5. Diversität Des Gedächtnisses Neue Und Alte Formen Der Erinnerung An
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5. Diversität des Gedächtnisses Neue und alte Formen der Erinnerung an die Résistance in lokaler und transnationaler Perspektive von 1964/65 bis 1989/90 5.1. Der Generationenwechsel als Herausforderung an Ivrys Politikelite Im Mai 1965 schieden Bürgermeister Georges Marrane und sein erster Bei geordneter Venise Gosnat aus ihren Ämtern1. Des Bürgermeisters ange- schlagener Gesundheitszustand, der ihn zuvor zu mehreren Krankenhausauf- enthalten veranlasst hatte, und sein fortgeschrittenes Alter von 74 Jahren machten seinen Rückzug aus der ersten Reihe der kommunistischen Lokal- politik verständlich. Mit dem Abgang dieser beiden lokalpolitischen Größen verabschiedete sich gewissermaßen die Gründergeneration Ivrys, jene jungen Arbeiter, die 1925 in den ersten kommunistischen Stadtrat gewählt worden waren und – von der Zeit des Parteiverbots und der deutschen Besatzung abgesehen – über vierzig Jahre lang die lokalpolitischen Geschicke geleitet hatten. Sie prägten die politische Kultur und das soziale Klima in der Stadt. Diese Entwicklung von Ivry zum kommunistischen Territorium war so inten- siv spürbar, dass die wenigen verbliebenen Kritiker, wie die katholische Missi- onarin Madeleine Delbrêl, von einer »kolonialisierten Stadt« sprachen. In ih- rer Wahrnehmung war die ursprüngliche – von Delbrêl sicherlich idealisierte – christlich-katholische Kultur territorial zurückgedrängt, auf einen Rest- bestand reduziert und von der neuen kommunistischen Mehrheit kulturell überformt und ausgegrenzt worden2. Tatsächlich waren Bolschewisierung und Stalinisierung in Ivry bereits nach eineinhalb Jahrzehnten lokalpolitischer Herrschaft so weit fortgeschritten gewesen, dass Partei und Bevölkerung nach Ende der Besatzungszeit geradezu nahtlos an die Vorkriegszeit anknüpfen konnten. Zudem hatten sie als résistants und Befreier einen erheblichen Legi- timationsschub erfahren, so dass selbst distanzierte Beobachter wie Delbrêl 1944/45 über einen Parteieintritt nachdachten3. In der Nachkriegszeit und den 1950er Jahren hatte der PCF seine lokal- politische Herrschaft weiter ausbauen und auf hohem Niveau konsolidieren können. Die ohnehin spärliche Opposition war fast gänzlich zurückgedrängt worden. Ivrys Stadtbevölkerung hatte sich in Einklang mit der lokalen Politik- 1 APP, GA M2, Dossier Georges Marrane. 2 Delbrêl, Christ, S. 44 u. 87. 3 Ibid., S. 14. 2215-328_Kap.5_Leon.indd15-328_Kap.5_Leon.indd 215215 112.01.20122.01.2012 8:05:378:05:37 UUhrhr 216 5. Neue und alte Formen der Erinnerung an die Résistance elite als Gedächtnisgemeinschaft entfaltet und so ihre politische und kultu- relle Identität geklärt und vertieft. Der beginnende Generationenwechsel in den 1960er Jahren und die wachsende zeitliche Distanz zu den Gründungs- zusammenhängen der »kriegsgeborenen« (Annie Kriegel) kommunistischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit ließen bei den Zeitgenossen die Frage aufkommen, wie diese Identität trotz der personellen und zeitlichen Verände- rungen in den neuen Zeitabschnitt hinübergerettet werden könnte. Zu Be- ginn der 1960er Jahre mehrten sich nun die Stimmen dieser »génération du feu« in Ivry in Sorge um die Tradierung ihrer identitätsdeterminierenden Er- lebnisse. Sie suchten nach neuen ›Gefäßen‹ des Andenkens, nach neuen Me- dien und Ausdrucksformen der Erinnerung, damit diese von den nachfolgen- den Generationen abgerufen werden und dauerhaft in Ivry verankert bleiben konnte. Zwar hatte die Institutionalisierung des Gedächtnisses bereits nach 1944/45 in Form der beschriebenen Gedächtnisriten eingesetzt und die kultu- relle Formation Ivrys nachhaltig geprägt, doch galt es zu dieser Zeit nicht, den Generationenbruch zu überwinden, sondern die Gemeinschaft der Repres- sionsopfer, ihrer Familien und der Bürger Ivrys insgesamt zu konsolidieren und sozial aufzuwerten4. Den äußeren Brüchen der französischen Geschichte stand 1944/45 ein kommunistisches Milieu gegenüber, das in seiner Substanz angegriffen worden war. Es hatte aber seine Konsistenz behalten und pflegte nun einen »politischen Totenkult«, der im Prinzip die Gemeinschaft der Le- benden und der Toten über den Dezimierungsprozess hinaus fortsetzen sollte. In den 1960er Jahren hatten sich die Probleme verlagert. Nun bedurfte die spezifisch kommunistische banlieue-Identität neuer Möglichkeiten der Kon- servierung. Hinzu kamen gesellschaftliche Umwälzungen und grundsätzliche Veränderungen des Lebensstils in ganz Frankreich, die bis in die Vorstädte hinein wirkten und Henri Mendras von der »zweiten Französischen Revolu- tion« sprechen ließen. Das Jahr 1965 erscheint in seiner Analyse als Scharnier für die weitere politisch-soziale Entwicklung in der französischen Gesell- schaft5. Doch auch im lokalkommunistischen