WALTER KÖPPING Zukunftsaspekte der Energiewirtschaft

Im Jahre 1958 ging für Deutschland das „Kohlezeitalter“ zu Ende. Seit dem Beginn der Industrialisierung war in der Energiewirtschaft die Kohle dominierend gewesen. In der Bundesrepublik deckte 1950 die Kohle (Steinkohle wie Braunkohle) noch 90 vH des Energiebedarfs. 1958 aber wurden 14 Millionen t Kohle auf Halden genommen, der Steinkohlen- bergbau ging zu Feierschichten über und er verhängte eine Einstellungssperre; eine ölwoge begann sich über den deutschen Energiemarkt zu ergießen. 1963 wurde der westdeutsche Energieverbrauch nur noch zu 64 vH von der Kohle gespeist (davon 50 vH Steinkohle, 14 vH Braunkohle). Dafür war der Erdölverbrauch auf 81,2 Mill. t SKE 1) angestiegen. Er hatte sich damit seit 1950 (6,5 Mill. t SKE) verzwölffacht. Das Erdöl bedrängt die Steinkohle nicht allein auf dem Brennstoffmarkt — auch in der chemischen Industrie dringt das Öl immer weiter vor: 1950 hatte der Anteil der Petrochemie an der gesamten chemischen Produktion 15 vH betragen, 1960 erreichte er bereits 50 vH.

Vergleicht man diese beiden Bilanzen, dann erkennt man den grundlegenden Wandel, der sich innerhalb von 14 Jahren vollzogen hat. Besondere Beachtung verdient die Tatsache, daß wir 1950 mehr Energie erzeugten als verbrauchten: damals hatten wir

1) SKE = Steinkohleneinheit. Alle Energieträger werden dabei auf den Heizwert der Steinkohle (7000 Kcal/kg) umgerechnet. Braunkohle hat einen Heizwert von 2100 Kcal/kg, Holz 3500 Kcal/kg, Erdöl 10 000 Kcal/kg, Erdgas 9500 Kcal/je Kubikmeter, Wasserkraftstrom 2S00 Kcal/kWh.

523 WALTER KÖPPING einen Überschuß von 13 vH aller verfügbaren Energie. Das brachte damals wertvolle Devisen. 1963 jedoch konnte die Eigenerzeugung den Verbrauch nur noch zu 78 vH decken. Auch künftig muß mit einem weiteren Ansteigen der Energieeinfuhren gerechnet werden. Unsere Energiewirtschaft bringt uns keine Devisen mehr, sie kostet uns Devisen: 1963 mußten rund 2 Md. DM für die Energie-Importe aufgewendet werden. Wir stehen hinsichtlich der deutschen Energieversorgung nicht vor der Alternative: Kohle oder Öl?, sondern vor der Alternative: einheimische Energie oder importierte Energie? Wir haben große Kohlenvorkommen im Lande, jedoch nur ganz geringe Erdölvorräte.

Wie weit reichen die Energie-Vorräte?

Die Welt-Energiewirtschaft weist drei besondere Merkmale auf: 1. Der Energieverbrauch erhöht sich rasch und mit zunehmendem Tempo. 1860 betrug der Weltverbrauch 150 Mill. t SKE, 1900: 777 Mill. t SKE, 1913: 1399 Mill. t SKE, 1961: 4780 Mill. t SKE und 1963: 5300 Mill. t SKE. In den letzten 15 Jahren hat sich der Verbrauch verdoppelt. 2. Es vollzog sich ein Strukturwandel, der Kohleverbrauch nahm relativ ab, der Erdöl- verbrauch wuchs absolut und relativ. 1860 betrug der Kohleanteil 95 vH, 1963 nur noch 46 vH. 3. Der Energieverbrauch verteilt sich sehr ungleichmäßig auf die einzelnen Staaten: 1959 verbrauchten die USA 32 vH der Weltenergie (bei nur 7 vH der Erdbevölkerung), die UdSSR verbrauchte 15 vH, Großbritannien 6 vH, die Bundesrepublik 4 vH. Den Entwicklungsländern mit 69 vH der Erdbevölkerung standen lediglich 8 vH der Energie zur Verfügung. Diese Kluft zwischen den „Überfluß“-Ländern und den „Mangel“-Ländern wird nicht kleiner, sondern immer breiter. Das ist nicht allein ein wirtschaftliches Problem, es ist eine der großen politischen Fragen unserer Epoche. Die Welt-Kohlenförderung ist ständig im Anstieg. Sie wuchs von 1950 auf 1963 um volle 70 vH. Die Kohlenkrise mit der Folge einer Förderdrosselung ist auf Westeuropa beschränkt. 1963 wurden in der Welt insgesamt 2160 Mill. t Steinkohle und 274 Mill. t SKE Braunkohle gewonnen. Noch rascher erhöhte sich die Erdölförderung. Sie stieg um 150 vH, von 522 Mill. t (1950) auf 1305 Mill. t (1963). Und wir gehen einer gewaltigen Ausweitung der Energiewirtschaft entgegen. 1860 entfielen bei einer Erdbevölkerung von 1,27 Md. je Kopf 0,12 t SKE an Energie, hundert Jahre später standen den 3 Md. Menschen je Kopf durchschnittlich 1,6 t SKE Energie zur Verfügung. Bis zum Jahre 2000 dürfte der Verbrauch je Kopf auf etwa 5 t SKE ansteigen (es gäbe dann keine „Entwicklungsländer“ mehr). Die Erdbevölke- rung dürfte im Jahre 2000 mindestens 5 Md. betragen, so daß sich ein Energieverbrauch von 20 bis 25 Md. t SKE jährlich ergibt. Das sind gigantische Mengen. Und angesichts dieser zu erwartenden Verbrauchssteigerung erhebt sich die Frage: Reichen dafür die Energiequellen unseres Planeten aus? Die fossilen Energieträger (Kohle, Erdöl, Erdgas) sind eine einmalige, unersetzliche Naturgabe, sie sind eine Mitgift für die Menschheit, die die Natur in mehr als 100 Millionen Jahren aufgebaut hat. Wir haben die Pflicht, haushälterisch mit dieser kostbaren Gabe umzugehen, wir dürfen nicht unsere Verpflichtung kommenden Generationen gegenüber vergessen. Die Schätzungen über die Energievorräte der Erde weichen vielfach voneinander ab. Augenblicklich betragen die sicheren Erdölvorräte 40 Md. t. Beim jetzigen Verbrauchs- stand würden diese Vorräte in weniger als 40 Jahren aufgezehrt sein. Allerdings wurden immer neue Vorkommen entdeckt, so daß die Zahl 40 Md. provisorisch ist.

524 ZUKUNFTS ASPEKTE DER ENERGIEWIRTSCHAFT Die Steinkohlenvorräte werden von Fachleuten auf 880 Md. t (bis zu einer Tiefe von 1200 m) geschätzt. Andere Schätzungen gehen darüber hinaus, Nedelmann nennt 5000 Md. t, Jong gar 11 000 Md. t. 2) In einem sind sich jedoch alle Fachleute einig: die Kohlenvorräte übertreffen die Erdölvorräte um ein Vielfaches. Bei den Vorräten ist das Verhältnis Kohle — Öl 88:12; im Verbrauch haben wir heute ein Verhältnis von 52:48. Und bald wird wohl mehr Erdöl als Kohle verbraucht werden. Aber dennoch wird es nie ein „Erdöl-Zeitalter“ geben, so wie es einst ein „Kohle-Zeitalter“ gab. Dafür reichen die Ölvorräte einfach nicht aus. Und dann wird ja einmal die große Zeit der Kernenergie kommen ...

Die Zukunft der deutseben Energiewirtschaft

Ein amerikanischer Erdölexperte, Walter J. Levy, erstellte 1961 ein sehr interessantes Gutachten über „Lage und Entwicklungstendenzen des Weltölmarktes in ihrer Aus- wirkung auf die Energiepolitik Westeuropas, insbesondere der Bundesrepublik“. s) Er errechnete, daß sich das Sozialprodukt der Bundesrepublik bis 1975 verdoppeln, während der Energieverbrauch um rund 50 vH steigen dürfte (die Zunahme wird als Folge des Rückgangs des spezifischen Energieverbrauchs nicht dem Wachstum des Sozialprodukts folgen). 4) Levy erwartet für 1975 einen Energieverbrauch von 325 Mill. t SKE. Diese Schätzung dürfte zu niedrig liegen, denn allein in den hinter uns liegenden fünf Jahren erhöhte sich der westdeutsche Energieverbrauch um mehr als 50 Mill. t SKE. Wenn wir für die nächsten zehn Jahre einen möglichen Zuwachs von 100 Mill. t SKE ver- anschlagen, dann ergibt sich, daß 1975 mehr als 350 Mill. t benötigt werden. Aber selbst wenn wir Levys Schätzung als gegeben nehmen, dann muß man sich fragen: Aus welchen Quellen sollen die 325 Mill. t kommen? Nur ein ganz geringer Teil wird auf Kernenergie entfallen, die deutsche Ölgewinnung ist kaum weiter auszudehnen — und der deutsche Bergbau, die einzige bedeutende einheimische Energiequelle, sieht sich jetzt sogar neuen Zechenschließungen gegenüber. Es müßte also in den Jahren bis 1975 eine gewaltige Steigerung der Energieimporte vorgenommen werden. Das kostet sehr viel Devisen, und ein zu großes Maß Einfuhrabhängigkeit gefährdet die Sicherheit der Energieversorgung. Alle Voraussagen über die künftige Entwicklung der Energiewirtschaft wurden durch die Wirklichkeit in den Schatten gestellt. Das gilt für alle Prognosen der Montan- union und der EWG aus den letzten Jahren. Besonders drastisch ist die Fehleinschätzung vom Dezember 1962, einer Untersuchung der Hohen Behörde der „Langfristigen energiewirtschaftlichen Aussichten der Europäischen Gemeinschaft“: Für 1965 wird in dieser Studie ein westdeutscher Energieverbrauch in Höhe von 239 Mill. t SKE an- genommen. In Wirklichkeit wurde diese Marge bereits 1963 übertroffen (249 Mill. t SKE). Auch alle Voraussagen der Ölindustrie über die Entwicklung dieser Industrie in der Bundesrepublik, über Raffinerieausbau und Ölverbrauch, erwiesen sich als zu niedrig. 1961 schätzte die Ölwirtschaft den westdeutschen Ölbedarf für 1963 auf 41,1 Mill. t; tatsächlich wurden 57,5 Mill. t verbraucht. 1962 wurde — wie sich jetzt zeigt — wiederum eine falsche Rechnung aufgemacht: Der Ölverbrauch sollte 1964 auf 50 Mill. t steigen, es werden jedoch mindestens 66 Mill. t werden. Alle Angaben der Ölwirtschaft über den Ausbau der Raffinerien wurden übertroffen. Anfang 1963 gab es in der Bundesrepublik Raffinerien mit einer Kapazität von

2) Die Kohlenvorräte des Ruhrreviers bis 1200 m Teufe reichen für mehr als 300 Jahre (bei jetzigem Förderstand). 3) Joh. Heider Verlag, Bergisch Gladbach 1961. 4) Siehe dazu den Abschnitt „Immer bessere Nutzung der Energie*.

525 WALTER KÖPPING 52 Mill. t, die Ölwirtschaft erwartete damals einen Ausbau bis Ende 1966 auf 72 Mill.t. 8) Inzwischen wurden jedoch viele neue Projekte in Angriff genommen, so daß Ende 1966 eine Raffineriekapazität von über 92 Mill. t zu erwarten ist. Und auch das ist, nach allen Erfahrungen, lediglich eine vorläufige Ziffer. Dieser stürmische Ausbau der Ölwirtschaft in der Bundesrepublik bringt den Steinkohlenbergbau in schwere Bedrängnis. So dürfte in den kommenden Jahren das Angebot an Heizöl rascher steigen als der gesamte Energieverbrauch. Das wird zu Lasten des Kohleverbrauchs gehen. „Zur Zeit geht die Substitution so schnell vor sich, daß die Zunahme des Gesamtenergie- bedarfs die Abnahme des Kohlebedarfs nicht verhindern kann.“ 6)

Es kommt auf den Wert der Energie an, nicht auf den Preis

Die Marktwirtschaft erweist sich im Hinblick auf die Energieversorgung als untaugliches Mittel. „Energie ist kein Produkt, sondern Voraussetzung für alle Produkte“ (E. Schu- macher, London). Energie ist das Blut der modernen Wirtschaft, eine ständige und ausreichende Energieversorgung muß sichergestellt sein. Im Hinblick auf Energie besteht Versorgungspflicht. Man darf getrost die Energieversorgung als eine Art öffentlicher Dienstleistung bezeichnen, ähnlich der Ausstattung einer Gesellschaft mit Verkehrswegen, Schulen, Krankenhäusern. Der Gefahr eines schwankenden Angebots, die bei Markt- wirtschaft stets gegeben ist, darf die Energieversorgung nicht ausgesetzt werden. Zudem ist das Angebot an Energie weitgehend unelastisch, da es von naturbedingten Faktoren bestimmt wird. 7) Und auch die Nachfrage nach Energie ist im wesentlichen unelastisch. Unter diesen Bedingungen können die Marktgesetze keine Wirkung haben. Zudem wird der Energiemarkt zu großen Teilen von Konzernen und Syndikaten beherrscht. Die ErdÖlwirtschaft der westlichen Welt befindet sich unter der Kontrolle der sieben großen Konzerne. Standard Oil (Esso) erzielte 1963 einen Umsatz von 44,5 Md. DM und einen Reingewinn von 4,1 Md. DM. Mit solchen Riesen kann nicht der in über 50 Gesellschaften zersplitterte Steinkohlenbergbau der Bundesrepublik in Konkurrenz- kampf treten. Die Lohnkosten in der Ölwirtschaft sind niedrig, sie betragen bei der Raffinerie 4 vH der Gesamtkosten. Demgegenüber liegen die Lohnkosten im Stein- kohlenbergbau zwischen 50 und 60 vH der Gesamtkosten. Auf diese Fakten müßte eine Energiewirtschaftspolitik eingestellt sein. Aber man gibt in Westeuropa der Marktwirtschaft den Vorzug. Dabei gibt es selbst in den USA massive staatliche Eingriffe zum Schutz der einheimischen Energiegewinnung (so ist beispielsweise die Einfuhr von Erdöl kontingentiert). Somit ist der westeuropäische Markt der einzige liberalisierte Energiemarkt der Welt. Kein Wunder, daß die Über- produktion von Erdöl sich gerade auf diesen Markt ergießt. Politik treiben heißt Vorsorge für die Zukunft treffen. Das fehlt bei der deutschen Energiewirtschaftspolitik. Eines kurzfristigen Vorteils willen, den die augenblicklich niedrigen Heizölpreise bieten, nimmt man langfristige Schäden und Verluste in Kauf. Schachtanlagen, die stillgelegt werden, kann man nicht wieder (oder nur mit enormen Investitionen) neu in Betrieb nehmen. Man dürfte die Preise für Energie nicht über- bewerten, zumal diese sich rasch ändern können. Man sollte sich auf den Wert der Energie besinnen, besonders auf den Wert der Energien, die wir im Boden unter unseren Füßen haben. „Idealisten kennen sich in den Werten aus, Zyniker hingegen in den Preisen“, hat Oscar Wilde einmal gesagt. Von dieser Erkenntnis ausgehend, muß man sagen, daß die Energiewirtschaft Westeuropas von zuviel Zynismus erfüllt ist. Niemand

5) Petroleum Press Service (deutsche Ausgabe), Juni 1963. 6) von Bandemer/Ilgen, Probleme des Steinkohlenbergbaus, Tübingen 1963, S. 11. 7) Die Kohlenförderung kann nicht kurzfristig erhöht werden. Der Bau einer modernen Schachtanlage erfordert eine Zeit von acht bis zehn Jahren.

526 ZUKUNFTS-ASPEKTE DER ENERGIEWIRTSCHAFT hat das Recht, Naturgaben zu gefährden oder zu zerstören, weil das einen vorüber- gehenden Preisvorteil bringt. Wir laden den Fluch kommender Generationen auf uns, wenn wir uns nicht des Wertes der Bodenschätze und unserer Verantwortung den Kin- dern und Enkeln gegenüber bewußt sind. An die Stelle privatwirtschaftlicher Rentabili- tätsrechnung muß eine gesamtwirtschaftliche Kostenrechnung treten.

Ist der Bergbau ein sterbender Wirtschaftszweig?

