Junge Denkmäler in Deutschland

November 2020 Kostenlos zum Mitnehmen

Drei Jahrzehnte Wohnen

Junge Denkmäler repräsentieren eindrucksvoll die Wohnarchitektur der 1960er, 1970er und 1980er Jahre und sind anschauliche Zeugnisse einer vielschichtigen Wohnkultur in Deutschland – die Landesdenkmalämter präsentieren ihre jüngsten Forschungsergebnisse.

„Das Haus ist eine Maschine zum Wohnen“ schaftlichen Bedürfnisse prägen diesen - so fortschrittlich Le Corbusier­ es 1922 Zeitraum durchgehend. meinte – eine Maschine kann schließlich ein gut angepasstes Hilfsmittel­­­­­­ sein –, Monster- und Ökobauten so wenig setzte sich diese Haltung durch. Wohnen gehört schließlich zu Dagegen ändern sich die Formen der den Grundbedürfnissen des Menschen, Bauten deutlich: Zwischen der Über­­ und das Gehäuse für dieses Bedürfnis bauung eines Autobahnabschnitts mit prägt seine Lebensumwelt fundamental. Wohnungen in (1973-81) und der So ist es denn auch von vielen Tradi- Öko-Siedlung in Tübingen (1983/84) gibt tionen und von politischen, rechtlichen, es in dieser Hinsicht wenig Verbinden- wirt­schaftlichen und gesellschaftlichen ­des. Gerade diese gestalterische Viel- Rahmenbedingungen geprägt.­­­ In der Aus ­ falt macht die Bauten dieser Jahre so stellung zur Denkmalmesse Leipzig spannend. Beim Wohnen kommt noch 2020 sowie dieser kostenlos auslie- die typologische Mannigfaltigkeit hinzu: ­­ genden Messezeitung mit dem Titel Das Feld reicht hier von industrieller „Wohnen 60 70 80“ geht es jedoch Fertigung im landesweiten Maßstab für weniger um diesen Hinter­grund. Vielmehr Großsiedlungen bis hin zu hoch indivi­ sollen beide einen durch­aus sinnlichen duellen Einzelbauten, die auf die Vor­ste- Zugang bieten, indem sie die gestalteri- llungen der Auftraggeber zugeschnitten schen Qualitäten im Wohnungsbau­ der sind. 1960er, 1970er und 1980er Jahre zeigen. Neuer Blick auf Unentdecktes Neue Freunde für junge Denkmale Ausstellung und Messezeitung gliedern Die Bauten der unmittelbaren Nachkriegs­ diese Fülle an Phänomenen nicht nur zeit und der 1950er Jahre werden längst chronologisch, sondern auch anhand von Brutalistische 1970er: Foto: Burkhard Körner mit nostalgischem Blick betrachtet: Eine Themen, die für den Wohnungsbau der Die Wohnanlage Orpheus und Eurydike in München bringt Bewegung in die Architektur. gewisse Bescheidenheit, heitere Farben, 1960er bis 1980er Jahr wichtig waren. Nierentisch und Tütenlampe wirken heute Dabei geht nicht darum, die aus allen zum Verwaltungsbau (2012) nun mit dem gut 40 Millionen Wohnungen in Deutsch- Sie die Zeitung in unseren drei zeitge- weit entfernt und liebenswert. Doch auch Darstellungen zur Architekturgeschichte Wohnungsbau der jüngeren Nachkriegs- land nach 1949 gebaut wurden, wird der nössischen Leseinseln oder nehmen Sie die Architektur und Stadtplanung der bekannten Bauten erneut zu zeigen. Viel- jahrzehnte beschäftigt. denkmalwerte Bestand zusehends kleiner. sie mit nach Hause. Entdecken Sie in folgenden Jahrzehnte findet immer mehr mehr resultiert die Auswahl unmittelbar sieben Kapiteln eindrucksvolle Beispiele, Fans. Sie schätzen die wilde Rohheit des aus der Forschungsarbeit der staatli- Youngtimer in Gefahr Wohnen 60 70 80 wie man in den 1960er, 1970er oder Sichtbetons, die kraftvollen Gesten der chen Denkmalpflege, die sich seit einigen 1980er Jahren in Deutschland gebaut und großen Baumassen und die skulpturale Jahren verstärkt den Denkmalen der Der Veränderungsdruck in diesem Be­­­ Die Ausstellung und diese Messezei- gewohnt hat. Form der Bauten ebenso wie die regio- jüngsten Zeit zuwendet. So hat sich die reich ist enorm, durch neue Bedürfnisse tung sind eine Einladung, die gestalte- nalen und historischen Bezüge der Post- AG Inventarisation der Vereinigung der im Wohnen wie durch den ökologischen rischen Qualitäten, die Vielfalt und den moderne in ihrer Verspieltheit und ihrem Landesdenkmalpfleger in der Bundes- Umbau, durch Verdichtung im städtischen anschaulichen Zeugnischarakter dieser Humor. Wagemut, Experimentierfreude republik Deutschland nach Veröffent- Raum wie durch Abbruch in ländlichen Bauten für die gesellschaftlich so zent- und ein stärkerer Bezug auf die gesell- lichungen zum Kirchenbau (2008) und Gebieten. Obwohl mehr als die Hälfte der rale Wohnungsfrage zu entdecken. Lesen

