Mein Hessenland Blühe Und in Ihm Die Kunst!“1 Die Entstehung Und Entwicklung Der Künstlerkolonie Darmstadt 1899 — 1914 — Eine Einführung

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Mein Hessenland Blühe Und in Ihm Die Kunst!“1 Die Entstehung Und Entwicklung Der Künstlerkolonie Darmstadt 1899 — 1914 — Eine Einführung „Mein Hessenland blühe und in ihm die Kunst!“1 Die Entstehung und Entwicklung der Künstlerkolonie Darmstadt 1899 — 1914 — Eine Einführung Philipp Gutbrod Am 15. Mai 1901 wurde um 11 Uhr auf der Mat hilden- Der Großherzog höhe Darmstadt die erste Ausstellung der Künstlerkolo- nie Darmstadt mit dem Titel „Ein Dokument deutscher Am Anfang einer Beschäftigung mit der Künstlerko- Kunst“ feierlich eröffnet. (Abb. 1) Auf den Stufen der lonie Darmstadt muss die Rolle und die Persönlichkeit Südseite des Ernst Ludwig-Hauses fand ein symbolis- des hessischen Großherzogs Ernst Ludwig beleuchtet tisches Weihespiel mit dem Titel „Das Zeichen“ statt; werden, der wie kaum ein anderer Regent in Deutsch- konzipiert wurde es von Peter Behrens mit Musik von land die Kunst um 1900 bis zum Ausbruch des Ersten Willem de Haan und Texten von Georg Fuchs. Von den Weltkriegs prägte. Als Enkel der britischen Königin Dächern der umliegenden Häuser – alle eigens für die Victoria hatte Ernst Ludwig bei Besuchen seiner Ver- Ausstellung gebaut und mit moderner Inneneinrich- wandten in Großbritannien die Arts and Crafts-Bewe- tung ausgestattet – ertönten Fanfaren, und als Zeichen gung kennengelernt, die sich in der zweiten Hälfte des für das ambitionierte Ziel der Künstlerkolonie, sämtli- 19. Jahrhunderts entwickelt und eine Gegenbewegung che Bereiche des Alltags auf moderne Art ästhetisch zu zu der Herstellung industrieller Massenware gebildet durchdringen, präsentierte in dem Weihespiel ein „Ver- hatte. Der junge Ernst Ludwig, der schon 1892 mit künder“ genannter Akteur dem Großherzog Ernst Lud- 23 Jahren Großherzog wurde, erkannte die Modernität wig von Hessen und bei Rhein einen Kristall als Sym- und das wegweisende Potenzial dieses neuen Stils aus bol der „neuen Zeit“. (s. Abb. 4) Mit dieser Ausstellung Großbritannien, sodass er sich 1897 ein Empfangs- etablierte Ernst Ludwig die Hauptstadt seines Großher- zimmer und ein Esszimmer in seinem Neuen Palais in zogtums, Darmstadt, als eines der wichtigsten Zentren Darmstadt von dem einflussreichen Künstler der Arts der Kunstgewerbereform um 1900. Gleichzeitig schuf er and Crafts-Bewegung, Mackay Hugh Baillie Scott, neu den Prototypen einer internationalen Bauausstellung, gestalten ließ. (Abb. 2) Diese Implementierung einer dessen Einfluss über Ausstellungen unter anderem in progressiven und zeitgenössischen Formensprache in Turin (1902), St. Louis (1904) und Stuttgart (1927) bis die höfische Kultur am Ende des 19. Jahrhunderts war in die heutige Zeit reicht. in Deutschland singulär und wurde in Zeitschriften der Im Folgenden wird ein Überblick über die Entste- Zeit umfassend besprochen.2 hung und Entwicklung der Künstlerkolonie Darmstadt gegeben, der insgesamt 23 Künstler unter schiedlichster stilistischer Ausprägung angehört haben. Aufgrund der Alexander Koch Vielzahl an Individualstilen, Gattungen und Techniken, die auf der Mat hilden höhe zu finden sind, kann der vor- Das besondere Interesse des hessischen Großherzogs liegende Text nur als summarische Einführung dienen. für die neue Formensprache in der angewandten Kunst führte zu einem regen Kontakt mit dem führenden Förderer der Erneuerung des Kunsthandwerks und der dekorativen Kunst: dem Verleger und Publizisten Alex- 1 Joseph Maria Olbrich, Ernst Ludwig-Haus, Portal, ander Koch. Dieser hatte schon im Jahr 1887 in Darm- Darmstadt, 1901 (Zustand 2007) stadt die Verlagsanstalt Alexander Koch gegründet „Eine Stadt müssen wir erbauen, eine ganze Stadt!