62

GrundlagenProgramme der Programmarbeit des Jahres

»Unterwegs in der Weltgeschichte« Mit Hape Kerkeling auf Terra incognita

Ende der 60er Jahre gab es die amerikani­ bündeter sein würde. Kerkeling findet, dass ihm sche Serie »Time Tunnel«, in der zwei Wissen­ seine Schullehrer bei all ihren Bemühungen nicht schaftler in eine Zeitspirale flogen und in die vollends hätten klarmachen können, warum Ge- Vergangenheit gesaugt wurden. Dort muss­ schichte und Erdkunde so wichtig sind und was ten sie spannende Abenteuer bei Ritterturnie­ sie mit seinem eigenen Leben zu tun haben. ren oder in der Französischen Revolution »Terra X« hingegen könne das, also reiste er für bestehen. Wir Jugendliche kamen aus dem uns los, hinaus in die Welt und in die Geschichte. Staunen nicht mehr heraus. Zeitreisen sind Mit einem Auftrag, den man hoch ambitioniert Peter Arens ein ewiger Menschheitstraum, manche Wis­ nennen konnte, nämlich die Geschichte der Welt Leiter der Hauptredaktion Kultur senschaftler behaupten, mittels der so ge­ in nur sechs Teilen zu erzählen: angefangen bei und Wissenschaft nannten »Teleportation« könnten eines Tages den antiken Kulturen Ägypten und Griechenland, Menschen in die Vergangenheit transportiert über das Ewige Rom, das Abenteuer Mittelalter, werden. Auf gewisse Weise ist »Terra X« eine die Zeit des Kolonialismus, die Reformation und solche Zeitmaschine, die den Zuschauer seit den Dreißigjährigen Krieg, Aufklärung und Franzö- nun 30 Jahren Sonntag für Sonntag in fremde sische Revolution, bis hin zur Industrialisierung im Welten und ferne Zeiten entführt. 19. Jahrhundert und den großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts sowie dem Ende des Kom- Für ausgewählte Ziele hatten wir in den letzten munismus. Jahren charismatische Reiseführer wie Maximilian Schell, Thomas Reiter oder Frank Schätzing enga- So beschwingt sich die Unternehmung auch an- giert. Als wir uns jetzt an eine Geschichte der Welt hört, war sie dennoch harte Kärrnerarbeit. Erst machen wollten, kamen wir auf Hape Kerkeling. Er einmal musste der umfangreiche historische Stoff hatte mit seinem Pilgerbuch Ich bin dann mal weg für sechs Filme recherchiert und geschrieben, glaubhaft gemacht, dass er privates Interesse für dann die Drehorte fixiert werden, danach erst kulturgeschichtliche Themen hegt. Als wir ihn kon- konnte das Kamerateam losreisen. Während bei taktierten, stellte sich heraus, dass er bekennen- einem Fernsehfilm die Produktion von einem gro- der »Terra X«-Fan ist und damit unser idealer Ver- ßen Stab minutiös geplant wird, mit rund 20 meist

Hape Kerkeling auf dem Platz des Himmlischen Friedens

Hape Kerkeling als Kleopatra

»Unterwegs in der Weltgeschichte« I 81 zusammenhängenden Drehtagen, bedeutet do- obachter des Projekts mahnten an, ob man das kumentarisches Arbeiten mehr Drehaufwand pro einen verantwortungsvollen Umgang mit Ge- Sendeminute, langes Unterwegssein, Wetterab- schichte nennen könne. Müsste man über die hängigkeit, Behördenwillkür – mit einem Team, Geschichte der Welt nicht 100 Folgen machen, das selten mehr als fünf Personen umfasst. statt nur sechs? Die Geschichte der Deutschen hatten wir in den Jahren 2008 und 2010 in immer- Mich hat beeindruckt, dass der Vielumworbene hin 20 Folgen erzählt. Wir glaubten dennoch an und Hochbeschäftigte über 100 mitunter be- unser Konzept, weil wir uns von vorneherein auf schwerliche Tage für uns auf Reisen war. Denn die die zentralen Ereignisse und Wendepunkte der weltweiten Ziele, die inhaltliche Arbeitsweise und Weltgeschichte beschränken wollten. Wir wollten die flexiblen Drehbedingungen waren für Hape keine Vollständigkeit beanspruchen, sondern mit Kerkeling ungewohnt, »terra incognita«. Dennoch einer möglichst originellen Mischung aus Humor hat er bis zum Schluss nichts von seinem großen und Information Appetit auf Geschichte machen. Interesse und seinem Durchhaltewillen verloren. Komplexe Sachverhalte vereinfachen, so einfach Partner auf seiner Reise durch Zeit und Raum war wie möglich, aber nicht einfacher. Intelligentes Autor und Regisseur . Wenn Bildungsfernsehen gestalten – mit einem Hape Hape Kerkeling bei der Premiere des Films im Kerkeling, der mit den Augen des Zuschauers die Berliner Cinema Paris der Presse sagte, das Orte und ihre Geschichten in einprägsame Mode- Ganze sei eher eine Studienreise und gar keine rationen fasst. Das alles nicht deutsch gründlich, richtige Arbeit gewesen, sollte man seine Höflich- sondern im eher angelsächsischen Stil, der das keit und Begeisterungsfähigkeit im Hinterkopf Große in feinen Parallelschwüngen erzählt. Ange- haben. trieben von jener »intellectual curiosity«, jener intel- lektuellen Neugierde, die übrigens Hape Kerkeling Die sechs Filme nehmen die Zuschauer mit zu ganz wesentlich charakterisiert. Er erschließt sich Weltereignissen, die die Menschen schon immer die großen, bahnbrechenden Ereignisse auf seine fasziniert haben. 32 Orte haben sie besucht: die ganz eigene Art – mit Neugier, scharfem Verstand Pyramiden in Ägypten, die Aztekenstadt Teotihua- und viel Humor. Der besondere Witz lag darin, can in Mexiko, die Große Mauer in China, die Ak- Hape Kerkeling für kurze, überraschende Momen- ropolis, die russischen Zarenpaläste, den Londo- te in historische Rollen schlüpfen zu lassen: Er ist ner Tower, die Schlachtfelder von Verdun und gar Alexander der Große, Cleopatra, Ludwig XIV., Ka- das Schlafgemach von Ludwig XIV.. Kritische Be- tharina die Große, der erste Kaiser von China oder

Hape Kerkeling als Montezuma ...

... und als Michail Gorbatschow

82 I 2011.Jahrbuch Hape Kerkeling als Quin Shi Huangdi, Kaiser von China ...

... und als Queen Victoria

Michail Gorbatschow. Wir haben auf Texte für »Terra X« ein wichtiges Anliegen ist. Zwei meiner diese Rollen schließlich verzichtet und sie statt- Lieblingsszenen zeigen ihn so, wie man ihn nicht dessen mit modernen Musiken unterlegt, was für kennt. Seine Moderation zum Opferinferno des unerhörte Effekte gesorgt hat. Die Werbeplakate Dreißigjährigen Krieges ist ohne Pathos und geht und Kurztrailer, die Hape als Zeitreisenden in den doch unter die Haut, wie auch sein Besuch von Kostümen der Helden zeigten, haben übrigens Yad Vashem, der Gedenkstätte jüdischer Holo- die Bekanntheit der Reihe entscheidend gestei- caust-Opfer in Jerusalem. In nicht einmal zwei gert. Minuten beweist diese Szene, wie auch ein Come- dian mit einem solch schwierigen Ort umgehen Der Erfolg von »Unterwegs in der Weltgeschichte« kann: Er lässt die schier unzähligen Fotos der war immens. Die Reihe war das erfolgreichste Holocaustopfer auf sich wirken und schweigt. »Terra X«-Programm der letzten 15 Jahre. Der Seine innere Anteilnahme ist spürbar und lässt durchschnittliche Marktanteil bei den unter auch keinen Zuschauer unberührt. 50-Jährigen betrug 13,3 Prozent, nach »Wetten, dass ..?« und Fußball war die dritte Folge, »Aben- Ein weiterer Aspekt scheint mir für den Erfolg we- teuer Mittelalter«, das jüngste ZDF-Programm des sentlich zu sein. Kerkeling regt den Zuschauer Jahres 2011. Bestnoten erreichte das Programm dadurch zum Mitdenken an, dass er sich im Au- von den Zuschauern in punkto verständliche genblick der Entdeckung auf dieselbe Stufe stellt. Sprache und Moderation, die als besonders sym- Er ist nicht Historiker, nicht Experte, sondern pas- pathisch empfunden wurde – Kerkeling habe sionierter Laie. Der Moderator und sein Publikum spürbar Freude am Programm gehabt. staunen beide über die sagenhaften Schauplätze und geschichtsmächtigen Geschehnisse, ohne In der Tat hat Kerkeling wie kein Präsentator vor ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, weil ihm diese »Terra X«-Reihe beeinflusst. Obwohl der man Bildung verpasst hat und 5 000 Jahre Kultur- Sechsteiler nur so vor Daten und Fakten strotzt, geschichte nicht lückenlos repetieren kann. Wir gelingt Kerkeling eine angenehme Entschleuni- haben wohl vor allem jene Zuschauer hinzuge- gung. Man folgt ihm und hört ihm zu, weil seine wonnen, die sonst keine Geschichtsdokumentati- unnachahmliche Präsentation alter Stoffe diese in onen einschalten (auch weil sie zu viel Respekt ein neues Licht taucht. Er prägt die Reihe mit er- vor Wissenschaftsprogrammen haben) und die kennbarem Amüsement, lässt aber niemals Zwei- sich bei dem sympathischen Durchschnittsgebil- fel daran aufkommen, dass ihm die Arbeit für deten Kerkeling in bester Gesellschaft wähnten.

»Unterwegs in der Weltgeschichte« I 83 Was besonders auf Jugendliche zutreffen mag, Kerkelings Weltgeschichte sei das Beste, was wir die wir den Aufmerksamkeitsräubern der Social je gemacht hätten. Networks und Videogames kurzfristig entrissen haben dürften. Bei der Popularisierung von »Terra X« mit und wegen Kerkeling haben wir uns so weit vorgewagt In unserem Land, das sich seit gut zwei Jahrhun- wie nie zuvor, und dennoch wurde aus dem Pro- derten als eine Kulturnation versteht, mit einem tief gramm weit mehr als bloße Unterhaltung. Wir verwurzelten und liebenswerten Sinn für das An- haben gezielt ausprobiert, wie sich Humor mit In- spruchsvolle, hat dieser augenzwinkernde Um- formation vermählen lässt und erfahren, dass gang mit Geschichte natürlich hitzige Debatten damit ganz neue Zuschauer für Bildungsprogram- ausgelöst. Manche überregionalen Stimmen wie me gewonnen werden können. Der Spiegel und Die Süddeutsche wollten von uns mehr komisches Hape-Potenzial wachgeküsst Gero von Boehm, Hape Kerkeling und die Redak- sehen. Damit hätten wir aber die Humorschraube tion unter Alexander Hesse und Hans-Christian wohl zu weit gedreht, dem Bildungsimpetus des Huf haben im ständigen Ringen um das rechte Programms hätte noch mehr Raffinesse gescha- Format aber auch gespürt, wie schwer dieser be- det. Wie die Reaktionen der Stammseher von sondere Tonfall, den die Engländer so gut beherr- »Terra X« dann auch beweisen, vielen ging die schen, ist. Für alle Beteiligten war die Reihe in komische Note zu weit. »Unerträgliche Zirkusnum- gewisser Weise ein Schlüsselerlebnis, und ein mern«, meinten die einen, »was ist mit meinem solches muss man bekanntermaßen ja gezielt ›Terra X‹ passiert?« Die anderen riefen uns zu, suchen, es passiert nicht einfach so.

