MATHILDENHÖHE DARMSTADT Vom Kuss Zum Krieg Vollendung Und Ende Der Künstlerkolonie 1914 Ralf Beil

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MATHILDENHÖHE DARMSTADT Vom Kuss Zum Krieg Vollendung Und Ende Der Künstlerkolonie 1914 Ralf Beil MATHILDENHÖHE DARMSTADT VOM KUSS zUM KRIEG VOLLENDUNg uND ENDE DER KÜnstlerkOLONIE 1914 Ralf Beil Am Anfang ist der Krieg kaum mehr als fernes Wetter- der Liebenden in einer Herzform aufgehen lässt. Auch leuchten am Horizont. Sichtbar allenfalls im prophetisch außen wird Olbrichs Hochzeitsturm ornamental gestaltet, anmutenden Plakat der dritten Künstlerkolonie-Ausstel- mit Sonnen- und Turmuhr versehen. Edmund Körner ent- lung von Bernhard Hoetger, wo ein Keule schwingender wirft neben einem Modepavillon den Verkaufspavillon der Jüngling sich und die Mathildenhöhe bereits gegen einen Firma Bahlsen unweit der Russischen Kapelle, in dem die bedrohlich züngelnden Drachen und rot glühende Magma Keksdosen von Emanuel Josef Margold feilgeboten wer- verteidigen muss. An der Ausstellungseröffnung am Sams- den. Dieser gestaltet seinerseits Café sowie Restaurant tag, den 16. Mai 1914 ist von all dem nichts zu spüren: Da im Platanenhain: temporäre Bauten in Holzbauweise, die tanzen junge Mädchen vor dem Ausstellungsgebäude und gleichwohl festliche Heiterkeit und weiße Modernität ver- eine Sopranstimme singt „dem Licht entgegen“. strömen – so wie seine Wohnungseinrichtung in der Miet- „Dem Licht entgegen“: Diese Textzeile aus der Eröff- häusergruppe von Albin Müller, die die Stadtkrone Darm- nungsmusik von Arnold Mendelssohn erfasst kongenial stadt, dieses Juwel moderner Architektur, nun auch nach die ganze Spannweite der letzten Darmstädter Leistungs- Osten hin fasst. schau – von Hoetgers Pathos der Platanenhain-Gestal- Nicht nur für das Kunstjahr in Darmstadt ist der 16. Mai tung als pantheistischem Kultort unter freiem Himmel 1914 bedeutsam. Zeitgleich eröffnet die Deutsche Werk- über die lebensreformerische Licht- und Luftbadeanlage bund Ausstellung in Köln: die erste Leistungsbilanz des Albin Müllers bis hin zu dessen „Mietwohnungen für den 1907 unter Mitwirkung von Behrens und Olbrich ge- guten Bürgerstand […], die alle Anforderungen an ein gründeten Bundes für Gestaltung. Sie zeigt neben dem gesundes, hygienisches Wohnen erfüllen, die Luft, Licht Werkbund-Theater von Henry van de Velde insbesondere und Sonne in reichem Maße haben können, und die alle mit Gropius’ Musterfabrik und Tauts Glashaus Richtung wirtschaftlichen Vorzüge nach dem damaligen Stand der weisende Gebäude. In letzterem sind auch farbige Kunst- Technik in sich vereinten“, wie es Albin Müller noch 1940 verglasungen von Margold zu sehen. Beide Ausstellungen in seinen Erinnerungen festhält. für Architektur und Lebensgestaltung werden bei Kriegs- Vieles wird im Zuge der vierten großen Ausstellung auf der beginn geschlossen: Jene in Darmstadt schon am 2. Au- Mathildenhöhe nach 1901, 1904 und 1908 vollendet, aus- gust, Köln vier Tage später. Im Mai 1914 hatte als Dritte gestattet, ausgeschmückt. Albin Müller bindet mit seiner im Bunde die Internationale Ausstellung für Buchgewerbe Brunnenanlage die Russische Kapelle ins Gesamtensem- und Grafik in Leipzig (Bugra) eröffnet – sie wird erst am ble ein. Friedrich Wilhelm Kleukens entwickelt aus