Im Jahre 1958 setzte die Kohlenkrise ein, die Halden wuchsen auf fast 18 Mill. t, es wurde eine Einstellungssperre verhängt, und Dr. Burckhardt sprach damals das böse Wort, daß es 100 000 Bergleute zuviel gäbe. Inzwischen hat der Steinkohlenbergbau rund 200 000 Beschäftigte verloren (1957 gab es insgesamt 604 027 Beschäftigte, Mai 1964 nur noch 412 035). Somit scheint der Vorsitzende des Unternehmensverbandes Ruhrbergbau recht behalten zu haben. Mitnichten. Denn seine Worte und die zur gleichen Zeit verfügte Einstellungssperre hatten gefährliche psychologische Auswirkun- gen. Es mußte der Eindruck entstehen, der Bergbau sei ein sterbender Wirtschaftszweig. Heute, im Zeichen des Mangels an Bergleuten, bemüht man sich nach Kräften, diesen Makel wieder abzuwaschen. Von 1957 bis zum Sommer 1964 wurden 35 Schachtanlagen mit einer Jahresförde- rung von 15,8 Mill. t stillgelegt. Weiter stillgelegt wurden 16 Kokereien mit 6,4 Mill. Tonnen pro Jahr. Dem Bergbau fehlt es an Facharbeitern und an jungen Arbeitern. Ende 1959 gab es im westdeutschen Steinkohlenbergbau 34 149 Berglehrlinge. Im April 1964 waren es nur noch 3614. Der Bergbau benötigte im Frühjahr dieses Jahres 7000 Berg- lehrlinge, aber im April 1964 kamen nur 663. Die Fluktuation hat zu einer Überalterung der bergmännischen Belegschaft geführt: 1958 waren 56 vH der Beschäftigten 35 Jahre oder jünger, Ende 1963 waren es nur noch 46 vH der Beschäftigten. Gerade bei einem solchen Beruf mit großen körperlichen Anforderungen muß das alarmierend sein. Die Leistung je Mann und Schicht ist gestiegen: 1957 förderte der Bergmann unter Tage 1585 kg Steinkohle je Schicht, im März 1964 aber 2635 kg. Dabei spielt die Rationalisierung und Mechanisierung im Bergbau eine große Rolle. 1951 wurde der größte Teil der Steinkohle noch von Hand gewonnen, der Anteil der mechanisierten Gewinnung betrug damals 23 vH. Heute kommen mehr als 70 vH der Kohle aus mechanisierten Betriebspunkten. Der Bergbau wird immer mehr zu einem technisierten Betrieb. Dabei werden andere, höhere Anforderungen an den Bergmann gestellt. Es genügt nicht mehr, daß der Bergmann einen „starken Arm“ hat. Unter diesen ver- änderten Bedingungen stellt es für den Bergbau eine besondere Belastung dar, daß gerade viele junge und gut ausgebildete Bergarbeiter den Bergbau verließen, weil sie entweder kein Vertrauen mehr zum Bergbau hatten oder weil ihnen andere Industrien bessere Arbeitsbedingungen boten. Der Nachwuchs für den Bergbau setzt sich zu einem immer höheren Anteil aus Schulentlassenen zusammen, die nicht das 8. Volksschuljahr erreichten. Nicht weniger problematisch ist angesichts des Wandels in der Bergbau- technik die zunehmende Zahl von Gastarbeitern unter Tage (jetzt fast 20 000). Die Zukunft des Bergbaus hängt entscheidend davon ab, ob ihm qualifizierte Arbeitskräfte in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen oder nicht. Aber die Zukunft hängt von weiteren wesentlichen Faktoren ab: Der Bergbau muß modernisiert und neugeordnet werden. Bergassessor Heinz Harnisch schrieb in „Glück- auf“ (18. Dezember 1963), daß die gegenwärtige Förderung von durchschnittlich 4460 t täglich je Schachtanlage bei weitem nicht ausreiche, um den Steinkohlenbergbau auf die Dauer wettbewerbsfähig zu erhalten. Harnisch empfiehlt die Schaffung von Groß- schachtanlagen mit 10 000 bis 15 000 t Förderung täglich. Die notwendigen Maßnahmen

527 WALTER KÖPPING dürften dabei nicht durch Eigentumsverhältnisse oder durch die Grenzen der Unter- nehmen beschränkt werden. Heinz P. Kemper vom Vorstand der M.-Stinnes-AG erklärte, daß aus den 50 Zechenunternehmen der Ruhr zehn oder noch besser fünf große und leistungsfähige Gesellschaften gebildet werden müßten. Die Zukunft des Steinkohlenbergbaus hängt davon ab, ob es zu seiner Neuordnung kommt oder nicht. Das heutige organisatorische Gewand des Bergbaus stammt aus dem 19. Jahrhundert. Die Überführung des Bergbaus in eine gemeinwirtschaftliche Ordnung, für die der DGB und die IG Bergbau und Energie eintreten, würde zur Lösung der großen Bergbaufragen der Gegenwart und Zukunft entscheidend beitragen.

Die dynamische, aggressive Ölindustrie

Daß Kohle und Öl im Konkurrenzkampf miteinander liegen, ist für uns eine junge Erfahrung. Viele Jahrzehnte herrschte Mangel an beidem. Kohle und Öl waren einst gute Nachbarn, von denen keiner in den Garten des anderen einstieg. Die Kohle ver- sorgte den Brennstoffmarkt, das Öl den Markt der Treibstoffe für Vergasermotoren. Die Ölindustrie ist viel jünger als der Kohlenbergbau. 1859 gelang in den USA die erste fündige Bohrung. Die Erfindung des Kraftwagens Ende des 19. Jahrhunderts bestimmte zunächst den Weg der Ölwirtschaft. Die Raffinerien entwickelten kostspielige Verfahren, um aus dem Erdöl möglichst große Mengen Treibstoffe zu gewinnen und den Heizölanteil und den Anteil anderer schwerer Stoffe möglichst gering zu halten. So lag der Heizölanteil bei deutschen Raffinerien vor zwölf Jahren bei 15 vH. Das änderte sich, als riesige neue Erdölvorkommen entdeckt und ausgebeutet wur- den. Die Ölindustrie begann, die Heizölausbeute zu vergrößern, und heute werden aus- gesprochene Heizölraffinerien gebaut, bei denen der Anteil des Heizöls bis zu 70 vH beträgt. Das führte zum Konkurrenzkampf auf dem Brennstoffmarkt. Das Öl ist über den Zaun gestiegen, es will im Garten der Kohle ernten. Die Kapazität der deutschen Raffinerien betrug 1950 4,2 Mill. t, Ende 1963 war sie auf 63 Mill. t gestiegen, Ende 1966 werden es mehr als 90 Mill. t sein. Einst lagen die Raffinerien an den Küsten. In den letzten Jahren wurden die meisten Werke im Binnenland gebaut. In Süd- deutschland gab es 1962 noch keine einzige Raffinerie, 1963 betrug die Kapazität im süd- deutschen Raum bereits 14 Mill. t, Ende 1966 werden es dort mehr als 40 Mill. t sein. Der Ölverbrauch stieg von 6,5 Mill. t SKE auf 81,2 Mill. t SKE (1950 auf 1963). Dieser Verbrauchsanstieg wurde vorwiegend aus importiertem Öl gespeist. Die einheimische Förderung deckte den Verbrauch 1950 noch zu 25 vH, 1963 nur noch zu 13 vH. Dafür erreichte die Rohöl- einfuhr 1963 40,4 Mill. t, wobei vorwiegend Öl aus dem Orient kam. Stärker noch als der Verbrauch an Erdöl wuchs der Verbrauch an Heizöl. Die jährlichen Zuwachsraten liegen bei etwa 30 vH. 1950 wurden 0,39 Mill. t Heizöl in der Bundesrepublik verbraucht, 1957 5,3 Mill. t und 1963 30,6 Mill. t. Eine unbekannte Größe ist für uns noch immer das Erdgas. Es hat in anderen Staaten große Bedeutung erlangt. Wahrscheinlich wird man unter der Nordsee große Erdgasvorkommen entdecken. Damit würde ein neuer Abschnitt in der Geschichte der deutschen Energiewirtschaft beginnen.

Immer bessere Nutzung der Energie

Die Kohle bekommt den Konkurrenzdruck des Erdöls zu spüren. Das erklärt nur zum Teil die Schwierigkeiten, denen sich der Bergbau gegenübersieht. Nicht weniger als die

528 ZUKUNFTSASPEKTE DER ENERGIEWIRTSCHAFT Substitution durch Öl bekommt der Bergbau die Auswirkungen der technischen Ver- besserungen auf dem Gebiet der Energieumwandlung und der Energienutzung zu spüren. Dieser Rückgang des spezifischen Energieverbrauchs hat allein in den Jahren zwischen 1950 und 1959 einen Absatzrückgang für die Steinkohle in Höhe von 54 Mill. t SKE verursacht. 8) Hier einige Beispiele: Zur Erzeugung von 1 kWh Strom wurden benötigt 1913 1300 g Steinkohle 1948 650 g Steinkohle 1960 440 g Steinkohle 1962 388 g Steinkohle Das Kraftwerk in Stockum bei Hamm arbeitet mit einem Kohleeinsatz von nur 310 g für 1 kWh. Einst galt die Faustregel, daß man zur Erzeugung von 1 t Roheisen 1 t Koks benötigte. Der spezifische Koksverbrauch ist inzwischen auf rund 0,7 t zurückgegangen. Bei der Salzgewinnung in den Salinen wurden beim Pfannenverfahren 600 kg Steinkohle zur Erzeugung von 1 t Salz benötigt. Durch das moderne Vakuum-Verfahren wurde der Kohleverbrauch auf 60 kg reduziert. Gewaltige Energieeinsparungen bringt die Umstellung der Bundesbahn auf elektrischen Betrieb. Der Wirkungsgrad bei einer Dampflok liegt bei 6 bis 7 vH am Zughaken, bei der E-Lok wird ein Wirkungsgrad von 20 bis 24 vH erreicht. Dieser drastische Rückgang des spezifischen Verbrauchs ist eine relativ neue Erschei- nung. Von 1900 bis 1950 entwickelten sich Sozialprodukt und Energieverbrauch parallel zueinander. In den Jahren seit 1950 waren für eine einprozentige Steigerung des Sozialprodukts nur 0,7 vH mehr Energie erforderlich. „Die jährlichen Energieeinspa- rungen betragen 3,5 vH“, stellte Dr. von Ludwig fest, so daß „bei einer jährlichen Zunahme der Industrieproduktion von 3,4 vH keine Steigerung der industriellen Energienachfrage eintreten würde.“ 8) Und die Steinkohle ist der schwächste, der nachgiebigste Faktor unserer Energiewirtschaft. Der Rückgang des spezifischen Energie- verbrauchs geht fast allein zu Lasten der Kohle. Es erhöhten sich von 1950 auf 1963 das Sozialprodukt (real) um 147 vH der Energieverbrauch um 98 vH der Steinkohlenverbrauch um 26 vH der Erdölverbrauch um 1147 vH Der Absatz von Steinkohlen hat lediglich bei der Versorgung der Kraftwerke zu- genommen — alle anderen Verbraucher nehmen heute weniger Steinkohlen ab als 1956. Elektrizitätswirtschaft 1956 1963

Verbrauch von Steinkohlen 11,1 Mill. t 16,6 Mill. t Stromerzeugung (in Md. kWh) 87,8 Mill. t 147,3 Mill. t Eine Leistungssteigerung von 69 vH wurde mit einem Mehreinsatz von Kohlen von lediglich 50 vH erzielt. Eisenschaffende Industrie 1956 1963

Verbrauch von Kohle/Koks 26,2 Mill. t 22,5 Mill. t Roheisenerzeugung 20,6 Mill. t 22,9 Mill. t

8) Siehe: „Erdöl, Erdgas, Petrochemie“, März-Heft 1962. 8) In einem Referat auf der 31. Arbeitstagung des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität Köln im April 1960,

529 WALTER KÖPPING Eine Leistungssteigerung von 11 vH wurde bei einer Minderabnahme von Kohle/ Koks von 14 vH erreicht. In wachsendem Maße wird veredelte Energie benötigt, Auch das hat einen Rück- gang des spezifischen Verbrauchs zur Folge und es zwingt den Bergbau, künftig nicht allein Primärenergie, sondern mehr und mehr Sekundärenergie anzubieten:

Anteile am Energieverbrauch der Montan-Union: 1920 1950 1958

Primär-Energie 67,7 vH 42,3 vH 36,4 vH Sekundär-Energie 32,3 vH 57,7 vH 63,6 vH

Ausblick

Die Energiewirtschaft befindet sich in einer stürmischen Entwicklung und im Wandel. Die Ölindustrie bedrängt besonders in Westeuropa den Kohlenbergbau. Technische Ver- besserungen und neue Verfahren bewirken einen Rückgang des spezifischen Energie- verbrauchs. Das wird auch morgen so sein. Die Atomwirtschaft steckt noch in den Kinderschuhen. „Nach vorsichtiger Schätzung der künftigen Entwicklung wird man davon ausgehen können, daß um die Mitte der siebziger Jahre die installierte Kernkraftwerksleistung im Bundesgebiet bei mindestens drei Mill. und höchstens fünf Mill. Kilowatt und die jährliche Stromerzeugung der Kernkraftwerke zwischen 20 und 30 Md. Kilowattstunden liegen wird. Der untere Wert entspricht in der Größenordnung etwa der Stromerzeugung aus Wasserkraft für das Jahr 1975.“ 10 ) Die Atomenergie wird in naher Zukunft nur einen kleinen Teil des wachsenden Energiebedarfs decken können. Für die Kohle bedeutet das für lange Zeit keine Gefahr. Eines Tages wird man zur Thermofusion gelangen, der direkten Umwandlung der Kernenergie in elektrischen Strom (ohne Umweg über Dampfkessel und ohne bewegliche Teile). Aber auch dann würde Kohle für den Verhüttungsprozeß, für Farbstoffe, Kunst- stoffe, Medikamente u. a. unersetzlich bleiben. Sicher wird man künftig neue Formen der Energiegewinnung entwickeln, wie Brennstoffelemente, Gewinnung elektrischen Stroms auf kaltem Wege, Sonnenöfen, Gezeitenkraftwerke, Tiefenkraftwerke zur Nutzung der Erdwärme, usw. Wer einen noch tieferen Blick in die Zukunft tun will, dem sei das erregende Buch von Arthur C. Clarke „Im höchsten Grade phantastisch“ (Econ-Verlag) empfohlen. 11 ) Heute wie morgen aber ist die Kohle unentbehrlich. Die gewaltige Steigerung des Energieverbrauchs wäre nicht zu bewältigen, wenn wir die Kohle vernachlässigen wür- den. Es gilt, alle Energieträger zu nutzen. Dabei ist es aufschlußreich, daß man sowohl in den USA wie in der UdSSR mit einer Verdopplung des Kohlenverbrauchs bis 1980 rechnet. Will man in Westeuropa das Gegenteil tun, die Kohlenförderung reduzieren? Das wäre unverantwortlich, das würden wir eines Tages bereuen müssen und das würde uns teuer zu stehen kommen.

10) Dr. Wolfgang Finke in: Energie für die Welt von morgen. „Der Volkswirt“, Beiheft vom 3, Juli 1964. 11) Siehe dazu den Aufsatz von Alfred Horne\ Gewerkschaftliche Monatshefte, Mai 1964.

530 REINMAR CUNIS Demokratisierung in der Bundeswehr

Die ersten Aufregungen, die der Bericht des Wehrbeauftragten Hellmuth Heye ver- ursacht hatte, haben sich wieder gelegt. Nun erinnert man sich, daß dieses Gewitter nicht ohne Vorwarnungen losgebrochen war: So formulierte der Vorgänger Heyes, von Grol- man, 1959 einen ersten sehr vorsichtig gehaltenen Bericht, der dem damaligen Bundes- verteidigungsminister Strauß genügte, nicht nur die darin aufgeworfenen Fragen vor dem Verteidigungsausschuß einzeln zu zerpflücken, sondern in den Reihen der CDU/CSU auch wieder eine Diskussion über die neue und offenbar unbequeme Einrichtung des Wehrbeauftragten anzuregen. Dieser „Aufpasser“ war 1956 gegen den Willen der Regierungspartei im Grundgesetz verankert worden, weil die Zustimmung zu den verfassungsändernden Wehrgesetzen der sozialdemokratischen Opposition nur um den Preis abzuringen gewesen war, einen bundesrepublikanischen „Militieombudsman“ zu institutionalisieren. Der SPD-Abgeordnete hatte aus seiner Emigrationszeit in Schweden diese Idee mitgebracht: Dort gibt es seit 1915 den Wehrbeauftragten — eine feste Einrichtung eines demokratischen Staates, der bereits 1809 zur Überwachung der Gerichte und der zivilen und der militärischen Verwaltung einen „Ombudsman“ berufen hatte. l) . Man erinnert sich auch verschiedener Vorkommnisse, die mit dem „zu schnellen Aufbau“ der Bundeswehr begründet wurden und die den neuen Verteidigungsminister von Hassel bei seiner Amtsübernahme veranlaßten zu sagen, die Armee bedürfe nun erst einmal einer Zeit der Besinnung, in der sie sich konsolicheren solle. Einen der schwerwiegendsten Fälle haben wir noch gut im Gedächtnis, nämlich den Fall der Nagolder Ausbildungskompanie 6/9. Diese Affäre veranlaßte damals Heye festzu- stellen, die politische Führung der Bundeswehr habe die ursprünglich gut entworfenen Grundsätze der Inneren Führung nur halb verwirklicht. Er machte begründete und wohlfundierte Verbesserungsvorschläge, die von dem früheren Bundeswehr-General- inspekteur Foertsch kurz als „undurchführbar“ abgetan wurden. Man hatte sich unermüdlich bemüht zu wiederholen, daß die diskutierten Ereignisse in Nagold Ausnahmen gewesen seien. Foertsch hat den klassischen Ausspruch vom „Saustall der Bundeswehr“ getan und damit klarmachen wollen, daß es sich sich hier um Extremfälle gehandelt habe, die in anderen Kasernen nicht vorkommen würden. Und doch war der „Fall Nagold“ symptomatisch: Symptomatisch insofern, als hier die Grundfragen einer demokratischen Armee sichtbar wurden. „Demokratisierung“ ist eigentlich ja nur eine Parole — eine „Aufforderung, in be- stimmter Richtung zu gehen“, wie es der Schweizer Militärsoziologe Rolf Bigler for- mulierte. 2) „Aber wie weit?“ fragt Bigler weiter. „Bis zur Angleichung der Offiziers- uniformen an die Mannschaftskluft? Bis zur Nivellierung der Führerauslese oder noch weiter, bis zur Einführung demokratischer Einrichtungen?“ Und er bestätigte dem Schweizer Militärwesen: „Wenn nicht alles trügt, ist der Armee die Demokratisie- rungskur gut bekommen.“ Der deutsche Wehrbeauftragte Heye hat sich nicht damit begnügt, seinen diesjährigen Bericht dem Parlament zu überreichen. Er glaubte, es sei „fünf Minuten vor zwölf“ für die Armee. Damit sein Alarm nicht von der Öffentlichkeit ungehört verhallte, entschloß er sich, in einer Illustrierten zum Thema zu sprechen. Man hat diesen unge- wöhnlichen Schritt zum Anlaß genommen, vom Inhalt abzulenken, und schließlich

1) Vgl. Fritz Bauer: Brauchen wir einen Ombudsman? in: GM, 4/1964, S. 227 ff. 2) Rolf Bigler: Der einsame Soldat. Frauenfeld 1963, S. 71.