84 I 2011.Jahrbuch Liebe in Zeiten des Umbruchs »Borgia« – ein historischer Mehrteiler

Die internationale Koproduktion »Borgia«, ein Leben betrifft, aber auch in ihrer exemplarischen historischer Mehrteiler, sorgte im ausgehen­ Privatheit bis heute betrachtenswert und span- den Fernsehjahr 2011 für Furore. Im Schnitt nend. In dem historischen Sechsteiler erleben wir verfolgten über fünf Millionen Zuschauer an den biografischen Umbruch der Hauptfigur. Er sechs Fernsehabenden in der Primetime die bildet den Ausgangspunkt der Geschichte: Rodri- Familiengeschichte der Borgias. Begleitet go erhält die Nachricht von der Ermordung seines von einer großangelegten Presse- und Mar­ erstgeborenen Sohnes Pedro Louis. Er beschließt ketingkampagne, eines breitgefächerten On­ daraufhin, sein Leben radikal zu ändern, erkennt Klaus Bassiner lineangebots und der Neukonzeption einer seine illegitimen Kinder an und stellt sich den Leiter der Hauptredaktion Reihen Dokumentation entwickelte sich das Pro­ Missständen innerhalb der Kirche. Dabei ist ihm, und Serien (Vorabend) gramm zu einem zentralen Gesprächsthema getrieben von extremem Machtwillen, fast jedes in der Medienöffentlichkeit. Mittel recht, um seiner Familie die Herrschaft über ganz Italien nachhaltig zu sichern. Die Kinder Die Familie der Borgias, die zwei Päpste stellte, Rodrigo Borgias, vornehmlich Juan und Cesare, verkörpert, wie wenige andere, den Geist der Re- stehen in ständiger, zum Teil grausamer Konkur- naissance mit ihren heute kaum vorstellbaren Wi- renz zueinander. Der zügellose Draufgänger Juan dersprüchen. Die Borgias waren zum einen rück- wird von seinem Vater bevorzugt. Cesare, der sichtslos, korrupt und gewalttätig; anderseits er- Intelligentere, soll entgegen seiner Natur eine reichte die europäische Kultur unter ihrer kirchliche Laufbahn einschlagen, während Lucre- Herrschaft ihren höchsten Ausdruck. Eine Zivilisa- zia sich als Frau ihren Weg ins Erwachsenenleben tion im Übergang vom Mittelalter zur Renais- hart erkämpfen muss. Allesamt Getriebene von sance, die sich bis in die Jetztzeit auswirkt, ein ihrem Willen zur Macht, ihrem Streben nach Erfül- spannender Erzählstoff, eine große Familienge- lung und Liebe: die Sehnsucht nach der ersten Wolfgang Feindt schichte. Liebe von Lucrezia, die Liebe von Rodrigo zu Hauptredaktion Reihen und Serien Giulia, die entfesselte Sexualität von Juan, der (Vorabend) Im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts begann Zwiespalt von Cesare, keusch leben zu wollen Leonardo da Vinci mit der Arbeit an seinem be- und die prompte Verführung. rühmten Abendmahl, Michelangelo schuf die Pietà und Dürer malte sein Selbstporträt. In Euro- pas Städten blühte der Handel, und die Universi- täten brachten bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse hervor. Die 90er Jahre des 15. Jahr- hunderts waren zweifelsohne ein Höhepunkt in der Kulturgeschichte der Menschheit und bieten somit reichhaltigen filmischen Erzählstoff. Rodrigo Borgia, der spätere Papst Alexander VI., und seine Kinder Juan, Cesare und Lucrezia sind Teil und Rodrigo Borgia (John Doman) Ausdruck dieser Welt − eine der bedeutendsten hat einen Verlobten für Lucrezia Familien der Zeitgeschichte, was ihr öffentliches (Isolda Dychauk) gefunden

Liebe in Zeiten des Umbruchs I 85 Eine große Liebesgeschichte, eine durchtriebene eine Produktion mit vergleichbarem Aufwand. Familiengeschichte, ein atemberaubender Krimi, Dieser seltsamen Koinzidenz geschuldet, wurde bestens geeignet für ein groß angelegtes filmi- unter Hochdruck die Endfertigung unseres Pro- sches Abenteuer, an sechs Abenden zur besten gramms vorangetrieben, mit dem Ziel, zuerst auf Sendezeit, produziert von Atlantique Productions, dem europäischen Markt auf Sendung zu gehen. EOS Entertainment GmbH, in Zusammenarbeit Dieses Vorhaben konnte realisiert werden, und ab mit Etic Films und Les Borgia SAS, in europäi- dem 17. Oktober 2011 erfolgte die Ausstrahlung scher Koproduktion mit ZDF, ORF und Canal+. um 20.15 Uhr. Eine besondere Aufgabenstellung, Mit einem Gesamtetat von 25 Millionen Euro da nicht ohne Grund die ursprüngliche Fernseh- wurde »Borgia« zu einer der aufwändigsten Seri- fassung von der FSK erst ab 18 Jahren freigege- enproduktionen in Europa. Das Projekt wurde ben wurde. Gemeinsam mit dem Jugendschutz- über einen Zeitraum von vier Jahren entwickelt, beauftragten des ZDF konnte eine Schnittversion bis der Startschuss zu den filmischen Arbeiten realisiert werden, die den Einsatz des Programms erfolgen konnte. »Borgia« wurde über mehrere in der Primetime ermöglichte (Freigabe ab 12 Monate in den Prager Barrandov-Studios gedreht. Jahren), ohne historisch fälschlich zu verharmlo- Dort wurden die Sixtinische Kapelle und die Ge- sen. mächer des vatikanischen Palastes originalgetreu nachgebaut, auf dem Außengelände der Studios Zudem wurde im Anschluss an die zweite Folge zudem der Petersplatz und Straßenzüge des mit- eine von der ZDF-Redaktion Kultur und Wissen- telalterlichen Roms. Weiter erfolgten Außendrehs schaft entwickelte Dokumentation mit dem Titel in Prag und Teltsch, das mit seinen Renaissance- »Der Fall Borgia« gesendet. Um die Zuschauer- Gebäuden zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. motivation für dieses Programm im ZDF weiter zu 390 Mitglieder umfasste der Produktionsstab, stärken, wurde ein Generalvorspann gefertigt, der 1 573 Stunden Filmmaterial wurden gedreht, die zentralen Protagonisten und geschichtlichen wobei 12 Kilometer Stoff für 340 Kostüme ver- Geschehnisse vorstellt. wandt und allein 150 Perücken gefertigt wurden. Darüber hinaus wurde eine inhaltliche Zusam- Fast zeitgleich wurde in Amerika vom Sender menfassung der vorangegangenen Handlung vor Showtime TV ein Serienprojekt angeschoben, das jede Folge gesetzt mit dem Ziel, Zuschauern auch ebenfalls die Familiengeschichte der Borgias zum noch einen späteren Einstieg in den Mehrteiler zu Thema machte: mit Jeremy Irons in der Titelrolle, ermöglichen.

Giulia Farnese (Marta Gastini) erwartet ein Kind von Rodrigo

Adriana de Mila (Andrea Sawatzki) wohnt der Trauung Lucrezias bei

86 I 2011.Jahrbuch Juan (Stanley Weber) und seine Schwester Lucrezia (Isolda Dychauk)

Rodrigo Borgia (John Doman) verfolgt die Stimmauszählung im Konklave

Durch eine breit angelegte Presse- und Marke- auf die kommende, Porträts der Hauptdarsteller, tingkampagne wurde die Spannung auf den ein Gewinnspiel, die Möglichkeit, interaktiv histori- Sechsteiler gesteigert. In allen größeren Zeitungen sche Schauplätze zu besuchen sowie zahlreiche und Zeitschriften erschienen doppelseitige Anzei- Informationen zur Zeitgeschichte und einen inter- gen, und es wurden knapp 300 Trailereinsätze aktiven Stammbaum. gefahren. Am 15. September fand im Hamburger Rathaus in Anwesenheit des gesamten Darsteller- Cast und Crew von »Borgia« sind einem internati- teams und der Verantwortlichen eine Pressekonfe- onalen Publikum bekannt. Die Rolle Rodrigo Bor- renz statt, zu der fast 100 Medienvertreter begrüßt gias, des späteren Papstes Alexander VI., spielt werden konnten. John Doman, international bekannt aus »Emer- gency Room« und »The Wire«. Seine Tochter Lu- Insgesamt verfolgten somit über fünf Millionen crezia, eine der schillerndsten Frauenfiguren der Zuschauer die einzelnen Folgen. Besonders her- Renaissance, wird dargestellt von der 17-jährigen vorzuheben ist hierbei das Interesse der jüngeren Isolda Dychauk, zuletzt das Gretchen in Alexander Zuschauer: Bei den 14- bis 49-Jährigen schalte- Sokurows »Faust«-Verfilmung, der den diesjähri- ten durchschnittlich 1,33 Millionen Zuschauer ein, gen Wettbewerb um den Goldenen Löwen ge- was einem Marktanteil von 10,2 Prozent ent- wann. In weiteren durchgehenden Rollen waren sprach. Erwähnenswert sind auch die hohen Ab- unter anderen Andrea Sawatzki, Udo Kier, Vadim rufzahlen im Internet. So wurden 5,86 Millionen Glowna, Assumpta Serna, Marta Gastini und Vic- Pageimpressions des Onlineangebots zu »Bor- tor Schefé beteiligt. gia« registriert. Über die gesamte zweiwöchige Sendezeit des Projekts konnten die einzelnen Regie führte unter anderen Oliver Hirschbiegel Folgen in der ZDFmediathek abgerufen werden. (»Das Experiment«, »Invasion«), dessen Film »Der Die Abrufzahlen aller sechs Folgen lagen bei Untergang« über die letzten Tage Adolf Hitlers für 2,3 Millionen Zuschauern, was einen extrem den Academy Award (Oscar) als bester ausländi- hohen Wert darstellt. Die Abrufvideos von Teil eins scher Film 2005 nominiert wurde. Als Produzent bis vier sind in der aktuellen Hitliste aller Abrufvi- zeichnet sich der Amerikaner Tom Fontana verant- deos im aufgelaufenen Jahr unter den ersten 15 wortlich, bekannt durch die Serien »Oz« (HBO) Rängen. Teil eins ist das erfolgreichste Abrufvideo und »Homicide« (NBC), der gleichzeitig auch als im Jahr 2011. Der Onlineauftritt bot neben dem Headautor und Geschichtskenner die Bücher zu Abruf der verpassten Folge auch eine Vorschau »Borgia« entscheidend geprägt hat.

Liebe in Zeiten des Umbruchs I 87 Aufbruch in eine neue Dimension »Die Huberbuam« – Klettern in 3D

Mit der Dokumentation »Die Huberbuam« rea­ chen des Hauses zusammen, die sich für die lisierte das ZDF erstmals eine Produktion in neue 3D-Technik interessierten: Kulturchef Peter 3D. Eine Aufgabe, die die Macher vor große Arens und Alexander Hesse, Leiter der Redaktion Herausforderungen stellte und ein gewalti­ Geschichte und Gesellschaft, hatten bei der Sich- ges Know-how ins Haus transportierte, denn tung von 3D-Tierfilmen der BBC Lunte gerochen von Planung bis Sendung war das Projekt und fragten beim Geschäftsfeld Bildgestaltung eine Eigenproduktion. an, ob wir im ZDF so etwas auch hinkriegen wür- Matthias Haedecke den. Da ganz vollmundig »Ja« zu sagen, erforder- Produktionsdirektion/Leiter des Dass sich Fernsehmacher direkt der Reaktion des te Mut. Aber einige Erfahrung konnten wir bereits Geschäftsfelds Bildgestaltung Publikums stellen müssen, kommt nur ganz selten vorweisen. Kameramann Claus Köppinger hatte vor. Und so klopften die Herzen des Teams der bei der renommierten Seminarreihe »Hands on »Huberbuam« Ende September 2011 gewaltig, als HD« die 3D-Klasse absolviert, und Cutter Frank in der Konferenzzone die erste 3D-Produktion des Flick experimentierte seit einem Jahr mit soft- ZDF vorgeführt wurde. Der Andrang war gewaltig, waregestützter Wandlung von 2D nach 3D. Eine der Raum mit 250 Zuschauern bis auf den letzten Chance, noch mehr Wissen zum Thema 3D ins Platz besetzt. Aber im Dunkeln und dazu auch Haus zu holen, war uns allen willkommen. Und als noch hinter 3D-Brillen war für Regisseur Jens Mo- von Redaktionsseite feststand, die Extremkletterer nath und die anderen Crewmitglieder nicht auszu- Thomas und Alexander Huber durch die ultra- machen, wie die Leute den Film fanden. Also hieß schwere »Karma-Route« bei Berchtesgaden zu es: abwarten, bis das Licht wieder angeht. begleiten, war auch das ideale Sujet gefunden. Ist doch die Darstellung von »Steilheit«, die im zwei- Über ein Jahr hatte die Arbeit an der Kurzdoku- dimensionalen Bild extrem schwierig ist, eine tolle mentation über die Extremkletterer Thomas und Chance, in 3D eine regelrechte Sogwirkung zu Alexander Huber gedauert, und nahezu jeder erzielen. Idee vorhanden, Thema gefunden, Team Produktionsschritt hatte die Macher dabei auf zusammengestellt: Alles in Eigenproduktion – jetzt technisches und kreatives Neuland geführt. Ende sollte das ZDF zeigen, ob es auch im 3D-Bereich 2010 kamen Mitarbeiter aus verschiedenen Berei- ganz hoch hinaus kann.