Fließende Räume der 1960er: Foto: Dieter Krienke Stadtreparatur in den 1980er: Foto: Mario Titze Die Siedlung am See in Worms von 1964/68 importiert den Bungalow nach Deutschland. Neubauten passen sich an die alte Stadt an, wie hier in Halle an der Saale. Junge Denkmäler in Deutschland 2

Ich wohne, wie ich sein will

Privathäuser dokumentieren individuellen Wohnstil – die 60er, 70er und 80er Jahre sind ein bunter Blumenstrauß der Wohnarchitektur

n den 1960er Jahren erlebte der Bau von folgte ein fundamentaler, durchaus von der Schwerpunkt in diesen Jahren aus Iprivaten Wohnhäusern in Deutschland Widersprüchen begleiteter Mentalitäts- baupolitischer Sicht auf der Entwicklung einen ästhetischen Wendepunkt. Nach wandel, der in äußerst vielseitiger, oft und Erstellung serieller Mietswohnhäuser Ende des Zweiten Weltkriegs hatte, von experimenteller Architektur Ausdruck und schlichter Eigenheime. Doch auch Ausnahmen abgesehen, gefälliger Bie­de- fand. Das Bauwesen der BRD er­lebte hier entwickelte sich vor dem Hinter- rsinn geherrscht. Mit dem sich ein­stelle- seit den frühen 1960er Jahren einen grund des spürbaren wirtschaftlichen nden Wohlstand wuchs nun eine aufmüp- Boom, in dem sich junge Architekten Aufschwungs schon bald eine eigen­ Würfelträume eines Stadtplaners Foto: Wendelin Seebacher figere Generation heran, die nach neuen und Bauherren zu ästhetisch ambitio- ständige Qualität im privaten Bauen. Haus Seebacher Lebensmustern suchte und von der ent­st- nierten und bautechnisch experi­mentel­len Bremen ehenden Popkultur begleitet wurde. Es Projekten aufschwangen. In der DDR lag Wendelin Seebacher 1974

er „Ölpreisschock“ der 1970er Jahre Dbedeutete einen erneuten baulichen Wendepunkt. Die steigenden Heizkosten wirkten unmittelbar auf die Architektur der Privathäuser. Vom Glas ging es zu-­ rück zur festen Wand, vom Funktiona- lismus zurück zur tradierten Form. Weg von Eindruck heischenden Solitären, hin zu einer spielerisch-ironischen Formen- kombinatorik, die in den 1980er Jahren als „Postmoderne“ bekannt wurde. Die Utopien der 1960er Jahre wurden zuneh- mend als gescheitert erkannt und mit dem Rückzug ins grüne Privateigentum der Vorstadt quittiert.

Ein Haus mit Hang zur Moderne Foto: Heiner Leiska Haus Köhnemann Konsequent modern wohnen Foto: Nieland Wohnhaus Steinmann Meinhard von Gerkan, Volkwin Marg 1968-69 Ahlen / Nordrhein-Westfalen Harald Deilmann 1965

ür die Denkmalpflege stellt der Ein­­­ Fsatz von ausgedehnten Glasflächen und Flachdächern, skulptural geformten Betonfassaden, von einst brandneuen und unerprobten Baustoffen eine große Herausforderung dar. Die ästhetisch atemberaubenden­­­­­­­ Wohnhäuser dieser Jahrzehnte erweisen sich heute vielfach als nicht mehr ökonomisch beheizbar. Energetische Verbesserungen bzw. Isolie- rungsmaßnahmen bergen die Gefahr des ästhetischen Totalverlusts dieser Denkmäler.­

