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BJÖRN REICH Der Herr der Bilder. Vorstellungslenkung und Perspektivierung im „“*

„Czu Berne waz geseßen / eyn degen so vormeßen /der waz geheysen Dytherich“ 1 (VV. 1 ff.) – so lauten die ersten Verse des Laurin. Dieser Prolog mit der waz gesezzen- Formel und dem anschließenden ‚Heldenvergleich‘, wie er sich ähnlich im Sigenot oder 2 Eckenlied findet, bildet den typischen Textbeginn für die aventiurehafte Dietrichepik. Wie so oft geht es um die Frage nach der Exzellenz Dietrichs von Bern. Diese Exzellenz

– wiewohl zunächst im Herrscherlob bestätigt („sie pristen en vor alle man“, V. 19) – wird (ähnlich wie im Eckenlied) sogleich durch in Frage gestellt, der darauf hinweist, dass Dietrich die Aventiure der Zwerge unbekannt sei. Es geht wieder einmal 3 darum, das Heldentum Dietrichs auszuloten oder besser, das ‚Bild‘/die imago, die Vorstel- lung von dem, was bzw. wer ‚Dietrich‘ sei, zu umkreisen, denn die fama Dietrichs sichert ihm nie einen festen Status, immer wieder keimen Zweifel an seinem Heldentum auf.4 Bei der Frage nach dem ‚Bild‘ Dietrichs von Bern, also der Frage danach, ob die positiven Vorstellungen, die man sich von Dietrich macht, gerechtfertigt sind oder nicht, ist der Laurin ein besonders interessanter Text: Dietrich bekommt es hier mit einem Gegner zu tun, der sich als ein wahrer Meister der ‚Bilder‘ und grandioser Manipula- tor von Vorstellungen entpuppt. Im Folgenden soll gezeigt werden, welche bildsteuernde, imaginationsbeeinflussende Kraft der Zwerg Laurin besitzt und wie sie zur Gefahr für

Dietrich und seine Gesellen wird (I.). An das Thema der imaginativen Manipulation anschließend, wird die Handlung des Textes einem ständigen Wechsel von Perspek- tivierungen unterworfen (II.). Nicht nur in der Rosengartenaventiure, auch im folgenden Höhlenkampfteil (III.) sind eindeutige Bewertungen des Geschehens kaum möglich – gerade darum bleibt das ‚Bild‘ Dietrichs nicht klar fassbar. Ein kurzer Ausblick auf

* Für viele hilfreiche Anregungen, Ideen und Korrekturvorschläge danke ich (in alphabetischer Reihenfolge) Steffen N. Bodenmiller, Nathanael Busch, Bent Gebert, Peggy Luck und Eva Rothenberger sowie den Teilnehmer(inne)n des Seminars Spaziergänge durch die Rosengärten im WiSe 2012/2013 an der Humboldt- Universität zu Berlin, insbesondere Anne Bünning, Vincent Burckhardt, Marie-Josephine Damaschke-Becker, Christiane Clever, Claudio Fuchs, Sandra Ghose, Sannah Jahncke, Leonie B. Kißner, Annemarie Klimke, Jacob Mihan, Melanie Timm und Holle Zoz.

1 Laurin, hrsg. v. Elisabeth Lienert u. a. Berlin, Boston 2011. Die Textzitate folgen – wo nicht anders vermerkt – der Handschrift L3 der Älteren Vulgatversion. 2 Vgl. Francis B. Brévart: Der Männervergleich im ‚Eckenlied‘. In: ZfdPh 103 (1984), S. 394–406; Sonja Kerth: Gattungsinterferenzen in der späten Heldenepik, Wiesbaden 2008, S. 224 f. Damit sei nicht bestritten, dass im ‚Laurin-Prolog‘ viele Anspielungen auf den höfischen Roman enthalten sind (ausführlich dazu Matthias Meyer: Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994, S. 237–240). 3 Ich verwende den Begriff ‚Bild‘ hier analog zum mittelhochdeutschen Begriff bilde. Wie das lateinische ima- go meint bilde jede Art von Vorstellung, nicht nur eine ‚visuelle‘ (vgl. D. Schlüter, Wolfram Hogrebe: Bild. In: HWPh, Bd. 1, Basel, Stuttgart 1971, Sp. 913–919, hier Sp. 915; Horst Wenzel: Spiegelungen. Zur Kultur der Visualität im Mittelalter, Berlin 2009, S. 44–47). 4 Vgl. Meyer (wie Anm. 2), S. 246. 488 Björn Reich

den Walberan (IV.) zeigt zuletzt, dass sich in der Dietrichepik die Probleme, die aus den Zweifeln an Dietrichs Heldenhaftigkeit resultieren, immer nur verschieben, letztlich aber nicht lösen lassen (V.).5

I. Der Herr der Bilder. Laurin ist ein Meister in der Beherrschung und Steuerung von

Phantasmen, inneren Bildern. Dabei ist Vorstellungslenkung und -manipulation nicht per se negativ besetzt. Sie gehört zum Grundprinzip von Rhetorik und Poetik, wo es darum geht, energeia zu erzeugen und durch höchste Bildintensität eine Bannkraft zu entwickeln, so dass der Rezipient ganz und gar von einer Rede oder einem Text affi- ziert wird.6 Dies gilt nicht nur für sprachliche Disziplinen: Das Ekphrasisprinzip ist ebenso grundlegend für die Musik- oder Bildrhetorik und betrifft letztlich jede Art 7 von Kunst. Im Moment höchster Bildintensität wird das Wahrgenommene für den Rezipienten so evident, dass das vermittelnde Medium ohnehin nicht mehr als solches wahrgenommen wird bzw. erst bei einsetzender Reflexion.8 Dass der Zwerg Laurin ein Meister solcher Kunst ist, wird an seinem Rosengarten deutlich. Hier liegt nicht nur ein konventioneller locus amoenus vor: Dieses Gesamt- kunstwerk,9 das mit dem Glanz der Edelsteine und dem Duft der Rosen ein für derart ekphrastisch wirkende Kunstwerke typischerweise synästhetisches ist,10 hat jene zuvor beschriebene bildintensive Wirkung auf den Rezipienten, die absolut vereinnahmend wirkt und der man sich nicht entziehen kann: „der en solde sehen an, / der muste sin