“ 33 Philipp Gutbrod 2 Mackay Hugh Baillie Scott, Empfangszimmer 3 Wilhelm Michael, „Verwandlungsmöbel“, Kunst- und ( Ausführung: Charles Robert Ashbee, Guild and School Kunstgewerbeausstellung, Darmstadt, 1898 of Handicraft), Neues Palais, Darmstadt, 1897 und dort im Laufe der Jahre mehrere stilbildende Zeit- herzog und anderen Personen des Darmstädter Kultur- schriften herausgegeben, wie zum Beispiel ab 1888 die lebens eine „Denkschrift“, in der Koch die „Errichtung „Tapeten-Zeitung“, ab 1890 die „Illustrirte [sic!] kunst- von Ateliers für angewandte Kunst unter der Leitung gewerbliche Zeitschrift für Innendekoration“ (von 1900 echter von neuem Geiste erfüllter Künstler“ propa- an „Innendekoration“ genannt) und ab 1897 die für den gierte, um für Darmstadt eine zentrale Stellung inner- Jugendstil so entscheidende „Deutsche Kunst und De- halb der neuen Kunstbewegung zu sichern, bevor dies koration“. Mit ihnen propagierte Alexander Koch die eine andere Stadt bewerkstelligen sollte.6 Einheit der Künste: „Es gibt nur eine bildende Kunst. Tatsächlich hatte Ernst Ludwig bereits bei sei- Architektur, Plastik, Malerei, Kunsthandwerk sind eine ner Ernennung zum Großherzog erkannt, dass Hessen einzige organische Lebens­Aeusserung des Volkes. Sie be- keine großen Mengen an wertvollen Bodenschätzen fruchten, beeinflussen und tragen einander; jede künst- besaß und dass ein wirtschaftlicher Aufschwung nur liche Abtrennung einer Art der Kunstübung von der mit einer gezielten Qualitätssteigerung in den Manufak- Gesammtheit [sic!] ist unheilvoll und verderblich.“3 turen möglich sei. Seinem kulturellen Interesse folgend, Dieser Überzeugung konnte Koch vom 20. Sep- sah er die Entstehung eines Zentrums der Kunstgewer- tember bis Ende Oktober 1898 im Darmstädter Kunst- bereform-Bewegung in Darmstadt als eine Möglichkeit, verein Gestalt verleihen in Form einer Darmstädter Kultur- mit Wirtschaftsförderung zu verbinden: So soll- Kunst- und Kunstgewerbeausstellung, die unter dem ten herausragende Künstler nach Darmstadt berufen Protektorat des Großherzogs stand.4 Hier präsentierte werden, vor Ort ein festes Einkommen erhalten und der Verleger Rauminszenierungen, in denen Werke in künstlerischer Freiheit arbeiten. Im Gegenzug soll- der angewandten Kunst erstmals in Deutschland ihrer ten die von ihnen geschaffenen Entwürfe von regiona- Funktion entsprechend in vollständig eingerichteten len, aber auch überregionalen Firmen hergestellt und und besonders atmosphärischen Zimmern zu sehen öffentlichkeitswirksam im Rahmen von Ausstellungen waren. (Abb. 3) So wurden die „wirklichen Zimmer“ präsentiert werden. Mit diesen Aktivitäten zielte der in der Darmstädter Ausstellung im Vergleich zu dem Großherzog zudem darauf, Darmstadts Bekanntheit zu „höchst unwohnlichen Arrangement in Grossen Hal- erhöhen. Die Präsentation von zeitgenössischer freier len“ der Jahresausstellung im Münchener Glaspalast aus und angewandter Kunst sowie die Unterstützung und demselben Jahr positiv besprochen.5 Förderung der hessischen Industrie waren Ziele, die Zeitgleich mit der Darmstädter Kunst- und während der ganzen Geschichte der Künstlerkolonie Kunstgewerbeausstellung überreichte Koch dem Groß- Darmstadt Gültigkeit behielten. 