Ein Bungalow im Sozialismus Foto: Wolfgang Junius Vom Heimatstil zum Brutalismus Foto: Michael Forstner Haus Göpfert Villa Michel Dresden / Sachsen Pähl am Ammersee / Bayern Rolf Göpfert 1963-65 Hubert Michel 1964-68

Betonsolitär im Steinbruch Foto: Kristine Marschall Zwischen Tradition und Moderne Foto: Rainer Müller Wohnhaus Hellenthal Haus Schmidt Mandelbachtal / Saarland Weimar / Thüringen Johann Peter Lüth 1966-67 Emil Schmidt 1969-71 3 Junge Denkmäler in Deutschland

Innen ist außen und außen ist innen Foto: Kristine Marschall Postmoderne in Arkadien Foto: Leonie Köhren Wohnanlage Dr. Pabst-Haasper Villa Glashütte Dillingen-Pachten / Saarland Utscheid / Rheinland-Pfalz Karl Hanus 1975-76 1986-88

Modern in Lübeck Foto: Christoph Wojtkiewicz Extravaganz mit Maß und Ziel Foto: Sabine Ganczarsky Atriumhäuser Solmitzstraße Atelierhaus Sumfleth Lübeck / Schleswig-Holstein Hamburg Kuno Dannien, Uli Fendrich 1969-70 Thomas Darboven 1972-75

Wie die Macht wohnen sollte

Das Wohnen der staatlichen Eliten – die Wohnhäuser der ersten Personen im Lande könnten unterschiedlicher kaum sein in Ost und West

as geteilte Deutschland ist Geschichte. Übrig geblieben sind zwei bedeutende, Dfür die Teilung exemplarische Monumente. In Bonn führte der gläserne Kanzler- bungalow der Welt seit 1963 vor, wie die Bundesrepublik Deutschland von der Welt gesehen werden wollte: demokratisch und transparent, verlässlich gegenüber seinen Partnern, bescheiden, moderat im Auftreten und fern von patriotischem Getöse.

Während die Kanzler der BRD in ihrer Dienstwohnung Staatsgäste empfingen und bewirteten, blieben die Mitglieder des Politbüros der DDR im Privaten unter sich. Die für sie eigens errichtete Waldsiedlung Wandlitz war seit 1960, ganz wie der Kanzler- bungalow, als Siedlung eine strengstens bewachte Liegenschaft.

Transparentes Wohnen am Rhein Foto: Jann Höfer Kanzlerbungalow Bonn / Nordrhein-Westfalen Sep Ruf 1963-64

eim Besuch dieser beiden symbolhaften Stätten der deutschen Zeitgeschichte ist auffallend: Die internationale Präsenta- Btion politischen Understatements des Kanzlerbungalows war der gewünschte Ausdruck auch dieser modernen Staatsarchi- Wohnen im Kollektiv Foto: Anke Jeserigk tektur. Dem gegenüber stand eine aus heutiger Sicht baulich vorgeführte Bodenständigkeit und Rechtschaffenheit des privaten Waldsiedlung Wandlitz Wohnens der ostdeutschen Führungselite, deren Versorgung und Komfort den Lebensstandard der DDR übertraf. Dennoch war Bernau / Brandenburg die biedere Ästhetik der Waldsiedlung auch als politisches Statement gedacht. Ob Bonn oder Wandlitz – privilegierte Staats- Walter Schmidt und Kollektiv 1958-1960 bauten waren sie beide. Junge Denkmäler in Deutschland 4

Hoch hinaus!

Hochhäuser sind eine neue Wohnform im Nachkriegs- deutschland. Vielfach sind sie zu Leuchttürmen der neuen Städte geworden