einem 18. Oktober ihre Tore schließen, hat jedoch nach Kriegs- bereits vor 1907 entstandenen „Entwurf für ein Decken- ausbruch kaum mehr Besucher. Nicht Avantgardekultur mosaik“ sein emblematisches Wandmosaik „Der Kuss“ und Tanzvergnügen, sondern „Vaterländische Abende“ Künstlerkolonie-Ausstellung 1914, Mathildenhöhe Darmstadt, Offizielle Ausstellungspostkarte, Institut Mathildenhöhe, Städtische Kunstsammlung Darmstadt im Foyer des Hochzeitsturms, das die Köpfe und Arme stehen fortan auf der Tagesordnung. 2 3 Wurde nur wenige Monate zuvor in Darmstadt die Innig- Vollendung der Gesamtanlage der Künstlerkolonie Darm- keit zweier Liebender in leuchtende Steine gesetzt, trennt stadt. Abrundung des Erreichten, höchste Verdichtung die Realität bald schon viele Männer und Frauen. Nicht und Konzentration prägten die Schau. Zugleich war sie – mehr der Markenkeks, sondern das Kommissbrot regiert wie auch die Manifestationen in Köln und Leipzig – ein in dieser Welt des großen Waffengangs, nicht mehr das Spiegel des Stilpluralismus um 1914: Neo-Rokoko-Ankläge Licht großbürgerlicher Wohnkultur, sondern das Dunkel (Körner) treffen hier auf klassizistische Bauformen (Mül- der Frontverschläge und Schützengräben. Der gebürtige ler) und Proto-Expressionismus (Hoetger) bis hin zum Wiener Margold wird von der österreichischen Armee in Bauhaus avant la lettre in Müllers Ateliergebäude. die Karpaten abkomman- Anders als Bruno Tauts Glas- diert. Kleukens dient als Geo- haus auf der Kölner Werk- meter bei den Bayrischen bund-Ausstellung, das, bald Feldfliegern. Albin Müller, nur mehr Architekturskelett, untauglich für den Frontein- bei Sprengübungen eines Pi- satz, wird Armierungssol- onier-Batallions gänzlich zer- dat. Hoetger zieht sich nach stört wird, anders als die Bu- Worpswede zurück. gra Leipzig, von der nur die Halle der Kultur geblieben Was war im Rückblick das ist, überdauern die Miethäu- Besondere des Darmstäd- ser auf der Mathildenhöhe ter Beitrags zum Kultursom- bis zu den Bombennächten Mathildenhöhe Darmstadt mit Platanenhain, Hochzeitsturm, Ausstellungsgebäude, Russischer Kapelle und Lilienbecken, 2012 mer 1914? Während sich in des September 1944, das Leipzig eine Weltausstellung Löwentor, der Platanenhain, zum Buchdruck und ein Jahr- die Brunnenanlage und der nie, sondern arbeitet mit großen Bildtafeln in Form von bührt ebenso der Wissenschaftstadt Darmstadt, nament- markt paarten, und sich in Schwanentempel gar bis Bauschildern sowie Transparentbildkästen, um im Außen- lich Oberbürgermeister Jochen Partsch, für die grundle- Köln Avantgarde-Architektur heute: als wertvolle Zeugen raum das Temporäre oder Zerstörte in alten Darstellungen gende Unterstützung der Ausstellung. Herzlich danke ebenfalls mit einem Vergnü- der Utopie der Moderne – wiederauferstehen zu lassen. Zur Wiederentdeckung der ich Philipp Gutbrod für die Realisation der Ausstellung gungspark verband, stand in einer grundlegenden Harmo- Bedeutung der Künstlerkolonie-Ausstellung von 1914 und Anne Bruntsch für die Unterstützung des Kurators – Darmstadt bei weit kleine- nie von Kunst und Leben. dient auch der von Philipp Gutbrod mit besonderer Un- sowie allen Leihgebern des Unternehmens. Tim Späth rem Maßstab vor allem kultu- terstützung von hr2-kultur erarbeitete Audioguide für das und