Zwischen Genf und Aarau Der helvetische Religionsfrieden

Von Joëlle Kuntz

m Nachmittag des 11. August 1712 erklingen an eine Miliz erinnert. Wenn die ganze Armee aus solchen Trompetenfanfaren in der Stadt Aarau: Vertreter Truppen bestünde, wäre sie einfacher zu befehligen». der Kantone Zürich und einerseits sowie Die Genfer tragen dazu bei, die Kämpfe zu Gunsten der A der Kantone Luzern, Uri, , Protestanten zu entscheiden. Der Preis sind zehn Tote und und andererseits haben den nationalen Frieden sieben Verletzte – wenig im Vergleich zu den Verlusten unterzeichnet und damit einen rechtlichen Strich unter auf Seiten der Katholiken. In der Chronik befindet sich ein die unzähligen Schikanen gezogen, denen sich die beiden Brief an den Genfer Justizsekretär J.-J. Trembley, in dem ein Konfessionsgruppen gegenseitig ausgeliefert haben. Adliger und Teilnehmer der Schlacht schreibt: «Unsere Zwischen den katholischen und den reformierten Orten Deutschen haben mit viel Standhaftigkeit gekämpft, der Eidgenossenschaft wird die konfessionelle Parität die Waadtländer gut, die Neuenburger passabel und die eingeführt. Genfer wie die Löwen. Ihnen gebührt der ganze Ruhm an diesem Tag oder jedenfalls fast der ganze.» Bern zeigt Ein bisschen ist der Frieden von Aarau auch Genf sich dankbar. Trembley selbst berichtet: «Der Ehre und zu verdanken. Der vierte Landfrieden beendet einen Würdigung, die unseren Soldaten zuteil werden, lässt sich kurzen, heftigen Konflikt: Zwischen Frühling und nichts hinzufügen, man spricht nur von denen aus Genf, Sommer 1712 wütet der blutigste Religionskrieg, den welche die Berner Herrschaften seit dem Krieg als ihre die Schweiz je gekannt hat. In Villmergen stehen sich besten Verbündeten betrachten.» katholische Kantone und die zwei protestantischen Kantone, die am meisten Macht im Toggenburg Die Allianz wirkt in beide Richtungen. Oligarchen und ausüben, gegenüber. Genf, durch einen Vertrag an Bern Aristokraten verstehen sich bestens. Genf verfolgt Jacques- und Zürich gebunden, nimmt ebenfalls teil und erfüllt Bathélémy Micheli du Crest, einen kritischen Geist, dem damit das erste und einzige Mal in der Geschichte der vorgeworfen wird, Ideen zu verbreiten, die dem Rat alte Eidgenossenschaft seine militärische Solidarität, der Zweihundert zuwiderlaufen und zwar just, was die zu der die Allianz verpflichtet. Verteidigung und den Festungsbau angeht. Micheli du Crest muss flüchten, genau wie Rousseau sieben Jahre zuvor. Die beteiligten Armeen liefern sich ein erbittertes Gefecht. Im Jahr 1735 wird er in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Zunächst sind die Reformierten erfolgreich und erobern Micheli du Crest flieht nach Frankreich, wo er ebenfalls die Fürstabtei St. Gallen, dann Baden. Sie unterbreiten aufklärerisches Gedankengut verbreitet und damit zur den Katholiken einen Friedensvertrag, den diese jedoch persona non grata wird. Er kehrt zurück in die Schweiz, mit einer Vehemenz ablehnen, die durch apokalyptische irrt von Zuflucht zu Zuflucht. 1746 wird Micheli du Crest Prophezeiungen angeheizt wird. in Neuenburg auf Befehl von Genf und Bern verhaftet und in die Festung Aarburg gebracht. Er bleibt ein Gefangener Im Juli greifen die Katholiken die Berner mit 9000 Mann Berns bis wenige Monate vor seinem Tod im Jahr 1765. an, verwunden General von Diesbach und erzwingen den Rückzug. Die Truppen stehen kurz vor der Auflösung, Während seiner Aargauer Haftzeit beschäftigt sich der als der bereits betagte Samuel Frisching, Präsident des Genfer, der bereits ein Thermometer entwickelt hat, Berner Kriegsrates, das Oberkommando übernimmt und mit barometrischen Höhenmessungen. Ohne Höhe sie mit einem leidenschaftlichen Appell noch einmal und Entfernung messen zu können, zeichnet er ein zusammentrommelt. Die Genfer gehören zu den ersten, die Alpenpanorama, das er in Leder gravieren lässt. Er sieht reagieren. Mit dreihundert Mann ziehen sie in die Schlacht, und zeichnet die neue Welt, die nach und nach die alte Seite an Seite mit Neuenburgern und Waadtländern, ersetzt. Mehr als vierzig Jahre nach seinem Tod befreit darunter Abraham Davel. General Tscharner ist der sich der Aargau im Zuge der französischen Revolution Meinung, dass «diese Truppe wohlgeordnet ist und nicht von Bern. Schuld ist Rousseau. Zwischen Genf und Altdorf Eine Geschäftsidee

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m 14. Jahrhundert ist Genf ein Zentrum für einen weiteren Genfer engagiert, Daniel Colladon, internationale Märkte. Uri verwaltet die Brücke den Erfinder der Druckluftbohrmaschine, der in der Schöllenen-Schlucht, die dem Warenhandel bereits mit seinen Bohrungen am Mont-Cenis für I über den Gotthard dient. Urner und Genfer schlagen Aufmerksamkeit sorgte. Zwischen 2000 und 4000 gleichzeitig in der Geschichte eine kaufmännische Italiener arbeiten auf den Baustellen. Ihre Arbeits- und Richtung ein. Sie sind von gleichem Schlag. Uri besitzt Lebensbedingungen sind prekär. Favre hat Gebäude inzwischen die neuen Alpentransversalen. Genf die für fast eintausend Arbeiter errichten lassen, aber Welthandelsorganisation. Eine Kultur verbindet sie: das reicht nicht aus. Vor allem in Göschenen hausen der Güteraustausch. Eine Geschichte verbindet sie: viele Italiener zusammengepfercht in schmutzigen die Verteidigung der wirtschaftlichen und politischen Privatunterkünften, für die sie horrende Preise zahlen. Voraussetzungen für den Handel sowie Strassen und Im Tunnel selbst ist der Sauerstoff knapp, die Luft mit Steuern. tödlichen Gasen durchsetzt. Dynamit und Erdrutsche führen immer wieder zu Unfällen. Im Jahr 1876 bricht Ein Mann verbindet sie: der Genfer Tunnelbauer Louis auf der Baustelle Göschenen ein Streik aus. Die Miliz Favre, der den ersten Eisenbahntunnel durch den wird gerufen und von den Arbeitern mit Steinwürfen Gotthard baute. Die dramatische Geschichte seines empfangen. Die Streitkräfte schiessen. Vier Tote. Ein Unternehmens zeugt von rücksichtslosem Wettbewerb, eidgenössischer Kommissar wird ernannt und mit der technischem Genie, Mut, Ausdauer, Geldgier, Lügen und Untersuchung beauftragt. Sein Bericht belastet Favre, Neid – Tugenden und Laster einer Epoche, in der die Alpen der sich energisch verteidigt und vermutet, dass erobert wurden. Favre wagt alles, um sich den Auftrag zu Ingenieure der Gotthardbahngesellschaft hinter den sichern: Er will den Tunnel in acht Jahren fertigstellen, Anschuldigungen stecken. ein Jahr weniger und mehr als 12 Millionen Franken günstiger als sein Hauptkonkurrent. Jede Verzögerung Die Gesellschaft sucht den Konflikt und hindert Favre geht zu seinen Lasten. Damit wird die Zeit zu seinem daran, mit den Maurerarbeiten im Tunnel fortzufahren, grössten Feind. Doch es gibt noch andere Feinde: Die obwohl er sie für unerlässlich hält. Der Genfer wendet sich Gotthardbahngesellschaft, gegründet 1871 unter Alfred an den Bundesrat – erfolglos. Am 1. August 1879, mitten Escher mit Kapital aus der Schweiz, Deutschland und im Tunnel und umgeben von seinen Arbeitern, bleibt sein Italien, die möglichst rentabel wirtschaften muss, Herz stehen. Favre stirbt mit 53 Jahren. Dabei hat er erst immer darauf bedacht, die Kosten für die ergänzende grad vom deutschen Verkehrsminister einen Brief erhalten, Infrastruktur, inklusive Sicherheit, möglichst gering der ihn hätte trösten sollen: «Damit ist eine wichtige zu halten. Oder die Ingenieure, allzeit bereit, Favres Etappe in diesem grossen Unternehmen geschafft, in dem Entscheidungen anzufechten, in der Hoffnung, seinen bislang einzig Ihr Genie der Schlüssel zum Erfolg gewesen Platz einnehmen zu können. Oder die Techniker aus ist.» Die Arbeiten werden mit zwei Jahren Verspätung Zürich, deren Anliegen bei der Bundesverwaltung auf abgeschlossen. Der Preis sind 177 Tote und 500 bis 800 offene Ohren stossen und die davon profitieren, um Arbeiter, die an sogenannten Mineurkrankheiten leiden, das Vorgehen Favres zu diskreditieren. Oder die kleine, verursacht durch die giftigen Gase im Tunnel. Favres ländliche Gemeinde Göschenen, die in beschämender Unternehmen wird hochverschuldet aufgelöst. Noch Jahre Weise mit den Bedürfnissen der Arbeiter spekuliert. danach betreibt die Gotthardbahngesellschaft Favres Und dann ist da noch der Fels: unberechenbar, Erben. widerspenstig, gefährlich. Uri und Genf verbindet die ganze Geschichte des Im Oktober 1872 eröffnet Favre die Baustellen in 19. Jahrhunderts, Fortschritt und Misere, in dieser Göschenen und Airolo. Er ist 46 Jahre alt. Favre hat Reihenfolge. Zwischen Genf und Appenzell Patriotische Unstimmigkeiten

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icht zum ersten Mal treffen Genf und Appen- und bedrohlich für den französischen Thron, dass König zell aufeinander, trotz der geografischen und Heinrich IV. jede mögliche Unterstützung bereitstellte, um kulturellen Distanz, die sie zu trennen scheint. den Herzog von Savoyen zum Frieden zu zwingen. Auch N Im Jahr 1515, nach der Schlacht bei Marignano, Appenzell gehörte dazu. Der Kanton war 1513 in die trafen sich die Abgesandten aus der Schweiz, darunter auch Eidgenossenschaft aufgenommen worden unter der Beding- Vertreter des frisch in die Eidgenossenschaft aufgenomme- ung, in allen Konflikten, die nicht die Eidgenossenschaft nen Appenzells, mit den Botschaftern von König Franz I. als Ganzes betrafen, neutral zu bleiben. Daher konnte in Genf, um ein Friedensabkommen zu unterzeichnen. Als er zusammen mit Solothurn, , Schaffhausen und Vermittler amtete des Königs Onkel, der Herzog von Savoyen. Glarus eine durchaus glaubwürdige Vermittlerrolle Am 7. November einigte man sich über den Wortlaut zwischen Genf und Savoyen übernehmen. eines Vertrages, den allerdings nicht alle beteiligten Kantone ratifizierten. Im Jahr darauf, 1516, wurde er durch den Frei- Allerdings hatte sich der Kanton 1597 in zwei Halbkan- burger Vertrag, die sogenannte «Ewige Richtung», ersetzt. tone aufgespalten, einen katholischen und einen protes- tantischen. Da beide Halbkantone ihren vormals gemein- Später führten religiöse Spannungen zu Rissen im Bünd- samen Verpflichtungen weiterhin nachkamen, waren in nis. Im Jahr 1571 begaben sich zwei Genfer Abgesandte ins Genf zwei Appenzeller Delegationen präsent. Appenzell in der Hoffnung, der Kanton würde den Beitritt Genfs in die Eidgenossenschaft unterstützen. Sie wurden Die Herren Diplomaten hielten sich bis im Juli 1603 in der mit aller Höflichkeit empfangen, erhielten aber keine Ant- Stadt auf, bis zu dem Tag, an dem der Vertrag von Saint- wort. Appenzell wollte zunächst mit den anderen Eidgenos- Julien unterzeichnet wurde, der Genf die politische Unab- sen Rücksprache nehmen. Diese vertraten keine eindeutige hängigkeit und den Genfern das Recht auf Freizügigkeit Meinung, sodass man die Antwort schuldig blieb. In Tat und in Savoyen zusicherte. Sie wurden mit Lob überschüttet. Wahrheit war der Kanton alles andere als begeistert von der Der Originalvertrag, ehrfürchtig verwahrt in den Genfer Idee, eine weitere protestantische Stadt in die Föderation Archiven aufgrund seiner geschichtlichen Bedeutung, aufzunehmen und protestierte entsprechend, als Genf sich trägt die Unterschriften und Siegel beider Appenzeller mit Bern und Zürich verbündete. Dieser Schritt, dieses Ein- Halbkantone. dringen durch die Hintertür, machte die Schweiz in seinen Augen zum Zentrum der Reformation. Im Jahr 1604 stellten Jean Sarasin, Mitglied des Rates, und Daniel Roset eine Genfer Abordnung zusammen, die sich Nun ist es aber nicht so, dass sich das katholische Appenzell in die Vermittlerkantone begab, insbesondere nach Appen- überhaupt nicht für das protestantische Genf interessierte, zell, um die Danksagungen zu erneuern. Später, 1673, als im Gegenteil: 1603 nahmen die drei adligen Appenzeller der Herzog von Savoyen den von ihm unterzeichneten Frie- Ulrich Näff, Jean Heimen und Sebastien Thoring an den densvertrag erneut verletzte, schlossen sich beide Appen- internationalen Vermittlungen teil, die dazu führten, zell den anderen Vermittlerkantonen an, um den Herzog zur dass der Herzog von Savoyen Genfs Unabhängigkeit Ordnung zu rufen. Die religiösen Gegensätze waren eine anerkannte. Sache, die diplomatischen Interessen eine andere.

Ein Jahr zuvor, in einer dunklen Dezembernacht, hatte der Napoleon wurde gestürzt. An der ersten Abstimmung der Herzog tatsächlich einen Überraschungsangriff auf die Stadt Tagsatzung über die Aufnahme von Genf in die Eidgenossen- gewagt, und damit gegen alle diplomatischen Verpflichtun- schaft nahm Appenzell Ausserrhoden nicht teil, obwohl die gen verstossen. Wie in den besten Verschwörungsszenarien Siegermächte dies wünschten. Bei der zweiten Abstimmung führten glückliche Umstände dazu, dass die Genfer die sagte der Halbkanton Ja und, wie so oft, «ad referendum». Attacke abwehren und die Savoyer Truppen zurückdrän- Seitdem pflegen die beiden Kantone ihre Unstimmigkeiten gen konnten. Doch der Angriff war derart niederträchtig in bester patriotischer Kollegialität. Zwischen Genf und Baden Ein lang gehegter Traum wird wahr

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it Baden verknüpfte Genf eine Hoffnung: nossenschaft stärken und der verlorene Boden könnte den Zugang zur Tagsatzung, um sich nicht wieder gutgemacht werden. Dagegen wäre es jetzt direkt für seine Unabhängigkeit und seine möglich, ohne Kosten, Mühe und Arbeit einen Beitrag M Sicherheitsbedürfnisse einsetzen zu kön- an die Ehre und den Wohlstand der Eidgenossenschaft nen. Baden war ein bevorzugter Ort für die Tagsatzung. zu leisten …» Aber ach! Stadt der Bäder, der Ruhe, Untertanenstadt zwar, aber klug und besonnen. Hier wurden die Jahresrechnungen Diesem Standpunkt konnten vier reformierte Kantone sämtlicher gemeiner Herrschaften abgenommen. etwas abgewinnen, fünf katholische waren dagegen. Würde Baden der nach Sicherheit strebenden Rhone- Die kleinen gemischten Kantone waren geteilter Mei- stadt einen Platz gewähren? Aber ach! nung. Solothurn und Freiburg, beide katholisch, teilten die strategischen Ziele von Zürich und Bern. Die Tagsat- Genf stand dank eines Vertrages aus dem Jahr 1526 unter zung traf daher keine Entscheidung. Berner Schutz. Durch den Beitritt zur Eidgenossenschaft erhoffte sich die Stadt eine vielfältigere und breitere Un- Genf musste sich mit separaten, fragilen Bündnissen terstützung, so wie sie Mülhausen und Rottweil zuteil begnügen, abhängig von regionalen und internationa- wurde. 1557 richtete sie eine entsprechende Anfrage an len Gegebenheiten. So sehr sie sich auch beschwerte, nie die Tagsatzung und bekam zur Antwort, dass es im Falle wurde die Stadt zu den Beratungen in Baden eingela- einer Bedrohung der Tagsatzung und der ganzen Eidge- den. Nie war sie Teil der politischen und sozialen Elite nossenschaft in der Tat «sehr nützlich wäre, Genf zu den der Schweiz, die in Baden offizielle und inoffizielle In- eigenen Reihen zählen zu können». Aber ach! formationen austauschte.

