Und Arbeitsmigration Als Ausdruck Transnationaler Lebensentwürfe Im Deutsch- Luxemburgischen Und Deutsch-Polnischen Grenzraum
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Raumforsch Raumordn (2013) 71:221–232 DOI 10.1007/s13147-013-0230-2 WISSENSCHAFTLICHER BEITRAG Entgrenzte Lebenswelten: Wohn- und Arbeitsmigration als Ausdruck transnationaler Lebensentwürfe im deutsch- luxemburgischen und deutsch-polnischen Grenzraum Birte Nienaber · Agnes Kriszan Eingegangen: 30. Juli 2012 / Angenommen: 22. März 2013 / Online publiziert: 8. Mai 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 Zusammenfassung Nationale Grenzen innerhalb der Borderless Everyday Live: Residence and Labour Europäischen Union sind offene Begegnungsräume trans- Migration as an Expression of Transnational Lifestyles nationaler Lebenswelten geworden. Durch die Schengen- Along the German-Luxembourgish and the German- Abkommen ist die Freizügigkeit der EU-Bürger gewähr- Polish Borderregions leistet, was zu neuen Formen internationaler Migration führt und den europäischen Integrationsprozess auf lokaler Abstract National borders inside the European Union are Ebene verdeutlicht. Dabei wandern Menschen ins Nach- open contact zones of transnational everyday lives. The barland, um dort zu wohnen oder zu arbeiten. Es entste- Schengen Agreement ensures the free movement of EU ci- hen so grenzüberschreitende Wohn- und Arbeitsmärkte, die tizens, leading to new forms of international migration and eine Transnationalisierung der Lebenswelten zwischen den illustrating the European integration process on the local beiden Nachbarstaaten bedeutet. Anhand der Fallstudien level. Migrants move to the neighbouring country to live der Gemeinde Perl im Saarland und des Amts Löcknitz- or work there. Cross-border residential property and labour Penkun in Mecklenburg-Vorpommern werden in diesem markets develop a transnationalisation of everyday lives Beitrag grenzüberschreitende Lebenswelten untersucht. between neighbouring countries. With the case study re- Dabei beeinflussen eine stark wachsende Region (Luxem- gion of the municipality of Perl in the German federal state burg bzw. Stettin) auf der einen Seite der nationalstaatli- of Saarland and the municipality Amt Löcknitz-Penkun in chen Grenze und eine ländlich strukturschwache Region the German federal state of Mecklenburg-Western Pomera- auf der deutschen Seite der Grenze diese Prozesse we- nia the article deals with these cross-border everyday lives. sentlich. Die beiden Fallstudien zeigen den Umgang mit On the one side of the national state borders there is a diesem grenzüberschreitenden Phänomen sowie raumwirk- booming region (Luxembourg or Szczecin) and on the oth- same Implikationen. er side there is a structural weak rural German region. This substantially influences these processes. Both case study Schlüsselwörter Grenzräume · Wohnmigranten · regions show dealings with these cross-border phenomena Arbeitsmigration · Transnationalität · Saarland · and spatial implications. Mecklenburg-Vorpommern Keywords Border regions · Residential migration · Labour migration · Transnationality · Saarland · Mecklenburg-Western Pomerania Junior prof. PD. Dr. B. Nienaber () Fachrichtung Geographie, Universität des Saarlandes, Am Markt Zeile 2, 66125 Saarbrücken, Deutschland 1 Einleitung E-Mail: [email protected] Die in der Wissenschaft gängige Unterscheidung zwischen Dr. A. Kriszan Carlstraße 30, 17235 Neustrelitz, Deutschland internationaler, grenzüberschreitender und intranationa- E-Mail: [email protected] ler Migration (z. B. Glick Schiller/Basch/Blanc-Szanton 222 B. Nienaber, A. Kriszan 1992; Faist 2000; Ehrkamp/Leitner 2006) mündet in einer 2 Konzept der Transmigration Reproduktion umgrenzter räumlicher Container (Hannerz 1996: 6). Nationale Grenzen sind dabei die Repräsentanten Für das Konzept der Transmigration spielen das Über- der Nationalstaatlichkeit, die Grenzen der Nationen sowie winden, die Konstruierung und das Kontextualisieren von die Grenze ihrer verwaltungsrechtlichen, politischen und Staatsgrenzen eine bedeutende Rolle. Nationale Grenzen fiskalischen Einflussbereiche. Ihre unterschiedliche Porosi- sind dabei „active and polymorphous social constructions tät ist Ausdruck unterschiedlicher Grenz- und Migrations- which are the outcome of people’s need to make differen- regime. Diese Regime können sich durch unterschiedliche ces“ (Gielis 2009: 598). Grenzen können deterritorialisiert „Steuerung in der Abwehr und Kontrolle von Zuwanderung in Form von Linien und reterritorialisiert als Objekte oder und Zuwanderern [äußern]…. Denn die Steuerungsversu- als wahrgenommene Reproduktionen (z. B. Stereotypen) che auf internationale Migration müssen unweigerlich im konstruiert werden (Strüver 2003). Simmel beschreibt Zusammenhang damit gesehen werden, inwieweit – erstens dies folgendermaßen: „Die Grenze