Sebastian Dubbel danke ich für die Gestaltung der relle Ernsthaftigkeit auf dem Bewusst bespielt unsere Freigelände der Mathildenhöhe. Im Foyer des Museums Werbemedien und dieser Katalogbroschüre, Daniel Programm: Restaurations- Ausstellung „Dem Licht ent- Künstlerkolonie ermöglicht darüber hinaus die digitale Vi- Grinsted für die Pressearbeit, Ulli Emig, Christian Häuss- garten, Sekthalle, Musik- und gegen“, die genau hundert sualisierung der Gesamtanlage von 1914 durch die Firma ler und dem gesamten Technischen Team für den Support Cakespavillon ja, aber kein Jahre nach der historischen Faber Courtial eine regelrechte Zeitreise. der Schau in jeder Hinsicht. Rummel, sondern Raum- Großausstellung eröffnet, Mein Dank geht an Helmut Müller, Geschäftsführer, und Was bleibt? Begeisterung für diesen besonderen Ort – in Emanuel Josef Margold, Schlafzimmer und Kinderzimmer aus kunstwerke vom Herrenzim- der Miethäusergruppe, Mathildenhöhe Darmstadt, 1914 nicht nur die Innenräume Julia Cloot, Kuratorin des Kulturfonds Frankfurt RheinMain allem. Ein Dokument modernen Bauens und Gestaltens – mer zum Ehrensaal und die Abb. aus: Deutsche Kunst und Dekoration (DKuD) 34, 1914, S. 303 des Museums Künstlerkolo- für die Ermöglichung dieser digitalen Zeitreise. Dank ge- vor allem. Ein „Dem Licht entgegen“ – trotz allem. 4 5 „EINER ScHÖNHEIT NACHZUstreBEN, DIE uNSER LEBEN ERHÖHT“ DIE AUsstellUNg DER KÜnstlerkOLONIE IM SoMMER 1914 PhiliPP GutBRod Zu Beginn des Jahres 1914 herrschte im Großherzogtum des Bildhauers wird hier die Kraft der Jugend gefeiert und Hessen unter den kulturell interessierten Menschen in einer leicht bekleideten Figur versinnbildlicht. Im Ver- eine große Vorfreude auf die kommenden Monate. Das gleich zu den vielen vorherigen Plakaten der Künstlerko- „Darmstädter Kunstjahr 1914“ war ausgerufen und gleich lonie fällt dieses durch seine betonte Aggressivität auf. zwei große Ausstellungen kündigten sich in der dama- Diese Stimmung fand eine Entsprechung in der dama- ligen Landeshauptstadt an: auf der Mathildenhöhe die ligen politischen Weltlage, die aufgrund der erst im Au- dritte Ausstellung der Künstlerkolonie Darmstadt und gust 1913 beendeten Balkankriege weiterhin unter groß- im Residenzschloss eine „Jahrhundertausstellung deut- en Spannungen stand. Als Gegenentwurf hierzu – keine scher Kunst 1650 bis 1800“. Somit sollte mit Hilfe die- drei Monate vor Ausbruch des Krieges – präsentierte die ser beiden sich zeitlich überschneidenden Ausstellungen Künstlerkolonie Darmstadt auf der Mathildenhöhe ein ein Bogen vom 17. Jahrhundert bis zur zeitgenössischen letztes Mal ihre mit Pathos erfüllte Vision der Erhöhung Kunst geschlagen werden. des menschlichen Lebens mit Hilfe der Kunst. Ein aggressives Plakat des Künstlerkolonie-Mitglieds Eröffnung der Ausstellung der Künstlerkolonie Darmstadt, 16. Mai 1914, Bernhard Hoetger bewarb gleichzeitig die beiden Aus- Offizielle Ausstellungspostkarte, Institut Mathildenhöhe, Städtische stellungen und zeigte einen Jüngling – nur mit einem Kunstsammlung Darmstadt Tuch bekleidet –, der über einem brennenden Abgrund steht und mit einer langen Keule zum Schlag auf einen Drachen ausholt. Das Untier versucht sich an den spitzen Felsen aufzustützen und den Jungen mit
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