Mit diesen Worten verwiesen die Kantone auf einen mög- Genf führte sein Leben anders. Im Jahr 1815 wurde lichen Vorteil, nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Die die Stadt mit der Schweiz vereinigt, weil es in Baden «Genfer Frage» liess Baden nicht mehr los. Von der zwei- keine zögernde Tagsatzung mehr gab. 1846 kam es in ten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zur ersten Hälfte des Genf zur Revolution; die Stadt wollte sich am Krieg 17. Jahrhunderts stand sie auf der Badener Tagesordnung. gegen die katholischen Kantone, die sie so lange aus- Die Verfechter der katholischen Gegenreform, die sich geschlossen hatten, beteiligen. Danach hatte Genf in hinter Luzern stellten, sahen keinen Nachteil darin, dass Baden nichts mehr zu fordern, und Baden war froh, sich Savoyen der Stadt Genf bemächtigten wollte, um sie nicht mehr über die «Genfer Frage» nachdenken zu dem Heiligen Stuhl zurückzuführen. Die reformierten müssen. Alle Dossiers wurden an die Hauptstadt Bern Kantone hatten es dagegen eilig, Genf durch das eidge- übergeben. nössische Bündnis zu schützen. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Als im Jahr 1847 Die konfessionellen Divergenzen wurden durch strate- die erste Schweizer Eisenbahnlinie eröffnet wurde, gische Interessen abgeschwächt. Im Jahr 1572 setzten die Spanisch-Brödli-Bahn, mit der frische Brötchen Solothurn, Bern und Freiburg die geopolitische Lage in einer halben Stunde von Baden nach Zürich trans- Genfs, die sie als «Schlüssel und Allee der Eidgenos- portiert werden konnten, hatte Genf grosse Entwick- senschaft» beschrieben, auf die Badener Agenda. lungspläne, träumte von Bahnen, Schiffen und Autos, «Liesse man sich diese günstige Gelegenheit entgehen, investierte in Stahl, Maschinen, Chemie und Strom – begründeten sie, würde das den Erbfeind der Eidge- wie Baden, nach der Moderne strebend. Zwischen Genf und Basel Ein wunderbarer Fischzug

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eligion und Spiritualität sind in beiden Städten Petrusaltar übrig bleibt, wird von einer barmherzigen zuhause: erst das Konzil, dann Erasmus und Seele versteckt und verschwindet für viereinhalb Jahr- Ökolampad in Basel, der Bischof, die Reforma- hunderte aus dem europäischen Bewusstsein. R tion und Calvin in Genf. Da und dort entste- hen Visionen über die Existenz und die Welt, denen eines In Basel, wo die Persönlichkeiten des Konzils zahlreiche gemeinsam ist: Tragweite und Radikalität. Zu Beginn der Begabte und Künstler um sich scharen, entsteht eine Renaissance und in stillem Einvernehmen zeigen sich die Vorliebe für das Geschriebene, das Bild, die Kunst. Aus beiden Gründungsstädte des Denkens, der Kunst und der Buchdruckern werden Sammler. Die Sammlungen werden Politik von ihrer ehrgeizigen Seite. vom Vater an den Sohn vererbt. Im Kabinett von Basilius Amerbach, dem ersten Basler Sammler, finden sich 1586 Am Anfang steht das Konzil von Basel. Eine grosse Ver- unter anderem 104 Zeichnungen von Holbein und Dürer, sammlung (zeitweise mehrere zehntausend Personen), das Lob der Torheit von Erasmus mit Illustrationen von von langer Dauer (1431 bis 1449), hochrangig (Kardinäle, Holbein, etwa fünfzig der schönsten Bilder Holbeins, Bischöfe, Prinzen, Herzöge, Barone und Ritter) und belesen darunter die Werke Schreibender Erasmus und Der (Hunderte von Kopisten, Graveuren, Illustratoren). Ziel ist Leichnam Christi, dreitausend Grafiken, 1866 Zeichnungen es, den Dialog innerhalb der katholischen Christenheit, von deutschen oder Schweizer Meistern und zahlreiche der unter den abtrünnigen böhmischen Hussiten gelitten antike Kuriositäten aus archäologischen Ausgrabungen. hat, wiederherzustellen. Die Versammlung endet in einem Legitimitätskonflikt: Das Konzil ignoriert den Papst in Rom, Als ein niederländischer Händler diesen Schatz erwerben enthebt Eugen IV. seines Amtes und ersetzt ihn durch Ama- möchte, kauft der Basler Rat auf Anraten von Bürgermeister deus VIII., Graf von Savoyen, der 1440 unter dem Namen Wettstein das Kunstkabinett für 9000 Reichstaler und Felix V. feierlich eingesetzt wird. Amadeus gehört die Graf- gibt es in die Obhut der Universität, wo alsbald ein grosses schaft Genf, allerdings ohne die Stadt. Diese ist Eigentum Kunstfachwissen aufgebaut wird. des Bischofs, zu jener Zeit François de Metz. Der Benedik- tinermönch begibt sich nach Basel, wo er den deutschen Dieses Kunstwissen wirkt sich 1901 auch in Genf aus: Der Maler Konrad Witz entdeckt, der seit Beginn des Konzils Konservator der Schönen Künste in der Stadt am Rhein, in der Stadt weilt. Er betraut ihn mit der Ausführung des Daniel Burckhardt-Werthemann, verkündet in diesem Petrusaltars für die Genfer Petrus-Kathedrale. Das Werk Jahr, dass die zerbrochenen Teile des Petrusaltars von wird 1444 beendet und signiert. In der Zwischenzeit hat Konrad Witz wieder aufgetaucht seien und bestätigt der savoyische Gegenpapst den Bischof von Genf zum deren Echtheit. Tatsächlich fand der Genfer Archäologe Gegenkardinal gemacht. Jacques Mayor im Untergeschoss der Universität zwei grosse Tafeln des Altaraufsatzes, 1444 gefertigt und Nun hat Genf einen Prälaten, hervorgegangen aus einem mit Magister Conradus Sapientis de Basilea signiert. populistischen Aufstand im Herzen der Kirche, einen Burckhardt-Werthemann untersuchte die Tafeln im Gegenpapst in der Nachbarschaft und ein Gemälde, das Kerzenlicht und fand Ähnlichkeiten mit zwei anderen in die hierarchische Ordnung von Befehl und Ausführung Strassburg gefundenen Tafeln, der Heiligen Katharina durcheinanderbringt, denn Witz entscheidet selber, was und der Heiligen Maria-Magdalena, sowie der Begegnung und wie er malt: Er setzt Petrus vor die getreu abgebildete Joachims und Annas an der Goldenen Pforte, einem von Landschaft des Genfer Seebeckens, eine Premiere. einer Basler Sammlerin erworbenen Werk. Aber was bedeutet Sapientis? Der Weise? Burckhardt-Werthemann Nicht unter Calvin, sondern unter Farel wird der Altarauf- konsultierte eine von einem Fachmann erstellte Liste mit satz 1536 von den Bilderstürmern der Genfer Reformation den Namen von Basler Künstlern, darunter auch Konrad zerstört. Jener Farel, der so masslos war, dass Erasmus Witz aus Rottweil. Witz im Sinne von gewitzt, klug. Der ihn in Basel loswerden wollte, und den der Reformator pfiffige Konrad hielt Genf den ersten Spiegel vor, unter Ökolampad vergeblich zu mässigen suchte. Was vom den wohlwollenden Augen von Jesus Christus. Zwischen Genf und Bern Ein strategisches Einvernehmen

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al ehrlich: Genf und Bern teilen eine grosse, Das zweite Streitgespräch mit Rive findet im Juni 1535 ziemlich stürmische Geschichte. Gehen wir ohne Gegner statt: Die religiösen Autoritäten haben die zurück ins 16. Jahrhundert. Im Jahr 1524 Einladung abgelehnt. Ein triumphierender Farel steigt M wird Guillaume Farel, ein französischer Intel- Ende August auf die Kanzel der Genfer Kathedrale. Nach lektueller und Reformator, auf Drängen von Erasmus von seiner Predigt werden Altar und Bilder zerstört. Am 27. Rotterdam aus Basel vertrieben. Erasmus hat Mühe mit wird die Messe verboten. Im Mai 1536 wechselt Genf Farels dogmatischen Auslegungen und dessen rücksichts- offiziell zum reformierten Glauben. So wird Genf für die losem Eifer. Er gibt ihm den Übernahmen Phallicus (der protestantische Sache gewonnen, die doch in erster Linie Lüsterne). Bern, von Zwingli 1528 für die Reformation Berner Politik ist. Eine dauerhafte Sache, die sich über gewonnen, spannt Farel ein, um in den von Aigle, Ollon, Jahre bewährt, auch wenn sich Farel, unter dem Einfluss Bex und Ormont annektierten französischen Mandements von Calvin, schliesslich gegen das kirchliche System von zu predigen. Von dort aus und bestens beschützt durch Zwingli wendet und am Ende sogar den «Cäsaropapismus» Pierre Giraud, einem ehemaligen Schüler aus Meaux und der Berner anprangert. inzwischen Kanzler in Bern, geht er als Wanderpfarrer nach Neuenburg, wo er 1530 die neue Lehre einführt, dann nach Bern steht Genf, wenn auch halbherzig, zur Seite, als Genf, wo er 1532 als «Gesandter Jesu Christi» eintrifft. Savoyen die Stadt 1589 angreift. Und auch 1602 während der «Escalade», als Savoyer Söldner die Genfer Stadtmauern Die Stadt liegt in Schutt und Asche, zerrissen von den erklimmen. Am Ende des Ancien Régime kämpfen Berner religiösen Kämpfen, die innerhalb der Kirche begonnen Aristokraten Seite an Seite mit Genfer Patriziern gegen hatten, und den politischen Auseinandersetzungen die von Stadt zu Stadt sympathisierenden Revolutionäre. zwischen den Befürwortern der Eidgenossenschaft Die gesellschaftlichen und politischen Konflikte gehen in (Eidguenots) und den Anhängern Savoyens (Mammelus). der französischen Besatzung unter. Der Bischof, Pierre de la Baume, ist nicht zugegen. Seit 1848 teilen Genf und Bern nur noch administrative Die Sterne stehen günstig für den Vertreter und Angelegenheiten. Gleichgestellt und geschützt unter Propagandisten von Bern. Genf, durch die Angriffe von dem Dach der Eidgenossenschaft haben beide nicht nur Savoyen geschwächt, ist in der Tat auf die Unterstützung den Status der Kantonshauptstadt inne, sie tragen noch der Berner angewiesen, und die lassen sich teuer bezahlen, eine höhere Verantwortung: Bundeshauptstadt die eine, in Geld und in Macht. Sie zwingen dem Klerus Farels internationale Stadt die andere. Die eine wie die andere Anwesenheit auf unter der Drohung, die Allianz platzen zu Funktion baut auf ein Prinzip der Solidarität: Genf wäre lassen, wenn die Stadt ihre Schuld von 9000 Reichstalern ohne Bern nicht international und Bern ohne Genf nicht nicht begleicht und Farel keine Kirche zur Verfügung stellt, Bundeshauptstadt. Über die gegenseitige Abhängigkeit in der er predigen kann. Bern zählt auf Farel und ermutigt wird nicht gesprochen, oder nur selten. Fast scheint es, als und unterstützt sein Handeln. Farel begründet zum Beispiel ob eine Diskretionsklausel sie umhüllt, weil der Verdacht die öffentliche «Disputation», für die nur die Heilige Schrift auf Vetternwirtschaft das reibungslose Funktionieren des herangezogen werden darf – sola scriptura. Da der Klerus, «Schweizer Haushaltes» bedrohen könnte. immer bemüht die Tradition zu hüten, die Heilige Schrift nicht mehr kennt, ist er schnell schachmatt gesetzt. Der Genfer Archivar, 1959 gebeten die Beziehung der zwei Städte für den Regierungsrat zusammenzufassen, widmet Beim ersten dieser Streitgespräche im März 1534 wird er den militärischen Angelegenheiten unter dem Ancien überrollt und Farel hat die Zuhörer in der Kappelle von Cor- Régime drei Seiten. Er schliesst mit dem Kommentar: «Im deliers für sich. Auf die Proteste der Magistraten antworten 19. und im 20. Jahrhundert sind die Beziehungen zwischen die Berner Abgeordneten, dass «sie dem Volk nicht wegneh- den beiden Kantonen sehr freundschaftlich, es gibt nichts, men können oder wollen, was Gott ihm gegeben hat». was eine spezielle Erwähnung verdient.» Zwischen Genf und Brig Strassen, Hotels, Züge

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enf und Brig teilen sich denselben Fluss. Die Rhone Transportmittel, engagierte Maultiertreiber, sorgte für den fliesst durch Brig und verlässt die Schweiz in Genf. Strassenunterhalt und liess Depots bauen. Alles deutet darauf hin, dass es bald eine Auto- Gbahn zwischen Genf und Brig geben wird. Ende des 19. Jahrhunderts stellte der Genfer Bankier Edouard Hentsch den ersten Finanzierungsplan für den Brig wartet schon lange darauf, Geburtsstadt des berühm- Bau des Simplontunnels vor. Hentsch war Leiter der ten Strassenbauers Ernest Guglielminetti, der 1862 das Banque nouvelle des Chemins de fer suisses (der neu- Licht der Welt erblickte. Der Arzt und Lungenspezialist en Schweizerischen Eisenbahnbank), die in Abhängig- erfand zunächst ein Atemgerät für Bergsteiger, Feuerwehr- keit des Comptoir d’escompte de Paris (CEP) gegründet leute und Taucher. Guglielminetti arbeitete auf Java und worden war, bei dem Hentsch das Amt des Verwaltungs- Sumatra, bevor er, ein Star seiner Branche, nach Monaco rates innehatte. Es gelang ihm, 96 Millionen Franken zu kam. Der Strassenstaub, aufgewirbelt unter anderem durch mobilisieren und das seit langem zögernde Italien für die ersten Automobile, war der grosse Feind der Lungen. das Vorhaben zu interessieren. Der Kupferkrach und die Prinz Albert bat den Arzt, etwas dagegen zu unternehmen. Krise der Panamagesellschaft führten allerdings 1889 Dieser erinnerte sich an ein Spital in Indonesien, in dem zum Zusammenbruch des CEP und das Simplon-Projekt die Holzwände zusätzlich mit einer Teerschicht überzogen wurde eingestellt. Brig musste zehn Jahre auf den Bau- waren. Er wollte diese Methode auf Monacos Strassen beginn des Tunnels warten, für den Genf viele Fahrgäste ausprobieren. Im Jahr 1902 wurde die Hauptstrasse ge- und noch mehr Kapital bereitstellte. teert. Den monegassischen Lungen ging es von da an viel besser und der Briger wurde unter dem Titel Dr. Goudron Ebenfalls als Kunden lernten vermögende Genfer César (französisch für «Teer») zum Freund des sauberen Verkehrs Ritz aus Niederwald kennen, der seine ersten Monate im befördert. Seine Erfindung setzte sich durch und ergänzte Hotelgewerbe in der Auberge des Trois Couronnes und sich bestens mit derjenigen des Schotten John McAdam, der Auberge de la Poste in Brig absolvierte. Er erfand der einen Strassenbelag zur Befestigung der Strassen- eine Form der Luxushotellerie, die Genf übernahm, zu- decke, den Makadam, entwickelt hatte. nächst um die reichen Touristen aus Grossbritannien zu beherbergen, später dann die hochrangigen Politiker des Auf Initiative des Touringclubs der Schweiz wurde die Völkerbundes. Wie Stockalper lange vor ihm war auch Strasse zwischen Genf und Lausanne geteert. Noch im Ritz als Mobilitätsunternehmer tätig und konzentrierte selben Jahr übernahm die Liga der Tourismusverbände sich ganz auf den Aufenthalt seiner Gäste im Luxusho- das neue Verfahren an ihrem internationalen Kongress in tel; auf diesen Moment, in dem sich die reisende High Genf und verbreitete es auf der ganzen Welt. General Dufour Society auf der Suche nach Bekanntschaften und ange- beglückwünschte Guglielminetti persönlich zu seinem zogen von einer kosmopolitischen Geselligkeit traf. Beitrag zum Strassenverkehr, insbesondere dankte er für die Vorteile, die der Armee daraus erwuchsen. Dr. Groudron Das Erstklasshotel wurde zum Mittelpunkt seines starb in Genf, aber es war die Stadt Brig, die ihm 1938 ein Lebens. Architektur, Dekor, Komfort, Küche, Hygiene und Denkmal setzte. Service, alles musste stimmen, damit der Hotelaufent- halt der Pracht der besuchten Landschaft oder Stadt Die Beziehung zwischen Brig und Genf wurde schon immer entsprach. vom Thema Strasse beherrscht. Im 17. Jahrhundert richtete Kaspar Stockalper, Gründer der Stockalper-Dynastie, Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verliess jeden Tag den ersten regelmässigen Kurierdienst zwischen Genf um die Mittagszeit eine Postkutsche Genf, um über den und Mailand über den Simplon ein. Zum Dank wurden Simplon in Richtung Mailand zu fahren. Mit Halt in Brig. ihm Privilegien im Warentransport gewährt. Dieses erste Dort brachte sie einen Gomser Jungen mit Namen César kapitalistische Unternehmen im Wallis war im Besitz aller Ritz zum Träumen. Zwischen Genf und Brunnen Zwei Bündnisse zur kollektiven Sicherheit