chon in den Jahren zwischen den komponierte, weitläufige Stadtlandschaft Sbeiden Weltkriegen gab es, auch aus unterschiedlich hohen Bauten als unter dem NS-Regime, eine Begeiste- Merkpunkte integriert. rung für Hochhäuser, doch dachte man zunächst an Bürobauten in den Innen- In den 1970er Jahren wurden Wohnhoch- städten und betrachtete sie besonders häuser vermehrt in den Städten errichtet. unter städtebaulichen Aspekten. Noch Sie erreichten größere Höhen und rich- für die britische Militärregierung wurde teten sich in Westdeutschland oft an ein 1946 in Hamburg mit dem Bau der Grin- wohlhabenderes Publikum. So waren delhochhäuser, innerstädtische Wohn- sie etwa mit aufwendigen privaten Frei- scheiben mit bis zu 15 Geschossen, zeiteinrichtungen wie Schwimmbädern, begonnen. Von prominenten Sonderfällen, Saunen und Fitnessräumen ausgestattet etwa den Wohntürmen im Hansaviertel und die Grundrisse häufig auf Paare im Rahmen der Interbau in West-Berlin oder Singles zugeschnitten. Das neue oder an der Stalinallee in Ost-Berlin, Leitbild von Urbanität durch Dichte und abgesehen, entstanden Wohnhochhäuser die gesteigerte Bedeutung der Freizeit in den 1950er und 1960er Jahren jedoch ermöglichten eine hohe Wertschöpfung, eher in den Großsiedlungen an den Stadt- fielen doch höhere Mieten mit dichterer rändern. Dort waren sie in eine eigens Bebauung zusammen.

Wohnen auf höchstem Niveau Foto: Silvia Margrit Wolf Hoch hinaus für Jedermann Foto: Werner Streitberger Colonia-Hochhaus Hochhaus Heinrichstraße Köln / Nordrhein-Westfalen Gera / Thüringen Henrik Busch 1970-73 Hochbauprojektierungsabteilung Gera 1959-63

ie bei anderen Bauaufgaben wurden Wauch beim Bau von Wohnhochhäu- sern allgemeine Tendenzen der archi- tektonischen Gestaltung augegriffen. Die eher schlichten, überschaubaren Formen der ersten Nachkriegsjahrzehnte wurden von zumeist plastischeren und komple- xeren Volumina abgelöst, Wohnungs- grundrisse wurden vielfältiger und exp­ erimenteller und die gestalterischen Freiheiten blieben nicht mehr einzelnen „Großmeistern“ wie Alvar Aalto (Neue Vahr, Bremen, 1961) oder Le Corbusier (Unité d’Habitation, Berlin, 1958) vorbe- halten, sondern setzten sich auf breiter Front durch.

In dem Rahmen, den das industrielle Bauen mit Großtafeln und die Sozial- struktur setzten, galt die Entwicklung zu größerer Komplexität auch in Ostdeutsch- land, so etwa bei den Bauten am Lenin- platz, heute Platz der Vereinten Nationen, in Berlin.

Dancing Queens Steiler Zahn am Hauptbahnhof Bewegte Zeiten für den Brutalismus Hochhäuser Wohnpark Schlossgut Wohnhochhaus Wintergartenstraße Wohnanlage Orpheus und Eurydike Hemmingen / Baden-Württemberg Leipzig / Sachsen München / Bayern Paul Stohrer 1971-74 Frieder Gebhardt, Georg Eichhorn und Kollektiv 1970-72 Jürgen Freiherr von Gagern, Peter Ludwig, Udo von der Mühlen 1971 Foto: Edeltrud Geiger-Schmidt Foto: Thomas Noack Foto: Michael Forstner 5 Junge Denkmäler in Deutschland

Zwischen Teppich und Terrasse

Ketten, Reihen, Teppiche, Terrassen – die Formenvielfalt von Siedlungen der Nach- kriegsmoderne ist überwältigend und zeugt vom Ideenreichtum dieser Zeit