531 REINMAR CUNIS begann man, daraus eine Waffe gegen den Wehrbeauftragten zu schmieden. Besonders scharf äußerte sich der oberste Chef der Bundeswehr, der Verteidigungsminister von Hassel: Heye habe mit seinen Äußerungen der Bundeswehr einen schweren Schaden zugefügt. Er sagte es nicht zuerst zum Parlament und auch nicht zum Wehrbeauftragten, sondern Kieler Hausfrauen erfuhren, daß Heye der Vorwurf treffe, das Gespenst einer reaktionären Armee in der Bundesrepublik an die Wand der Innenpolitik und der Außenpolitik gemalt zu haben: „Derartige Vorstellungen müssen scharf zurückgewie- sen werden.“ Der Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, Karl Gumbel, nannte Heyes Vorwürfe schlicht „völlig unbegründet“, und der Generalinspekteur Heinz Trettner erließ einen Tagesbefehl an die Bundeswehr, in dem von „der Stunde der Anfechtung“ die Rede war. Ob man nur von einem „Formfehler“ sprach, der Heye „unterlaufen“ sei, als er seine Ansicht gleichzeitig in einer Illustrierten der Öffentlichkeit zugängig machte, ob man annahm, Heye sei „übers Ziel hinausgeschossen“, ob seine Vorwürfe „grobe und unzulässige Verallgemeinerungen“ genannt wurden oder ob kurzweg von „verfehlt“ und „völlig unbegründet“ gesprochen wurde — die massive Breitseite, die auf Heyes „Schuß vor den Bug“ antwortete, läßt in der deutschen Bevölkerung die Meinung auf- kommen, daß Heye sich doch wohl geirrt habe, daß „alles nicht so schlimm“ — kurz, daß es um die Armee wohlbestellt sei und daß einzelne Vorkommnisse nicht zu generalisierenden Äußerungen verleiten dürften. Innerhalb der Bundeswehr scheint das Urteil über Heyes Bericht bereits gefällt: Seine Schlüsse beruhten auf etwa 5000 Beschwerden — eine viel zu kleine Stichprobe sagt man, um derart verallgemeinern zu können! Staat im Staate? Lächerliche Vorstel- lung. Heyes Bericht sei lediglich geeignet, dem Ungehorsam Tür und Tor zu öffnen. Die Bundeswehr stehe fest zu den Grundsätzen der Inneren Führung. Ist aber wirklich innerhalb der Bundeswehr die Meinung so ungeteilt? Wie war denn die Reaktion unter den Offizieren, den Unteroffizieren und in den Mannschaften, als die Prozesse in Calw das Tagesgeschehen in der Nagolder Kompanie deutlich machten? Viele Offiziere, die empört waren über die Haltung der verantwortlichen Vor- gesetzten, konnten andererseits nur zu gut den Kompaniechef Schallwig verstehen, der wie alle Kompaniechefs über zu wenige und oftmals unbegabte und schlechte Ausbilder und Hilfsausbilder verfügte, wo er selbst noch weiterer Ausbildung bedurft hätte. Sie wissen aus eigener Erfahrung, was es heißt, nach zu kurzer, oft zu ober- flächlicher und gerade nur vom technischen Standpunkt aus vertretbarer Ausbildung zum Chef über 120 Mann zu avancieren, wobei man einerseits der Dienstaufsicht genügen will, andererseits eine umfangreiche Verwaltungsarbeit bewältigen soll — und das fällt vielen „guten Soldaten“ schwer! — und schließlich auch noch Lehrgänge besuchen, den Vorgesetzten auf Reisen begleiten und die eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten vervollständigen muß. Der Dienst umfaßt die fast doppelte Stundenzahl eines zivilen Arbeitnehmers und läßt kaum Zeit zur Besinnung. Man muß außerdem bedenken, daß Unverheiratete oft in der Kaserne wohnen. Ein „Privatleben“ gibt es dann nicht mehr. Viele freiwillige Soldaten auf Zeit, die sich auf zwei, drei oder sechs Jahre ver- pflichtet haben, und die entsetzt waren über jene gleichaltrigen Hilfsausbilder, die sich in Calw zu verantworten hatten, fühlten ein Unbehagen, wenn sie an ihren eigenen Dienstbetrieb dachten: Nur wenige Monate im Dienst, Lehrgänge, Ausbildung als Hilfsausbilder — und dann haben sie sich gegen Gleichaltrige oder Ältere durchzusetzen, mit denen sie oft zusammen auf einer Stube liegen, und denen sie nichts voraushaben als die Bereitschaft, Hilfsausbilder zu sein, und denen sie nicht selten in Schulbildung und sozialer Schichtzugehörigkeit unterlegen sind. Welche Mittel stehen ihnen zur Ver- fügung, wenn sie keine begabten „Führernaturen „ oder talentierte Pädagogen sind?

532 D E M O K R AT I S I E RU N G IN D E R BUNDESWEHR Viele Wehrpflichtige, die man vor allem in den ersten drei Monaten, der Grund- ausbildung, zum Wechsel vom „W 18“ zum Zeitsoldaten zu bewegen sucht, und die trotz finanzieller Besserstellung, trotz Vermehrung von Ausgangs- und Urlaubszeit nicht wechseln wollen, erinnerten sich an ihre Hilfsausbilder und deren vorwiegende Auf- gabe: die „Formalausbildung“. Man nannte das früher kürzer und klarer „Drill“, und während er früher erklärtermaßen dazu diente, dem Zivilisten die „höchste Tugend des Soldaten“ einzuexerzieren, nämlich den unbedingten Gehorsam, dient die Formal- ausbildung heute dem „Gemeinschaftsgeist“, der „körperlichen Lockerung“ und der „Erziehung zum verantwortungsbewußten Soldaten“, Diejenigen Wehrpflichtigen, die sich über ihr Soldatspielen Gedanken machen und die einerseits die Notwendigkeit einer Armee einsehen, andererseits aber auch mit Recht ihre Wehrpflichtzeit als ein persönliches Opfer betrachten, verstehen diese „Beschäftigungstherapie“ nicht. Sie ver- stehen nicht, warum sie z. B. Stunde um Stunde Gleichschritt üben sollen, denn sie mei- nen, im Ernstfall hänge der Einsatz nicht vom rhythmischen Bewegen der Stiefel ab. Sie verstehen, daß Erziehung zur Sauberkeit manchem von ihnen gut tut, aber sie ärgern sich mit Recht, wenn sie nach dem Wartungschenst am Lkw oder am Panzer, nach der Reinigung der Waffen oder anderen schmutzigen Arbeiten mit der bei den Ausbildern so beliebten Ausgangssperre bestraft werden, weil auf ihrem Koppel ein Ölfleck zurückgeblieben ist. Die jungen Soldaten — ob Freiwillige oder Wehrpflichtige — sind bereit, jede Härte und jede Entbehrung auf sich zu nehmen, wenn sie den Sinn der Ausbildungsmethode verstehen können. In der Formalausbildung jedoch sehen sie wenig Sinn. Sie empören sich, daß das Zeitopfer, das sie dem Wehrpflichtgesetz des Staates bringen, so vergeudet wird. Heyes Sorge ist offenbar tiefer gegründet als nur auf das Fazit aus rund 5000 Be- schwerden von Soldaten. Er hat sich umgesehen, er hat mit vielen Wehrpflichtigen und mit vielen hohen Offizieren gesprochen. Und da er es ernst nimmt mit seinem parla- mentarischen Auftrag als „Militieombudsman“, hat er seinen Sorgen Ausdruck gegeben: „Keine Beruhigung ist... eingetreten in der geistigen Auseinandersetzung um die Frage, ob die Grundsätze der Inneren Führung richtig sind. Die Diskussion um diese Grundsätze ist mit einer Heftigkeit entbrannt, wie dies bisher nicht bekannt war, . . Die Grundsätze der Inneren Führung, die unerläßliche Voraussetzung für guten Geist und strenge Disziplin einer schlagkräftigen, modernen Truppe sind, werden von ihren Gegnern, die den Wesensgehalt dieser Grundsätze völlig verkennen, als zu weich, für die Truppenpraxis ungeeignet und als bloße Konzession an den Zeitgeist abgetan ... Ein weiteres Problem ist im Berichtsjahr deutlich geworden: Es ist zu begreifen, wenn Vorgesetzte den Soldaten das Gefühl des Zusammenhalts und des Stolzes auf ihre Truppe zu vermitteln wissen. Bedenklich erscheinen aber Heranbildung und Pflege eines Überlegenheitsgefühls, das sich ausschließlich auf die Zugehörigkeit zu einer Sondertruppe gründet. Ein solches ,Elite“'-Bewußtsein wäre isolationistisch und ist schon im Hinblick auf das moderne Kriegsbild, das jeden Soldaten und jeden zivilen Bürger in vergleichbaren Gefahren zeigt, überholt.“ Er hat damit nur maßvoll angedeutet, wohin sich die bundesdeutsche Armee ent- wickeln kann, wenn jetzt nicht ernsthaft an die Verwirklichung der Grundsätze der Inneren Führung herangegangen wird, und wenn man nicht schließlich noch über diese Grundsätze hinaus zu einer neuen, wirklich demokratisch strukturierten Armee gelangen will.

II

Die politische Situation, in der die Bundeswehr entstanden war, enthielt von vorn- herein Chance und Gefahr für diesen Weg: Die Chance, einen Start einer wirklich demokratischen, von aller militaristischen Tradition unbelasteten Wehr sorgfältig zu planen ohne Rücksicht auf Bestehendes; die Gefahr, infolge der militärpolitischen Zu-

533 R E I N M AR C U N I S

spitzung des kalten Krieges zu schnell ein 500 000-Mann-Heer auf die Beine stellen zu müssen, das nicht sorgfältig genug ausgewählt, geschult und in der demokratischen Ordnung des jungen Staatswesens verankert werden könnte. War angesichts dieser Gefahr die „Chance des Nullpunktes“ überhaupt noch eine echte Chance? Konnte sie überhaupt noch genutzt werden, auch wenn wir damals einen weniger dynamischen, ehrgeizigen und machthungrigen Verteidigungsminister als Franz Joseph Strauß gehabt hätten? Die Schöpfer der Grundsätze der Inneren Führung, ihnen voran Graf Bauchssin, wurden hinweggelobt und kaltgestellt. Das Tempo, mit dem die Bundeswehr aufgebaut wurde, ließ es opportun erscheinen, auf „Bewährtes“ zurückzugreifen, ohne den neuen Ideen direkt eine Absage zu erteilen, die von Graf Kielmannsegg, damals Mitarbeiter der Dienststelle Blank, bereits 1952 als „aus einem Antikomplex entstanden“ bezeichnet worden waren. Der erste Bundesminister der Verteidigung, , formulierte in einer Erklärung am 27. Juni 1955 seine Gedanken über die zukünftige westdeutsche Armee: „Wir wollen Streitkräfte in der Demokratie, die sich dem Vorrang der Politik fügen. Sie sollen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit achten, die staatsbürgerlichen Grundrechte und Grundpflichten ernst nehmen und die Würde des Menschen anerkennen . .. Die Armee darf kein Staat im Staate sein.“ Hier wird deutlich, welche Sorge mitschwang, und von hier aus sind Heyes Bemerkungen zu verstehen. Man sollte sie nicht dazu benutzen, den wichtigsten Angelpunkt parlamentarischer Kontrolle, den Militieombudsman, lahmzulegen, denn damit wäre niemandem gedient außer den Ewig-Gestrigen, die das Militär als Selbstzweck ansehen und nicht als ein ständig an die politischen, sozialen und technischen Gegebenheiten anzupassendes Instrument der Verteidigung. Jetzt ist der Augenblick, wo man sich auf die strukturellen, innerbetrieblichen Probleme besinnen und sie einmal grundsätzlicher durchdenken sollte. Eine Armee kann nur an ihrer Leistung gemessen werden. Ihre innere Ordnung, ihr Rekrutierungsprinzip und ihre technische Ausrüstung sind nicht Dinge, die sie „an sich“ zu einer „höheren Art gesellschaftlicher Organisation“ machen, sondern die der Effizienz dienen sollen. Nur für die extremen Formalisten, die noch heute glauben, erst in der Armee werde der Mensch zu etwas Höherem erzogen, geht der Zauber von einer Disziplinvorstellung aus, die „die ganze Seele der Armee“ (Moltke) ausmachen soll. Die Leistung einer Armee erweist sich aber erst im Ernstfall, und daß heute ein Ernstfall anders aussehen würde als vor zwanzig Jahren, sollte als Banalität gelten. Ein Praktiker wie Karl Karst, der am Schreibtisch in der „Inneren Führung* ebenso zu Hause ist wie in der Truppe, weist in seinem Buch „Das Bild des Soldaten“ •).. stets darauf hin, daß der Soldat für den Ernstfall und nur für den Ernstfall ausgebildet wird. Er sieht den Sinn der militärischen Ausbildung nur darin, daß der Soldat für einen jederzeit möglichen Einsatz so schnell wie möglich ausgebildet werden muß. Ist nun aber die Ausbildung einzig darauf abgestellt? Schon allein die Tatsache, daß es sich bei der Bundeswehr um die Rekrutierungsform einer Wehrpflichtigenarmee handelt, läßt heute, wo es nicht so sehr darauf ankommt, jeden Bürger zur Pflicht der Verteidigung aufzurufen, sondern eine schnelle, spezialisierte, zweckmäßige Armee auf- zubauen, ein großes Handicap erkennen: Nach ihrer Einberufung werden die Wehr- pflichtigen erst einmal mehrere Monate lang mit dem militärischen Betrieb vertraut ge- macht, ohne daß sie der Verteidigung dienlich sind, und wenn sie „ausgebildet“ sind, werden sie wieder entlassen. So ist jeweils ein gutes Drittel der Armee, die auf dem Papier steht, gar nicht einsatzfähig. Und die anderen zwei Drittel? Da sind diejenigen, denen die ganze Sache einerlei ist: Sie fallen nicht auf, sie tun, was verlangt wird, aber

3) Karl Karst: Das Bild des Soldaten, Boppard/Rhein 1964.

