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SWR2 Wissen Aktuelle Literatur aus Indonesien Von Tigermännern und Protestpriestern Von Katharina Borchardt

Sendung: Donnerstag, 15. Oktober 2015, 08.30 Uhr Redaktion: Anja Brockert Regie: Alexander Schuhmacher Produktion: SWR 2015

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Atmo 1: Hafengeräusche, Straße

Atmo 2: Gesang Khrisna Pabichara (buginesisch)

O-Ton 1 - Khrisna Pabichara (indonesisch) / Zitator 1 (voiceover): Das ist ein Lied, das die Leute hier in singen, um die Seeleute zu begrüßen, die vom Meer zurückkommen. Manchmal waren sie sehr lange fort.

Atmo 1 (weiter): Hafengeräusche, Straße

O-Ton 2 - Khrisna Pabichara (indonesisch) / Zitator 1 (voiceover): Ich komme aus Makassar, und ich singe auf Buginesisch. Das ist unsere Sprache hier. Ich habe mich viel mit unserer alten Literatur beschäftigt. Man hat sie in Lontara- Schrift geschrieben. Ich halte die Traditionen lebendig.

Ansage: „Aktuelle Literatur aus Indonesien - Von Tigermännern und Protestpriestern“. Eine Sendung von Katharina Borchardt.

Atmo 2: Gesang Khrisna Pabichara (buginesisch)

Autorin: Khrisna Pabichara lebt in Makassar, einer Hafenstadt an der Südküste der Insel Sulawesi. Makassar ist zwei Flugstunden von der indonesischen Hauptstadt entfernt. Für seinen Auftritt am Hafen von Makassar hat sich der 39-jährige Sänger schick gemacht: Er trägt einen rot-gold-durchwirkten Sarong, ein hellgelbes Hemd und einen goldenen Fes.

O-Ton 3 - Khrisna Pabichara (indonesisch) / Zitator 1 (voiceover): Ich trete überall auf. Wenn ich eingeladen werde, trete ich auch auf. Dann trage ich Lieder im Langgam-Stil vor, wie man ihn hier traditionellerweise singt. Das bin ich, und dafür bin ich bekannt: Gedichte und Lieder im Stil der Buginesen von Makassar vorzutragen.

Atmo 1 (Ende): Hafengeräusche, Straße

O-Ton 4 - Manneke Budiman: We do research on locality, you know…

Autorin: Manneke Budiman von der Universitas in Jakarta. Er ist Literaturwissenschaftler. Eine Arbeit, die mehr ist als ein reiner Schreibtischjob:

O-Ton 5 - Manneke Budiman: Literature in relation to traditions; so not only modern, contemporary literature but also traditional literature, in which orality is still dominant. And lots of material in our research is actually based on oral data rather than written manuscripts. That’s also

2 an important part of what we do in this faculty in terms of research. Yes, and meeting the people who keep the tradition alive.

Zitator 2 (voiceover): Wir forschen auch vor Ort und untersuchen Literatur im Verhältnis zu Traditionen - zeitgenössische Literatur genauso wie traditionelle Literatur, die vor allem mündlich weitergegeben wird. Unser Forschungsmaterial basiert mehr auf oraler Überlieferung als auf Schriftstücken. Das ist ein wichtiger Teil unserer wissenschaftlichen Arbeit: die Leute aufzusuchen, die die Traditionen lebendig halten.

Musik: Flöte

Autorin: Dazu gehören auch die vielen Mythen, die heute noch immer erzählt werden. Zum Beispiel der westjavanische Mythos vom Tiger, der Besitz von einem ergreifen kann.

Zitator 1: „Nicht ich war es“, sagte Margio ruhig und ohne Schuldgefühl. „Ein Tiger wohnt in meinem Körper.“ (aus: „Tigermann“, S. 44)

Autorin: Der junge Margio hat seinen Nachbarn Anwar Sadat umgebracht. Er hat ihm die Halsschlagader durchgebissen. Der Autor Eka Kurniawan erzählt Margios Geschichte in seinem Roman „Tigermann“, der jetzt zur Frankfurter Buchmesse auf Deutsch erschienen ist. Indonesien ist dieses Jahr das Gastland. Der Roman spielt in einem westjavanischen Dorf und erzählt einen alten Tigermythos dieser Region neu.