5 Vgl. Björn Reich: Helden und ihre Bilder. Zum narrativen Bildgebungsverfahren in der Heldenepik am Beispiel von ‚Sigenot‘ und ‚Eckenlied‘. In: ZfdA 141 (2012), H. 1, S. 61–90, bes. S. 82 f. Ich verstehe die mittelalter- liche Literatur, deren Poetik sich wesentlich aus der rhetorischen und dialektisch-argumentativen Tradition des Triviums speist, mit Lothar Bornscheuer, der den „‚literarischen Prozeß‘, einschließlich aller poetisch- fiktionalen Darstellungsformen als ein ‚Problemlösungsverfahren sui generis‘“ begreift, grundlegend als ‚Problem- lösungsliteratur‘ (ders.: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 1976, S. 25, vgl. S. 59). 6 Vgl. Björn Reich: Name und maere. Eigennamen als narrative Zentren mittelalterlicher Epik. Mit exemplari- schen Einzeluntersuchungen zum Meleranz des Pleier, Göttweiger Trojanerkrieg und D., Heidelberg 2011, S. 34–36; Ruth Webb: Ekphrasis ancient and modern: the invention of a genre. In: Word and Image 15 (1999), S. 7–18. 7 Vgl. Mary J. Carruthers: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1990, S. 222. 8 Vgl. Mireille Schnyder: Der unfeste Text. Mittelalterliche ‚Audiovisualität‘. In: B. Sabel, A. Bucher (Hrsg.): Der unfeste Text. Perspektiven auf einen literatur- und kulturwissenschaftlichen Leitbegriff, Würzburg 2001, S. 132–153, hier S. 138; Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittel- alter, München 1995, S. 450; ders. (wie Anm. 3), S. 186. 9 Dass der Rosengarten ein Kunstwerk und keine botanische Anlage ist, wird am Edelsteinschmuck, den Seiden- bändern und Goldborten deutlich. In Fassung L18 wird daher auch die ‚Gemachtheit‘ des Gartens explizit betont („In den Tiroldes dannen / het er gemacht vil zarten / einen schonen roße garten“, VV. 64 ff.). 10 Vgl. Jörg Jochen Berns: Film vor dem Film. Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginations- steuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Marburg 2000, bes. S. 60 f.; Christian Kaden: ‚[. . .] auf daß alle Sinne zugleich sich ergötzten, nicht nur das Gehör, sondern auch das Gesicht‘. Wahrnehmungsweisen mit- telalterlicher Musik. In: J.-D. Müller, H. Wenzel (Hrsg.): Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Konti- nent, Stuttgart, Leipzig 1999, S. 333–367, bes. S. 352; Katharina Philipowski: Mittelbare und unmittelbare Gegenwärtigkeit oder: Erinnern und Vergessen in der Petitcriu-Episode des ‚ Tristan‘ Gottfrieds von Straß- burg. In: PBB 120 (1998), S. 29–35, hier S. 33; Horst Wenzel: Imaginatio und Memoria. Medien der Erinne- rung im höfischen Mittelalter. In: A. Assmann, D. Harth (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991, S. 57–82, hier S. 62. Der Herr der Bilder. Vorstellungslenkung und Perspektivierung im „Laurin“ 489

truren lan“ (VV. 105 f.). Hinzu kommt, dass die Sichtbarkeit (und damit Rezipierbar- keit) des Rosengartens durch die Klassifizierung des um den Garten gespannten Seiden- fadens als ‚Mauer‘ („Daz dy mure solde sin, / daz ist eyn vadin sidin“, VV. 67 f.) geradezu ausgestellt wird, denn Mauern haben in der Regel die Eigenschaft, ‚blickdicht‘ zu sein; der Seidenfaden hingegen hebt das Dahinterliegende hervor, ähnlich wie die Bandabsper- rung in einem Museum auf das dahinter befindliche Kunstwerk verweist. Ein solches, im Sinne der Wahrnehmungsbeeinflussung hochwirksames Kunstwerk aber muss ver- dächtig bleiben, so wie jedes Kunstwerk im Grunde umso verdächtiger wird, je ‚erfolg- reicher‘ es ist, denn jede Kunstform schließt ein mögliches movere und persuadere mit ein, so dass ein Kunstwerk, dem man sich nicht zu entziehen vermag, durchaus gefähr- lich sein kann.11 Das gilt auch für den Rosengarten und es wird durchaus als Problem angedeutet, dass die beiden Helden nicht beurteilen können, ob es sich hier um Gottes oder Teu- fels Werk handelt, denn der Ausweis ‚richtiger‘ und ‚guter‘ Kunst ist die wîsheit ihres Schöpfers, als einer Fähigkeit ‚Bilder‘/imagines zu steuern.12 Und diese wîsheit ergibt 13 sich erst in der Fokussierung auf Gott als Bürge der richtigen Vorstellungen. Des- halb wirkt der Rosengarten zwar paradiesisch – es ist aber nicht einsehbar, ob dieser Status einer gottgefälligen Form von wîsheit entspringt. Die Zerstörung des Gartens ist angesichts seiner Unbestimmtheit folgerichtig, denn es geht letztlich nicht um die Vernichtung eines schlicht höfisch vollkommenen Ortes, sondern um die einer Kunstinstallation, die höchste Beeinflussungskraft besitzt, bei der aber nicht klar ist, ob sie zum Guten oder Schlechten dient. Im Zentrum der Proble- matik stehen weniger heldenepische Provokation oder Aventiureerfordernis als die Tat- sache, dass ein potentiell gefährliches, weil vollkommenes Kunstwerk aus der Welt ge- schafft werden muss. Erst jetzt, angesichts der beseitigten Gefahr, tritt bei den Helden der Zustand ein, den der Garten hätte hervorrufen sollen: „Jchlicher sines leydes vor- gas“ (V. 146). Aber dieser Zustand dauert nur kurze Zeit, denn kaum ist der Garten zerstört, erscheint der Herr des Gartens, der selbst die Potenzierung der manipulativen 14 Imaginationsmechanismen darstellt und auf diese Weise den Garten „ersetzt“ . Es ist sicherlich kein Zufall, dass hier nicht nur eine der umfangreichsten descriptiones inner- halb der deutschen Heldenepik vorliegt, sondern dass es auch kaum einen anderen Text 15 gibt, in dem die Formel ‚alsam er/ez lebete‘ ebenso häufig auftritt. Alles an diesem