Zuschauer bei der 3D-Vorführung im Konferenzzentrum des ZDF

88 I 2011.Jahrbuch Erst einmal hieß es für alle Beteiligten: büffeln. wie würde die Arbeit im Schneideraum laufen? Die Das Kernteam machte sich zu Workshops in Eng- Bearbeitung zweier Datenströme der Kameras land und Deutschland auf, um sich noch tiefer in war für eine Fernsehdokumentation ohne Beispiel, die Materie einzuarbeiten. Denn das Hinzufügen denn bislang waren nur Kinofilme oder Sport- und einer Bilddimension bedeutete für alle Beteiligten Konzertevents in 3D produziert worden. Dass Re- ein komplettes Umdenken und teilweise auch das gisseur Jens Monath und Cutter Frank Flick wäh- Ignorieren von über Jahre gelernten Fähigkeiten. rend der gesamten Schnittzeit bebrillt sein wür- In der 2D-Welt versucht der Kameramann bei- den, verstand sich von selbst. spielsweise, durch Anschnitte eines im Bildvorder- grund befindlichen Gegenstandes oder eines un- Bei allem drängte die Zeit, denn neben der »klas- scharfen Hintergrundes eine Staffelung verschie- sischen« 15-minütigen Kurzdoku, die am 3. Okto- dener Ebenen zu erreichen, um den Bildern Tiefe ber um 17.15 Uhr in 2D ausgestrahlt werden soll- zu verleihen. In 3D dagegen will er genau dies te, würde zeitgleich die 45-minütige 3D-Version vermeiden und gestaltet die Bilder durchgehend entstehen, die über die ZDFmediathek im Internet scharf. Der Zuschauer erhält so die Möglichkeit, bereit gestellt werden sollte. Nur so würde es im Bild mit den Augen »spazieren zu gehen«, so möglich sein, die Zuschauer mit 3D zu erreichen, wie er es aus der Realität gewohnt ist. denn noch ist die Anzahl von 3D-fähigen Fernse- hern in den Haushalten zu gering. Doch dieser Immer weiter tasteten sich die verschiedenen Ge- Ausstrahlungsweg wurde nicht als Verlegenheits- werke in die dritte Dimension. Doch während das lösung gewählt, sondern als willkommener An- Know-how wuchs, türmten sich auch die Schwie- lass, Internet und Fernsehen noch weiter mitein- rigkeiten. Als echte Herausforderung stellte sich ander zu verschmelzen. Während sich für jedes die Zusammenstellung des passenden Equip- Problem eine Lösung fand, blieb ein natürlicher ments heraus. Vor allem eine Kamera, die klein Faktor unberechenbar: das Wetter. Und es kam, und leicht genug war, um in der Wand ihren Dienst wie es kommen musste. Das wechselhafte Jahr zu tun, konnte erst nach langer Suche kurz vor 2011 machte den Dreharbeiten ein ums andere Drehbeginn gefunden werden. Immerhin musste Mal einen Strich durch die Route. Im Frühjahr war sie von zwei Kletterkameramännern an Seilen es der Schnee, im Sommer der Regen. Erst eine hängend in einer extra leichten Aufhängung be- Nachdrehphase im August brachte die Bilder, die dient werden können. Normale Schultercamcor- sich alle erhofft hatten. Und was für Bilder! Die der wären hier völlig fehl am Platz gewesen. Und »Huberbuam« sind nur etwas für Schwindelfreie,

Aufbruch in eine neue Dimension I 89 Regisseur Jens Monath und das Team beim Dreh

Die »Huberbuam« in der Steilwand

denn wohl noch nie ist es einer Fernsehdokumen- das ZDF einmal mehr Innovationskraft bewiesen tation gelungen, das atemberaubende Gefühl des hat. Extremkletterns so sehr einzufangen. Wenn Tho- mas Huber auf dem Bildschirm ins Seil stürzt, Die Resonanz in der Presse auf den mutigen Vor- zieht der Zuschauer hörbar den Atem ein. stoß des ZDF war riesig. Die Fachorgane lobten den Mut und die technische Perfektion, aber auch Als am 29. September das Licht in der Konferenz- Programmzeitschriften, Tageszeitungen und Wo- zone wieder anging, setzte tosender Applaus ein, chenmagazine wie die BUNTE, berichteten höchst und wohl eine komplette Felswand fiel den Ma- interessiert. Immer wieder wurde das ZDF mit der chern vom Herzen. Im Schutz der Dunkelheit Frage konfrontiert, ob die »Huberbuam« der Auf- waren die Protagonisten Thomas und Alexander takt zu weiteren 3D-Aktivitäten des ZDF seien. Huber in den Vorführraum gekommen und gingen Eine Frage, die während der Produktionszeit noch nun nach vorn auf die Bühne: Zu Recht können zweitrangig war: Galt es hier doch erst einmal, zu auch die beiden stolz sein auf einen Film, mit dem lernen und zu experimentieren.

90 I 2011.Jahrbuch Höhenrausch mit den »Huberbuam« Ein Pilotprojekt, zwei Extremkletterer, drei Dimensionen

Angefangen hat alles im Sommer 2010. 3D aber die neue Tiefendimension tatsächlich das war das Thema auf den Messen und in der Zeug, um sich zu etablieren? Doku-Branche. Jeder suchte seinen »Ava­ tar« – wir machten uns mit maßgeschneider­ In den vergangenen zwei Jahren ist die Zahl der tem Equipement auf in die Alpen. Dabei ist 3D-Kinofilme sprunghaft angestiegen. Große die Technik alles andere als neu. Kinoproduktionen wie »Harry Potter« oder »Trans- formers« wurden sowohl als 2D- wie auch als 3D- Schon der erste 3D-Film der Brüder Lumière vor Version angeboten. Die Filmindustrie investiert Alexander Hesse über 100 Jahren war das Gesprächsthema: Die kräftig. Die Welle bewegte auch das Fernsehen: Leiter der Redaktion Geschichte Kinobesucher flüchteten aus dem Vorführsaal, Gab es 2010 weltweit etwa zehn Sender, die aus- und Gesellschaft weil sie Panik bekamen, als plötzlich ein Zug wie schließlich in 3D ausgestrahlt haben, sind es von Geisterhand gesteuert vor die Leinwand trat. mittlerweile über 40. Immer häufiger hören wir bei Seitdem wurden viele weitere Anläufe mit der Drei- den Koproduktionsgesprächen: »Do you plan a dimensionalität unternommen. Meistens dann, 3D version?«. In den großen Hauptprogrammen wenn die Kinokassen und -säle leer blieben und ist die Ausstrahlung mit der dritten Dimension das Fernsehen den Vorzügen des Kinos bedenk- derweil nicht gebräuchlich. Noch ist es schwer, ein lich nahe kam. 3D war über Jahrzehnte nur ein Massenpublikum zu erreichen: Der entsprechen- Joker in der Krise der Filmindustrie. Und fast jedes de Fernsehapparat sowie die Spezialbrille für das Mal wurde eine Zeitenwende prognostiziert mit räumliche Sehen stellen noch erhebliche Hürden vollmundigen Voraussagen: Niemand käme an dar. Außerdem fehlen noch etliche Erfahrungswer- der Technik vorbei. In wenigen Jahren würden alle te. nur noch im stereoskopischen Verfahren senden. »Die Huberbuam« sollten als erste 3D-Eigenpro- Jens Monath Und schließlich hat bei der neuesten Diskussion duktion eines öffentlich-rechtlichen Senders Licht Redaktion Geschichte und ein schillerndes Projekt alles verändert. Eine Pro- ins Dunkel bringen. Wie entwickeln sich die tat- Gesellschaft duktion, die zur Nummer eins unter den Blockbus- sächlichen Kosten? Wie funktioniert der Workflow? tern wurde: »Avatar« – der erfolgreichste Film aller Wie beschwerlich ist es, die 3D-Effekte (die so Zeiten. Seitdem ist kein Monat, ja fast keine genannte »negative Paralaxe«) zu erzeugen? Un- Woche vergangen, ohne dass unsere Redaktion sere Filmidee war, die Extremkletterer Thomas mit neuen Angeboten für schicke 3D-Dokumenta- und Alexander Huber bei ihrer letzten großen Her- tionen bombardiert wurde: Ägypten in 3D, in ausforderung zu begleiten. Die bayerischen Brü- 3D, die Schlacht von Waterloo in 3D, Deutschland der gehören zur Weltklasse in ihrem Sport und von oben, von unten und von der Seite in 3D. blicken auf eine lange, an Höhepunkten reiche »Terra X«, so die Meinung von außen, könne doch Karriere zurück. Sie haben das Freiklettern in neue Vorreiter sein, so wie damals, als wir »Michelange- Dimensionen geführt, wegen ihnen musste die lo«, die erste HD-Doku des ZDF, erstellt haben. Skala der Schwierigkeitsgrade neu definiert wer- Schließlich sei ja sogar eine Dokumentation über den. Sie waren die ersten, die beim Freiklettern Tanzende ein großer Erfolg, schallte es uns entge- fast Übermenschliches leisteten: »Bei Fehlgriff tot« gen: Wim Wenders’ Film über Pina Bausch. Hat titelte einst die Süddeutsche Zeitung über die

Höhenrausch mit den »Huberbuam« I 91 Thomas und Alexander Huber sind am Ziel

selbst gewählten Herausforderungen des Dop- Höhen kommen – mit den besten Geschwindig- pels. Vor ihrem Abschied vom Hochleistungsklet- keitskletterern der Nation? Kameras und Kamera- tern wollten sie nun die »Karma-Route« bewälti- männer mussten auf den Berg und in die Wand gen, eine letzte Klettertour mit höchstem An- gebracht werden, was schon bei einer 2D-Pro- spruch. duktion eine enorme Herausforderung darstellt. Bislang existierte auch kein bergtaugliches 3D- Mit dem eher schmalen Budget für eine 15-minü- Kamerasystem. Ein halbes Jahr dauerte es letzt- tige Feiertagsdoku war immerhin ein gewisser fi- lich für Produktionsleiter Peter Borig und das nanzieller Grundstock gelegt. Wer aber würde Team, bis geeignete Kameras umgebaut waren noch einsteigen in das Projekt, wer hat Interesse und zwei Berg-Kameraleute verpflichtet werden an der Innovation? Viele waren sofort dabei: ZDF konnten. Zudem begleitete Alaric Hamacher als Enterprises hat das Projekt von vornherein mit ini- so genannter Stereograf das Projekt. Er war aus- tiiert. Das Geschäftsfeld Bildgestaltung mit Matthi- schließlich dafür verantwortlich, die 3D-Effekte in as Haedecke (siehe Aufbruch in eine neue Dimen- Abstimmung mit dem Kameramann Claus Köp- sion von Matthias Haedecke in diesem Band) war pinger und dem Regisseur Jens Monath umzuset- von Anfang an im Boot und ein Motor der Produk- zen. Entstanden ist ein facettenreiches Porträt, in tion. Auch die Hauptredaktion Neue Medien ist mit dem grandiose Kletterszenen mit bewegenden eingestiegen, ebenso der Kreativitätsfond-Aus- Statements verknüpft sind (und ein Schnittprojekt schuss, das Koordinationsbüro Produktionsma- für Cutter Frank Flick mit abenteuerlichem Spei- nagement, ZDFneo, ZDFinfo sowie die Aus- und cherdurst). Die Brüder erzählen nicht nur von Fortbildung mit Andrea Brandis. ihrem Sport, sondern auch von krisenhaften Le- benssituationen und schicksalhaften Momenten. Die Dreharbeiten fanden im Juni und August 2011 Die Offenlegungen der beiden Alpinisten waren in Berchtesgaden und in Österreich statt. Das Al- mindestens so eindrucksvoll wie die 3D-Effekte penpanorama garantierte dabei eine Kulisse mit der technischen Abteilung. Die spektakulären mehreren Bildebenen – eine gute Voraussetzung, Aufnahmen gingen deswegen unter die Haut, weil um anschauliche 3D-Effekte zu erzielen. Wie auf unsere Protagonisten viel von sich preisgaben der Theaterbühne ergibt sich nur durch die klare und tief blicken ließen. Die Bilder – auch in der Verteilung von Vorder-, Mittel- und Hintergrund schönen neuen Welt der dritten Dimension – und eine räumliche Tiefe. Wie aber mit all dem Equipe- die Geschichte verbanden sich zu einer untrenn- ment aus der Tiefe in die schwindelerregenden baren Seilschaft.