534 DEMOKRATISIERUNG IN D E R BUNDESWEHR im Ernstfall werden sie sich nicht einsetzen. S. L. A. Marshall beschrieb sie in seinem alarmierenden Buch „Men Against Fire“ 4), und Rolf Bigler nahm sich in einer inten- siven Studie jenes „einsamen Soldaten“ an. Manche solcher Rekruten lassen sich auch als Zeitsoldaten verpflichten, sie erhoffen sich von den technischen Lehrgängen, der Aus- bildung an Maschinen und Geräten, dem Führerschein oder der Fahrlehrerausbildung einen persönlichen Gewinn für ihre weitere zivile Laufbahn und sehen damit die unumgängliche Wehrdienstzeit als nicht völlig vertan an. Auf Befragen bejahen sie — oft ohne Einschränkung — den Armeedienst und die Ausbildungszeit, aber sie sind nicht dazu zu bewegen, länger als nötig der Bundeswehr anzugehören. Eine weitere Anzahl junger Rekruten will etwas erleben: Sie schlagen über die Stränge, um „Leben in die Bude“ zu bringen. Sie erfreuen sich am rauhen Ton und an Späßchen mit den Vorgesetzten, sie bevölkern die Kneipen am Standort und lassen sich dort vollaufen. Sie sehen ihre Bundeswehrzeit als die potentielle Möglichkeit an, „ein Mann zu werden“ — indem sie sich in pubertären Handlungen abreagieren. Einige von ihnen werden Hilfsausbilder, womit sie Macht und Ansehen erhalten, ohne etwas von der Verantwortung zu spüren, die sie dabei übernehmen. Man darf nicht übersehen, daß sie dabei manches „Vorbild“ unter einem Teil des Unteroffizierskorps finden. Auch sie sind der Armee nicht sehr nützlich. Einige Rekruten melden sich freiwillig, weil sie aus idealistischen Gründen den Dienst für notwendig halten, oder weil sie überzeugt sind, einen wesentlichen persön- lichen Beitrag zur Sicherheit der Bundesrepublik und der westlichen Welt leisten zu können. Einige kommen auch, weil der Vater Berufssoldat war und weil ihnen die gleiche Laufbahn vorschwebt. Aber mancher von ihnen ist bald enttäuscht: Zurückge- stoßen von den zu jungen, zu unerfahrenen und zu schlecht ausgebildeten Vorgesetzten und von dem (in ihren Augen) unvertretbaren Mißverhältnis von Formalausbildung zu „wirklicher militärischer“ Ausbildung. Sie machen einen erheblichen Enttäuschungs- prozeß durch und entgehen, obwohl potentielle Soldaten, schließlich doch wieder der Armee. Das Unteroffizierskorps, das „Rückgrat der Armee“, besteht zum Teil noch aus Soldaten aus der alten Wehrmacht. Sie sollen jetzt den verantwortungsbewußten Sol- daten, den „Staatsbürger in Uniform“ erziehen, aber sie haben ihr Handwerk unter ganz anderen Voraussetzungen gelernt. Es kann ihnen einfach nicht gelingen, demokra- tisch gesinnte Staatsbürger zu fördern, zumal sie ohne längere Lern- und Umlernzeit sofort voll eingesetzt wurden und ihre Zeit nun mit Formalausbildung, Dienstaufsicht und Weiterbildung auf ihrem technischen Sektor ausgefüllt ist. Der andere Teil besteht aus sehr jungen Unteroffizieren, die zumeist mit den gleichen geringen staatsbürger- lichen Kenntnissen wie ihre Untergebenen ausgerüstet sind. Und wo sie schon von der Sache her dem Leitbild vom „Staatsbürger in Uniform“ nicht genügen können, werden sie von der Struktur her nicht nur nicht unterstützt, sondern sogar an einem demokratischen Militärbetrieb gehindert. Die Rangabzeichen sorgen für eine sorgfältig abgestufte Verantwortungs- und Machthierarchie. Der Rekrut Müller und der Gefreite Maier sind nie Herr Müller und Herr Maier. Noch immer gibt es Grußpflicht, Spindordnung, Ausgangs- und Urlaubsschein. Es gibt keinen Betriebsrat und kein Kündigungsrecht. Der Dienstbetrieb umfaßt alle total; eine Planung der Freizeit und des Privatlebens ist kaum möglich angesichts der Möglichkeiten mißgelaunter Vorgesetzter, Ausgangssperren beliebig zu verlängern. Das Kasernentor schirmt „das da draußen“ ab; so werden die Zivilisten schnell zu „Dreckszivilisten“. Wen wundert es, wenn die Nagolder Kompanie 6/9, bevor sie zum „Saustall“ deklariert wurde, vorher von verschiedenen hohen Offizieren als die beste Kompanie ge- priesen worden war? In den Augen dieser Offiziere ist der Staatsbürger in Uniform

4) S. L. A. Marshall: Men Against Firc, Washington 1948.

535 REINMAR CUNIS noch immer der Zivilist, der das Grundprinzip des Gehorsams lernen soll. In ihren Augen ist Formalausbildung immer noch Drill. Wie lange können sich junge, idealistisch gesonnene Offiziere in dieser Hierarchie behaupten, ohne daß sie dieselben Gedankengänge annehmen? Jürgen Schallwig erklärte, aus demokratischem Verantwortungsbewußtsein heraus Offizier geworden zu sein. Man muß ihm den Ernst dieser Äußerung glauben, aber wer mag bezeugen, wie demokratisch gesonnen er überhaupt jemals war, und wieviel davon übrigblieb? Die Ausbilder fehlen, und die verantwortungsbewußten Offiziere sind dünn gesät. Der Zwang des Wehrpflichtgesetzes und die politische Verpflichtung eines 500 000- Mann-Heeres haben den Grundsatz der staatsbürgerlich-demokratischen und militä-risch- zweckgerichteten Qualität beim Aufbau der Bundeswehr verdrängt. So ist Na-gold tatsächlich ein Symptom für die meisten innerbetrieblichen Probleme, die die Bundeswehr bewegen. Über diese Probleme ist bislang, besonders innerhalb der Bundes- wehr, eingehend debattiert worden. Eine Besserung kann nicht von lamettareichen Uniformen, die das Ansehen der Bundeswehr heben sollen, erwartet werden, und auch nicht von schöneren Unterkünften für die Unteroffiziere. Nicht allein Lehrgänge in Staatsbürgerkunde oder Tagesbefehle zur Umgestaltung der Formalausbildung hel- fen die Probleme einer schlagkräftigen, verläßlichen und gleichzeitig demokratischen Armee beheben; und schließlich kann man sich auch nicht in den schicksalergebenden Satz flüchten, „demokratisches Prinzip und militärische Notwendigkeiten seien unaufheb- bare Gegensätze.“ Dem Dilemma ist nicht durch ausbesserndes Flickwerk beizukommen, denn es wurzelt in der Grundstruktur der Bundeswehr. Es wurzelt in dem Gegensatz von der Idee vom Staatsbürger in Uniform und der alten hierarchischen, mit einliniger Befehls- richtung ausstaffierten, im Kasernenhofbetrieb erstickenden traditionellen Armeeordnung. Eine demokratische Armee muß von der Verantwortungsverteilung getragen sein, von dem Mitspracherecht der unteren Positionen und von dem Respekt vor der Würde des einzelnen. Eine moderne Armee von hoher Qualität muß auf die vielen Auch- und Abersoldaten verzichten, deren sie im Ernstfall nicht sicher sein kann, die sich nie zu Soldaten eignen und die man durch Formalausbildung auch nicht dazu machen kann. Nicht die Zahl von 500 000 Mann sollte Richtschnur sein, sondern die Qualität der Sol- daten, die nur bei Freiwilligen und nur bei längerer Dienstzeit dieser „berufenen“ Sol- daten gewährt ist. Ein gutes Betriebsklima, von dem die Bundeswehr noch weit entfernt ist, kann sich schließlich nur dort entwickeln, wo jeder vom Sinn seiner Aufgabe getragen ist und gleichzeitig den Respekt und die Achtung seiner Kollegen genießt. Die Bundes- wehr könnte weit anziehender für viele brauchbare Männer werden, die heute vor dem Kasernenhof, dem Formalismus, der Mißachtung ihrer menschlichen Würde und den Unzulänglichkeiten mancher schnell wieder verwendeter Vorgesetzter zurückschrecken. Man hat geglaubt, mit der Allgemeinen Wehrpflicht eine Rekrutierungsform gewählt zu haben, die allein schon ausreiche, das demokratische Prinzip mit dem demokratischen Geist des Bürgers in die Armee zu tragen und so das Gespenst der Weimarer Wehr, die ein „Staat im Staate“ war, zu bannen. Jetzt erweist sich, daß gerade dies einer der Hauptpunkte ist, die den Demokratisierungsprozeß der Armee hemmen. Eine Wehr- pflichtigenarmee braucht einen umfangreichen Apparat, um auch nur in Friedenszeiten einigermaßen zu funktionieren, sie braucht außerdem eine bestimmte Ideologie, um der Motivation des Wehrpflichtigen nachzuhelfen. Apparat und Ideologie mußten schnell geschaffen werden — wen wundert es, daß sich beides nach bewährten Vorbildern bildete? Die Bundeswehr, so lautete die Sorge Heyes, droht sich von unserer demokratischen Gesellschaft hinwegzuentwickeln. Dann könnte sie isoliert werden und sich zum „Staat im Staate“ wandeln. Das Gespenst, das man bannen wollte, scheint durch die Hintertür wieder hereinzukommen. 536 KURT R, GR.OSSMANN Die Endphase des Entschädigungswerkes Rückblick, Tatsachen und Folgen

I

Wenn vor einiger Zeit deutsche Zeitungen erleichtert von einem Schlußstrich unter das Entschädigungswerk für die Naziverfolgten — anläßlich der Annahme der Änderungs- novelle zum Bundesrückerstattungsgesetz am 24. Juni 1964 — gesprochen haben, so ist dieser zwar in Sicht, aber er kann im Hinblick darauf, daß zwei weitere Änderungs- novellen — Bundesentschädigungsgesetz und Bundeswiedergutmachungsgesetz für die Beamten des öffentlichen Dienstes — noch der Verabschiedung harren, gegenwärtig nicht gezogen werden. Diese Pause ist eine gute Gelegenheit, grundsätzliche Ausführun- gen über das Gesamtproblem des Entschädigungswerkes zu machen, welches in den letzten Monaten erneut heftig und nicht immer sachlich diskutiert worden ist. Dieses Thema eignet sich nicht für billige Sensationshascherei, zu dem es eine Reihe von Zeit- schriften und Zeitungen gemacht haben; denn im Kern ist es ein eminent moralisches Problem. Die materiellen Forderungen fußen, wie mir Dr. im Mai in Bonn richtig sagte, auf dem Naturrecht. Entschädigung an die Naziverfolgten (ich mache keinen Unterschied zwischen Juden und politisch Verfolgten) ist in Wirklichkeit die sichtbarste Abkehr von der so tragischen Vergangenheit nationalsozialistischer Gewaltherrschaft und Hinkehr zu den demokra- tischen Grundsätzen und humanistischen Ideen, zu denen sich immer ein Teil des deut- schen Volkes bekannt hatte. Wiedergutmachung ist keineswegs nur die Befriedigung eines Rechtsanspruches für erlittene Schäden im Rahmen einer selektiven Gesetzgebung, sondern gewissermaßen ein Prüfstein für Deutschlands Integrierung in das zivilisatorische Gebäude seiner westlichen Umwelt, die trotz mancher Rückschläge auf den Fundamenten der Humanität, Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden beruht. Die Bezeichnung „Wiedergutmachung“ ist ein Mißnomen, da der angerichtete Schaden an Leben und Eigentum unersetzbar ist. Das Bundesentschädigungsgesetz (BEG), welches die größte Anzahl von Ansprüchen (fast 3 200 000) entschädigen soll, versucht unter bestimmten, oft schwer beweisbaren Umständen Schadenstatbestände, wie den an Leben, Gesundheit, Freiheit, Berufsfortkommen, Ausbildung, verschiedentlich — oft ungleich und ungerecht — zu kompensieren. Ein Opfer der Naziverfolgung schrieb mir vor einiger Zeit: „Wiedergutmachung kann es nicht geben! Was kann wiedergutgemacht werden? Hier kann es doch nur um äußerliche Dinge, um Wiederersetzbares gehen. Da- für erscheint das Wort Wiedergutmachung ungeeignet. Dieses Wort hat es allen zu leicht gemacht, ihr Gewissen zu beruhigen.“ Der Vorsitzende des Wiedergutmachungsausschusses des Bundestags, Martin Hirsch, hat in der 132. Sitzung des Bundestags auf einen anderen, oft übersehenen Umstand auf- merksam gemacht: „Wir sind auf dem Gebiet der Rückerstattung wie auf dem Gebiet der Entschädigung über- haupt in der zunächst sehr günstig erscheinenden Lage, daß wir in eigener Sache darüber zu entscheiden haben, wie hoch unsere Schulden sind, die wir für die Raubzüge des Dritten Reidis in dieser Welt zu bezahlen haben. Diese ,glückliche' Lage ist in Wirklichkeit eine schwierige Lage. Denn wenn man als anständiger Mensch in eigener Sache zu entscheiden hat, dann kommt man in die Verlegenheit, daß man vielleicht objektiver sein muß, als wenn man über eine fremde Sache entscheidet, oder daß man, mit anderen Worten, in Zweifel zu seinen Ungunsten entscheiden sollte.“ Man muß diesen Gedankengang noch durch einen anderen ergänzen. Große Teile des deutschen Volkes — sie werden oft die Wirtschaftswunderdeutschen genannt —,

537 KURT X. GROSSMANN deren Wohlergehen man am Lago Maggiore oder in St. Moritz, Davos und anderswo begegnet, wie aber auch die große Masse hat aus ihrem Gedächtnis scheinbar den Um- stand verdrängt, daß das deutsche Volk in den dreißiger Jahren sehend ins Unglück rannte, von dem ich nicht weiß, ob nicht das moralische noch größer war als das wirtschaftliche und physische. Wer die Prozeßberichte über die barbarischen Untaten liest, muß erschüttert über den Tiefstand jener furchtbaren Jahre sein, und die Frage drängt sich auf: Wie war das alles möglich? Das nationalsozialistische Deutschland fiel in fremde Länder ein, zerstörte das neutrale Belgien, Holland, besetzte widerrecht- lich Dänemark, griff Norwegen an, abgesehen von Frankreich, Polen, Rußland, Rumä- nien, Jugoslawien usw. Überall da, wo die deutschen Schaftstiefel hintraten, wurde un- sagbares Unglück geboren. Das Leid von sechs Millionen ermordeten Juden ist unvor- stellbar (das Einzelschicksal wohl), und vielleicht ist es auch das Leid von 55 Millionen Menschenverlusten, die der zweite Weltkrieg nach Angaben des deutschen Bevölke- rungsstatistikers Professor Arntz gekostet hat. Städte mit großen Kulturwerten, ganze Landstriche wurden zerstört. Ein Menschenleben galt nichts. Das Kind, unser größtes Gut, wurde millionenfach gemordet. Der organisierte Sadismus erlebte seine gräßlichsten Triumphe. Es bedurfte einer großen Allianz, dieses braune Deutschland niederzuringen und, laßt uns ehrlich sein, der Geist der Freiheit glimmte in jenen Jahren in Deutsch- land nur spärlich und fand erst Anhänger, als die westliche militärische Allianz das Finish zu den Hitlerschen Welteroberungsplänen geschrieben hatte. Nach diesem nationalen Unglück wurde nun dem deutschen Volk die unerwartete Gnade zuteil, daß, nicht zuletzt wegen der geänderten politischen Weltkonstellation, die einstigen Gegner wenn nicht Freunde, so doch zumindest Alliierte wurden. Mehr noch: Der Sieger half dem geteilten Deutschland, und der im Jahre 1949 entstandenen Bundes- republik haben die Vereinigten Staaten von Amerika allein 4 Md. Dollar gegeben. Das „besiegte“ Deutschland ist heute wirtschaftlich eines der prosperierendsten Länder, ohne Arbeitslosigkeit, mit 800 000 Fremdarbeitern und ständigen Exportüberschüssen, die für das Jahr 1964 auf 8 bis 10 Md. DM geschätzt werden. Ein noch wichtigeres und wahrlich nicht zu erwartendes Wunder trat ein, nämlich die Tatsache, daß das Deutschland von vorgestern oder das andere Deutschland trotz des Ausmaßes der grausamen Geschehnisse viele Freunde hatte, selbst unter den Ver- folgten, die einen stärkeren Glauben an das Land und Volk haben als manche Deutsche. Da gab es den Fall des sterbenden jüdischen Vaters in London, der seiner Tochter im Jahre 1942 (!) das Versprechen abnahm, nach Beendigung des Krieges wieder nach Deutschland zurückzukehren (sie tat es und blieb einsam). Da waren Menschen in den Vereinigten Staaten, die den hungernden Deutschen Tausende von Paketen schickten. Im Jahre 1946 organisierte ich von New York eine solche Paketaktion, und wir sandten 8000 Pakete an Friedensfreunde und Gewerkschafter. Da begannen wir, den Menschen draußen von den guten Taten der Deutschen drinnen zu erzählen. Ein Resultat war mein Buch Die unbesungenen Helden, das der Furche Verlag, Hamburg, soeben als Sonder- band in der Reihe der Stundenbücher (Nr. 40) veröffentlicht hat. Je stärker — wie einst Kurt Schumacher dem Reichstag sagte — die Nazis an den inneren Schweinehund im Menschen appellierten, desto mehr haben Vereinzelte sich gegen die Ertötung ihres Menschentums gewehrt und haben eine kleine Anzahl Juden vor der Vernichtung zu retten vermocht. Das wurde festgehalten. Vergessen darf nicht werden, daß das Jü- dische Arbeiterkomitee in New York bereits 1948 Kurt Schumacher einlud und er vor einem ausgewählten Kreise von Amerikanern für das neue Deutschland seine Stimme erheben konnte. Das sind nur einige Beispiele von vielen. Alles dies geschah. Wenn jemand 1945 oder 1946 dem deutschen Volk prophezeit hätte, es würde einen erstaunlichen wirtschaftlichen Aufstieg erleben, es würde Menschen geben, die die Hand zur Versöhnung ausstrecken, aber alles dies wäre abhängig davon,

538 D I E ENDPHASE D E S ENTSCHÄDIGUNGSWERKES daß Deutschland den Opfern seiner Verfolgung eine generöse Entschädigung für ihre Leiden aus der neuen Substanz seines Reichtums zahle, die große Mehrheit des deut- schen Volkes würde dem ohne Zweifel freudig zugestimmt haben.