Von Joëlle Kuntz

n Brunnen wird ein Bund geschlossen. In Genf eben- des internationalen Friedens und der internationalen falls. Das ist der rote Faden, der die beiden Namen im Sicherheit wesentlich ist, nationalen Album und in einem Abstand von sieben - bestimmte Verpflichtungen zu übernehmen, nicht zum I Jahrhunderten verbindet. Kriege zu schreiten, - in aller Öffentlichkeit auf Gerechtigkeit und Ehre Im Jahr 1315 erneuern die Leute aus Uri, Schwyz und gegründete internationale Beziehungen zu unterhalten, Unterwalden am Ufer des Vierwaldstättersees schriftlich - die Vorschriften des Völkerrechts, die fürderhin als und in einem für alle verständlichen Deutsch ihren Willen, Richtschnur für das tatsächliche Verhalten der sich gegenseitig «gegen die Strenge und Härte dieser Zeit» Regierungen anerkannt sind, genau zu beobachten, zu schützen: «… damit wir besser in Frieden und Gnaden - die Gerechtigkeit herrschen zu lassen und alle Vertrags- leben und Leib und Besitz schützen können, haben wir verpflichtungen in den gegenseitigen Beziehungen der uns durch Schwur und Versprechen für immer und ewig organisierten Völker peinlich zu achten, nehmen die gebunden und dazu verpflichtet, einander gegenseitig Hohen vertragschliessenden Teile die gegenwärtige und auf eigene Kosten zu helfen und zu unterstützen, im Satzung, die den Völkerbund errichtet, an.» eigenen Land sowie nach aussen, gegen alle und gegen jeden, der uns Eidgenossen oder einen der unseren angreift Die folgenden 26 Artikel beschreiben die Verpflichtungen oder anzugreifen beabsichtigt oder uns oder unserem der Mitglieder. Artikel 16 hält insbesondere die Folgen fest, Besitz ein Unrecht zufügt.» sollte ein Mitglied seinen Verpflichtungen nicht nachkom- men: «Schreitet ein Bundesmitglied entgegen den … über- Dieser Bund zur kollektiven Sicherheit übernimmt den nommenen Verpflichtungen zum Kriege, so wird es ohne Wortlaut des Bundes von 1291, diesmal allerdings in einer weiteres so angesehen, als hätte es eine Kriegshandlung vereinfachten Sprache, die auch von der betroffenen Bevöl- gegen alle anderen Bundesmitglieder begangen.» Danach kerung verstanden wird. Die Schlacht von Morgarten liegt folgen alle Massnahmen, die von den Mitgliedern ergriffen erst 23 Tage zurück und den bäuerlichen Gemeinschaften werden können, um sich gegenseitig zu unterstützen. am Gotthard, die das anrückende Heer von Leopold von Habsburg erfolgreich in die Flucht geschlagen haben, liegt Die Schweiz tritt dem Völkerbund bei, obwohl die viel daran, ihre Solidarität zu festigen. Unterzeichner des Bundes von Brunnen dagegen sind. Bundesrat Giuseppe Motta leitet die Eröffnungssitzung in Im Jahr 1920 wird Genf, an den Ufern eines anderen Sees, Genf im November 1920. Der gebürtige Tessiner aus Airolo, Hüterin des Völkerbundes, der im Jahr zuvor in Paris von am Eingang zum Gotthard, wo die Täler nach Venedig und den Siegermächten über das deutsche, österreichische Rom führen, ergreift die einzig mögliche zeitgenössische und osmanische Reich unterzeichnet worden ist. Die Massnahme der kollektiven Sicherheit: die Universalität kollektive Sicherheit nimmt nach den Schrecken des des Völkerbundes. Ersten Weltkrieges eine globale Dimension an, aber der Geist der Unterzeichner ist nicht grundlegend anders Von nun an sieht man die Welt nördlich und südlich als jener damals in Brunnen: Ziel ist es, die Gerechtigkeit des Gotthards anders, aber es ist dennoch die Welt, die auf Basis von Recht und einer offenen, beratenden man sieht, ob man sich nun von ihr fernhalten will, oder Diplomatie zu schützen. vorgibt, sie zu organisieren. In Brunnen wie in Genf wird von Jahrhundert zu Jahrhundert darüber diskutiert, wie In der Präambel der Völkerbundsatzung ist zu lesen: man vorgehen muss, um frei und in Frieden zu leben. Die «In der Erwägung, dass es zur Förderung der Zusam- Meinungsverschiedenheiten halten sich hartnäckig. Die menarbeit unter den Nationen und zur Gewährleistung Diskussion geht weiter. Zwischen Genf und Chur Ein Lehrer, ein Diplomat und ein Präsident

Von Joëlle Kuntz

wei bedeutende Churer Persönlichkeiten haben Seminar bildete übrigens die meisten der Führungskräfte im Abstand von hundertfünfzig Jahren ihren der Helvetischen Republik aus, darunter den Waadtländer wohltuenden Einfluss bis nach Genf ausgedehnt: Frédéric-César de La Harpe, künftiger Privatlehrer von Z ein Lehrer, Martin Planta, Mitte des 18. Jahrhun- Alexander von Russland und späterer Verbündeter derts, und ein Bundesrat, Felix Calonder, Anfang des 20. Bonapartes in schweizerischen Angelegenheiten. Jahrhunderts. Die geschickte Formulierung der Schweizer Neutralität, Mit dem Namen einer Allee ehrt Genf das Andenken an die der ehemalige Schüler von Martin Planta 1815 am Wie- Charles Pictet de Rochemont, den Mann, der vor zweihun- ner Kongress durchgesetzt hatte, wurde ein Jahrhundert dert Jahren am Wiener Kongress die Bedingungen für den später zum ersten Mal einer grossen juristischen Prüfung Beitritt der Republik zur Eidgenossenschaft ausgehandelt unterzogen: Würde sie der Eidgenossenschaft den Beitritt hat. Die Stadt zelebriert seine diplomatische Begabung, zum Völkerbund erlauben, dieser internationalen Sicher- seinen offenen Charakter, der an den europäischen Höfen heitsorganisation, die 1919 von den Siegern des Ersten gern gesehen ist, die Leichtigkeit, mit der er sich in den Weltkrieges ins Leben gerufen wurde und die in Genf wichtigsten Sprachen ausdrückt, seine scharfsinnigen beheimatet werden sollte? Wäre die Neutralität mit dem En- Situationsanalysen. Aber all das und noch viel mehr gagement der anderen Nationen vereinbar, die gemeinsam verdankt Pictet de Rochemont seiner Ausbildung, die er ab Angreifer und andere Kriegsstifter bekämpfen wollten? Es dem 13. Lebensjahr in Haldenstein in der Nähe von Chur war der Bündner Felix Calonder, zunächst Rechtsprofes- am Seminar genoss, das 1761 von Martin Planta gegrün- sor, dann Bundesrat, der die Lösung fand: Die Neutralität, det wurde, einem Pfarrer und Hansdampf in allen Gassen, so erklärte er, kann «absolut» oder «differentiell» sein. In Physiker und Erfinder eines Dampfschiffes, vor allem aber Kriegszeiten muss sie absolut sein. In Friedenszeiten kann Pädagoge, stark beeinflusst von Rousseau. sie differentiell sein, das heisst, die Schweiz kann sich an Wirtschaftssanktionen der Mitgliedsstaaten gegenüber Planta eröffnete seine Schule mit der Unterstützung der Staaten, die den Frieden gefährden, beteiligen. «Die Gele- fortschrittlich denkenden Männer, die ihn umgaben: genheit, die Grundlagen für ein Bündnis zu schaffen, mit Ulysse de Salis-Marschlins, die Mitglieder der Helvetischen dem der Völkerfrieden gewahrt werden kann, wird sich so Gesellschaft von Schinznach und sogar die Vertreter der schnell nicht wieder bieten». sagt er dem Ständerat, um Bündner Tagsatzung – rasch verbreiteten sie den Ruf des seine Überlegungen zu rechtfertigen. «Und diese Gelegen- Seminars. Den Eltern Pictet war die Verbannung Rousseaus heit verdanken wir den extrem schwierigen Zeiten». durch die Genfer Oligarchie und das Verbot seiner politischen Bücher Emil oder über die Erziehung und Vom Calonder war überzeugend genug, um den Widerstand Gesellschaftsvertrag, die öffentlich verbrannt wurden, ein von rechts und von links zu brechen. Im November 1919 Dorn im Auge. Für sie war es Ehrensache, ihren zweiten stimmten beide Kammern seiner Interpretation der Neu- Sohn sieben Jahre lang Martin Planta anzuvertrauen, damit tralität zu. Das – wenn auch unsichere – Versprechen auf er bei ihm eine avantgardistische Ausbildung erhielt. einen auf Recht beruhenden internationalen Frieden, und die Rolle als Hüterin, die Genf und die Schweiz dabei spie- Etwa fünfzig Knaben wurden in Haldenstein in den len könnten, hatten seine juristische Fantasie in Gang ge- Sprachen Französisch, Deutsch und Italienisch sowie in setzt. Das Volk gab ihm Recht, indem es im folgenden Jahr Geschichte, Geografie, Mathematik, Logik, Musik und Tanz für den Beitritt stimmte. unterrichtet. Körperliche Ertüchtigung und handwerkliche Arbeiten vervollständigten eine auf republikanischen Genf verdankt Calonder die Position als internationale Idealen basierende Erziehung, mit der die jungen Leute Stadt, um die sie bis zum letzten Moment mit Brüssel auf eine grosse Karriere vorbereitet werden sollten. Das konkurrierte. Zwischen Genf und Frauenfeld Hüter der Eidgenossenschaft

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m Jahr 1852 wird der Thurgauer Kantonsrat lichen Stadt». Am nächsten Tag um 14 Uhr trifft die Johann Konrad Kern für drei Monate als Kommissar Truppe in Genf ein. Der Bahnhof ist voller Menschen. der jungen Eidgenossenschaft nach Genf geschickt. Die Kaserne ist schmutzig und in einem schlechten I Ihm obliegt die Aufgabe, die politischen Bewe- Zustand. Sie müssen Ordnung machen. Die Nahrung gungen und Aktivitäten der ausländischen Revolutio- ist ungewohnt, aber erträglich, auch wenn der Apfel- näre zu untersuchen, die in die Schweiz geflohen sind, saft fehlt. Die Betten sind ebenfalls schmutzig. dem einzigen europäischen Staat, dem es vier Jahre zu- vor gelungen ist, das Ancien Régime abzuschaffen. Die Am nächsten Tag spazieren sie durch die Strassen. Dort umliegenden Monarchien sehen die Eidgenossenschaft gibt es viel zu sehen und jede Menge Bistros. Sie geben als ein Nest der Subversion und verlangen von Bern viel Geld aus, zu viel findet Soldat Brugger. die Auslieferung aller Flüchtlinge. Der Bundesrat wi- dersetzt sich, weist die Kantone aber an, die Zahl und Ihr Dienst ist nicht besonders anspruchsvoll. Sie sind Identität der Flüchtlinge zu kontrollieren. Genf verneint zur Überwachung da, nicht mehr. Sie finden die Genfer die Anwesenheit französischer Flüchtlinge auf seinem sympathisch und diese sind ihnen wohlgesonnen. Boden. Kern soll das überprüfen. Er findet welche und «Die Genfer haben Schweizer Blut», versichert der verpflichtet die Genfer Regierung, sich an die Anwei- berichterstattende Soldat. Das Bataillon bleibt drei sungen des Bundes zu halten. Wochen und verlässt Genf mit einer Berner Eskorte und Wein. Sie sagen der «schönen Stadt» Adieu und Später, im Herbst 1864, wird eine eidgenössische Truppe ermahnen sie, dem Vaterland verbunden zu bleiben nach Genf entsandt, um die öffentliche Ordnung auf- und ihm ebenfalls zu Hilfe zu kommen, sollte dies recht zu erhalten, die durch einen heftigen Wahldisput nötig sein. Kaspar Brugger kommt an Weihnachten zwischen Radikalen und Unabhängigen (die spätere nach Hause, mit einem sensationellen Geschenk für liberale Partei) gestört wird. Die Staatsratswahlen vom die Seinen: ein Foto von ihm, Genf im Hintergrund, 21. August sind stürmisch. Auf der Liste der Unabhäng- das Ganze aufgenommen von einem Fotografen. In igen tritt ein Bankier gegen den Radikalen James Fazy Frauenfeld gibt es noch keine Berufsfotografen. an. Und besiegt ihn mit einem Mehr von 300 Stimmen. Die Radikalen als Herren des Staatsapparates weigern Die Thurgauer Truppe kommt fast ein Jahrhundert sich, das Resultat anzuerkennen. Die Unabhängigen später wieder nach Genf, nämlich 1954, um die rufen zu den Waffen, die Radikalen schiessen in die Delegationen der Indochina-Konferenz zu schützen. Menge, es gibt drei Tote und acht Verwundete. Die Das 31. Regiment beteiligt sich an der Wache für die Eidgenossenschaft wird um Hilfe angerufen. französischen, russischen, amerikanischen, britischen und chinesischen Minister. Was für ein Erlebnis! Der Thurgau stellt das Bataillon 14 zur Verfügung. Die Sol- daten sind angehalten, sich ausgerüstet und bewaffnet An der Palästina-Konferenz 1983 sorgt ein Thurgauer auf dem Zeughausplatz in Frauenfeld einzufinden. Sie Panzerbataillon für den Schutz des Genfer Flughafens. werden vom Regierungspräsidenten vereidigt und stei- gen am Morgen des 3. Dezembers 1864 in einen Sonder- Die Verbindung zwischen Frauenfeld und Genf ist die zug. Der Soldat Kaspar Brugger aus Weinfelden erzählt, eines Beschützers gegenüber einem Beschützten. Der dass sie die Nacht in Biel verbrachten, einer «freund- Thurgau ist der Hüter von Genf. Zwischen Genf und Glarus Das Glück der Arbeit

Von Joëlle Kuntz

ls erstes Gebäude für den Völkerbund wurde Die Fabrikanten erhielten Ausnahmeregelungen und das Büro der Internationalen Arbeitsorgani- das Thema Nachtarbeit wurde wieder aktuell. Doch sation gebaut. «Hier entsteht etwas, das es die Bevölkerung hatte sich inzwischen an das Nacht- A noch nie gegeben hat, ein Haus, in dem sich arbeitsverbot gewöhnt und verlangte, dass es beibe- die Völker endlich durch die einzige Geste solidarisieren, halten werde. Im Jahr 1848 führte der Volksentscheid die sie gleich und brüderlich macht: die Arbeit», hiess der Landsgemeinde zum ersten Arbeitsgesetz in jener es am Eröffnungstag im Jahr 1926. Vor dem Gebäude, in Zeit. Darin wurden die Arbeitzeiten für alle Arbeiter, dem heute die Welthandelsorganisation untergebracht Erwachsene und Kinder, genau geregelt. Allerdings ist, denkt man an Glarus und seine Vorreiterrolle im galt das Gesetz nur für die Spinnereien. Diese Restrik- Arbeitsrecht. tion setzte eine neue Streikwelle in Gang, die zunächst dazu führte, dass das Gesetz 1856 auf alle Industriebe- Der Kanton Glarus führte 1848 als erster Kanton den triebe ausgedehnt wurde. Im Jahr 1858 kam das Sonn- normalen Arbeitstag mit 13 Stunden ein. Er war es tagsarbeitsverbot dazu und nach und nach wurden die auch, der den Arbeitstag 1872 auf 11 Stunden kürzte Arbeitstage gekürzt: von 12 Stunden im Jahr 1864 auf und der sich für das eidgenössische Fabrikgesetz 11 Stunden im Jahr 1872. stark machte, das 1877 erlassen wurde – weltweit ein Novum. Daraufhin engagierte sich die Schweiz dafür, Über all die Jahre äusserten die Fabrikanten Bedenken dass auch andere europäische Staaten soziale Normen wegen der Kosten, die durch die gesetzlichen Beschrän- einführten, um die wirtschaftlichen Bedingungen für den kungen entstanden, sowie ihrer geschwächten Position industriellen Wettbewerb zu vereinheitlichen. Gelungen gegenüber der Konkurrenz. Doch 1874 fegte die Glarner ist es ihr nicht, trotz zahlreicher Versuche. Doch die Handelskommission alle Einwände vom Tisch, indem Katastrophe des Ersten Weltkrieges gab der Schweiz sie ein idyllisches Bild des 11-Stunden-Arbeitstages Recht: Der nationale und internationale Frieden konnte zeichnete: «Mit Freude lässt sich feststellen, dass die nur durch mehr Respekt für die Arbeiter und durch eine Arbeiter nicht mehr für ihre Mahlzeiten nach Hause und allgemeine Verbesserung ihrer Bedingungen gesichert danach wieder zur Arbeit hetzen müssen, sondern dass werden. Normen mussten her, um alle Arbeiter einander sie in Ruhe ihr Essen zubereiten können und sich die gleichzustellen. Die Internationale Arbeitsorganisation Ernährung verbessert hat. Sehr oft sieht man Arbeiter, wurde 1919 ins Leben gerufen; ihre Satzung ist Tei des die nach dem Essen im Vorgarten Holz hacken und sich, Versailler Vertrages, aus dem der Völkerbund hervorging. um es kurz zu sagen, mehr in Freiheit bewegen. Dadurch hat sich die Gesundheit der Arbeiter verbessert. Auch in- Eine Vorsichtsmassnahme war der Grund für das tellektuell hat die Verkürzung der Arbeitszeit durchaus avantgardistische Arbeitsgesetz im Kanton Glarus. positive Auswirkungen gezeigt. Der Arbeiter […] kann Die unzureichende Beleuchtung in den Textilfabriken, die Beziehungen zu seinesgleichen besser pflegen. Der die leicht entflammbare Baumwolle und der häufig Geist ist lebendiger als früher […], die Kinder besuchen auftretende Föhn im Tal der Linth stellten eine häufiger eine Primar- oder Abendschule […]. Auch das ernsthafte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar. Familienleben hat davon profitiert […].» Der Landamann des Kantons folgte deshalb dem Rat der Feuerversicherungskommission und ordnete 1824 Als 1919 die Internationale Arbeitsorganisation gegrün- an, dass die Spinnereien im Winter um 20 Uhr und im det wird, beteiligt sich die Schweiz eifrig an der Aus- Sommer um 21 Uhr zu schliessen seien. Damit wurde die arbeitung der Normen. Die Schweizer Textilindustrie Nachtarbeit de facto abgeschafft. jedoch steckt in einer Krise. Viele Glarner wandern aus und gründen New Glarus im US-Bundesstaat Wisconsin. Während etwa fünfzehn Jahren wurde die Verordnung Die verbliebenen Glarner stimmen gegen den Beitritt der strikt befolgt, dann kam es immer öfter zu Verstössen. Schweiz zum Völkerbund. Zwischen Genf und Herisau Ein Genie fällt in Ungnade

