht vertretbar war, wurde das Bundes- satzaufgaben und die Überlieferungen von archiv beauftragt, mit den Eigentümern des Zusammenschlüssen von Parteien und Organisa- Schriftgutes Vereinbarungen zu treffen, die die Si- tionen in der DDR, eines für die Parteien der DDR cherung des Gesamtbestandes in der Stiftung ge- und die Bestände und Sammlungen vor 1945, währleisteten. Bevor die Stiftung ihre Arbeit auf- die vormals im Zentralen Parteiarchiv der SED nahm, wurden daher mit den Parteien und Organi- verwahrt wurden, darunter auch das audiovisu- sationen Einbringungsverträge abgeschlossen. elle Archivgut, und ein drittes für die Überliefe- rungen der Massenorganisationen, einschließlich Die Aufgaben der Stiftung sind im Bundesarchiv- der Gewerkschaften, sowie die Nachlässe und Er- gesetz und im Erlass über die Errichtung der Stif- innerungen. Die Referate der Gruppe StB wur- tung folgendermaßen formuliert. „Die Stiftung den nach funktionalen Gesichtspunkten gebildet. hat die Aufgabe, Unterlagen der Stellen nach § 2 Das erste ist zuständig für die Grundsatzfragen, Abs. 9 des Bundesarchivgesetzes zu überneh- den Bestandsaufbau und -abgleich, das zweite men, auf Dauer zu sichern, nutzbar zu machen für die Bestandserschließung und die Informati- und zu ergänzen.“ Diese Aufgabe bezieht sich onsdienste und das dritte für die Bestandserhal- zum einen auf die Überlieferung der zentralen tung und die Benutzung. Ebenen der Organisationen und zum anderen auf die Unterlagen, Materialien und Bibliotheksbe- Rückforderungen von Nachlässen stände zur deutschen Geschichte, die von den Ar- durch die Einbringer chiven und Bibliotheken der Organisationen ge- Die 434 Nachlässe in der Stiftung stammen in der sammelt worden waren. Mehrzahl aus dem Zentralen Parteiarchiv der SED und dem Zentralarchiv des FDGB. Die Stiftung er- Heute verfügt die Stiftung über rund zwölf km Ar- warb seit 1993 87 Nachlässe, darunter die von chivgut und 25 km Bibliotheksgut. Der Gesamt- Fritz Beyling, Lothar Bolz, Robert Büchner, Sieg- bestand setzt sich zusammen aus mehr als 60 Be- fried Dallmann, Harald Hauser, Hans Jendretzky, ständen aus der Zeit vor 1945, mehr als 60 Be- Bernt von Kügelgen, Hans Mahle, Günter Mittag, ständen aus der Zeit der SBZ und der DDR, 434 Helga Mucke-Wittbrodt, Alfred Neumann, Willi Nachlässen und mehr als 2.000 Erinnerungen, 40 und Ella Rumpf, Karl Schirdewan, Karl Heinz Sammlungen und einer Vielzahl von audiovisuel- Schulmeister, Harry Tisch, Paul Wandel, Ruth lem Archivgut, darunter Plakate, Abzeichen und Werner und Heinz Willmann, um nur einige zu eine stattliche Fotosammlung. nennen.

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In den ersten Jahren der Stiftung bestand die wichtigste Aufgabe in der Schaffung von Voraus- setzungen für den Behalt der Nachlässe in der Stiftung, v.a. derjenigen, die aus dem Zentralen Parteiarchiv der SED in die Stiftung gelangt wa- ren.

Bereits 1990, als die Existenz des Instituts für Mar- xismus-Leninismus, der Trägerinstitution des ZPA, in Gefahr geriet, meldeten sich die Einbringer von persönlichen Papieren in Sorge um den Verbleib ihrer Unterlagen im Parteiarchiv der SED. Schon damals gab es auch Forderungen nach Heraus- gabe von Nachlässen seitens der Einbringer. Ende 1990 war ein Stand erreicht, der bis zur Klä- rung der Verhältnisse für relative Ruhe sorgte. Das Zentrale Parteiarchiv entwarf für die Einbrin- ger Erklärungen, durch deren Unterzeichnung die Einbringer dem ZPA genehmigten, ihre Unterla- gen gemeinsam mit den anderen Beständen in eine gemeinnützige Vereinigung „Archiv und Bi- bliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung“ einzubringen. Laut Erklärung war es nicht gestat- tet, den Nachlass zu veräußern oder in andere Rechtsformen (z. B. Stiftungen) einzubringen. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass zu diesem frühen Zeitpunkt der Gedanke an eine Stiftung noch nicht entwickelt worden war. Er entstand erst im August 1991.

In den Erklärungen hieß es weiter, dass das Ei- gentumsrecht der Einbringer uneingeschränkt bestehen bleiben müsse. Dafür verpflichteten sich die Einbringer von ihrem Eigentumsrecht zu Lasten des Zentralen Parteiarchivs oder der „Ver- einigung“ solange nicht Gebrauch zu machen, wie ihr Eigentum dort, ihrem Willen entsprechend behandelt wurde. Für den Fall, dass das Zentrale Parteiarchiv nicht bestehen bleibt oder eine an- derweitige rechtliche Zuordnung erfolgt, sollten alle Unterlagen an den Einbringer zurückgegeben werden. Die Erben der Einbringer wurden in die Erklärung einbezogen. Als die Änderung des Bundesarchivgesetzes erfolgte, und die Grün- dung der Stiftung durch den Erlass des Bundes- ministers des Innern auf den Weg gebracht war, ergänzten die Einbringer auf Anraten des Partei- archivs ihre Erklärungen im November 1992 und genehmigten jetzt auch die Einbringung ihrer Un- terlagen in die „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR“.

Die besondere Problematik des privaten Schrift- gutes im Parteiarchiv der SED fand ihren Nieder- schlag auch im Einbringungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Partei des Erklärung der Nachlass-Eigentümerin / des Nachlass- Demokratischen Sozialismus. Der § 4 Abs. 1 sagt Eigentümers dazu „Bürgerlich-rechtliche Verträge, die das ZPA

66 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle oder eine der Bibliotheken über die Einbringung abgeschlossen. Die Stiftung muss sich dadurch im von deren Archiv- und Bibliotheksgut abgeschlos- Umgang mit den Nachlässen ständig aufs neue sen haben, und solchen Verträgen gleichzustel- bewähren, um das in sie gesetzte Vertrauen zu lende einseitige Willenserklärungen verfügungs- rechtfertigen. Kauf- und Schenkungsverträge wur- berechtigter Depositare werden von den Ver- den ebenfalls angeboten und abgeschlossen. Das tragspartner anerkannt und von der Stiftung über- Eigentumsrecht der Einbringer wurde in allen Ver- nommen; sie können von der Stiftung nur im tragsformen durch die Stiftung anerkannt. Gleich- Einvernehmen mit der PDS geändert oder gekün- zeitig erhielten die Einbringer die Möglichkeit, digt werden. Dabei ist den Wünschen der Depo- auf die Benutzung der Unterlagen Einfluss zu neh- sitare Rechnung zu tragen. Dies gilt insbesondere men. Um jedoch die wissenschaftliche Benutzung für Nachlässe.“ nicht unnötig zu erschweren, konnten viele Ein- bringer davon überzeugt werden, dass sie die Die PDS verpflichtete sich, auf die Einbringer da- wissenschaftliche Benutzung grundsätzlich ge- hingehend Einfluss zu nehmen, dass sie die Ver- nehmigen und nur für die Veröffentlichung von träge innerhalb von fünf Jahren nicht kündigen. persönlichen Dokumenten ihre Zustimmung er- Die Stiftung sollte in Zusammenarbeit mit der forderlich machten. Lediglich die Benutzungen zu PDS alle Verträge prüfen und gegebenenfalls privaten, amtlichen und publizistischen Zwecken überarbeiten. Einer der Schwerpunkte der Tätig- sind in der Regel zustimmungspflichtig. Bei eini- keit des Nachlassreferates für die folgenden gen größeren Nachlässen ist auch nur für die Aus- Jahre war damit festgelegt. wertung bestimmter Akten die Zustimmung der Einbringer erforderlich. Dabei handelt es sich in der Regel um familiäre Papiere oder um persönli- Zur Ausgangssituation: 1993 gab es außer einzel- che Korrespondenzen. Selbstverständlich gibt es nen Schenkungsverträgen und Schenkungsurkun- auch Einbringer, die über jede Benutzung ent- den, keine sonstigen Verträge zu Nachlässen. scheiden wollen und solche, die die Benutzung Vorhanden waren die einseitigen Erklärungen zu auf der Grundlage des Bundesarchivsgesetzes für 112 Nachlässen sowie zu 39 Erinnerungen und jedermann erlauben. Einzeldokumenten. Außerdem sahen wir uns mit Rückforderungen zu 21 Hinterlegungen konfron- tiert. Letztere Einbringer konnten sich mit dem Bis zum Zeitpunkt des Ausscheidens des ersten Gedanken, dass ihre Unterlagen jetzt unter dem Direktors der Stiftung Ende 2001 hatten wir zu Dach des Bundesarchivs verwahrt werden sollen, fast jedem Einbringer Kontakt aufgenommen und nicht anfreunden. damit einen Schlusspunkt für die vertragliche Auf- arbeitung gezogen. So wurden zu 100 Nachläs- Das für Rechtsfragen verantwortliche Referat des sen und 18 Erinnerungen und Einzeldokumenten Bundesarchivs prüfte zunächst die Erklärungen für die im Jahre 1993 Erklärungen vorgelegen ha- der Depositare und empfahl, sie grundsätzlich ben, Verträge abgeschlossen. Bei den Nachläs- durch Verträge zu ersetzen. Damit begann die Ar- sen waren das 85 Depositalverträge, 10 Schen- beit auf dem Gebiet der vertrauensbildenden kungsverträge und 5 Kaufverträge. Nur drei Ein- Maßnahmen. Es kam zu einer Vielzahl von Ge- bringer bestanden auf ihren Rückgabeforderun- sprächen mit den Einbringern, an denen sich zu- gen von 1993 (Erinnerungen Hilde Benjamin, nächst der Präsident des Bundesarchivs, Herr Nachlass Willy Kerff, Einzeldok. von Carl und Lu- Prof. Kahlenberg, und der spätere Direktor der cie Suhling). Sieben der bis zum heutigen Tag of- Stiftung, Herr Dr. Reiser, sehr engagiert beteilig- fenen Erklärungen zu Nachlässen (Stefan Hey- ten. Zu den vertrauensbildenden Maßnahmen mann, Erich und Charlotte Wendt, Bruno Kaiser, zählten auch Rückgaben von Nachlassstücken an Luise Dornemann, Charlotte und Robert Uhrig, die Einbringer, darunter z. B. von Bildern, Gemäl- Eva Altmann und Julius Klepper) konnten nicht in den, Orden und Auszeichnungen, die in den Verträge umgewandelt werden, weil die Einbrin- Nachlässen überliefert waren, die Anfertigung ger inzwischen verstorben und deren Erben nicht von Kopien für die Einbringer von besonders bekannt bzw. nicht auffindbar sind. Bei den ande- wertvollen Dokumenten und ab und an die Her- ren offenen Erklärungen zu den Erinnerungen und ausgabe von Originalen, von denen im Archiv Ko- Einzeldokumenten wurde 2001 beschlossen, dass pien verblieben sind. Die Gespräche hatten das die Angelegenheit nicht weiter verfolgt wird. Soll- Ziel Verträge abzuschließen, bei denen die Wün- ten sich später noch Berechtigte melden, ist die sche der Einbringer berücksichtigt wurden. Für Stiftung nach wie vor zu vertraglichen Vereinba- die Stiftung kam es aber auch darauf an Verträge rungen bereit. abzuschließen, die die historische Forschung er- möglichen und nicht behindern. In der überwie- Ein Nebeneffekt der Kontaktaufnahme war oft die genden Mehrzahl wurden Hinterlegungsverträge Ergänzungen der vorhandenen Nachlässe. Zu ver-

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Hinterlegungsvertrag

wahrten Erinnerungen konnten manchmal auch die Nachlässe übernommen werden und die Ein- bringer, die mit der Arbeit der Stiftung einver- standen waren, haben unter Bekannten und Freunden für die Stiftung geworben oder zumin- dest ein gutes Wort eingelegt.

Benutzung der Nachlässe Um die Einhaltung der Benutzungsauflagen bei den Nachlässen zu gewährleisten, wurde in Ab- sprache mit dem Magazindienst der Stiftung, der nach dem Umzug nach Lichterfelde in den Maga- zindienst des Bundesarchivs aufging, ein Verfah- ren entwickelt, das sich bis zum heutigen Tag be- währt hat. Anhand einer Liste mit den Nachlässen, zu denen es besondere Vereinbarungen gibt, prüfen die Magazinmitarbeiter, welche Nachlässe vor jeder Benutzung dem Referat vorgelegt wer- den müssen. Ein Mitarbeiter des Referates prüft anhand einer Vertragskartei welche Auflagen im Einzelfall vereinbart und inwieweit sie für die je- weilige konkrete Benutzung relevant sind. Dem Benutzer werden die Auflagen im Gespräch erläu- tert. Zur Vereinfachung wurde zusätzlich eine be- sondere Verpflichtungserklärung entworfen, die die Benutzer vor Aushändigung der Akten unter- zeichnen. Soweit die Vorlage der Akten nur mit Zustimmung der Eigentümer erfolgen darf, wer- den die Interessenten aufgefordert, einen Brief an den jeweils Verfügungsberechtigten zu formulie- ren, der dann weitergeleitet wird. In den fast elf Jahren Praxiserfahrung gab es keine erwähnens- werten Probleme bei der Benutzung von Nachläs- sen.

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müht sich darum, den Anschluss zu schaffen. Das Schicksal der bis zuletzt tätigen Funktionäre er- leichtert allerdings die Kontaktaufnahme nicht gerade. Außerdem wird versucht, Nachlässe von den Politikern der anderen Parteien der DDR zu erwerben. Früchte tragen diese Bemühungen schon bei den NDPD-Funktionären. Hier konnten z. B. die Nachlässe von Lothar Bolz, Siegfried Dall- mann, Horst Rocholl und Gustav Siemon über- nommen werden konnten. Nachlässe von Politi- kern der CDU und der LDPD einzuwerben wird dadurch erschwert, dass das Schriftgut dieser Par- teien nicht in der Bundesarchiv-Stiftung, sondern in der Konrad-Adenauer-Stiftung, Archiv der Christlichen Demokratie, in Sankt Augustin, bzw. in der Friedrich-Naumann-Stiftung, Archiv des Deutschen Liberalismus, in Gummersbach, ver- wahrt wird.