92 I 2011.Jahrbuch Die »Huberbuam« in Aktion

Die Reaktionen auf die Dokumentation, in der selbstverständlicher antrifft und antreffen wird. Ir- langen 3D-Version nur übers Netz abrufbar, fielen gendwann werden die Spezialbrillen verschwin- wie erhofft aus: »Der Film gilt in Sachen Technik, den und damit die größte Zugangsbarriere. Auch Produktionsbedingungen und Machart als weg- die bislang hohen Kosten für 3D – gegenüber weisend für 3D im Fernsehen« (Medien Bulletin), 2D-Produktionen ist ein knapp doppelt so großer »Das ZDF produziert (…) kein kleines Testvideo, Etat fällig – werden sich, wie bei anderen neuen sondern reichlich spektakuläres Extremst-Klettern technischen Verfahren, verringern. Mit den »Hu- mit den Huberbuam« (Professional Production), berbuam« haben wir die erste Etappe auf einer »Dass der Sender damit in Deutschland als Vorrei- ungewissen TV-Tour bewältigt und uns auf Neu- ter im 3D-Bereich zu gelten hat, steht wohl außer land begeben. Für Kulturchef Peter Arens dürfte Frage« (Kameramann). nun auch der nächste Schritt folgen: »Nun, wo wir Amerika entdeckt haben, sollten wir es auch be- Das Projekt hat eine Spur gezogen, auch wenn 3D siedeln«. Wir nehmen jedenfalls gerne unsere im Fernsehen noch lange eine Nische bleiben Ausrüstung und unser Wissen wieder in die Hand: wird. Fakt ist aber auch, dass man die Technik auf für einen weiteren Vorstoß in die gar nicht mehr so Spielkonsolen, Handys und Laptops immer unbekannte dritte Dimension.

Höhenrausch mit den »Huberbuam« I 93 »Der Heilige Krieg« Oder: Die Gegenwart der Vergangenheit

Welcher Programmakzent ist für den zehnten der »Heilige Krieg« sei ein fester Bestandteil ihres Jahrestag des 11. September angemessen? Glaubens, ihre Religion neige zur Gewalt. Allein im ZDF ist der Terrorakt, der die Welt erschütterte, in hunderten Programmstunden Doch militanter Islamismus ist nicht gleichzuset- beleuchtet worden. Kann man der Aufarbei­ zen mit Islam. Zudem wird oft übersehen, dass tung des Geschehens überhaupt noch etwas das Phänomen des »Heiligen Krieges« im Lauf der hinzufügen? Und wenn ja, was? Bei der Geschichte keineswegs auf den muslimischen Stefan Brauburger Suche nach Antworten entstand die Idee zur Kulturkreis beschränkt war, dass viele blutige Krie- Redaktion Zeitgeschichte Reihe »Der Heilige Krieg«. Die Filme führen ge im Namen Gottes nicht zuletzt zwischen den vor Augen, wie im Lauf der Jahrhunderte auf christlichen Konfessionen geführt wurden. Dies christlicher und muslimischer Seite religiöse galt es herauszuarbeiten. Insofern gab es wichtige Gefühle für politische Zwecke mobilisiert und Gründe, zum zehnten Jahrestag des Anschlags missbraucht wurden. Sie zeigen aber auch, auf das World Trade Center einen Programmak- dass es immer Gemeinsamkeiten gab und die zent zu setzen, der das Thema grundlegender Sehnsucht nach Frieden. spiegelt und auch historisch reflektiert.

Der 11. September ist nicht nur eine Zäsur der So beleuchtet die fünfteilige Reihe sowohl die isla- Weltgeschichte, er ist auch ein Moment, der die mische als auch die christliche Perspektive. Die Erinnerung ganzer Generationen prägt. Die Bilder Filme führen vor Augen, welchen Einfluss die von dem verheerenden Anschlag auf die Twin Denkmuster so genannter »Heiliger Kriege« auf Towers sind von prägender Symbolkraft, wecken das Verhältnis zwischen den Religionen bis heute immer noch Ängste, aber auch Vorurteile. Die Ur- haben. Die Reihe soll aber auch zeigen, dass es Georg Graffe heber des Anschlags sahen sich als Gotteskrie- immer auch das Miteinander gab und eine gegen- Hauptredaktion Kultur und ger. Al-Kaida hatte eigenmächtig den »Dschihad« seitige Befruchtung der Kulturen. Wissenschaft/Redaktion ausgerufen und wollte ihn in das Herz der westli- Geschichte und Gesellschaft chen Supermacht tragen. Seither sehen sich Nie zuvor wurde das Thema im Fernsehen so Muslime oft pauschal dem Vorwurf ausgesetzt, aufwändig und zur besten Sendezeit dargestellt.

Osama bin Laden hört die Nach- richten vom Anschlag auf das World Trade Center

Al-Kaida-Kämpfer

94 I 2011.Jahrbuch Bei der Schlacht von Tours und Poitiers im Jahr 732 wurde der Vormarsch der Muslime in Europa gestoppt

Tariq ibn Ziyad erobert das West- gotenreich in Spanien

Ein weiteres Mal, nach zwei Staffeln »Die Deut- Gründung durch Mohammed im siebten Jahrhun- schen«, haben die Hauptredaktion Kultur und dert ein. Im Gang durch die Geschichte beleuch- Wissenschaft und die Redaktion Zeitgeschichte tet die Reihe die mittelalterlichen Kreuzzüge, die miteinander kooperiert, das in Jahren gewachse- Expansion des Osmanischen Reiches und den ne Know-how eingebracht und die Autoren ge- vom deutschen Kaiser Wilhelm II. angezettelten stellt. Wieder war die Gruppe 5 mit Produzent Uwe »Dschihad« im Ersten Weltkrieg. Am Ende stehen Kersken mit der Herstellung beauftragt. Wieder Osama bin Laden und sein Terrornetzwerk Al- entstand in Zusammenarbeit mit der Hauptredak- Kaida. Immer wieder galt es, zu zeigen, dass es tion Neue Medien ein umfassendes multimediales bei allen so genannten »Heiligen Kriegen« letztlich Onlineportal. Wieder wurde das Projekt von re- vor allem um irdische Motive ging: Beute, Macht nommierten Wissenschaftlern begleitet, und ein- und Einfluss. mal mehr hat der Geschichtslehrerverband Unter- richtsmaterial zu einer historischen Dokumentar- Da es sich weitgehend um historische Stoffe han- reihe erarbeitet. delt, wurde die gesamte Reihe als szenische Dokumentation gestaltet. Lediglich bei den Fol- Dramaturgisch stellte uns das Projekt vor größere gen über den Kolonialismus und die Konflikte im Herausforderungen als die Reihe »Die Deut- 20. Jahrhundert war es möglich, Archivfilme einzu- schen«, denn dort standen prominente historische beziehen. Die erste Folge der Reihe erreichte den Figuren im Vordergrund, die den Blick in die histo- höchsten szenischen Anteil von etwa 60 Prozent, rischen Epochen ebneten. Ihr Schicksal, ihr Wer- bei Folge fünf lag er am niedrigsten. degang konnte als Leitfaden für die Filme dienen. Es ist aber ungleich schwerer, vergleichbare Pro­ An bewährten Drehorten in Marokko und Rumäni- tagonisten für ein Thema wie »Der Heilige Krieg« en – insgesamt über 60 Sets – wurden wesentli- zu finden. Denn hier ging es darum, entscheiden- che historische Momente rekonstruiert. Daran de historische Momente zu markieren, die bei- wirkten nicht nur 80 Schauspieler mit; auch 1 700 spielhaft und symptomatisch für die Tradition der Komparsentage und 200 Einsatztage für Pferde angeblich »Heiligen Kriege« waren. waren am Ende zu verbuchen.

So ergab sich eine ereignisorientierte, chronologi- Die Kameraführung wurde gegenüber früheren sche Gliederung der Reihe. Sie setzt bei der Aus- Dokumentarreihen durch mehr subjektive Einstel- breitung der muslimischen Religion nach ihrer lungen, mehr Bewegung und unkonventionelle

»Der Heilige Krieg« I 95 Gottfried von Bouillon ist einer der Führer des ersten Kreuzzugs

Gebet vor dem großen Aufbruch ins Heilige Land

Ausschnitte modifiziert – möglichst nah an den sowohl inhaltlich als auch durch die Dynamik der Protagonisten. Bei den Dreharbeiten erwies sich Kameraführung. Auf diese Weise haben wir ver- auch, wie nah Geschichte und Gegenwart beiein- sucht, die Authentizität bestimmter Schlüsselmo- ander liegen können. Einige wichtige Szenen mente im Film durch die Schilderungen und wurden in der Innenstadt von Marrakesch aufge- Kommentare von Experten zu unterstreichen. In nommen. Während der Dreharbeiten ereignete dieser Verwebung von Statement und Film liegen sich der blutige Anschlag Al-Kaidas auf dem noch weitere Potenziale, um wissenschaftliche »Platz der Gehenkten«, in dessen unmittelbarer Expertise ansprechend darzustellen. Nähe das Team wohnte und arbeitete. Es war zu befürchten, dass die Regierung Drehgenehmi- Aufwändige CGI (Common Gateway Interface) gungen zurücknimmt oder die Filmemacher auf- verschaffen der Reihe in weiten Passagen einen fordert, das Land zu verlassen. Dazu kam es zwar kinoartigen Look: Etwa bei Massenszenen wie der nicht, doch es blieb spannend. Am 2. Mai 2011 Schlacht bei Tours im Jahr 732, bei der Belage- ging die Nachricht vom Tod Osama bin Ladens rung Wiens 1683 oder beim Triumphzug Wil- um die Welt. Das Drehteam arbeitete gerade an helms II. durch Jerusalem. einer Szene mit dem von einem Schauspieler dar- gestellten Al-Kaida-Führer. Die Realität hatte das Über 100 so genannte Compositings wurden ge- Projekt nicht nur eingeholt, sondern überholt. Dem fertigt: Das sind Kombinationen von nachgestell- Drehbuch wurde eine weitere Szene hinzugefügt: ten Szenen mit aufwändigen Computerrekonst- »Osamas Ende« – gedreht wurde diese allerdings ruktionen historischer Schauplätze. Dadurch kann in Deutschland. man die Schauspieler in eine historische Kulisse einbetten, die gar nicht mehr vorhanden ist. Auch Nicht nur bei der Gestaltung der Szenen stimmten hier half der Rat der Experten. Anhand von histori- sich die Autoren mit historischen Fachberatern ab. schen Aufzeichnungen, Bauplänen und anderen Auch bei dieser Reihe galt der Grundsatz, den Überlieferungen gelang es, originalgetreue aktuellen Stand der Forschung zur Geltung zu Schauplätze zu rekonstruieren, etwa das frühe bringen. Stärker als etwa bei der Reihe »Die Deut- Mekka oder das mittelalterliche Jerusalem. Bei schen« haben wir diesmal auf eine direktere Ver- der Darstellung von Schlachten wurde nicht nur zahnung zwischen den Statements der Fachbera- auf die möglichst genaue Rekonstruktion des Ge- ter und dem filmischen Ablauf geachtet, um die schehens geachtet, sondern auch auf die land- Aussagen organischer einzubinden. Und zwar schaftlichen Verhältnisse.

96 I 2011.Jahrbuch Auch bei dem Projekt »Der Heilige Krieg« be- sierung und neue Impulse zur Lösung des Nah- schränkt sich das redaktionelle Angebot nicht nur ost-Konflikts, aber auch Sorgen: Wie viel Nähe auf die Filme. Wie schon bei den »Deutschen« bot oder Ferne zum Westen steckt in den Befreiungs- das ZDF in Zusammenarbeit mit dem Verband der bewegungen, inwiefern könnten islamistische Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) zu allen Gruppen an Einfluss gewinnen? Wird sich die fünf Folgen didaktisch aufbereitetes Material zum junge »Arabellion« als resistent gegen fundamen- Download an – von Lehrern für Lehrer erarbeitete talistische Einflüsse erweisen? Wie wirkt sie sich Materialien, mit Anregungen zur Gestaltung des auf die Sicherheitsarchitektur des Nahen Ostens Unterrichts. In Zusammenarbeit mit ZDF.de ent- aus? stand ein reichhaltiges crossmediales Angebot in einem umfangreichen projektbegleitenden On- Jetzt ist der Zeitpunkt, das Erbe der Vergangen- lineportal. Der User wird dadurch in die Lage ver- heit gemeinsam zu reflektieren. Eine solche Kom- setzt, mithilfe eines Zeitstrahls, einer Ereigniskarte munikation braucht zuallererst die Bereitschaft, und Schlagwörtern wesentliche Facetten der Be- etwas über den anderen erfahren zu wollen. Er ziehungsgeschichte von Christen und Muslimen bedeutet, neugierig auf das andere zu sein, sich zu ergründen. über Gemeinsames und Unterscheidendes aus- zutauschen. Ohne Wissen übereinander gibt es Dabei zeigt sich, wie Geschichte immer wieder in kein Verständnis füreinander. die Gegenwart ragt. Die fünf Filme und Begleitma- terialien führen vor Augen, wie über die Jahrhun- Wie viel Einvernehmen gibt es mit Millionen von derte auf beiden Seiten der Glaube für politische islamischen Mitbürgern hierzulande, im Bemühen Zwecke instrumentalisiert wurde, wie dabei Denk- um Freiheit, Toleranz, Pluralismus, Demokratie muster entstanden, die zum Teil heute noch wirk- und Frieden? Gemeinsam gilt es sicherzustellen, sam sind. Dabei soll es nicht nur um die Frage dass sich religiöse Normen nicht über Prinzipien gehen, was trennte, sondern auch, was einte, und der freiheitlichen Verfassung erheben. welche Gemeinsamkeiten es im Kampf gegen jede Form von religiösem Extremismus heute gibt. Dazu zählt auch der Konsens darüber, dass so genannte »Heilige Kriege«, von wem auch immer Die arabische Welt befindet sich im Umbruch. Es sie geführt werden, nie heilig sind und dass sie gibt begründete Hoffnungen auf eine Demokrati- einer vergangenen Zeit angehören.