in großer Teil des enormen Wohn- Eingang in das Repertoire der Bau- und Architekten geplant und im Eigentum Eraumbedarfs in der Nachkriegszeit Wohnformen in Stadt und Land. Eine Viel- entwickelt. wurde im Ideal des Einfamilienhauses falt an Architekturformen und Baustof­fen und in der Realität von Großwohn­ sowie Wohnungs- und Siedlungsgrund­ Der Blick auf den Bestand zeigt, dass siedlungen verwirklicht. Daneben entwi- rissen kennzeichnet das Planen und insbesondere die solide und robust ckelten Planer und Architekten jedoch Bauen dieser Zeit. Charakteristisch ist geplanten und anspruchsvoll umge- weitere neuartige Wohnformen. Deren auch die sorgfältige Behandlung der setzten Teppich- oder Terrassensied- Topographie in Schwarz-Weiß Foto: Felix Pilz Ziel war vor allem eine ­städtebauliche Flächen zwischen den Gebäuden: Ob be- ­ lungen anschaulich überliefert sind. Siedlung Im Schneider Verdichtung bei gleichzeitig­­­ größt­ pflanzter Sichtschutzbalkon oder park- Allzu Experimentelles oder gar Serielles Waiblingen / Baden-Württemberg möglicher Privatheit. ähnliche Landschaft, die Grün- und Frei- dagegen ist heute vielfach verändert Hans Kammerer, Walter Belz 1971-72 flächen sind trotz der Baudichte immer und überformt, besonders dann, wenn Einzelne Bungalows, eine ­Wohnform, die ein Thema. einzelne Eigentümer ihre persönlichen in den 1960er Jahren aus den USA nach Gestaltungsvorstellungen im Lauf der Europa herüberschwappte, wurden bei­­ Solche kompakten, verdichteten Wohn- Zeit durchsetzten. Gerade im einheitlichen spielsweise winkelförmig aneinander­ anlagen finden sich sowohl in Groß- Gesamtbild solcher Wohnanlagen besteht gefügt: Reihen oder Teppiche entstanden. siedlungen zur architektonischen, funk- indes der Zeugniswert für die städte- Wo es die Topografie erforderte, man­­ tionalen und sozialen Durchmischung bauliche Entwicklung der „Boomjahre“ in chmal aber auch in der Ebene, stapelte als auch in Einzellage im Stadtgefüge. Deutschland. man Wohnungen aufeinander: Terras- Es sind oft vergleichsweise exklusive sensiedlungen oder Hügelhäuser fanden Wohnanlagen, vielfach von renommierten

Vernetztes Wohnen Häuser wie gewebt Kalifornische Moderne Spiderleg in Quickborn Foto: Cornelia Fehre Wohnhäuser in der Habichtshorststraße Siedlung Schlesienstraße in Rheinland-Pfalz Bewobau-Siedlung Hannover / Niedersachsen Münster / Nordrhein-Westfalen Siedlung am See Quickborn / Schleswig-Holstein Dieter Bahlo, Jörn Köhnke, Klaus Stosberg Max Clemens von Hausen, Worms / Rheinland-Pfalz Richard Neutra 1962-63 1977-78 Ortwin Rave 1963-64 Friedrich Seeger 1964-68 Foto: Winterfuchs Bauforschung GbR Berlin Foto: Nieland Foto: Dieter Krienke,

Hängende Gärten für Wissenschaftler Siedlung Volkswagenstiftung München / Bayern Walter Ebert 1966-69 Foto: Michael Forstner

Wider die Monotonie documenta urbana / Hessen Otto Steidle und Partner; Herman Hertzberger; Dieter Patschan, Asmus Werner, Bernhard Winking; Hinrich Baller und Partner; Heinz Hilmer, Christoph Sattler; Roland Rain- er; Johannes Olivegren, Raimund Herms; ASB-Arbeitsgruppe Stadt/Bau (Baufrösche); Planungskollektiv Nr. 1 Berlin 1980-82 Foto: Thomas Wiegand

Glück auf kleinem Stück Wohnhof Schilksee Kiel / Schleswig-Holstein Carsten Brockstedt, Ernst Discher, Hans- Peter Brand 1975-76 Foto: Cornelia Fehre

Alternativ und innovativ Siedlung Schafbrühl Tübingen / Baden-Württemberg Joachim Eble, Burkhard Sambeth, Wolfgang Oed, Gottfried Häfele 1984-85 Foto: Felix Pilz Junge Denkmäler in Deutschland 6

Zwischen Stadtlandschaft und Urbanität Foto: Stadt Wolfsburg Wohnen über der Autobahn Foto: Wolfgang Bittner Skulpturaler Brutalismus als soziale Stadt Foto: Vanessa Lange Siedlung Detmerode Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße Siedlung Chorweiler Wolfsburg / Niedersachsen Berlin Köln / Nordrhein-Westfalen Alvar Aalto, Paul Baumgarten, Toni Hermanns, Dieter Oesterlen, Hans Scharoun, Georg Heinrichs, Wolf Bertelsmann, Gerhard und Klaus Detlev Krebs 1973-81 Gottfried Böhm, Adolf Schmitt 1969-74 Georg Wellhausen und andere 1961-70