Zitator 1: Nach dem, was Ma Muah, die Erzählerin des Dorfes, berichtete, besaßen viele Männer […] einen Tiger. Einige von ihnen waren mit einem Tiger verheiratet, andere hatten ihn von den vorangegangenen Generationen geerbt. Großvater hatte ihn von seinem Vater geerbt, dieser wiederum von dessen Vater und so weiter bis vielleicht zu den Urahnen, sodass man nicht mehr sagen konnte, wer unter den Vorfahren zum ersten Mal mit einem Tiger verheiratet gewesen war. (aus: „Tigermann“, S. 50)

Autorin: Margio hat den Familientiger geerbt, der nicht mit, sondern in ihm lebt. Den Kräften des Tigers aber ist der junge Mann noch nicht gewachsen.

Zitator 1: Seinem späteren Geständnis bei der Polizei zufolge hatte er Anwar Sadat in der Tat mit einem Biss getötet, der diesem die Halsschlagader durchtrennte. Er gab an, keine andere Waffe eingesetzt zu haben. (aus: „Tigermann“, S. 56)

O-Ton 6 - Eka Kurniawan: This is a mythical belief in Indonesia that a man can marry a tiger. Especially in the village because the tiger has supernatural power. So if a man hopes to have this power, who wants to have supernatural power, he has to marry a tiger, a female tiger.

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Zitator 1 (voiceover): Das ist eine mythische Überzeugung in Indonesien, dass ein Mann von einem Tiger bewohnt werden kann. Vor allem auf dem Dorf glaubt man das, denn ein Tiger hat übernatürliche Kräfte. Wenn ein Mann also eine solche Kraft besitzen will, muss er einen Tiger heiraten, einen weiblichen Tiger.

Autorin: Die bloße Neuauflage eines alten Mythos aber ist Eka Kurniawans Roman nicht. Vielmehr analysiert er Margios psychische Verfassung ebenso genau wie die sozialen Spannungen in seiner Familie und im Dorf.

Sein Gewaltausbruch hat nachvollziehbare Gründe, wird von ihm selbst aber dem Tiger zugeschrieben. Gleichzeitig hat der Autor ein ausgeprägtes religionspolitisches Bewusstsein.

O-Ton 7 - Eka Kurniawan: I love these tiger myths because there is an ancient story about the mythical tiger in Sundanese. We believe that the ancient king of Sundanese - Siliwangi was the last king in Sundanese before his kingdom fell. He never died. He doesn't die but became a tiger. It's kind of critical because the Hindunese reject the coming of Islamic belief.

Zitator 1 (voiceover): Ich liebe diese Tiger-Mythen, denn sie haben auch mit der sundanesischen Tradition zu tun, in der ich aufgewachsen bin. Wir glauben, dass Siliwangi - das war unser letzter König - niemals wirklich gestorben ist. Er ist stattdessen ein Tiger geworden! Das ist auch eine Kritik von hinduistischer Seite am sich ausbreitenden islamischen Glauben.

Autorin: Der Hinduismus als kulturelle Tiefenschicht im heutigen Indonesien. Überlagert wird sie durch den Islam, der sich im 16. Jahrhundert über den Archipel ausbreitete. Heute sind knapp 90 Prozent der Indonesier Muslime.

Islamische Literatur boomt deshalb, und ihre Bandbreite ist groß. Sie reicht von betulichen über dogmatische bis hin zu rebellischen Geschichten.

Trotzdem erreichen diese Texte kaum je den deutschen Buchmarkt. Eine Ausnahme sind in diesem Herbst drei Geschichten der Schriftstellerin Abidah El Khalieqy:

Musik: Trommel

Zitatorin: Ich bin Gendhis, die Hure, die gestern Abend dem Herrn Bezirksvorsteher ins Gesicht gespuckt hat. (aus: „Gendhis“, S. 115)

Autorin: Abidah El Khalieqy ist selbst Muslima und trägt ein Kopftuch.

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Zitatorin: Wer sagt, dass ich Angst vor dem Herrn Bezirksvorsteher habe? Ich hatte noch nie Angst vor ihm, vor seiner Pilgerreise nach Mekka genauso wenig wie nach seiner Rückkehr. (aus: „Gendhis“, S. 115)

Autorin: Der Bezirksvorsteher giert nach Gendhis. Einerseits will er sie besitzen, andererseits erniedrigt er sie vor dem ganzen Dorf.