»Der Heilige Krieg« I 97 Der »ZDF-Fernsehgarten« 25 Jahre Musik, Show und Service nah am Zuschauer

Im Jahr 1986 hat sich das ZDF mit dem »ZDF- Dann musste alles sehr schnell gehen, man wollte Fernsehgarten« ein ganz außergewöhnliches schließlich bereits wenige Monate später auf Sen- Sendungspflänzchen in den Garten gestellt. dung gehen. Nicht nur die Inhalte zur Sendung Damals ahnte noch niemand, dass es über wurden von der damals dreiköpfigen Redaktion einen derart langen Zeitraum erfolgreich geplant, auch das Gelände musste in Zusammen- wachsen und sich ausbreiten würde. arbeit mit allen Fachbereichen auf die bevorste- henden Programmpunkte und die Besucherinnen Christoph Hillenbrand Vor 25 Jahren, am 29. Juni 1986, betrat man im und Besucher vorbereitet werden. In einem riesi- Stoffführender Redakteur in der ZDF mit dem »ZDF-Fernsehgarten« echtes Fern- gen Kraftakt wurde das Gelände umgestaltet und Hauptredaktion Show sehneuland. In Gesprächen, die man mit den Pio- funktionell ausgebaut. nieren und Gründungsvätern der Sendung führt, spürt man die große Energie, die trotz aller In den ersten Sendungswochen des »ZDF-Fern- Schwierigkeiten vom Start des Formats ausging sehgartens« mussten Redaktion, Produktion und und die dieses auch heute noch antreibt. alle beteiligten Gewerke einem Zuschaueransturm gerecht werden, der so nicht absehbar gewesen Im Jahr 1985 hatte der damalige Intendant, Pro- war. Der kostenlose Eintritt, die Zusammenarbeit fessor Dieter Stolte, die Idee, auf einer großen mit einer großen deutschen Sonntagszeitung und Freifläche auf dem Gelände des ZDF einen »Som- das Staraufgebot ließen die Sendung innerhalb mergarten« zu installieren. Eine Arbeitsgruppe weniger Wochen bundesweite Popularität errei- unter der Federführung des damaligen Pro- chen. Kamen zur ersten Sendung statt der erwar- grammdirektors Alois Schardt entwickelte das teten 350 Zuschauerinnen und Zuschauer bereits Konzept einer Art »Sonntagszeitung« im Fernse- etwa 1 000, so steigerte sich dies in den folgen- hen. Inhaltlich sollte es eine Mischung aus Unter- den Wochen bis hin zu 5 000 Besucherinnen und haltung und journalistischer Information sein. Die Besucher. Dem war die Infrastruktur nicht ge- Umsetzung wurde im Januar 1986 in die Hände wachsen, und so musste beispielsweise schon der Redaktion Show III unter der Leitung von Ha- nach wenigen Wochen ein neuer Rollrasen gelegt rald Müller gelegt. werden.

Ilona Christen, die erste Modera- torin des »ZDF-Fernsehgartens«

Ramona Leiß mit Fernsehkoch Johann Lafer

98 I 2011.Jahrbuch Inhaltlich hatte man sich auf die Fahne geschrie- Sendungen gewesen, die er je gesehen habe. ben, am Sonntagvormittag Attraktionen in die Das im Jahr 1997 auf der zentralen Spielfläche deutschen Wohnzimmer zu bringen, die man angebrachte Dach wurde für die Sendung jedoch noch nie im Fernsehen gesehen hatte oder bes- eine dringend notwendige Entlastung und wichtig tenfalls aus großen Abendshows kannte, dazu für einen neuen Sicherheitsstandard. Artisten und Service und Information. Man versprach in Trailern Künstler konnten so auch bei schlechten Wetter- und Zeitungsanzeigen »Fernsehen zum Anfas- verhältnissen auftreten. sen«. Spiegelbild dessen wurde die erste »Fern- sehgärtnerin« Ilona Christen und fortan alle Mode- In den folgenden Jahren konnte der »ZDF-Fern- ratorinnen und Moderatoren, aber auch promi- sehgarten« seine Stellung in der TV-Landschaft nente Gäste, die stellvertretend für die Zuschauer halten und sogar ausbauen. Nationale und inter- alles mitmachten und ausprobierten. nationale Künstler gaben sich die Klinke in die Hand. So fanden waghalsige Artistiken und spek- Nach den ersten acht erfolgreichen Wochen takuläre Stunts statt, Raketenautos und alle mög- wurde das ganze Team des »ZDF-Fernsehgar- lichen Arten von fahrbaren Untersätzen trafen hier tens« auf eine harte Probe gestellt: Die Sendung aufeinander, Hubschrauber und sogar ein Düsen- vom 24. August 1986 war völlig verregnet. Auf- jet landeten auf dem Gelände. Vor allem auch im grund des riesigen Zuschauerzuspruchs von technischen Bereich verstand sich der »ZDF- 1 500 Besucherinnen und Besuchern entschied Fernsehgarten« von Anfang an als Vorreiter, ob es man sich entgegen vieler Warnungen, die Sen- um neue Ton- und Kamerasysteme oder den dung im strömenden Regen live zu senden und Wechsel von analogen zu digitalen Welten ging. nicht in das parallel angemietete Studio 3 auszu- Für eine Openair-Sendung auf einem sehr großen weichen, welches höchstens 200 Menschen Platz Gelände waren stets besondere Lösungen mit geboten hätte. Die Entscheidung war goldrichtig. einem hohen Maß an technischer Kompetenz ge- Ilona Christen moderierte gewohnt fröhlich mit fragt. Als Eigenproduktion ist der »ZDF-Fernseh- Regenschirm, die Künstler traten barfuß oder mit garten« mitten im ZDF verwurzelt und ein beson- Schwimmflossen auf, und die Formationstänzer deres Erfolgs- und Identifikationsmerkmal für alle zeigten ihr Können in Regenmänteln und Gummi- beteiligten Kolleginnen und Kollegen. Die kontinu- stiefeln. Am nächsten Tag meldete sich Professor ierlich gut abgestimmte Zusammenarbeit zwi- Dieter Stolte bei Ulrich Erdt, dem verantwortlichen schen Produktion, Redaktion und allen beteiligten Redakteur, und bemerkte, dies sei eine der besten Fachbereichen ermöglicht seit vielen Jahren eine vorausschauende und verantwortliche Planung und Durchführung bei einem relativ kleinen Bud- get. Ein ganz eigener Wert war und ist dabei der Spaß, mit dem alle Kollegen zusammenarbeiten.

Das Jubiläumsjahr 2011 brachte spannende Her- ausforderungen für die Moderatorin Andrea Kie- wel und das Team. Es galt, das Interesse der Zu- schauerinnen und Zuschauer an Retro-Elementen mit der gewohnt aktuellen und modernen Unter- haltung zu verknüpfen. Im Laufe der Vorbereitun- gen wurde schnell klar, dass wir dieses Jubilä- Andrea Kiewel mit Armin Roßmeier

Der »ZDF-Fernsehgarten« I 99 umsjahr nicht nur in Feierlaune verbringen und spektakuläre Programmpunkte auf die Beine stel- Die Moderatorinnen und Moderatoren des len wollten, sondern unseren Erfolg nutzen, um »ZDF-Fernsehgartens« uns für eine gute Sache einzusetzen. So konnten am Pfingstwochenende und in der »XXL-Fernseh- Ilona Christen moderierte den »ZDF-Fernseh- garten-Nacht« im Rahmen der »25-Stunden- garten« von 1986 bis 1992 Rutsch-Aktion« 22 222 Euro für den Ausbau des Außengeländes einer integrativen Kindertages- Ramona Leiß moderierte den »ZDF-Fernseh- stätte gesammelt werden. Für die Redaktion be- garten« von 1993 bis 1999 deutete dies, über acht Stunden Programm zu stemmen. Darüber hinaus wurde natürlich auch Andrea Kiewel moderiert den »ZDF-Fernseh- gefeiert. Zum Auftakt überraschte uns unser Chef- garten« seit 2000 (Ausnahme: 2008) koch Armin Roßmeier mit einer riesigen Torte in Form des »ZDF-Fernsehgarten-Geländes«, wel- Im Jahr 2008 moderierte Ernst-Marcus Thomas ches er mit einem Team von 25 Konditoren herge- den »ZDF-Fernsehgarten« stellt hatte. Zum Staunen gab es eine große Artis- tik mit dem »Vertical Orchestra«, und die Modera- torin Andrea Kiewel wagte sich in einen Stunt, bei dem sie unter einem Helikopter festgeschnallt Der »ZDF-Fernsehgarten« in Zahlen über das Gelände flog. Während der ganzen Sai- son erreichten uns viele prominente Geburtstags- 1 402 323 Personen besuchten seit 1986 den grüße aus der Medienwelt, die wir immer wieder in »ZDF-Fernsehgarten« als Zuschauer den Sendungen zeigten. Wir konnten auch in diesem Jahr sowohl mit den monothematischen 2 827 musikalische Gäste traten von 1986 bis Sendungen (Mann/Frau, Fernsehgarten Royal, 2011 auf Niederlande, Mallorca-Party, 125 Jahre Automobil, Oktoberfest und das 25-Jahre-Fernsehgarten- Der Openair-Studiobereich misst zirka 30 000 Quiz) als auch mit den Regelsendungen einen Quadratmeter großen Zuspruch bei den Zuschauern erreichen. 12 Kameras kommen pro Sendung zum Ein- Zu guter Letzt ist es mir persönlich sehr wichtig, satz allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die seit der Gründung des »ZDF-Fernsehgartens« ihre Etwa 150 Personen arbeiten am Wochenende Beiträge zum anhaltenden Erfolg geleistet haben, am Gelingen des »ZDF-Fernsehgartens« einen herzlichen Dank auszusprechen. In der Sommerzeit tragen am Wochenende etwa 150 15 Requisitencontainer und 600 Meter Ab- Kolleginnen und Kollegen dafür Sorge, dass alles sperrgitter werden benötigt reibungslos abläuft. Besonders herzlich möchte ich mich noch bei Ulrich Erdt und Gaby Stingl Seit 2000 erreichte der »ZDF-Fernsehgarten« bedanken, von denen ich in diesem Jahr viel über durschnittlich 19,4 Prozent Marktanteil und bis die Geschichte und die Geschichten des »ZDF- zu 2,88 Millionen Zuschauer Fernsehgartens« erfahren habe.