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erisau nahm Henry Dunant in Heiden auf, die Entstehung des Roten Kreuzes, in dem er Dunants als Genf nichts mehr von ihm wissen wollte. Rolle als Gründer betonte. Und das Buch, mit dem alles Ruiniert, als Bankrotteur verachtet und begonnen hatte, Un Souvenir de Solférino, wurde H von seinen Gläubigern verwünscht. Heiden unter dem Titel Eine Erinnerung an Solferino auf Deutsch nahm sich seiner an und gab ihm ein neues Leben. übersetzt. Auch die österreichische Pazifistin Bertha Unter seinem Schutz wurde Dunants Name wieder zu von Suttner besuchte und unterstützte ihn. Aus dem einem grossen Namen. Heidener Flüchtling wurde wieder Henry Dunant. Von Neuem begann er, gegen den Militarismus zu kämpfen, Herisau liegt 356 Kilometer von Genf entfernt, Heiden sich für die Frauenrechte einzusetzen, die Ausbildung noch ein bisschen weiter. Die nötige Distanz, um zwei von Krankenschwestern, die Schaffung einer Weltbiblio- ehemalige Genfer Komplizen zu trennen, die sich in- thek, die Gründung des Staates Israel. zwischen hassten: Henry Dunant, Prophet, Erfinder des Roten Kreuzes, humanitärer Propagandist und Gustave Im Jahr 1901 erreichte ihn in Heiden die Mitteilung, Moynier, Verwalter und pragmatischer Organisator der dass ihm das Komitee des norwegischen Parlaments Rotkreuz-Bewegung. Dunant, der Verrückte, Moynier, den Friedensnobelpreis verliehen hatte, gleichzeitig mit der Weise. Genf behielt den Weisen, der das Rot-Kreuz- dem französischen Pazifisten Frédéric Passy. Im selben Gebäude baute; Appenzell Ausserrhoden nahm den Jahr waren auch Gustave Moynier und das Internationale Verrückten mit seinem Messianismus. Komitee des Roten Kreuzes nominiert worden.

Dunant entdeckte Heiden 1881 durch einen Freund aus Dunant starb 1910, zwei Monate nach Gustave Moynier. Stuttgart. Er führte damals ein Leben in Armut und Zu einer Versöhnung kam es nie. Die Zeit hat die Spuren Einsamkeit, verfolgt von seinen Genfer Missgeschicken ihres auf Temperament- und Charakterunterschieden und untröstlich über den Verlust von Glanz und Ruhm. beruhenden Streits ausgelöscht: Obschon es empfeh- Er mochte den Ort, nicht wegen der Molkekuren, für die lenswert ist, ein Budget im Griff zu haben, ist ein Kon- Heiden berühmt war, sondern wegen der Freundschaf- kurs keine Schande mehr. Was die avantgardistischen ten, die ihm entgegengebracht wurden, von der Familie Visionen angeht, so sind sie noch immer suspekt, aber Stähelin im Gasthof Paradies, vom Arzt Hermann man hat sich daran gewöhnt. Altherr im Bezirkskrankenhaus und von anderen, denen Dunants vor Ressentiments und Wut brodelnde Persön- Appenzell Ausserrhoden und Genf bewahren nur Spuren lichkeit zu Herzen ging. Und er mochte Heiden, weil ihn des Streits, diese sind aber umso bezeichnender: Heiden der Anblick des Bodensees an den Genfersee erinnerte, hat das Henry-Dunant-Museum, Genf das Internationale an seine Vergangenheit am anderen Ende der Schweiz. Rotkreuzmuseum. Sein Mut kehrte zurück. Am 1. Januar 2000 haben die kleine Gemeinde am Er begann, seine Memoiren aufzuschreiben. Eine junge Bodensee und die grosse am Genfersee doch noch zu Freundin, Suzanna Sonderegger, bot ihm an, in Heiden einem historischen Zusammenschluss gefunden: eine lokale Rotkreuz-Sektion zu gründen. Ein Sankt Galler Jakob Kellenberger – 1944 in dem Spital geboren, in dem Journalist führte ein langes Interview mit ihm, der Arti- Dunant lebte – wird zum Präsidenten des Internationa- kel erschien in einer deutschen Zeitung und ging um die len Komitees des Roten Kreuzes gewählt. Das war nicht ganze Welt. Vergessene Freundschaften kamen zurück. einfach so vorgegeben, denn Kellenberger wuchs nicht Der Bundesrat verlieh ihm einen Preis, Papst Leo XIII. in Verehrung von Dunant auf. Seine Kindheit in Heiden bedeutete ihm seine Anerkennung, die russische Za- war eine ganz normale Kindheit. Aber als die Umstände rin gewährte ihm eine jährliche Rente. Sein Stuttgarter zu seiner Wahl führten, liess er es zu, das Fortbestehen Freund, inzwischen Professor, publizierte ein Buch über der humanitären Idee zu präsidieren. Zwischen Genf und Kreuzlingen Gelebte Melancholie

Von Joëlle Kuntz

is 1980 stand in Kreuzlingen eine berühmte Starobinski in seiner Doktorarbeit, die 1960 heimlich psychiatrische Klinik, die 1857 von Ludwig gedruckt wurde. «Der Patient leidet an einer Krankheit, Binswanger auf dem Gelände einer säkularisierten aber er gestaltet sie auch, oder empfängt sie von seiner B Abtei gegründet wurde. Um die Jahrhundert- Umwelt. Der Arzt untersucht das Leiden, als wäre es wende wurden dort so berühmte Patienten wie Bertha ein rein biologisches Phänomen, aber durch eben jene Pappenheim (die Anna O. aus Freuds «Studien über Hyste- isolierte Betrachtung und durch ihre Benennung wird aus rie»), der Kunsthistoriker Aby Warburg, der russische Tänzer der Krankheit ein Vernunftgebilde, in dem ein besonderer Nijinsky und der Maler Ernst Kirchner behandelt. Moment jenes kollektiven Abenteuers zum Ausdruck kommt, das wir Wissenschaft nennen. Vonseiten des Unter dem Einfluss von Heidegger und Husserls Kranken, wie vonseiten des Arztes ist die Krankheit eine Phänomenologie hatte Ludwig Binswanger (1881-1966), kulturelle Gegebenheit, und als solche ändert sie sich mit der Enkel des Gründers, die «Daseinsanalyse» entwickelt den kulturellen Bedingungen.» – eine Neuheit, für die die Elite der Psychiatrie in Scharen nach Kreuzlingen pilgerte. Bei der Daseinsanalyse Mit der Zeit trat der Arzt Starobinski immer stärker geht es darum, aufzudecken, welche Beziehungen der hinter dem Essayisten Starobinski zurück, dem Literaten, Kranke zwischen sich und der Welt und anderen sieht. dem Philosphen. In seinem letzten Buch «L’encre de la Denn entgegen der weit verbreiteten Vorstellung, dass mélancholie» (Die Tinte der Melancholie), das 2012 der Kranke abgeschnitten von der Welt und von anderen veröffentlicht wurde, unterwirft er die Kunst dem entfremdet lebt, sah Binswanger in dieser Entfremdung kühlen Blick der Untersuchung der «schwarzen Galle» die vielleicht einzige Möglichkeit des Kranken, in der jener «dunklen Wasser», aus denen Literatur entsteht. Welt zu sein. Besondere Aufmerksamkeit galt daher «Schreiben», so Starobinski, «bedeutet, auf einen weissen dem Leben der Patienten. Noch vor der eigentlichen Bogen Zeichen verdunkelter Hoffnung zu setzen; einer Behandlung ging es also darum, sie zu begleiten und Vielzahl von unterschiedlichen Vokabeln die Abwesenheit ihnen zuzuhören. einer Zukunft einzuprägen; die Unmöglichkeit des Lebens zu verwandeln in die Möglichkeit des Sagens.» Um 1958 lebte in Genf ein junger Akademiker namens Jean Starobinski. Er war gleichzeitig Facharzt für Innere In Kreuzlingen unterschied Ludwig Binswanger zwischen Medizin und Oberassistent für französische Literatur. Bei dem Heilen und dem Heil: der Behandlung und der Seelsor- seiner Doktorarbeit in Medizin fiel ihm auf, dass in der ge. Drei Jahre nach seiner Einweisung verliess der Kunst- gesamten Fachliteratur über individuelle Krankheitsfälle historiker Aby Warburg am 12. August 1924 die Klinik, in immer jemand fehlte: nämlich der Kranke selbst, seine der er wegen Schizophrenie behandelt worden war. Zum lebendige Gegenwart und seine Art, die Krankheit zu (er-) Beweis seiner Heilung hatte er dort einen Vortrag über das leben. Der neuartige Ansatz der Kreuzlinger Gruppe war Schlangenritual der Indianer Neu-Mexikos gehalten, an wie für ihn gemacht. Er widmete seine Disseration der dem er vor 26 Jahren teilgenommen hatte. Er war davon Geschichte der Melancholiebehandlung. Die Schrift wurde überzeugt, dass die Wiederaufnahme seiner wissenschaft- somit gleichzeitig eine Geschichte der Wissenschaft, lichen Tätigkeit Beweis seiner wiedererlangten Gesundheit eine Geschichte der Melancholie und eine Geschichte sein würde. Er sollte Recht behalten. Hatte Binswanger ihn der Melancholiker von Homer über Rousseau bis hin zu geheilt oder gerettet? Das sind die Fragen, die Kreuzlingen Baudelaire und Kafka. und Genf in den Köpfen ihrer jeweiligen Philosophen beschäftigen und damit verbinden. Mit dieser Mischung von Psychiatrie und Literatur entstand unter der Feder von Jean Starobinski und in der Tradition Das Gebäude des Sanatoriums Bellevue wurde 1990 der Kreuzlinger Schule ein kritisches Meisterwerk zur abgerissen. Aber bei der offiziellen Vorstellung der «gelebten Melancholie» in Genf. «Die Erkrankungen des Gemeinde Kreuzlingen und ihrer Geschichte steht sein Menschen sind keine natürliche Spezies für sich.», schrieb Name weiterhin ganz oben. Zwischen Genf und Liestal Alles über die Grenzüberwachung

Von Joëlle Kuntz

lle Genfer Grenzwächter, jeder Zivilbeamte, der Technik geworden, die Macht und administrative Kom- mit der Überwachung und Verzollung von Waren petenz in sich vereint. zu tun hat, die die Grenze überqueren, hat eine A persönliche Verbindung zu Liestal. Denn in dieser Dazu waren mehr als hundert Jahre nötig. Die ersten kleinen Stadt, die sich gegen die letzten Ausläufer des Jura eidgenössischen Grenzwächter wurden im Tessin eingesetzt, schmiegt, haben sie zwei Jahre ihrer Jugend damit verbracht, und bald darauf in Genf. Die Organisation erwies sich im Ausbildungszentrum der Eidgenössischen Zollverwal- jedoch als schwierig; mangelnde Disziplin stand an der tung das für ihren Beruf notwendige Wissen zu erwerben. Seit Tagesordnung. Es fehlte ein Gesetz, das die Kantone zur 1933 befindet sich die Zollschule, die der Bundesverwaltung Zusammenarbeit anregen würde. Dieses wurde am 28. Juni untersteht, in Liestal. In dem modernen, luftigen und kom- 1893 erlassen. «Der Bundesrat», so der Wortlaut, «wird alle fortablen Gebäude befasst man sich mit intensiven Studien notwendigen Massnahmen ergreifen, um die bestmögliche und körperlicher Ertüchtigung. Denn zur Überwachung der Umsetzung einer vorschriftsmässigen Verzollung zu Grenze braucht es auch ein paar stramme Waden. gewährleisten und den Zolldiensten den notwendigen Polizeischutz zur Seite zu stellen. Er wird ein bewaffnetes Sechshundert Personen sind allein in Genf in der Grenzwächter-Corps schaffen, das dem eidgenössischen Überwachung und Verwaltung der Grenze angestellt. Genf Militärstrafrecht untersteht.» Seine Aufgabe: «Schmuggel verfügt damit nach Basel über das zweitgrösste Kontingent aufdecken, verhindern und zerschlagen». an Grenzbeamten. Drei Generationen von Grenzbeamten haben Liestal in ihrem Lebenslauf verewigt. Manche waren Leichter gesagt als getan. Schnell wurde man sich darüber dort selbst als Lehrpersonal tätig, denn laut Vorschrift sollen klar, dass für eine so spezifische Mission eine Ausbildung die Erfahreneren unter ihnen einen Teil ihrer Zeit auf die nötig war. Also wurde 1896 in Chêne-Bourg im Kanton Genf Ausbildung des Nachwuchses verwenden. ein Ausbildungszentrum eröffnet; da, wo der Bedarf am grössten war. Mag diese Verbindung zwischen Genf und Liestal auch kaum bekannt oder sichtbar sein, banal ist sie längst nicht. Ganz im Das Zentrum kam seiner Aufgabe vorbildlich nach. 1927 Gegenteil. Sie ist das Herzstück dessen, was einen jeden wurde erstmals eine zentrale Schule für alle Zolldistrikte in Staat ausmacht: ein räumliches Territorium, eine Bevöl- der Genfer Plainpalais-Kaserne eröffnet. Ihr hochgesteck- kerung und eine politisch-administrative Organisation. tes Ziel war es, «aus jungen Menschen Grenzwächter zu Das Territorium wird «überwacht», die Bevölkerung und machen, die allen Anforderungen des Dienstes hinsichtlich ihre grenzüberschreitenden Aktivitäten werden durch die ihres Auftretens, ihrer Kenntnisse und ihrer körperlichen Anwendung von Vorschriften und Zöllen «geregelt». Tüchtigkeit vollauf entsprechen.» Zu den Unterrichts- fächern gehörten Zollgesetzgebung, Warenkunde, Landes- Liestal ist für die zivile Verteidigung der Schweiz, was Thun und Völkerrecht. Dazu kam die Handhabung von Waffen. für ihre militärische Verteidigung ist: eine Schule, in der man alles lernt, was mit der Grenze zu tun hat, das Legale Die Genfer Schule entwickelte sich hervorragend, als sie mit und das Illegale, was deklariert werden muss und was nicht, einer unvorhergesehenen und kontroversen Aufgabe konfron- das Passierrecht und was beim Schmuggeln passiert. tiert wurde. Am 2. Februar 1932 rief der Bundesrat die Re- kruten der Zollschule dazu auf, einen Polizeieinsatz bei einer Die Genfer Grenze zu Frankreich ist 100 km lang. Sie ist Demonstration gegen die Abrüstungskonferenz des Völker- nicht nur fester Bestandteil der Schweizer Stadt, die in ih- bundes zu unterstützen. Schlimmer noch: Im November des- rem Tal von den französischen Gebirgen Jura, Salève und selben Jahres beauftragte der Bundesrat die Grenzwächter, Voirons umgeben ist; sie reicht bis in die Köpfe der Genfer. das Militär bei einem Einsatz gegen linke Demonstranten zu Lange Zeit oblag ihre Überwachung den Festungsingenieuren. verstärken. Ergebnis: 9 Tote und 60 Verletzte. Danach waren Mit dem Anbruch der Moderne, der Industrialisierung und die Uniformierten in Genf nicht mehr gern gesehen. Die Eid- der Liberalisierung des Handels ist die Grenzüberwachung genössische Zollverwaltung suchte nach einem neuen Stand- zu einer subtilen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen ort für ihr Ausbildungszentrum – und fand ihn in Liestal. Zwischen Genf und Luzern Maler des Höchsten

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n internationalen Umfragen zur Schweiz teilen sich verzeichnet im Jahr 1849 den Verkauf «eines Bildes mit Luzern und Genf den Titel der am häufigsten genann- Ansicht des Vierwaldstätter Sees, Abendstimmung, erwor- ten Stadt. In der Vorstellung, die sich die Welt von der ben von Herrn Wischer Passavant aus Basel zum Preis von I Schweiz macht, liegen Vierwaldstätter See, Pilatus 9000 Fr.» Das ist das erste. Das zweite ging im selben Jahr und Rigi gleich neben dem Völkerbundpalast und der Fon- an Herrn Hildebrandt, den Bayerischen Generalkonsul in täne im Genfersee. Diese unmittelbare Nähe geht auf den Hamburg. Im darauffolgenden Jahr wird einem gewissen Genfer Maler Alexandre Calame zurück, dem Genie hinter John Mottu aus Mailand für 2000 Franken eine Replik den höchsten Gefühlen vor der Schweizer Landschaft. Für versprochen. Der Herr fordert aber sein Bild nie ein, und so die Augen, die Herzen und die höchsten gesellschaftlichen geht es für 2500 Franken an einen Käufer aus Frankfurt. Kreise des 19. Jahrhunderts malte er jene traute Einheit aus Bergen und Wasser, diese romantische Verbindung Ab 1851 werden die Vierwaldstätter Seen grösser und von Vertikaler und Horizontaler, die aus Luzern den ersten teurer. Für 5000 Franken wird dem Amsterdamer Touristenmagneten des Landes machen sollte. Handelsmakler De Wries ein Duplikat verkauft. Der Fürst von Mecklenburg ersteht ein grosses mit «intensivem Son- Der Schüler von François Diday verleiht der Landschafts- nenuntergang über den Alpen, tiefem See & Bäumen», malerei seiner Zeit eine Radikalität in der Linienführung, ebenfalls für 5000 Franken. Das Gleiche geht für 6000 den Farben und den Details, die den damaligen Blick auf Franken an einen Konsul des Schwedenkönigs, und die die Schweizer Natur reformiert, dramatisiert und verstärkt, Kopie für 7500 Franken an einen gewissen «Tornshend?». bis er zum Meditationsgegenstand wird. Der Calvinist in ihm hat nichts ausgelassen, um Gott auch in den Stürmen Das Jahr 1855 bedeutet die absolute Krönung für den Ruf oder den ruhigen Morgen in der Luzerner Gegend zu su- Calames und seiner Vierwaldstätter Seen: Auf der Weltaus- chen: «Ich überrasche mich zuweilen bei der Frage, ob es stellung der Schönen Künste in Paris wird sein Bild von dem Menschen gegeben ist, jene geheimnisvolle Schönheit Napoleon III. erworben – für die Rekordsumme von 15 000 zu ergründen.», sagte er. Goldfranken.