11 Vgl. Bornscheuer (wie Anm. 5), S. 83; Reich (wie Anm. 6), S. 312–315; Mireille Schnyder: Kunst der Ver- gegenwärtigung und gefährliche Präsenz. Zum Verhältnis von religiösen und weltlichen Lesekonzepten. In: P. Strohschneider (Hrsg.): Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Ber- lin 2009, S. 427–452, hier S. 437 f. 12 Vgl. Hans Jürgen Scheuer: wîsheit. Grabungen in einem Wortfeld zwischen Poesie und Wissen. In: G. Dicke u. a. (Hrsg.): Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin, New York 2006, S. 83–106, hier S. 86. 13 Ebenda, S. 96 f. 14 Kay Malcher: Die Faszination der Gewalt. Rezeptionsästhetische Untersuchungen zur aventiurehaften Dietrich- epik, Berlin 2009, S. 359. 15 Vgl. Oskar Pausch: Laurin in Venedig. In: E. Kühebacher (Hrsg.): Deutsche Heldenepik in Tirol. König Laurin und in der Dichtung des Mittelalters, Bozen 1979, S. 192–211, hier S. 202; Manfred Zips: Das Wappenwesen in der mittelhochdeutschen Epik bis 1250, Diss. Wien 1966, S. 77 f. 490 Björn Reich

Laurin ist lebendig: Die Windhunde auf dem Banner (V. 159) ebenso wie die Vögel auf der Krone (V. 216) oder der Leopard auf dem Schild (V. 223); alle Bilder an Laurin sind von solcher Intensität, dass kaum mehr zu entscheiden ist, wer oder was da genau herankommt. „Laurin ist seinem Erscheinen nach ein wahres Kunstwerk“16, wobei je- doch gerade die Frage ist, ob er auch ein ‚wahres‘ Kunstwerk sei. Dietrich und Wite- ge stehen ebenso ratlos vor dieser Gestalt wie vor dem Rosengarten.17 Auch diese ‚Bildinstallation‘ wird von den Helden erfolgreich beseitigt, indem sie Laurin besiegen; aber wieder wird das Problem nur verschoben. Es ist, mehr als die Angst vor dem Ehrverlust, die Lust am ‚Sehen‘, die Dietrich dazu anhält, dem Zwerg in seine 18 Höhle zu folgen („Ich muz dy ebenture sehen / solde mir groz leyt geschen“, VV. 821 f.).

Noch vor dem Eintritt in die Höhlenwelt werden die Helden auf einen weiteren Anger geführt, der eine ebensolche imaginative Kraft besitzt wie der zerstörte Rosengarten: 19 Auch dieser Paradiesplatz ist ein synästhetisches ‚Kunstprodukt‘ , das seine Wirkung durch den Duft bestimmter Kräuter (V. 859–862), den Gesang der Vögel (VV. 863–870) und durch die einträchtig beisammenwohnenden Tiere entfaltet (VV. 871–874). Auch dieser Ort vereinnahmt den Betrachter und löscht seinen Kummer aus (wohl nicht zufällig mit denselben Worten beschrieben: „Der in solde sehen an, / der muste sin truren lan“, V V. 877 f.). Wieder könnte man, wie Dietrich, diesen Ort für das irdische

Paradies halten. Aber auch hier bleibt unsicher, ob nicht eine Sinnestäuschung vorliegt

(„Mich trugen den alle myne sinne und myne wise, / wir sint in dem paradyse“, VV. 881 f.), so dass Hildebrand warnt: „Ir sullint uwer sinne phlegen“ (V. 888). Erst in der Höhle erfährt man, dass Laurin ein Heide ist und seine Kunst damit tat- sächlich nicht in der göttlichen wîsheit wurzelt, die ihre Betrachtung bzw. synästhetische Konsumierung unbedenklich machen würde.20 Nun ist es aber vorerst zu spät: Das fol- gende Fest im Inneren des Berges, das letztendlich im Verrat gipfelt, ist ein Fest, das über die prunkvollen Edelsteine, das singen, sagen und videln sowie Speis und Trank, alle Sinne affiziert und die höchste synästhetische ‚Kunstform‘ darstellt. Auch hier muss man ‚al sin truren lan‘, und die Helden werden folgerichtig von der Fülle der ‚Bilder‘ ‚eingelullt‘, wofür der verabreichte Schlaftrunk nur die äußere Markierung darstellt (V. 1134).

Aber hier ist auch der Wendepunkt der Geschichte, da Künhilt eine Lösung gegen die imaginative Macht Laurins findet, indem sie das Licht im Berg löscht und das Ge- schehen ins Dunkel taucht (V. 1159). Da den Zwergen daraus kein Nachteil erwächst und lediglich die Helden auf verschiedene magische Gegenstände, die ihnen das Sehen wieder ermöglichen, angewiesen sind, macht dieses Abschalten des Lichts nur dann Sinn, wenn man Laurins Höhle als die Bild- und Imaginationsapparatur begreift, die sie ist: Der geschlossene Raum, der aus dem Inneren heraus erleuchtet wird, steht für

16 Hartmut Bleumer: Wer t, Variation, Interferenz: Zum Erzählphänomen der strukturellen Offenheit am Bei- spiel des Laurin. In: JOWG 14 (2003/2004), S. 109–127, hier S. 117. 17 hält Laurin gar für den Erzengel Michael (VV. 231–234), was angesichts der eben erfolgten ‚Paradies- zerstörung‘ deutlich macht, wie problematisch die Beurteilung des Gesamtsettings ist. 18 Vgl. Malcher (wie Anm. 144), S. 328. 19 Vgl. Meyer (wie Anm. 2), S. 251. 20 Dennoch ist dies nicht nur rückwirkende Legitimierung der Gartenzerstörung – dafür war allein die Indif- ferenz des Gartens und die damit einhergehende potentielle Gefahr ein hinreichender Grund. Der Herr der Bilder. Vorstellungslenkung und Perspektivierung im „Laurin“ 491

den durch das Augenfeuer illuminierten Innenraum der imaginatio als des ersten wahr- nehmenden Hirnventrikels; die diversen synästhetisch angesprochenen Wahrnehmungs- modi, die über die verschiedenen Künste beim Fest präsent gehalten werden, verwei- sen auf den sensus communis, das ‚Sinneswahrnehmungssammelbecken‘ als Teil dieser imaginatio.21 Laurins Höhle ist ein Imaginationsraum, ein Raum der Bilder bzw. einer Bilderflut, mit der er die Helden eingeschläfert hat. Um die Helden von der Macht dieser ‚Bilder‘ zu befreien, ist das Löschen des Lichts als ein Auslöschen dieser ‚Bilder‘

(sozusagen durch das Auslöschen des inneren ‚ Augenfeuers‘ innerhalb der riesigen Ima- ginationsapparatur der Zwergenhöhle) notwendig. Es geht dabei nicht um das Abschalten visueller Eindrücke, sondern um das Löschen von Vorstellungen, mit denen der Bilder- herr Laurin seine Gäste manipuliert.22

Laurins Macht über die ‚Bilder‘ ist nicht nur eine über die äußere Wahrnehmung – das würde den Bildbegriff zu eng fassen. Sie ist eine Macht über Vorstellungen. Der kaum drei Spannen messende Zwerg (V. 53), der so schmächtig wirkt, erweist sich als ein ‚großer‘ Gegner; er ist nur ein Schein-Zwerg. An ihm wenden und spiegeln sich fortwährend alle Vorstellungen und ‚Bilder‘, so dass der ganze Text von einer beständigen

Perspektivenbrechung geprägt ist, die zeigt, wie schwierig es ist, über Vorstellungen zu verfügen, weil sie sich als etwas Manipulierbares und Perspektivierbares erweisen.