Von den rund 780 lfd. M. Nachlassschriftgut sind ca. 50 % bearbeitet. Von den restlichen 50 % sind Verpflichtungserklärung für Benutzer 40 % völlig unbearbeitet und 10 % nur über vor- läufige Ablieferungsverzeichnisse zugänglich. Als Nachlassprofil und Bearbeitungszustand Findhilfsmittel gibt es vorläufige Verzeichnisse, Die Stiftung besitzt 434 Nachlässe mit einem Um- Karteien und Findbücher, seit kurzem auch on- fang von rund 780 lfd. M. 279 Nachlässe stammen line-Findbücher. Es ist geplant nach und nach alle aus dem Zentralen Parteiarchiv der SED, 71 Nach- bisher nur in Papierform vorliegenden Findmittel lässe aus dem Zentralarchiv des FDGB und 87 online zu stellen. Im Ergebnis eines Projektes zur wurden von der Stiftung erworben oder nach Retrokonversion von Findmitteln, wurden dafür 1993 aus den Beständen der Organisationen her- Karteien und Findbücher zu 118 Nachlässen (ins- ausgelöst. In der Regel handelt es sich um Nach- gesamt 1889 Datensätze) erfasst. Den Benutzern lässe von Politikern der DDR, von Funktionären soll durch die Vorabinformation per Internet der der SED, der Gewerkschaften und der anderen Zugang erleichtert werden. Inwiefern und in wel- Organisationen, sowie um Persönlichkeiten der cher Richtung sich diese „Werbung per Internet“ deutschen Arbeiterbewegung, der KPD und des auswirkt, ist abzuwarten. Vielleicht gibt es ja auch antifaschistischen Widerstandskampfes. Bei den einige potentielle Nachlasser, die dadurch auf die Funktionären und Politikern der DDR überwiegen Stiftung aufmerksam werden und ihre Unterlagen die der SED und die, die bis in die 70er Jahre ak- anbieten. tiv waren. Die 80er Jahre sind dagegen durch Nachlässe weniger belegbar. Die Stiftung be- Grit Ulrich

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Die Übernahme von Nachlässen durch Archive – Rechtsprobleme und vertragliche Gestaltungsmöglichkeiten

I. Problemaufriss und Eingrenzung Einhaltung einer angemessenen Kündigungsfrist des Themas vom Archiv zurückzufordern. Dies gelte insbeson- Für die Übernahme von Nachlässen durch Archive dere, wenn dem Archiv genug Zeit eingeräumt stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfü- war, um den Nachlass auszuwerten. Ersatz für ge- gung, die sich in rechtlicher Hinsicht deutlich un- tätigte Aufwendungen könne das Archiv grund- terscheiden. Folgende Hauptvarianten kommen sätzlich nicht geltend machen. Es sei vielmehr Sa- in Betracht: che des Archivs, durch eine klare Vereinbarung entweder die dauerhafte Überlassung herbeizu- (1) Der Nachlasseigentümer kann sich etwa darauf führen – insbesondere durch Eigentumserwerb – beschränken, dem Archiv allein den Besitz am oder für den Fall der Rückgabe eine Kostenrege- Nachlass zu übertragen; er behält in diesem Fall lung zu treffen. sein Eigentum und stellt den Nachlass dem Archiv ausschließlich zur Nutzung – insbesondere auch Anders als die Vorinstanz – das in Berlin ansässige zur wissenschaftlichen Auswertung – zur Verfü- Kammergericht – gab der Bundesgerichtshof in gung. Oftmals wird der Nutzung noch die Ord- seiner Entscheidung vom 7.5.1987 – I ZR 250/85 nung und Aufbereitung des Materials vorangehen (abgedruckt in NJW 1987, 332) der Herausgabe- müssen. Klärungsbedürftig sind in einer solchen klage statt, die gegen die Berliner Akademie der Konstellation vor allem folgende Rechtsfragen: Zu Künste als Rechtsträger des Ödön v. Horvath-Ar- welchem Zeitpunkt und unter welchen Vorausset- chivs angestrengt worden war. Geklagt hatte – wie zungen kann der Überlassungsvertrag – der je nach häufig, wenn es zum Rechtsstreit kommt – die seiner Ausgestaltung als unentgeltlicher Leihver- Witwe und Erbin von Lajos v. Horvath, der im Jahre trag oder als entgeltlicher Vertrag sui generis zu 1962 als Erbe seines bereits im Jahre 1938 verstor- qualifizieren ist – beendet werden? Und: Ist der Ei- benen Bruders dessen Nachlass an die beklagte gentümer im Falle der Rücknahme verpflichtet, Akademie übergeben hatte, wobei in Form eines dem Archiv entstandene Kosten zu erstatten? Briefwechsels verabredet worden war, dass die Akademie Besitzer des Nachlasses werden und ein (2) All diese Fragen stellen sich nicht, wenn das spezielles Ödön von Horvath-Archiv aufbauen so- Archiv den Nachlass als Eigentümer übernimmt. wie das Material wissenschaftlich auswerten solle; Rechtsgrundlage hierfür wird regelmäßig ein das Eigentum solle indes beim Bruder des be- Schenkungsvertrag oder bei wertvollem Material rühmten Schriftstellers verbleiben. Obschon die auch ein Kaufvertrag sein. Problematisch er- Akademie allen ihren Verpflichtungen nachkam, scheint in dieser Konstellation allein die Frage, ob kam es ab dem Jahre 1972 zu Unstimmigkeiten; im das Archiv eine Rückforderung für den Fall be- Jahre 1979 wurde die Herausgabe des Nachlasses fürchten muss, dass gemachte Zusagen hinsicht- verlangt, nachdem die Österreichische Nationalbi- lich der Aufbereitung, Auswertung oder etwa bliothek der Bruderwitwe ein Kaufangebot unter- auch der Publikation des Nachlasses nicht einge- breitet hatte. Weil die Akademie der Forderung halten werden. nicht Folge leistete, wurde dann 1983 Klage erho- ben, die letztendlich erfolgreich war. Der Jurist empfiehlt regelmäßig, die typischer- weise auftretenden Rechtsfragen vor einem mög- Die für den Rechtsstreit entscheidende und von lichen Streitfall vertraglich zu regeln. Die Befol- Kammergericht und Bundesgerichtshof unter- gung dieses Ratschlags setzt allerdings voraus, schiedlich beantwortete Frage lautete: Unter wel- dass zum einen die rechtlichen Grundlagen be- chen Voraussetzungen kann das überlassene Ma- kannt sind – insbesondere: was gilt, wenn nichts terial zurückgefordert werden, wenn keine aus- vereinbart wurde? -, zum anderen, dass man sich drückliche Vereinbarung getroffen wurde? Den der möglichen Rechtsprobleme bewusst ist. einzigen gesetzlichen Anhaltspunkt gibt § 604 II. Rechtliche Grundlagen und Probleme BGB, dessen Abs. 2 wie folgt lautet: bei Nachlassübernahme ohne Eigentumserwerb Ist eine Zeit nicht bestimmt, so ist die Sache zu- Der Bundesgerichtshof (BGH) hat im Jahre 1987 rückzugeben, nachdem der Entleiher den sich aus festgestellt, dass es keinen standardisierten Ver- dem Zweck der Leihe ergebenden Gebrauch ge- trag gibt, der die Übernahme von Archivgut ein- macht hat. Der Verleiher kann die Sache schon heitlich regelt. Mangels abweichender vertrag- vorher zurückfordern, wenn so viel Zeit verstri- licher Vereinbarung sei der Nachlasseigentümer chen ist, dass der Entleiher den Gebrauch hätte daher berechtigt, das überlassene Material unter machen können.

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Die Vorschrift betrifft die Rückgabepflicht im Fall durch die der Nachlass vom Erblasser dem Archiv der Leihe. Entscheidend ist danach, ob der Entlei- von Todes wegen zugewendet wird. her genug Zeit hatte, um den Zweck der Überlas- sung herbeizuführen. Was ist aber nun der Zweck Soll der Nachlass im Wege der Schenkung vom bei der Übernahme von Archivgut? Nach Auffas- Archiv übernommen werden, so ist darauf hinzu- sung des BGH jedenfalls nicht der dauerhafte Be- weisen, dass die bloße Zusage, etwa in Form ei- sitz von Originaldokumenten und Originalmanu- nes Briefes, oder auch ein schriftlich abgeschlos- skripten, wenn die wissenschaftliche Auswertung sener Vertrag, rechtlich nicht verbindlich ist; denn und Publikation auch mit Hilfe von Kopien erfol- ein Schenkungsvertrag bedarf der notariellen Be- gen kann und genug Zeit vorhanden war, um urkundung (§ 518 I 1 BGB). Allerdings wird der diese anzufertigen. Insoweit ist die Rechtslage an- Formmangel geheilt, wenn die Schenkung vollzo- ders als etwa bei der Überlassung von Kunstge- gen, also der Nachlass an das Archiv übereignet genständen an ein Museum, wo bei Fehlen einer wurde (§ 518 II BGB). zeitlichen Regelung eine dauerhafte Überlassung zum Zwecke der Ausstellung angenommen und Zweifelhaft ist der Eigentumserwerb, wenn derje- ein Kündigungsrecht frühestens nach 30 Jahren nige, der den Nachlass übergibt, hierzu nicht be- (analog § 544 BGB nF) gewährt wird (so OLG fugt ist. Befugt ist regelmäßig nur der Eigentü- Celle vom 29.6.1994 – 20 U 9/94, NJW-RR 1994, mer, nach dessen Tod der Erbe. Hier gilt: Darf das 1473). Für Archivgut soll dagegen die Vorschrift Archiv denjenigen, der sich als Eigentümer aus- des § 604 II BGB Anwendung finden, und zwar gibt, hierfür halten, ohne grob fahrlässig zu sein, auch dann, wenn kein unentgeltlicher Leihvertrag, so kann das Archiv gutgläubig Eigentum erwer- sondern ein Archivvertrag sui generis geschlossen ben, sobald ihm der Nachlass übergeben wird (§§ wurde, was immer dann der Fall ist, wenn das Ar- 932 ff BGB). Dies gilt nur dann nicht, wenn die er- chiv bestimmte Hauptpflichten im Hinblick auf worbenen Gegenstände dem wahren Eigentümer den Nachlass übernommen hat, insbesondere die abhanden gekommen sind (§ 935 I BGB), was im- Pflicht zur Ordnung, wissenschaftlichen Auswer- mer dann der Fall ist, wenn er den Besitz unfrei- tung und Publikation. willig verloren hat. Aber Achtung: Hier unter- scheidet das Gesetz zwischen Diebstahl und Un- Zu beachten ist darüber hinaus das außerordent- terschlagung: Während der Dieb dem Eigentü- liche Kündigungsrecht des Verleihers nach § 605 mer die Sache wegnimmt, der Eigentümer somit BGB: den Besitz unfreiwillig verliert, eignet sich der Tä- ter im Falle der Unterschlagung eine Sache zu, die Der Verleiher kann die Leihe kündigen: sich bereits in seinem Besitz befindet – weil er sie 1. wenn er infolge eines nicht vorhergesehenen etwa vom Eigentümer zur Verwahrung oder zur Umstands der verliehenen Sache bedarf; Reparatur erhalten hat –, so dass hier ein gutgläu- 2. wenn der Entleiher einen vertragswidrigen Ge- biger Eigentumserwerb in Betracht kommt. brauch von der Sache macht, insbesondere unbefugt den Gebrauch einem Dritten über- Als abhanden gekommen gilt auch der Eigen- lässt, oder die Sache durch Vernachlässigung tumserwerb eines Nachlasses von einem Nichter- der ihm obliegenden Sorgfalt erheblich ge- ben, es sei denn, der Nichterbe kann sich durch fährdet. einen – inhaltlich zwar unrichtigen, formell aber ordnungsgemäßen – Erbschein ausweisen (§ Treffen diese Voraussetzungen zu, so kann der Ei- 2366 BGB). Unschädlich ist, wenn der Erbe über gentümer den Nachlass auch schon vor Ablauf den Nachlass verfügt, anschließend aber die Erb- der Zweckerreichung oder auch schon vor Ablauf schaft ausschlägt (so hM). Im häufigen Fall, dass einer fest bestimmten Leihfrist zurückfordern. eine Erbengemeinschaft besteht, können nur alle Erben gemeinschaftlich verfügen (§ 2040 I BGB). III. Rechtliche Grundlagen und Probleme bei Eigentumserwerb des Nachlasses durch IV. Gestaltungsmöglichkeiten Archiv Jede Vertragsgestaltung sollte dem Grundsatz Um spätere Herausgabeansprüche – speziell von folgen: Einfache und eindeutige Regelungen sind Erben – auszuschließen, hat das Archiv regelmä- besser als komplizierte und zweideutige Formu- ßig ein Interesse daran, den übernommenen lierungen. Nachlass zu Eigentum zu erwerben. In dieser Kon- stellation ist zunächst der Eigentumserwerb 1. Da der dauerhafte Besitz des Nachlasses nur streng zu unterscheiden von dem hierfür zu- im Falle des Eigentumserwerbs gesichert ist, grunde liegenden Verpflichtungsgeschäft, also sollte das Archiv – sofern es die Situation ge- etwa dem Kaufvertrag oder dem Schenkungsver- stattet – auf einer solchen Vereinbarung beste- trag oder auch einer letztwilligen Verfügung, hen.

Sonderheft 2004 71 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

Die entsprechende Vertragsklausel könnte etwa Formulierungen, die Spielraum und Interpretati- lauten: onsmöglichkeiten lassen, wie etwa im nachfol- genden Beispiel: Der Eigentümer erklärt verfügungsberechtigt zu sein und übereignet dem Hauptstaatsarchiv als Das Archiv übernimmt den Nachlass mit der Ver- Schenkung die in der beigefügten Aufstellung nä- pflichtung, ihn sachgemäß und unentgeltlich auf- her bezeichneten Archivalien. zubewahren. Die Archivalien werden, sobald und soweit es dem Archiv möglich ist, neu geordnet Sollte der Eigentümer jedoch einer sofortigen und verzeichnet … Übereignung nicht zustimmen können – weil er sich etwa zunächst davon überzeugen will, dass 2. Stimmt der Eigentümer einer Nachlassüber- das Archiv den übernommenen Nachlass fach- eignung an das Archiv nicht zu – weder mit so- männisch ordnet und auswertet –, so bietet sich fortiger Wirkung noch aufschiebend bedingt an, den Eigentumserwerb aufschiebend bedingt oder befristet –, so wird das Archiv häufig den- durch den Eintritt eines bestimmten Ereignisses noch an einer zumindest zeitweiligen Über- (z.B. ordnungsgemäße Aufbereitung des Nach- nahme des Nachlasses interessiert sein. lasses oder auch Tod des Eigentümers) oder nach Ablauf einer bestimmten Frist (nach 5 oder 10 In Betracht kommt in diesem Fall ein Leihvertrag, Jahren seit Übergabe) eintreten zu lassen. Die der dem Archiv das Recht zur unentgeltlichen Klausel könnte etwa lauten: Nutzung des Nachlasses gibt, oder ein Vertrag sui generis, was insbesondere immer dann anzuneh- Das Archiv übernimmt den Nachlass zu Eigentum men ist, wenn das Archiv bestimmte Verpflichtun- – unter der Bedingung, dass … gen übernimmt, die über die ordnungsgemäße – (spätestens) nach Ablauf von 10 Jahren … Aufbewahrung der Archivalien hinaus gehen. Da- (jedenfalls) mit dem Tod des Eigentümers gegen kann man die Überlassung von Archivalien (oder seines Erben/Abkömmling). grundsätzlich nicht als (unentgeltlichen) Verwah- rungsvertrag einordnen: Denn im Vordergrund Wird eine solche Formulierung gewählt, dann der Vereinbarung steht nicht das Interesse des Ei- geht das Eigentum ipso iure – d. h. ohne weitere gentümers an der ordnungsgemäßen Verwah- Erklärung – auf das Archiv über. rung des Nachlasses, sondern das Interesse des Archivs an der angemessenen Nutzung. Wurde der Eigentumserwerb von der Erfüllung bestimmter Verpflichtungen des Archivs abhän- Übliche Übernahmevereinbarungen lauten daher gig gemacht, z. B. dass Archiv Eigentum erhält, etwa so: den Nachlass aber mit der Verpflichtung über- nimmt, ihn neu zu ordnen, zu verzeichnen und Der Hinterleger erklärt, verfügungsberechtigt zu wissenschaftlich auszuwerten, dann führt die sein, und hinterlegt im Kreisarchiv unter Vorbe- Nichterfüllung dieser Pflicht dazu, dass das Eigen- halt seines Eigentumsrechtes das in der Anlage tum nicht übergeht. Fehlt es dagegen an einer aufgeführte Schriftgut. solchen Bedingung, dann geht der Nachlass zu- nächst in das Eigentum des Archivs über. Doch Der Kreis übernimmt das Schriftgut und verpflich- kann der Überlasser – oder auch sein Erbe – u. U. tet sich, es sorgfältig und unentgeltlich aufzube- vom Überlassungsvertrag zurücktreten, wenn das wahren. Archiv trotz Nachfristsetzung seinen Verpflichtun- gen nicht nachkommt. Rechtsfolge eines solchen Zur Vermeidung von Streit und Rechtsunsicher- Rücktritts ist die Rückabwicklung der beiderseits heit sollten einerseits die Dauer der Überlassung erbrachten Leistungen, d. h. das Archiv muss den sowie das Rückforderungsrecht des Eigentümers Nachlass zurück übereignen. (insbesondere bei unbefristeter Dauer) sowie an- dererseits die Kostenverantwortlichkeit klar gere- Will man diese Rechtsfolgen und schon den Streit gelt sein. Denn andernfalls riskiert das Archiv, den darüber, ob das Archiv übernommene Verpflich- Nachlass ohne Anspruch auf Kostenerstattung tungen ordnungsgemäß erfüllt hat, vermeiden, wieder herauszugeben zu müssen, und zwar dann ist bereits bei der Übernahme des Nachlas- selbst dann, wenn der Nachlass – wie im Falle des ses sorgfältig darauf zu achten, dass keine Pflich- Ödön v. Horvath-Archivs – durch die wissen- ten des Archivs formuliert werden, die möglicher- schaftliche Aufbereitung und Publikation eine er- weise nicht korrekt erfüllt werden könnten. Vor- hebliche Wertsteigerung erlangt hat. Denn eine teilhaft sind aus der Sicht des Archivs – nicht da- solche Pflicht zur Kostenerstattung hat der BGH gegen vom Standpunkt des Überlassers – flexible mit der Argumentation zurückgewiesen, sie sei

72 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle zum einen nicht vertraglich vereinbart worden, das Archiv abgehalten wird, ist es möglicherweise und zum anderen habe das Archiv die geltend ge- sinnvoll, folgenden „Köder“ auszulegen: machten finanziellen Mittel in Erfüllung einer öf- fentlichen Aufgabe, nämlich der Kulturpflege, Solange der Eigentümer den Nachlass dem Ar- und im Interesse der Allgemeinheit an der litera- chiv zur Nutzung überlässt, besteht die Pflicht turwissenschaftlichen Forschung aufgewendet. zum Aufwendungsersatz nicht.