Mit seinen reinen, anekdotenfreien Landschaften ohne Zur gleichen Zeit entdeckt die russische Aristokratie ihre Menschen («weil sie die Natur herabsetzen») versetzte Vorliebe für die Schweizer Alm. Die Zarinmutter bestellt Calame das kultivierte Europa in hellen Aufruhr. Die jun- eine «Remniszenz des Vierwaldstätter Sees, vom Rütli aus gen russischen Maler Iwan Schischkin, Alexei Bogoljubow, betrachtet, Sonnenuntergang, Bäume». 1860 wünscht Arseni Meschtscherski und Lew Jemtschunikow verkehrten sich ein gewisser Lepeschkin aus Moskau eine Replik des in seiner Werkstatt. Selbst Tolstoi war von seinem Besuch vom Kaiser erworbenen Bildes «mit dem aufgewühlten bei Calame schwer bewegt: «Sein Talent beruht auf keiner See & ein paar Felsen im Vordergrund». Ausserdem sollte grossen Intelligenz; vielmehr erdrückt Ersteres die Letzte- es «ein Boot im Vordergrund, ein zweites in der Mitte» re: Er kann sich selbst nicht definieren. Aber er gehört zu geben. Auch der König von Württemberg bekam seinen jenen Menschen, die man einfach lieben muss.» eigenen Vierwaldstätter See, von Brunnen aus betrachtet, für 10 000 Franken. Goethe hatte einst über Luzern gesagt: «Keine Sprache vermag dergleichen Ausdruck zu verleihen.» Calame fand 1864 stirbt Calame nach einem langwierigen Brustleiden eine. Seine Vierwaldstätter Seen sind zur Bildsprache der in Menton. Der letzte Eintrag in seinem Katalog betrifft gehobenen Klassen Europas avanciert. Bestellt wurden die immer noch Luzern. Es handelt sich um einen Auftrag aus einzelnen Exemplare direkt beim Künstler, der als tüch- Mailand für ein 1m x 1,4m grosses Bild «mit den Hoch- tiger Geschäftsmann alle Wünsche, Preise, Empfänger alpen, Pilatus oder Rigi, Abendstimmung. 8000 Franken, und Lieferdaten gründlich notierte. Sein Produktionska- wenn der Pilatus ausgeführt wird, 7000 Franken, wenn talog, den er Jahr für Jahr auf dem neuesten Stand hält, die Rigi gewählt wird.» Zwischen Genf und Olten Ein Bahnhofbuffet

Von Joëlle Kuntz

s gibt da ein gewisses Ungleichgewicht zwischen jener Gruppe leidenschaftlicher Bergsteiger, die 1863 Genf und Olten, eine Art geografische Ungerech- nach dem Modell der englischen Clubs (in denen Frauen tigkeit. Für die Einwohner Oltens ist Genf, 160 nicht zugelassen waren) im Bahnhofbuffet den Schweizer E Kilometer westlich, eine Stadt mit allerlei Zier- Alpen Club gründen. Bekannt ist nur, dass ein gewisser den: einem See, einer Fontäne, einem Völkerbundpalast, Guillaume-Henri Dufour Mitglied der zwei Jahre später einem Bart an Calvins Kinn und dergleichen mehr. Für die gegründeten Genfer Sektion war. Genfer hingegen ist Olten ein Bahnhof mit einem Buffet zwischen den Gleisen 4 und 7, wo man morgens um 11 Uhr Ebenso wenig sind Namen aus dem Kreis jener militanten für eine Sitzung mit Kollegen aus Basel, Zürich, Bern, Chur Gewerkschafter bekannt, die 1873 am selben Ort und Lugano eintrifft, und von wo man abends um 17 Uhr den Schweizerischen Arbeiterbund gründen, um ihn mit einem mehrheitlich angenommenen Beschluss in der 1880 (wiederum im Bahnhofbuffet) zugunsten des Tasche wieder nach Hause fährt. Schweizerischen Gewerkschaftsbunds aufzulösen. Kein leicht zugängliches Archiv führt Zeugnisse darüber; Olten liegt im Herzen des Schweizer Eisenbahnnetzes und keine Rechnungen, keine Getränkelisten. Die Oltener unterhält damit einen sowohl messbar gleichen als auch Momente der Landesgeschichte werden unserer direkten moralisch ertragbaren Abstand zu den narzisstischen Wahrnehmung für immer verwehrt bleiben. Die mehr Zentren der Eidgenossenschaft. Und deshalb fahren die als 300 Abgeordneten, die im Februar 1894 die neue Genfer da ganz patriotisch hin. Die Oltener kennen die Genfer «Freisinnig-Demokratische Partei» gründen, passen nicht. Sie sehen sie vorbeifahren, jene Namenlosen hinter freilich nicht alle ins Buffet. Aber man kann es sich lebhaft ihren Zugfenstern, und verwechseln sie womöglich mit den vorstellen: Ankünfte, Abfahrten, Kommentare am Rande. Lausannern, die ihnen hinter den blanken SBB-Scheiben so Sie sind die Macht schlechthin in den Grossen Räten und täuschend ähnlich sehen. Was übrigens auch nicht weiter den Gemeinderäten und sie organisieren sich gerade, um wichtig ist, denn schliesslich nehmen schon seit geraumer diese Macht nicht zu verlieren. Der Präsident der Sitzung Zeit genug Romands an den Zusammenkünften in Olten teil. heisst Friedrich Göttisheim. Wer ist das? Ihren Ruf als Treffpunkt der Schweiz wird die Solothurner Stadt also noch lange ungefährdet fortbestehen sehen. Nachdem englische Schüler in den privaten Pensionaten Fussball zum Bestandteil der Schulausbildung von Jungen Die Genfer kennen die Oltener allerdings auch nicht, abgese- gemacht hatten, wird am 7. April 1895 der Schweizerische hen von den Angestellten des Bahnhofbuffets. Zwischen zwei Fussballverband im Bahnhofbuffet Olten aus der – sicher- Zügen und vollauf beschäftigt mit dem, was sie herführt, lich bierreichen – Taufe gehoben. Die Namen des Oltener fürchten sie allein die Länge der Vorträge, die den reibungs- Aktionskomitees, das 1918 zum Generalstreik aufgerufen hat- losen Ablauf des Tagesprogramms gefährden, und haben kei- te, sind allerdings bekannt, weil sie ausnahmslos im Gefäng- ne Augen für die Menschen vor Ort, für die Biegung der Aare nis landeten: Robert Grimm, Fritz Platten, Friedrich Schneider. und ihre Brücken. Olten ist für sie keine Stadt, sondern ein Konzept: die Schweiz in einer Sitzung. Ebenso bekannt sind die Mitglieder der «Gruppe Olten», die 1971 die konservative Haltung des Schweizerischen Schrift- Dieses Konzept geht auf die Schweizerische Centralbahn stellerverbandes kritisiert. Diese Namen liegen vor, weil sie zurück, die 1856 Olten als den Nullpunkt des im Entstehen damals grösster Geheimhaltung unterlagen: Max Frisch, begriffenen Eisenbahnnetzes festlegte. Bald schon kreuz- Friedrich Dürrenmatt, Nicolas Bouvier. ten sich in Olten die Linien Genf – Sankt Gallen und Basel– Chiasso, jene beiden Trägerlinien von Politik und Vereins- Das ist allerdings untypisch für jenen Sitzungskult, kultur, die in der modernen Schweiz so vielfältige und doch der im Bahnhofbuffet Olten zelebriert wird und so extrem oft anonyme Formen annehmen. demokratisch ist, dass man ihm ein Denkmal setzen sollte: «Dem unbekannten Sitzungsteilnehmer». Genf könnte das Abgesehen von den eingefleischten Fachleuten kennt finanzieren – zum Dank dafür, seit 200 Jahren dabei sein heute keiner mehr die Menschen hinter den Namen aus zu dürfen. Zwischen Genf und Rapperswil-Jona Kinderträume und der Traum von Demokratie

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m September 1968 entdeckten die Genfer die seiner Ansicht nach nur einen schweren Fehler unter der Kuppel des Zirkus Knie das weisse hatte, nämlich die mangelnde Repräsentativität ihrer Le- Nashornweibchen Zeila. Es war das erste seiner gislative. Als Angehöriger der katholischen Minderheit litt I Art, das vor den Augen staunender Kinder und er unter der radikalen Vorherrschaft der Protestanten. Er ihrer verblüfften Eltern seine Runden durch die Manege sollte sein gesamtes Leben darauf verwenden, mit Refe- drehte. Zeila wurde zur Heldin der Schulhöfe. Aber damit rendum und Initiativrecht ein Gegengewicht zu schaffen. nicht genug: 1972 liess Fredy Knie die Tigerin India auf Zeilas Rücken reiten. In diesen Jahren häuften sich die Das radikale Genf der damaligen Zeit unterstand mit Tierauftritte bei Knie. Tiger und Elefanten tanzten nach James Fazy der Herrschaft einer starken Persönlichkeit. Fredys Taktstock und die Schüler Genfs wünschten sich Dementsprechend brachte die Genfer Opposition Curtis nichts sehnlicher, als sie im Zirkuszoo zu besuchen. Ideen ein besonders reges Interesse entgegen, denn die Ihnen wurde erklärt, dass die Tiere den Winter über «in Volksrechte eröffneten die Möglichkeit eines tatsächli- Rapperswil schliefen.» Rapperswil, Knie, der Zoo: Diese chen Machtausgleichs. Nach einer hartnäckigen, aber Worte hallen durch zahllose Genfer Kindheiten. Die erfolglosen Gegenoffensive der Freisinnigen Partei wur- ersten Affen, die ersten Giraffen, die ersten Löwen: Sie de das fakultative Referendum am 25. Mai 1879 in einer alle kamen aus einem verwunschenen Ort – vielleicht Volksabstimmung mit deutlicher Mehrheit angenom- einem Wald? – den man Rapperswil nannte. Das men. Da konnte die letzten Reihen des Widerstandes war noch vor der Fusion mit Jona. Jeden Herbst fasste aus den freisinnigen Reihen noch so oft einwenden, dass man den Plan, mal hinzufahren, um nachzuschauen. die Volksrechte nichts als eine «böse Fee», eine «Schein- Manchmal wurde was aus dem Plan. Zwischen Genf demokratie» und eine «Fortschrittsbremse» seien – den und Rapperswil liegen 317 Kilometer. Weg in die Herzen der Genfer hatten sie längst gefun- den. Zehn Jahre später, im Jahr 1891, stimmte Genf mit Später begegnete den Genfern noch eine ganz andere, 87,4% für die Verfassungsinitiative, eine Reform, die die aber ebenso interessante Spezies aus Rapperswil-Jona: gesamte Schweiz mit nur 60,3% annahm. die Lakers, jene Hockeyspieler aus der National League A, die Genf-Servette ohne weiteres in die Tasche stecken Ungeachtet seines Engagements bei der Linken für die können. Da kann Servette gerne um einen oder zwei Verbesserung der Lage der Bevölkerung, Gewerkschafts- Ranglistenplätze vor ihnen liegen: Die Lakers bleiben freiheit sowie allgemeine Sozialversicherungen, war Cur- eine ständige Bedrohung für Genfs Position in der ti der Liebling des Journal de Genève, das es niemals ver- Schweizer Hockey-Hierarchie. säumte, über seine Position in den Nationalratsdebatten zu berichten. Anlässlich seines Todes im Dezember 1914 Im vorhergehenden Jahrhundert, 1848, hatte Rapperswil veröffentlicht das Journal eine umfangreiche Hommage einen Menschen hervorgebracht, der in den Genfern für den «Liberalen mit den höchsten intellektuellen und politische Leidenschaft entfachen sollte: Theodor Curti, moralischen Eigenschaften», der stets darum bemüht Theoretiker, Förderer und Historiker der schweizer- gewesen war, «liberalen und demokratischen Grund- ischen Volksrechte. Er war katholisch, wie das in sätzen zum Triumph zu verhelfen.» Rapperswil nun einmal so ist; gehörte jedoch zu jenem liberalen und toleranten Lager, das dem 1870 von Papst «In seinen Büchern und Reden, die ewig fortbestehen Pius IX. eingeführten Glaubenssatz der päpstlichen werden, hinterlässt er seinen Lesern und Zuhörern Unfehlbarkeit entschieden ablehnend gegenüberstand. jenes noble Ideal, das seinen Namen in den Gedächt- Er fühlte sich wohl in dieser neuen Eidgenossenschaft, nissen künftiger Generationen weiterleben lässt.» Zwischen Genf und St. Gallen Ein Dichter zwischen den Zivilisationen