II. Drei Blickwinkel – die Kämpfe im Rosengarten. Die anfangs gestellte Frage nach der Exzellenz Dietrichs wird im Laurin einem Spiel mit wechselnden Perspektiven unter- worfen, ganz im Rahmen einer Poetik, die sich grundlegend mit dem Schlagwort der

‚intensivierenden Variation‘ fassen lässt und bei der Probleme immer wieder neu auf- gegriffen oder aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet werden.23

Das Geschehen um Laurins Rosengarten wird zunächst von Hildebrand „als Aven- 24 tiure perspektiviert“ , wobei er die Aventiure-Parameter exakt zu benennen weiß:

21 Vgl. Björn Reich: Runkelstein – Streifzüge durch ein mittelalterliches Gehirn. In: E. Locher, H. J. Scheuer (Hrsg.): Archäologie der Phantasie. Vom ‚Imaginationsraum Südtirol‘ zur longue durée einer ‚Kultur der Phan- tasmen‘ und ihrer Wiederkehr in der Kunst der Gegenwart, Bozen 2012, S. 57–73, hier S. 61; Hans Jürgen Scheuer: Cerebrale Räume. Internalisierte Topographie in Literatur und Kartographie des 12./13. Jahrhunderts (Hereford-Karte, ‚Straßburger Alexander‘). In: H. Böhme (Hrsg.): Topographien der Literatur. Deutsche Lite- ratur im transnationalen Kontext, Stuttgart 2005, S. 12–36, hier S. 25, sowie: David C. Lindberg: Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler, Frankfurt a. M. 1987, S. 23 f.; Gérard Simon: Der Blick, das Sein und die Erscheinung in der antiken Optik. Mit einem Anhang: Die Wissen- schaft vom Sehen und die Darstellung des Sichtbaren, München 1992. 22 Auf der Handlungsebene wird der Nachteil, der den Helden durch die Dunkelheit entsteht, dadurch relati- viert, dass die Zwerge ohnehin als unsichtbare Gegner auftreten. 23 Im Gegensatz zum höfischen Roman, der die von der mittelalterlichen Poetik geforderte Bildintensität wesent- lich durch den Einsatz von deskriptiven Passagen, Erzählerkommentaren oder anderen, die narratio unter- brechenden Mitteln erreicht, ist die Heldenepik einem Ekphrasiskonzept verpflichtet, das auf dem Prinzip der dynamisierenden Wiederholung basiert (dazu grundlegend: Reich [wie Anm. 5]; vgl. Hildegard Elisa- beth Keller: Dietrich und sein Zagen im ‚Eckenlied‘ (E2): Figurenkonsistenz, Textkohärenz und Perspektive. In: JOWG 14 [2003/2004], S. 55–75, bes. S. 64–71). 24 Meyer (wie Anm. 2), S. 237. 492 Björn Reich

In deme Tyroldes tanne hat ez [Laurin] geheyt so zcarte eynen rosen garte. Daz dy mure solde sin, daz ist eyn vadin sidin. Wer yme den zcubreche, wye schire ez daz reche. Der muz yme laze swere phant, den rechten vuz, dy linken hant. (VV. 64–72)

Die anderen Figuren teilen Hildebrands Sichtweise aber nicht. Witege vertritt als zweite Perspektive die heldenepische Position: Er versteht den Prunk des Gartens nicht als ‚Aventiure-Installation‘, sondern als Provokation, als Zeichen für Laurins hoffart (V. 136).

Wo der Aventiureritter Wasser auf einen Brunnenrand gießt (Iwein), in ein Horn bläst (Garel) oder eben ein Seidenband durchtrennt, zerstört der heldenepische degen die ganze Anlage. Diese Zerstörung ist aus heldischer Sicht ein legitimes Mittel der Herausfor- 25 derung – ähnlich wie die Reizrede vor dem Kampf. Witege wird in seinem Verhal- ten daher auch nicht kritisiert, jedenfalls nicht von der neutralen Instanz einer Erzäh- lerfigur, sondern nur durch Laurin, der aber einen dritten Blickwinkel vertritt: Laurin argumentiert von der Position des Rechts aus. Das, was Hildebrand als Rosengarten- aventiure berichtet hat, ist für Laurin keine. Er sieht im Verhalten der beiden Recken lediglich eine Form des Landfriedensbruchs, der folgerichtig mit der dafür vorgesehe- 26 nen Strafe, dem Abschlagen von Hand und Fuß, zu bestrafen wäre. Wenn auch das Ergebnis aller drei Perspektiven (Aventiure, heldische Provokation oder Rechtsfall) das- selbe ist (es folgt der Kampf mit dem Zwerg), werden durch die unterschiedliche Per- spektivierung die Valenzen undeutlich, da der Leser nicht entscheiden kann, wer sich 27 hier ‚im Recht‘ befindet bzw. welche Vorstellung, welches ‚Bild‘ das richtige ist. Auffällig ist, dass Dietrich nach und nach alle drei Sichtweisen auf das Geschehen 28 teilt, ohne sich selbst klar zu entscheiden. Beim Aufbruch in Bern scheint er sich