II

Es ist gewiß wahr, daß die Bundesrepublik, im Gegensatz zu Österreich, ganz zu schweigen von der Sowjetzone, beachtliche Leistungen im Rahmen des Entschädigungs- werkes gemacht hat. Aber, wie der Bundestagsabgeordnete Martin Hirsch in seiner Rede am 24. Juni 1964 im richtig sagte, es gibt innerhalb des deutschen Volkes „ja etliche“, „die nach wie vor gar nicht bereit sind, Entschädigungen zu leisten ...“ Einen Kölner Rechtsanwalt, Dr. Georg Meinecke, bedrückt die Vorstellung, „daß selbst in fernen Zeiten, in denen Deutschland möglicherweise nur noch in Geschichtsbüchern existieren wird, der Name unseres Vaterlandes in erster Linie verbunden sein könnte mit diesem unnennbaren, monströsen Verbrechen, anstatt mit Namen wie Goethe, Schiller, Bach, Beethoven ...“ Es gibt gewiß eine Anzahl von Stimmen, die ähnliches sagen, und diese sind in einer kleinen Broschüre „Die Wiedergutmachung am Kreuzweg“ (kostenlos beziehbar durch die Claims Conference, Bonn, Friedensplatz 9) zusammen- gefaßt. Dennoch darf man sich nicht darüber täuschen, daß die Gruppe der „Etlichen“, von der Martin Hirsch sprach, größer ist als die der Fürsprecher für die Tilgung der Ehrenschuld, von der , der frühere Bundesfinanzminister und auch der jetzige Bundeskanzler gesprochen haben. Als ich auf meiner jüngsten Deutschlandreise zum dritten Male im Rahmen des ausgezeichnet geleiteten Gesamteuropäischen Studienwerkes in Vlotho a. d. Weser über das Thema „Die Ju- den in der Welt von heute“ sprach, entzündete sich eine heftige Wiedergutmachungsdebatte. Ein Bundeswehrsoldat erklärte mir klipp und klar, daß die jungen Deutschen, die nichts mit der Judenverfolgung zu tun gehabt hätten, keine Verpflichtung für moralische oder materielle Wiedergutmachung hätten. Man begann in dieser Debatte, aufgrund des Falles Hüttemeister, jenes jungen Deutschen, der in Kairo wegen angeblicher Spionage zugunsten der Israelis zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, gegen die Judenmorde aufzurechnen, und diese Auf- rechnungstheorie machte an dem einen Beispiel nicht halt. Ein junges Mädchen (sie stammte aus Königsberg in Ostpreußen) wollte den Unterschied zwischen Schicksalsschäden als Folge des Krieges und Verbrechensschäden als Folge willkürlicher, barbarischer Untaten nicht einsehen. (Prof. Franz Böhm aus Frankfurt a. M., CDU-Protagonist einer konstruktiven Wiedergut- machung, hatte vor Jahren diese Formulierung geprägt.) Meinungsumfragen ergaben, daß zwar die Mehrheit der Befragten sich mit Wiedergutmachung an die Verfolgten (Juden und andere) einverstanden erklärten, aber in der Pioritätsfolge figurieren diese an letzter Stelle. Das amtliche Bonn hat leider in den letzten Monaten keinen wesentlichen Beitrag zu einem würdigen Abschluß der Endphase dieses Entschädigungswerkes geleistet. In sehr ausführlichen Darlegungen haben Ministerialbeamte (aus dem Bundesfinanzministerium) einmal den klaren Rechtsanspruch der Verfolgten auf Entschädigung bestritten und, fast noch schlimmer, sie haben die Verfolgung der Juden als eine „Folge des letzten schreck- lichen Krieges“ bezeichnet, obwohl doch nicht an der Tatsache zu rütteln ist, daß die Judenverfolgungen sofort nach der Machtergreifung Hitlers begannen, um sich dann von Jahr zu Jahr zu steigern. Die Charakterisierung oder Klassifizierung als „Folge des letzten Krieges“ ist sehr gefährlich, weil sie Wasser auf die Mühle des Herrn Professor Hofstaetter bedeutet, der bekanntlich die ungeheuerliche Behauptung guthieß, die Juden hätten Hitler den Krieg erklärt und folgerichtig seien alle die Verfolgungen eine „Kriegshandlung“ gewesen. Was nun die Behauptung anbelangt, es beständen seitens der Bundesrepublik gegen- über den Verfolgten keine weiteren rechtlichen Verpflichtungen, so wird empfohlen, den Leitartikel vom 28. November 1963 im Bulletin des Presse- und Informationsamtes nachzulesen, in dem dargelegt wird, das vertragliche Abkommen für gesetzliche Rege-

539 KURT L GROSSMANN lungen sei erfüllt worden und es seien bereits „freiwillige, zusätzliche Leistungsver- besserungen vorgenommen“ worden, zu denen die Bundesrepublik „rechtlich nicht ver- pflichtet ist“. Diese beiden Theorien waren es, die unter den Verfolgten Erregung ver- ursachten. Martin Hirsch hat in seiner bereits zitierten Rede richtig darauf hingewiesen, daß es Dinge gibt, die man den Verfolgten „eben nicht sagen darf“. Er fügte hinzu: „Diese Opfer des Verbrechens und der Willkür und der Unmenschlichkeit sind nun einmal in mancher Hinsicht empfindlicher, als man das zu sein pflegt, wenn man nicht so behandelt worden ist.“ Wie sehr Hirsch damit recht hat, beweist der unglückliche Passus eines Briefes des Bundesfinanzministers Dr. Dahlgrün vom 4. März 1964, der an die Witwe eines Verfolgten, deren Ehemann vor dem 1. Oktober 1953 gestorben ist und die für Gleichstellung mit den Witwen, deren Ehemänner nach diesem Stichtag starben, eintritt, den folgenden Satz schrieb: „Bei dem Ausmaß der SS-Verfolgungen und der Beschränkung des Wirtschaftspotentials der Bundesrepublik Deutschland infolge der deutschen Teilung und des Verlustes der deutschen Ostgebiete ist es nicht möglich, im Rahmen des Bundesentschädigungsgesetzes alle Schäden in vollem Umfang zu berück- sichtigen.“ Diese Auslassungen und falsche Problemstellungen haben zu einer Wiedergut- machungskrise geführt. Entschädigung ist ein echter Rechtsanspruch, und in der Sitzung des Bundestags vom 30. April 1964 ist glücklicherweise eine korrigierende Auffassung seitens der Bundesregierung zum Ausdruck gekommen. Der sozialdemokratische Abge- ordnete Kaffka hat den Bundesinnenminister Höcberl anläßlich eines Sonderfalles ge- fragt: „Darf ich noch einmal ganz präzise fragen: „Betrachtet die Bundesregierung mit der Bezeichnung Fürsorgepflicht den Anspruch auf Wiedergutmachung als einen echten Rechtsanspruch oder als einen Gegenstand der sogenannten darreichenden Verwaltung?'„ Darauf hat der Bundesinnenminister geantwortet: „Als einen echten Rechtsanspruch.“ Auch das Bundesfinanzministerium scheint seine irrige Auffassung korrigieren zu wollen, da in der Zeitschrift Freiheit und Recht, Juni 1964, S. 8, über ein Referat des Mini- sterialrats Dr. Ernst Féaux de la Croix berichtet wird: „Wie bisher werde ich auch künftig immer wieder darauf hinweisen, daß es sich bei der Wiedergutmachung um einen echten Rechtsanspruch handle, der getrennt von anderen Kriegsfolgeschäden gesehen werden müsse.“

III

VV ir müssen uns noch mit den Schätzungen der Totalausgaben für das Entschädigungs- werk befassen, die in oft unsachlicher Weise, ja leichtfertig, in die deutsche Öffentlichkeit hinausposaunt werden. Es wird mit diesen Summen „eine Furcht vor der Zahl“ erzeugt, die einer mit so vielen moralischen Imponderabilien belasteten Angelegenheit nicht würdig ist noch ihr gerecht wird. Das Bundesfinanzministerium hat vor längerer Zeit erklärt, daß das gesamte Entschädigungswerk — also Rückerstattung, Deutschland-Is- rael-Vertrag, Globalverträge mit den europäischen Ländern und Bundeswiedergut- machungsgesetz für die Angestellten des öffentlichen Dienstes und das Bundesentschä- digungsgesetz — 40 Md. DM kosten würde. Diese Zahl aber ist nur eine Schätzung, die ernsthafter Nachprüfung bedarf. Sie ist u. a. dadurch zustande gekommen, daß das Bundesfinanzministerium die elf Entschädigungsämter, also von bis zum Saar- gebiet, um Angaben über noch zu leistende Ausgaben gebeten hat. Einige Ämter haben es sich leicht gemacht, indem sie den bisherigen Durchschnittsbetrag ihrer Ausgaben mit den noch nicht erledigten Ansprüchen multiplizierten. Dies ist keine wissenschaftliche Methode. Drei Fakten dürften bei einer solchen Schätzung nicht übersehen werden: 1. Die Sterblichkeitsziffer der Naziopfer liegt mindestens 3 vH höher als die normale Sterblichkeitsquote. 2. Wichtiger noch ist die Alterszusammensetzung der Verfolgten, von denen täglich viele sterben; und 3. das Steigen der Ablehnungsquote mit dem sich

540 D I E ENDPHASE DES ENTSCHÄDIGUNGSWERKES nähernden Ende der Bearbeitung von Ansprüchen, da ein großer Teil der restlichen Ansprüche nicht genügend dokumentiert ist und, wie aus der Praxis verschiedener Entschädigungsämter hervorgeht, die Antragsteller sich nicht mehr melden. Ich habe immer dafür plädiert, zu vermeiden, mit Zahlen zu operieren, deren Höhe, selbst wenn sie alle richtig wären, noch immer in einem geringen Verhältnis zu der Immensität des physisch, psychisch und materiell angerichteten Schadens stehen. Martin Hirsch sagte mit Recht: „Jede Zahl ist relativ.“ Er hat errechnet, daß die einmal als wahr unterstellten 40 Md. DM eine zehnprozentige Konkursquote bedeuteten, und das sei bestimmt nicht viel, wenn man von der Schädigung von Menschen spricht, die so „willkürlich und verbrecherisch“ war, ja so gigantisch ist, „daß sie sich der mensch- lichen Erkenntnisfähigkeit eigentlich entzieht“. Wenn man die Aufwendungen und Lei- stungen zur Tilgung der Hypothek und des verlorenen Krieges und der NS-Gewalt- herrschaft im Verhältnis zum öffentlichen Gesamthaushalt vergleicht, dann stehen 16,4 Md. DM Entschädigungsleistungen per 1. 4. 1964 nahezu 270 Md. DM anderen Kriegsfolgelasten gegenüber, und diese Zahl von etwas über 16 Md. DM ist nach Hirsch „auch nicht mehr überwältigend“. Man beschwert sich besonders in amtlichen Bonner Kreisen darüber, daß die ur- sprünglichen Schätzungen für das gesamte Entschädigungswerk weit überschritten wor- den sind. Zweifellos haben sich die Experten der Bundesregierung, die vor vierzehn Jahren sich mit dem Problem zu beschäftigen begannen, genauso geirrt wie die Experten der Verfolgtenorganisationen. Der Grund dafür aber ist auf keiner Seite böswillige Absicht, sondern ist vielmehr in dem damals noch nicht bekannten ungeheuerlichen Aus- maß des Verbrechens zu suchen. Man sollte auf allen Seiten aufhören, dieses Zahlenspiel weiter zu treiben und sich auf die realen und nachprüfbaren Ausgabenziffern verlassen.

IV

Vv ir kommen nun zu der Endphase des Entschädigungswerkes, und diese betrifft die Änderungsnovelle zum Bundesentschädigungsgesetz (BEG). Der Wiedergutmachungs- ausschuß des Bundestags hat am 6. Mai 1964 die Vertreter der Verfolgtenorganisa- tionen gehört und ist in eine Beratung über das Gesetzwerk eingetreten. Diese ist dadurch vorbelastet, daß das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf durchsetzen will, der acht verschiedene Stichtage vorsieht. Dr. Georg Meinecke sagt mit Recht: „Fristen und Ausschußfristen gibt es überall im Rechtsleben. Sie dienen dem Rechtsfrieden und demjenigen Schuldner, dem aus wirtschaftlichen Gründen z. B. nichts anderes übrigbleibt, als die Einrede des Fristablaufs oder der Verjährung zu erheben. Auf dem Gebiet der Wiedergutmachung haben sie jedoch wegen der Eigentümlich- keit der moralischen und rechtlichen Verpflichtung, die unsere führenden Politiker als Ehren- schuld des deutschen Volkes bezeichnet haben, nichts zu suchen. Hier gibt es erst Frieden nach der Befriedung des letzten Berechtigten, ganz gleich, wann er seine Ansprüche anmeldet (gleich, wo immer er wohnt oder gewohnt hat).“ Ein überzeugendes Beispiel gibt Dr. Meinecke, wenn er die Frage stellt: „Was halten Sie von einem Sohn, der seinen Vater beleidigt und ge- schlagen hat, sich dann aber eines Besseren besinnt und sich entschließt, seinen Vater um Ver- zeihung zu bitten, um begangenes Unrecht wiedergutzumachen, sich danach aber auf seinen Stuhl setzt, auf seine Uhr blickt und erklärt, wenn mein Vater bis zwölf Uhr nicht kommt, damit ich wiedergutmachen kann, ist die ganze Angelegenheit für mich erledigt. So entzieht man sich der moralischen, sittlichen und rechtlichen Verpflichtungen eigener Prägung nicht, geschweige denn einer selbstverständlichen Ehrenschuld gegenüber den überlebenden Opfern einer grau- samen Verfolgung.“ Meinecke weist noch auf eine andere groteske Praxis der bürokratischen Abwicklung der Wiedergutmachung hin, die nach ihm die Dinge leider vollkommen auf den Kopf gestellt hat. „Anstatt daß sich — wie es sich wohl gehört — der Wiedergutmachungswillige bemüht, alle noch lebenden Opfer aufzuspüren und zu entschädigen, gleich wann und wo er sie findet...,

541 KURT R. GROSSMANN sehen wir uns verblüfft der Situation konfrontiert, daß die Wiedergutmachungsberechtigten geradezu gezwungen sind, Jagd auf den Wiedergutmachungswilligen machen zu müssen, der sich hinter abgelaufenen Fristen und dergleichen unmoralischen Barrikaden verschanzt, um sich einem Teil seiner Verpflichtungen zu entziehen.“ Die Rolle, in die der Verfolgte, quasi als ein Bittsteller, hineingeraten ist, hat zum Teil jene Wiedergutmachungskrise hervorgerufen, von der so offen in der Bundestags- sitzung vom 24. Juni 1964 gesprochen wurde. Die zentralen Differenzen zwischen den Wünschen und Vorschlägen der Verfolgten- organisationen und den Absichten des Bundeskabinetts laut dessen Entwurf sind die Stichtage, einschließlich dem des 1. Oktober 1953 des gegenwärtigen BEG, der allen Naziopfern, die nach diesem Tage in das westliche Entschädigungsgebiet (aus den Ost- blockländern) gekommen sind, nicht erlaubt, ihre Ansprüche anzumelden, sondern sie auf einen Härtefonds verweist. Also statt Recht — Gnade. Der Wiedergutmachungs- ausschuß des Bayerischen Anwaltsvereins hat in einer ausgezeichneten Denkschrift sich gegen jeden Stichtag im neuen Gesetz gewandt. Jeder ist antragsberechtigt, der am Tage der Verkündung des neuen BEGs sich im vorgeschriebenen Entschädigungs- gebiet befindet. Darunter würden dann auch die Witwen, deren Männer unglückseliger- weise vor dem 1. Oktober 1953 gestorben sind, fallen, denen man nach dem gegen- wärtigen Entwurf erst ab 1960 eine Rente zukommen lassen will. Bei Gesundheits- schäden will man eine 25prozentige Erwerbsminderung „vermuten“, wenn der Antrag- steller mindestens ein Jahr im Konzentrationslager war. Die Verfolgtenorganisationen wollen mit Recht Getto und Arbeitslager dem Konzentrationslager gleichstellen. Als nicht weniger wichtigen Punkt von vielen plädiere ich für die Akzeptierung der Vor- schläge der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Verfolgtenverbände, insbesondere für die Einbeziehung derjenigen, die in selbstloser Weise Juden und andere Verfolgte retteten: „Die unbesungenen Helden“. Was kann in dieser Situation geschehen? Ich habe mich in den vielen Wochen, da ich mich in Deutschland aufgehalten habe, bemüht, zu einer Lösung beizutragen. Sie muß eine der Würde und Gerechtigkeit sein. Gerade wir, die wir uns unausgesetzt für eine Normalisierung der deutsch-jüdischen oder deutsch-amerikanischen Beziehungen bemüht haben, haben ein Recht darauf, gehört zu werden. Wer das mißversteht, tut seinem Land einen Bärendienst. Wir müssen auf diesem so sensitiven Gebiet der Entschädigung, bei dem es nicht nur um materielle Dinge geht, wohl anders verfahren als mit jedem anderen Haushaltsproblem. Wiedergutmachung ist nicht in eine der haushälterischen Staatsschubladen unterzubringen. Die Verfolgten sind bereit, die ausgestreckte Hand zur Versöhnung zu ergreifen. Die würdige, liberale, gerechte und schnelle Bereinigung des Entschädigungswerkes ist jedoch eine Vorbedingung. Zu meiner Genugtuung kann ich sagen, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund das immer erkannt und anerkannt hat und oft dafür eingetreten ist. Kurz bevor ich die Bundesrepublik Mitte Juni 1964 verließ, appellierte ich an den Bundeskanzler. Einige wesentliche Absätze dieses Briefes seien hier zitiert: „Die von Ihnen als bindende Verpflichtung anerkannte Wiedergutmachung, über deren letzte Phase nun seit Jahren verhandelt wird und bei der es um die Erfüllung von auf natür- lichem Recht begründete Ansprüche geht, ist leider auf einem toten Gleis angelangt. Der vor- liegende Entwurf der Bundesregierung für eine Novelle des Bundesentschädigungsgesetzes hat sich bedauerlicherweise von engherzigen fiskalischen Gedanken entscheidend beeinflussen lassen, die unter keinen Umständen dem moralischen Charakter des Problems entsprechen. In einer am 19. Mai in Bonn abgehaltenen Pressekonferenz, über welche die ausländische und deutsche Presse ausführlichst und zustimmend berichtet hat, habe ich, um den toten Punkt der Verhandlungen endlich zu überwinden, den Vorschlag gemacht, daß Sie dem Beispiel Ihres verehrten Vorgängers folgen, der für den 9. Juni 1952 in einer ähnlichen Situation die Haupt- beteiligten zu sich an den runden Tisch einlud, um einen Ausweg aus einer damals scheinbar