Allein die Aufnahme einer Klausel, die etwa lautet oder noch besser:

Bei Kündigung des Vertrages durch die/den De- Die Ersatzpflicht entfällt, wenn der Nachlass an ponentin(ten) trägt dieser die Gebühren für die das Archiv übereignet wird. Rücksendung sowie evtl. angefallene weitere Kosten (für Verzeichnung, Restaurierung u. ä.). Mit einer solchen Klausel kann möglicherweise der Eigentümer oder auch erst sein Erbe bei Ab- führt indes noch keineswegs zur Rechtsklarheit. lauf der Vertragslaufzeit von einer Rücknahme ab- Denn im Streitfall wird das Gericht die Frage klä- gehalten und stattdessen zur Übereignung des ren müssen, inwieweit die vom Archiv getätigten Nachlasses an das Archiv motiviert werden. Aufwendungen nach Grund und Höhe auch be- rechtigt waren, d. h. das Archiv wird beweisen V. Besonderheiten müssen, dass ihm die geltend gemachten Auf- 1. Veräußerung des Nachlasses durch wendungen tatsächlich entstanden sind und dass den Eigentümer, Vorerwerbsrecht sie nach allgemein-üblichen Grundsätzen auch er- Die Übergabe an ein Archiv schließt es nicht aus, forderlich und angemessen sind. Hierüber könnte dass der Eigentümer den deponierten Nachlass etwa Streit entstehen, wenn das Archiv umfang- an einen Dritten veräußert: In diesem Fall geht reiche und kostspielige Restaurierungsarbeiten das Eigentum auf den Erwerber über; dieser tritt an älteren Originaldokumenten vornimmt, ohne in die Rechtsstellung des bisherigen Eigentümers dass dies mit dem Eigentümer abgesprochen ist. ein. Für das Archiv bedeutet dies: Der Überlas- sungsvertrag ist nach wie vor gültig und gibt dem Soweit ersichtlich, beschränken sich die Archive Archiv ein Recht zum Besitz (§ 986 BGB); der Er- aufgrund dieser für sie grundsätzlich ungünstigen werber kann somit den Nachlass erst dann her- Rechtslage häufig darauf, dem Eigentümer bei ausverlangen, wenn dies nach der getroffenen Rückforderung des Nachlasses allein die Trans- Vereinbarung möglich ist. Allerdings dürften für portkosten in Rechnung zu stellen. Dies erscheint das Archiv in diesem Fall die Chancen sinken, den jedoch unbefriedigend. Wenn schon kein Eigen- Nachlass selbst zu Eigentum zu erwerben. tumserwerb für das Archiv in Betracht kommt, dann sollten dem Eigentümer im Falle der Rück- Vermeiden lässt sich diese Situation zum einen forderung wenigstens ein Teil der getätigten Auf- durch eine bereits im Überlassungsvertrag antizi- wendungen angelastet werden. Hierzu bedarf es pierte Übereignung (Bedingung/Befristung), zum allerdings einer klaren Vereinbarung, etwa nach anderen durch ein Vorerwerbsrecht, das zugun- folgendem Beispiel: sten des Archivs vereinbart wurde. Von diesem Erwerbsrecht muss das Archiv – wenn z. B. keine Mittel bereit stehen – nicht Gebrauch machen. „Im Falle der Rückforderung der Archivalien Umgekehrt schadet es aber auch dem Nachlass- durch den Eigentümer – sei es nach Fristablauf eigentümer nicht, wenn das Vorerwerbsrecht des der Überlassung oder durch Kündigung – sind Archivs so ausgestaltet ist, dass der Erwerb nur dem Archiv folgende Aufwendungen zu erstatten stattfindet, wenn z. B. mindestens der Kaufpreis (alternativ: in Höhe von … %): gezahlt wird, den auch der Dritte zu zahlen bereit war. Um spätere Manipulationen generell auszu- … (Auflistung) schließen, kann jedoch auch bereits bei der Über- nahme des Nachlasses ein endgültiger Erwerbs- Folgende Maßnahmen wird das Archiv nur mit preis fest vereinbart werden. Zustimmung des Eigentümers durchführen: … oder besser: 2. Unklare Übergabe Zum Abschluss möchte ich noch folgende Kon- Der Eigentümer stimmt folgenden Maßnahmen stellation behandeln: Im Archiv befindet sich der zu: … Nachlass des Gelehrten G. Ein schriftlicher Über- gabevertrag ist nicht vorhanden. Es findet sich al- Damit der Eigentümer mit einer solchen Rege- lein ein Eintrag, dass die Übergabe durch S, den lung nicht von einer Übergabe des Nachlasses an Sohn und Erben des G, im Jahre 1974 erfolgt ist.

Sonderheft 2004 73 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

Ist das Archiv zur Herausgabe verpflichtet, wenn mer sei. Allerdings gilt dies nicht gegenüber ei- heute der E, Erbe des S und Enkel des G, einen nem früheren Besitzer, dem die Sache abhanden solchen Anspruch geltend macht? Die Frage ist gekommen ist. Dies bedeutet: Das Archiv ist Be- grundsätzlich zu verneinen. sitzer des Nachlasses; also wird das Eigentum des Archivs vermutet. E müsste daher beweisen, Das Archiv ist jedenfalls dann nicht zur Heraus- dass der Nachlass nicht an das Archiv übereignet gabe verpflichtet, wenn es den Nachlass zu Ei- wurde. Dies kann er nicht. Ebenso wenig kann er gentum erworben hätte. Dieser Eigentumserwerb beweisen, dass der Nachlass abhanden gekom- ist allerdings streitig: E würde im Falle eines men ist. Denn die Übergabe von S an das Archiv Rechtsstreits behaupten, dass S den Nachlass ist ja gerade dokumentiert. Ein Herausgabean- dem Archiv nur zur Nutzung übergeben, nicht da- spruch besteht daher nicht. gegen übereignet habe. Der heutige Archivdirek- tor kann zu dem Vorgang nichts sagen. Prozessual Wäre der Sachverhalt anders zu entscheiden, ist es jedoch zulässig, dass er ohne Verstoß ge- wenn zwar ein schriftlicher Übergabevertrag vor- gen seine gesetzliche Wahrheitspflicht behaup- handen ist, jedoch unklar bleibt, ob der Nachlass tet, S habe den Nachlass an das Archiv übereig- an das Archiv übereignet oder lediglich zur Nut- net. Somit stehen sich zwei gegensätzliche Aussa- zung übergeben worden war? gen gegenüber und es kommt darauf an, wer für die Richtigkeit seiner Behauptung die Beweislast Zunächst wird hier der Jurist versuchen, durch trägt. Dies ist grundsätzlich immer derjenige, der Auslegung des Übergabevertrages zu einem Er- eine für ihn günstige Tatsache behauptet. Wenn gebnis zu gelangen. Gelingt dies nicht, weil sich also E das frühere Eigentum von S am Nachlass kein eindeutiges Ergebnis erzielen lässt, dann gilt von G sowie darüber hinaus – was hier unproble- auch hier § 1006 BGB: Im Zweifel wird also das Ei- matisch ist – seine Erbenstellung nachweist, gentum des Archivs vermutet. müsste das Archiv nachweisen, dass es den Nach- lass zu Eigentum erworben hat. Dies ist dem Ar- In Betracht kommt hier darüber hinaus aber auch chiv allerdings nicht möglich. ein Eigentumserwerb durch Ersitzung: Nach der Vorschrift des § 937 BGB erwirbt nämlich derje- Nun verändert jedoch die Vorschrift des § 1006 nige, der eine bewegliche Sache 10 Jahre lang BGB diese allgemeine Beweislastregel: besitzt, das Eigentum, es sei denn, er war bei Be- sitzbegründung bösgläubig oder erfährt später – Zugunsten des Besitzers einer beweglichen Sache noch während der 10 Jahresfrist – dass ihm das wird vermutet, dass er Eigentümer der Sache sei. Eigentum nicht zusteht. Da auch hier derjenige, Dies gilt jedoch nicht einem früheren Besitzer ge- der die Ersitzung trotz Ablaufs der 10 Jahres-Be- genüber, dem die Sache gestohlen worden, ver- sitzzeit bestreitet, die Bösgläubigkeit nachweisen loren gegangen oder sonst abhanden gekommen muss, würde somit das Archiv auch auf diesem ist, es sei denn, dass es sich um Geld oder Inha- Wege die Herausgabe des Nachlasses ablehnen berpapiere handelt. können.

Danach wird zugunsten des Besitzers einer be- Walter Bayer weglichen Sache vermutet, dass er der Eigentü-

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Familienarchive in den Rittergutsbeständen der Staatsarchive Der folgende Überblick spiegelt die Situation in 1856 an die Nachfolgebehörden; die Ausübung Sachsen und speziell im Staatsarchiv Leipzig wi- von Lokal- und Gerichtsherrschaft endet bis zur der, das als Regionalarchiv etwa 260 Rittergutsar- Mitte des 19. Jahrhunderts. chive aus dem Territorium des früheren Leipziger Kreises verwahrt und insbesondere mit Fragen Nunmehr waren die Rittergüter im Wesentlichen der Bildung, Erschließung, Auskunftserteilung nur noch wirtschaftliche Einheiten auf dem und Rückübereignung von Rittergutsbeständen Lande, wobei die Gutsbesitzer bis um 1918 noch befasst ist. einige, allerdings eingeschränkte Rechte und Pri- vilegien besaßen. Dazu zählten u. a. Nichtunter- 1. Entwicklung der Rittergüter in Sachsen stellung unter die Ortsgerichte, Erteilung be- Die Entwicklung von Rittergütern begann in Sach- stimmter Konzessionen, Ausübung einiger Patro- sen im 15. Jahrhundert aus den ursprünglichen natsrechte über Kirche und Schule sowie Wahr- Herrengütern bzw. Rittersitzen, begrifflich traten nehmung polizeilicher Befugnisse in den sie nach dem ersten kursächsischen Landtag von Gutsbezirken. Ab 1919 wurden die bisher selbst- 1438 in Erscheinung. Ihre Besitzer, die Ritter- ständigen Gutsbezirke der Rittergüter mit den schaft oder Landstände, hatten eine Sonderstel- Gemeinden vereinigt. Nach dem Zweiten Welt- lung durch ihren privilegierten Gerichtsstand und krieg wurden die Rittergüter im Zuge der Boden- die Steuerfreiheit bis zur Einführung der Verfas- reform auf der Grundlage der „Verordnung über sung von 1831 inne.1 die landwirtschaftliche Bodenreform“ der Lan- desverwaltung Sachsen vom 10. September Die Rittergutsbesitzer nahmen seit dem 15. Jahr- 1945 enteignet. hundert die regionale Ausübung herrschaftlicher Rechte wahr, und zwar sowohl der älteren Lehn- 2. Entstehung und Zusammensetzung und Erbherrschaft wie auch der jüngeren Ge- der Rittergutsbestände richtsherrschaft. Seit dieser Zeit lässt sich ebenso Die Bestandsbildung erfolgte in mehreren Etap- die Einteilung der Rittergüter in Schriftsassen und pen, die auch Einfluss auf eigentumsrechtliche Amtsassen nachweisen. Aus dieser Differenzie- Fragen in der Gegenwart haben. Die einzelnen rung lassen sich Rückschlüsse zur Stellung der Rit- Teilbestände weisen unterschiedlichen Inhalt auf. tergüter zu den Landesbehörden, dem Landes- Zur Verdeutlichung soll das Schema auf Seite 77 herrn und ihre Vertretung im Landtag ziehen. Die mit den wesentlichen Zäsuren dienen. Differenzierung betraf ebenso die Ausübung der Obergerichtsbarkeit und der Erbgerichtsbarkeit. 1. Verstaatlichung der Patrimonialgerichtsarchive2 Die Obergerichtsbarkeit, die stets die Erbge- Zwischen 1833 und 1856 erfolgte der Übergang richtsbarkeit einschloss und nur den schriftsässi- der privaten Jurisdiktion an den Staat. Dieser Pro- gen Rittergütern zustand, bedeutete die volle ge- zess schloss die Übernahme sämtlicher Akten der richtliche Selbstständigkeit und für die Besitzer Patrimonialgerichte mit Übergabeverzeichnissen dieser Rittergüter die Teilnahme an den Landta- für alle Gerichtsakten und -bücher, die Reperto- gen. Ein solches Rittergut stellte einen eigenstän- rien, Depositen sowie Gerichtssiegel durch die ei- digen Gerichts- und Verwaltungsbezirk dar, der gens dafür gegründeten Justiz- und Verwaltungs- dem landesherrlichen Amt gleichgestellt war. Da- behörden (Königliche Gerichte) bzw. die beste- gegen waren die amtsässigen Rittergüter, denen henden Justizämter ein. in der Regel nur die niedere oder Erbgerichtsbar- keit oblag, den Ämtern unterstellt. Der Abschluss der Verstaatlichung der Patrimoni- algerichtsbarkeit wurde in Sachsen erst per Ge- Die so entstandenen Patrimonialgerichte – mit setz „die künftige Einrichtung der Behörden er- den Kompetenzbereichen Justiz und Verwaltung ster Instanz für Rechtspflege und Verwaltung – gehörten unmittelbar zu den Rittergütern. Diese betr.“ vom 11. August 1855 erreicht. Die noch Patrimonialgerichte existierten bis zur freiwilligen bestehenden Patrimonialgerichte waren nunmehr Abtretung der grundherrlichen Gerichtsbarkeit an sukzessive aufzuheben und innerhalb eines Jahres den Staat nach den Verfassungsreformen in den vom sächsischen Staat zu übernehmen. Dies be- 1830er Jahren bzw. bis zur endgültigen Über- traf die Mehrheit der Rittergüter. Die heutigen nahme der Gerichtsbarkeit durch den sächsischen Rittergutsbestände enthalten mehrheitlich nur Staat im Jahr 1856. Im Rahmen der Aufhebung Gerichtsakten. Ein Teil dieser Akten konnte im der Patrimonialgerichtsbarkeit in Sachsen im Zuge der Bewertung in den Justiz- und Verwal- 19. Jahrhundert gingen die Kompetenzen der Rit- tungsbehörden nach 1856 wieder in Privateigen- tergüter sowohl in den Gerichts- als auch in den tum übergehen.3 Verwaltungsangelegenheiten bis zum 1. Oktober

Sonderheft 2004 75 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

© Birgit Richter

2. Archivpflege 4. Rückübereignung6 Sie diente der Sicherung und Erfassung der für Das „Gesetz über staatliche Ausgleichsleistungen die Landesgeschichtsforschung relevanten Archi- für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder valien durch Archivare des Sächsischen Haupt- besatzungshoheitlicher Grundlage, die nicht staatsarchivs und führte zur Revision von Kommu- mehr rückgängig gemacht werden können“ vom nalarchiven, punktuell auch von Privatarchiven. Im 1. Dezember 1994 erlaubt u. a. die Rückgabe von Ergebnis konnten wertvolle Urkunden, Hand- Kulturgut unter bestimmten Voraussetzungen an schriften oder Briefe ermittelt werden. Die Arbei- die früheren Eigentümer. In der Mehrzahl der Ver- ten gingen z. T. mit der Ordnung und Verzeich- fahren wurden bisher Archivverträge über rück- nung der Unterlagen einher. Sie führten in man- übereignete Teilbestände (Deposita) abgeschlos- chen Fällen zur Deponierung von Nachlässen von sen, in einigen Fällen erfolgte aber auch die kör- Adelsfamilien im Hauptstaatsarchiv.4 perlicher Rückführung an die Eigentümer.

3. Bodenreform5 5. Schenkungen, Ankäufe Im Zuge der „Bodenreform“ setzten Bemühun- In Familienbesitz befindliche Rittergutsunterlagen gen von Seiten der Archive um Erfassung und Si- werden bis heute den Staatsarchiven angeboten cherung der Rittergutsarchive ein, die aber in vie- und mitunter durch Schenkung übereignet. Dies len Fällen die Vernichtung oder Entfremdung der ist Ergebnis guter Kontakte zu den Besitzer-Fami- Unterlagen nicht aufhalten konnten. Auf Grund- lien. In geringerem Umfang konnten Archivalien lage der „Anordnung über die Sicherstellung und bestandsergänzend durch den Freistaat Sachsen Verwertung des nichtlandwirtschaftlichen Inven- angekauft werden. tars der durch die Bodenreform enteigneten Gut- shäuser“ vom 17. Mai 1946 gelangten Kunstge- 3. Erschließung genstände, Bücherbestände und Archive geziel- Die Rittergutsbestände werden seit 2003 in der ter in Depots, Museen oder Bibliotheken und von sächsischen Archivverwaltung landeseinheitlich dort in die Landesarchive. In den Folgejahren sind der Tektonikgruppe „6. Herrschaften“ zugeord- in Sachsen Teile von rund 400 Adelsarchiven (von net. Es wird in „Landes- und Rezessherrschaften“ ehemals ca. 1.000) von den staatlichen Archiven sowie „Sonstige Herrschaften“, wozu die Ritter- übernommen und damit gesichert worden. güter zählen, unterschieden.