Zitatorin: Ich habe ihm in seine widerliche Krokodilvisage gespuckt. Ich könnte pausenlos kotzen und in dieses Gesicht spucken, und allmählich bekommt er Angst, weil ich ihm mit dem Klappmesser gedroht habe, das ich seit zwei Tagen immer bei mir trage. (aus: „Gendhis“, S. 117)

Autorin: Geschichten wie diese von El Khalieqy sind in Indonesien hochumstritten, sagt der Literaturwissenschaftler Manneke Budiman:

O-Ton 8 - Manneke Budiman: Sometimes male religious leaders are even trying to ban these books written by Muslim women saying: She is influenced too much by Western, liberal, feminist ideas and so on. And they urge the Muslim youth, or Muslim teenagers or women not to read their books. Like Abidah El Khaleqy.

Zitator 2 (voiceover): Manchmal versuchen die männlichen Religionsführer sogar, Bücher zu verbieten. Diese Bücher, die von muslimischen Frauen geschrieben sind. Dann sagen sie: Die Autorin wurde zu stark von westlichen, liberalen und feministischen Ideen beeinflusst. Sie schärfen den muslimischen Jugendlichen und Frauen ein, diese Bücher nicht zu lesen. Zum Beispiel die von Abidah El Khalieqy.

Autorin: Rund 25.000 neue Bücher erscheinen jährlich in Indonesien. Das entspricht etwa einem Viertel der deutschsprachigen Buchproduktion. Verfasst werden die indonesischen Titel größtenteils auf Bahasa Indonesia, der indonesischen Amts- und Nationalsprache. Sie basiert auf dem Malaiischen, das auf der Insel Sumatra und auf der gegenüberliegenden malaysischen Halbinsel gesprochen wurde. Nach dem Abzug der Kolonialmächte brauchte Indonesien eine eigene Landessprache. Die Niederlande hatten große Teile des Landes drei Jahrhunderte lang beherrscht, bis die Japaner 1941 einmarschierten und ihrerseits ein kurzes Kolonialintermezzo gaben. Seit sich Indonesien im Jahr 1945 unabhängig erklärte, ist Bahasa Indonesia die Sprache, die das Land der 17.000 Inseln und der aktuell immer noch 720 Regionalsprachen eint. Bahasa heißt ganz einfach „Sprache“, Bahasa Indonesia also „Indonesische Sprache“.

O-Ton 9 - Eka Kurniawan: Actually, it's not my mother tongue.

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Autorin: Sagt der Autor Eka Kurniawan.

O-Ton 10 - Eka Kurniawan: Because my mother tongue is Sundanese. But I don't use Sundanese for writing. To be honest, I cannot write in Sundanese, but I speak it every day with my mother, my sister, my brother. To write, I'm more confident in Bahasa Indonesia because I learned to write in Bahasa Indonesia from school, also from reading.

Zitator 1 (overvoice): Bahasa ist nicht meine Muttersprache. Meine Muttersprache ist Sundanesisch, aber auf Sundanesisch kann ich ehrlich gesagt nicht schreiben. Ich spreche es täglich mit meiner Mutter, meiner Schwester und meinem Bruder, aber wenn ich schreibe, fühle ich mich auf Bahasa Indonesia wohler. Das habe ich in der Schule und durch Lektüre gelernt.

Autorin: Auch auf dem Literaturfestival von Makassar wird Bahasa gesprochen. Das örtliche Publikum und die Autoren aus anderen Landesteilen sollen einander ja verstehen können. Die beiden jungen Moderatoren, die auf der Lesebühne unter freiem Himmel durchs Abendprogramm führen, sind kaum zu toppen.

Atmo 3: Schnellsprechende Moderatoren auf der Lesebühne in Makassar

Autorin: Vor allem junge Leute, viele Studentinnen und Studenten, haben sich eingefunden. Sie amüsieren sich prächtig über die Moderatoren, über Lesungen und Tanzdarbietungen.

Außerdem können sie hier im Innenhof des ufernahen Fort Rotterdam - einer Wehranlage aus niederländischen Kolonialzeiten - im Abenddunkel unbeobachtet nebeneinandersitzen. Die meisten Frauen tragen trotz der schwülen Wärme mehrfach gewickelte Kopftücher und lange Röcke.

O-Ton 11 - Moderatoren in Makassar: Ladies and Gentlemen. Good evening! Welcome to Makassar International Writers Festival 2015!

Atmo 4: Festival, Publikum

O-Ton 12 - Lily Yulianti Farid: For me, I don’t want to wait until the people in Makassar are going to the library or going to a bookshop to buy books and read.