25 Vgl. René Wetzel: Dietrich von Bern im Laurin (A) als Pendler zwischen heroischer und arthurischer Welt. In: JOWG 14 (2003/2004), S. 129–140, hier S. 133. Parallelen finden sich im Rosengarten D, wo der Mönch Ilsan beginnt, den Rosengarten Kriemhilds zu zerstören, weil er zu lange auf einen Kampfgegner warten muss (RosGD 428 f. In: Die Gedichte vom , hrsg. v. Georg Holz, Halle a. S. 1893). 26 Auf die ‚Seitenverkehrtheit‘ dieser Strafe verweist Bleumer (wie Anm. 16), S. 118. 27 Daher bleiben vereindeutigende Interpretationsversuche der Szene eher unbefriedigend. Mir scheint weder eine klare Schuldzuweisung à la ‚die Heldentölpel‘ (so Kern) haben keinen Sinn für ,höfische Kultur‘ mög- lich noch eine ‚Rechtfertigung‘ von Dietrichs Verhalten mit dem Argument, dass die Aventiure die Zerstö- rung des Rosengartens erfordere, ist doch für das Auslösen der Aventiure allein das Durchtrennen des Seiden- fadens ausreichend. Zur ersten Position vgl. Werner Hoffmann: Mittelhochdeutsche Heldendichtung, Berlin 1974, S. 212; Manfred Kern: Das Erzählen findet immer einen Weg. ‚Degeneration‘ als Überlebensstrategie der x-haften Dietrichepik. In: K. Zatloukal (Hrsg.): 5. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Aventiure-märchenhafte Dietrichepik, Wien 2000, S. 89–113, hier S. 95, 100; Uta Störmer-Caysa: Kleine Riesen und große Zwerge? Ecke, Laurin und der literarische Diskurs über kurz oder lang. In: Zatloukal (wie oben), S. 157–175, hier S. 172 f., zur zweiten Position vgl. Kerth (wie Anm. 2), S. 227, vgl. S. 229. 28 Das ist umso bedeutungsvoller, als die Erzähl-Perspektive natürlich Dietrich folgt. Es ist seine Geschichte. Wäre Laurin der Protagonist, läge eine Verteidigungs- und eine Untergangsgeschichte vor. Insofern ergäbe sich allein aus der Erzählperspektive viel deutlicher eine indirekte Wertung, wäre Dietrich nicht selbst so lange unentschieden, welche Position er einnehmen soll. Der Herr der Bilder. Vorstellungslenkung und Perspektivierung im „Laurin“ 493

Hildebrands Auffassung anzuschließen, der den Garten als aventiurehafte Bewährungs- 29 probe versteht; dort angekommen zerstört er jedoch mit Witege die Rosen. Schließlich schlägt er sich auf die Seite des Zwerges, indem er dessen Rechtsposition anerkennt und bereit ist, ihm suone zu leisten.30 Der folgende Streit zwischen Laurin und Diet- rich macht deutlich, dass selbst innerhalb einer Grundperspektivierung (Rosengarten- zerstörung als Rechtsfall) wieder neue Sichtweisen aufbrechen, wodurch die Proble- matik noch verschärft wird: Wieder lässt sich nicht entscheiden, ob Laurin oder Dietrich ‚im Recht‘ ist, „Laurin und Dietrich sind beide sowohl im Recht als auch im Un- recht“31, da beide aus ihrer Sicht korrekt argumentieren.32

Erneut wechselt die Perspektive, indem der Vertreter einer anderen Sichtweise zu

Wort kommt: Witege interveniert, weil sich vom heldischen Standpunkt aus nicht ver- stehen lässt, warum Dietrich den Kampf, den er doch suchte, nun vermeiden möchte. 33 Was herrscherpolitisch korrekt ist, ist unter heldischer Perspektive zageheit. Als Lau- rin nach dem Sieg gegen Witege sein Pfand einfordert, wird klar, dass er den Fürsten- status Dietrichs in keiner Weise anzuerkennen geneigt ist, so dass Dietrich gezwungen ist, seinerseits zum Kampf überzugehen, da „die Form der Strafe aus Dietrichs Sicht [!] 34 wiederum einen Rechtsbruch darstellt“ . Aber auch dieser Kampf klärt die Positio- nen nicht. Dass Dietrich Laurin nicht schonen will, lässt sich erneut als Rechtsbruch lesen,35 aber auch als legitime Rache für den aberkannten Fürstenstatus.36

Wichtig ist, dass alle – Laurin, Dietrich, Witege, schließlich auch Dietleip – von ih- rem Blickpunkt aus logisch argumentieren; die verschiedenen Perspektiven führen nur zu dem Problem, dass die Situation beständig Gefahr läuft, zu eskalieren. Der Text zeigt eindrücklich, wie Probleme aus der wechselseitigen Irritationssteigerung füreinander unverfügbarer Logiken entstehen, und er macht zudem klar, dass Bewertungen und damit

Heldentaten und die daraus resultierenden Vorstellungen, die letztlich die fama Diet- richs ‚bilden‘, abhängig von einer bestimmten Perspektivierung bleiben.

29 Inwiefern Dietrich an der Zerstörung des Gartens beteiligt ist, lässt sich nicht ausmachen: Witege wird als treibende Kraft beschrieben – aber Dietrich steigt immerhin mit vom Pferd (VV. 129 f.) und hindert Witege nicht an der Tat. 30 Dietrich versucht nicht einzuwenden, dass eine Aventiure-Installation vorliege und ein widersagen damit nicht notwendig sei, denn durch die Zerstörung des Gartens ist ihm diese Argumentationsmöglichkeit verstellt – die Helden haben den Rosengarten selbst nicht als Aventiureort behandelt. 31 Bleumer (wie Anm. 16), S. 118. 32 Für eine ausführliche Analyse der ganzen Szene vgl. ebenda, S. 116–118. 33 Wieder wird Witeges Position nicht kritisiert – der verlorene Kampf muss nicht als eine Art Strafe gelesen werden. Was auf der Handlungsebene geschieht, zeigt nicht per se die Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Argumentationspositionen. Witege verliert seinen Kampf nicht, weil er im Unrecht ist (genauso wenig wie im Recht), sondern schlicht, weil die Handlung diesen Kampfausgang fordert; schließlich ist es Dietrich und nicht Witege, der gegen Laurin seine Exzellenz beweisen muss. 34 Ebenda, S. 118. 35 Vgl. ebenda, S. 119; Meyer (wie Anm. 2), S. 247. 36 Laurin hat weder vom politisch-rechtlichen Standpunkt aus betrachtet einen Anspruch auf Schonung, da er zuvor Dietrichs Position als rechtsfähiger Fürst herabgesetzt hat, noch vom Standpunkt der Aventiurelogik aus, denn Laurin hat die Rosengartenaventiure zu einem Rechtsfall erklärt und ihr damit den Aventiurecharakter abgesprochen. 494 Björn Reich

III. Im Innenraum. Nur scheinbar eindeutiger sind daher die Positionen im zweiten

Handlungsabschnitt verteilt. Auf den ersten Blick stellt sich der Sachverhalt folgender- maßen dar: Der verräterische Zwerg und Frauenentführer Laurin wird von Dietrich besiegt, der sich damit als Held erweist. Aber diese Lesart ist eine vereinfachende, sche- 37 maorientierte. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass auch hier der Text keine klare