100 I 2011.Jahrbuch Das ganze Leben ist ein Quiz Jörg Pilawa und die Faszination der Quizshow

Quizshows gehören gewissermaßen zum ben. Wer heutzutage an Quizshows denkt, denkt Inventar des deutschen Fernsehens und zur zuerst auch an Jörg Pilawa – wer an Jörg Pilawa Grundausstattung eines jeden großen Sen­ denkt, denkt an Quiz. Eine perfekte Symbiose von ders. Spielerische Wissensvermittlung mit Moderator und Genre. Davon träumt jeder Show- Mehrwert und Emotionen – das ist perfekte master, aber auch jeder Sender. öffentlich-rechtliche Unterhaltung. Jörg Pila­ wa setzt im ZDF seit einem Jahr neue Trends Die Gründe für seinen Erfolg liegen auf der Hand: und eine große Tradition fort. Pilawa hat eine ehrliche Neugier auf seine Kandi- Andreas Gerling daten, er hat eine authentische, menschliche und Hauptredaktion Show/ Die erste große Unterhaltungssendung im deut- dennoch humorvolle Art, mit Kandidaten umzuge- Programmbereich Quiz und Formatentwicklung schen Fernsehen war 1953 eine Quizshow, mode- hen. Und Pilawa hat einen großen Hunger auf riert von Hans-Joachim Kulenkampff. Es gibt neue Spiel- und Showideen. Für mich ist Jörg weltweit kaum ein Land, das eine so große Vielfalt Pilawa der Hans Rosenthal der Neuzeit – und das an Quizshows vorzuweisen hat wie Deutschland. ist das größte Kompliment, das ich einem Show- Quizshows gehörten schon immer zu den erfolg- master machen kann. Beide verbindet eine große reichsten und beliebtesten Sendungen im deut- Kreativität, sehr viel Fleiß und eine wunderbare schen Fernsehen – übrigens auch in der DDR –, Art, ihre Kandidaten und die Sendungen in den die Deutschen lieben Ratesendungen. In den An- Mittelpunkt zu stellen und nicht sich selbst. fangsjahren lockten als Gewinn zum Beispiel Lebensmittel, heute sind es hohe Gewinnsum- Bislang hat Pilawa im ZDF vor allem »Rette die men, die für viele Zuschauer einen besonderen Million!« präsentiert. Eine für das ZDF ungewöhn- Reiz bedeuten. Kandidaten mit einem großen liche und spannende Gameshow, die aus Groß- Wissen faszinieren seit jeher und werden – zumin- britannien nach Deutschland kam. Nachdem die dest zeitweise – zu nationalen Helden. Auch das Show am Anfang noch nicht der perfekt zuge- ZDF kann auf eine lange Geschichte mit beliebten schnittene Maßanzug für den Moderator war, hat Quizshows zurückblicken: »Der große Preis« mit er sie im Laufe des Jahres zu seiner Show ge- Wim Thoelke und »Dalli-Dalli« mit Hans Rosenthal macht, mehr Emotionalität in die Show gebracht sind bis heute unvergessen und gehören zu den und das Wissen der Kandidaten in den Vorder- ganz großen Klassikern des Fernsehens. grund gerückt. Die Zuschauer honorieren das: »Rette die Million!« ist inzwischen auf Erfolgskurs, Mit Jörg Pilawa hat das ZDF heute einen der gro- auch bei jungen Zuschauern. ßen Quizshow-Moderatoren des deutschen Fern- sehens an Bord. Eigentlich wollte Pilawa im ZDF Unterhaltung bedeutet in der Regel immer auch zunächst eine Late-Night-Talkshow moderieren. Experiment. Jörg Pilawa steht genau dafür. In den Zum Glück kam es anders: Gute Talkmaster gibt vergangenen zehn Jahren hat er immer wieder es neben Pilawa einige, gute Quizmoderatoren neue Show-Ideen realisiert, das Thema Bildung in und Showmaster nur sehr wenige. Jörg Pilawa hat seinen »PISA«-Shows für ein Millionenpublikum das Quiz-Genre seit mehr als zehn Jahren ent- samstagabendfähig gemacht oder in seiner scheidend geprägt, modernisiert und vorangetrie- »Geschichtsshow«-Reihe im Ersten historisch re-

Das ganze Leben ist ein Quiz I 101 Pilawa, der Mann mit der Million

Spannendes Märchen-Raten: Pilawa und die kleinen Kandidaten

levante Themen für ein großes Publikum attraktiv nen? Diese Fragen hat Pilawa in der Show ge- aufgearbeitet. Jetzt kommt es für ihn und vor meinsam mit Wissenschaftlern beantwortet. Im allem für das ZDF darauf an, den nächsten Schritt Bereich Wissenschaftsshow liegt eine entschei- zu gehen und diese Genres weiterzuentwickeln, dende Stärke von Unterhaltungsformaten: Das zu modernisieren und neue Bereiche der Unter- menschliche Gehirn und seine ungewöhnlichen haltung zu erschließen. Drei Kerngenres der Un- Leistungen. In Form einer gut gemachten Doku- terhaltung wird Jörg Pilawa künftig im ZDF bespie- mentation finden diese Themen sicher ein geneig- len: Quiz, Wissen und Family-Entertainment. tes Publikum – als spektakuläre Show zum Stau- nen und Mitmachen erreichen sie gar ein Millio- Pilawa ist einer der großen Familien-Entertainer. nenpublikum. Genau hier zeigt sich, was Seine herausragende Qualität in diesem Bereich Unterhaltung bewegen kann. hat er mit »Deutschlands fantastische Märchen- show« bereits bewiesen. Diese Show war eine Wissenschaftsshows sind die perfekte Bühne für neue Spielform, eine Mischung aus Ranking und Jörg Pilawa. Denn es gibt kaum einen Moderator Quizshow. Und wenn man so will – eine Literatur- im deutschen Fernsehen, der selbst komplizierte sendung für Millionen. Das ZDF hat damit das Zusammenhänge so leicht verständlich und den- Märchengenre neu definiert – Märchen von den noch so unterhaltsam präsentieren kann wie er. Brüdern Grimm bis zu Harry Potter, Shrek und Co. Der Bereich des Familiy-Entertainments soll 2012 Auch 2012 wird Jörg Pilawa im ZDF als Quizmas- im ZDF mit Jörg Pilawa und weiteren Shows aus- ter auftreten, mit einem neuen Quiz, das – im Ge- gebaut werden. gensatz zu »Rette die Million!« – keine internatio- nale Adaption sein wird. Das ZDF wird dieses Mit »Deutschlands Superhirn 2011« hat Pilawa in neue Format für ihn maßschneidern. Auch fast 60 diesem Jahr seine erste große Wissenschafts- Jahre nach der ersten Quizshow im deutschen show im ZDF präsentiert. Im Mittelpunkt der Show Fernsehen ist der Anspruch für ein neues Quiz im standen Kandidaten, die zu unglaublichen geisti- ZDF: Es muss frisch, unverbraucht und unver- gen Höchstleistungen in der Lage sind, Kandida- wechselbar daherkommen. Es muss das Genre in ten, die Millionen Zuschauer verblüfft und faszi- Qualität und Inhalt stets neu definieren. Das ist der niert haben. Wie funktionieren diese spektakulä- Maßstab, an dem wir uns messen lassen und mit ren Gedächtnisleistungen, und kann ich als dem wir die Zuschauer überraschen und gewin- Zuschauer das – zumindest teilweise – auch ler- nen wollen.

102 I 2011.Jahrbuch Traditionsformate modernisieren Wie das Hauptprogramm erneuert wird

Traditionen pflegen und modernisieren – für Wenn sich die Ereignisse überstürzen, wächst bei das ZDF-Hauptprogramm geht das zusam­ den Zuschauern auch das Bedürfnis nach konti- men. Wir haben starke Traditionskerne. Doch nuierlicher Information. Dem kam das ZDF mit die können wir nur weiter nutzen, wenn wir einem Sonderprogramm auf ZDFinfo nach. Wäh- sie neu definieren. Wichtige Impulse bieten rend der arabischen Revolution zeigte der Digital- dabei die Digitalkanäle und die Onlineange­ kanal Livebilder des Senders Al-Arabiya, die ZDF- bote. Experten einordneten. Nach der Atomkatastrophe von Fukushima sendete ZDFinfo nach dem glei- Peter Frey Am Puls der Zeit sein – was das bedeutet, haben chen Prinzip Bilder des japanischen Senders Chefredakteur wir in den Sendungen des ZDF im Jahr 2011 nur NHK. Das Zuschauerinteresse an allen Zusatzan- zu gut zu spüren bekommen. Denn der Puls der geboten war sehr groß. Auch die Onlineangebote Zeit war in diesem Jahr der Ereignisse so kräftig des ZDF stießen auf enormes Interesse. So folg- und drängend wie selten. In der arabischen Welt ten zum Beispiel Tausende User den ZDF-Repor- stürzte eine junge Demokratiebewegung alte tern in Libyen auf Twitter. Machthaber. Nach dem Erdbeben und dem Tsu- nami in Japan hielt das Reaktorunglück von Fuku- Am Puls der Zeit sein – das heißt es aber auch für shima die Welt in Atem. In sieben deutschen das ZDF-Programm insgesamt. In Zeiten des ra- Bundesländern wählten die Bürger neue Länder- santen technischen Wandels muss man dazu oft parlamente. Und die Finanzkrise ließ Europa um Neues schaffen – wie die Digitalkanäle oder die die gemeinsame Währung und den Zusammen- Onlineauftritte. Da heißt es: neue Plattformen be- halt bangen. spielen, zum Beispiel die Sozialen Netzwerke, neue Formate entwickeln und die gestiegenen Es war ein Jahr der Sonderanstrengungen, der Bedürfnisse der Zuschauer nach Kommunikation »ZDF spezials«, der Online-Nachrichtenticker. Un- und Interaktion bedenken. Doch Hauptprogramm, ermüdlich berichteten unsere Korrespondenten Digitalkanäle und Onlineangebote, das sind keine Dietmar Ossenberg, Stephan Hallmann, Johan- Säulen, die einfach so nebeneinander stehen. Es nes Hano, Antje Pieper und Udo van Kampen aus sind verbundene Projekte, die ineinander greifen. Ägypten, Tunesien, Libyen und Japan, aber auch Mit einem gemeinsamen Ziel: der Modernisierung aus den europäischen Krisenzentren Rom, Brüs- des ZDF als Ganzem und der Modernisierung des sel und Athen. Die Redaktionen ordneten ein und Hauptprogramms. lieferten Hintergründe. Es war ein Jahr des leiden- schaftlichen Journalismus. Und es war auch ein Denn das ZDF hat starke Marken, die wir auch in Jahr, das deutlich gemacht hat, wie wichtig das Zukunft nutzen sollten. Doch wir müssen diese ZDF für die Zuschauer als Informationsquelle ist. Traditionskerne neu definieren. Modernisierung So zeigte das ZDF nach der Atomkatastrophe von geht dabei verschiedene Wege. Optische, perso- Fukushima tagsüber »heute spezial«-Sendungen, nelle und inhaltliche Komponenten spielen zu- nach der 19-Uhr-Sendung fassten »ZDF spezials« sammen. Ein gutes Beispiel für diese Entwicklung die Ereignisse des Tages zusammen. Das »heute- ist das Wirtschafts- und Verbrauchermagazin journal« ging immer wieder in die Verlängerung. »WISO«. Die Sendung ist ein wahres ZDF-Traditi-

Traditionsformate modernisieren I 103 onsprodukt seit inzwischen 27 Jahren. 2011 hat ratoren stellen. Die Palette reicht von inhaltlichen sie nicht nur einen neuen, moderneren Look be- Nachfragen bis zu Fragen zum Bau der Sendung kommen. Mit Martin Leutke und Marcus Niehaves und zur Themenauswahl. Im Anschluss an die führt auch ein neues, junges Leitungsteam die Nachrichtensendung beantworten Redakteure Redaktion. In der Moderation treffen sich Tradition und Moderatoren live die Fragen der Zuschauer. und Erneuerung. Martin Leutke und Michael Opo- czynski führen abwechselnd durch die Sendung. Die Redaktion kommt so mit ihrem Publikum ins Dazu kommt eine inhaltliche Neujustierung. Ser- Gespräch. Die Ergebnisse des Austauschs fließen vice verbindet Zuschauer und Redaktion. Und in die Sendung im Hauptprogramm zurück. Im deshalb setzt die Sendung in ihrer neuen Form Bereich der Europaberichterstattung kommen Im- deutlich stärker auf Interaktion. Die Moderatoren pulse auch von der Sendung »Europa plus«. Das beziehen das Publikum im Studio ein. Und auch wöchentliche Magazin auf ZDFinfo betrachtet eu- die Onlineredakteure sind während der Sendung ropäische Themen aus einer jungen Perspektive ständig präsent. So können sich Internetuser di- und setzt auch stark auf den Dialog mit den Zu- rekt beteiligen und zum Beispiel Fragen an die schauern. Experten stellen. Modernisierung heißt für das ZDF auch Moderni- Zusätzlich bekommt »WISO« Impulse aus dem sierung der Verbreitungskanäle. Das traditionelle, Digitalkanal ZDFinfo, der am 5. September starte- zeitgebundene Fernsehen ist eben nur ein Aus- te. Dort läuft werktäglich »WISO plus«. Die viertel- spielweg für die Kernprodukte des ZDF. Junge stündige Sendung vertieft die Themenbereiche Zuschauer sind mobil, sie wollen die Nachrichten Recht, Technik, Umwelt, Leben und Geld speziell auch mobil nutzen. Im Internet und auf Facebook für ein junges Publikum. Die Redaktion ist wieder- ist die »heute«-Familie schon länger präsent. 2011 um im Internet sehr aktiv mit einem eigenen Blog kam nicht nur ein Auftritt im Sozialen Netzwerk und Auftritten bei Facebook und Twitter. In die Google+ dazu. »heute« und »heute-journal« sind »WISO«-Sendungen im Hauptprogramm gehen nun auch als Livestream über die Webseiten von von »WISO plus« Themenideen, aber auch Rück- heute.de und .de zu sehen. Außerdem gibt es meldungen aus dem Netz ein. »WISO« ist im Kern seit diesem Jahr die App für die ZDFmediathek. »WISO« geblieben. Doch gleichzeitig hat die Sen- Damit lassen sich die Sendungen des ZDF auf dung ein neues, moderneres Gesicht bekommen mobilen Geräten verfolgen, sowohl live als auch und wird mehr und mehr auch ein Angebot für die jederzeit als Video-on-Demand. Generation der 14- bis 49-Jährigen, die dem ZDF fehlt. Eine Folge des Ereignisjahrs 2011 ist auch die Stärkung der Nachrichtensendungen am Vormit- Mitten im Modernisierungsprozess befindet sich tag. Ab Anfang 2012 wird es jede Woche von »heute«, die Hauptnachrichtensendung des ZDF. Montag bis Freitag um neun und um zwölf Uhr Das Ziel ist es, noch näher an die Zuschauer her- »heute«-Sendungen geben. Das ermöglicht es anzukommen. Auch dabei kommen wichtige Im- dem ZDF nicht nur, schneller auf Ereignisse zu pulse aus der digitalen Welt. Auf ZDFinfo ist die reagieren. Es wirkt auch auf die Onlineangebote Sendung »heute plus« angelaufen. Immer mitt- zurück. Videomaterial des ZDF kann nun noch wochs können die Zuschauer dort während der schneller seinen Weg ins Netz finden. Das ist für Sendung im Chat über den Internetauftritt von die Internetangebote des ZDF sehr wichtig, denn heute.de Fragen an die Redaktion und die Mode- die setzen stark auf Bewegtbild.