Autorin: Lily Yulianti Farid hat das „Writers’ Festival“ vor fünf Jahren gegründet. Die 44- Jährige ist immer in Bewegung. Ihr Kopftuch trägt sie sportlich nach hinten geknotet.

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O-Ton 13 - Lily Yulianti Farid: I started the campaign by presenting this festival making it like a celebration so that people who don’t read, they also join us and start the conversation looking at the bookstalls, meeting the writers, starting to question about the session and the discussions. So for me, I meet these new readers, potential readers, I would say. They start from the very light books, light novels, not the very heavy ones, and then they try to mingle around with the readers’ community. Although it’s very small, it’s growing steadily.

Zitatorin (voiceover): Ich wollte nicht darauf warten, dass die Leute irgendwann von selbst in die Bücherei oder in einen Buchladen gehen und lesen würden. Ich wollte aus diesem Festival von Anfang an ein Fest machen, damit auch Leute kommen, die nicht lesen. Hier können sie sich unterhalten, sie können sich die Büchertische ansehen, Autoren erleben und bei den Veranstaltungen Fragen stellen. Für mich sind das potentielle neue Leser. Sie fangen mit ganz einfachen Romanen an, und sie versuchen, sich unter die anderen Lesebegeisterten zu mischen. Das sind noch nicht sehr viele, aber es werden immer mehr.

Autorin: In Indonesien gibt es keine ausgeprägte Lesekultur. Lesen, das heißt: alleine sein und sich anstrengen müssen. Und das wird von vielen als unangenehm empfunden. Lily Yulianti Farid will vermitteln, dass Lesen Spaß machen kann, Phantasie fördern, Horizonte öffnen. Vier Tage lang geht das Literaturfestival, das sie seit fünf Jahren auf die Beine stellt. Und zwar immer im Juni.

O-Ton 14 - Lily Yulianti Farid: A very famous poem by one of the greatest Indonesian poets named Sapardi Djoko Damono is called „The Rain in June”. Inspired by that, so I say that June is the perfect time for this festival.

Zitatorin (voiceover): Es gibt ein sehr berühmtes Gedicht von einem der besten indonesischen Dichter, nämlich von Sapardi Djoko Damono. Es heißt „Regen im Juni“. Davon habe ich mich inspirieren lassen und finde: Der Juni ist der perfekte Monat für dieses Festival.

Musik: Gamelan

O-Ton 15 - Lily Yulianti Farid (indonesisch): tak ada yang lebih tabah dari hujan bulan Juni dirahasiakannya rintik rindunya kepada pohon berbunga itu tak ada yang lebih bijak dari hujan bulan Juni dihapusnya jejak-jejak kakinya yang ragu-ragu di jalan itu tak ada yang lebih arif dari hujan bulan Juni dibiarkannya yang tak terucapkan 7 diserap akar pohon bunga itu

Zitatorin (overvoice): Nichts ist so geduldig Wie der Regen im Juni Er versteckt im Niesel seine Sehnsucht Nach den blühenden Bäumen Nichts ist so klug Wie der Regen im Juni Er verwischt seine Fußabdrücke Die auf den Straßen zögern Nichts ist so weise Wie der Regen im Juni Er lässt Unaussprechbares Aufnehmen von den Wurzeln der blühenden Bäume

Autorin: In diesem Jahr hat es glücklicherweise nur einmal geregnet. Am Freitagnachmittag gab es plötzlich einen Platzregen, und die Besucher des Literaturfestivals sind in die Laubengänge des ehemals holländischen Forts geflüchtet.

Die dicken Mauern sind hellgelb gestrichen, ebenso wie die Häuser im Innern der Anlage und die ehemalige Kirche, die nun als Veranstaltungsraum genutzt wird.

1667 nahm die niederländische Ostindien-Kompanie - eine schwer bewaffnete Handelsgesellschaft - Makassar ein. Die Hafenstadt auf Sulawesi war ein wichtiger Posten im internationalen Gewürzhandel, denn die Gewürzinseln - die Molukken - waren nicht weit. Die Niederländer bauten das Fort aus, das ihnen fast dreihundert Jahre lang gehören sollte. In einer Ecke gibt es auch eine Gefängniszelle. In der einst ein Dauergefangener saß.

O-Ton 16 - Muyazdlala: This is the jail for the Diponegoro Prince.