ist nicht eine räumli- – jeder originär anspruchsberechtigte Bürger an den für ihn che Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine verbürgten Rechten unbeeinträchtigt partizipieren kann, soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“ (Simmel und – zweitens – inwiefern der Nationalstaat weiterhin die 2006/1908: 23). Dabei verändern Grenzen ihre Bedeutung exklusive, nach außen geschlossene Bürgergemeinschaft und ihre Durchlässigkeit. Linde-Laursen (2010: 3) bezeich- vereint halten kann“ (Geiger 2011: 30). net dies als „bordering“, das „must be regarded as a dynamic Das Schengen-Abkommen 1992 hat die Grenzen der cultural process, always changing in response to historic unterzeichnenden Staaten für die Freizügigkeit von Per- developments and constantly being transformed by and sonen, Gütern, Waren und Dienstleistungen durchlässiger transforming the social, cultural, and political contexts of gemacht. Durch die Auflösung politisch manifestierter the very nature of the limit“. Grenzen sind daher vor allem Barrieren entwickelten sich Grenzregime zwischen den sozial konstruiert, weniger physisch gegeben (Gielis 2009: Schengen-Staaten zu transnationalen sozialen Räumen 606). Politische Grenzen gelten als komplexe Systeme, die (Pries 1996: 460), deren Bewohner am wirtschaftlichen, ihre Rolle und Funktion sowie ihre Lage verändern können, gesellschaftlichen und kulturellen Leben zweier National- wodurch Lebenswelten dann Grenzen überwinden müs- staaten teilhaben können. „Atypische Grenzgänger“ (Wille sen, die vorher nicht existierten. Außerdem werden natio- o. J.), die im Gegensatz zu „typischen“ Grenzgängern im nalstaatliche Grenzen durch Prozesse und Diskurse sowie benachbarten Ausland wohnen und in ihre „heimatregion“ „boundary-producing practices“ (Paasi 2011: 13) gebildet zum Arbeitsplatz pendeln, sind ein Phänomen, das durch- und reproduziert. aus als eine Erscheinung dieser transnationalen sozialen „Transnationalism as a concept was most likely first Räume gesehen werden kann. In diesem Beitrag wird am coined by Bourne (1916) as a critique of the classic con- Beispiel des deutsch-luxemburgischen und des deutsch- ceptualisation of international migration. […] For him polnischen Grenzraumes nachgezeichnet, inwieweit „atypi- transnationalism thus implied something of an in-between- sche grenzgänger“ Bestandteile dieser Grenzregime sind, ness, the timespace between the culture of origin and the wie sich Transnationalität in diesen Regionen widerspiegelt culture at the migration destination“ (Ernste/van Houtum/ und welche raumwirksamen Implikationen transnationale Zoomers 2009: 578). Transnationale Aktivität kann von Lebensentwürfe an der deutsch-luxemburgischen und der Entscheidungsträgern wie Regierungsvertretern, Wirt- deutsch-polnischen Grenze haben. Dabei wird zunächst schaftsmächten, multinationalen Unternehmen, aber auch auf das Konzept der Transmigration als eine Wanderungs- durch Individualpersonen ausgeübt werden – sowohl von form, die „vom Betroffenen selbst […] unabgeschlossen“ oben nach unten (top-down) als auch von unten nach oben gehalten wird (Gogolin/Pries 2004: 6), eingegangen. Nach (bottom-up) (Portes 1999: 464; Portes/Guarnizo/Landolt einer Beschreibung des methodischen Ansatzes, der für die 1999: 221). Untersuchung der Fallbeispiele Perl (Saarland) und Löck- Durch diese transnationale Aktivität unterscheidet sich nitz-Penkun (Mecklenburg-Vorpommern) die Grundlage Transmigration von anderen Formen der Migration: der bildet, folgt die Beschreibung der Fallbeispiele, ehe im Fazit Emigration als Auswanderung nach dem ius sanguinis- die transnationalen sozialen Räume in den beiden Fallregio- Prinzip1, der Immigration als Zuzug, der Re-Migration als nen dargestellt und auf ihre raumplanerische Bedeutung hin Rückzug oder der saisonalen Migration, die zeitlich befris- verglichen werden. tet ist (z. B. Castles/Miller 2009; Nienaber/Frys 2012: 75), um an dieser Stelle nur einige andere Formen der Migration zu nennen. Transmigration zeichnet sich dadurch aus, „dass der Wechsel zwischen verschiedenen Lebensorten in unter- 1 Abstammungsprinzip durch Blutverwandtschaft Entgrenzte Lebenswelten 223 schiedlichen Ländern kein singulärer Vorgang ist, sondern diert daher für den Begriff „transnational social spaces“, der zu einem Normalzustand wird, indem sich der alltagsweltli- das Verhältnis zwischen Herkunfts- und Ankunftsregion bei che Sozialraum der Transmigranten pluri-lokal über Länder- der Transmigration besser zu erfassen vermag. „Als aktive grenzen hinweg zwischen verschiedenen Orten aufspannt“ soziale Akteure bilden Transmigranten neue kulturelle (Gogolin/Pries 2004: 13). Bei der Transmigration werden Muster und Formen der Vergemeinschaftung und Vergesell- mindestens zwei Staaten im Lebensalltag eingeschlossen, in schaftung heraus. Im Gegensatz zu klassischen Immigran- denen