104 I 2011.Jahrbuch »heute« und »WISO« sind nur besonders markante daktion Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen in Beispiele für die Modernisierung des ZDF-Haupt- dokumentarischer Form. Das Format ist dadurch programms. Ziel ist es, bis Sommer 2012 alle hintergründiger und konzentrierter. Sendungen der Chefredaktion im ZDF zu erneu- ern. Vieles ist schon geschehen. Das »heute- Neues Konzept und neuer Sendeplatz, das hieß journal« ist mit einem neuen Design näher an die es für die ZDF-Dokus. Mit »ZDFzoom« ist eine Zuschauer herangerückt. Mehr Kommentare stär- ganz eigene Art der Dokumentation mit einer eige- ken die analytische Dimension der Sendung. nen Bildästhetik entstanden. Die Autoren rücken nah an ein Thema heran. Der Zugang ist investi- »maybrit illner« – ein weiteres Traditionsformat im gativ. Der ZDF-Doku-Platz ist jetzt der Mittwoch- ZDF-Hauptprogramm – feierte in diesem Jahr die abend um 22.45 Uhr. An anderer Stelle und mit 500. Sendung. Das Format ist ebenfalls moderni- anderem Fokus läuft auch das Traditionsformat siert worden. Ziel war eine stärkere Fokussierung. »ML mona lisa«. Aus dem Frauen- ist ein Gesell- Die neue Sitzordnung macht intensivere Gesprä- schaftsmagazin geworden, das sich unter dem che möglich. Die Zuschauer sind näher am Ge- Claim »Frauen, Männer & mehr« Themen der mo- schehen. Und über einen großen Flachbildschirm dernen Lebenswelt widmet. Am neuen Sendeplatz sind interaktive Elemente eingebunden. am Samstagnachmittag gibt es auch eine neue Moderatorin: Barbara Hahlweg. Einen neuen Look haben das »ZDF-Morgenmaga- zin«, das »ZDF-Mittagsmagazin« und das politi- Oft sind es viele kleine Stellschrauben, an denen sche Magazin »Berlin direkt« bekommen. Auch gedreht werden muss, um ein Traditionsformat das »auslandsjournal« und »Frontal 21« senden moderner zu machen. Und dabei ist klar: Moder- aus neuen Studios. Durch »das aktuelle sportstu- nisierung ist nie abgeschlossen. Das gilt beson- dio« führt mit Sven Voss ein neuer, jüngerer Mode- ders angesichts des rasanten Wandels in der digi- rator. Er gibt dem Generationswechsel, der sich talen Welt. Aber wer wäre besser auf diesen bei dem erfolgreichen Sportformat vollzogen hat, Wandel eingestellt als wir Journalisten. Das Ereig- ein Gesicht. nisjahr 2011 hat gezeigt, wie viel sich in wenigen Stunden verändern kann. Darauf professionell zu Im Jahr 2011 gab es noch mehr Neuerungen: Aus reagieren, ist einfach unser Job. Und so sehen wir dem Magazin »ZDF.umwelt« ist »planet e.« gewor- auch die Arbeit an unseren Formaten als »Work in den. Mit dem neuen Konzept nähert sich die Re- progress«. Es pulsiert also weiter im ZDF.

Traditionsformate modernisieren I 105 Moderne Technik sprengt alte Fesseln Die Revolution in der arabischen Welt

Das Jahr 2011 wird vielleicht als Geburts­ Kalaschnikows bewaffnet. Aber das Internet hat stunde der modernen arabischen Welt in die zusammen mit den jungen internationalen arabi- Geschichte eingehen. Wie aus dem Nichts schen Satellitenkanälen wie Al-Jazeera entschei- stürzten Herrscher vom Thron, deren Macht dend dazu beigetragen, die Revolution in den in Stein gehauen schien: Ägyptens »Pharao« Köpfen der Menschen zu entfachen. Ohne diese Hosni Mubarak, Libyens »König der Könige« die Grenzen und die jeweilige Zensur überschrei- Muammar al-Gaddafi oder Tunesiens Zine el- tenden elektronischen Medien wäre es 2011 wohl Stephan Hallmann Abidine Ben Ali. Was war geschehen? kaum so weit gekommen. Aber, wie weit ist es Hauptredaktion Politik und denn gekommen? Zeitgeschehen/Außenpolitik Ich habe sie lange Zeit nicht verstanden, die Zei- chen der Zeit. Wie oft bin ich an einem der im Mutige Menschen in Ägypten, Libyen, Tunesien, Orient zu Hunderten aus dem Boden schießenden Syrien, Bahrain und dem Yemen haben aus Ver- »Internetcafes« vorbeigegangen, in denen die Ju- zweiflung begonnen, ihr Schicksal selbst in die gendlichen dicht gedrängt vor den Computermo- Hand zu nehmen und gegen ihre allmächtigen nitoren saßen. In ärmlichen Gegenden oder auf Herrscher zu rebellieren. Es bleibt abzuwarten, ob dem Land ist es oft nur ein karger kleiner Raum die gestürzten Regime wirklich Platz machen für mit Plastikstühlen vor einem halben Dutzend ab- moderne, demokratischere Gesellschaften, die genutzter PCs mit ihren flimmernden Mattschei- stärker auf die Partizipation der Bevölkerung und ben, die für die Jugendlichen das Fenster zur Welt deren Bedürfnisse ausgerichtet sind. In Libyen, sind. Ich dachte im Vorbeigehen über die ver- wo die radikalsten Veränderungen bisher stattge- schiedenen Traumwelten nach, in die sich die funden haben, ist das noch offen. In Tunesien Kids da wohl flüchten mochten. Aber welche Ver- ebenfalls. In Ägypten ist das seit bald 60 Jahren änderungen die Bilder und Nachrichten aus dem dort herrschende Militär immer noch an der World Wide Web in kurzer Zeit schon bewirken Macht. würden, welche Kräfte freisetzen, das hatte ich mir nicht träumen lassen. Die »Arabellion« hat viele Wurzeln, viele Anlässe, die sie letztlich ausgelöst haben. In Ägypten stan- Ist es also das »Internet-Virus«, das die arabische den ganz am Anfang Arbeiterstreiks in den Indus- Welt befallen hat und in kürzester Zeit zum Sturz triestädten im Landesinnern gegen die aberwitzig einiger der mächtigsten Herrscher führte? Sind niedrigen Löhne dort. Wir haben in unseren Infor- am Ende gar Bill Gates und Steve Jobs die Ge- mationssendungen immer wieder über die Explo- burtshelfer der »Arabellion«, die wir publikums- sion der Lebensmittelpreise und das Bevölke- wirksam bereits gerne als »Internetrevolution« be- rungswachstum in den Ländern der arabischen zeichnen? Welt berichtet. Die Arbeitslosigkeit unter Jugendli- chen dort gehört zu der höchsten weltweit. Eine Revolutionen finden nicht im Internet, sondern auf hoffnungslose Situation. Zumal jede wirtschaftli- der Straße statt – mit Massendemonstrationen, che Modernisierung dieser Länder durch die Aktionen des Ungehorsams gegen die herrschen- maßlose Bereicherung und Korruption staatlich de Ordnung, mit bloßen Händen, Steinen oder protegierter Eliten aufgesogen wird.

106 I 2011.Jahrbuch Provisorisches ZDF-Büro in einer ausgebrannten Polizeistation in Benghasi

Blick aus dem »Bürofenster«

Es war ein armer Tropf in einem abgelegenen Und hier kommt neben dem Internet vor allem den Winkel der arabischen Welt, der das Fass zum arabischen Satellitensendern wie Al-Arabiya und Überlaufen brachte. Muhammad Bouazizi, ein vor allem Al-Jazeera enorme Bedeutung zu. Ihre kleiner Gemüsehändler in einem tunesischen Pro- Verbreitung ist immer noch weit größer als die des vinzkaff, hielt die Erniedrigung und die Demüti- Internets, und ihre weitgehend ungefilterte Be- gungen einfach nicht mehr aus, mit denen ihm die richterstattung ermöglicht es vielen, Vergleiche zu Behörden und die Polizei das Leben schwer ziehen und kritische Stimmen aus aller Welt zu machten. Seine verzweifelte Selbstverbrennung hören. Das hat dazu beigetragen, in der arabi- legte Anfang Januar die Lunte an die Zündschnur, schen Welt die Öffentlichkeit zu schaffen, die den die die arabische Welt im Frühling 2011 explodie- »Arabischen Frühling« erst möglich machte. ren ließ. Ein Schicksal, das Millionen Menschen der Region sehr gut nachvollziehen konnten: Der »Nationalstolz«, den autoritäre Regime ge- Auch, wenn man eine noch so arme und unbe- schickt nutzen, sozusagen als »ideelle Kompen- deutende »Randfigur« ist, nicht einmal dann bleibt sation« für ihre in ärmlichen Verhältnissen lebende man verschont von Korruption und Willkürherr- Bevölkerung, dieser sorgsam gehegte Stolz kann schaft. zu einem Bumerang werden, wenn der Blick über Landes- und Zensurgrenzen hinweg das Bild Die Menschen haben durch die Ausbreitung des trübt. Das Bild Ägyptens in der arabischen Welt, Internets und der elektronischen Medien, so nicht mehr als Leitnation, die es einmal war, son- scheint es, viel von ihrer Naivität verloren. Der dern als bezahlter »Eckpfeiler der US-Politik im ungenierte, oft unverdiente Reichtum der Eliten im Nahen Osten«, mag dazu beigetragen haben, Gegensatz zu den ärmlichen Lebensverhältnissen dass mancher den letzten Respekt vor den Herr- der Masse der Bevölkerung, demütigende Be- schern am Nil verloren hat. Die Libyer konnten ih- handlung und Schikane durch Behörden und Po- rerseits sehen, wie sich die Welt über ihren »Bru- lizei, das alles sind alte Bekannte einer Unterta- der« Muammar al-Gaddafi lustig machte und au- nengesellschaft wie Ägypten oder Libyen. Aber ßerdem Einzelheiten über den glamourösen das lässt sich nicht mehr so ohne Weiteres auf- Lebensstil der Familie Gaddafi im Ausland erfah- rechterhalten in einer Welt, in der auch »Provinz- ren, die Millionen für Privatpartys in der Karibik ler« und »arme Schlucker« plötzlich einen bisher ausgab. Den Tunesiern lieferte das Internet ge- nie dagewesenen Zugang zu Information und nauere Zahlen über das von der Präsidentenfami- Kommunikation haben. lie zur Seite geschaffte enorme Vermögen.

