DER DIGITALE OSTEN Das Erbe der DDR-Computerpioniere

Daniel Ebert Foto: Thomas Uhlemann © Bundesarchiv

„Gratulation an die Hauptstadt“: Anlässlich der 750-Jahr-Feier von 1987 stellte die Abordnung des Bezirks am 4. Juli beim Festumzug durch das Stadtzentrum Arbeitsplatzcomputer aus Sömmerda vor

34 DAS ARCHIV 3 l 2015 „Computertechnologie aus der DDR“ – für manche Menschen klingt das wie ein einziger Widerspruch. Doch tatsächlich gab es auch in der DDR Mikroelektronik und Computer, wenn auch nicht in dem Umfang und der Qualität wie im Westen. Zudem stellte die Mangelwirtschaft der DDR Wissenschaftler, Ingenieure und Unternehmer vor besondere Herausforderungen. Nach der Wiedervereinigung waren die ostdeutschen Computer-Betriebe weder national noch international konkurrenzfähig und wurden reihenweise geschlossen. Doch das Wissen der gut ausgebildeten Fachkräfte und damit auch viel Potenzial vor Ort waren vorhanden, und so konn- ten sich in einigen Regionen wieder Betriebe der Mikroelektronik und Computertechnologie ansiedeln. Inzwischen führen ostdeutsche Hightech-Cluster wie die Firmen des sächsischen Branchenverbands „Silicon Saxony“ das Erbe der DDR-Computerpioniere fort. Aus dem ehe- Zum Weltkommunikationsjahr maligen DDR-Leitspruch „Auferstanden aus Ruinen“ wurde das neue Hightech-Motto „Aufer- 1983 verausgabte die DDR standen aus Platinen“. spezielle Briefmarken. Anfang März zur Frühjahrsmesse Tatsächlich blickt die ostdeutsche Mikroelektronik und Computertechnologie auf eine frühe erschien die Marke mit dem Entwicklung von Weltniveau zurück. Bereits in den 1950er-Jahren entwickelte der Mathematik- Robotron-Mikrorechner. Im Professor Nikolaus Joachim Lehmann die Idee eines individuellen Schreibtischrechners und Vergleich zur westlichen Tech- baute an der TH/TU einen der weltweit ersten Transistor-Tischrechner; das war eine nologie lag das DDR-Rechen- technik-Kombinat Robotron Pionierleistung in der Entwicklung des Personal Computers. allerdings deutlich zurück Ab 1967 wurde das Gerät in der Größe eines Röhrenfernsehers in einer Auflage von 3 000 Exemplaren industriell gefertigt. Doch das Interesse an dem Bürocomputer blieb in der DDR aus. Auch die politische Führung erkannte dessen Bedeutung nicht und kürzte in den Folgejah- ren die Investitionen im Computer- und Mikroelektronik-Bereich. So wurde 1971 das Budget des Computer produzierenden Kombinats Robotron von 400 Millionen Mark auf 200 Millionen halbiert. Erst später, mit den sogenannten Mikroelektronik-Beschlüssen von 1976 und vor allem den CAD/CAM-Beschlüssen von 1984 zur Fokussierung auf digitale Schlüsseltechnolo- gien, kam es wieder zu einem Umdenken. Ab 1984 wurde dann die Digitalisierung in der DDR von der politischen Führung zum Prestigeprojekt und Staatsziel erklärt und stark vorangetrie- ben. Doch in den wenigen Jahren der drastischen Einsparungen hatte das Land den Anschluss an die rasante Computerentwicklung im Westen verloren. Seinen Teil zum Rückstand der DDR-Technologie trug außerdem das CoCom-Ostembargo der Westmächte bei, welches seit Beginn des Kalten Krieges galt. Das Embargo des Koordinierungsausschusses zur Kontrolle der Ostexporte galt für militärisch und strategisch nutzbare Industrieerzeug- nisse, und dazu zählten auch hoch- technologische Entwicklungen der Mikroelektronik und Com- putertechnologie. Trotzdem fan- den diese ihren Weg in die DDR – manchmal wie in einem Spio- nagekrimi. So schmuggelten die geheimen „Beschaffungsor- gane“ der Stasi Rechner aus den USA über illegale Wege unter anderem in die Robotron-Labore nach Dresden. Hier wurden die Rechner zerlegt, analysiert und durch Re-Engineering mit kleinen Änderungen nachgebaut. Der Das digitale Datenerfassungsgerät DEG Robo- Robotron RVS K 1840 basierte tron 1370 (um 1978) aus dem VEB Buchungs- maschinenwerk Karl-Marx-Stadt, dem heutigen