Autorin: Muyazdlala - Festivalbesucher, Lehrer und Fremdenführer - weist auf einen ebenerdig gelegenen Raum mit Gittertüren. Hier hat der Diponegoro-Prinz eingesessen, ein Anführer im Guerillakampf gegen die niederländischen Kolonialherren. Durch ein Fenster kann man vom Hof aus in seine vergitterte Zelle blicken.

O-Ton 17 - Muyazdlala: The Diponegoro Prince was a special prince from Java, from the Mataram dynasty. Now we call it Yogyakarta. And the Dutch caught him and sent him here for twenty- one years.

Zitator 1 (voiceover): Der Diponegoro Prinz war ein javanischer Prinz. Er entstammte der Mataram- Dynastie im heutigen Yogyakarta. Die Holländer haben ihn gefasst und in diesem Raum einundzwanzig Jahre lang eingesperrt. 8

Autorin: 1855 ist er im Fort Rotterdam gestorben. Trotzdem: Muyazdlala kann die Niederländer verstehen:

O-Ton 18 - Muyazdlala: Dipenogoro is also really a danger for the Dutch. Because he could command people and that’s why the Dutch wanted to split him from the people. And he escaped first to Manado. It took him two months to come back to South Sulawesi on foot. And the Dutch caught him again and put him here.

Zitator 1 (voiceover): Der Diponegoro-Prinz war aber auch eine echte Gefahr für die Holländer. Er konnte Leute anführen. Deshalb wollten sie ihn vom Volk trennen. Zuerst ist er entkommen - nach Manado in Nordsulawesi. Von dort lief er zwei Monate lang zu Fuß nach Südsulawesi zurück. Dann haben ihn die Holländer erneut gefangen genommen und hier eingesperrt.

Autorin: Vor seiner Rückkehr schrieb er ein Buch, das heute zum Weltdokumentenerbe gehört: das „Babad Diponegoro“, die „Chronik des Diponegoro“, die erste Autobiographie der indonesischen Literatur, in den 1830er Jahren auf Javanisch verfasst. Darin erzählt Diponegoro die Geschichte seiner Heimatinsel Java und die seines eigenen Lebens, das vom Kampf gegen die Niederländer geprägt war - und vom Versuch, ein frommer Muslim zu sein.

Die Niederländer merkten sofort, wie wichtig der Text war und ließen ihn übersetzen. Diese Erstübertragung befindet sich heute an der Universität im niederländischen Leiden. Die dortige Bibliothek ist mit ihrem enormen Textarchiv bis heute ein Mekka für Indonesisten aus aller Welt.

O-Ton 19 - Muyazdlala: The Dutch left the Fort Rotterdam when the Japanese arrived in 1941. So when the Japanese arrived, they moved to Kampili and they moved to Malino in 1941. And they tried to return in 1946. That’s why the Makassaris organized the people against them. And the Dutch killed more or less 40.000 people in 1949.

Zitator 1 (voiceover): Die Holländer haben Fort Rotterdam verlassen, als die Japaner im Jahr 1941 landeten. Sie zogen sich nach Kampili und Malino zurück, nicht weit von hier. 1946 versuchten sie, die Herrschaft im Land wieder zu übernehmen. Dagegen haben sich die Bewohner von Makassar gewehrt. Deshalb haben die Holländer hier etwa 40.000 Menschen getötet.

Autorin: Ein dunkles Kapitel in der niederländischen Geschichte: rund 300 Jahre Kolonialherrschaft in Indonesien, die im Zweiten Weltkrieg vom japanischen Imperialismus beendet wurde. Nach der Niederlage der Japaner wollten die Holländer ihr „Niederländisch-Indien“ 1945 wieder zurück, hatten die Rechnung aber ohne die Einheimischen gemacht. Im Indonesischen Unabhängigkeitskrieg wurden

9 die Niederländer dann final geschlagen, so dass die indonesische Unabhängigkeit 1949 international anerkennt wurde.

O-Ton 20 - Muyazdlala: It’s okay, it’s no problem!

Autorin: Kein Problem, dass das Fort in Makassar immer noch Fort Rotterdam heißt, findet Fremdenführer Muyazdlala. Tatsächlich hat heute kaum ein Indonesier noch etwas gegen die ehemaligen Kolonialherren.

Mehr beschäftigt die Autoren die Suharto-Ära. 1965 putschte General Suharto den langjährigen Präsidenten Sukarno weg und installierte ein Militärregime. Die Machtübernahme ging mit einem unvorstellbaren Massaker an linksgerichteten Indonesiern einher.

