GABRIELE SCHABACHER

„When Am I?“ – Zeitlichkeit in der US-Serie , Teil 2

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An der US-Serie LOST lässt sich eine systematische Nutzung der temporalen Di- mension beobachten: Auf den Ebenen von Erzählzeit und erzählter Zeit – das konnte der erste Teil dieses Beitrags zeigen – ist der Einsatz von story arcs überspan- nenden Flashbacks bzw. Flashforwards sowie eine handlungsseitig ausgeführte Thematisierung und Problematisierung von Zeitreisen und Teleportation für das Seriennarrativ zentral. Schon diese zeitlichen Relationen ermöglichen der Narra- tion entscheidende Inversionen und paradoxe Konstruktionen, die für die Serie LOST charakteristisch geworden sind.

1. Die dritte Zeit

Eine dritte Dimension der Narration, um die es dem zweiten Teil dieses Beitrags geht, lässt sich nun keiner der beiden bisher thematisierten Gruppen eindeutig zuordnen, weder also der Erzählzeit und damit den stilistischen Mitteln im engeren Sinne, noch der erzählten Zeit, d. h. der inhaltlichen Ebene der Geschichte. Es handelt sich vielmehr um eine Gruppe von Phänomen, die sich durch eine spezifi - sche Übergängigkeit zwischen diesen beiden Kategorien auszeichnen. Daher wird im Folgenden auf die in der Serie geäußerten Vorahnungen, Time Loops, Bewusst- seinsreisen und Zeitsprünge einzugehen sein, um die Hybridisierung von Stilistik und Inhaltsmomenten der Narration zu verdeutlichen. Das Vorhandensein solcher hybrider Elemente ist es, das eine mögliche Erklärung für die besondere Faszinati- on an LOST und eine spezifi sch temporal motivierte Komplexität der Serie bietet.

Vorahnungen Vom Stilmittel des Flashforward sind die paratextuell nicht markierten Vorahnun- gen, Träume, paranormalen Fähigkeiten und Visionen zu unterscheiden, die eben- falls der Prolepse dienen und (Erzähl-)Zeitliches vorwegnehmen. Einzelne Figuren sehen bzw. erahnen Ereignisse, ehe sie geschehen: So beharrt Rose Nadler darauf, dass ihr Mann Bernard noch lebt (S01E04, S01E12), der sich dann auch tatsäch- lich bei den Hecküberlebenden befi ndet; sieht den Tod seiner Halb- schwester Shannon Rutherford voraus, nachdem ihm ein Halluzino- gen verabreicht hat (S01E13). Vermittels bedeutungstragender Träume, die häufi g auch die Interaktion mit Toten beinhalten, fi ndet Locke die abgestürzte Beechcraft

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(S01E19), Mr. Eko sieht im Traum seinen toten Bruder Yemi, der ihn auffordert, Locke zu helfen, wodurch beide zusammen die Perlen-Station fi nden (S02E21), Claire Littleton erschließt sich in einer albtraumhaften Rückblende ihre Entfüh- rung durch ‚die Anderen‘ (S01E10).1 Der Hellseher Richard Malkin ahnt etwas von dem Flugzeugabsturz von Oceanic 815 (S01E10, S02E21), Hugo ‚Hurley‘ Reyes und Miles Straume haben beide die Fähigkeit, mit Toten zu kommunizieren (Hurley kann sie sehen, Miles ihre Gedanken hören), ist mit telekine- tischen (S01E14) und hellseherischen (S01E22) Kräften begabt. Tauchen derartige Phänomene im Verlauf der Staffeln zwar immer wieder, wenngleich unsystematisch auf, so sind demgegenüber die Visionen Desmond Humes als strukturbildend für die Serie LOST anzusehen. Auch hier sind die Visionen inhaltlich an die Figur ge- bunden bzw. aus dieser heraus motiviert. Darüber hinaus führen sie aber im Serien- geschehen zu ungeahnten/ungewohnten Wendungen, die die Trennbarkeit von fabula und sjužet grundlegend in Frage stellen.

Zeitloops Desmond David Hume, Bewohner der Schwan-Station, deren Luke die Überleben- den am Ende der ersten Staffel aufsprengen, ist im Verlauf einer Solo-Segelregatta auf der Insel gestrandet und daraufhin für die Arbeit in der Station rekrutiert wor- den. Er ist in der Vergangenheit bereits beim Joggen in L. A. begeg- net und hat durch sein Versäumnis, die Zahlen rechtzeitig in den Computer einzu- geben, und die dadurch bedingte zu große elektromagnetische Aufl adung den Absturz von Oceanic Flug 815 verschuldet. Nachdem Locke am Ende der zweiten Staffel diesen Fehler noch einmal herbeiführt, Desmond die Ausfallsicherung betä- tigen muss und die Schwan-Station daraufhin implodiert, fi ndet sich Desmond im Dschungel wieder – und zwar mit bemerkenswerten Visionen. Anhand einer genau- eren Analyse der einschlägigen Episode Flashes before Your Eyes (dt. Erinnerungsfetzen)2 (S03E08) möchte ich zeigen, dass es sich um Durchführung und Darstellung einer Art von Zeitloop handelt, bei dem sich Erinnerungen und (Zukunfts-)Visionen der- art überlagern, dass unentschieden bleibt, was Vergangenheit und was Zukunft ist, weshalb diese Episode zu den für die Zeitlichkeitsproblematik einschlägigsten der ganzen Serie gehört. Die Visionen, die sich bei Desmond zunächst wie ein Déjà-vu äußern, beginnen mit harmlosen Begebenheiten, die im Rahmen der Handlung zunächst nicht be- sonders hervorgehoben sind. So erwähnt Desmond wie beiläufi g Hurley gegenüber eine Rede (S03E03), die Locke aber noch gar nicht gehalten hat und die erst im

1 Dabei hängt über dem Kinderbettchen für den noch ungeborenen Aaron ein Flugzeugmobile mit kleinen Oceanic-Maschinchen des gleichen Typs (S01E10, S02E15), wie es sich auch in der von Kate vergrabenen ‚Zeitkapsel‘ befindet. 2 LOST, USA 2004-. Flashes before Your Eyes (Erinnerungsfetzen). Staffel 3, Episode 8, B: /, R: , Erstausstrahlung USA: 14.02.2007 (Deutsche Erstaus- strahlung: 03.12.2007).

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