Ossessione / Besessenheit
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internationales berlin forum 27.6.-4.7. des jungen films 1971 OSSESSIONE Ich hatte weder La Menne noch irgendeinen anderen seiner Filme Besessenheit gesehen. Er war gerade dabei, Une partie de Campagne vorzuberei• ten. Ich wurde sein dritter Assistent; die beiden anderen waren Jacques Becker und Henri Cartier-Bresson. Außerdem wurde mir aufgetragen, mich um die Kostüme zu kümmern. Der Film konnte Land Italien 1942 wegen vieler Zwischenfälle nicht beendet werden: die Zahnschmer• Produktion I.C. I. zen des Darstellers Georges Darnoux, der Regen usw. So bin ich nach Italien zurückgekehrt. Regie Luchino Visconti Drei Jahre später bot Renoir mir an, sein Assistent bei Tosca zu werden. Aber es war noch nicht eine Sequenz gedreht, als der Krieg ausbrach; und Renoir mußte nach Frankreich zurückkehren. Koch, Buch Mario Alicata, Giuseppe de Santis, sein erster Assistent, und ich haben den Film zu Ende gedreht: ein Antonio Pietrangeli, Gianni Puccini, schrecklicher Film. Zu mehr waren wir in dieser Situation nicht Luchino Visconti, Alberto Moravia, fähig. nach dem Roman "The Postman Always Rings Twice'* von James M.Cain Dann habe ich angefangen, meine eigenen Drehbücher zu schreiben, unter anderem die Adaptation einer Erzählung von Giovanni Verga. Kamera Aldo Tonti, Domenico Scala Ich mußte mein Projekt dem faschistischen Ministerium vorlegen. Schnitt Mario Serandrei Es wurde unter dem Vorwand abgelehnt, es handle sich um eine Musik Giuseppe Rosati Brigantengeschichte. Als sich eines Tages Gianni Puccini, einer mei• ner Mitarbeiter, zum Minister Paoüni begeben mußte, sah er dort mein Manuskript auf dem Tisch liegen. In roter Schrift war auf der Darsteller ersten Seite zu lesen: "Schluß mit den Briganten!" Das ist komisch, Gino Massimo Girotti nicht wahr? Paolini bezog das natürÜch nicht auf sich selbst und seine faschistischen Kumpanen. Giovanna Clara Calamai Bragana Juan de Landa Zu dieser Zeit fand ich unter meinen alten Papieren eine maschinen• Elio Marcuzzo, Vittorio Duse, Dhia Cristiani, Michele Riccardini, geschriebene französische Ubersetzung des Romans 'The Postman Michele Sakara Always Rings Twice' von James M. Cain, die mir Renoir einmal gegeben hatte. Sie war, glaube ich, über Juüen Duvivier zu ihm ge• langt. Diese Geschichte habe ich mit meinen damaligen Mitarbei• Uraufführung Juni 1942 tern De Santis, Alicarta und Puccini umgearbeitet. Es wurde daraus Länge 3 200 m das Scenario von OSSESSIONE. Die Faschisten haben es durchge• hen lassen, aber vom Drehbeginn an habe sie mir tausend Schwierig• keiten bereitet. Sie verlangten fortlaufend Einsicht in die 'rushes* Inhalt (Filmmuster; das ungeschnittene, belichtete Filmmaterial), wenn An einer Landstraße im Po-Delta befindet sich eine ärmliche Ben• ich sie zum Kopieren gab; und wenn sie nach Ferrara zurückkamen, zinstation mit Trattoria, die ein behäbiger Kneipier bewirtschaf• lag bereits der Befehl vor, gewisse Passagen herauszuschneiden. tet. Der Wirt (...) engagiert eines Tages einen Landstreicher, Gino, Nach ihnen hätte ich alles herausschneiden sollen. Ich habe mich als Mechaniker. Gino verliebt sich in Giovanna, die Frau des Wirts; taub gestellt, meinen Film geschnitten, wie ich wollte, und in Rom beide beschließen, den Mann umzubringen. Aber nach der Durch• eine Vorführung organisiert. Sie wirkte im Saal wie eine Bomben• führung des Plans zerstreiten sie sich. Bei einem Autounfall kommt explosion. Die Leute sahen einen Film, den sehen zu können sie Giovanna ums Leben, und Gino wird von der Polizei verhaftet. nicht für mögüch gehalten hätten. Und dann erlebte OSSESSIONE trotz verschiedentücher Interventionen von Seiten der Faschisten Ulrich Gregor / Enno Patalas: Geschichte des Films, Gütersloh einen Riesenerfolg: es wurden sogar Erzbischöfe in den Kinos ge• 1962, S. 236 sehen, die kamen, um dem Film ihren Segen zu geben! (Ich erfinde nichts, es ist tatsächüch passiert). Als die letzte Regierung Musso• linis im Norden Zuflucht gesucht hatte, nahm man meinen Füm Luchino Visconti: Mein Weg zu OSSESSIONE mit. Er wurde zusammengeschnitten und in einer neuen Version Von Jacques Doniol-Valcroze und Jean Domarchi vorgeführt; das Negativ wurde zerstört. Die Kopien, die es heute (...) Als ich jung war, fühlte ich mich mehr zum Film hingezogen gibt, sind nach einem Dup-Negativ gezogen, das ich hatte anferti• als zum Theater, aber weniger als Regisseur denn als Dekorateur. gen lassen. Dann habe ich mich um ganz andere Dinge gekümmert, Pferde usw. Entretien avec Luchino Visconti (deutsch von Annemarie Czasch- Bis zu dem Tage, an dem ich in Italien Gabriel Pascal begegnet bin, ke), in: Cahiers du cinema, Paris^No. 93, März 1958; zitiert nach: dem Produzenten von Machatys Erotikon. Er machte mir den Vor• Theodor KotuUa (Herausgeber): Der