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Die Erschließung der Rittergutsbestände erfolgt Teil B (Gutswirtschaft) nach der einheitlichen Erschließungsrichtlinie der – Allgemeine Verwaltung sächsischen Archivverwaltung und berücksichtigt – Personalangelegenheiten Erkenntnisse der DDR-Archivwissenschaft.7 Für – Wirtschaftsrechnungen die Bestandsgliederung kommt im Staatsarchiv – Landwirtschaftlicher Betrieb Leipzig i. d. R. folgendes Schema mit den wichtig- – Jagd und Forstwirtschaft sten Betreffen zur Anwendung, das an die tat- – Industrie- und Gewerbeanlagen sächliche Überlieferung angepasst wird: …

Systematik der Rittergutsbestände Teil C (Familienarchiv) Teil A (Patrimonialgericht/Herrschaftsarchiv) … Grundlagen der Patrimonialherrschaft/des Ritter- gutes Die Überlieferung und Gliederung des Teils Fami- – Lehns- und Eigentumsverhältnisse des Ritter- lienarchiv variiert besonders stark. Sie ist abhän- gutes gig von der Stellung der Besitzerfamilie, ihrer – Umfang und Wert des Rittergutes Größe und historischen Bedeutung, den Besitz- – Verwaltung des Rittergutes verhältnissen sowie der früheren Archivbildung in – Landesherrliche Hoheitsrechte und Regalien den „Schlossarchiven“ selbst. Folgende Varian- ten sind möglich: Gerichtsverwaltung – Gerichtsverfassung, Mandate, Anordnungen Teil C (Familienarchiv) und Gesetze – Familie 1 – Gerichtsgebäude, Organisation, Dienstbetrieb, – Familie 2 Gerichtskosten • Familienverein, Gesamtbesitz – Gerichtspersonal • Landtags- und Kreistagssachen – Archivwesen, Repertorien • Einzelne Familienmitglieder • Sammlungen Gerichtsbarkeit – Familie 3 – Gerichtsbücher (der Freiwilligen Gerichtsbarkeit) • Nachlass Albert – Gerichtsprotokolle • Nachlass Bruno – Strafgerichtsbarkeit • Nachlass Carl – Zivilgerichtsbarkeit • Politische Tätigkeit, öffentliche Ämter – Freiwillige Gerichtsbarkeit • Wissenschaftliche und literarische Auf- zeichnungen Lokalverwaltung (Polizei- und Kommunal- • Korrespondenz verwaltung) • Persönliche Unterlagen – Heimatbezirke, Aufnahme in den Untertanen- – Familie 4 verband, Armenversorgung • Lehns- und Besitzangelegenheiten der Fa- – Medizinal-, Gesundheits- und Veterinärwesen milie – Gewerbeangelegenheiten, Konzessionen • Nachlässe – Gemeindeangelegenheiten (Landgemeinde- • Ältere Linie ordnung, Ortsstatuten) Albert – Baupolizei, Wege- und Wassersachen Bruno – Feuerpolizei • Jüngere Linie – Militär- und Kriegsangelegenheiten Carl – Landwirtschaft, Forst, Jagd, Fischerei Christian Patronat (Kirchen- und Schulangelegenheiten) …

Einziehung landesherrlicher Steuern und Zölle Auch der Inhalt der Unterlagen ist sehr variabel und weist oft überraschende Facetten auf. Fol- Grundherrlich-bäuerliche Verhältnisse, Dienste gende Sachverhalte können exemplarisch er- und Abgaben der Untertanen, Ablösungen wähnt werden: – Frohn-, Erb- und Zinsregister – Reichs- oder Hofämter – Verpachtung von Grundstücken – Landtagssachen – Verpachtung von Gerechtigkeiten – Rechts- und Besitzunterlagen (Lehns-, Finanz-, – Verweigerung von Diensten und Abgaben, Testaments- und Nachlassunterlagen) Beschwerden – Genealogische Unterlagen, Familienverbände – Ablösungen – öffentliche Ämter (häufig auch in Landwirt- schafts-Vereinen)

Sonderheft 2004 77 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

– wissenschaftliche Forschung (Landwirtschaft, Insbesondere ist auf die Provenienzangaben Wert neue Anbau-, Zuchtmethoden, Mathematik, zu legen, da nur so eine Zuordnung von Sachbe- Astronomie), auch Gedichte oder Kochbücher treffen zu den Patrimonialgerichtsakten bzw. den – Sammlungen (sächsische Geschichte, Militaria, Privatakten aus dem Familienarchiv möglich wird. Akten des Oberhofgerichts) Die computergestützte Indizierung der Orts- und – Persönliche Unterlagen Personennamen ermöglicht darüber hinaus die Anlage von Registern. Bei der Verzeichnung der Rittergutsbestände werden i. d. R. folgende Angaben erfasst und Birgit Richter nach folgendem Schema in den Findbüchern wie- dergegeben:

Archivalien- Registratur- Aktentitel Datie- sign. sign. rung Filmsign. Alte Enthält- Archivsign. Vermerk Band (Unter-) Provenienz

Anmerkungen

1 Die Bestände des Sächsischen Staatsarchivs Leipzig, bearbeitet von stellen Bautzen, Chemnitz und Freiberg, Bd. 1: Die Bestände des Säch- Ingrid Grohmann, Michael Merchel und Birgit Richter (=Veröffentlichun- sischen Hauptstaatsarchivs, Leipzig 1994, S. 650 ff. gen der Sächsischen Archivverwaltung Reihe A: Archivverzeichnisse, 5 Anna Miksch, Die Sicherung und Nutzung kultureller Werte der ehema- Editionen und Fachbeiträge, Band 5) Hrsg. vom Sächsischen Staatsmi- ligen Herrensitze des Großgrundbesitzes in Sachsen (Herbst 1945 bis nisterium des Innern, Halle/Saale 2004, S. 173 ff. – H. L. Hofmann, Die Ende 1949). Ein Beitrag zum Problemkreis des Kulturerbes in der antifa- Rittergüter des Königreichs Sachsen. Ein Abriss ihrer Geschichte und schistischen-demokratischen Umwälzung, Dissertation zur Promotion A, rechtlichen Stellung nebst topographischen und statistischen Nachrich- masch., Karl-Marx-Universität Leipzig 1979. ten über sämtliche Rittergüter…, Dresden 1901. – F. Lütge, Die mittel- 6 Birgit Richter, Zur Rückübereignung von Archivalien aus Rittergutsbe- deutsche Grundherrschaft und ihre Auflösung, 2. Aufl. Stuttgart 1957. ständen nach dem Ausgleichsleistungsgesetz in Sachsen, in: Der Archi- 2 Volker Jäger, Zur Entwicklung der staatlichen Untergerichte in Sachsen var, Beiband 7 „Archive und Herrschaft“, Referate des 72. Deutschen in der 1. Hälfte des 19. Jh., in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Archivtages 2001 in Cottbus, Siegburg 2002, S. 211–221. Rechtsgeschichte, Bd. 118, Wien-Köln-Weimar 2001, S. 232 ff. 7 Berent Schwineköper, Das „Gutsarchiv“ als Archivtypus, in: Archivar 3 Birgit Richter, Adelsarchive in Sachsen zwischen staatlichem Anspruch und Historiker. Festschrift für H. O. Meißner, Berlin 1965, S. 72–88.- Lie- und Familientradition vom19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Der selott Enders, Ordnungsprobleme bei Guts- und Familienarchiven im Archivar 56 (2003), S. 313 ff. Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam, in: Archivmitteilun- 4 Die Bestände des Sächsischen Hauptstaatsarchivs und seiner Außen- gen 10 (1960) 3, S. 96–106.

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Übernahme von Nachlässen in einem Unternehmensarchiv am Beispiel des Zeiss-Sippenarchives

Allgemeines 30er Jahre gründet. Im Rahmen dieser Sammlung Die Übernahme von Nachlässen spielt in einem existieren nur wenige Originale zur Familienge- Unternehmensarchiv die gleiche wichtige Rolle schichte. wie in jedem Archiv. Auch in der technischen Ab- wicklung und der Erschließung gibt es keine we- Das Zeiss-Archiv hat sich vor allem aus einem sentlichen Unterschiede. Grund für die Übernahme entschieden: Pflege der Beziehungen mit der Familie des Unterneh- Die Übernahme von Nachlässen ist vor allem für mensgründers. Es wurde allerdings von Anfang die DDR-Zeit sehr wichtig, weil in der Wendezeit an klargestellt, dass eine weitere Pflege, sprich viele Unterlagen nicht ins Archiv gelangt sind. Au- Aktualisierung der Daten, nicht möglich sein wird. ßerdem haben viele der Unterlagen, die im Rah- men des regulären Archivierungsprozesses ins Ar- Die Übernahmeverhandlungen verliefen auf Basis chiv gelangt sind, nur einen geringen Bezug zur der vorgenannten Musterverträge unproblema- sozialen und lebensweltlichen Realität der DDR. tisch. Die Familie hatte ein gesteigertes Interesse Sehr oft handelt es sich um Unterlagen, die mehr an der Abgabe, weil der damalige „Archivar“ der die Planungen und Absichten als die realen Ver- Meinung war, er hätte das Alter erreicht, in dem hältnisse widerspiegeln. man sich von solchen Aufgaben trennen solle. In der Familie fand sich kein geeigneter Nachfolger. In einem Gegensatz dazu steht manchmal die Für sie stand die weitere Nutzbarkeit und die Tat- Haltung der potentiellen Abgeber: Sie wollen sache, dass keine Kosten entstehen, im Vorder- eher Prunkstücke und Urkunden und weniger grund. Schriftgut, das im Alltag der DDR entstanden ist, abgeben. Auch ist ein abgrundtiefes Misstrauen Vom ehemaligen „Archivar“ wurde eine Überga- gegen die Geschichtswissenschaft festzustellen. bedokumentation erstellt. In ihr sind die wesentli- Es gründet in schlechten Erfahrungen der Nach- chen Informationen über die verschiedenen wendezeit. Aber auch das Misstrauen von Natur- Zweige der Sippe und die Mitglieder enthalten. wissenschaftlern und Ingenieuren gegen die Gei- Die Ablieferungsliste der Akten entspricht nicht steswissenschaften spielt eine Rolle: Immer wie- ganz archivischen Regeln, sie muss daher überar- der wird die Befürchtung geäußert, dass die Ge- beitet werden. fahr bestehe, dass einzelne Aussagen aus ihrem Zusammenhang gerissen werden. Gegen dieses Die Übergabe selbst erfolgte unter reger Anteil- Misstrauen hilft nur beständige Vertrauensbil- nahme regionaler Medien. Diese Gelegenheit dung. wurde auch zur firmeninternen Präsentation des Archives genutzt. Günstig war mit Sicherheit Bewährt haben sich Muster für Deposital- und auch, dass die Zeremonie zu einer Zeit stattfand, Übereignungsverträge und ein Informationsblatt, die man sowohl für die Presse als auch für die das den Unterschied erläutert und die Bedingun- Firma als „Saure-Gurken-Zeit“ bezeichnen muss. gen erklärt (siehe Anlage). Durch die öffentliche Berichterstattung animiert, Übernahme das Zeiss-Sippenarchives war die Nutzung in den ersten Wochen rege. Seit- Bei diesem „Archiv“ handelt es sich im Wesentli- dem hat sie sich auf ein normales Maß reduziert. chen um eine genealogische Sammlung, die zu wesentlichen Teilen in der Sippenforschung der Wolfgang Wimmer

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Informationsblatt

Carl Zeiss Jena GmbH 07740 Jena Die Geschäftsleitung

Übereignung von Nachlässen an das Archiv der Carl Zeiss Jena GmbH Das Interesse der Carl Zeiss Jena GmbH an der Übernahme von Nachlässen ehemaliger Mitarbei- ter besteht darin, die Firmengeschichte zu dokumentieren und die Unterlagen sachkundig zu bewahren. Eine Weiternutzung durch die Übereigner ist selbstverständlich möglich.

Was soll übereignet werden? Der archivrelevante Nachlass einer Person umfasst das private und dienstliche Schriftgut. Es wird nicht für bestimmte Fragestellungen archiviert (etwa Gerätegeschichte), sondern es soll die Hinter- lassenschaft einer Person als Ganzes erhalten bleiben. Ein künftiger Forscher muss sich ein Bild von einer Persönlichkeit machen können, um etwa eine Biografie zu verfassen. Die einzelnen Teile soll- ten in keinem Fall getrennt werden. Der Überlasser wird vom Archiv absolute Vertraulichkeit und genaueste Einhaltung der Abma- chungen erwarten können.

Form der Übereignung Der Nachlass kann der Carl Zeiss Jena GmbH als Eigentum (Mustervertrag 1) übergeben werden. Die Alternative ist ein Depositalvertrag (Mustervertrag 2). Das Schriftgut verbleibt dann bis zu ei- nem bestimmten Datum oder bis zum Tod im Eigentum des Überlassers und geht dann auf die Carl Zeiss Jena GmbH über.

Nutzungsvorbehalte durch den Überlasser Es können Nutzungsvorbehalte gegenüber Dritten frei vereinbart werden. Möglich ist eine all- gemeine Nutzungssperre bis zu einem bestimmten Termin (z. B. 10 Jahre nach dem Tod), eine Nut- zungssperre für bestimmte Teile oder die Nutzung zu Lebenszeiten nur mit Zustimmung des Über- lassers.

Sonderrechte in der Benutzung für den Überlasser Ausleihe wäre möglich, allerdings würde dies keine nachträglichen Veränderungen an den Archiva- lien zulassen.

Form der Übergabe Nach Möglichkeit sollten Abgabelisten erstellt werden. Die Unterlagen sollten im Allgemeinen nicht verändert werden, insbesondere sollte keine Neuordnung erfolgen. Auch sollten keine „Ver- schönerungen“ (insbesondere keine Folien) vorgenommen werden. In konkreten Einzelfragen ist Ihnen unser Archivar, Herr Dr. Wimmer (Tel.: 64 2759 FAX: 64 3207) gerne zur Verfügung.

Jena den 22.3.1998

Dr. Manfred Fritsch

80 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

Mustervertrag 1

Carl Zeiss Jena GmbH Gebäudemanagement / Archiv

Vertrag zur Übereignung von Archivalien

zwischen dem Archiv der Carl Zeiss Jena GmbH

vertreten durch

und

(nachstehend Eigentümer genannt)

wird folgender Vertrag geschlossen:

1. Der Eigentümer, der erklärt verfügungsberechtigt zu sein, übereignet dem Archiv der CZJ den schriftlichen Nachlass von...

2. Das Archiv der CZJ wird die Archivalien sachgemäß ordnen und verzeichnen. Der Eigentümer er- hält kostenlos eine Abschrift des Verzeichnisses.

3. Die Unterlagen können vom Eigentümer oder seinem Beauftragten im Archiv der CZJ innerhalb der Dienststunden jederzeit benutzt werden.

4. Es wird vereinbart, dass die Benutzung keinen anderen Beschränkungen unterliegt als der Be- achtung von Persönlichkeitsschutzrechten Betroffener und schutzwürdigen Belangen Dritter.

5. Das CZJ Archiv übernimmt die Kosten für den Transport der Archivalien.

Jena, den

Carl Zeiss Jena GmbH Eigentümer

...... Haueis Dr. Wimmer Gebäudemanagement Archiv

Sonderheft 2004 81 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

Mustervertrag 2

Carl Zeiss Jena GmbH Gebäudemanagement/Archiv

Depositialvertrag über Archivalien

zwischen dem Archiv der Carl Zeiss Jena GmbH

vertreten durch

und

(nachstehend Eigentümer genannt)

wird folgender Vertrag geschlossen:

1. Der Eigentümer, der erklärt verfügungsberechtigt zu sein, hinterlegt im Archiv der CZJ den in der Anlage näher bezeichneten Nachlass.

2. Das Archiv der CZJ entscheidet über die Archivwürdigkeit der Unterlagen und ist berechtigt, nichtarchivwürdige Unterlagen zu vernichten.

3. Das Archiv der CZJ übernimmt die sachgemäße Aufbewahrung, Ordnung und Verzeichnung der Archivalien und steht für sie mit derselben Sorgfalt ein, die es auf seine eigenen Bestände anwen- det. Der Eigentümer erhält eine kostenlose Abschrift des Verzeichnisses.

4. Es wird vereinbart, dass die Benutzung keinen anderen Beschränkungen unterliegt als der Be- achtung von Persönlichkeitsschutzrechten Betroffener und schutzwürdigen Belangen Dritter.

5. Die Unterlagen können vom Eigentümer oder seinem Beauftragten innerhalb der Dienststunden im Archiv CZJ jederzeit gebührenfrei benutzt werden.

6. 10 Jahre nach der Hinterlegung geht das Eigentum an den Archivalien auf das Archiv CZJ über, sofern vom Eigentümer vorher nichts anderes bestimmt wird.

7. Das Archiv CZJ übernimmt die Kosten für den Transport der Archivalien. Bei Kündigung des Ver- trages durch den Eigentümer trägt dieser die Kosten für die Rücksendung.

8. Änderung des Vertrages bedürfen der Schriftform.