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ür Genfer ist St. Gallen «das andere Ende» der Erzähler und Musikgelehrte, dank dem noch heute die Kyrie Schweiz, wie es ein Merksatz aus den ersten Primar- und Hallelujas jener keltischen Mönche in unseren Ohren schuljahren so schön formuliert. Nach St. Gallen erklingen, die vor fünfzehn Jahrhunderten in St. Gallen F fahren die Genfer wie Landvermesser, die jenes Land wirkten. erkunden, zu dem auch sie seit nunmehr 200 Jahren gehören. Sie waren zusammen mit Kolumban von Irland gekommen und Vier Stunden Zugfahrt und 348 Autobahnkilometer trennen diese hatten Burgund durchquert, bis sie Arbon am Bodensee erreich- beiden Städte voneinander, die die kleine Schweiz zu beiden ten. Von dort gelangten sie nach Bregenz, wo noch heute die Seiten einklammern. Obwohl der Abstand zwischen den beiden Ruinen eines vergangenen Christentums von ihrer Tätigkeit objektiv doch recht kurz erscheint, trennt sie in Wirklichkeit zeugen. Bevor sie sich in der Gegend niederliessen und der Feld- einiges. Als die Genfer Schützenvereine Arquebuse, Carabine wirtschaft, der Fischerei und dem Predigen widmeten, hatten und Navigation im Juli 1838 eine Delegation von acht Schützen sie vor den Augen der entsetzten Menge die Bildnisse heidni- zum Eidgenössischen Schützenfest schicken wollen, können scher Gottheiten zerstört. Als ihnen die Vertreibung drohte, tra- sie den notwendigen Teilnahmebeitrag nicht aufbringen und ten sie die Flucht nach Italien an. Nur der fieberkranke Gallus müssen beim Genfer Staatsrat eine Unterstützung in Höhe von blieb mit wenigen Anhängern zurück. Er fand Zuflucht in einer 1300 Gulden beantragen – die ihnen dieser auch bewilligt. Zur kleinen Einsiedelei im Wald, die er nach einem Tauschhandel damaligen Zeit dauert es zwei Tage, um die Schweiz von West mit einem Bären bezog. Der Bär erhielt ein Brot im Gegenzug nach Ost zu durchqueren. Für ihre Reise nach St. Gallen bringen dafür, dass er dem Eremiten Holzscheite ins Feuer stiess, damit die Genfer Schützen also eine ganze Woche auf – und das alles dieser Fisch zubereiten konnte. So lebten sie in ländlicher Sorg- für einen dürftigen zweiten Platz und vier Pokale. Patriotismus losigkeit bis etwa 646, dem vermutlichen Sterbejahr von Gallus. hat eben seinen Preis. An der Stelle seines Grabes wurde eine Kapelle errichtet, die in ein Kloster umgewandelt wurde, als die Adligen und Betuchten Aber Genf und St. Gallen haben auch vieles gemein: Von der damit begannen, Ablass für ihre Sünden zu bezahlen. Fläche etwa gleich gross, sind beide grenznah gelegen und traditionelle Handelsstädte. Beide unterstanden kirchlichen Damit beginnt die eindrucksvolle Geschichte des Klosters Grundherren, Genf mit seinem Bischof und St. Gallen mit St. Gallen, wohin einst irische Mönche zogen, «voller Tatendrang seinem Abt, die beide wiederum dem Kaiser und dem Papst und mit ihrer Kultur, Musik, Kunst und Literatur im Gepäck. Sie unterstanden. Die Bürger beider Städte haben sich jedoch erstellten germanisch-keltisch-lateinische Wörterbücher, um ihrer hohen Herren entledigt und sie gegen die Reformation damit die Gunst der Königinnen zu gewinnen und die Könige eingetauscht. Mit Calvin in Genf und Vadian (1483-1551) in zum rechten Glauben zu bekehren. Ausserdem entwarfen St. Gallen haben die zwei Städte zwei ausserordentliche sie Karten von Rom, in denen jede Ruine und jedes Haus Theologen hervorgebracht, die von der Geschichtsschreibung verzeichnet war. In ihren Gärten bauten sie Heilpflanzen an; zwar als Freunde behandelt werden, aber nicht als Verbündete. sie errichteten Mühlen, legten Bäder an, bauten Spitäler, Bauernhöfe, und nicht zuletzt Werkstätten, in denen streng Vor ihren Toren stiess die St.Galler Reformation auf das gläubige Kopisten rege und fleissig ihrer Arbeit nachgingen, Kaiserreich Karls V., während Genf an das Königreich von welche Herrschern und Königen Freude bereitete.» Im achten Franz I. angrenzte. Als ehemaliger Rektor der Universität Jahrhundert war St. Gallen mit seinen Mönchen das Wien sieht Vadian in der Reformation vor allem ein ethisches Zentrum westlicher Lyrik. «Sie waren es», schreibt Ekkehard V. und moralisches Unternehmen. Er denkt auf lokaler Ebene in seiner Chronik, «die die Kirche mit Beben und Glanz erfüllten und verfasst nur wenige Schriften und diese ausschliesslich – und das nicht nur in Deutschland. Über alle Meere hinweg auf Deutsch. Für Calvin hingegen, den politischen Theologen, bis in die letzten Winkel der Welt erschallten jene Hymnen, ist die Reformation ein internationales Vorhaben, das er jene Sequenzen, jene Tropen und Litaneien, jene vielfältigen mit einer Fülle an Veröffentlichungen auf Französisch und Gesänge und Melodien, die ihrer Feder entstammen.» Latein vorantreibt. Er erdenkt einen neuen Menschen, den «Reformierten», der in einer neuen Zivilisation lebt. Damit hat Heutzutage reisen Genfer nach St. Gallen, um dort in der Genf ein Projekt, sagt der irische Historiker Alister McGrath. barocken Stiftsbibliothek die einzigartigen und kunstvollen Nicht so St. Gallen. Genauer gesagt: nicht mehr. Denn es hat Buchmalereien eben dieser Mönche zu bestaunen. Dabei kann eine solche «Zivilisation» in St. Gallen gegeben. So überliefert es passieren, dass sie die Wege derer kreuzen, die von St. Gallen es uns Charles-Albert Cingria, der Genfer Dichter, Vagabund, zum Genfer Autosalon fahren. Zwischen Genf und Sarnen Ein Buch in weissem Leder

Von Joëlle Kuntz

wischen Genf und Sarnen hat sich eine Art Wunder Geschichte der Schweiz Form an: mit Daten, Namen und zugetragen. Man muss sich Genf vorstellen, einer rationalisierten Abfolge der verschiedenen Ereignis- wie es im Jahre 1815 Teil der Schweiz wird: Die se, die schnell zu Fakten werden. 1780 verwendet Jean de Z protestantische Stadt spricht kein Wort Deutsch, Müller dieses Chronicon Helveticum als Vorlage für seine ihre Bevölkerung ist mehr Frankreich zugewandt und hat Histoire de la Confédération au Moyen Age (Geschichte der kaum einen Schimmer von der Geographie des Landes, Eidgenossenschaft im Mittelalter), die farbige malerische dem sie da gerade beitritt. Die savoyischen Gemeinden, Umsetzung jener Gründungsmythen, die als Fast-schon- die an die Stadt angeschlossen worden waren, um das Wahrheiten zum Herzstück der Schweizer Geschichte wer- Gebiet «aufzurunden», sind gar katholisch und von der den. Fehlt nur noch Heinrich Zschokke, dessen Adapta- Gegenwart und der Vergangenheit ihrer neuen Heimat tion in den Jahren um 1820 daraus eine Geschichte für noch stärker entfremdet. Aus diesem Unwissenheits- alle macht. Das Buch wird gerade rechtzeitig fertig für die und Fremdartigkeitsbrei muss nun ein Schweizer Kanton Genfer, aus denen ja Schweizer werden sollen. gebacken werden. Zwischen dem Weissen Buch von Sarnen und seiner An dieser Stelle tritt Sarnen auf den Plan. Die Stadt Übertragung in Zschokkes «Geschichte der Schweiz» sind besitzt ein Buch mit weissem Ledereinband, das das dreieinhalb Jahrhunderte vergangen. Während dieser früheste Zeugnis von der Gründung der Eidgenossenschaft Zeit hat sich vor dem Hintergrund einer Legende eine enthält. Das Weisse Buch von Sarnen, das 1470 auf der recht verführerische und bezaubernde Idealvorstellung Grundlage mündlicher Überlieferungen anonym verfasst der Schweiz entwickelt, die nun das zeitweise entwurzelte wurde, erzählt die Geschichte von Wilhelm Tell, von der Herz der Genfer Republik erobert. Rousseaus Stadt findet Auflehnung der drei Urkantone gegen die Habsburger, Gefallen an den Alpen, der Natur, dem freien Bauern, von der Zerstörung der Schlösser, vom Bundesschwur dem kraftstrotzenden Schäfer und der sanften Schäferin. und davon, wie sich Arnold Winkelried in der Schlacht bei Genf geht eine Verbindung ein mit dieser makellosen Sempach aufgeopfert hat, um den Eidgenossen den Sieg Mythenschweiz und ihrer geistigen Geradlinigkeit, ihren gegen Herzog Leopold von Österreich zu sichern. Man einfachen Sitten, ihrer Hingabe für öffentliche Belange liest darin auch Geschichten vom Widerstand der Bauern und ihrem ausgeprägten Sinn für Unabhängigkeit. gegen die österreichischen Vögte, die da eine Ehefrau schändeten und dort ein Haus an sich rissen, und noch Damit wurde Genf zur Schweiz erklärt. Möge ihre Ver- anderen Fällen von unzulässigem Machtmissbrauch. bindung heilig sein, auf dass die Gatten einander lieben und ehren. An der Tagsatzung erzählen die ersten Gen- Dieses erste zusammenhängende Manuskript, das fer Abgeordneten vom «Glück, jene Schweiz ihre Heimat zuvor verstreute Elemente in sich vereint, wurde 1507 nennen zu dürfen, die seit jeher Hort der Freiheit und in der Chronik von Petermann Etterlin als Druckversion Unabhängigkeit ist.» Danke, Sarnen. wieder aufgenommen. Es feiert den gerechten Kampf des «frommen und ehrlichen Bauern» gegen die Damals, 1815, war Obwalden nicht gerade begeistert von schrankenlose Tyrannei des Habsburger Adels. Erstmals Genfs Aufnahme in die Eidgenossenschaft. Unter dem Ancien taucht hier die Szene mit dem Apfel auf. Régime hatte es zur Liga jener Kantone gehört, die jegli- che Annäherung an die Stadt Calvins ablehnten. Und doch Der Stoff ist so spannend und überzeugend erzählt, dass hat Obwalden den Genfern das Hauptargument für ihre Aegidius Tschudi davon 1550 eine Zusammenfassung Schweizwerdung geliefert. Es steht in unsichtbarer Tinte in mit Chronologie schreibt. Unter seiner Feder nimmt eine einem Buch, das in weisses Leder eingeschlagen ist. Zwischen Genf und Schaffhausen Ein anderer Strom

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er Kanton Schaffhausen hat im Mai 1920 den Die heutigen Sorgen sind dagegen weniger grausam. Als Völkerbundbeitritt der Schweiz mit 60% der konvertierte Ökologen sprechen sich Schaffhausen und Stimmen abgelehnt. 4362 Stimmen waren Genf regelmässig darüber ab, was mit dem Feldhuhn D dafür, 6559 dagegen. Im März 1986 hat geschehen soll. Denn diese Art nistet bevorzugt auf Feldern Schaffhausen den Schweizer UNO-Beitritt mit 78,2% und ist durch den Ausbau der Landwirtschaft gefährdet. abgelehnt. Dieser Ablehnung hat er im März 2002 Von den 10 000 Tieren, die vor 1950 erfasst wurden, erneut Ausdruck verliehen, wenn auch mit 54,6% bleiben heute nur noch wenige. Die Genfer Champagne weniger stark. Man muss den Tatsachen ins Auge und der Schaffhauser Klettgau haben die Dinge in die sehen: In Sachen Schweizer Aussenpolitik sind Genf Hand genommen. Leider zu spät: Das ursprüngliche und Schaffhausen sich uneins. Mehr Einigkeit herrscht Feldhuhn ist komplett aus Schaffhausen verschwunden hingegen auf anderen Ebenen. und in Genf fast ausgestorben. Die Schliessung einiger Weidebetriebe war ins Auge gefasst worden. Um den In religiösen Dingen, zum Beispiel. Im 16. Jahrhundert Tieren eine Chance zu geben, haben die beiden Kantone sind beide protestantische Städte von katholischen ihnen mehrere Quadratkilometer grosse aufgewertete Erobererstaaten umgeben: Genf von Savoyen und und artenreiche Lebensräume zur Verfügung gestellt. Schaffhausen vom Kaiser in Konstanz mit seinen Die Ergebnisse sind ermutigend. Den zuständigen Stellen Truppen. Infolgedessen hatten beide Städte verschärfte zufolge liegt es am Ende an unserer Gesellschaft, zu Vorkehrungen gegen Fremde (grundsätzlich allesamt entscheiden, ob das Feldhuhn in unseren Anbaugebieten verdächtig) getroffen. Es herrschten Intoleranz und wieder heimisch wird. Unsere beiden Städte setzen alles Angst. In Genf hatte Calvin zahlreiche Gegner, die sich daran, um ihm den gebührenden Platz einzuräumen. gerne seiner entledigen wollten, als er 1553 mit dem Problem Michel Servet zu ringen hatte. Der spanische Stets Seite an Seite, wenn es darum geht, schädliche Arzt war nach Genf geflüchtet, um der Inquisition zu Einflüsse einzudämmen, arbeiten Genf und Schaffhausen entkommen, die ihn für seine Ablehnung der Lehre von seit 2005 zusammen an der Förderung sauberen Stroms. der Heiligen Dreifaltigkeit und des göttlichen Charakters So hat sich das Wasserkraftwerk in Schaffhausen Jesu verfolgte. Aber wer war er wirklich? Ein Häretiker? am Rhein dazu verpflichtet, Genf bis zu 20 Millionen Ein Agent der gegnerischen Seite? Wie sollte man mit ihm Kilowattstunden Strom zu liefern, der «clean solution»- verfahren? Wie unter Reformierten üblich, zog die Genfer zertifiziert ist, weil er gemäss höchster Umweltstandards Kirche die Pastoren in Basel, Schaffhausen und Zürich hergestellt wurde. In Genf wird er unter dem Label zurate. Die im 19. Jahrhundert erstellte Schaffhauser «Vitale Vert» verkauft, einer der Erfolgsmarken der Chronik hält fest: «Genf bittet die protestantischen Städte Genfer Industriebetriebe. Das Schaffhauser Kraftwerk zu Servet und seinen Lehren um Rat. Schaffhausen wurde selbst mit dem Gütesiegel «Naturemade Star» hat sich an den Pastor Zimprecht Vogt gewandt, um ausgezeichnet, das unter anderem Regulierungen die Meinung abzugeben, dass ein solcher Übeltäter beinhaltet zu Fischtreppen, dem Gesamtvolumen des

‹besser tot als lebendig› sei.» In Zürich plädiert Heinrich genutzten Wassers und der Menge anfallenden CO2. Bullinger dafür, dass, wenn es schon zum Tode kommen Maximale Sauberkeit garantiert. Das hat in der Rheinstadt muss, dieser doch bitte nicht durch den Scheiterhaufen Tradition. 1954 hatte sie für die Volksinitiative gegen herbeigeführt werden sollte. Es nicht überliefert, welche einen Staudamm und ein Wasserkraftwerk in Rheinau Todesart Schaffhausen nahe legte. Alles, was Servet im Kanton Zürich gestimmt. An den Rhein lassen sie betraf, ist in den Staatsarchiven verschwunden. Servet nichts kommen. Genf hingegen hatte mit 73,2% gegen selbst kam am 27. Oktober 1553 auf dem Scheiterhaufen die Initiative gestimmt und für eine frühstmögliche ums Leben. Inbetriebnahme. Zwischen Genf und Schwyz Die Geschichte eines Namens

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chwyz wollte Genf nicht in der Eidgenossenschaft Lange Zeit bezeichneten sich die Eidgenossen selbst haben – und hat ihm am Ende zu seinem als eine politische Gemeinschaft, eben als «lobliche Landesnamen verholfen. Wenn das keine Eidgenossenschaft», anstatt einen Namen anzuneh- S Wende ist. Dass Genf heute Teil der «Schweiz» men, der auf eine bestimmte ethnische oder geografi- ist, liegt an den Schwyzern. Unverhofft wurden sie 1815 sche Herkunft verweisen würde. Hintergrund war die an den Kopf der Ahnentafel jenes helvetischen Bollwerks Unabhängigkeit ihrer einzelnen Mitglieder. Erst im gegen Frankreich katapultiert, das die Heilige Allianz aus 17. und 18. Jahrhundert wird der Begriff «Schweiz» Österreich, Russland und Preussen gerade um die Stadt unter dem Einfluss der einenden Schriften von His- Calvins erweitert hatte. Etymologen zufolge nannten torikern und Gelehrten auch allgemein verwendet. sich unsere Vorfahren, die Schwyzer, um das Jahr Noch 1760 war er von Johann Jakob Leu in seinem Tausend «Suitten». Bis ins 16. Jahrhundert hielt sich die historischen Wörterbuch dafür kritisiert worden, Ver- Legende, wonach sie von den Schweden und den Friesen wirrung zu stiften zwischen dem «alten helvetischen abstammen, die zu Zeiten der Römer einem gewissen Land» und der «neuen» Eidgenossenschaft. «Suito» unterstanden. Zwei Schwyzer Dokumente von 1520 und 1531 bestätigen, dass ihre schwedische Bis ins 19. Jahrhundert hielten sich auch auf Abstammung noch zu dieser Zeit fester Bestandteil des Landkarten und offiziellen Dokumenten politische offiziellen Selbstbildes der Kantonsautoritäten war. oder abstrakte Namen wie Helvetia, Confoederatio, Confoederatio helvetica, Eidgenossen, Treize Cantons, Im 12. Jahrhundert tauchen anlässlich eines Grenzkon- Corpus helveticum, Bund, Ligue helvétique. Danach fliktes mit der Abtei Einsiedeln erstmals die Begriffe sind sie verschwunden. «cives de Suittes» und «cives de villa Svites» («cives» bedeutet «Bürger») auf. Im darauffolgenden Jahrhundert Im 16. Jahrhundert war «Eidguenots», abgeleitet wird eine Talschaft «universitas vallis Switz» erwähnt, von «Eidgenossen», der Name jener Partei gewesen, die von so mächtigen Familien wie den Stauffachern, deren Ziel eine Annäherung Genfs an Bern und Frei- Hunno und Ab Yberg regiert wird. Sie verfügt über ein burg war, um zusammen mit ihnen die Savoyarden eigenes Siegel und ab dem 14. Jahrhundert auch über abzuwehren. eine politische Organisation: die Landsgemeinde. Zu dieser Zeit waren die Schwyzer in der Stadt bekannt Eine der stärksten Hypothesen der Geschichtsschrei- für ihre Teilnahme am Saubannerzug im Jahre 1477, bung erklärt die Verallgemeinerung der Bezeichnung als sie mit den Urnern und Waffengewalt versuchten, «switz» auf alle Eidgenossen mit der Vormachtstellung endlich die von Genf zu Zeiten der Burgunderkriege der Schwyzer in der Gegend um Waldstätten. Ihr Sieg versprochene und seither ausstehende Brandschatz- in der Schlacht von Morgarten in Jahr 1305 soll ihren summe zu erhalten. Sie wurden beschrieben als Halb- Ruf in Süddeutschland gefestigt, und so bei den Deut- wilde, Trunkenbolde und Rohlinge. Nicht gerade die schen die Wahrnehmung begünstigt haben, dass alle Leute, um deren Namen man sich reisst. Aber die Zeit Eidgenossen «Switzer» oder «Switenses» sind. Spä- vergeht. Kaum hatte die nationale Romantik im Krem- ter sollte sich die diphtongierte Form des mittelhoch- pelkasten der Geschichte aufgeräumt, da waren die deutschen «Schwitz» in «Schweiz» verwandeln, aber Schwyzer für die Genfer schon zu stolzen und würdigen noch 1482 wird Niklas von der Flüe «Bruoder Claus Landsleuten geworden, deren Name auf dem Pass ein aus Switz» genannt. strahlendes Schicksal verhiess. Zwischen Genf und Solothurn Der französische Agent