34 ICOMOS · Hefte des Deutschen Nationalkomitees LXIV „Mein Hessenland blühe und in ihm die Kunst!“ Die Entstehung und Entwicklung der Künstlerkolonie Darmstadt 1899 — 1914 Die „Ersten Sieben“ Mat hilden höhe als einzige Bauwerke ein Wasserre- servoir und die Russische Kapelle (1899 eingeweiht). Unter den im Darmstädter Kunstverein 1898 ausgestell- Dieses Gotteshaus hatte der letzte Zar von Russland, ten Künstlern war auch der in Paris lebende Maler und Nikolaus II., nach seiner Heirat mit der Schwester des Entwerfer Hans Christiansen mit mehreren Werken Großherzogs, Alix von Hessen und bei Rhein, errich- vertreten. Der Großherzog erwarb von ihm in der Aus- ten lassen. Schon keine zwei Jahre nach Gründung der stellung ein Pastell mit dem Titel „Seestück“.7 Die Ein- Künstlerkolonie konnte der Großherzog im Mai 1901 ladung von Christiansen zu dieser Kunstgewerbeaus- auf den Stufen des nach ihm benannten Ernst Ludwig- stellung beruhte darauf, dass Koch Werke von Christi- Hauses eine Ausstellung eröffnen, die es in dieser Form ansen im Jahr 1897 auf der Dresdner Kunstausstellung noch nicht gegeben hatte. (s. Abb. 1, Tafel V und VI) gesehen hatte und ihn daraufhin nach Darmstadt ein- In kürzester Zeit hatte man nicht nur mehrere perma- lud. Der Künstler konnte 1898 bereits auf viele Erfolge nente und temporäre Gebäude konzipiert und errichtet, zurückblicken, unter anderem hatte er zahlreiche Illus- sondern auch die dazugehörigen Inneneinrichtungen trationen für die dem Jugendstil namensgebende Zeit- eigens für die Ausstellung entworfen und ausgeführt. schrift „Jugend“ entworfen sowie diverse Werke der Sämtliche Häuser des Gesamtensembles – sowohl die angewandten Kunst für Firmen in Deutschland und privaten Wohnhäuser wie auch die Ausstellungsge- Frankreich gestaltet.8 Ernst Ludwig reiste persönlich bäude – waren für die Besucher während der Ausstel- nach Paris, um Hans Christiansen als ersten offiziellen lung zugänglich. So wurden auf der Mat hilden höhe Künstler der Künstlerkolonie zu gewinnen.9 erstmals im Rahmen einer Ausstellung mehrere neu Mit ähnlichem Erfolg schaffte es der Großherzog errichtete Wohnhäuser präsentiert, deren Innenräume auch 1899 den Architekten Joseph Maria Olbrich aus vollständig nach modernen Entwürfen gestaltet waren Wien nach Darmstadt zu holen, obwohl dieser im Jahr und deren Einrichtungen auch erworben werden konn- zuvor mit viel Aufsehen das Wiener Secessionsgebäude ten. Es entstanden Gesamtkunstwerke, in denen kein errichtet hatte und umfassend in der Stadt tätig war.10 Detail, kein Gegenstand unbedacht blieb. Ob Tür, Stuhl, Fünf weitere Künstler zählten zu den ersten sieben Mit- Teppich, Kunstverglasung, Gläsersatz, Besteck, Vase, gliedern der Künstlerkolonie: Peter Behrens, Ludwig Skulptur, Gemälde, Grafik, Schmuck oder Musikinstru- Habich, Rudolf Bosselt sowie die jüngsten Mitglieder ment und vieles mehr,
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