Binarität von Gut und Böse aufstellt. Schon die Künhilt-Entführung ist nur in Abhän- gigkeit von bestimmten Beurteilungsprämissen zu verstehen: Dietleip zeigt sich keinesfalls entsetzt, als er von der Entführung seiner Schwester hört und ist ohne Weiteres bereit,

Laurin als Schwager zu akzeptieren (VV. 680 ff.), wohl weil der Frauenraub aus heldi- scher Sicht als ‚schemagemäße‘ Brautwerbung lesbar ist, zumal die Frau gut behandelt und ihre Jungfräulichkeit nicht angetastet wird. Darüber hinaus ist Künhilt keineswegs allzu unglücklich im Reich des Zwergenkönigs, auch wenn sie aufgrund von Laurins Heidentum um ihre Befreiung bittet.38 Indem Dietleip seiner Schwester diese Befrei- ung zusichert, ohne überhaupt mit Laurin zu sprechen (immerhin ließe sich z. B. der 39 Religionsunterschied durch eine Taufe des Zwergenkönigs beseitigen ), ist im Grun- de er es, der zuerst das Treuebündnis bricht und zum Verräter wird – freilich nur zum 40 passiven, da seinen Worten keine Aktion folgt. Dass die Brautentführung nicht eindeutig zu beurteilen ist, liegt maßgeblich an Kün- 41 hilts Ambivalenz, und von daher erhält auch Laurins Verrat eine ambigue Wertung.

Der Bund der vier Parteien erweist sich von Anfang an als brüchig, weil Laurin gezwungenermaßen am gegenseitigen Treuegelöbnis partizipierte. Seine Position ist dort ist eine schwache, was sich daran zeigt, dass seine Sicht auf das Geschehen im Rosen- garten nicht anerkannt wird: Er erhält keine suone, so dass er sich mit Künhilt berät, wie er sich an Dietrich und seinen Gesellen rächen könne, um seine Ehre wiederher- zustellen.42 Künhilt steht nicht auf Seiten der Helden, sondern pflichtet dem Zwerg sogar bei, auch wenn sie zu moderater Rache rät:43

37 Dem zweiten Handlungsteil liegt strukturell das Befreiungsschema zu Grunde, gekoppelt mit dem Erzähl- schema der verräterischen Einladung. Dieses Schema, das Dietrich in die Position des Befreiers und Laurin in die des Verräters einschreibt, suggeriert eine klare Wertung, die im ersten Handlungsteil so nicht lesbar ist, weil das dort realisierte Herausforderungsschema strukturell wertfrei ist. Zu den verwendeten Erzählsche- mata vgl. Bleumer (wie Anm. 16), S. 112 f.; Joachim Heinzle: Überlieferungsgeschichte als Literaturgeschich- te. Zur Textentwicklung des Laurin. In: Kühebacher (wie Anm. 15), S. 172–191, hier S. 175; Wetzel (wie Anm. 25), S. 129. 38 Das Heidentum Laurins spielt nur in manchen Fassungen der Älteren Vulgatversion eine Rolle; in Hand- schrift L5 wird schlicht Heimweh als Grund für Künhilts Heimkehrwunsch angegeben: „Min lip ist ganczer freuden vol, / wan daz ich din inberen sol / und alle, die min mage sint, / do von ist min freude blint“ (L5 641–644). 39 Vgl. George T. Gillespie: Laurin. In: D. McLintock u. a. (Hrsg.): Geistliche und Weltliche Epik des Mittelalters in Österreich, Göppingen 1987, S. 107–117, hier S. 113; Hoffmann (wie Anm. 27), S. 213. Eine Zwergenehe wäre, wie auch Dietrichs Ehe mit bestätigt, durchaus denkbar (vgl. Meyer [wie Anm. 2], S. 252). 40 Ebenda, S. 253. 41 Ebenda, S. 247, 256. 42 „[. . .] da Dietrich nun einmal im Unrecht war (und es selbst zugegeben hatte!), suone nicht geleistet wurde und damit sogar seine Einkerkerung zumindest kein schlimmeres Unrecht als das Zerstören des Gartens be- deutet“ (ebenda, S. 253). 43 Vgl. Bleumer (wie Anm. 16), S. 122; Meyer (wie Anm. 2), S. 253. Der Herr der Bilder. Vorstellungslenkung und Perspektivierung im „Laurin“ 495

Sich an, hilt, din ere und volge myner lere: Leyge in sust eyne pin an, daz sy dich fort mit gemache lan. Du salt mir dez dine truwe gebe, daz du keyme tust an sine leben. (VV. 1096–1101)

Daran hält sich Laurin – und er agiert auch vorbildlich, als er versucht, Dietleip auf seine 44 Seite zu ziehen, da dieser als Schwager Verwandtenstatus genießt. Laurin wirkt insgesamt keineswegs wie ein bösartiger Verräter, schon deshalb nicht, weil das Thema des Verrats von Anfang an seltsam im Text changiert. Es ist durch die hervorgehobene Handlungs- 45 rolle Witeges ebenso präsent wie durch die Tatsache, dass Dietleips Schwester Künhilt in vielen Handschriften den Namen Kriemhilt trägt,46 so dass das Handlungsschema der verräterischen Einladung über den Eigennamen auf die Frau rückprojiziert wird. Dadurch 47 wird die Ambivalenz der Künhiltfigur verstärkt und der Zwerg entlastet. Auch wenn weder Witege noch Künhilt eine verräterische Handlung begehen, bleibt das Verrats- thema auf der Ebene der Namen doch latent vorhanden: Und was bedeutet schon Verrat in einem Text, der deutlich macht, wie schwierig, bisweilen unmöglich, richtiges Er- kennen und Beurteilen sind, wie sehr jede Wertung abhängig vom Standpunkt einer

Perspektive bleibt? Verrät nicht auch Künhilt den Zwerg, der ihr vertraut? Verrät ihn nicht Dietleip, der sein Verwandtschaftsverhältnis zu Laurin zuvor bekräftigt und noch nicht wieder aufgelöst hat? Ist Laurin ein Verräter oder hat er nicht Recht, wenn er suone für die Zerstörung seines Gartens fordert?