Foto: Thomas Uhlemann © Bundesarchiv zum Beispiel auf dem , unterstützte die aufwendige Koordinierung amerikanischen Vorbild eines des Vertriebs von Presseerzeugnissen in der gesamten VAX-Rechners. Doch letztendlich kam der DDR

DAS ARCHIV 3 l 2015 35 schrankgroße, millionenteure RVS K 1840-Superrechner nur in Kleinserie von ungefähr 200 Stück zur Produktion. Wie in vielen Bereichen waren auch in den Betrieben der Computertechnologie und Mikroelek- tronik die Auswirkungen der allgemeinen Mangelwirtschaft zu spüren, und die Produktion war fehlerhaft und viel zu teuer. Darunter mussten auch Prestigeprojekte wie die Eigenentwicklung des Megabit-Chips U61000 leiden. Zwar wurde 1988 der Prototyp des hochtechnologischen Das Kürzel MMM steht für die Mikrochips medienwirksam an Erich Honecker übergeben, doch die Probleme der Mangelwirt- Messe der Meister von Morgen, schaft erlaubten kaum eine Massenherstellung. einen Jugendwettbewerb in der Nicht nur die Herstellungskosten waren um ein Vielfaches teurer als bei der ausländischen Kon- DDR, der von 1958 bis 1990 jährlich stattfand. Vom Jugend- kurrenz, es funktionierte auch nur jeder fünfte Chip. Die Qualität und die Quantität der DDR- verband FDJ organisiert, sollte Rechnerproduktion blieben insgesamt unter den Erwartungen, und es wurden in erster Linie über den Wettbewerb vor allem gesellschaftliche „Bedarfsträger“ wie Betriebe, Schulen oder öffentliche Einrichtungen versorgt. das Interesse Jugendlicher für Technik und Wissenschaft geför- dert werden Datenverarbeitung und

Auch die Deutsche Post der DDR wurde teilweise mit Computerarbeitsplätzen ausgestattet, unter anderem mit dem Datenerfassungsgerät Robotron 1370, das in den Jahren 1978 bis 1986 in dem VEB Buchungsmaschinenwerk Karl-Marx-Stadt über 22 000-mal gefertigt wurde. Die 50 Kilo schwere Anlage war als fester Sitzarbeitsplatz konzipiert und umfasste neben dem Rechner eine Einbau-Tastatur, einen Bildschirm im Textmodus sowie Zusatzgeräte wie Dru- cker, Lochbandstanzer oder Magnetkassettenlaufwerk. Der Rechner diente vor allem der Verar- beitung von Bestellungen, Anmeldungen, Abbestellungen, Änderungen und sonstigen Daten im Postzeitungsvertrieb. Um die Logistik beim landesweiten Vertrieb von Presseerzeugnissen und dem Rundfunkdienst zu koordinieren, brauchte es EDV-Unterstützung. Die großen Datenmen- gen wurden dabei zentral verarbeitet; dafür schickten die örtlichen Dienststellen ihre Daten auf physikalischen Datenträgern wie Lochkarten, Lochstreifen oder Magnetkassetten täglich an die jeweilige Bereichszentrale. Zwar sollte in den 1980er-Jahren zur Datenübertragung auch eine Art Internet entwickelt werden, doch die mangelhaften Leitungen im Land machten eine stabile Verbindung unmöglich. So konnten die Daten nur postalisch auf Datenträgern verschickt wer- den, aber diese Datenträger waren rar in der DDR. Auch Desktop-PCs waren in der DDR vorhanden. Der Desktop-PC Robotron 1715 aus dem VEB Robotron Büromaschinenwerk Sömmerda galt nach seiner Einführung 1985 als Standard- computer der DDR – allerdings gelangte er höchstens über komplizierte Umwege in private Haushalte, denn im Einzelhandel war er nicht zu kaufen. Zudem ging fast die Hälfte der knapp 93 000 gebauten Exemplare direkt als Export in die Sowjetunion. Das Gerät wurde vor allem in

Mehr als 200 Seiten hatte der Katalog der Genex Geschenk- dienst GmbH, aus dem Bürger der Bundesrepublik Geschenke für Verwandte oder Freunde in der DDR bestellen konnten. Ohne lange Wartezeiten ge- langten Waren, darunter auch Fahrzeuge, Unterhaltungselek- tronik oder Computer, an die Empfänger