Big is beautiful

Raus aus der alten Stadt in Trabantenstädte auf der grünen Wiese – Megasiedlungen prägen das Bild der Nachkriegsmoderne

usreichender Wohnraum war eines Schon bald ernteten die Großsiedlungen sind berühmt-berüchtigt. 1971 schafften ohl kaum ein Beispiel dieser Groß­ ferten Renommierobjekte als Schutzgüter Ader drängenden Probleme im Städ- heftige Kritik: Ihre „Unwirtlichkeit“ wurde es die ungeliebten „Trabantenstädte“ gar Wsiedlungen der 1960/70er Jahre beschränken. Um die immer noch negativ tebau der 1960/70er Jahre. In nahezu jede bemängelt, ihr fehlender menschlicher in einen Band der Asterix-Reihe. wird im ursprünglichen Zustand erhalten konnotierte, aber sehr produktive Phase r größeren Stadt entstanden im Westen Maßstab, ihre monotonen Baustoffe, ihre bleiben. Auch wenn sie als Zeugnisse des Städtebaus der Nachkriegszeit als wie im Osten große Neubausiedlungen. Anonymität. Das Märkische Viertel in In den letzten Jahren und auch weiterhin des Städtebaus des 20. Jahrhunderts historisch kulturellen Wert ins Bewusst- Sie sind meist als Satellitenstädte an das Berlin wurde regelrecht zur Zielscheibe. wird im Rahmen von Sanierungsmaß- prinzipiell im Gesamten betrachtet sein aller zu rufen, bedarf es jedoch Umfeld einer Stadt angebunden, seltener Auch andere Großwohnsiedlungen wie nahmen in das originale Erscheinungs- wer­den sollten, so muss sich die Denk-­ weiterer Partner. als autarke Trabantenstadt umgesetzt. die Neue Vahr in Bremen, Neuperlach in bild und die zeitgenössische Struktur malpflege in der Praxis ­vielerorts auf War in den 1950er Jahren noch die München oder Halle-Neustadt waren und der Siedlungen massiv eingegriffen. die markanten und noch gut überlie- aufgelockerte, gegliederte Stadt das Leitbild, so setzte in den 1960er Jahren ein Paradig­menwechsel zu Urbanität durch Dichte ein.

Charakteristisches Kennzeichen von Großsiedlungen dieser Zeit ist die Tren- nung der Verkehrsarten, häufig eine Ringerschließung mit Sackgassen für den motorisierten Verkehr sowie Fußgänger- wege in Grünanlagen. Typisch ist auch die Durchmischung mit Bauten verschie- dener Größenordnung, unterschiedlicher Grundrissstruktur sowie differenzierten Eigentumsverhältnisse, z.B. Hochhäuser inmitten von Teppichsiedlungen. Eine sehr bewusste Freiflächengestaltung und eine eigene Infrastruktur mit Geschäfts- zentrum, Schule und Kirche kommen hinzu. Im Westen werden die städte- baulich dominanten „Leuchttürme“ der neuen Siedlungen oft von renommierten Architekten geplant. Im Osten wird in der Regel das Großtafel-Bausystem der DDR angewandt. WBR SL 3600 – ein Denkmal? Foto: Anke Jeserigk Eine Mustersiedlung in Ost-Berlin Foto: Bernhard Kohlenbach Eckwohnblock Brüderstraße, Parkstraße Siedlung Ernst-Thälmann-Park Bernau / Brandenburg Berlin Wilfried Stallknecht und Kollektiv 1979-89 Baudirektion Berlin, Erhardt Gißke (Oberleitung) u.a. 1984-86 7 Junge Denkmäler in Deutschland

Die Entdeckung der Altstadt

Ein Paradigmenwechsel – Nach dem Europäischen Denkmalschutzjahr 1975 geht es zurück in die Altstadt. Das Bauen im Bestand wird eine neue, herausfordernde Bauaufgabe.