Es geht dem Text nicht darum, eine Antwort auf solche Fragen zu geben. Er macht vielmehr deutlich: Die Dinge, Bewertungen, Vorstellungen, ‚Bilder‘ sind nicht danach zu beurteilen, wie es ein Erzählschema oder eine Figurenerwartung suggerieren. Wo aber eine Handlung nur noch in Abhängigkeit von einer bestimmten Perspektive zu verstehen ist, lässt sich ein ‚Bild‘ nicht mehr ohne Weiteres bestimmen. Es läuft ins Leere – und zwar buchstäblich, denn der Bilderherr Laurin erzeugt bei den Helden sowohl durch die synästhetische Bilderflut ein Nicht-Sehen und Nicht-Erkennen als auch durch die Auslöschung von Bildern, wie das ständige Thema der Unsichtbarkeit (angefangen bei der Künhiltentführung und dem Rosengartenstreit bis hin zum Höhlenkampf ) zeigt. Da Laurin nicht zu ‚erkennen‘ und zu ‚beurteilen‘ ist, weil bei ihm ‚handelsübliche‘ Vorstellungen (und selbst Erzählschemata) nicht greifen, lässt sich auch Dietrich, dessen Exzellenz sich an seinem Gegner Laurin spiegeln muss,48 nicht exakt bestimmen. Denn

44 Ein Entscheidungsdilemma zwischen Verwandten- und Gefolgschaftstreue wird hier zumindest angedeutet: Nur weil Dietleip sich im Vorfeld bereits entschieden hat, Laurin nicht mehr als Verwandten, sondern als Entführer ‚anzusehen‘, lässt sich seine triuwe gegenüber Dietrich bruchlos rechtfertigen. 45 Gattungsgerecht wäre die Position des kampfhungrigen Begleiters mit Wolfhart zu besetzen. Witeges größere Rolle beansprucht damit durchaus Signalwirkung. Witege aber ist „auf der Folie der Dietrichepik eine proble- matische Figur als Verräter“ (Meyer [wie Anm. 2], S. 244). 46 In der Älteren Vulgatversion – etwa in den Hss. L7, L8, L9, L10, L13, L15 und L18 – taucht der Name in späteren Versionen regelmäßig für Dietleips Schwester auf (vgl. das Namenverzeichnis der Laurin-Ausgabe [wie Anm. 1], S. 427–458). 47 Vgl. Meyer (wie Anm. 2), S. 260. 48 Vgl. Bleumer (wie Anm. 16), S. 124. 496 Björn Reich

Laurin ist ein ‚blinder Spiegel‘, weil sich an ihm, als dem Herrn der Bilder alle Vorstel- lungen drehen und verkehren, weil die Heldentat unversehens zum Rechtsfall wird, ebenso wie eine Entführung als Brautwerbung erscheinen kann und umgekehrt.

IV. Einbruch der Bildlosigkeit. Zuletzt hat Dietrich natürlich gesiegt. Laurin, der Herr der Bilder, wird als goukelaere nach Bern gebracht. Der Anderwelt-Herrscher wird in die Gaukler-Halbwelt überführt. Aber der goukelaere ist kein zufälliges Hofamt. Er ist nicht nur Akrobat, Jongleur, Hofnarr und ioculator, sondern seiner Wortbedeutung nach auch ein Magier und damit jemand, der Illusion und Bildsteuerung beherrscht.49 Der Schluss zeigt damit einerseits eine Domestizierung der wuchernden Bilder durch Diet- rich an, indem er Laurin seinem Hof eingliedert. Gleichzeitig bleibt die Gefahr in Laurins

Stellung als goukelaere erhalten, selbst dort, wo die Domestizierung durch die Taufe des

Zwerges maximal vorangetrieben wird, wie in der Walberan-Version. Da wird von dieser latent verbliebenen Gefahr erzählt, denn wiederum gilt: Kaum ist ein Problem besei- tigt, tritt es als potenziertes erneut auf den Plan – hier in Form von Laurins Onkel. Im

Walberan werden die Probleme des Laurin – im Sinne der ‚intensivierenden Variation‘ als dem Grundprinzip heldenepischen Erzählens – noch einmal aufgriffen und gestei- 50 gert: Walberan verfügt über weit mächtigere ‚Bilder‘ als Laurin, so dass seine descrip- tio noch umfangreicher ausfällt. Und er bleibt noch schwieriger zu beurteilen, da er zwar wie Laurin Heide ist, aber tatsächlich aus dem irdischen Paradies stammt – kein

Wunder, dass er und seine Gefolgsleute für Engel gehalten werden (Walb. 2651 f.). Dem größeren Bildarsenal steht eine doppelt-codierte Bildauslöschung zur Seite: Das ganze Zwergenheer, das vor den Toren Berns wartet, ist mit Tarnkappen ausgerüstet und daher unsichtbar – und selbst ohne die Tarnkappen können die Zwerge nicht gesehen werden, weil der Glanz ihrer Edelsteine jeden Betrachter völlig blendet.51 Hier stellt sich Dietrichs Heldentum endgültig indifferent dar, denn der Ausgang des finalen

Kampfes mit Walberan bleibt offen, weil sich Walberan als so überlegen erweist, dass der Kampf abgebrochen wird. Aber eine solche Überlegenheit eines unverwundbaren

49 Zur Magie als Fähigkeit der Phantasmensteuerung vgl. Giorgio Agamben: Stanzen. Das Wort und das Phan- tasma in der abendländischen Kultur, Zürich, Berlin 2005, S. 162; Ioan Petru Culianu: Eros und Magie in der Renaissance, Frankfurt a. M., Leipzig 2001, S. 175 ff.; Kurt Goldammer: Der göttliche Magier und die Magierin Natur: Religion, Naturmagie und die Anfänge der Naturwissenschaft vom Spätmittelalter bis zur Renaissance, Stuttgart 1991, S. 8 ff.; Max Grosse: Die Ekphrasis im altfranzösischen Antikenroman. Magie und Darstellung statt Kunst und Beschreibung. In: C. Ratkowitsch (Hrsg.): Die poetische Ekphrasis von Kunstwerken. Eine literarische Tradition der Großdichtung in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit, Wien 2006, S. 97–132, hier S. 125; Bert Hansen: Science and Magic. In: D. C. Lindberg (Hrsg.): Sciences in the Middle Ages, Chica- go, London 1978, S. 483–506; Hans Ulrich Seeber: Magic and Literary Fascination. In: J. Mildorf u. a. (Hrsg.): Magic, Science, Technology, and Literature, Berlin 2006, S. 229–240, hier S. 229; Hans Jürgen Scheuer: Die Wahrnehmung innerer Bilder im ‚Carmen Buranum‘ 62. Überlegungen zur Vermittlung zwischen mediä- vistischer Medientheorie und mittelalterlicher Poetik. In: Das Mittelalter 8 (2003), S. 121–136, hier S. 136, Anm. 34. 50 Vgl. Björn-Michael Harms: Kleine Helden: Höfische Zwerge und unhöfische Ritter in der Walberan-Version des ‚Laurin‘. In: K. Meisig (Hrsg.): Ruhm und Unsterblichkeit. Heldenepik im Kulturvergleich, Wiesbaden 2010, S. 93–110, hier S. 106. 51 „[. . .] daz man von der stein prechen / die leut nicht wol mochte[ ] gesehen“ (Walb. 2655 f.; vgl. bereits Walb. 2567 ff.) Der Herr der Bilder. Vorstellungslenkung und Perspektivierung im „Laurin“ 497