36 DAS ARCHIV 3 l 2015 Foto: Klaus Franke © Bundesarchiv Foto: Klaus Franke © Bundesarchiv

Im September 1988 wurden die ersten in der DDR hergestellten 1-Megabit-Speicherschaltkreise dem Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, von einem Kollektiv der Carl Zeiss Jena übergeben. Anwesend waren außerdem Günter Mittag, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED (2. v.r.), Felix Meier, Minister für Elektrotechnik/Elektronik (4. v.r.) und Generaldirektor Prof. Dr. Wolfgang Bier- mann (2. v.l.), Mitglied des ZK der SED

staatlichen Betrieben, Behörden und Hochschulen eingesetzt; dort mussten sich mehrere Nutzer ein Gerät teilen und sich dafür rechtzeitig in einen Zeitplan eintragen. So war die Bezeichnung „persönlicher Computer“ oder „Personal Computer“ für die kollektiv genutzten Arbeitsplatz- computer eigentlich unzutreffend. So schwer es war, an Ostrechner zu kommen, es war nicht weniger schwer, an einen der von vie- len DDR-Computerfans bevorzugten Westcomputer zu kommen. Zum Zwecke der fortschreiten- den Digitalisierung der DDR duldete die politische Führung allerdings den illegalen Import von Heimcomputern. Geschätzte 200 000 Commodores, Sinclairs und Ataris passierten bis zum Ende der DDR die innerdeutsche Grenze – gelegentlich im Gepäck von West-Omas. Auf dem Schwarz- markt wurden bis zu 40 000 Ost-Mark für Computer geboten. Das war weit mehr, als ein gebrauchter Trabi kostete, und für die meisten Ostbürger unerschwinglich. Offiziell waren die

DAS ARCHIV 3 l 2015 37 Heimrechner auch für harte D-Mark als Geschenk aus dem Westen über den Genex-Katalog erhältlich. Die Geschenkdienst- und Kleinexporte GmbH, kurz Genex, war bereits 1956 auf Anordnung der DDR-Regierung gegründet worden und diente als wichtige Devisenquelle der Kommerziellen Koordinierung, einer Abteilung des Ministeriums für Außenhandel der DDR. Über den Geschenkdienst konnten Westverwandte Produkte vom Schokoriegel über den Compu- ter bis hin zum kompletten Haus für ihre Ostverwandten kaufen. Die bestellten Artikel wurden auf direktem Weg an die Empfänger in der DDR geschickt und mit West-Mark bezahlt. In der Zeit nach der Maueröffnung setzte in West- und Ostdeutschland wie in vielen Teilen der Welt die gesamtgesellschaftliche, massenhafte Verbreitung des Computers ein. Der Windows- basierte PC setzte sich ab Mitte der 1990er-Jahre durch, und andere Systeme wie Atari, Amiga oder der C 64 verschwanden vom Markt. Die Verkaufszahlen stiegen in dem Jahrzehnt rapide an, von weltweit wenigen Millionen auf mehr als 100 Millionen pro Jahr. Die Entwicklung in Ost- und Westdeutschland verlief nun parallel, denn den Nutzern im Osten gelang es schnell, 1983 hatte die Bundespost sich mit den neuen Rechnern und Systemen vertraut zu machen. den Kommunikationsdienst Btx gestartet. Die Übertragung von Vernetzte Systeme Daten erfolgte dabei über das Telefonnetz, die Darstellung am Fernsehapparat, am PC-Monitor Den größten Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland hatte es in puncto Vernetzung oder über ein spezielles Btx- gegeben. Die Verbindungen im alten DDR-Netz waren unzureichend und instabil, und erst Gerät. Unter anderem waren durch den umfangreichen Netzausbau in den Jahren nach der Wiedervereinigung entstanden die Versandhändler wie Otto, Quelle oder Neckermann registriert und nötigen Glasfaser-Verbindungen in ausreichender Menge und Qualität. Daher hatten die Com- hatten ihre Angebote „online“ puternutzer in der DDR vor der Wende keine Erfahrung mit Online-Diensten, während im Westen seit 1983 mit dem Bildschirmtext (Btx) von der Deutschen Bundespost ein zentraler Online-Dienst angeboten wurde (nicht zu verwechseln mit dem Fernseh-Videotext). Btx ermöglichte Anwendungen, die wir heute aus dem Internet kennen, wie beispielsweise Online- banking, Bestellseiten oder Nachrichtendienste. Der von der Post in den 1980er-Jahren erwar- tete Erfolg blieb allerdings aus, statt der erwarteten Millionen Nutzer waren es 1989 nur 150 000, vielen waren die Anschaffungskosten und Gebühren einfach zu hoch. Neben einem Anschluss brauchten die Nutzer für den Btx-Online-Dienst spezielle Computer­ decoder, Btx-taugliche Fernsehgeräte oder Btx-Kombigeräte, die Telefon und Bildschirm zu einem neuen Kommunikationsmittel verbanden. Alternativ gab es öffentliche Btx-Terminals in Telefonzellen-Größe. Die Steuerung, Navigation und Nutzung auf den Btx-Seiten war außer mit einer Computer-Tastatur auch mithilfe der Telefon­ tastatur mit Sternchen und Raute möglich. Die Seiten waren zentral zwischengespeichert und über Nummern abrufbar, ähnlich wie herkömmliche Telefonanschlüsse. Auch die Steuerung auf der Seite selbst funk­ Dass Btx sich letztlich nicht tionierte über Zahlenkombinationen. durchsetzen konnte, lag unter Der erste Btx-Anschluss im Osten wurde anderem an den hohen Kosten. nach dem Mauerfall 1990 im Rahmen Geräte wie das Loewe-Multitel- D waren teuer, dazu kamen die eines Pilotprojekts von Swetlana Wehnert monatliche Grundgebühr, eine von Astoria-Reisen in Betrieb genommen. Anschlussgebühr und die Kosten Nach den Einschränkungen der Reisefrei- für das Einstellen der Seiten zügigkeit in der DDR war der Wunsch zu reisen bei vielen Menschen jetzt umso größer. Um den Ansturm zu bewälti- gen, war die Möglichkeit der Direkt- buchung über Btx eine große Entlas­ tung. Heute buchen viele Kunden ihre Reise im Internet selbst.