Rahmen gab es Ereignisse und äußere Brüche, die eine Periodisierung an dieser Stelle sinnvoll erscheinen lassen. Dazu gehörte der plötzliche Tod Maurice Thorez’ im Juli 1964. Er hinter ließ in Ivry, wo man seinen Personenkult über Jahrzehnte und zahl- reiche persönliche Bindungen hinweg gepflegt hatte, eine affektive Lücke. Hierin war für eine rationale Auseinandersetzung etwa über seine Verant- wortung für die Stalinisierung der französischen Partei kein Platz. Überbrückt wurde diese Lücke durch die Nominierung eines weiteren »Thorezianers« aus dem Ivryer Milieu für den vakanten Wahlkreis. Georges Gosnat, Sohn von 4 Soziale Aufwertung, Vermittlung von Respekt und Selbstachtung waren eine der Haupt- funktionen der europäischen Arbeiterschaft (Kaelble, Sozialgeschichte Europas, S. 186). In Ivry bekamen diese Funktionen durch die vorausgegangene Repressionspolitik noch eine besondere Konnotation. 5 Mendras, La Seconde Révolution française, S. 16f. 2215-328_Kap.5_Leon.indd15-328_Kap.5_Leon.indd 216216 112.01.20122.01.2012 8:05:378:05:37 UUhrhr 5.1. Der Generationenwechsel als Herausforderung 217 Venise und Alice Gosnat, hatte eine umfassende kommunistische Sozialisa- tion in Ivry durchlaufen6 und besaß schon als Kind und Jugendlicher das Vertrauen von Thorez. Thorez ging im elterlichen Haushalt ein und aus und betraute 1936 den 21-jährigen Georges Gosnat mit der Leitung des maritimen Unternehmens France-Navigation7, das die kommunistischen Kämpfer im Spanischen Bürgerkrieg mit Waffen aus der Sowjetunion versorgte. Damit deutet sich bereits eine der Ivryer Lösungen für das Generationen- problem an: Die neue politische Führungsschicht8 rekrutierte sich ausschließ- lich aus dem kommunistischen Milieu der Stadt. Sie hatte die klassischen Sozialisations stationen mit kommunistischem Elternhaus, roter Schule, städti- scher Ferienkolonie und Kindheit in den Sozialwohnungsblocks durchlaufen, war daher mit Ivrys Geschichtsbildern bestens vertraut und kulturell entspre- chend geformt. Zu dieser Gruppe gehörte der neue Bürgermeister Jacques Laloë, welcher 1965 mit 30 Jahren in das Amt gewählt wurde. Er hatte seine Jugend in Ivry verbracht und war als 17-Jähriger der kommunistischen Ju- gend beigetreten. 1953 wurde er zum ersten Mal in den Stadtrat gewählt. Zu dieser Gruppe der Politikerben zählte außerdem Roland Le Moullac, welcher sich zu einer der Säulen des Vereins für die Gründung eines nationalen Résis- tancemuseums entwickeln sollte. Sein Vater, Mathurin Le Moullac, hatte der Gründergeneration Ivrys angehört und innerhalb der lokalen Sektion des PCF verschiedene Führungsämter bekleidet. Zudem war er lange Zeit kom- munistischer Stadtrat gewesen. Maurice Zellner, Sohn von Yvonne und Émile Zellner, engagierte sich ebenfalls seit den 1960er Jahren in der Partei und erhielt einen Sitz im Stadtrat. Marius Prunières war zeitweise Beigeordneter und spielte im Kontext der Gründung des Komitees für Städtepartnerschaften, das sich ab 1963 um die Außenbeziehungen insbesondere mit Brandenburg an der Havel kümmerte, eine wichtige Rolle. Zwar beerbte er keinen Vater in seinen politischen Ämtern, war aber im HBM-Wohnkomplex an der Place de l’Insurrection groß geworden, in die Partei hineingewachsen und Teil einer stadtbekannten roten Familie. Ein weiterer Bruder, Raymond Prunières, übernahm nach dem Tod Auguste Piolines 1971 den Vorsitz der FNDIRP und trat regelmäßig als Zeitzeuge bei Diskussionsveranstaltungen etwa in Schulen auf, um von seiner Lagererfahrung zu berichten. Der Sohn eines der Erschie- ßungsopfer in Châteaubriant, Claude Pourchasse, kümmerte sich als Ange- stellter der Stadt Ivry ab den 1970er Jahren um die Beziehungen zur DDR, insbesondere um den Aufenthalt Ivryer Kinder in ostdeutschen Ferienlagern und Gastfamilien. Seit 1960 lebte außerdem das langjährige Politbüromitglied Jacques Denis in Ivry. Als seinem Parlamentssekretär hatte ihm Maurice Thorez dort eine Wohnung besorgt. Denis war zwar nicht direkt in den lokal- politischen Prozess involviert, begleitete aber die lokale Politikelite regel- 6 Stadtarchiv Ivry, 386 W 2, Biographische Skizze von Georges Gosnat. 7 Le Monde, 25. 5. 1982. 8 Zu allen beschriebenen Personen vgl. Stadtarchiv Ivry, 386 W 1–3. 2215-328_Kap.5_Leon.indd15-328_Kap.5_Leon.indd 217217 112.01.20122.01.2012 8:05:378:05:37 UUhrhr 218 5. Neue und alte Formen der Erinnerung an die Résistance mäßig bei offiziellen Anlässen und hatte über seine Frau Odette Denis, die bald neben dem neuen Bürgermeister Jacques Laloë im Stadtrat und im General rat des Departements vertreten war, direkten Zugriff auf die unteren und mittleren Politikebenen. Diese Aufzählung spricht dafür, dass der Wechsel in der lokalen Führungs- schicht nahtlos verlief und das kommunistische Milieu stabil blieb. Dennoch kommt auch Annie Fourcaut in ihrer Studie über die banlieue zu dem Ergeb- nis, dass