Musik: Vokal

Zitatorin: Die Leute, die deinen Vater umgebracht haben, Junge. […] Sie schleppten alle, die sie für Feinde hielten, heran, lebendig oder tot, Frauen wie Männer, die einen mit Kopf, die anderen ohne. (aus: „Larung“, S. 48)

Autorin: Die indonesische KP war damals die drittgrößte kommunistische Gruppierung der Welt. Den Massakern in den Jahren 1965/66 fielen auch viele chinesisch-stämmige Indonesier zum Opfer, denen man eine enge Bindung an das maoistische China unterstellte.

Zitatorin: Und [sie] warfen sie im Südosten in ein Erdloch. Unterhalb davon floss dieser Bach hier entlang, parallel zum Brantas-Strom. Auf diese Weise wurden die herabgeworfenen Körper von der Strömung erfasst und zum offenen Meer getrieben. (aus: „Larung“, S. 48)

Autorin: Die meisten Opfer gab es auf Java, und Sumatra. Der Brantas fließt durch Ost- Java.

Zitatorin: Wer noch lebte, kam unterwegs um, vom Strudel erfasst, so dass alles, was dort angetrieben wurde, nur noch weiße aufgetriebene Leichen waren. Blutlos waren sie und stanken. Das geschah im Jahr 1966, und noch heute zittern die Leute hier, wenn sie an diese Jahreszahl denken. (aus: „Larung“, S. 48 f.)

Autorin: Ayu Utamis Roman „Larung“ erschien im Jahr 2001, drei Jahre nach ihrem ebenfalls hochpolitischen Erstling „Saman“. Darin erzählte sie von einem katholischen Priester, der Kleinbauern im Kampf gegen internationale Palmölkonzerne unterstützt. Die

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Geschichten der beiden Romane greifen ineinander; in beiden treten dieselben Figuren auf. Man kann sie (…) als Doppelroman lesen.

Atmo 5: Ayu Utami doziert vor Studenten

Autorin: Die Bücher schlugen in Indonesien so stark ein, dass Ayu Utami, die damals Anfang dreißig war, zur Ikone wurde. Bis heute publiziert sie regelmäßig und wird von vielen bewundert. Die Schreibkurse, die sie im freien Kulturzentrum „Salihara“ in Jakarta gibt, sind voll.

Dass sie Schriftstellerin wurde, war allerdings zunächst eine Notlösung. Unter Suharto war Ayu Utami Journalistin und Mitglied einer illegalen Journalistenvereinigung:

O-Ton 21 - Ayu Utami (indonesisch) / Zitatorin (voiceover): Wir wurden von der Regierung als regierungsfeindlich eingestuft, und drei meiner Freunde wurden verhaftet. Ich selbst habe eine Art Berufsverbot bekommen und durfte nicht mehr als Journalistin arbeiten. Deshalb habe ich angefangen, literarische Texte zu verfassen.

Autorin: Texte, in denen Ayu Utamis politische Energie weiterlebt:

Zitatorin: Zunächst müssen wir Texcoil verklagen, dann aber auch mit einer Kampagne an die Öffentlichkeit gehen. (aus: „Saman“, S. 25f.)

Autorin: …überlegt eine ihrer Figuren im Roman „Saman“, nachdem Arbeiter bei einer Explosion auf einer Bohrinsel ums Leben gekommen sind.

Zitatorin: Außerdem müssen wir Leute finden, die die Familie des Opfers schützen, falls sie unter Druck gesetzt werden sollte. Wir müssen Initiativgruppen finden, die Proteste lancieren und die Sache immer wieder aufrühren. Ich habe einen Freund, der das alles in die Wege leiten könnte. (aus: „Saman“, S. 26)

Autorin: Dieser Freund ist Saman, der katholische Priester, der Arbeiter und Bauern im Kampf gegen ihre Ausbeuter unterstützt. Das ist Ende der 90er Jahre. Damals - nach dem Ende der Suharto-Diktatur, der so genannten „Neuen Ordnung“ - kam das Land in Bewegung.

O-Ton 22 - John McGlynn: The „New Order” period, that was the Suharto government, what you saw is silenced voices: people not expressing themselves, people telling stories in fabulous ways or through mythological characters and that kind of thing to get around possible censorship. After 1998 Pandora’s box came open and everybody started writing about what they wanted to write about. 11

Zitator 2 (voiceover): Unter Suharto gab’s viele Verstummte: Menschen, die sich nicht frei äußerten, Autoren, die ihre Geschichten ins Märchenhafte wendeten oder sie durch mythologische Figuren erzählen ließen. Einfach um eine mögliche Zensur zu umgehen. Nach 1998 aber sprang Pandoras Büchse auf, und alle fingen plötzlich an zu schreiben, worauf sie Lust hatten.