Jena, den

Carl Zeiss Jena GmbH Eigentümer

...... Haueis Dr. Wimmer Gebäudemanagement Archiv

82 Sonderheft 2004 Weiterbildung der Archivberatungsstelle

Absichtserklärung

Carl Zeiss Jena GmbH Gebäudemanagement / Archiv

Absichtserklärung über Überlassung von Archivalien

von

Name: ......

Vorname: ......

Geburtsdatum: ......

Anschrift: ......

Hiermit erkläre ich meine Absicht, die in beiliegender Liste beschriebenen Dokumente und Gegen- stände dem Archiv der Carl Zeiss Jena GmbH zu überlassen. Diese Absicht soll verwirklicht werden, sobald ich diese Gegenstände nicht mehr für meinen persönlichen Gebrauch benötige bzw. nach meinem Ableben.

Das Archiv der CZJ wird den Nachlass als eigenständigen Bestand führen. Es wird die Archivalien sachgemäß ordnen und verzeichnen und steht für sie mit derselben Sorgfalt ein, die es auf seine ei- genen Bestände anwendet.

Jena, den

Carl Zeiss Jena GmbH Eigentümer

...... Haueis Dr. Wimmer Gebäudemanagement Archiv

Sonderheft 2004 83 53. Thüringischer Archivtag

53. Thüringischer Archivtag am 16. Juni 2004 in Arnstadt Thema der Fachtagung „Archive und Jubiläen – Organisation, Finanzen, Kooperationen“

Der jährlich stattfindende Thüringische Archivtag aktuelle Diskussion, nicht nur unter Archivaren, gliedert sich traditionell in zwei Veranstaltungen: an. Man kann sich dieser Thematik von sehr unter- die Fachtagung mit einer speziellen Thematik und schiedlichen Seiten nähern. Im Mittelpunkt der die Mitgliederversammlung des Thüringer Archi- diesjährigen Fachtagung stand die Praxis bei der varverbandes. Über den diesjährigen 53. Thürin- Vorbereitung von Jubiläen und die damit verbun- gischen Archivtag und vor allem seiner Mitglie- denen Hürden aber auch Erfolge. derversammung wurde ausführlich im Heft 2/2004 des Mitteilungsblattes „Archive in Thürin- Um ein breites Spektrum an Erfahrungen zu bün- gen“ berichtet. deln, wurden gezielt sehr unterschiedliche Institu- Anknüpfend an das im vorigen Jahr erschienene tionen ausgewählt, die aufgrund ihrer unter- Sonderheft des Mitteilungsblattes „Archive in schiedlichen Aufgabenbereiche aber auch ihrer Thüringen“ ist es dank der Initiative der Archivbe- rechtlichen Stellung ganz unterschiedliche Aus- ratungsstelle Thüringen und des Vorstandes des gangspunkte für die Vorbereitung und Umset- Thüringer Archivarverbandes auch in diesem Jahr zung von Jubiläen oder Ehrungen haben. Die im wieder möglich, ein Sonderheft mit ausgewählten Folgenden abgedruckten Beiträge eines Firmen- Beiträgen von archivfachlichen Weiterbildungs- archivs, einer Universität und eines Vereins dürf- veranstaltungen, wozu auch der Thüringische Ar- ten somit Anregungen und Hinweise für verschie- chivtag gehört, herauszugeben. denste Fragen, die sich bei der Vorbereitung ei- Das Thema der diesjährigen Fachtagung „Archive nes Jubiläums ergeben können, bieten. und Jubiläen – Organisation, Finanzen, Koopera- tionen“ knüpft an eine schon seit vielen Jahren Katrin Beger

Tagungsstätte Theater im Schlosspark Arnstadt Foto: Evelyn Huber

84 Sonderheft 2004 53. Thüringischer Archivtag

Archive und Jubiläen – das 450jährige Jubiläum der Jenaer Universität und die bis 2008 neu zu schreibende Universitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts

Wenn im Folgenden das Rahmenthema „Archive Hammerstein verweist hier auf mehrere Beson- und Jubiläen“ anhand eines speziellen, noch an- derheiten, die zu beachten sind, wenn Universitä- stehenden Jubiläums betrachtet wird, so ge- ten Geburtstag feiern. Universitäten haben in der schieht dies nicht aus der Sicht eines Archivars, Regel die Historiker vor Ort – zumindest, wenn sondern aus der Sicht eines „Nutzers“, eines All- das Fach „Geschichte“ noch nicht wegrationali- gemeinhistorikers, der als wissenschaftlicher Mit- siert wurde. Diese sind innerhalb ihres Fachs der arbeiter einer Arbeitsgruppe zur Jenaer Universi- Wissenschaft verpflichtet und sollten nicht zum tätsgeschichte mit einem speziellen Projekt be- Jubiläum mit einer schlecht recherchierten dün- traut ist. nen Broschüre aufwarten. Wenn Universitäten Ju- biläen feiern, dann haben sie viele Möglichkeiten, Jedoch verbindet den Archivar und den Allge- sich zu blamieren. Dies will man in Jena vermei- meinhistoriker naturgemäß Vieles. Nicht nur, dass den und hat deshalb eine direkt dem Rektor un- der Archivar in gewisser Hinsicht – und meist auch terstellte, von einer Senatskommission geleitete explizit der Ausbildung nach – Historiker ist. Vor Arbeitsgruppe ins Leben gerufen und Mitarbeiter allem verbinden das gemeinsame Interesse an mit dieser Thematik betraut. Unsere Aufgabe bis der Pflege und Aufarbeitung der Vergangenheit zum Jahr 2008 ist es, eine gut lesbare, auf dem und die Gewissheit, dass in dieser Pflege ein his- neuesten Forschungsstand geschriebene, alle Be- torisch-kultureller Wert liegt. Diese Pflege bedarf reiche umfassende (nicht zu umfangreiche) Ge- eigentlich keines besonderen Jubiläums. Sei es samtdarstellung für die Zeit des 20. Jahrhunderts die Aufbereitung eines bestimmten als relevant vorzulegen. Nach der bereits vor zwanzig Jahren eingestuften Bestandes, sei es eine Fragestellung von Hammerstein referierten und seitdem andau- aus dem Kontext der historischen Forschung: die ernden Diskussion kann das Ergebnis nicht nur Bearbeitung und die kulturelle Bedeutung brau- eine bloße Ereignisgeschichte der Institution sein, chen keine jubiläumsspezifische Begründung. kann nicht eine reine Jubelschrift sein, sondern Nun passiert aber sowohl dem Archivar (etwa muss modernen Ansprüchen genügen. Wissen- dem Kommunalarchivar im Vorfeld eines Stadtju- schaftsgeschichte muss immer auch Reflexion biläums) als auch dem Allgemeinhistoriker, dass über das eigene Tun sein, über Fragen wie: „Was gerade Jubiläen öffentliches Interesse und Auf- ist Wissenschaft?“ oder „Was ist der Zweck einer merksamkeit erzeugen und im Vorfeld der Blick Universität?“ und „Wie hat sich unserer Bild von geschärft wird für spezifische Themen. Die er- ihr verändert?“. wähnte Arbeitsgruppe, deren voller Name „Se- natskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Uni- Das anstehende Jubiläum bietet uns also durch versitätsgeschichte im 20. Jahrhundert“ ist, ent- die Einrichtung der Kommission und die Rücken- stand in einem solchen Kontext.1 deckung der Universitätsleitung für unsere Arbeit große Chancen. Das Jubiläum sorgt jedoch auch Bereits vor über zwanzig Jahren konstatierte der für Gefahren. So kann es angesichts der offenkun- Nestor der Universitätsgeschichtsforschung Not- dig sehr unterschiedlichen Erwartungshaltungen ker Hammerstein, dass allerorten Forschungen leicht passieren, dass man nicht allen gerecht gerade im Vorfeld von Jubiläen in Gang kommen: werden kann. Auf die vielleicht vorherrschende „Die Beschäftigung mit Universitätsgeschichte Idee, es solle eine Erfolgsgeschichte entstehen, verdankt also den Universitätsjubiläen recht viel. die kritische Phasen der Universitätsgeschichte Das sind im Allgemeinen zwar keine unvorherseh- weglässt, hat bereits Hammerstein hingewiesen. baren ,Naturereignisse’, aber mitunter hat man Dies können wir uns nicht leisten, im Gegenteil: den Eindruck, es sei dies der Fall. Gewiss ist es Moderne Unternehmensgeschichten haben ge- leichter gefordert als eingelöst, Universitäts-Jubi- zeigt, dass gerade eine kritische Auseinanderset- läen begleitende Schriften sollten auch das lie- zung mit der Vergangenheit imagefördernd für fern, was vielfach tatsächlich fehlt: eine modernen die Institution ist. Ansprüchen genügende Würdigung der Hoch- schule. Der Intention nach sollte das doch wohl Eine weitere Gefahr besteht in der Verengung der das Ziel sein! Verdienstvoll und notwendig sind immerhin viele hundert Jahre umfassenden Ge- gewiss auch Untersuchungen spezieller Aus- schichte der Alma mater Jenensis auf bestimmte schnitte, einzelner Probleme. Ohne sie können öffentlichkeitswirksame Themen. Ohne Zweifel Gesamtwürdigungen nicht entstehen. Aber sie wurde die Notwenigkeit der Einrichtung einer ersetzen diese nicht!“2 Geschichtskommission universitätsintern durch

Sonderheft 2004 85 53. Thüringischer Archivtag

bestimmte Debatten deutlich, die auf öffentliches Wissenschaftliches Profil Interesse stießen. So rückte das Verhalten von – Disziplingestaltung Wissenschaftlern vor allem in Zeiten von Krieg – Ausgestaltung der Lehre und Diktatur ebenso in den Blickpunkt der Öffent- – Fächerentwicklung /Fächergenese lichkeit wie die Frage des Traditionsbildes der – Herausragende Köpfe Universität.3 Nicht zuletzt aufgrund dieses öffent- – Auslagerungen /Paradigmenwechsel lichen Interesses wurde die Kommission speziell – Traditionsbildungen und Innovationen mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts beauf- tragt. Ohne Zweifel ist gerade zum 20. Jahrhun- Universitäres Leben dert noch viel grundsätzliche Arbeit zu leisten, so – Akademischer Alltag dass wir voll und ganz mit dieser Aufgabe be- – Akademische Kultur (Gelehrtenkreise, Studen- schäftigt sein werden. Dennoch wäre es sicher ein tenverbindungen, Festkultur) Trugbild anzunehmen, dass die früheren Epochen – Politische Organisationen erschöpfend erforscht wären.4 Schließlich besteht eine Gefahr darin, dass man Stadt und Region mit nicht einlösbaren Erwartungen und Vorstel- – Zeiss-Stiftung lungen hinsichtlich der Gewichtung der Darstel- – Universitäre Topographie lung konfrontiert wird. Jeder hat einen anderen – Konkurrierende und kooperierende Teilkulturen Blick und es ist ja durchaus verständlich, dass Uni- versitätsangehörige ihr eigenes Fach oder ihre ei- Internationale Beziehungen genen Erfahrungen ausreichend dargestellt ha- – Internationale Vernetzung / Kooperationsver- ben möchten. Um den verschiedenen Anforde- träge rungen möglichst weitgehend gerecht zu werden, – Ausländerstudium ist zunächst einmal viel Kommunikationsarbeit – Internationale Institute nötig. Ansonsten gehen wir folgenden Weg. Zu- – Außenwahrnehmung nächst planen wir Sammelbände, in denen Spezi- alstudien, biografische und disziplingeschichtli- Angesichts dieser vielfältigen Perspektiven er- che Überblicke oder methodische Problemauf- scheint es selbstverständlich, dass Universitätsge- risse Platz haben.5 Das so ausführlich ausgebrei- schichte nicht als interne Institutionengeschichte tete Material soll dann beim Schreiben der geschrieben werden kann und damit nicht nur auf Gesamtdarstellung helfen. Die Sammelbände universitäre Verwaltungsakten zurückgreifen werden quasi zu Bausteinen der späteren „Uni- kann. Es geht stets auch um die Wechselwirkung versitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts“. der Hochschule zu Stadt, Region, Staat und Wirt- schaft. Davon ausgehend ist klar, dass eine Fülle Die vorbereitende Arbeit an dieser Gesamtkon- von Archiven aufgesucht werden muss. zeption läuft parallel. Diese soll zunächst einmal chronologisch aufgeteilt werden, also neben ei- Schon die staatliche Hochschulpolitik ist disparat ner Einleitung Großkapitel zum Kaiserreich, zur überliefert. Bis zur Gründung des Landes Thürin- Weimarer Republik, zur Zeit des Nationalsozialis- gen bildeten das Großherzogtum Sachsen-Wei- mus, zur Nachkriegszeit und zur Zeit der DDR um- mar-Eisenach und die Herzogtümer Sachsen-Co- fassen. Für die einzelnen Kapitel wird es unter- burg-Gotha, Sachsen-Meiningen und Sachsen-Al- schiedliche Autoren geben. In der Konzeption tenburg die sogenannten „Erhalterstaaten“ der werden dabei folgende Leitgedanken verfolgt: Universität. Relevante Bestände sind also auf die Thüringische Staatsarchive verteilt. Mit der Grün- Idee und Verfasstheit dung des Landes 1920 war die staatliche Verwal- – Funktion und Selbstverständnis der Universität tung in Weimar zuständig – hier liegen auch heute – Erinnerungskultur und Selbstbild die entsprechenden Akten. 1934 bis 1945 exi- – Institutionen stierte das Reichserziehungsministerium in Berlin, – Einbindung in staatliche Strukturen deren Akten im dortigen Bundesarchiv liegen. In – Statuten, Verfassung und „Verfassungswirk- Berlin saß auch die nach dem Zweiten Weltkrieg lichkeit“ zuständige „Deutsche Verwaltung für Volksbil- – Ökonomische Grundlagen dung“, seit 1951 das „Staatssekretariat für Hoch- schulwesen“ (bzw. seit 1958 für Hoch- und Fach- Lernende und Lehrende schulwesen) der DDR, aus dem 1967 das „Mini- – Sozialgeschichte der Lehrenden sterium für Hoch- und Fachschulwesen“ wurde. – Frequenz und Rekrutierung der Studierenden Damit wird Berlin mit seinem Bundesarchiv zu ei- – Berufungspraxis nem wichtigen Archivstandort für die Thematik.6 – Nichtordinarien, Mittelbau Die Akten der SED liegen im SAPMO-Archiv in

86 Sonderheft 2004 53. Thüringischer Archivtag

Berlin und im Thüringischen Staatsarchiv Rudol- hier nur kurz verwiesen werden: Diese Problema- stadt, dass für den ehemaligen Bezirk Gera zu- tik war bereits ausführlich Thema der Thüringer ständig ist. Archivare.9 Mit dem Untersuchungszeitraum ver- bunden ist jedoch auch die Problematik der noch Für die Entwicklung der Universität Jena ist be- nicht eingearbeiteten Bestände. Der hier entste- kanntlich die Verbindung zur Industrie sehr wichtig hende Arbeitsaufwand ist nicht zu unterschätzen, gewesen. Als ein Glücksfall kann man deshalb be- unser Anliegen erscheint manchmal als eine Zu- zeichnen, dass die Industriearchive der Fa. Schott mutung. Jenaer Glaswerk und Carl Zeiss Jena in professio- neller Weise geführt werden und für unsere wis- Generell ist mit unserem Weg, Studienbände zu senschaftliche Arbeit zur Verfügung stehen. erstellen, Seminare zu veranstalten und studenti- Das wichtigste Archiv für unser Projekt ist jedoch sche Arbeiten anzuregen, ein erhöhtes Aufkom- nach wie vor „unser“ Universitätsarchiv. Das Uni- men in den Archiven verbunden. Es darf auch versitätsarchiv Jena ist kein Privatarchiv, sondern nicht übersehen werden, dass nicht jede Bemü- als öffentliches Archiv der Thüringer Universitäts- hung der so Beauftragten problemlos zum Erfolg und Landesbibliothek angegliedert und mit ihr führt. Valide Ergebnisse sind nicht einfach zu er- zentrale Betriebseinheit der Friedrich-Schiller- halten und der Betreuungsaufwand ist hoch. Universität.7 Das Universitätsarchiv hat also zu- sätzlich zu unserem Anliegen andere öffentliche Das Jubiläum sorgt für erhöhte Aufmerksamkeit. Aufgaben. Für das Universitätsarchiv und alle an- Damit entstehen Chancen, erwachsen aber auch deren genannten Archive ist unser Anliegen mit Gefahren. Die von außen gestellten Erwartungen spezifischen Mühen und Problemen verbunden. können genauso wenig ignoriert werden wie die Diese entstehen etwa aus dem von uns unter- inzwischen in der Forschung erreichten Stan- suchten Zeitraum. Auf jeden Fall wird unsere Dar- dards. Nur als eine gemeinsame Kraftanstren- stellung bis zur „Wende“8 1989/90 gehen. Auf gung von Archivaren und Bearbeitern lässt sich die dadurch aufgeworfenen Probleme des Daten- diese Aufgabe lösen. schutzes und der Persönlichkeitsrechte braucht Tobias Kaiser