38 DAS ARCHIV 3 l 2015 Weltweit stiegen in den 1990er- COMPUTERVERKAUF WELTWEIT Jahren die Verkaufszahlen für Computer exponentiell an

Zur Zeit der Wiedervereinigung war Btx in Deutschland das führende Online-System, und in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre stiegen die Nutzerzahlen noch an. Danach aber wurde das System vom World Wide Web abgelöst. Das World Wide Web war eine Nebenentwicklung der Europäischen Organisation für Kern- forschung, dem sogenannten CERN. Der Mitarbeiter Tim Berners-Lee erarbeitete ein Kon- zept, um den Kollegen das Arbeiten und Vernetzen über die Länder- und Systemgrenzen hin- weg zu erleichtern. 1991 stellte er das World-Wide-Web-Projekt ohne jegliche Patentierung oder Lizenzierung zur freien Verfügung und startete damit nicht nur eine Kommunikati- onsrevolution, sondern gab den Anstoß zum Wandel der Gesellschaft. Heute gehört das Internet in Deutschland – wie fast auf der ganzen Welt – zum mobi- len Alltag. Die Investitionen im Bereich des Netzausbaus zu reduzieren, wie es in der DDR in den 1970er-Jahren für die Computertechnologie geschah, das kann sich heute kein Land und kein Unternehmen erlauben. Heute entstehen auch im Osten der Repu- blik, dort, wo einst nach der Wende Computer- und Mikroelektronik-Betriebe schließen mussten, digitale Industriezentren. Mit Unternehmen der Berliner Start-up-Szene „Silicon Das Computerspiel Aufschwung Allee“ oder dem sächsischen Branchenverband „Silicon Saxony“ wird die ostdeutsche Compu- Ost von 1993 ist ein Wirtschafts- tergeschichte weitergeschrieben. simulations-Spiel, mit dem man die Infrastruktur in den neuen Bundesländern verbessern und die Zufriedenheit der Bevölkerung Literatur erhöhen kann Lutz Heuser, Heinz Life: Kleine Geschichte vom Kommen und Gehen des Computers, Bonn 2010 Gerhard Merkel: Zur Industriegeschichte der Stadt Dresden von 1945 bis 1990. VEB Kombinat Robot. Sitz Dres- den. Ein Kombinat des Ministeriums für Elektrotechnik und Elektronik der DDR, Dresden 2005 Jens Schröder: Auferstanden aus Platinen: Die Kulturgeschichte der Computer- und Videospiele unter besonde- rer Berücksichtigung der ehemaligen DDR, Stuttgart 2010

Daniel Ebert ist wissenschaftlicher Volontär im Museum für Kommunikation Berlin. Er hat Kultur und Technik an der BTU Cottbus und Communication and Cultural Management an der Zeppelin University Friedrichshafen studiert. Sein Forschungsschwerpunkt liegt bei den digitalen Medien

DAS ARCHIV 3 l 2015 39