Autorin: John McGlynn, Chef der Lontar Foundation in Jakarta. Das heißt: wichtigster Verleger indonesischer Literatur in englischer Übersetzung.

Seit dem Ende der Suharto-Diktatur gilt: Ein Autor darf schreiben, was er will. Wenn es um Sex oder Religion geht, könnte es mal kritisch werden, doch über Politik schreiben Autoren ziemlich frei. Die zur Frankfurter Buchmesse erscheinenden Bücher sind häufig politisch grundiert - weil dies deutsche Leser besonders interessiert.

Auch die Autorin Laksmi Pamuntjak nimmt in ihrem Roman „Alle Farben rot“ die Suharto-Zeit in den Blick. Darin erzählt sie von der Liebe zwischen der Studentin Amba und dem linksgerichteten Arzt Bhisma. Die beiden lernen sich in einem Krankenhaus kennen, in dem sie beide arbeiten. Sie werden ein Paar, während einer politischen Veranstaltung im Jahr 1965 aber für immer voneinander getrennt.

Zitatorin: Dutzende Uniformierte strömten mit angelegtem Gewehr in den Hof. Aus dem Gebäude flogen ihnen Dosen, Eimer und Eisenstangen entgegen. Einige Leute versuchten, die Eindringlinge aufzuhalten. Blut floss, und kurz darauf blockierten die Verteidiger die Tür. Plötzlich schrie jemand: „Granate!“ (aus: „Alle Farben rot“, S. 397)

Autorin: Bhisma wird von den Regierungstruppen gefasst und auf die Gefangeneninsel Buru gebracht. Die Gefangenen auf Buru sind vor allem eins: kostenlose Arbeitskräfte.

Zitator 1: Man hat uns hierhergebracht, um Buru produktiver zu machen, nützlicher, gewinnbringender für das Suharto-Regime. „Arbeiten“ heißt: die Gebäude jeder Einheit zu errichten, den Wald und die Flächen zu roden, um sie in Nassreisfelder umzuwandeln, Straßen zu bauen, Trinkwassertanks anzulegen, Bewässerungskanäle, Brücken und Dämme zu bauen […]. Der einzige Sinn unserer Existenz ist, dieses Land […] in ein kleines autarkes Java zu verwandeln, in ein Paradies glitzernder Nassreisfelder. (aus: „Alle Farben rot“, S. 577)

Autorin: Auf Buru war auch der berühmte Autor Pramoedya Ananta Toer viele Jahre lang inhaftiert gewesen.

Als Laksmi Pamuntjak 2006 in Begleitung eines ehemaligen politischen Gefangenen auf der Insel recherchierte, wurde sie von der Polizei verhört. Und auch das Militär interessierte sich für sie. Unproblematisch ist das Thema „Buru“ bis heute nicht: 12

O-Ton 23 - Laksmi Pamuntjak: Maybe somebody had tipped them because there is always some informant. I think it might have been that somebody tipped the police and the police and the military were kind of racing each other as to who would get to us first. Because I remember a military, somebody with a military bearing. He tried to infiltrate into our accommodations, where we were in an ex-political unit of the penal colony which is now already transformed into a village and he was staying the night and was asking questions.

Zitatorin (voiceover): Jemand muss denen einen Tipp gegeben haben. Es gibt ja immer irgendwo einen Informanten. Ich glaube auch, dass sich Polizei und Militär eine Art Wettlauf lieferten, wer uns zuerst kriegen würde. Ein Militärangehöriger wollte in unsere Unterkunft eindringen. Unsere Einheit übernachtete an einem Ort, an dem früher die politischen Gefangenen inhaftiert waren. Der Mann blieb bis in die Nacht und fragte uns aus.

Autorin: Im Roman wird Bhisma schließlich auf der Gefangeneninsel Buru sterben; Amba wird ihn nicht wiedersehen. Erst ihre jeweiligen Kinder können - verliebt ineinander - das verlorene Leben der Eltern nachholen. Ein märchenhaftes Erzählelement, das Trost spenden soll, wo kein Trost möglich ist.