er Großsiedlungsbau und die Flächen- Jahren von 1983 bis 1987 die Rekonst- Dsanierungen der 1960er Jahre führten ruktion des Nikolai-Viertels in Ostberlin. in den USA, dann auch in Deutschland Dort entstanden, orientiert am alten zu einer kritischen Öffentlichkeit. Jane Stadtgrundriss, rekonstruierte Gebäude Jacobs Streitschrift „The Death and Life des 18. und 19. Jahrhunderts neben histo- of Great American Cities“ (1961) und Alex- risierenden Neubauten im sogenannten ander Mitscherlichs „Die Unwirtlichkeit Tunnelschalverfahren, einer Variante zum unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden“ Plattenbau. (1965) befeuerten die Diskussionen. Das Nikolai-Viertel war auch eine Antwort Diese Kritik wurde ein Ansatzpunkt für auf die Internationale Bauausstellung in das postmoderne Bauen, aber auch für West-Berlin, die mit dem Konzept der die Abkehr vom Funktionalismus hin zu Kritischen Rekonstruktion das Leitmodell einer kontextualen Architektur, die die für die Europäische Stadt entwickelte. historischen Bauformen der Altstadt Einhergehend mit der Rekonstruktion der aufnahm und anverwandelte. Die Stadt- historischen Römer - Ostzeile entstand reparatur wurde das Ziel, nicht mehr die in der von Hochhausbauten dominierten Stadterneuerung. Die Sehnsucht nach Stadtmitte von Frankfurt am Main mit der der alten Stadt konnte so weit gehen, Saalgasse ein postmoderner Straßenzug, dass sie sogar rekonstruiert wurde. Ein der die Idee der Alten Stadt aufnahm und Stadtreparatur mit Steinen statt mit Klötzen Foto: Clemens Kieser Leuchtturmprojekt der DDR war in den zugleich ironisch brach. Werkbundhäuser im Dörfle / Baden-Württemberg Karlhans Hirschmann, Ernst Jung, Martin Walter; Gerd Gassmann, Georg Kasimir; Friedrich Lehmann, Annelie Memcke-Lehmann, Heinz Mohl, Dietrich Oertel; Barbara und Johannes Jakubeit; Gerhard Assem, Vladimir Nikolic, Christoph Sattler, Dieter Stahl 1978-92

Frankfurts strada novissima Die Altstadt wird postmodern So würde Feininger den Roten Turm Neuer Nachbar am Markt Stadthäuser in der Saalgasse Wohnhäuser in der Marterburg heute sehen Wohn- und Geschäftshäuser Kramerstraße Frankfurt / Hessen Bremen Wohnanlage Altstadt Lemgo / Nordrhein-Westfalen Dietrich Bangert, Bernd Jansen, Stefan Scholz, Axel Schultes; Norbert Berghof, Michael A. Wolfram Goldapp, Thomas Klumpp 1979-96 Halle / Sachsen-Anhalt Walter von Lom 1977 Landes, Wolfgang Rang; Christoph Mäckler; Projektgruppe Architektur und Städtebau (PAS) mit Foto: Landesamt für Denkmalpflege Bremen Wulf Brandstädter, Wolf-Rüdiger Thäder, Peter Foto: Bildarchiv LWL-Denkmalpflege Jochem Jourdan, Bernhard Müller; Detlef Unglaub, Wilhelm Horvarth; Planungsgemeinschaft Weeck, Andreas Bollmann, Christine Gabriel Peter Fischer, Dieter Glaser, Dietrich Kretschmer; Johann Eisele, Nicolas Fritz; Meinhard von 1985-86 Gerkan, Volkwin Marg und Partner (GMP); Peter Aribert Herms; Charles Moore; Adolfo Natalini; Foto: Mario Titze Klaus Peter Heinrici, Karl Georg Geiger 1979-86 Foto: Christine Krienke

Mehr Platte wagen Platte in barock Kritische Stadtrekonstruktion Das ist unser Haus Wohn- und Geschäftshaus Breite / Kröpeliner Straße Plattenbauten Dorotheenplatz, Kolonnadenstraße Wohnanlage Am Berlin Museum St. Pauli Hafenstraße Rostock / Mecklenburg-Vorpommern Leipzig / Sachsen Berlin Hamburg 1981 ff. Peter Baumbach, Erich Kaufmann und Kollektiv 1977-79 Frieder Hofmann, Siegfried Kober 1983-85 Diverse Architekten, hier: Arata Isozaki 1984-86 Foto: Achim Bötefür Foto: Thomas Noack Foto: Wolfgang Bittner Foto: Dirk Ingo Franke Junge Denkmäler in Deutschland 8