542 D I E ENDPHASE DES ENTSCHÄDIGÜNGSTBEKES ausweglosen Krise in den Deutschland-Israel-Verhandlungen zu finden. An einer solchen Kon- ferenz um den runden Tisch müßten der Herr Bundesfinanzminister, der Vorsitzende des Wiedergutmachungsausschusses und sein Stellvertreter, die führenden Vertreter der Verfolgten- organisationen, jüdische und nichtjüdische, teilnehmen. Es kommt darauf an, diese durch so viele moralische Imponderabilien belastete Frage aus dem Morast des Fiskalismus, Formalismus und der Spitzfindigkeiten herauszuheben. Gerade ich, der ich vor etwa neunzehn Jahren be- gonnen habe, mit allen Gutgesinnten hüben und drüben an einer Normalisierung deutsch- jüdischer Beziehungen zu arbeiten, appelliere an Sie, Herr Bundeskanzler, in Anerkennung des Grundsatzes der unteilbaren Gerechtigkeit, in dieser Stunde staatsmännisch zu handeln. Der Staatsmann unterscheidet sich vom Politiker dadurch, daß er über den Tag hinaus den Mut hat, selbst unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen. Viele Deutsche teilen jedoch, wie das aus der Schrift „Die Wiedergutmachung am Kreuzweg“ hervorgeht, die Auffassung des früheren Bundeskanzlers Dr. Adenauer, daß es sich hier vornehmlich um eine profunde moralische Frage, d. h. die Tilgung einer Ehrenschuld handelt. Nicht nur die Verfolgten werden Ihren konstruktiven Schritt zur Lösung der gegenwärtigen Krise begrüßen, sondern vor allem die kommende deutsche Generation wird Ihnen dankbar sein, daß Sie, Herr Bundeskanzler, am Ende des Wiedergutmachungswerkes einen alle Teile be- friedigenden modus vivendi finden halfen.“ Ob der Bundeskanzler dieser Anregung des „Runden Tisches“ folgen wird, steht noch nicht fest. Als er jüngst in Washington jüdische Repräsentanten traf, schien es so, daß der Bundeskanzler die Bedeutung eines befriedigenden Abschlusses der Wiedergut- machung für die Neuordnung des deutsch-jüdischen Verhältnisses erkannt hatte und willens ist, dieser wichtigen Anregung zu folgen. Inzwischen kehrte der Kanzler nach Bonn zurück und scheint seine Meinung dahingehend geändert zu haben, daß mit jener Aussprache in Washington der Anregung bereits entsprochen worden sei. Die Verfolgten- organisationen würden eine solche Stellungnahme deswegen bedauern, weil sie durchaus wünschen, die Differenzen im gegenseitigen Nehmen und Geben auszutragen und so einen sinnvollen Beitrag zur Befriedung dieses sensitiven Problems zu leisten. Der Bundeskanzler wiederum würde damit erfüllen, was er in seiner Antrittsrede im Okto- ber 1963 gesagt hat: „Wir haben die Schuld, die während jener tragischen zwölf Jahre der Gewalt- herrschaft im Namen Deutschlands allen Deutschen aufgebürdet wurde, schonungslos offenbart. Wir werden diese Schuld vollends abtragen, soweit Menschen dazu in der Lage sind. Darum betrachten wir die Wiedergutmachung als eine bindende Ver- pflichtung.“

GÜNTHER E C K S T E I N Das Goldwater-Phänomen I Vvider alles ursprüngliche Erwarten ist Barry Goldwater von der Republikanischen Partei mit überwältigender Mehrheit als Präsidentschaftskandidat aufgestellt worden. Die Welt fragt sich mit Recht, wie es möglich war, daß ein so erzkonservativer, den Problemen des 20. Jahrhunderts so offensichtlich verständnislos gegenüberstehender Poli- tiker von einer verantwortlichen Gruppe für das höchste Amt der Welt in Vorschlag ge- bracht werden konnte. Um das zu verstehen — soweit es zu verstehen ist —, ist es zunächst einmal nötig, die mehr zufälligen Gründe von den tieferliegenden zu scheiden. Da ist zunächst die im ganzen recht sympathische Persönlichkeit Goldwaters: die seltene Figur eines freund- lichen Konservativen, überzeugt, aber nicht fanatisch oder stur; eher naiv als unintelli-

543 GÜNTHER E C K S T E I N gent; ursprünglich zumindest ohne persönlichen Machthunger, vielmehr offenherzig er- staunt über den eigenen Erfolg. Dazu dann der Umstand, daß Nelson Rockefeller, der Kandidat des liberalen Flügels, durch seine Scheidung und Wiederverheiratung sich als Kandidat unmöglich machte, während „schlaue“ Politiker der Mitte, wie Nixon, es nicht mit Goldwater verderben wollten, um gegebenenfalls dessen Delegiertenstimmen zu erben. Eine wesentliche Verantwortung für das Ergebnis trug schließlich Eisenhower, der, wie schon so häufig, jene eindeutige Stellungnahme vermied, die, rechtzeitig ausgeübt, allenfalls die Goldwater-Lawine hätte stoppen können. Als man schließlich in vorletzter Minute dem ziemlich unbekannten Gouverneur von Pennsylvania, William Scranton, die Gegenkandidatur aufdrängte, war es zu spät. Das Unglück war nicht mehr aufzu- halten, von dem die im allgemeinen zurückhaltende New York Times am 16. Juli 1964 schrieb: „Es wird ein Verhängnis sein für die Republikanische Partei und ein Schlag für das Prestige und die nationalen und internationalen Interessen der Vereinigten Staaten.“

II Zum Verständnis der tiefer liegenden Trends empfiehlt sich zunächst ein kurzer ge- schichtlicher Rückblick auf die 100 Jahre seit dem Ende des Bürgerkriegs, der die mo- derne Epoche der Vereinigten Staaten einleitete, und den Grund legte für die Struktur der beiden großen Parteien, die seitdem das politische Leben dominiert haben. Grob ge- sehen, wurde die Demokratische Partei zu einer Koalition zwischen der besiegten weißen Oberschicht der Südstaaten (freihändlerisch aus Interesse am Export ihrer Hauptpro- dukte Tabak und Baumwolle) und der im Zug der Industrialisierung rapid steigenden Zahl der Einwanderermassen in den nördlichen Städten. Die Republikaner ihrerseits bil- deten auch eine heterogene Koalition: auf der einen Seite erst die radikalen Gegner der Sklavenhaltung (Abolitionisten), gefolgt von den individualistisch-fortschrittlichen Far- mern im Mittelwesten und Westen, auf der andern Seite das schutzzöllnerische Finanz- und Industrie-Kapital im Nordosten bzw. Mittelwesten. Der Umstand, daß aus — scheinbar zufälligen — historischen Gründen jede Partei sich aus verschiedenartigen Gruppen zusammensetzte, verhinderte eine Aufspaltung der amerikanischen Gesellschaft in zwei sozial scharf geschiedene Lager, zwang zu politi- schen Kompromissen erst schon innerhalb jeder Partei, machte damit ein Kompromiß zwischen den Parteien leichter und trug auf diese Weise — zusammen mit der Verteilung der politischen Macht zwischen Präsident, Kongreß und Oberstem Gericht — zu jener Stabilität und Elastizität des amerikanischen politischen Systems bei, die ihm die revo- lutionären Erschütterungen anderer Länder erspart haben.

III Die Verschiebungen in der Verteilung des Sozialprodukts, ausgedrückt in der Einkom- menstatistik zeigen eklatant, daß in diesem Jahrhundert alle Fortschritte für die unte- ren Einkommenschichten unter demokratischen Präsidenten erfolgten, während die Re- publikanische Partei immer eindeutig die Interessen der Reichen vertrat. So wurde die Demokratische Partei mehr und mehr zur Partei der breiten Massen, deren konserva- tiver südstaatlicher Flügel mehr und mehr an Bedeutung verlor (Truman wurde 1948 ohne die Stimmen der meisten Südstaaten gewählt), und die Republikanische Partei wurde zu einer permanenten Minderheitspartei, die nur mit einem gemäßigten oder liberalen Kandidaten hoffen konnte, die Präsidentschaft zu erringen und zur Durchset- zung ihrer Ziele im Kongreß auf die Koalition mit den konservativen südstaatlichen Demokraten angewiesen war. Außer mit Eisenhower mißlangen diese Versuche freilich immer, so nahe sie auch manchmal dem Sieg kamen (1948 mit Dewey gegen Truman, 1960 mit Nixon gegen

544 DAS GOLD WATER-PHÄNOMEN Kennedy). Der die Parteiorganisation und -kasse beherrschende konservative Flügel schob diese Niederlagen der gemäßigten Färbung der Kandidaten zu, konnte aber sei- nen Anwärter nie durchsetzen und wird nun endlich mit Goldwater die Gelegenheit haben, seine These auf die Probe zu stellen. Ein etwas unbehaglicher Test. Goldwater hat sich zu Zeiten gegen jede der Maßnahmen ausgesprochen, die im Lauf der letzten Jahrzehnte zugunsten der unteren Einkommensschichten von demokra- tischen Regierungen gegen den Widerstand des Gros der Republikaner durchgeführt worden waren: graduierte Einkommensteuer (Wilson), Sozialgesetzgebung (Roosevelt), gesetzliche Anerkennung der Gewerkschaften, Streikrecht, Tarifvertrag (Roosevelt), Gleichberechtigung der Neger (Truman, Kennedy, Johnson), Kampf gegen die Armut (Johnson). Die meisten dieser Maßnahmen und Institutionen sind freilich viel zu sehr Teil des amerikanischen sozialen Gewebes geworden, als daß Goldwater sie rückgängig machen oder auch nur wesentlich aushöhlen könnte. Aber er wird zweifellos, mehr noch als Eisenhower, versuchen, etwa durch Steuergesetzgebung die Privilegien der Rei- chen zu stärken, durch Arbeitsgesetze die Stellung der Gewerkschaften zu unterminieren, oder einfach durch Nichteingreifen die wirtschaftlich Schwachen der ungehinderten Aus- beutung ausliefern. IV

Nichts anderes verbirgt sich nämlich hinter dem Schlagwort: „Mehr Macht den Einzel- staaten“, das Goldwater mit den Konservativen beider Parteien sich zu eigen gemacht hat. Wie der beginnende Absolutismus den damaligen breiten Massen einen gewissen Schutz gegen die Ausbeutung durch Feudalbarone bot, so wirkt sich die neuerliche Machtverschiebung von den Einzelstaaten zur Bundesregierung gegen die Bewegungsfrei- heit der Unternehmer aus, welche gewohnt waren, die gesetzgebenden Körperschaften der Einzelstaaten weitgehend zu beeinflussen. Aber auch dieser Trend kann im wesent- lichen auch von einem Goldwater nicht rückgängig gemacht werden. Er beruht schließ- lich nicht nur auf der Sozialgesetzgebung, den ökonomischen Regulierungen und Auf- sichtsbehörden, der Arbeitsgesetzgebung und Wissenschaftsförderung, sondern vor allem auch auf der Position Amerikas in der Weltpolitik und, damit einhergehend, dem ge- waltigen Ausbau des Militärapparats. Die von Goldwater geforderte weitere Stärkung des Militärapparats und Verschärfung der Außenpolitik (selbst wenn diese so heiß nicht gegessen wird...) muß notwendig zu einer weiteren Stärkung der „Diktatur von Washington“ führen. Im übrigen zeigt die Beschäftigungsstatistik des letzten Jahrzehnts, daß die Zahl der bundesstaatlichen Angestellten stabil geblieben ist, während die Zahl der Angestellten der Einzelstaaten und Gemeinden um über die Hälfte stieg, ja beinahe die einzige nenneswert zunehmende Beschäftigungsgruppe ist.

V

Eine wesentliche Ursache für diese Entwicklung ist die rapid zunehmende Verstädterung. Nur noch 7 vH der Bevölkerung lebten von der Landwirtschaft, gegen 50 vH um die Jahrhundertwende. Damit einher ging eine ständige Bevölkerungsverschiebung von den Agrarstaaten zu den industriellen Staaten (die Agrarstaaten hatten nicht nur keinen Teil an der Bevölkerungszunahme der letzten Jahrzehnte, sondern teilweise sogar einen Bevölkerungsschwund) und innerhalb aller Staaten vom Land in die Städte (und Vor- städte). Hier leben heute 70 vH der Bevölkerung. Die Städte wachsen ineinander zur Megalopolis (die größte erstreckt sich über 1000 km längs der Ostküste von Boston bis Washington und umfaßt etwa 35 Mill. Menschen), die sich über mehrere Einzelstaaten ausdehnen. Die Probleme dieser Giganten sind nicht mehr von den einzelnen Munzipa- litäten zu lösen, ja sie übersteigen vielfach die Kompetenz der Einzelstaaten, um so mehr,

545 GÜNTHER E C K S T E I N als deren gesetzgebende Körperschaften noch immer von den Landkreisen beherrscht werden. Erstmals unter Kennedy hat die Bundesregierung begonnen, sich für diese Pro- bleme zu interessieren: Verkehr, Slumbereinigung, öffentliches Gesundheitswesen, Ju- gendkriminalität, Wasserversorgung. Bescheidene Anfänge, geringe Summen — denn auch im Kongreß ist das relative Gewicht der städtischen Wähler schwächer und dank der Machtstellung der Komiteevorsitzenden das Gewicht der wenig industrialisierten Süd- staaten ungebührlich stärker. Hier wirkt sich überdies die Koalition der südstaatlichen Demokraten mit den konservativen Republikanern besonders hemmend aus. Immerhin ist im Juni dieses Jahres erstmals ein Gesetz zum Ausbau von Massenverkehrsmitteln mit Hilfe liberaler Republikanischer Abgeordneter verabschiedet worden.