„Alle Farben rot“ ist einer der großen indonesischen Titel in diesem Herbst. Und auch in Indonesien selbst wurde er viel gelesen, sagt die Autorin:

O-Ton 24 - Laksmi Pamuntjak: I must say that I’m very, very happy and honoured that people are reading my book - quite surprisingly to me. The fourth edition came out, that only took like a year. People are not only reading, I find, fiction that is so, so thick. So that’s very encouraging, too. There has been a laxening of attitude towards 1965: Now people want to learn about it.

Zitatorin (voiceover): Ich bin wirklich glücklich und fühle mich geehrt, dass so viele Leute meinen Roman lesen. Innerhalb eines Jahres wurde der Roman auf Indonesisch vier Mal nachgedruckt! Ich bin erstaunt, dass Leute heute noch so dicke Bücher lesen. Das macht mir Mut. Ich sehe darin auch eine entspanntere Haltung 1965 gegenüber. Die Leute wollen einfach mehr darüber erfahren.

Autorin: Es kann also sehr gut sein, dass „Alle Farben rot“ auch im Bauch des Bibliotheksboots zu finden ist, das am Steg der kleinen Insel Lae-Lae festgemacht hat.

Atmo 6: Meeresrauschen, Bootsmotoren

O-Ton 25 - Lily Yulianti Farid: The first year, they are going to sail along the coastal line of South-Sulawesi and West-Sulawesi reaching Kalimantan Island. The main audience, of course, are children on the islands. So what they need now is children’s books in Bahasa. And 13 for the adults, they need practical books, e.g. about fishing. And magazines. They love magazines!

Zitatorin (voiceover): Im ersten Jahr segelt das Boot um Südsulawesi herum und an Westsulawesi hoch, dann auch noch rüber nach Kalimantan. Die Aktion richtet sich vor allem an Kinder. Deshalb brauchen die Organisatoren noch mehr Kinderbücher auf Indonesisch. Und für die Erwachsenen brauchen sie Ratgeber, beispielsweise zum Thema Fischen. Und Zeitschriften. Die Leute lieben Zeitschriften!

Autorin: Lily Yulianti Farid vom Literaturfestival in Makassar unterstützt das Bibliotheksboot. Eine rein private Initiative.

O-Ton 26 - Ridwan Alimuddin (indonesisch) / Zitator 1 (voiceover): Diese Boote wurden traditionellerweise von Fischern benutzt, die von der Insel Sulawesi stammten. Sie konnten damit bis nach Australien segeln.

Autorin: Ridwan Alimuddin ist der Bootsbibliothekar. Er steht barfuß auf dem Landungssteg der kleinen Insel Lae-Lae vor der südsulawesischen Küste. Er trägt kurze Hosen und einen Sonnenhut. 3.000 Bücher kann das Boot fassen und seine Reichweite ist groß.

O-Ton 27 - Lily Yulianti Farid: We’ve never had before that a moving library. It’s a correct strategy for remote areas!

Zitatorin (voiceover): Eine Wanderbibliothek hatten wir vorher noch nie, aber sie eignet sich perfekt für abgelegene Gegenden!

Autorin: Abgelegene Gegenden - dazu gehört aus indonesischer Sicht auch Deutschland. Dieses Jahr präsentiert sich der Inselstaat auf der Frankfurter Buchmesse. Sich und seine Literatur. Die Buchauswahl ist in diesem Jahr nicht so groß wie bei früheren Gastländern. Aber die Titel, die es gibt, wollen ja auch erst einmal gelesen werden. Verleger John McGlynn hofft auf einen langfristigen Erfolg:

O-Ton 28 - John McGlynn: Indonesia has never been proactive in promoting its own literature. It was always going to Leipzig and Frankfurt and London and Bologna to buy rights. It’s only in the last two years: Hey, we can actually sell interesting content, too! So that’s a very good sign. I see Frankfurt as the beginning, not the end of a process, it doesn’t stop there; it has to go on!

Zitator 2 (voiceover): Indonesien hat seine Literatur niemals aktiv promotet. Es hat auf den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt, London und Bologna immer nur Lizenzen gekauft. Erst in den letzten zwei Jahren merkt man hier: Hey, wir haben auch interessante Inhalte zu verkaufen! Das ist doch ein gutes Zeichen. Ich persönlich sehe den Gastlandauftritt

14 in Frankfurt als einen Anfang und nicht als das Ende eines Prozesses. Es wird hier nicht stoppen. Es muss einfach weitergehen.

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