Von Joëlle Kuntz

wischen Genf und Solothurn steht Frankreich: als oder Waadt, oder beide. Dieses Bündnis beschwören sie 1578 Grossmacht, als Schutzmacht, als Vermittler. Ein in Turin, nachdem ein wahrer Regen von Geschenken und aufmerksames Frankreich, das darauf bedacht savoyischen Gunstbezeugungen auf die Zentralschweizer Z ist, ein befriedetes Gebiet zwischen sich und dem Landsgemeinden niedergegangen war. Deutschen Reich zu erhalten. Ab 1530 hat der Gesandte Frankreichs seinen festen Sitz in Solothurn. Trotz ihrer Nähe Solothurn gehört nicht mit dazu. Vielleicht liegt das daran, zu Bern und des Erfolges, den protestantische Prediger beim dass dort eine gewisse protestantische Haltung fortbesteht; Volk verzeichnen, ist die Stadt katholisch geblieben. Ihre Lage vielleicht aber auch daran, dass der Ambassador so prädestiniert sie dafür, zum Mittelpunkt der wechselvollen überzeugend ist. Denn ihn beunruhigt das Bündnis von diplomatischen Beziehungen zwischen dem französischen Turin; er sieht in ihm eine kriegerische Bedrohung für den König und den Eidgenossen zu werden, die seit 1516 helvetischen Raum. Bern seinerseits findet das Bündnis durch den «Ewigen Frieden» und die Soldallianz von 1521 treulos, da die katholischen Kantone sich weigern, seine miteinander geregelt sind. Der französische Botschafter, oder neuen Eroberungen in Waadt anzuerkennen. Nachdem Jakob Ambassador, wie die Solothurner sagen, wird zur wichtigsten von Savoyen 1578 versucht, Genf zu erobern, schrillen die Persönlichkeit der Stadt. Er verschafft Arbeit, organisiert Alarmglocken. Zusammen mit Bern und dem Frankreich von Feste und ist ein wahrer Quell der Freizügigkeit. Bei allen Heinrich III. unterzeichnet Solothurn am 8. Mai 1579 einen Kantonen gilt er als einflussreicher Fürst, und das unabhängig «ewigen» Vertrag zum Schutze Genfs. Bis heute ist er einer von ihrer Religion. Denn es ist ganz gleich, welchen Gott sie der Schlüsseltexte in der Geschichte der beiden Städte. haben: Solange sie nur einig sind, so einig wie möglich! Darin besteht die Aufgabe des Botschafters: in der Maximisierung Seit 1516 untersteht Genf zusammen mit Waadt dem des gesamtschweizerischen Zusammenhalts. «Ewigen Frieden» zwischen Franz I. und den Schweizer Kantonen. Damit sind die Bürger Genfs und die Untertanen Genf ist seit 1536 protestantisch und liegt in gefährlicher des französischen Königs gleichgestellt. Heinrich III. verspricht Nähe zu Savoyen, das sich Genf gerne unter den Nagel reissen Genf eine Garnison von 1500 Männern, wann immer Bern und würde. Die Stadt Calvins hat nur einen Burgrechtsvertrag Solothurn es für notwendig erachten, Truppen zum Schutze mit Bern, und würde deshalb gerne den Kreis seiner Genfs zu entsenden. Aber der Ambassador hat da sein Wort Beschützer erweitern. So bittet Genf im Jahre 1571 förmlich mitzureden. Ihm kommt die Schlüsselrolle zu; er entscheidet um die Aufnahme in die Eidgenossenschaft. Frankreich in Genfer und Schweizer Belangen. Solothurn nimmt damit unterstützt Genfs Antrag mit aller Nachdrücklichkeit. innerhalb der Eidgenossenschaft eine politische Stellung ein, Aber die fünf katholischen Zentralschweizer Kantone für die der Katholizismus die Stadt nicht gerade prädestiniert Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern und Zug lehnen den hat Seine Zuständigkeiten umfassen Gerichtsbarkeit und Antrag scharf ab. Sie entsenden ihre Abgeordneten nach Handlungen jenseits der religiösen Zugehörigkeit. Damit Solothurn und Freiburg, die dem Antrag grundsätzlich stärkt Solothurn die Rolle Frankreichs. 1583 wird der Vertrag positiv gegenüberstehen, um sie davon abzubringen, das von Solothurn durch den Zürcher Burgrechtsvertrag mit Genf häretische Genf aufzunehmen, «jenes ehrlose Volk ohne verstärkt und zum Grundstein von einem zwei Jahrhunderte Gott». Schliesslich bringt das Massaker an den französischen währenden Schutz durch die zwei mächtigsten Schweizer Hugenotten in der Bartholomäusnacht 1572 die letzten Kantone. Fürsprecher zum Schweigen. Die Genfer können nicht mehr auf eine Verständigung mit den Katholiken hoffen, und das Nach 1789 hat Frankreich keine anderen Pläne für umso weniger, da Schweizer Katholiken an den Verbrechen Genf als vorher, allen voran den eidgenössischen in Paris mitgewirkt hatten. Frieden. Allein die Methoden ändern sich: Genf wird angeschlossen und Solothurn zusammen mit dem Rest Die katholischen Kantone schalten ihrerseits Savoyen ein und des Landes besetzt. Fortan können beide Städte nichts versprechen ihre Hilfe für den Fall, dass es Genf einnimmt, mehr für einander tun. Zwischen Genf und Stans Der Schlüssel des heiligen Petrus öffnet nicht die Tür

Von Joëlle Kuntz

egen Ende des Sonderbundkrieges trifft eine Dele- die Zentralschweiz verschwunden, bis die Summe von 24000 gation aus Nidwald am 25. November 1847 General Gulden bezahlt wurde. Jeder Nidwalder erhielt als Entschä- Dufour im Hotel Schweizerhof in Luzern, um ihm digung zwei Gulden und Zugang zu den 4000 Litern Wein, G die Nachricht von der Kapitulation ihres Kantons die als Beilage zum Beutegeld kredenzt wurden. zu überbringen. Sie verlangen, dass in der Kapitulationsur- kunde die Gewährleistung der Religion sowie alle alten Rechte Mit der Reformation wurde es nicht besser. und Freiheiten Nidwalds festgehalten werden. Dufour lehnt 1574 begründete Nidwald seine Ablehnung eines Genfer das ab: «Dieses Misstrauen ist eine Beleidigung für mich und Beitritts zur Eidgenossenschaft mit einem Brief von Papst die ganze Schweiz. Niemals war es unser Bestreben, Sie Gregor XIII. Und dass, obwohl Solothurn und Freiburg, die ja in Ihrer Religion, Ihren Rechten oder Ihren Freiheiten zu beide auch katholisch waren, dem Beitritt zustimmten. Zwei- beschneiden. Nein, Ihre Forderung verletzt uns; und wir kön- einhalb Jahrhunderte später ist die Lage unverändert: 1814 nen ihr nicht stattgeben.» Landammann Zelger erwidert, dass wies der Nidwalder Staatsrat seinen Landamman an, «seine die Nidwalder Abgeordneten nicht das geringste Misstrauen Hand nicht für mehr als 19 Kantone in der Eidgenossenschaft gegen die Eidgenossenschaft hegen. Das Volk hingegen, er- heben». Als die Tagsatzung der Kantone Genf in die Schweiz klärt er, sei in Religionsfragen sehr empfindlich, wie die von aufnimmt, war der Landammann gerade abwesend. In Genfs ihnen geführten Kriege seit jeher unter Beweis stellen. Nur Beitrittsurkunde ist Nidwald also nicht erwähnt. deshalb würden sie um die Gewährleistung bitten, nicht als Kapitulationsbedingung, sondern als Erinnerung an den Tag- Aber nach 1848 beginnen die gemeinsamen Interessen zu satzungserlass vom 20. November, die «unsere Religion und überwiegen. Militärkompanien werden ausgetauscht. Man unsere Freiheit für heilig erklärt». Der General nickt zum Zei- besucht einander, umrahmt von Blumensträussen und chen seines Einverständnisses. Er nimmt es auf sich, dass Flaggen. Man schickt seine Kinder in den jeweils anderen jener Beruhigungssatz in der Präambel der Kapitulation lan- Kanton, damit sie dort die Sprache lernen. Aber man über- det. Der Sieger Dufour respektiert die Besiegten. Nidwald ist wacht sie auch, wie beispielsweise der Landamman Robert ihm dafür dankbar. Als Dufour stirbt, bezeugt die Stanser Re- Durrer. 1884 hatte er seinen Sohn an die École des Beaux- gierung in aller Aufrichtigkeit ihre Verehrung für den Genfer. Arts in Genf geschickt. Von der Vermieterin seines Sohnes erfuhr er, dass der junge Mann jeden Abend bis 11 Uhr aus- Das ist ein willkommener Abschnitt in der ansonsten lauwar- ging und nicht vor Mitternacht im Bett war, dass er seinen men Beziehung zwischen den beiden Kantonen. Beide tragen Französischunterricht schwänzte (und der kam 50 Rappen zwar den Schlüssel des heiligen Petrus in ihrem Wappen, aber die Stunde!), dass er jeden Tag seinen neuen Anzug trug und ihre Auslegung der biblischen Nachricht könnte unterschied- sogar schon einen Fleck drin hatte! Genug, schrieb der Vater. licher nicht sein. Die Zwietracht zwischen ihnen manifestiert Überhaupt nicht, antwortete der Sohn, der mit der Hilfe seines sich nach dem Ende der Burgunderkriege. Nach der Schlacht Lehrers Barthélemy Menn die Lügen der Vermieterin entlarven von Nancy im Jahre 1447 sind die Nidwalder Soldaten un- konnte und daraufhin umziehen durfte. zufrieden mit der Aufteilung der Beute. Zusammen mit den Urnern und Schwyzern nehmen sie am Saubannerzug teil, Umgekehrt lernen zwischen 1892 und 1926 rund 180 junge der den Eidgenossen zu ihrer Brandschatzsumme verhelfen Genferinnen am Santa-Clara-Institut in Stans Deutsch. Man sollte, so wie sie ihnen von Genf, dem Bündnispartner des gewöhnt sich also allmählich an einander. Als der spätere Herzogs von Savoyen und damit von Burgund versprochen Pastor Ferdinand Zumbühl 1894 in der mündlichen Geogra- worden war. Die Aufständischen konnten zwar in Lausanne phieprüfung im Examen der Rekrutenschule die Bestnote aufgehalten werden, aber daraufhin sind Genfer Geiseln in erhält, dann liegt das daran, dass er weiss, wo Carouge liegt. Zwischen Genf und Thun Eine Militärschule nach französischem Modell

Von Joëlle Kuntz

er Genfer Guillaume-Henri Dufour war 32 Jahre tatkräftigen und uneigennützigen Kooperation aller ihrer alt, als er sich 1819 an der Gründung der zentralen Mitglieder.» Zum Beweis organisiert er auf dem Freienhof Militärschule beteiligt, die aus Thun die Hochburg Manöver mit verschiedenen Waffencorps. Dder helvetischen Verteidigung machen sollte. Der Bonapartist hat in den besten französischen Schulen in Paris An der Thuner Militärschule, wo er Oberinstruktor und und Metz sein Handwerk erlernt: zivile und Militärtechnik. von 1831 bis 1834 Direktor ist, bereichert der Genfer die Unter dem zukünftigen General Baudrand entwickelt sich Militärtechnik um die damalige Vorstellung von Geographie. der Genieoffizier im aktiven Dienst der französischen Armee Im 19. Jahrhundert erlangt das Territorium eine nie zuvor zu einem Meister der Festungskunst. Der Sturz Napoleons dagewesene politische Bedeutung: Grenzen können präzise unterbricht seine Karriere in Frankreich und führt ihn zurück vermessen und in Karten verzeichnet werden, die leicht nach Genf, das erst vor kurzem an die Schweiz angeschlossen zugänglich sind. Dufour erstellt eine Karte der Schweiz, worden ist. Von den Grossmächten zusammengeführt, umreisst den Boden und definiert so den Grund, den es zu aufgerundet und rechtmässig anerkannt, sollte die junge verteidigen gilt. Die jeweils letzten beiden Wochen seines Eidgenossenschaft noch von seinem Glauben an neue Ideen Unterrichts sind sogenannten «Landeserkennungsreisen» profitieren. gewidmet, die die jungen Genieoffiziere mit eben jenem Territorium vertraut machen sollen. «Die jungen Offiziere Ein gefahrenerprobter Soldat Napoleons war genau richtig, um lernen so nicht nur ihr Land kennen, sondern auch die die Wissenslücken der ihm anvertrauten Schweizer Offiziere Ordnung im scheinbaren Chaos seiner gigantischen Berge.» zu beurteilen. In Thun zeigt er sich als wahrer Pädagoge und entwickelt für die zukünftigen Landesverteidiger Den Umgang mit Waffen lernen, den Blick schärfen, ein Unterrichtsmaterialien wie das «Lehrbuch der Taktik», das Gespür für den geographischen Raum und Bodenkenntnis «Handbuch für die praktischen Arbeiten im Felde» und das entwickeln – Dufour macht aus Thun eine Universalschule: «Lehr- und Handbuch über den Bau von Feldbefestigungen». «Wer in den Kampf zieht, nachdem er sich Kopf und Geist durch Seinen Unterricht beginnt er mit der Beschwörung, er möge das Studium der Tatsachen und der Militärwissenschaften in «seinen jungen Kameraden» den Wunsch erwecken, «ihre gebildet hat, für den ist alles von Nutzen, was er sieht. Kenntnisse zu erweitern und sich vertiefenden Studien zu Nichts ist für ihn jemals verloren, seine immer wache widmen». Ihr Bestreben «für das Vaterland von Nutzen zu Neugierde findet stets neuen Stoff, er stösst auf tausendfache sein», so Dufour, «bedarf der aufklärenden Erkenntnis. In Gelegenheit, das erlernte Wissen anzuwenden; sein Wissen einer Armee wie der unseren wird ein Offizier ohne Ausbildung wird umfangreicher und seine Ideen klarer. Was ihn stets nur unzulängliche Leistungen erbringen, denn die schliesslich zur Handlung befähigt, ist die heilige Theorie Erfahrung kann bei ihm niemals den Mangel an Theorie in Verbindung mit dem Glück einer aufgeklärten Praxis. wettmachen». Es braucht beide, um ein vollendeter Militär zu werden.»

Aus seiner Zeit mit Baudrand, den er in Metz kennen gelernt Die heilige Theorie und das Glück der aufgeklärten hatte und dem er 1813 nach Corfu gefolgt war, stammt Dufours Praxis – mit ihnen hat Guillaume-Henri Dufour den ehrgeizige Auffassung von seinem Beruf: «Mit grösster Sonderbundkrieg gewonnen. 1847 war er zum General Bereitschaft», so Dufour, «müssen wir uns sammeln und all ernannt worden. Beim Generalstab bleibt er bis 1867. jene Entdeckungen uns aneignen, die zur Vervollkommnung Unter ihm entstanden auf dem Freienhof eine Kaserne der Heereskunst beitragen». Unablässig betont er vor den für 1116 Männer, darunter 140 Offiziere, sowie eine neue Schweizer Offizieren, die sich ausschliesslich über ihre Waffe Schusslinie für die Artillerie. Dass aus Thun ein regelrechter definieren, was man aus Schlachten in Sachen Koordination Waffenplatz wurde, ist nicht zuletzt den französischen lernen kann: «Die Stärke einer Armee kommt von der Generälen geschuldet – und dem Genfer Dufour. Zwischen Genf und Vaduz