Film - Manifeste, Gespräche, schlag, in England einen Film nach Flauberts 'November' zu dre• Dokumente, Bd. 2, München 1964, S. 57 f. hen, was mich sofort sehr interessierte. Aber eines Tages bei Korda in London, wo wir verabredet waren, hatte ich plötzlich den Ein• (...) Was den Begriff 'Neo-Reaüsmus' angeht, so entstand er aus druck, daß Pascal im Leeren tappte, ohne jede solide Basis. einer Korrespondenz, die ich mit Mario Serandrei führte, der heute Das hat mich ein wenig erschreckt. Ich ging dann nach Paris, um noch mein Cutter ist. Er sah die ersten Muster von OSSESSIONE Freunde zu besuchen, unter anderem auch Coco Chanel, die mir und schrieb mir einen langen Brief, in dem er unter anderem aus• sagte: "Wenn Sie wirklich einen ernsthaften Mann kennenlernen führte: **Dieses Filmgenre, das ich zum erstenmal sehe,... würde wollen, der Filme macht, werde ich Sie mit ihm bekanntmachen. ich *neo-reaüstisch* nennen.*' Und von dort kam der Ausdruck 'Neo-Reaüsmus', er wurde zuerst für OSSESSIONE geprägt. (...) Es ist einer meiner Freunde: Jean Renoir.'* Ich kannte ihn nicht. Giuseppe Ferrara: Entretien avec Luchino Visconti, in: Giuseppe eigene, präzise Landschaft besitzt. Noch einige weitere Umstände Ferrara: Luchino Visconti, Paris 1963; zitiert nach: Ulrich Gregor: unterstützen meiner Meinung nach diese These einer nicht mecha• Aspekte des italienischen Films I, Bad Ems 1969, S. 58 nischen Verbindung zwischen dem Experiment von OSSESSIONE und dem Experiment des Neoreaüsmus. Argentieri und, wie mir scheint, auch de Santis haben schon auf einige Punkte hingewiesen, OSSESSIONE und der Neorealismus die später zur Doktrin des Neorealismus geworden sind: das Arbei• Von Mario Alicata ten mit nicht-professioneUen Darsteüern, der Versuch, mit der Ka• mera auf die Straße zu gehen. AUe diese Dinge waren den Positio• Bevor ich auf einige historische Daten, auf das moralische, politi• nen der Gruppe von OSSESSIONE absolut fremd, jedenfaUs in sche und kulturelle Bewußtsein der Autoren von OSSESSIONE der Epoche, in der dieser Film gemacht wurde. Ich beziehe mich zu sprechen komme, möchte ich darauf hinweisen, daß es meiner auf Visconti, auf Gianni Puccini, auf de Santis und mich selbst. Ansicht nach unzulässig ist, eine mechanische Verbindung zwischen Wie Sie vielleicht wissen, hat auch Alberto Moravia an OSSESSIONE OSSESSIONE und dem Neorealismus herzustellen. Diese meine mitgearbeitet (auch wenn sein Name aus Gründen der rassischen Meinung ist nicht die Meinung eines am Film Beteiligten, sondern Diskriminierung im Vorspann nicht unter den Drehbuchmitarbei• eines Kritikers und Historikers. Man darf nicht vergessen, daß zwi• tern erschien): Moravia hat die Dialoge des Films in einer bestimm• schen OSSESSIONE und dem Neorealismus das wichtigste Fak• tum der italienischen Geschichte liegt, nämlich die Widerstandsbe• ten Phase der Hersteüung überarbeitet. (...) wegung, die man als ein Moment der Entwicklung interpretieren Ich will damit sagen, daß eine Reihe von theoretischen Forderun• muß, das von großem Einfluß auf das Verhältnis der Intellektuel• gen, wie sie die neorealistische Ästhetik definieren, uns absolut len zur italienischen Gesellschaft war und die Entwicklung antifa• fremd waren. Wir waren nun einmal vom Problem der filmischen schistischer Positionen, wie sie Gruppen fortgeschrittener Intellek• Erzählung besessen; deshalb richteten wir in einer ziemlich logischen tueller bereits in den vierziger Jahren einnahmen, begünstigte; aber Schlußfolgerung unsere Aufmerksamkeit auf die Literatur und auch als einen quaütativen Sprung. Und zwar deshalb, weü jetzt suchten die Ausgangspunkte der filmischen Erzählung in der üte- die Massen, das Volk die Szene betrat und eine bestimmte Funk• rarischen Erzählung. (...) tion erfüüte, eine Position der Hegemonie im politischen Kampf einnahm; das unterscheidet die italienische Widerstandsbewegung Wenn man von der Feststellung ausgeht, daß OSSESSIONE ein von der anderer europäischer, insbesondere westlicher Länder (...) Moment jener Literatur und jenes Kinos war, die in Opposition OSSESSIONE ist noch ein Film der Opposition gegen den Faschis• zum Faschismus standen und in jenen Jahren eine gewisse Konsi• mus, ein Film, der eine Position des Widerspruchs erkennen laßt, stenz erlangten, so kann man OSSESSIONE sowohl vom Neore• und dessen historische, ideologische, allgemeine Bedeutung (auf alismus wie auch von anderen Fümen, etwa Quattro passi fra le die Fragen des Stils und der Sprache komme ich noch, auch wenn nuvole und / bambini ci guardano,unterscheiden; zwischen sie eng mit diesem Thema zusammenhängen) seine Grenzen im OSSESSIONE und diesen Filmen bestand zwar eine gewisse Ge• Entwicklungs- und Reifegrad jener Männer fand, die ihn konzipier• meinsamkeit der Motive und Intentionen, aber keinerlei genaue ten und realisisierten