Experimente

Mut zum Neuen prägt die 1960er, 70er und 80er Jahre. Nicht alles war durchsetzungsfähig, doch zeigen die Beispiele die Kreativität dieser Epoche. Poppiges Plastikhaus Kunststoffhaus fg 2000 hat’s one small step for (a) man, schaftlich vorgehaltenen Primärstruk- Altenstadt / Hessen T one giant leap for mankind“ – die turen einerseits und schneller wandel- Wolfgang Feierbach 1968 erste Raumfahrt Gagarins und die ersten baren, nach individuellem Bedürfnis dort Foto: Werbebroschüre „Kunststoffhaus fg 2000“, Wolfgang Feierbach. Schritte Armstrongs auf dem Mond waren eingepassten sekundären Raumkap- Kunststofftechnik, Altenstadt nur ein Ausdruck für den Fortschritts- seln andererseits. Allerdings blieb die optimismus der Nachkriegsjahrzehnte. Verwirklichung solcher metabolistischen Ein echtes Unikat Auch im Wohnungsbau wurden, teils auf Auffassungen eine wichtige Ausnahme, Wohnhaus Wulf der Grundlage von Erkenntnissen aus so etwa die „Metastadt“ in Dorsten-Wulfen Ehlershausen / Niedersachsen anderen Bereichen des Bauens, neue (1972-76, bereits 1987 abgerissen). Erol Ermann, Klaus Schuwirth 1978-79 Konstruktionen wie die Schalenbau- Foto: Carina Wehrstedt weise, neue Materialien wie die vielfäl- In ihnen zeigt sich ein langsamer Wandel, tigen Kunststoffe und neue, freie Formen der in der BRD Anfang der 1970er Jahre erprobt. Gerade unter den Einfamilien- mit dem Bericht des Club of über häusern entstanden so sehr individu- die Grenzen des Wachstums (1972), der elle, kreative bis exzentrische Lösungen, Ölpreiskrise (1973) und dem europäi- die an Wohnkapseln oder Entwürfe aus schen Denkmalschutzjahr (1975) einsetzte Science-Fiction-Filmen erinnern. und gängige Entwicklungsmodelle und Vorstellungen von ständigem Wachstum Im Massenwohnungsbau standen dagegen infrage stellte. Modulares Bauen er­ Standardisierung, Vorfertigung und Indus- laubte dagegen auch Schrumpfungs- trialisierung des Bauens im Vorder- prozesse, Mieter oder Wohnungseigen­- grund; so sollte der enorm hohe Bedarf tümer sollten stärker als bisher ihre Das Barbapapahaus an Wohnungen gedeckt werden. Während Wohnungen mitgestalten und verändern Haus Balz in der DDR die zentrale Steuerung ein können, und ökologische Aspekte bei Leinfelden-Echterdingen / Baden-Württemberg sehr weitgehend industrialisiertes Bauen der Haustechnik und der Ausrichtung Michael Balz 1979 in Großserienfertigung auf der Grund- der Gebäude spielten eine zunehmende Foto: Felix Pilz lage der Großtafelbauweise ermöglichte, Rolle. konnte sich in der BRD unter marktwirt- Von Burgen und Beton schaftlichen Bedingungen wegen der Viel- An den Experimenten lassen sich, selbst Mehrfamilienhaus Schweger zahl der Auftraggeber und Anbieter kein wenn sie aus heutiger Sicht teils als Hamburg Wohnungsbausystem durchsetzen, obwohl gescheitert beurteilt werden, die zeitge- Peter Schweger 1967-68 auch hier viele Bauten in dieser Technik nössischen Vorstellungen vom Wohnen Foto: Stefan Kleineschulte errichtet wurden. Besonders fortschritt- und Leben besonders deutlich ablesen. liche Konzepte des Bauens unterschieden In ihrer Entschiedenheit können sie auch zwischen den dauerhaften, gemein- heute noch als Inspiration dienen.

Universell, sparsam und effektiv Wohnblock Koszaliner Straße Neubrandenburg / Mecklenburg-Vorpommern VEB Wohnungskombinat Neubrandenburg und Bauakademie der DDR 1972-73 Foto: Achim Bötefür

Experimentierfeld Wohnen Wohnanlage Genter Straße München / Bayern Otto Steidle 1974-76 Foto: Architekturmuseum der TU München

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Eine ausführliche Dokumentation der hier vorgestellten jungen Denkmäler Texte: Arbeitsgruppe Inventarisation der des Wohnens finden Sie in der Begleitpublikation der VdL Vereinigung der Landesdenkmalpflege VdL Wohnen 60 70 80 Texte, Redaktion: M. Hahn, C. Kieser, S. Junge Denkmäler in Deutschland Kleineschulte, D. Knipping Gestaltung: V. Teutrine (Offenbach) Erschienen im Deutschen Kunstverlag Druck: flyeralarm ISBN 978-3-422-98154-6 Auflage: 10.000 € 39,90 erhältlich im Buchhandel 11/2020