VI

Das Versagen der gesetzgebenden Körperschaften vor den Aufgaben der neueren gesell- schaftlichen Entwicklung hat dem Supreme Court auf vielen Gebieten eine immer wich- tigere Rolle zugewiesen, die ihm ursprünglich keineswegs zugedacht war. Unter dem Vorsitz des fortschrittlichen Earl Warren hat sich der Oberste Gerichtshof dieser Rolle glücklicherweise nicht entzogen. (Seine Ernennung war ein vielleicht ungewolltes, aber dennoch bleibendes Verdienst Eisenhowers.) Die Gesetzesauslegung mußte nachhelfen, wo die Gesetze, Institutionen und Gewohnheiten gar zu sehr in Widerspruch zur gesell- schaftlichen Entwicklung geraten waren, und sie wies damit neuer Gesetzgebung die Ziel- richtung. So ist das Civil Rigths Gesetz von 1964, das die Gleichstellung der Neger viel weitergehend als bisher verankert, eine direkte Folge der zahllosen Litigationen des letzten Jahrzehnts, von der berühmten Entscheidung über die Desegregierung der öffent- lichen Schulen 1954 bis zum Recht auf friedlichen Sit-in in öffentlichen Geschäften 1964. Von weniger unmittelbarer, aber dafür vielleicht um so weittragender Bedeutung sind die neuerlichen Entscheidungen des Supreme Court, die eine Neueinteilung der Wahlbe- zirke sowohl für das Bundes-Abgeordnetenhaus wie für die einzelstaatlichen Parlamente auf der Basis einer möglichst gleichmäßigen Bevölkerungszahl erzwingen. Danach wird sich in den nächsten Jahren die Zusammensetzung dieser gesetzgebenden Körperschaften erheblich ändern, und den städtischen Bezirken wird endlich das gesetzgeberische Ge- wicht verliehen, das ihnen im Einklang mit der sozialen Entwicklung der letzten 50 Jahre zusteht. (Die meisten einzelstaatlichen Wahlbestimmungen gehen noch vor den 1. Welt- krieg zurück.) Per Saldo wird diese Entwicklung auf die Dauer zu einer weiteren Schwächung der Republikaner und innerhalb beider Parteien zu einer Stärkung der fortschrittlichen, städtischen Elemente führen. Ebenso wichtig wird vielleicht die Auswirkung auf die Parteiorganisationen selber sein. Diese sind bekanntlich keine geschlossenen, einheitlich geführten nationalen Gremien, sondern vielmehr eine lockere Vereinigung einzelstaat- licher und lokaler Organisationen auf der Basis der örtlichen Wahlbezirke. So bot die gegenwärtige Präsidentenwahl den Konservativen in der Republikanischen Partei viel- leicht die letzte Gelegenheit, durch Goldwater wenn auch nicht die Präsidentschaft, so die Kontrolle des Parteiapparats zu erringen.

VII

Trotz der Geräusche über Vietnam und Kuba steht der Wahlkampf im wesentlichen im Zeichen der Innenpolitik. Die Demokraten betonen die anhaltende Konjunktur, die Er- rungenschaften auf dem Gebiet der Civil Rights, den Kampf gegen die Armut — die von den Konservativen völlig beherrschte Republikanische Partei pocht auf die „alten Frei-

546 DAS GOLD WATER-PHÄNOMEN heiten“: die Freiheiten der Einzelstaaten gegenüber der Zentralregierung; der Unterneh- mer und einzelnen Arbeiter gegenüber den Gewerkschaften und staatlicher Kontrolle; der Besitzenden auf uneingeschränkte Verfügung über ihr Eigentum. Eine Sehnsucht nach dem Status quo ante Roosevelt, die keinerlei Aussicht hätte, sich in eine Wahlmehrheit umzusetzen, wenn nicht in diesem Jahr ein ungewöhnlicher Umstand Goldwater zu Hilfe käme: der sogenannte „White Backlash“ im Norden. Darunter versteht man die Reaktion vieler weißer Schichten, die sich von der militanten Negerbewegung in ihren Jobs und in ihren Wohnbezirken bedroht fühlen, darunter auch zahlreiche normalerweise demokra- tische Arbeiter und Kleinbürger. Umfang und Intensität dieser weißen Reaktion ist schwer abzuschätzen; sie hat sich bei verschiedenen Gelegenheiten als überraschend beachtlich erwiesen (z. B. in den demokratischen Primaries in Wisconsin und Indiana; im Widerstand gegen gewisse Maßnahmen zur Überwindung der de facto Schulsegregie- rung in New York, Boston usw.). Gewerkschaftsführer, wie David Macdonald von den Stahlarbeitern, haben vor dieser Stimmung unter ihren Mitgliedern gewarnt. Die Aus- schreitungen in den Negerbezirken von New York, Rochester und anderen Großstädten sind natürlich Wasser auf die Mühlen Goldwaters, der geschickt seinen Widerstand gegen die Gleichberechtigung hinter der Forderung nach „Sicherheit auf unseren Straßen für unsere Frauen und Kinder“ verbirgt. Wieweit wird sich diese Stimmung auch tatsächlich in Stimmen umsetzen? Werden genügend normalerweise demokratische Arbeiter und Kleinbürger trotz seiner anti- gewerkschaftlichen Politik für Goldwater stimmen, um ihm die Mehrheit in zwei oder drei großen nördlichen Industriestaaten zu verschaffen, die er zu einem Wahlsieg braucht? Es scheint um so weniger wahrscheinlich, als Goldwater seinerseits mit einem gewissen Verlust liberal-republikanischer Stimmen rechnen muß, aus Kreisen, die in ihm eine Gefahr sowohl für ihre Partei wie für Amerika überhaupt sehen. Seine Außenpolitik in ihrer primitiven Reaktion auf unangenehme Situationen und in ihrem Bombenrasseln ist ebenso blind gegenüber der weltpolitischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts wie seine Innenpolitik gegenüber der sozialen Entwicklung der Vereinigten Staaten. Im Grunde eine Neuauflage des Isolationismus, die aber freilich einer latenten Sehnsucht weiter Kreise nach der „guten alten Zeit“ entgegenkommt, in der es sich die Vereinigten Staaten leisten konnten, ohne Sorge um weltpolitische Komplikationen ihren eigenen Weg zu gehen, und in der kein „Wohlfahrtsstaat“ und kein hoher Militäretat dem einzelnen eine hohe Steuerlast aufbürdete. Dieser Isolationismus lauert immer noch unter der politischen Oberfläche; psycho- logisch ist diese lange Epoche der amerikanischen Geschichte nicht völlig überwunden. Aber wenn nicht alle Anzeichen trügen und alle Prognosen (einschließlich seiner eige- nen) sich irren, dann hat Goldwater keinerlei Aussicht auf einen Wahlsieg über Lyndon Johnson, der nicht nur handfeste Leistungen, angefangen mit der längsten ununterbroche- nen Konjunkturperiode, vorzuweisen hat, sondern außerdem auch ein Meister der poli- tischen Taktik ist. Zu konkret, sollte man meinen, sind die Vorteile des „Wohlfahrt- staats“ für jeden einzelnen, zu greifbar die beruhigende Wirkung einer immerhin erheb- lich entspannten außenpolitischen Konstellation; mit einem Wort, zu stark sind die Ge- gebenheiten der 20. Jahrhundertmitte im allgemeinen Bewußtsein verankert, als daß er- wartet werden könnte, daß eine Mehrheit der Wählerschaft ihr Geschick einem noch so sympathischen Don Quijote überantworten würde. Gewiß, es fehlt unserer Zeit nicht an absurdem Geschehen; aber in diesem Fall ist doch wohl zu erwarten, daß Goldwater nicht nur die verdiente Wahlniederlage erleiden wird, sondern auch seine Partei im Stru- del dieser Niederlage zwar nicht vernichtet, aber vielleicht auf Jahrzehnte geschwächt werden wird. Diese Schwächung, so bedauerlich sie in mancher Hinsicht sein mag, wäre kein zu hoher Preis für die Wiederherstellung des Vertrauens in den gesunden politischen Instinkt des amerikanischen Volkes.

547 J. W. BKOGEL Die Geschichte der Internationale

Verhältnismäßig kurz nacheinander sind der erste, inhaltlich bis 1914 reichende und der zweite, bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges führende Band der großangelegten Geschichte der Internationale aus der Feder von Julius Braunthal erschienen. 1) Da- mit ist eine fühlbare Lücke in der Literatur gefüllt worden, denn bisher hat es eine umfassende Geschichte der Sozialistischen Internationale von ihrer ersten Gründung 1864 bis fast zur Gegenwart nicht gegeben. Die hohen Erwartungen, mit denen man das mit ebensoviel Sachkenntnis wie Liebe zur Sache geschriebene Werk zu lesen be- ginnt, werden nicht enttäuscht. Braunthal fühlte sich schon, als er Redakteur der Wiener Arbeiter-Zeitung war, der internationalen Bewegung mindestens so eng ver- bunden wie der Arbeiterbewegung seines eigenen Landes. Er hat in der Emigration der Hitlerjahre um die Erhaltung des internationalen Denkens in einer durch nationale Leidenschaften aufgewühlten Kriegswelt gekämpft und war dann bis 1956 der erste Sekretär der nach vielen Irrungen und Wirrungen neugegründeten Sozialistischen Inter- nationale. Seither hat sich seine Arbeitkraft wieder mehr seinem eigentlichen Betäti- gungsfeld gewidmet, dem des Schriftstellers und Historikers, der in dem nun vorliegen- den Werk mit Recht die Krönung seiner Lebensarbeit sehen kann. Das einzige vergleichbare Werk ist G. D. H. Coles (übrigens mit Braunthals Hilfe entstandene) siebenbändige Geschichte der sozialistischen Gedankenwelt. 2) Aber wäh- rend Cole dem Titel seines Werkes eigentlich nur dort gerecht wird, wo er von den Vorläufern und Anfängen der Arbeiterbewegung spricht, und für die spätere Zeit eine Geschichte der einzelnen sozialistischen Parteien vorgelegt hat, sind Braunthals zwei Bände weit mehr als eine trockene Verzeichnung von Daten, Kongressen und Resolutionen; sie bieten zugleich eine Geschichte der geistigen Strömungen, die die sozialistische Bewegung geschaffen und getragen, die sie manchmal in ihren Grund- festen erschüttert haben und die zu studieren keiner unterlassen kann, der die Proble- matik unserer Zeit verstehen will. Braunthal geht bis ins 17. Jahrhundert zurück, um den Wurzeln der sozialistischen Gedankenwelt nachzuspüren. Für ihn führt die Linie von der großen französischen Revolution — das ihr gewidmete Kapitel, ein wahres Kabinettstück analytischer Ge- schichtsschreibung, könnte ganz für sich allein bestehen — über Babeufs „Gesellschaft der Gleichen“ und die englische Chartistenbewegung zum „Kommunistischen Manifest“ mit dessen Verheißung einer Gesellschaft, in der „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Braunthals Studium der ungedruckten Protokolle der Generalratssitzungen der Ersten Internationale macht seine Schilderung ihrer Entwicklung von der Gründung 1864 bis zur Selbstauflösung 1872 zu einer wichtigen Geschichtsquelle, da sie mit manchen Legenden aufräumt. Es war eine Inter- nationale ohne Massenbasis, eine Organisation, die keine Mitgliedsparteien im modernen Sinne hatte, die weder Geld noch Einfluß besaß, die an inneren Kämpfen erst mit dem Proudhonismus und dann mit dem Anarchismus krankte und schließlich an ihnen zugrunde ging — und doch haben die Arbeiter in sie gewaltige Hoffnungen gesetzt und die Gegner ihr die Macht angedichtet, die Pariser Kommune von 1871 „verschuldet“ zu haben. Besonders wertvoll und lehrreich für die Gegenwart ist hier Braunthals lebendig geschriebene Darstellung der mannhaften Haltung, die Wilhelm Liebknecht und Bebel im nationalistischen Taumel von 1870/71 einnahmen.

1) Julius Braunthal, Geschichte der Internationale, Band 1, 404 Seiten und 40 Seiten Kunstdruck, Verlag J. H. W, Dietz Nachf. GmbH, Hannover 1961. Band 2, 618 Seiten und 40 Seiten Kunstdruck, Hannover 1963. 2) G. D. H. Cole, A History of Socialist Thought. Fünf Teile in sieben Bänden, London 1953—1960. — Der letzte Band „Socialism and Fascism'* wurde vom Rezensenten in den „Gewerkschaftlichen Monatsheften“, 1961, S. 699 ff.

548 D I E GESCHICHTE DER INTERNATIONALE In ständigen, lange nicht überwundenen Kämpfen mit den Anarchisten, den Syndi- kalisten und der heute ganz vergessenen „rechten Abweichung“ der Possibilisten wurde dann die Zweite Internationale geboren, die sich zu den Auffassungen von Karl Marx bekannte, aber zum Unterschied von ihrer Vorgängerin auf Massenparteien aufgebaut war. Ihre wechselnden Schicksale, die Persönlichkeiten, die im Vordergrund standen, die liebevolle Charakterisierung der einzelnen Pioniere der internationalen Arbeiterbewegung ist einer der stärksten Vorzüge des Buches — und die inneren Auseinandersetzungen, die sie erschütterten, werden von Braunthal ebenso eingehend geschildert wie die Geschichte der Parteien der einzelnen Länder oder die Geschichte der Maifeier. Besonders dankbar muß man dem Autor sein, daß er der heutigen Generation den, abgesehen vom Kriegsproblem, an dem sie scheiterte, wichtigsten, ja den eigentlichen Konflikt innerhalb der Internationale durch faire Wiedergabe der einzelnen Standpunkte näherbringt: den Streit um den Revisionismus, den „ Ministerialismus“, die Beteiligung sozialistischer Parteien oder einzelner Sozialisten an vorwiegend bürgerlichen Regierungen, einen Streit, der sehr wesentlich mit der Einschätzung der Möglichkeiten und der Bedeutung der politischen Demokratie für die Arbeiterbewegung zusammenhängt. In den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wäre die Heftigkeit der damaligen Auseinandersetzungen, die formell mit der Niederlage und faktisch mit dem Sieg der Revisionisten endeten, kaum noch verständlich, wenn uns Braunthal nicht mit der ganzen Atmosphäre der Jahrhundertwende bekannt machen würde. Regierungs- beteiligung ist heute allgemein als Frage nicht der grundsätzlichen Haltung, sondern als eine taktische anerkannt. Obwohl das eigentlich schon der Pariser Internationale Kongreß von 1900 aussprach, war das unter den damaligen Verhältnissen keineswegs selbstverständlich, und Braunthal tut recht, die scharf „antirevisionistische“ Haltung eines August Bebel im Vergleich mit den Auffassungen Jean Jaures' damit zu erklären, daß in Frankreich bereits eine politische Demokratie bestand, die es gegebenenfalls zu verteidigen galt, im wilhelminischen Deutschland aber nicht. Braunthal nimmt auch den Wortführer der deutschen Revisionisten, Eduard Bernstein, gegen den billigen Vorwurf in Schutz, er sei eine Art Verräter an der Sache gewesen. Aber er nimmt doch auch ' wieder Partei in einem Streit, in dem man heute kaum ein Urteil fällen kann, indem er sagt, ein Eingehen auf die Gedankengänge Bernsteins hätte der Arbeiterbewegung kaum mehr Durchschlagskraft gegeben, ihr jedoch den Elan genommen, dem „Glau- ben an eine große historische Mission, den der Marxismus der Arbeiterklasse verlieh“. Wäre das wirklich unvermeidlich gewesen? Schließlich stammt von Karl Kautsky, der um die Jahrhundertwende gegen Bernsteins Revisionismus aufgetreten ist, die Erkennt- nis, „daß nicht nur ohne Demokratie kein Sozialismus möglich ist, sondern, daß es auch keinen anderen Weg zum Sozialismus gibt als den der Demokratie, die zuerst errungen sein muß“. 3) Zum großen, auch nach fünfzig Jahren nicht verwundenen Schmerz aller Inter- nationalisten ist die Zweite Internationale an der Haltung zum ersten Weltkrieg zer- brochen. Mit unwesentlichen Ausnahmen haben sich — ungeachtet aller Gelöbnisse, einen Krieg durch über die Fronten reichende internationale Solidarität zu verhindern — 1914 die einzelnen sozialistischen Parteien für das entschieden, was sie für die Verteidigung ihres Landes hielten. Mit der Schilderung aller Etappen dieser furchtbaren Enttäuschung setzt der zweite Band ein, den die Erregung des Miterlebens durchzittert. Die deutsche Sozialdemokratie, die bis zum letzten Augenblick für eine friedliche Lösung eintritt, stimmt geschlossen für die Kriegskredite. Der österreichischen Sozialdemokratie wird dieses Dilemma dadurch erspart, daß die Regierung ohne Par- lament und autokratisch vorgeht; aber sie stellt sich der Kriegspolitik nicht mehr ent- 3) Karl Kautsky, Demokratie und Diktatur. Der Kampf, Wien, Heft 2/1933.