Anmerkungen

1 Vgl. das im Mai 2004 herausgekommene Sonderheft von „Uni-Journal WALD/Matthias STEINBACH (Hrsg.): Zwischen Wissenschaft und Poli- Jena. Alma mater Jenensis“. tik. Studien zur Jenaer Universität im 20. Jahrhundert, Jena 2000; To- 2 Notker HAMMERSTEIN: Jubiläumsschrift und Alltagsarbeit. Tendenzen bias KAISER/Steffen KAUDELKA/Matthias STEINBACH (Hrsg.): Histori- bildungsgeschichtlicher Literatur, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), sches Denken und gesellschaftlicher Wandel. Studien zur Geschichts- S. 601–633, hier S. 604. Noch nicht erschienen ist die angekündigte Pu- wissenschaft zwischen Kaiserreich und deutscher Zweistaatlichkeit, Ber- blikation: Jens BLECHER/Gerald WIEMERS (Hrsg.): Universitäten und lin 2004. Jubiläen. Vom Nutzen historischer Archive (= Veröffentlichungen des 6 Da die Bundesrepublik die Verhältnisse in der DDR beobachtete, liegen Universitätsarchivs Leipzig; 4), Leipzig 2004. auch im Bundesarchiv Koblenz einige relevante Akten. Ohnehin ist die 3 Dabei ist vor allem an die Diskussion um den Kinderarzt Jussuf Ibrahim Aufzählung unvollständig: Man denke an relevante Nachlässe, die zum zu denken, dessen Beteiligung an der nationalsozialistischen „Euthana- Teil in anderen Archiven liegen. sie“ Diskussionsstoff bot. 7 Ordnung für das Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität 4 In diesem Sinne auch Hans-Werner Hahn in: „Die Aufarbeitung der Jena, in: Amtsblatt des Thüringer Kultusministerium und des Thüringer DDR-Zeit kann nicht konfliktlos geschehen“. Interview mit dem Vorsit- Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Nr. 1/2002, S. 22. zenden der Senatskommission, dem Historiker Prof. Dr. Hans-Werner 8 Vgl. hierzu Herbert GOTTWALD/Michael PLOENUS (Hrsg.): Aufbruch – Hahn, in: Uni-Journal Jena, Sonderausgabe Senatskommission, Mai Umbruch – Neubeginn, Die Wende an der Friedrich-Schiller-Universität 2004, S. 4f. Jena 1988 bis 1991 (= Quellen und Beiträge zur Geschichte der Univer- 5 Zurzeit ist der für 2005/06 geplante Studienband zur Geschichte der sität Jena; 5), Rudolstadt/Jena 2002. Universität in der SBZ/DDR (1945-1990) in Arbeit. Bereits erschienen: 9 Vgl. das Themenheft „Personenbezogene Daten“, in: Archive in Thürin- Uwe HOßFELD/Jürgen JOHN/Oliver LEMUTH/Rüdiger STUTZ (Hrsg.) gen. Mitteilungsblatt 2/2003. Vgl. vor allem Joachim Bauer: Möglich- „Kämpferische Wissenschaft“ Studien zur Universität Jena im National- keiten der Schutzfristenverkürzung. Die Praxis im Universitätsarchiv sozialismus, Köln/Weimar/Wien 2003; Vgl. ferner auch Herbert GOTT- Jena, in: ebd., S. 7–11.

Sonderheft 2004 87 53. Thüringischer Archivtag

Wiederbelebung einer Autorin Ein Ringen um das Werk der E. Marlitt

Im einleitenden Vortrag des Staatssekretärs, Herrn Eugenie Henriette Christiane Friedericke John Dr. Aretz, fiel ein Satz, den ich für sehr wichtig wurde 1825 als Tochter des später verarmten halte und der als Leitmotiv auch für meine Überle- Kaufmanns E. John in Arnstadt geboren und starb gungen Gültigkeit hätte, der Satz nämlich, dass in ihrer Vaterstadt als gefeierte Schriftstellerin ,E. „Geschichte spannend“ ist; einschränkend müsste Marlitt’ 1887. Zu diesem Zeitpunkt war sie eine ich formulieren: „Literaturgeschichte ist span- der kommerziell erfolgreichsten Autorinnen ihrer nend“, denn der Gegenstand meines Vortrages ist Zeit, erreichte traumhafte Auflagenhöhen und die Arnstädter Autorin E. Marlitt. Spannend ist die wurde in nahezu alle wichtigen Sprachen über- Arbeit über die Persönlichkeit der Autorin sowie setzt. Auf dem alten Friedhof in Arnstadt wurde ihr Werk bis auf den heutigen Tag geblieben, sie unter großer Anteilnahme der Bevölkerung denn letztlich gelingt es immer noch, Unbekann- beigesetzt. Ihre Grabstätte ist bis auf den heuti- tes, Verschollenes aus Archiven und Museen, aber gen Tag erhalten geblieben. auch von privaten Sammlern auszugraben, wie ei- nen Schatz zu heben und zu werten. – Nicht der Die Urteile über die Marlitt schwankten im Laufe Fachmann für Archivfragen wendet sich demzu- von 140 Jahren gewaltig. Sie bewegten sich von folge an Sie, sondern der Nutzer Ihrer Arbeit. unreflektierten, geradezu euphorischen Begeiste- rungshymnen – vor allem zu Lebzeiten und unmit- Der Autorenname E. Marlitt, ein Pseudonym, as- telbar nach dem Tod der Autorin – mit beinahe soziiert bis auf den heutigen Tag bei vielen Men- kultischer Verehrung (zum Beispiel wurden kleine schen, die gerade den Namen noch kennen, aber Tapetenreste aus ihrem Arbeitszimmer als „Reli- kaum das Werk, Werturteile wie ,Trivialautorin’, quien“ verscherbelt; wer als Initiator dieser genia- ,ach – das ist doch die mit den Kitschromanen’, len Geschäftsidee fungierte, ist nicht bekannt) – oder ,die mit der Gartenlaube’. Der tatsächliche über achtungsvolle Wertschätzung, zum Beispiel Leser der Marlitt müsste sich bei solchen Wertun- des Kollegen und Zeitgenossen Gottfried Keller, gen beinahe für sein intellektuelles Versagen ent- über versuchte literaturwissenschaftliche Einord- schuldigen. Dass er dies keineswegs tun muss, nung bis hin zu den vernichtenden Aussagen z. B. wird nachzuweisen sein. Theodor Fontanes, bei dessen Äußerungen aber auch eine größere Portion Futterneid ersichtlich wird. Der negativen Urteile ungeachtet erfuhren die Werke der Marlitt jedoch nach wie vor sehr hohe Auflagenziffern. Dieser Trend hielt auch nach der Jahrhundertwende an. Nach dem Weg- fall der urheberrechtlichen Schutzfristen druckten viele Verlage in verschiedensten Ausgaben die Werke nach. Gelegentlich wurden die Romane der Marlitt auf Groschenhefte gekürzt, gelegent- lich erschienen sie ausdrücklich als Erbauungslek- türe (so „Für unsere Feldfrauen“ als Sonderaus- gabe im 1. Weltkrieg), gelegentlich wurden sie kommentiert – nie aber wurden sie in ungekürzter Ausgabe publiziert, außer in der „Gartenlaube“ und der Erstausgabe im Verlag Ernst Keil, Leipzig. Der Verlag Readers Digest war vor zwei Jahren der erste, der die Marlitt-Bände wieder ungekürzt herausgab. Fazit: Wer also die Marlitt ernsthaft er- arbeiten möchte oder muss, kommt nicht umhin, die vorhandenen „Gartenlauben“, in denen die Romane als Fortsetzung erschienen, in Archiven durchzuforsten.

In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts verfestigte sich immer mehr jenes Urteil mit dem harten Wort KITSCH, wenn es um die Einschät- zung der Marlitt ging. Von „saccharinsüßer Bildnis der Eugenie John/Marlitt in der Zeitschrift „Die Gar- Kitschtante“ war die Rede, in der DDR ging man tenlaube“ Nr. 2/1868

88 Sonderheft 2004 53. Thüringischer Archivtag so weit, sie als Bürgerlich-Dekadente abzustem- mittel für Schulvorträge, Projekt- und Belegarbei- peln, in Ost und West verfemt, wer zugab, Marlitt- ten ist, sondern das Forschung besonders im phi- Romane mit Genuss gelesen zu haben. Der Unter- lologischen Bereich nach wie vor Archiv- und Bi- haltungswert der Romane wurde völlig negativ bliotheksarbeit erfordert. bewertet, vor allem aber machten die kommer- ziell erfolgreichen Werke viele Kritiker in Deutsch- Die Zusammenarbeit erfolgte in Arnstadt zu Be- land unnachsichtig. Nach dem Motto: , Was viele ginn mit dem Schloss-, später mit dem Stadtge- Menschen lesen, kann keine wirklich gut Literatur schichtsmuseum „Zum Palmbaum“ sowie dem sein’ wurden somit nicht nur die Autorin, sondern Stadtarchiv. Wir wurden fündig. Manuskripte, ei- auch ihre Leser abqualifiziert. Was aber ist „gute nige wenige Briefe, vor allem viele Artikel aus der Literatur“, was „hohe Kunst“, was „niedere“, was Arnstädter Presse, Festschriften zu Jubiläen, Un- ist gar keine Kunst? terlagen sowohl zur Einweihung des Marlitt-Denk- mals 1912 als auch über dessen mutwillige, ange- Erst seit den 80er Jahren begann die Literaturwis- ordnete Zerstörung 1951 oder Eintragung in Ein- senschaft erneut, sich ernsthaft mit dem Problem wohnermelderegister – jeder Hinweis wurde ge- „Trivialliteratur“ und der daraus resultierenden sichtet und gewertet, bis sich aus vielen Dichotomisierung von Literatur und Kunst zu be- Mosaiksteinchen allmählich ein (annähernd) ge- fassen – mit dem Resultat, dass viele Autoren nun schlossenes Bild ergab. Ein Bild entstand, das Er- im reellen literarhistorischen Kontext, im Zusam- gebnisse aus der bisherigen Marlitt-Forschung menwirken von Lesepublikum und Verlag sowie zum Teil bestätigte, andererseits aber auch neue unter der Frage, was denn eigentlich „trivial“ im Zusammenhänge deutlich machte und damit so- Sinne von nichtig, platt sei, neu betrachtet bzw. wohl die Autorenpersönlichkeit als auch das Werk erstmalig von der Wissenschaft zur Kenntnis ge- in frischer Sicht und Interpretation zeigte. nommen wurden. Viele zeitgenössische Dokumente wurden ge- 1990 begann also auch unsere Arbeit zur Marlitt in nutzt. Zum Beispiel ergab die Auswertung eines Arnstadt unter diesen sich veränderten Aspekten „Fremden- und Besucherbuches“ des Arnstädter im Rahmen der Literaturwissenschaft, aber vor al- Friedhofswärters Franz, aufbewahrt im Museums- lem auch unter den veränderten gesellschaftlichen archiv Arnstadt, wertvolle Aufschlüsse über Le- Bedingungen der Nachwendezeit, in der endlich serkreise und Leseenthusiasmus nach Marlitts der ideologische Ballast manch einseitig ausge- Tod. Es war zu entnehmen, dass in jener Zeit re- richteter Literaturbetrachtung entfallen durfte. gelrechte Pilgerfahrten zum Grab der Marlitt Unreflektierte Urteile, nicht überprüfte Wertun- stattgefunden haben müssen. Der Autorin wurde gen, fehlende Textarbeit, immer gleiche Interpre- postum sowohl von Kommerzienräten als auch tationsmuster mit zum Teil gleichen Zitaten bis Handwerksmeistern, von Männern und Frauen hin zum einfachen Abschreiben der bisher Er- gehuldigt. Ein anderes Beispiel dafür, wie wichtig wähnten (im Falle eines Gottfried-Keller-Zitats, scheinbar nebensächliche Archivalien sein kön- das überhaupt nie existierte, sondern immer nur nen, ist die dickleibige, erst 1899 geschlossene mündliche Überlieferung war, hielt sich sogar Testamentsakte der Marlitt, welche im Staatsar- hartnäckig über Jahrzehnte eine Zitatangabe mit chiv Rudolstadt zu sichten ist. Der Recherchie- Seitenzahl in vielen Betrachtungen!) führten dazu, rende erfährt anhand noch nicht beglichener das kleine ABC der Literaturgeschichte durchzu- Rechnungen nicht nur, dass im Hause John/Mar- exerzieren; das also hieß, die Primärtexte in der litt offensichtlich größere Mengen Beaujolais ge- Erstausgabe zu lesen – in unserem Fall demnach ordert (und sicherlich auch getrunken) wurden, in der jeweiligen „Gartenlaube“ – die vorhandene sondern vor allem, dass hier eine kluge, auch in Sekundärliteratur so vollständig wie möglich zu finanziellen Dingen kluge Frau akribisch ihren studieren und die Archive und Museen zu nutzen, Nachlass ordnete. Ein Nachlass, den es zu ord- um so viele zeitgenössische Quellen wie irgend nen lohnte, denn die Marlitt dürfte eine der am möglich zu erschließen. Auch heute beginne ich besten honorierte Autoren deutscher Sprache in jede literaturhistorische Arbeit in eben jener Rei- ihrer Zeit gewesen sein. Sie hatte ihr Vermögen, henfolge – kein Internet kann mir die Recherche und auch das erschließt die Testamentakte, in an historischen Primärquellen ersetzen. Es kann Immobilien und Anleihen angelegt, war darüber ergänzen, Tipps und Anregungen geben, meine hinaus recht großzügig, was ihre engere Ver- Sicht erweitern, aber die Archivarbeit nicht unnö- wandtschaft angeht (eine eigene Familie hatte tig machen. Diese Tatsache wäre an zukünftige sie nicht, sie blieb bis an ihr Lebensende Single, Philosophen und Historiker unbedingt weiterzu- obgleich es an Avancen nicht gefehlt hatte …), reichen. Gymnasiasten von heute müssen dem- und sie war bedacht darauf, das große Erbteil nach erfahren, dass das Internet nicht das Allheil- nicht in nachfolgenden Generationen auf das