Vom Völkerbund zur UNO

Von Joëlle Kuntz

enf und Liechtenstein teilen zwei historische Die Schweiz bot sich an, Vaduz beim Völkerbund zu Augenblicke miteinander: den ersten davon 1920, vertreten, damit ein souveräner Staat wie Liechtenstein als die Stadt, die doch Sitz des Völkerbundes war, nicht isoliert blieb von jener Welt, die gerade im Begriff war, G hilflos zusehen musste, als Vaduz der Beitritt sich zu organisieren. Der Vorschlag wurde grundsätzlich verwehrt wurde. Beim zweiten durfte Genf dann applau- angenommen. Gleichzeitig begann eine allgemeine dieren, nämlich als das Fürstentum 1990 als 160. Vollmit- Diskussion zu der Frage, welchen Platz der Völkerbund glied in die UNO aufgenommen wurde (und der Schweiz «Kleinstaaten» einräumen sollte. Die Diskussion wurde damit um 12 Jahre zuvorkam). von einer Kommission an die nächste delegiert, bis sie 1922 als Aktenleiche endete. In den Zwanzigerjahren war Liechtenstein für das Genf des Völkerbundes ein Beispiel wie aus dem Lehrbuch. Sollte Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sie jedoch, vollkom- denn ein solcher «Zwergstaat» tatsächlich Mitglied einer men unverändert und nach wie vor ergebnislos, ihre Organisation werden dürfen, die sich dem Friedenserhalt Wiederauferstehung feiern. Immer noch vertrat die verschrieben hatte? 1919 hatten die Grossmächte das Fürs- Schweiz die Interessen des Fürstentums nach aussen hin. tentum im Vertrag von Saint-Germain offiziell anerkannt. Da sie selbst kein UNO-Mitglied war, war ihr Handlungs- Der Vaduzer Landtag stellte also einen Aufnahmeantrag. spielraum als Vertreter jedoch deutlich eingeschränkt. Artikel 2 der Völkerbundsatzung legte fest, dass jeder Im November 1970 beklagte der liechtensteinische Fürst Staat «mit voller Selbstverwaltung» beitreten durfte, die mangelnde Unabhängigkeit seines Landes. Tatsäch- «vorausgesetzt, dass er für seine aufrichtige Absicht, seinen lich hatte sich die internationale Landschaft vollkommen internationalen Verpflichtungen nachzukommen, wirksa- gewandelt. Infolge der Dekolonialisierung waren zahlrei- me Gewähr leisten und die hinsichtlich seiner Streitkräfte che «Kleinstaaten», ja sogar «Mikrostaaten» entstanden, und Rüstungen zu Lande, zur See und in der Luft die von die ganz selbstverständlich mit den grösseren Staaten dem Bund festgesetzte Ordnung annimmt». Der Aufnahme zusammenarbeiteten. Letztere waren übrigens in der mussten zwei Drittel der Mitgliedsstaaten zustimmen. Generalversammlung an ihrer Stimme interessiert. So kam es dazu, dass die Vereinigten Staaten sich für den Beitritt Liechtenstein hatte seit 1866 keine Armee mehr und wollte des Fürstentums einsetzten. Zum Schluss musste der Fürst sich auch keine zulegen, aus Angst davor, erneut zum nur noch sein zurückhaltendes Volk überzeugen. 1990 Kriegsschauplatz zu werden. Es wollte neutral bleiben. stimmte der Landtag dann einstimmig für den Beitritt. Jedoch sollte es sich nachteilig auf den Antrag auswirken, dass dieser durch die Vermittlung der Schweiz gestellt Für das internationale Genf war das ein Sieg. Denn Genfs worden war. Die Abhängigkeit des Fürstentums war damit Ziel ist es ja ist, möglichst alle Länder zu vertreten. Und bewiesen. Nichtsdestoweniger prüften die Mitgliedstaaten der Sieg war umso bedeutender, als dass das Fürstentum die Situation des Antragstellers und kamen im Dezember sich von Anfang an als einer der aktivsten Teilnehmer für 1920 mit 28 Stimmen gegen eine (die der Schweiz) zu die Themen engagierte, die Genf am Herzen liegen: die dem Schluss, dass Liechtenstein nicht als Vollmitglied Menschenrechte und die menschliche Sicherheit. Gemes- zugelassen werden konnte. Der dieser Entscheidung sen an den Pro-Kopf-Beiträgen pro Einwohner gehört zugrundeliegende Kommissionsbericht gab als Begründung Liechtenstein zu den wichtigsten Unterstützern des Hoch- «die kleine Oberfläche des Landes» (157 km²) an, die kommissariats für Flüchtlinge und des Internationalen «niedrige Bevölkerungszahl» (11 000 Seelen anno 1920) Roten Kreuzes. sowie «die Tatsache, dass es dem Fürstentum Liechtenstein So hat sich zwischen dem kleinen Schweizer Kanton Genf aufgrund seiner geographischen Lage unmöglich sei, den und Vaduz, der Hauptstadt eines kleinen UNO-Staates, internationalen Verpflichtungen nachzukommen, die ihm ein historischer Bund entwickelt – jener der Kleinen, die gemäss der Völkerbundsatzung zufallen würden». Grosses vollbringen. Zwischen Genf und Winterthur

Drei Persönlichkeiten von Format

Von Joëlle Kuntz

ie Textilindustrie im 18. Jahrhundert, der Tou- Die Dame geht an Bord – und bricht zusammen. Die feine rismus im 19. Jahrhundert und das Humanitäre Klinge eines Dolches hatte kurz zuvor ihr Herz durchbohrt. im 20. Jahrhundert – Winterthur hat zum Besten Es ist Sissi, die österreichische Kaiserin, umgekommen D Genfs beigetragen. Im Mittelpunkt der gemein- durch die teuflische Tat von Luigi Lucheni. samen Geschichte beider Städte stehen drei Namen: 1934 bringt Sulzer auf der Genève einen dieselelektrischen Da ist zunächst der Tuchhändler Jakob Biedermann Antrieb an: ein technisches Ereignis, das in der wissen- aus Winterthur, der sich 1720 in Genf niederlässt, um schaftlichen Welt grosse Beachtung findet. Nach seiner kurz darauf zum Baumwoll-Hauptlieferanten für die Ausmusterung im Jahr 1974 entgeht das Schiff dank einem Indienne-Fabriken der Stadt zu werden. Sein Neffe und Verein der Verschrottung. Es wird zu einem Imbiss und Adoptivsohn Jacques ist eine der Schlüsselfiguren im einem Zentrum zur gesellschaftlichen und beruflichen Aufstand der Genfer Handwerker und Industriellen gegen Reintegration. Heute kann man das Schiff für Hochzeiten das Bürgertum, den auch Rousseau unterstützte. Mit dem und Scheidungen mieten. Scheitern der Revolution im Jahre 1782 sehen er und seine Geschäftspartner sich zur Flucht nach Brüssel gezwungen. Schliesslich gibt es da noch den Anwalt Hans Dort gründet er die Société maritime suisse. Das Kapital Bachmann aus Winterthur, der 1942 beschliesst, den dafür stammt von Genfer Textilkaufleuten und Financiers. Präsidenten des IKRK, Jakob Burckhardt, zu unter- Die Société entwickelt sich rasch zu einer der bedeutendsten stützen. Bald schon ist er für sein Organisationstalent Handelskompanien im Indiengeschäft, geht jedoch am berühmt. Er arbeitet in der Transportstiftung für das Seekrieg zwischen England und Frankreich zugrunde. Rote Kreuz, deren Schiffe die Nahrungsmittelversor- Gegen Ende der Napoleon-Ära verliert Biedermann sein gung in Teilen Europas sicherstellen. Er trotzt Blocka- gesamtes Vermögen, hinterlässt jedoch einen Sohn. Der den, Einkaufs-, Zoll- und Devisenproblemen und ver- ist inzwischen mit einer gewissen Dupont verheiratet, und handelt unablässig mit den Kriegsparteien. Im März baut auf seiner Farm in Neu-Winterthur im US-Bundesstaat 1945 ist er bei einem Treffen mit Obergruppenführer Delaware ein neues Familienvermögen auf. Kaltenbrunner an der Seite von Burckhardt und ver- langt für das Rote Kreuz die Erlaubnis, Konzentrations- Dann wäre da das Unternehmen Gebrüder Sulzer, die den lager zu besuchen, Nahrungsmittel an die Deportierten zu dritten Salon-Dampfer mit zwei Decks und dem Namen verteilen und letztere frei zu lassen. Daraufhin wird der Genève an den Genfersee liefern. Ursprünglich hatte die Beschluss gefasst, mehrere Konzentrationslager durch Genfer Compagnie générale de navigation den Ausflugs- Schweizer Lastwagen-Kolonnen zu versorgen. Ausser- dampfer für den Transport der Besucher bestellt, die 1896 dem wird eine Gruppe Französinnen freigelassen, die zur Landesaustellung nach Genf kamen. Der für 1200 bis dahin in Ravensbrück inhaftiert waren. Ende April Passagiere ausgelegte Dampfer ist an Technik und Ästhe- 1945 verhandelt Hans Bachmann direkt mit Kalten- tik nicht zu übertreffen, und wird so das Prachtstück des brunner praktische Massnahmen zur Evakuierung der ideologischen Programms der Ausstellung, die unter dem Deportierten und die Anwesenheit von Angehörigen des Titel «Heimat und Technik» läuft. Roten Kreuzes in bestimmten Konzentrationslagern.

Mit dem Ende der Ausstellung beginnt für die Genève eine 1958 wird Hans Bachmann Vollmitglied des Komitees. Er reguläre Tätigkeit als Ausflugsdampfer. Am 10. Septem- sollte es bis 1976 bleiben, vier Jahre davon als Vize-Präsi- ber 1898 um 13.40 Uhr will sie gerade vom Mont-Blanc- dent. Bereits 1947 war er nach Winterthur zurückgekehrt, Quai ablegen – das Horn ertönt – als, gefolgt von ihrer wo er Gemeinderat wurde – und eine Art Brücke zwischen Gesellschafterin, noch eine Passagierin angerannt kommt. seiner Stadt und Genf. Zwischen Genf und Zug Erdöl und Waschmaschinen

Von Joëlle Kuntz

ie Schweiz besitzt zwar keine Rohstoffe, aber Auswirkung dieser massiven Ballung von Konkurrenten sie hat mit Zug und Genf zwei weltumspan- und gleichermassen Verbündeten auf weniger als zehn nende Kathedralen des Güterhandels. Erdöl, Quadratkilometern auf den individuellen und kollektiven D Gas, Kohle, Strom, Metalle, Erze, Getreide, Zucker, Erfolg im internationalen Handel. Kaffee, Öle und Soja werden auf der ganzen Welt gekauft, verkauft und transportiert – dank der sorgfältigen Arbeit Als Schweizer Kantone haben Genf und Zug wenig von zehntausend Angestellten, eingesperrt in den ano- miteinander zu tun. Man trifft sich in Konferenzen und nymen Büros dreier Quartiere in zwei kleinen Städten, in Kommissionen, wo eidgenössische Rivalitäten an den Tag einem winzigen Land, das nicht einmal Zugang zum treten, seien es Steuerfragen, Subventionen für Landwirte Meer hat. oder der Französischunterricht in der Primarschule. Aber als Teil der Weltwirtschaft haben Genf und Zug ein Auge Genf und Zug sprechen die gleiche Sprache: eine Art Anglo- aufeinander und kooperieren – und sei es auch nur, um nomik, bereichert mit einem Spezialvokabular für Trader, ihre Rahmenbedingungen zu verteidigen. die sich damit beschäftigen, Flüssigkeiten und Feststoffe unter optimalen Sicherheits- und Rentabilitätsbedingungen Als Handelsplattform generieren die beiden Kantone etwa von einem Ort auf der Erde zum anderen zu befördern. 3,6 Prozent des Schweizer Bruttoinlandproduktes und fast die Hälfte des BIP-Wachstums. Gemeinsam plädieren sie Diese Bevölkerungsgruppe, zusammengefasst in rund vier- für die Beibehaltung der Voraussetzungen und geltenden hundert Unternehmen im Raum Genf und in etwa hundert Bestimmungen, die das Fundament ihrer wirtschaftlichen im Raum Zug, beansprucht eine riesige Menge an Bankern, Stärke bilden. Und das machen sie mit grösster Diskretion. Versicherern und Aufsichtspersonen jeglicher Art – für die Deshalb sei hier auch nicht mehr gesagt. Überwachung der Produktion, der Lieferungen, der Kredi- te, der Korruptionsrisiken und, wenn möglich und ganz am Zug ist für Genf noch aus einem anderen Grund attraktiv: Ende der Kette, für die Überwachung der sozialen Prakti- Ihre Verzinkerei sorgt seit hundert Jahren für Freude in ken, denn der gute Ruf ist ja so schnell geschädigt. Schweizer Haushalten. Zuger Waschmaschinen, Zuger Wäschetrockner, Zuger Bügeleisen und Zuger Kochherde Sie umgibt sich überdies mit ausgewiesenen Steuerfach- machen aus jeder Genferin die Schweizer Hausfrau par leuten, welche die Auswirkungen aller möglichen Fak- excellence: alles blitzblank, ökonomisch und hygienisch. toren im Voraus beurteilen können: den komparativen Die Helvetisierung der Genfer Männer durch die Zuger Vorteil eines Steuerpunktes mehr oder weniger im Rah- Elektrohaushaltgeräte dauert etwas länger, obschon die men einer umfassenden Interessensabwägung, die auch Sportskanone Martina Hingis diese Entwicklung mit ihrer die politische Stabilität der Schweiz im Vergleich zur In- Werbung für das Dampfglätten wohl beschleunigt hat. stabilität anderer Länder berücksichtigt, den Wechselkurs für den Franken, die Prognosen für den Dollar und den Ru- Seit der ersten Waschzentrifuge «Rigi» im Jahr 1913 bel, die Preisschwankungen der Mieten in Genf und in Zug, hat die Verzinkerei Zug nicht nur Haushaltsapparate das Schulgeld für die Kinder der Expats, das Vorhanden- produziert, sondern auch Nationalstolz. Und davon kann sein einer Oper im Umkreis von weniger als 45 Minuten, der dezentral gelegene, junge Kanton Genf eine gehörige und natürlich der wichtigste Punkt, die produktive Menge brauchen. Zwischen Genf und Zürich

Geschwister im Geiste

Von Joëlle Kuntz

bgesehen von Swissairs Zürcher Entscheidung, in ten ihre Gelehrten, Philosophen und Künstler gemeinsam an den Neunzigerjahren Cointrin als zweiten Flug- der Renaissance der Wissenschaften. Die beiden Genfer hafen der Schweiz aufzugeben, sind keine Hand- Naturforscher Horace-Bénédict de Saussure und Charles A lungen bekannt, die die Freundschaft zwischen Bonnet korrespondierten etwa mit dem Zürcher Entwick- Zürich und Genf trüben würden. ler der Physiognomonie, Johann Kaspar Lavater.

Im 15. Jahrhundert unterhielten die beiden Städte über das Mit den Schätzen der Biblioteca bodmeriana, der Bibliothek Schweizer Mittelland hinweg wichtige Handelsbeziehungen. der Weltliteratur, hat sich Genf die schönsten Zeugnisse die- Die Aussicht auf die Fortsetzung jener guten Geschäfte ses geistigen und künstlerischen Zürcher Einflusses bewahrt. hatte Zürich dazu veranlasst, zugunsten Genfs beim König 1899 wurde ihr Gründer, Martin Bodmer, als Sohn einer Indus- Ludwig XI. vorzusprechen, als dieser beschlossen hatte, die triellenfamilie mit protestantisch-piemontesischen Wurzeln Konkurrenzstadt Lyon zum Messestandort zu machen. Aber in Zürich geboren. Der begeisterte Leser und Schriftensammler nichts zu machen. Genf verfiel. beginnt bereits in seiner Jugend mit seinem Lebenswerk: der Umsetzung von Goethes Idee, die bedeutendsten literarischen Die Beziehungen zwischen Genf und Zürich verlagerten sich Denkmäler der Welt in einer Bibliothek zu vereinen. Er sah daraufhin auf das Geistliche. War die Zürcher Reformation das nicht als eine «Sammlung von Meisterwerken», sondern mit der Genfer kompatibel, oder stand die eine im Wider- die «Sammlung selbst als Meisterwerk» an. Damit folgte er spruch zur anderen? Im Mai 1549 begab sich Johannes jener universalistischen Tradition, die sowohl die Zürcher als Calvin diesbezüglich für eine Unterredung mit Zwinglis Nach- auch die Genfer Aufklärung geprägt hatte. Bodmer verstand folger Heinrich Bullinger nach Zürich. Die beiden Pastoren Literatur als «Weltliteratur». Seinen Worten nach waren das standen bereits seit zwei Jahren miteinander im Brief- «alle Werke des menschlichen Geistes, die schriftlich verfasst wechsel, um zu sondieren, in welchen ihrer Punkten Einig- wurden, und die bei ihrer Veröffentlichung eine wesentliche keit herrschte und welche strittig waren. Beide waren zu einem Rolle für ihre Umgebung und ihre Zeit gespielt haben». Kompromiss über die wichtigen Fragen der christlichen Lehre bereit, beispielsweise welcher Art die Anwesenheit Als methodischer Sammler ordnete Bodmer seine Werke Christi beim Abendmahl sei. Mit dieser Zürcher Überein- chronologisch. Damit waren Homer, die Bibel, Dante, Shakes- kunft, dem Consensus tigurinus, wurde der Grundstein für peare und Goethe Vertreter des heidnischen und christlichen ein einheitliches schweizerisches Reformiertentum gelegt, Altertums, des Mittelalters, der Renaissance und der Neuzeit. fernab von der lutherischen Kirche Deutschlands. Dann wurde nach den Kategorien Ort, Glaube, Herrschaft, Kunst und Wissen sortiert. Mit diesem Raster und den nach Ihre politischen und kulturellen Beziehungen waren seither ihm getätigten Käufen entstand die grösste Privatbibliothek von religiöser Solidarität beseelt. Zürich unterstützte Genf der Welt. von 1603 bis 1605 und von 1690 bis 1702 bei seinen Versu- chen, der Eidgenossenschaft beizutreten. Vergeblich. Zürich 1939 bat Martin Bodmer darum, dem Internationalen sandte auch Verstärkung, wenn der Herzog von Savoyen oder Komitee des Internationalen Roten Kreuzes in Genf beitreten der König von Frankreich mal wieder versuchten, Genf zu dürfen. Er erfand den «intellektuellen Hilfsdienst», dank einzunehmen. Im Gegenzug bat Zürich Genf 1656 um Hilfe dem anderthalb Millionen Kriegsgefangene mit Büchern im Krieg gegen Schwyz. versorgt wurden. Als er nach dem Krieg Vizepräsident des IKRK wurde, ist der Zürcher mit seiner Sammlung nach Im 18. Jahrhundert wird aus der Solidarität im Glauben eine Genf gezogen. Die Bibliothek wurde seither nicht nur zum intellektuelle Solidarität. Die Oligarchien beider Kantone Glanzstück der Stadt, sondern auch Symbol einer weltum- leisten einander Unterstützung im Kampf gegen aufrühreri- spannenden Vision, der der humanistische Geist Zürichs ein sche Bürger, die ihre Rechte einfordern. Gleichzeitig arbei- Meisterwerk vermacht hatte.