549 J. W. BRÜGEL gegen. Die polnischen Sozialisten begrüßen den Krieg, weil er ihnen die Aussicht eröff- net, die verhaßte russisch-zaristische Vorherrschaft abzuschütteln. Die Sozialisten des von Deutschland überfallenen neutralen Belgien bejahen den Krieg begreiflicherweise als Vorbedingung zur Befreiung ihres Landes. Die brutale Verletzung der belgischen Neutralität schwemmt auch bei den französischen und englischen Sozialisten viele Vor- behalte gegen eine Politik der Landesverteidigung weg. In England allein ist in einem Teil der Labourbewegung eine aktive Opposition gegen den Krieg fühlbar, aber wäre sie auch in Erscheinung getreten, wenn die Arbeiterpartei damals mehr als eine ver- hältnismäßig einflußlose Oppositionspartei dargestellt hätte? Braunthals außerordentlich faire Darstellung der Entwicklung in den einzelnen Ländern und der sie bestimmen- den oder von ihr bestimmten Erwägungen ist oft von dramatischer Wucht und regt vor allem immer wieder zum Nachdenken und zu Vergleichen an. Nur mit tiefster Rührung kann man lesen, wie die zwei einsamen sozialistischen Abgeordneten im serbischen Parlament — ihnen hätte man unter den Umständen ein Abirren vom Wege des konsequenten Internationalismus verziehen — sich auch nach der österreichischen Kriegserklärung der österreichischen Arbeiterbewegung mehr verbunden fühlten als dem Verteidigungsbedürfnis des eigenen Landes. „Mächtige Gefühle des Patriotismus und Nationalismus“, sagte Braunthal, „hatten in den breiten Massen der Arbeiterklasse geschlummert. Sie wurzeln letzten Endes in der Tatsache, daß die Volksmassen physisch und kulturell mit dem nationalen und staatlichen Gemeinwesen, zu dem sie gehören, verwachsen sind, daß dieses Gemeinwesen gleichsam die soziale Erde bildet, von dessen Existenzbedingungen und Schicksal ihr eigenes Dasein unzertrennlich ist.“ Das ist eine sehr richtige Erklärung; aber erklärt sie auch alles, was damals vorgegangen ist oder unterlassen wurde? Wieviel der Schuld auf das Konto menschlicher Unzulänglichkeit entfällt, wird sich wohl nie mehr mit Sicherheit nachweisen lassen, doch der Autor hat sicherlich recht, wenn er sagt, die vom Krieg überraschten Parteien hätten sich gleich- sam instinktiv in dessen Dienst gestellt, „um der gefürchteten Niederlage ihres Landes zu entrinnen“. Ohne es direkt auszusprechen, will er damit wohl ausdrücken, daß eine grundsätzlich andere Politik überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Der rück-, schauende Betrachter wird für die Erinnerung dankbar sein, daß der russische Sozialdemokrat Plechanow (1857—1918) die Dinge klarer gesehen hat als jene, die sich den Krieg auf Seiten der Mittelmächte als einen Kreuzzug gegen den Zarismus, damals Europas reaktionärste Kraft, aufschwatzen ließen. Bei aller innerpolitischen Opposition verkannte Plechanow nicht, daß ein Sieg Wilhelms den Untergang der europäischen Demokratie bedeuten müßte, seine Niederlage aber der Demokratie und dem sozialen Fortschritt den Weg ebnen würde. Objektiver als Karl Kautsky in seinem leider verschollenen Alterswerk „Sozialisten und Krieg“ (Prag 1937) behandelt Braunthal die Bemühungen unentwegt international gesinnter Sozialisten, mitten im Kriegslärm zu neuen Formen der internationalen Zu- sammenarbeit zu gelangen. Er weist nach, daß die Konferenzen von Zimmerwald (1915) und Kienthal (1916), beides Orte im Berner Oberland, sich zwar gegen die Unter- stützung der Kriegspolitik auf beiden Seiten wendeten, sich aber der Einflüsterungen Lenins erwehren konnten, der die Krise in der Zweiten Internationale für die bolsche- wistischen Gedankengänge ausnützen und auf ihren Grundlagen eine neue Internationale aufrichten wollte, die sozusagen die authentische Fortsetzerin der unverfälschten Tra- dition gewesen wäre. Diesen Triumph gelang es zu verhindern, aber nicht verhindert werden konnte die Ausdehnung der in Rußland praktisch schon seit 1903 herrschenden Spaltung zwischen Bolschewisten und Menschewisten in die internationale Sphäre. Die Gründung der Dritten Internationale im März 1919, deren Wortführer vor keinem Schritt zurückschreckten, der die Beseitigung und Zertrümmerung der sozialdemokrati- schen Bewegung zu verheißen schien, war für diese mindestens ein so schwerer Schlag

550 D I E G E S C H I C H T E DER INTERNATIONALE wie das tragische Versagen bei Kriegsausbruch. Alle die kommenden Jahre sind aus- gefüllt von erbitterten Auseinandersetzungen mit einem tückischen Feind, der einen einmal in offener Feldschlacht niederwerfen und dann wieder in seiner Umarmung erdrücken möchte. So ist der zweite Band, den uns Braunthal gegeben hat, vielfach mehr eine Geschichte der Dritten Internationale als eine der Organisation, um die es dem Autor eigentlich geht. Aber das ist bei der Natur der Sache unvermeidlich; ohne eine eingehende Schilderung der kommunistischen Theorie und Praxis könnte eine den Er- eignissen zeitlich entrückte Generation die Erbarmungslosigkeit der Kämpfe im Arbei- terlager ebensowenig verstehen wie sie Verständnis dafür aufbringen könnte, daß die Stimmung der Arbeiterschaft nach einer Überwindung dessen drängte, was man damals nur als einen „Bruderzwist“ betrachtete, als einen Streit um den richtigen Weg zu einem trotz alledem gemeinsamen Ziel. Es bedurfte erst des Umweges über die sich links von der Zweiten Internationale konstituierende „Internationale Arbeitsgemein- schaft Sozialistischer Parteien“ („Internationale 2V2“), die vergeblich Brücken nach links und erfolgreich solche nach rechts zu schlagen suchte, ehe es 1923 in Hamburg zur Schaffung der Sozialistischen Arbeiter-Internationale kommen konnte, die auf dem durch Versagen im Krieg und Spaltung angerichteten Trümmerfeld die Fahne des demokratisch-sozialistischen Bekenntnisses hißte. Sie und die ihr angeschlossenen Parteien waren bald in die Defensive gedrängt durch das Vordringen des internationalen Faschismus, in vielen Fällen, am schmerz- lichsten in Deutschland, dir ;ekt begünstigt durch die kommunistische Taktik des Gleich- setzens der politischen Demokratie mit dem Faschismus. Die Tragödie des Zusammen- bruchs der Demokratie in einem Land Europas nach dem anderen wurde wohl noch nie so bis in alle Einzelheiten gehend, tatsachengetreu und zugleich atemberaubend-span- nend erzählt, wie es Braunthal in seinem Buch tut. Im Mittelpunkt steht natürlich das Trauerspiel, dessen Opfer die demokratische Arbeiterbewegung Deutschlands wurde. Soweit es überhaupt möglich ist, hier Licht und Schatten gerecht' zu verteilen und alle die heute noch quälenden Fragen zu beantworten, hat es der Verfasser getan. (Viel- leicht hätten die lähmenden Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit mehr betont werden können). Sicher waren viele Fehler, die begangen wurden, vermeidbar, aber die Katastrophe war kaum abzuwenden mit einem Feind im Rücken, der sich lieber selbst mitvernichtete, als daß er darauf verzichtet hätte, die demokratische Ordnung bis aufs Messer zu bekämpfen. Schade, daß Braunthal nicht auch die Worte zitiert hat, die Pietro Nenni, von 1944 bis mindestens 1956 ein treuer Verbündeter der Kommu- nisten, am Kongreß der Sozialistischen Arbeiter-Internationale in Wien (Juli 1931) sprach: 4) „Um so mehr als wir durch unsere Ideologie zu linken Lösungen gedrängt werden, um so mehr haben wir die Pflicht, daran zu denken, daß der Kommunismus verantwortlich ist für die Spaltung des Proletariats. Ich meinerseits vergesse die innere Bewegung nicht, mit der heute früh unser Freund Breitscheid bedauert hat, daß man in Deutschland keine Einheitsfront der Arbeiter gegen den Faschismus errichten kann, und ich vergesse schon gar nicht, daß in neun Tagen die deutschen Kommunisten an der Seite des Faschismus marschieren werden, um die Position der deutschen Sozialdemokratie zu sdrwächen.“ Nicht minder aufwühlend ist die Schilderung der österreichischen und dann der spanischen Tragödie durch Braunthal. Die deutsche Sozialdemokratie war kampflos untergegangen. Das dadurch ausgelöste Trauma zwang die österreichischen Sozialdemo- kraten zu dem Beschluß, sich nicht kampflos zu ergeben. Sie mußten ihn unter den ungünstigsten äußeren Voraussetzungen und im Widerstand nicht gegen den Haupt- feind, den deutschen Nationalsozialismus, durchführen, sondern gegen dessen unfrei- willigen Wegbereiter, das Dollfuß-Regime. Der Heroismus der um die Erhaltung der 4) Nach dem Kongreßprotokoll zitiert bei Maria Sokolova, L'Internationale Socialiste entre des deux guerres mon- diales, Paris 1954, S. 119.

551 J. W. BRÜGEL Demokratie kämpfenden Arbeiter wird nicht durch die Tatsache gemindert, daß es ihrer verhältnismäßig wenige waren und die Mehrheit passiv blieb. Aber sie gab Karl Kautsky Anlaß, in einer anonym veröffentlichten Broschüre 6) die deutschen Arbeiter gegen den (unausgesprochenen) Vorwurf des Zurückbleibens hinter dem Todesmut der österreichischen zu verteidigen. Für ihn war der Zusammenbruch der deutschen Demo- kratie ein „Elementarereignis, das kein Ehrbegriff irgendwelcher Art hätte verhindern können“. Er wollte das moralische Recht der Arbeiter nicht bestreiten, drohender Unter- jochung durch rohe Gewalt ihrerseits Gewalt entgegenzusetzen. „Aber die moralische Pflicht haben sie nur dort, wo die Gewaltanwendung Erfolg zu haben verspricht.“ Im österreichischen Fall mag es ziemlich deutlich gewesen sein, daß das nicht der Fall war; ist es aber immer möglich, die Erfolgsaussichten halbwegs verläßlich abzuschätzen? Und wäre die endgültige Katastrophe durch weiteres passives Zuwarten 1934 abgewehrt oder gelindert worden? Noch einmal schien es, als würde sich bei Weiterbestehen aller ideologischen Gegen- sätze wenigstens eine gewisse Solidarität der Geschlagenen, eine Art Nichtangriffspakt zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten nach ihrer Niederwerfung durch den Nationalsozialismus anbahnen können. Er hätte zweifellos der Stimmung der Arbeiter- schaft entsprochen, die die Rückstellung weniger akuter Streitfragen angesichts der Brutalität des gemeinsamen Feindes verlangte. Die Antwort der Kommunisten war im Wahlaufruf dar KPD zu den letzten Reichstagswahlen vom 5. März 1933 enthalten, demzufolge „jede Stimme für die SPD eine Stimme für Hitler“ sei. Ein Hoffnungs- schimmer zeichnete sich wieder ab, als der letzte Komintern-Kongreß im Sommer 1935 spät, aber doch die Notwendigkeit des Kampfes für die Demokratie betonte, und die Haßgesänge einem Umwerben der Sozialdemokratie und aller verläßlich demokra- tischen Kräfte Platz machten. Ganz gegen die Norm waren die französischen Kom- munisten der Komintern — keine echte Internationale, sondern ausführendes Organ der Moskauer Außenpolitik — vorgeprellt und hatten schon 1934 ihre Politik auf eine Zusammenarbeit der Linken gegen die Reaktion umgestellt. So kam dann das von Braunthal sorgfältig in allen Stadien beschriebene Experiment der französischen Volksfront zustande, das sich von einer „Volksfront“ der kommunistischen Vorstel- lungswelt, d. h. einer von den Kommunisten geführten und für ihre Zwecke miß- brauchten Koalition, grundlegend unterschied: es beruhte auf der Zusammenarbeit der von Blum geführten Sozialdemokraten, der bürgerlichen Linken und der Kommuni- sten, denen es so verwehrt war, sich zum herrschenden Faktor aufzuschwingen, worauf sie von Unterstützern Saboteure des Werks der Regierung Leon Blum wurden. Diese Erfahrung zusammen mit der Kulturschande der Moskauer Schauprozesse hat alle Hoffnungen wenigstens auf einen Modus vivendi zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie erstickt, ehe noch der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 sie ins Irreale ver- wies. Die wohldokumentierte Darstellung, die Braunthal von diesem schamvollsten Kapitel kommunistischer Politik und von der späteren Abwürgung der lästig gewor- denen Komintern durch Stalin gibt, muß den Leser schaudern machen vor soviel zyni- scher Bereitschaft, heute zu verbrennen, was anzubeten gestern noch heiligstes Gebot war. Man muß sich allerdings fragen, ob Braunthal geradezu klassische Anprangerung einer beispiellosen politischen Perversität, in der für alle Zukunft alle entscheidenden Fakten zusammengetragen scheinen, nicht eher in einem anderen Zusammenhang hätte veröffentlicht werden sollen als in einer Geschichte der Sozialistischen Internationale, deren Eigentätigkeit manchmal etwas stiefmütterlich behandelt wird. Man hätte z. B. in dem Buch gern etwas über die 1923 gegründete Sozialistische Jugendinternationale

5) Grenzen der Gewalt, Aussichten und Wirkungen bewaffneter Erhebungen des Proletariats. Sozialdemokratische Schriftenreihe Nr. 10, Karlsbad 1934. 552 D I E GESCHICHTE DER INTERNATIONALE gefunden, deren letzter Sekretär und deren letzter Vorsitzender Torston Nilsson, der gegenwärtige schwedische Außenminister, war. Ein interessanter Beleg für die durch die Entwicklung herbeigeführte Änderung der Begriffswelt wäre z. B, ein Hinweis auf das vom Internationalen Kongreß in Brüssel 1928 beschlossene Kolonialprogramm gewesen, das bei aller Ablehnung des Kolonialismus Fortschritt im Wege einer Internationalisierung der Kolonialverwaltung, nicht im Wege ihrer Ab- schaffung suchte. Dieses 1928 noch fortschrittliche Rezept wäre 1946 ganz unanwendbar gewesen, als die britische Labourregierung Indien, Pakistan und Burma die volle Frei- heit nicht länger verweigerte. Der Enttäuschung über das Versagen des internationalen Gedankens 1914 ist eine andersgeartete Enttäuschung Ende der dreißiger Jahre gefolgt: die Sozialistische Arbeiter- Internationale ist nicht an einem Tag zusammengebrochen. Im Wirbel des aufregenden Geschehens blieb es ganz unbemerkt, daß das Eindringen der Gestapo ins Büro der Internationale in Brüssel im Mai 1940 ihrer formalen Existenz ein Ende bereitete. Der Glauben mancher Mitgliedsparteien, den über Europa dahinbrausenden Sturm des Faschismus durch Stillehalten überleben zu können, hat sie immer aktionsunfähiger gemacht. Sie hat nicht einmal nach Kriegsausbruch ein klares Wort, eine deutliche Parole aussprechen können. So wurde sie am Ende überhaupt nicht mehr zur Kenntnis genommen. Auch dieser traurige Abschluß wird vom Autor tatsachengetreu dargestellt. Bei einem Werk so ungeheuren Ausmaßes sind gewisse kleinere Irrtümer in bezug auf Namen und Daten wohl unvermeidlich. (Man muß es auch bedauern, daß sich manche Anglizismen in Braunthals Text eingeschlichen haben; dagegen ist offenbar auch ein Meister der deutschen Sprache nach langjährigem Aufenthalt im englischen Sprachkreis wehrlos.) Es ist zwar nur ein kleines Versehen, verschiebt aber den Sach- verhalt, der die Februar-Ereignisse des Jahres 1934 in Österreich ausgelöst hat, wenn der Autor einen Überfall der faschistischen Heimwehren auf das Linzer Ärbeiterheim als Ausgangspunkt angibt. Otto Bauer, dessen Darstellung (in der Broschüre „Der Aufstand der österreichischen Arbeiter“, Bratislava 1934) er sonst folgt, hat von einem Eindringen der nach Waffen suchenden Buiidespolizei in das Gebäude gesprochen. Es stimmt auch nicht, wie Braunthal annimmt, daß sich die deutsche Sozialdemokratie der Tschechoslowakei nach der Entscheidung von München aufgelöst hat; sie wurde von Hitler nach dem 15. März 1939 aufgelöst. Die tschechoslowakische Sozialdemokratie ist zwar Ende 1938 aus der Internationale ausgetreten und versuchte, wenn auch erfolglos, unter anderer Firmenbezeichnung unterzutauchen, aber es stimmt nicht, daß sie „Juden als Mitglieder ausschloß“. Es ist der Verworrenheit der damaligen Zeiten und kann einer Nachlässigkeit des Verfassers zuzuschreiben sein, daß solche Versionen nicht früher berichtigt wurden. Nicht unerwähnt bleibe, daß der dokumentarische Wert der beiden Bände noch wesentlich durch die im Anhang gedruckten, heute schwer erreichbaren Texte erhöht wird — hier finden sich z, B. die oft genannten, aber im Wortlaut fast unbekannten „Einundzwanzig Bedingungen“ für die Aufnahme in die Kommunistische Internationale. Dem Verlag gebührt Dank dafür, daß er das Werk in einer würdigen Ausstattung herausgebracht und ihm viele wertvolle Illustrationen beigegeben hat. Das bedingte leider einen hohen Preis, der manchem den Erwerb verwehren dürfte. Aber das Werk sollte in keiner Arbeiter- oder Gewerkschaftsbibliothek fehlen, und im übrigen wird gerade der gewerkschaftlich interessierte Leser aus der in den Text eingestreuten Geschichte des Internationalen Gewerkschaftsbundes und seiner kommunistischen Kon- kurrenzorganisation viele Anregungen empfangen. Es ist zu hoffen, daß Braunthal seine höchsten Respekt verdienende Leistung durch einen dritten Band vollendet, der die Darstellung bis zur Gegenwart weiterführt.

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