Sonderheft 2004 89 53. Thüringischer Archivtag

Spiel zu setzen. Genau das geschah, trotz aller von einer Neubetrachtung der marlittschen Wer- Vorsichtsmaßnahmen der Schriftstellerin. Das kes ausgegangen werden? Ende der Erbauseinandersetzungen hätte aus ei- nem ihrer Romane entspringen können, so heftig 1. Die Persönlichkeit der Autorin erscheint in ei- erscheint hier der Einbruch der Realität als nem neuen Licht. In vielen früheren Publikationen wildeste Fiktion. wird die Marlitt als unselbstständige, schüchterne Ehe wir dem Plauderton verfallen – ersichtlich und zurückhaltende Frau dargestellt. Dies ist sie wird, dass vermeindlich nebensächliche Materia- ganz und gar nicht gewesen. lien eben doch nicht zu vernachlässigen sind, son- Im jugendlichen Alter wird Eugenie von einem dern dass sie mithelfen können, ein neues Bild ei- ,Talentefahnder’ der Fürstin Mathilde von ner Persönlichkeit zu entwerfen. Schwarzburg-Sondershausen ,entdeckt’. Eugenie erhält eine Gesangsausbildung am Hof von Son- Im Falle der Marlitt war es Mitte der 90er Jahre an dershausen, zwei Jahre auch in Wien. Es sind der Zeit, die gesammelten Erkenntnisse auch zu Jahre, in denen sie auf sich allein gestellt ist, in dokumentieren und öffentlich zu machen. Neben, denen all ihre Hoffnung darauf beruhen, als es ist nicht übertrieben zu sagen ungezählten Vor- Opernsängerin einmal Karriere zu machen und ih- trägen zur Marlitt, die von Herrn Günther Mer- ren Eltern eine finanzielle Stütze zu sein. Welcher bach, dem im Sommer 2003 verstorbenen Grün- Gedanke in der Mitte des 19. Jahrhunderts! – der und Vorstand des Marlitt-Vereins, Frau Uta Eine Frau möchte kraft ihrer Ausbildung und Ar- Kessel, Mitglied des Vereins und Arnstadts perso- beit für sich und ihre Familie selbst sorgen! Ihre nifizierte Marlitt (sie präsentiert Arnstadt auf Mes- Karriere scheiterte kläglich. Sie erleidet – viel- sen, Festen, Stadtführungen etc. im historischen leicht aus psychosomatischen Gründen – einen Kostüm) und Cornelia Hobohm gehalten wurden, Gehörschaden, kann als Sängerin nicht mehr auf- neben vielen Zeitungsartikeln vor allem in der Lo- treten. Wiederum wird die Fürstin Mathilde ihr kalpresse schien der Gedanke immer wichtiger, Rettungsanker. Doch diese ist seit ihrer Schei- größere und weitreichendere Publikationstätig- dung vom Fürsten selbst in Schwierigkeiten. Eu- keit aufzunehmen. Die nur in einem Exemplar er- genie John wird für zehn Jahre Gesellschafts- haltene Ausgabe von Marlitts Gedichten – 1911 dame, Krankenpflegerin, Vorleserin, Sekretärin, von I. Vohland erstellt – wurde neu gesichtet und kurzum Mädchen für alles bei der Fürstin Ma- erschien 1994, kommentiert und illustriert in einer thilde. Sie halten sich vorwiegend im süddeut- bibliophilen Ausgabe, unter dem Titel „Maienblü- schen Raum auf und lernen die Künstlerkreise tenhauch“ im (damals) Rudolstädter Hain-Verlag. Münchens kennen. F. Bodenstedt, damals gefei- Zwei Jahre später, 1996, konnten wir den vorhan- erter Star der Münchener Literaturszene, begut- denen Briefwechsel der Marlitt veröffentlichen. achtet einige literarischen Versuche der John. Er Dies war vor allem G. Merbach zu verdanken, der ist verblüfft – und er leitet sie nicht weiter an einen im Archiv der Stadt- und Landesbibliothek Wien Verlag. Erkennt er vielleicht die aufkommende den gesammelten Briefwechsel der John/Marlitt Konkurrenz? mit ihrer engsten Vertrauten und Freundin Leo- poldine Ritter von Nischer-Falkenhof aus den Jah- Eugenie John trennt sich von Mathilde. Sie fühlt ren 1849 bis 1882 sichtete. Zusammen mit eini- sich mehr und mehr von ihr vereinnahmt und aus- gen wenigen erhaltenen Briefen aus dem Arn- genutzt. Außerdem plagen sie selbst gesundheit- städter Archiv sowie dem Briefwechsel der Marlitt liche Leiden. Sie sieht keinerlei Perspektive mehr, mit dem greisen Fürsten Pückler-Muskau (höchst wenn sie bei der Fürstin bleibt: abhängig im amüsant zu lesen!) erschien der gesammelte höchsten Maße, die Chefin zunehmend psychisch briefliche Nachlass, versehen mit einer Kurzbio- unleidlich, ohne eigenes regelmäßiges Einkom- grafie und einem Kommentar, unter dem Titel men, ehe- und kinderlos. Sie beschließt im Alter „Ich kann nicht lachen, wenn ich weinen möchte“ von fast 40 Jahren wieder in ihre Thüringer Vater- im Wanderslebener Gleichen-Verlag. stadt zurückzukehren, auch um die Blamage, das womögliche Desaster des einzugestehenden Über andere Möglichkeiten des Öffentlich-Ma- Scheiterns wissend. Und sie kehrt zurück mit dem chens gesichteter Archivmaterialien durch einen festen Willen, als Schriftstellerin ihren Weg zu fin- kleinen Literaturverein mit gerade einmal 33 einge- den! Ein kühner Entschluss, der ihr immer abge- tragenen und davon etwa einem Dutzend sehr ak- sprochen und ihre literarische Laufbahn eher als tiver Vereinsmitglieder möchte ich gegen Ende Zufallsprodukt, angeschoben durch ihren cleve- meiner Ausführungen noch einmal zurückkommen. ren Bruder, gesehen wurde. Briefe an Leopoldine beweisen das Gegenteil. Sie gibt sich ein Pseud- Was ergab nun aus germanistischer Sicht die Aus- onym. Das schützt sie (zunächst) vor der Öffent- wertung der Vielfalt an Material? Inwiefern kann lichkeit, es sagt auch nichts über ihre geschlecht-

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Titelblatt der Zeitschrift „Die Gartenlaube“ 1868 liche Identität aus: E. Marlitt. Der Verleger Ernst keine Widersprüche. Die zum seriellen Drucken Keil in Leipzig geht auch erst von einem Herrn E. geeigneten Werke der Marlitt erfüllten alle An- Marlitt aus – bevor er die Identität preisgibt und sprüche Keils. Es begann eine Erfolgsgeschichte, die Marlitt zum gefeierten Star seiner Zeitschrift die mit dem Wort Symbiose wohl am ehesten zu wird. charakterisieren ist. Denn mit jedem erschiene- nen Fortsetzungsroman der Autorin stieg die Auf- 2. Eugenie Marlitts schriftstellerischer Aufstieg ist lagenhöhe der Zeitschrift, und mit jeder erschie- rasant. Dabei bleibt sie sich und ihren bürgerli- nen Fortsetzung stieg Marlitts Ruhm. Die Ver- chen und humanistischen Idealen treu. Sie ver- marktung der Starautorin war professionell. Nach leugnet sich und ihre Herkunft an keiner Stelle. dem Erscheinen als Fortsetzungsroman erscheint Pragmatisch ist sie und phantasievoll zugleich. Ihr ein Werk sofort als Buch im Verlag Keils. Für Über- Pragmatismus äußert sich darin, dass sie mit Be- setzungsaufträge und Werbung sorgte ebenfalls dacht die erfolgreichste und am weitesten ver- der Verlag. Nicht verhindern kann er jedoch wilde breitete Zeitschrift deutscher Sprache zum Bühnenauffassungen oder inhaltliche Fälschun- Zwecke ihrer Veröffentlichung wählt: Ernst Keils gen in ausländischen Fassungen. Beiträge in der „Gartenlaube“. Ausgabe der Zeitschrift korrespondieren häufig thematisch mit den Themen der Romane. Lässt Seit 1853 wirkt der leidenschaftliche Liberale Keil, zum Beispiel in einer Fortsetzung des „Heideprin- aus dem thüringischen Langensalza stammend, zeßchens“ die Marlitt eine positive weibliche Fi- mit seiner Zeitschrift im Sinne des deutschen Li- gur sich zu ihrem jüdischen Glauben bekennen, beralismus. Er selbst hatte für seine demokrati- so erscheint bald darauf in der Zeitschrift ein Arti- schen Ansichten und die Herausgabe seiner Zeit- kel unter der Überschrift „Im Frieden der Sab- schrift „Der Leuchtturm“ im Gefängnis gesessen. bathlichtes“; greift die Marlitt im Roman „Die Dort reifte der Gedanke, liberale bürgerliche An- zweite Frau“ das Thema ,Jesuitentum’/’Katholizis- sichten für ein möglichst breites Publikum unter mus’ auf, kann davon ausgegangen werden, dass einem möglichst unverfänglichen, ja lauschigen Beiträge mit Titeln wie „Zum Reliquienunfug der Titel zu veröffentlichen – eben der „Garten- katholischen Kirche“ in der Zeitschrift folgen. laube“. Interessant sollte die Zeitschrift sein, bil- den sollte sie, zur Toleranz erziehen. Und unter- 3. Die Romane der Marlitt sind keine Liebesro- halten. Anspruch und Unterhaltung waren für Keil mane. Die Liebe zwischen der weiblichen positi-

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ven und der männlichen positiven Hauptfigur damit verbundenen Identifikationsangeboten, die kommt nur am Ende des Werkes vor – nämlich in sie dem Leser unterbreitet. dem glücklichen Ausgang einer Liebesehe. Der Weg dahin – weg von der durchaus üblichen Kon- 5. Die Werke erschließen sich auch über die Be- venienz- zur Liebesheirat – ist dornig. Und daher trachtung der Handlungsorte. Das heißt, alle Ro- wird von der Marlitt auch niemals vordergründig mane und Novellen außer „Das Heideprinzeß- die Geschichte einer Liebe erzählt, sondern im- chen“ handeln in Thüringen bzw. in Marlitts ver- mer die Geschichte einer jungen Frau, die sich trautester Umgebung: in Arnstadt und dem Thü- unter zum Teil widrigen sozialen und gesellschaft- ringer Wald. Jedoch ist die Wahl dieser lichen Bedingungen und Konventionen ihren ei- Handlungsorte bei ihr niemals vordergründig, sie genen Weg suchen muss. Sie muss lernen, selbst- erschließt sich lediglich dem ortskundigen Leser. bestimmt zu leben. Dennoch sind diese Frauen Heimatromane im Stile eines L. Ganghofer sind keine Emanzen, keine Männerhasserinnen. Sie se- ihre Werke nicht. Thüringen mit seinen Ackerbür- hen den Lohn ihrer Bemühungen um Selbststän- gerstädten, seinen an Ruhm verblassenden Resi- digkeit und Selbstbestimmtheit in der Ehe mit denzen und seiner Natur bilden immer nur den dem geliebten Mann, mit Kindern und Familie. Hintergrund. Sie könnten so überall in Deutsch- Drei Themenkomplexe sind es, um die die Mar- land handeln. Das macht sie für alle Leser interes- littromane kreisen: die erwähnte Bewährung der sant und nachvollziehbar. So ist wahrscheinlich Frau, die Erscheinungen einer etablierten und be- nur für den Ilmkreisbewohner von Interesse, dass reits in sich ruhenden bürgerlichen Gesellschaft das „Geheimnis der alten Mamsell“ in Arnstadts (Reichsgründung und Gründerkrise inklusive!) und ,Haus zum Güldenen Greifen’ am Markt spielt, die Auseinandersetzungen mit Fragen der religiö- oder „Im Hause des Kommerzienrates“ im ,Haus sen Ausübung – in Korrespondenz mit dem Bis- zum Palmbaum’, ebenfalls am Markt, oder „Die marckschen Kulturkampf. Damit unterscheidet sie zwölf Apostel“ zum Teil in und unter der Liebfrau- sich rein thematisch wenig oder gar nicht von zeit- enkirche oder die Initialphase des „Geheimnis- genössischen Kollegen. Demnach wäre sie einzu- ses“ einem tatsächlichen historischen Vorfall auf ordnen in eine Reihe mit den anderen, „aner- dem Arnstädter Rathaussaal zugrunde liegt oder kannten“ Autoren der bürgerlichen Realismus der „das Eulenhaus“ sehr wahrscheinlich in Paulin- deutschen Sprache, die, außer Fontane, ebenfalls zella zu lokalisieren ist usw. drohten, vom Provinzialismus verschluckt zu wer- Schlussfolgerungen den: Storm, Raabe, später Ebner-Eschenbach. Seit Mitte der 80er Jahre versucht sich die Litera- 4. Große Unterschiede zu Zeitgenossen gibt es turgeschichte/Literaturwissenschaft bewusst von demzufolge nicht in den thematischen Auseinan- einem fatalen „Schubkästchendenken“ zu be- dersetzungen – wohl aber in der formalen Gestal- freien und ermittelt Ursachen, die über den Erfolg tung. In geradezu ausschweifenden Landschafts- oder den Nichterfolg, die Lesbarkeit, die Rolle beschreibungen, in der Gestaltung ihrer typisier- der Identifikation und ähnlicher Kriterien ent- ten Figuren, in der Verwendung von zahlreichen scheiden. Im Falle der Marlitt, die, neben Adjektiven oder auch Diminutiven unterscheidet Courths-Mahler, als DIE Trivialautorin schlechthin sich die marlittsche Schreibweise noch nicht von galt, wird seit der Mitte der 90er Jahre recht ein- der eines Theodor Storm oder eines Wilhelm deutig von deutschen, französischen, amerikani- Raabe. Sehr stark aber in der seriellen Gestaltung, schen und österreichischen Germanisten ein sehr die bei ihr intuitiv, also nicht geplant ist. Redun- differenziertes Bild entwickelt. Dieses ordnet die danzen prägen weite Strecken ihrer Romane. Das Autorin in den Kontext der bürgerlichen Schrift- beeinträchtigt die heutige Rezeption ebenso wie steller der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts –ungewollte – Paradoxi, wenn zum Beispiel ein. Im Unterschied zu anderen Autoren ihrer Zeit, „keine Bewegung“ am „leicht wallenden Kleid“ die häufig lediglich die Elite des Bildungsbürger- wahrzunehmen ist (aus: „Das Geheimnis der alten tums ansprachen, erreichte die Marlitt ein Mas- Mamsell“, 1868). Besonders unlogisch kann auf senpublikum – und das bis auf den heutigen Tag. den Leser die überschwängliche Gestaltung des Happy Ends wirken: Wenn die junge Frau, die so Die Aufgaben der Vereins bestehen nun aber lange und so vehement für ihr Glück innerhalb ei- nicht nur darin zu recherchieren, sondern auch ner feindlich gesonnenen Umwelt kämpfen darüber nachzudenken, wie eine solche Autorin musste, nun plötzlich allen Stolz vergisst, kein gewürdigt werden kann, ohne ihr demütigend zu „wilder, aber freier Vogel“ mehr sein möchte und huldigen, ohne ein Art ,Fanclub’ zu sein. Wie ge- sich jauchzend an die Brust des Geliebten wirft. hen wir, wie geht die Stadt Arnstadt mit einer ih- Dennoch liegt das Geheimnis des Erfolges der rer berühmtesten Persönlichkeiten um? Romane Marlitt in eben jener Gestaltung und den Der Verein, der als Interessengemeinschaft seit 1990 besteht, hat recht unterschiedliche Erfah-

92 Sonderheft 2004 53. Thüringischer Archivtag rungen mit Stadt- und Kulturbehörden gemacht. kommen diese – in unterschiedlicher Auflagen- Natürlich ging und geht es häufig um die Finan- höhe und in unterschiedlichem Umfang – heraus. zierung irgendwelcher Projekte, es geht schlicht Sie werden von uns selbst lektoriert und gesetzt. ums liebe Geld. Aber bis weit in die 90er Jahre Viele Prospekte, Flyer, Artikel konnten wir erar- hinein ging es auch um die Akzeptanz der Auto- beiten und auch der Stadt zuarbeiten. Wir haben rin. Es ging darum zu beweisen, dass man sich Radio- und Fernsehsendungen über die Marlitt nicht schämen muss mit der Marlitt zu werben – auch fachlich betreut, wir haben Vorträge und im Gegenteil. Man muss deshalb die Stadt nicht Volkshochschulkurse für Stadtführer gehalten, wir gleich als ,Marlitt-Stadt’ vermarkten, aber man gestalten eine Vitrine in der Stadtbibliothek, or- braucht die Schriftstellerin auch nicht zu verstek- ganisieren zur Öffentlichkeitsarbeit Marktstände, ken. Die Zusammenarbeit mit dem ehemals be- haben die Wiedereinweihung des neuen Marlitt- stehenden Kulturbüro, heute mit der Stadtmarke- Denkmals initiiert, wir arbeiten mit anderen litera- ting und den Kulturverantwortlichen, ist seit eini- rischen Vereinen, so auch mit der Literarhistori- ger Zeit kooperativer geworden. Wir hoffen, dass schen Gesellschaft Thüringens ’Palmbaum ’e. V. wir gemeinsam auch eine Lösung für die Litera- zusammen. – Und denken trotz allem ständig dar- ten-Ausstellung finden werden, die bis zum letz- über nach, was noch machbar ist. Machbar auch ten Jahr im nunmehr geschlossenen Stadtmu- im Sinne einer finanziellen Vertretbarkeit. Die seum zu sehen war. Natürlich ist einzusehen, dass Frage, was notwendig ist und an welchem Punkt sich eine Kleinstadt wie Arnstadt keine zwei Mu- die Verschwendung von öffentlichen Geldem ein- seen leisten kann. Aber es muss über eine Fort- tritt, erscheint mir besonders auf diesem Sektor setzung der Würdigung neben der Marlitt auch eine brisante zu sein. Und natürlich bewegt uns von L. Bechstein und W. Alexis nachgedacht wer- die Frage, ob denn schon alles aus den Archiven den. An der Konzeption für die geschlossene Aus- ausgegraben ist. stellung hatte der Marlitt-Verein aktiv mitgearbei- tet: mit Texten und dem Belegheft „Das Literari- Hier schließt sich der Kreis: Das Bild einer vom sche Arnstadt“ (1997), auch mit Leihgaben einzel- Schicksal arg gebeutelten Frau, die sich in schwie- ner Mitglieder. rigen, aber auch spannenden Zeiten aufmacht, eine der erfolgreichsten und bekanntesten Auto- Großzügig wurden wir von der Stadt vor allem bei rinnen zu werden, die sich nicht scheut, brisante der Gestaltung unseres dreitägigen Symposius im Themen ihrer Zeit zu verarbeiten und den Mäd- Juni 2002 unterstützt. Zu dieser Fachtagung mit chen und jungen Frauen Mut zu machen, ihrem umfangreichem Rahmenprogramm – einer Le- eigenen Willen zu folgen, wäre so ohne die müh- sung mit Gisela Steineckert, einer Sonderausstel- selige Arbeit des Handschriftentzifferns, des lung zur Marlitt und einer Exkursion zu Literatur- Wühlens in Akten und im Staub der Archive nicht stätten in Thüringen, die weniger bekannt als die möglich gewesen. von Weimar sind – waren beinahe alle bekannten Marlitt-Forscher zusammengekommen. L. Tatlock Literaturgeschichte ist spannend – genau dann, von der Universität St-Louis/Missouri, K. Belgum wenn wir mitverfolgen können, wie sich unter un- von der Uni Austin/Texas, B. Waldinger-Tillement seren Augen etwas entwickelt, verändert, wenn aus Nancy, M. Zitterer aus Klagenfurt und viele wir sehen, das Geschichte, ergo auch Literatur- andere stellten ihre wissenschaftlichen Ergeb- geschichte, nichts endgültig Abgeschlossenes, nisse zur Marlitt vor und bestätigten in seltener nichts Statisches ist. Wenn neue Erkenntnisse Einmütigkeit vor allem Punkt drei der oben ge- sich zu einem veränderten Bild zusammenfügen nannten Thesen. und wir damit andere Menschen mit unserer Be- geisterung anstecken können, wenn sie nicht im Das Finanzierungskonzept aus einer Mischfínan- l’art pour l’art stecken bleibt – dann hat die wis- zierung aus öffentlichen Geldern, also Fördermit- senschaftliche Beschäftigung mit dem Gegen- teln, aus Spenden und Eigenanteil bewährte sich stand der Literaturgeschichte einen wirklichen auch bei anderen Projekten, zum Beispiel bei der Sinn. Herausgabe unserer Jahresbücher. Seit 1997