Gegners steht normalerweise gerade am Wendepunkt der Kämpfe Dietrichs, an dem Moment, in dem sein zorn so groß wird, dass er beginnt, mit seinem Feueratem die gegnerische Rüstung zu schmelzen und sei sie auch aus Drachenhaut. Durch den ab- gebrochenen Kampf bleibt Dietrichs Heldentum im Walberan erneut ungreifbar und letztlich nicht auf eine einfache erzählerische Formel zu bringen.

V. Das Bild des Helden. Geht es im Laurin, wie im Grunde in allen aventiurehaften

Dietrichepen, darum, das ‚Bild‘ Dietrichs von Bern zu bestimmen, das am Anfang des Textes hinterfragt wird, so zeigt sich insgesamt, dass diese Bestimmung nicht eindeutig ist. Laurin, den Meister der Bilder, zu besiegen, heißt für Dietrich nicht nur, seine Kampf- kraft gegen einen wilden Klein-Gärtner zu demonstrieren (dazu ließen sich beeindrucken- dere Gegner finden). Es geht vielmehr um die Beherrschung von Vorstellungen: einerseits um die eigenen (als Domestizierung der Sinne und Affekte), andererseits um die ‚frem- den‘, um die Beurteilung Dietrichs bzw. um das, was von ihm geglaubt wird. Wenn Dietrich im Höhlenkampfteil gelingt, was ihm im Rosengarten noch nicht gelungen war, nämlich die Beherrschung seines Zorns als Zeichen für die Beherrschung der eigenen Sinne, dann mag er damit einen Teil seiner Exzellenz bestätigen. Der äußere Erfolg wird ja durchaus damit verbunden: Er kehrt als Sieger nach Bern zurück und hat seine fama, die ‚Vorstellungen‘ und ‚Bilder‘, die sich um ihn herum ranken, wieder einmal bestätigt. Indem er Laurin als den ‚Herrn über die Bilder‘ besiegt hat, ist er selbst zu einem ‚Herrn (kraft) der Bilder‘ geworden. Dietrich, der sich immer und immer wieder an seinem eigenen ‚Bild‘ abarbeiten, es immer wieder aufs Neue bestätigen muss, gewinnt ja letztlich seinen Ruf aus den Erzählungen, die über ihn kursieren – diesel- ben Erzählungen, die andererseits Erwartungen wecken und Dietrich zu immer neuen Kämpfen zwingen. Dieses Grundproblem der Dietrichfigur wird in Laurin personifiziert – der gouke- laere ist auch ein Geschichtenerzähler;52 er ist die dem Hof einverleibte personifizierte

Geschichte von Dietrichs Tat. Aber so wie jede Heldentat Dietrichs neue Probleme generiert, weil mit dem Anwachsen der fama neue Zweifel an Dietrichs Heldentum entstehen, stellt die Anwesenheit des goukelaeres genau jene Brüchigkeit der Dietrichs- fama aus, denn die Geschichten um Dietrich wuchern, die ‚Bilder‘ werden immer wieder zur Gefahr, so dass die Probleme nur verschoben, nie endgültig gelöst werden können. Auch das führt der Laurin eindrucksvoll vor: Zwar kann Dietrich den Rosengarten zerstören, aber sofort taucht das ‚Gesamtkunstwerk‘ Laurin selbst auf, und kaum ist der besiegt, befindet man sich am paradiesischen Anger, der schon nicht mehr ver- nichtet wird, um schließlich in der Halle der Zwerge als der am höchsten entwickelten

Phantasmenapparatur des Textes anzulangen. Der goukelaere bleibt, allen erfolgreichen

Kämpfen zum Trotz, präsent; das Problem ist allenfalls vordergründig aus der Welt.

Insgesamt funktioniert die aventiurehafte Dietrichepik ähnlich wie der Artusroman: Steht dort das immer wieder neu herzustellende Hofgleichgewicht im Zentrum des

52 Vgl. Tanja-Isabel Habicht: und Laurin – Zwerge in der mittelhochdeutschen Heldenepik oder die Gefahren der Kunst. In: S. Jefferis (Hrsg.): Intertextuality, Reception, and Performance: Interpretations and Texts of Medieval , Göppingen 2010, S. 279–289, hier S. 284 f. 498 Björn Reich

53 Erzählens, so geht es in der Dietrichepik stets um die Vorstellungen über Dietrich von Bern und die Rechtfertigung seiner Exzellenz. In beiden Gattungen bleibt die Pro- blemlösung am Ende fragil, das ‚Happy End‘ nur ein vorläufiges. Die Dietrichepik er- weist sich in der Konzeption dieses fragilen ‚Happy Ends‘ aber vielleicht als noch pes- simistischer als die arthurischen Texte. Hier wird noch deutlicher, dass Dietrich, wenn er sich stets neu beweisen muss, im Grunde gegen Windmühlen kämpft, dass Vorstel- lungen immer mächtiger sind als Taten, dass es – wie hier im Laurin – nicht genügt, einen Garten zu zerstören, um eine Aventiure zu bestehen und so zum Helden zu werden, weil hinter jedem Garten ein größerer liegt und weil im Laufe einer solchen Aventiure die Zwerge leicht noch zu Riesen werden.

Anschrift des Verfassers: Dr. Björn Reich, Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät II, Institut für deutsche Literatur, D–10099 Berlin,

53 Vgl. Reich (wie Anm. 6), S. 97–102; Katharina Philipowski, Björn Reich: Feen als Erzählfunktionen: Wie der Artusroman gegen sein Scheitern anerzählt. In: M. Przybilski, N. Ruge (Hrsg.): Fiktionalität im Artusroman des 13. bis 15. Jahrhunderts. Romanistische und germanistische Perspektiven, Wiesbaden 2013, S. 133–154.