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120 Jahre SCHOTT in Jena – Beiträge eines Unternehmensarchivs zur Ausgestaltung eines Firmenjubiläums

Wenn Jahreszahlen sich runden, erscheinen sie im stand erstmals ein historischer Rückblick: Zur Erin- Erinnerungskalender als Jubiläen. Es sind Markie- nerung für die älteren Mitarbeiter und als Infor- rungen im Strom der Zeit, Zäsuren für das histori- mation für die jüngere Generation erschien eine sche Gedächtnis. Sie sind gesetzt, um die Erinne- Denkschrift aus der Feder des wissenschaftlichen rung zu pflegen und sich auf das Herkommen zu Geschäftsführers Dr. Eberhard Zschimmer (1873– besinnen. Und sie fordern dazu heraus, Ge- 1940) mit bildlichen Darstellungen des Jugend- schichte im Heute zu spiegeln und über das mor- stilmalers Erich Kuithan (1875–1917).2 Die heute gen nachzudenken. Das ist das eigentlich Span- antiquarisch gesuchte Schrift besticht durch die nende an Jubiläen: Die Vergewisserung über das Klarheit ihrer Sprache, durch den Informationsge- Geschehene bei gleichzeitiger Abwägung des halt der historischen Darstellung und ihre ästhe- Kommenden. tisch ansprechende Gestaltung.3 Auch 25 Jahre Der 1. September, das Firmenjubiläum „120 später, zum Jubiläum am 1. September 1934, Jahre Schott in Jena“ ist eine Einladung, sich das wurde allen Mitarbeitern eine Broschüre „1884– spannende Kommen und Gehen eines Konzerns 1934. 50 Jahre Jenaer Glas“ mit historischem näher anzusehen. Das heißt auch, zu fragen, wie Rückblick ausgehändigt.4 Doch diese kleine es der traditionsreiche Spezialglashersteller und Schrift stand, ebenso wie die gesamten Feierlich- heutige Hochtechnologiekonzern SCHOTT in der keiten zum 50jährigen Bestehen, deutlich unter Vergangenheit mit seinen Jubiläen gehalten hat? dem Eindruck der neuen politischen Verhältnisse in Deutschland, denen sich auch die Geschäfts- Am 1. Januar 1884 von Otto Schott, Ernst Abbe führung des Jenaer Glaswerks nicht entziehen sowie Carl und Roderich Zeiss als „Glastechni- konnte. Im Nachgang zu diesem Jubiläum er- sches Laboratorium Schott & Gen.“ in Jena ge- schienen übrigens noch zwei weitere Broschüren, gründet, gelang dem jungen Unternehmen inner- die mit ausführlichem Bildteil von den Feierlich- halb weniger Jahrzehnte der Aufstieg zum erfolg- keiten berichteten.5 reichen Industrieunternehmen. Interessanter- weise gab es in den ersten Jahrzehnten nach der Das Ende des Zweiten Weltkrieges und die darauf Gründung des Unternehmens keinen einheitli- folgende Teilung Deutschlands brachte für chen, festgelegten Termin für Jubiläumsfeiern. SCHOTT dramatische Veränderungen: Demon- Wählte man zum 10jährigen Bestehen im Jahr tage wichtiger Produktionsteile, Deportation füh- 18941 für die Feierlichkeiten noch den Tag der er- render Glasfachleute und die Überführung des sten – allerdings misslungenen und möglicher- Jenaer Glaswerks in Volkseigentum waren die weise deshalb später zum Feiern für ungeeignet Folgen. erklärten – Schmelze am 8. September, so wurde Die Feierlichkeiten zum 75jährigen Gründungstag der 25jährige Gedenktag im Jahr 1909 auf den am 1. September 1959 gerieten zur Selbstdarstel- 3. Juli gelegt, den Tag, an dem das Unternehmen lung des neuen Systems: Der Unternehmensgrün- dem Personal eine halbjährige Rate der besonde- der Otto Schott galt als „Kapitalist und Ausbeu- ren Lohn- und Gehaltszahlung auszuhändigen ter“ und das Glaswerk als „optische Waffen- pflegte. Spätestens seit 1934 fielen dann aber schmiede des deutschen Militarismus“.6 Diesem größere Jubiläen immer auf den traditionell mit 75jährigen Jubiläum waren umfangreiche Archiv- Rostbratwürsten und Kartoffelsalat begangenen recherchen vorausgegangen, die in eine Fest- 1. September, der Tag, an dem der erste schrift münden sollten. Diese ist indes nie erschie- Schmelzofen durch Frau Abbe entzündet worden nen. Im Unternehmensarchiv der SCHOTT Jenaer war: Das 50jährige Bestehen am 1. September Glas GmbH befindet sich dazu ein umfangrei- 1934, das 75jährige Jubiläum am 1. September ches, unveröffentlichtes Manuskript mit einem 1959, die 100-Jahrfeier am 1. September 1984 sachlich gehaltenen Überblick zur historischen und die nun anstehenden Feierlichkeiten zum Entwicklung und zur Produktgeschichte.7 Die Dar- 120jährigen Geburtstag am 1. September 2004 stellung atmet den Geist des bekannten Thürin- knüpfen an diese Erinnerung an. ger Archivars Herbert Kühnert, der den Grund- stein zu unserem Archiv gelegt hat und es bis All diese Jubiläen gaben und geben auch immer 1953 leitete. Es ist zu vermuten, dass das maß- Anlass zur Beschäftigung mit der eigenen Vergan- geblich auf seinen Vorarbeiten fußende Manu- genheit. Sie dienten und dienen der aktuellen Po- skript nicht der damaligen politischen Linie ent- sitionsbestimmung des Unternehmens und wir- sprach und der Druck deswegen unterbleiben ken identifikationsstiftend nach innen und außen. musste. Anlässlich des 25. Gedenktages im Jahr 1909 ent-

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Auch die Veröffentlichung zum 100jährigen Be- Das Schott GlasMuseum bietet der interessierten stehen des Unternehmens im Jahr 1984 fügte sich Öffentlichkeit im Jubiläumsjahr 2004 drei heraus- in den herrschenden politischen Grundtenor ein ragende, eng mit den Themen Glas, Unterneh- und hob die sozialistischen Errungenschaften her- mensgeschichte und der Person Otto Schotts vor. Betont wurden die seit der Gründung der verbundene Ausstellungen. Im Frühjahr präsen- DDR erfolgreich zurückgelegte Wegstrecke als tierten wir bereits eine überaus erfolgreiche und sozialistischer Betrieb, vor allem als (eingeglieder- viel beachtete Ausstellung von Jugendstilgläsern ter) Betrieb im Kombinat VEB Carl Zeiss Jena, die eines Privatsammlers. Ein besonderer Glücksfall großartigen Leistungen der Aktivisten der ersten war die jetzt zu Ende gegangene Ausstellung Stunde, die hohe Einsatzbereitschaft aller Werktä- „Werbung für SCHOTT – Lázsló Moholy-Nagy tigen sowie ihre Treue zum Betrieb.8 1933–1937“. Sie präsentierte ein bedeutendes Nach der politischen Wende im Jahr 1989 wurde Kapitel der jüngeren Werkgeschichte. Durch das traditionsreiche Jenaer Glaswerk erfolgreich Auswertung von Geprächsprotokollen ergaben in den SCHOTT Konzern (Mainz) integriert. sich zahlreiche Hinweise auf die bis dahin wenig bekannte Tätigkeit des Bauhauskünstlers Mo- Nun steht erneut ein runder Geburtstag an: Am holy-Nagys als Werbeberater für das Jenaer 1. September 2004 begeht SCHOTT am Standort Glaswerk. Als externer Werbeberater schuf er für Jena sein 120jähriges Bestehen. Das Unterneh- das Hauswirtschaftsglas eine vollkommen neuar- mensarchiv und das organisatorisch zugeordnete tige Werbung und prägte die Marke „Jenaer Schott GlasMuseum haben dazu bereits Gedächt- Glas“. Zu dieser Ausstellung entstand ein Künst- nis-Vorarbeit geleistet. Ihre Aufgabe besteht ja lerbuch in limitierter Auflage mit Entwürfen Mo- nicht nur darin, relevantes Material zu sichten, zu holy-Nagys für das neue Glas. Hergestellt wurde verwahren und aufzubereiten. Ihre Aufgabe ist es dieser Band auf historischen Druckmaschinen der darüber hinaus auch, auf die wachsende Nach- ehemaligen Druckerei Vopelius, die für Schott frage nach historischen Informationen, nach Auf- von 1886 bis 1993 gedruckt hat.10 Die dritte Aus- klärung, nach der Herkunft und Entwicklung des stellung des Jubiläumsjahres nun, „Schätze aus eigenen Unternehmens sowie nach seinen Leis- dem Picenum“, die am 1. September eröffnet tungen einzugehen. wurde, befasst sich mit dem Mäzen Otto Schott. Getragen von der Überzeugung, dass Archiv und Sie rundet das Bild einer Unternehmerpersön- Museum historische Informationen als verständli- lichkeit ab, lenkt die Aufmerksamkeit auch auf ches Produkt auf dem „Markt“ anbieten sollen, sein vielfältiges Wirken für die Stadt Jena. Damit wurde bereits im vergangenen Jahr in Koopera- gibt sie bereits jetzt den Blick frei auf ein Jubi- tion mit dem Sutton-Verlag (Erfurt) ein Bildband läum, das Anfang nächsten Jahres ansteht: Die mit den schönsten Motiven aus unserer umfang- Würdigung des 100. Todestages von Ernst Abbe, reichen Fotosammlung auf den Markt gebracht.9 den Wissenschaftler, Unternehmer und Sozialre- Auch von der Geschäftsleitung wurden histori- former, der wesentlichen Anteil daran hat, dass sche Informationen zur Ausgestaltung des Jubilä- Schott vor 120 Jahren nach Jena kam – eine Er- ums angefordert: Reproduzierte Werbeschriften, folgsgeschichte im Spiegel ihrer Jubiläen. Prospekte und Produktfotos aus dem Archiv wur- den auf großformatigen Wandtafeln zur einer Tilde Bayer 120jährigen Produktschau in den Geschäftslei- tungsräumen zusammengestellt.

Anmerkungen

1 „Lieder zur Feier des Tages der 10 jährigen Wiederkehr der ersten 6 Unternehmensarchiv SCHOTT JENAer GLAS GmbH, Festrede zum Schmelzung in der Glashütte der Firma Glastechn. Laboratorium Schott 75jährigen Gründungstag, Jena o.J., S. 5, II/82. & Gen. zu Jena am 8. September 1894“ UA SCHOTT JENAer GLAS 7 Unternehmensarchiv SCHOTT JENAer GLAS GmbH, Manuskript GmbH I 2/37. II/1/67, Manuskript zu einer Broschüre II/82. 2 Zschimmer, Eberhard: Die Glasindustrie in Jena. Ein Werk von Schott 8 1884-1984. 100 Jahre Jenaer Glaswerk. Aus der Betriebsgeschichte. und Abbe. Jena 1909; ders., 2. unverändert. Aufl. Jena 1923; ders., Jena 1984; Carl-Zeiss-Stiftung Jena (Hg.): 100 Jahre Jenaer Glas. Jena Nachdruck der 2. unverändert. Aufl. Jena 1933/34. o. J. 3 Brückner, Ramona: Kuithans Industriebilder. Magisterarbeit Kunsthisto- 9 Tilde Bayer, Uta Hoff, Wolfgang Meyer: Schott in Jena 1884 bis 1949. risches Seminar Friedrich-Schiller-Universität, Jena 2004, S. 21–42. Erfurt 2003. 4 1884–1934. 50 Jahre Jenaer Glas. Unseren Werksangehörigen gewid- 10 Schott GlasMuseum, Kunsthandlung Huber & Treff (Hg.): Moholy-Nagy met. Jena 1934. und JENAer Glas. Neue Werbung für Schott 1933-1937. Jena 2004. 5 Weiter aufwärts im 51. Geschäftsjahr. Ein Rückblick für unsere Werkska- meraden. Jena 1934; 1884–1934. Am 1. September 1934, unseren Werkskameraden zur Erinnerung. Jena 1934.

Sonderheft 2004 95 Notizen

96 Sonderheft 2004 Notizen

Sonderheft 2004 97 Vorankündigung

Weiterbildungsveranstaltung der 54. Thüringischer Archivtag Archivberatungsstelle Thüringen Die nächste Frühjahrsweiterbildung findet vom Am 15. Juni 2005 wird im Landratsamt des Land- 25. bis 27. Mai 2005 wieder im Hotel Haus Hain- kreises Hildburghausen der nächste Thüringische stein in Eisenach statt. Sie wird unter der Thema- Archivtag stattfinden. tik Bewertung und Bestandsergänzung stehen. Thema der Fachtagung: Büroautomation – Das Ende der Überlieferungsbildung?

Impressum

Herausgegeben im Auftrag des das Archiv 120 Nachlässe, neun Bestände institutioneller Thüringer Kultusministeriums (TKM) Herkunft sowie Einzelhandschriften von ca. 3.000 Autoren Redaktionsschluss vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (vgl. Jochen Golz, S. 9ff.). 10. November 2004 Redaktion Umschlagrückseite Katrin Beger (Thüringer Archivarverband), Handschrift Friedrich Schillers, Demetrius-Fragment Bettina Fischer (Archivberatungsstelle Thüringen) „Es ist mein Sohn, ich will nicht daran zweifeln. Layout, Satz und Druck Die wilden Stämme selbst der freien Wüste Kommunikationsdesign Bettina Post, bewaffnen sich für ihn, der stolze Pole, Gutenberg Druckerei GmbH Weimar der Palatinus, wagt die edle Tochter an seiner guten Sachen reines Gold, Umschlagvorderseite und ich allein verwärf ihn, seine Mutter …“ Außenaufnahme des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar (SWKK, GSA, 10-181/195, Schiller – XI Werke, (Foto: Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen/ Aufnahme: Sigrid Geske) SWKK) Im Jahr 1885 ging der literarische Nachlass Johann Wolfgang Bezug des Sonderheftes von Goethes durch testamentarische Verfügung in den Archivberatungsstelle Thüringen persönlichen Besitz der Großherzogin Sophie von Sachsen- Marstallstraße 2 Weimar über. 1889 folgte die Übergabe des Schiller- 99423 Weimar Nachlasses. Die Idee der Gründung von „Archiven für E-Mail: [email protected] Literatur“ wurde durch Wilhelm Dilthey im gleichen Jahr in Thüringer Archivarverband die Öffentlichkeit getragen. So wurde 1893 mit dem Bau c/o Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt des Goethe- und Schiller-Archivs am linken Ilm-Steilufer Schloss Heidecksburg begonnen, den die Großherzogin aus ihrer Privatschatulle 07407 Rudolstadt finanzierte. 1896 war das Bauwerk vollendet. Heute besitzt E-Mail: [email protected]

98 Sonderheft 2004 Anzeigen

Wir übernehmen Verantwortung für die Erhaltung von Kulturgütern und Dokumenten aus Papier

Die PAL Preservation Academy GmbH Leipzig hat den Auftrag erhal- ten, die beim weltweit größten NS-Opfer-Archiv, dem Internatio- nalen Suchdienst (International Tracing Service) ITS in Bad Arolsen, verwahrten Akten restauratorisch und konservatorisch so zu be- handeln, dass sie auch für kommende Generationen als wichtiger historischer und juristischer Beweis erhalten bleiben. Charles-Claude Biedermann, Direktor des ITS:

Restauration der Originalbestände und sekundärer Zugang zu den Informationen »auf Datenträgern dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Von Anfang an kam für den Internationalen Suchdienst nur eine integrierte Ge- samtlösung in Frage. In der Preservation Academy haben wir einen kompetenten und flexiblen Partner mit einem umfassenden Verständnis für unser Anliegen und unsere Aufgabe gefunden.

PAL PRESERVATION ACADEMY GmbH Leipzig Kreuzstraße 12 · D-04103 Leipzig « Telefon (0341) 98388-0 · Fax (0341) 98388-20 [email protected] · www.preservation-academy.com

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