Moderne Technik sprengt alte Fesseln I 107 Nicht zu vergessen die »neue Leichtigkeit« der sondern Bilder von verbotenen Demonstrationen Kommunikation. Vor einigen Jahren haben wir und erlittener Polizeigewalt bis hin zu Massakern noch staunend wahrgenommen, dass der »Ka- dokumentiert. Und natürlich auch Momente von meltreiber« an den Pyramiden in Kairo ein Handy Zivilcourage, die andere begeistern und mitreißen, besaß. Inzwischen verwundert uns das nicht mehr. wie das Bild jenes jungen Mannes, der sich in Das Handy ist – auch – zum »Telefon des armen Kairo ganz allein einem Wasserwerfer der Polizei Mannes« geworden, weil es weit billiger und einfa- in den Weg stellte und ihn daran hinderte, gegen cher zu bekommen ist als bisher ein privater Tele- Demonstranten eingesetzt zu werden. fonanschluss. Auch wir nutzen diese »Volkskameras« und das, Die Zeiten, in denen vom Regime gesteuerte Me- was auf YouTube veröffentlicht wird, zunehmend dien filtern, zensieren und totschweigen können, für unsere Berichterstattung. Bei aller Vorsicht und was passiert, sind vorbei. Die Geschichte vom der Notwendigkeit, solche Aufnahmen zu verifizie- verzweifelten Selbstmord des tunesischen Gemü- ren und einzuordnen – wo bekommt man authen- sehändlers verbreitete sich im digitalen Zeitalter tischere Fotos und Videoaufnahmen, welche pro- wie das seit alters her beschworene »Lauffeuer«. fessionelle Kamera wäre dichter am Geschehen? Auf zehn Millionen Tunesier kommen rein rechne- Als ich kurz nach Beginn der Aufstände in Libyen risch neun Millionen Handys, jeder Dritte nutzt das nach Benghasi kam, zeigten mir die Menschen Internet, jeder Vierte kommuniziert per Facebook. dort Videos, die sie während der ersten zwei Tage Und selbst im Land der Pharaonen surft laut Sta- mit ihren Handys aufgenommen hatten. Von Mas- tistik inzwischen fast jeder Vierte der 84 Millionen sendemonstrationen und Straßenkämpfen, in Ägypter im Internet. In Libyen spielte das Internet, denen unbewaffnete Männer mit Baufahrzeugen vom »Bruder Oberst« klein gehalten, weit weniger Kasernenmauern durchbrechen. Aufnahmen, die eine Rolle. Hier halfen die regionalen Unterschie- uns halfen, uns in die Lage der Menschen zu ver- de zwischen Ost und West, dass der Protest setzen, als sie im Begriff waren, gegen das Gad- gegen das Regime so plötzlich und heftig ausbre- dafi-Regime aufzustehen. Und im Falle von Syri- chen konnte. en, wo das Regime überhaupt keine oder nur ausgewählte ausländische Kameras zulässt, ver- Bei allen Unterschieden in den verschiedenen halfen mir die Handyvideos syrischer Flüchtlinge Ländern, es ist eine Art »bürgerliche Revolution«, im Nordlibanon zu einem Blick über die Grenze die sich die arabische Welt nachzuholen an- auf das Terrorregime Bashar al-Assads. schickt. Die Forderung nach fairer Bezahlung, Gerechtigkeit und menschenwürdiger Behand- Oft haben die Machthaber selbst die Nutzung lung durch Polizei und Behörden laufen auf nichts moderner Technik propagiert, um ihre Länder wirt- anderes hinaus als auf das, was die Menschen in schaftlich zu modernisieren. Dafür erlaubte Hosni Europa und den USA für sich in Anspruch neh- Mubarak den Ägyptern Ende der 90er Jahre men. sogar, sich kostenlos ins Internet einzuwählen. Er unterschätzte die explosive Mischung von freiem Kehren wir noch einmal zur »kleinsten« der techni- Internetzugang, Pressezensur und Polizeiknüppel, schen Errungenschaften zurück, die die arabische die langfristig einfach nicht gutgehen konnte. Welt erzittern lassen: dem Handy. Es ist mehr und mehr auch zu einem »Telefon mit Auge« gewor- Am 25. Januar 2010 hatte die Polizei in Alexandria den, das nicht nur Kindergeburtstage festhält, den Blogger Khaled Said zu Tode geprügelt.

108 I 2011.Jahrbuch Eines der wichtigsten Diskussionsforen im Inter- Als das Regime in Ägypten am 27. Januar 2011 net wurde die Facebook-Gruppe »Wir sind alle versuchte, die Notbremse zu ziehen und das Khaled Said«. An seinem ersten Todestag im Ja- Land für mehrere Tage vom Netz nahm, war es nuar 2011 strahlte bereits das Beispiel Tunesiens, bereits zu spät. Das Internet, Twitter, Facebook, wo der Machthaber Ben Ali gerade aus dem Land YouTube waren inzwischen zu einem wichtigen gejagt worden war, auf Ägypten als Vorbild aus. In Instrument der Mobilisierung geworden. Man Ägypten wuchs das Selbstvertrauen. Und man kann das Internet nicht einfach wieder abschaffen, nutzte das Internet ganz praktisch als Mittel der wenn es bereits zu einem wichtigen Faktor der Mobilisierung und Organisation. Das Netz bot Modernisierung von Wirtschaft und Verwaltung nicht nur die Möglichkeit zur schnellen und groß- des Landes geworden ist. flächigen Verbreitung von Aufrufen. Es bot auch – wichtig in Polizeistaaten – Anonymität. Anonymi- Der Nachteil für »alte Herrschaften«: Die moder- sierungssoftware kursierte neben technischen An- nen Kommunikationstechnologien wie Internet, leitungen, wie man Blockaden im und die Überwa- Handy und Satellitenfernsehen beschleunigen chung des Internets durch Geheimdienste um- gesellschaftliche Prozesse enorm. Auch deshalb geht. Die Teilnehmer an Demonstrationen konnten wurden so viele – Potentaten und Beobachter – im Netz erfahren, mit welchen einfachen Mitteln von den Entwicklungen in der arabischen Welt man sich vor Tränengas schützt. und ihres »Frühlings« überrascht.

Moderne Technik sprengt alte Fesseln I 109 Fukushima und die Folgen Report einer Katastrophe

Erdbeben, Tsunami und Super-GAU in Fuku­ werden. Der nukleare Notstand, den die japani- shima: Wochenlang berichten Johannes sche Regierung am Abend des 11. März 2011 Hano und seine Mitarbeiter aus dem Aus­ ausrufen musste, gab diesem Tag für mich eine landstudio Peking über die Natur- und Atom­ religiöse Dimension: Da draußen ist etwas, was katastrophe in Japan. Trotz der unübersichtli­ man nicht hören, riechen, fühlen oder sehen kann, chen und sich ständig verändernden Informa­ das sofort tötet oder einem langsam, in vielen tionslage gelingt es ihnen, die politischen, Jahren, die Organe mit Krebs zerfrisst. Man weiß Johannes Hano wirtschaftlichen und technischen Entwicklun­ nicht, ob es erst kommt oder schon wieder ge- Leiter des ZDF-Studios Peking gen überlegt einzuordnen – ohne zu dramati­ gangen ist. Das Schlimmste aber: Es pflanzt eine sieren. Angst ein, die droht, dich von innen aufzufressen, ohne dass es überhaupt bei dir war – es ist das Tokio, 11. März 2011, 14.46 Uhr. Der Schlag traf absolut Böse. Japan, uns alle, die wir da waren, so plötzlich, so unvorbereitet und so hart, dass uns nur noch ein Die Angst und Verunsicherung bei vielen Kollegen letztes Hoffen blieb. Ausgeliefert, völlig machtlos war so groß, dass wir es ihnen freistellten, in warteten wir auf unser Schicksal – darauf, was der Japan zu bleiben. Mehrere Kollegen nahmen das liebe Gott mit uns vorhat, ob das Hochhaus, in Angebot an, kaum in Tokio angekommen, in die dessen 13. Stock unser Büro liegt, einstürzt oder Heimat zurückzufliegen. Viele internationale Un- nicht. Es waren vier, fünf Minuten voller Konzentra- ternehmen evakuierten ihre ausländischen Ange- tion darauf, Angst und Panik nicht die Oberhand stellten und deren Familien. Die deutsche Schule gewinnen zu lassen, in dem Bewusstsein, dass wurde geschlossen, das Abitur in Deutschland wir es selbst nicht mehr in der Hand hatten, ob wir gemacht, und die deutsche Botschaft zog bis überleben. Unser Haus und die anderen Hoch- Ende April komplett in das etwa 800 Kilometer häuser, die wir aus den Fenstern sehen konnten, südlich von Fukushima gelegene Osaka um. Als bewegten sich wie Grashalme im Wind. am 15. März nach den Reaktorblöcken 1 und 3 auch noch die Reaktorblöcke 2 und 4 des Atom- Kurz nach dem ersten Schlag dann die Tsunami- kraftwerks Fukushima Daiichi explodierten, ent- warnung aus den Lautsprechern auf den Straßen schied auch ich mich dafür, Tokio vorübergehend und immer wieder schwere Nachbeben. Unsere Richtung Osaka zu verlassen. Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und das Schlimmste stand uns zu diesem Zeitpunkt noch Zu diesem Zeitpunkt war völlig unklar, was eigent- bevor. lich genau passiert war, wie groß die Schäden an den Reaktorkernen waren, ob es eine radioaktive Etwa 250 Kilometer weiter nordöstlich begann Wolke geben würde, es zur Massenpanik käme, sich – zunächst völlig unbemerkt von der Öffent- zu Hamsterkäufen. Seit Beginn der Katastrophe lichkeit – eine Katastrophe zu entwickeln, die bis und noch immer gibt es widersprüchliche Meldun- heute anhält, die nach wie vor die Gefahr birgt, gen von der Betreibergesellschaft Tepco und den dass ganze Landstriche Japans Hunderte, viel- japanischen Behörden. Hieß es am Morgen noch, leicht Tausende Jahre nicht mehr bewohnbar sein die Atomkraftwerke, auch die in Fukushima, seien

110 I 2011.Jahrbuch nach dem schweren Beben planmäßig herunter- immer wieder beruhigen und versuchen, trotz gefahren worden, so wurde am Abend plötzlich allem einen klaren Kopf zu bewahren, um keine der nukleare Notstand ausgerufen. Erst hieß es, Fehler zu machen, die uns selbst gefährden oder die Situation sei bei einem Reaktor außer Kontrol- unsere Zuschauer in Deutschland in Panik verset- le, es sei möglicherweise zu einer Kernschmelze zen könnten. Um uns ein eigenes, von den offizi- gekommen, die Kühlsysteme würden versagen, ellen Informationen unabhängiges Bild machen zu dann hieß es plötzlich, die Notkühlung über Die- können, war schnell klar, dass wir hoch Richtung selgeneratoren würde wieder funktionieren. Wir Atomkraftwerk mussten. Aber die Situation war rätselten, ob die Verantwortlichen wirklich nicht völlig unübersichtlich, und so klar es war, dass wir wussten und wissen, was sich gerade in den Re- da hoch mussten, so klar war es mir als verant- aktoren abspielte, und vieles spricht genau dafür. wortlichem Korrespondenten auch, dass ich kei- Auf jede schlechte Meldung folgte eine gute, ver- nen meiner Kollegen aus Show-Gründen der Ge- mutlich, um die Menschen langsam auf den Su- fahr einer radioaktiven Verstrahlung aussetzen per-GAU vorzubereiten. würde. Das war ich auch den Familien daheim schuldig. Ich würde niemanden in den Norden Für uns aber war relativ schnell klar, dass weder schicken, nur damit wir in Deutschland, im media- Tepco noch die japanische Regierung irgendet- len Konkurrenzkampf, sagen können: »Schaut mal was unter Kontrolle hatten – und dafür musste her, wo wir sind – wir sind ganz nah dran.« Bevor man kein Atomphysiker sein: explodierende Reak- wir also fahren konnten, mussten drei Kriterien torgebäude, hilflose Kühlversuche aus der Luft mit erfüllt sein: Hubschraubern, die entweder ihre Wasserlast überall abließen, nur nicht dort, wo sie gebraucht Erstens musste die Geschichte einen journalisti- wurde, nämlich auf den Reaktoren, oder sich schen Mehrwert haben, das heißt, nur, um die gleich ganz zurückziehen mussten, weil die Strah- Zerstörung in der Tsunamiregion zu drehen, fah- lung zu stark war. Dann Kühlversuche mit einem ren wir nicht hin. Solche Bilder liefen seit Tagen Wasserwerfer der Polizei, dem einzigen weit und rund um die Uhr. Zweitens mussten wir nicht nur breit. wissen, wie wir dort hinkommen, sondern auch, wie wir wieder zurückkommen, sollte es ganz Als schließlich die US-Navy ihre Schiffe, die sie zur ernst werden. Und drittens brauchten wir Schutz- Unterstützung der Rettungsmaßnahmen nach ausrüstungen zu unserer Sicherheit. Geigerzähler, dem Erdbeben und dem Tsunami geschickt hatte, die man sich um den Hals hängen kann und die aus Angst vor radioaktiver Strahlung aus dem mit einem Piepton warnen, wenn die Strahlung ein Gebiet abzog, klingelten bei uns alle Alarmglo- gefährliches Level erreicht, weiße, reißfeste Pa- cken. Dass sich in den Reaktoren des Atomkraft- pieranzüge, die radioaktive Partikel davon abhal- werks Fukushima Daiichi der Super-GAU zumin- ten, in direkten Kontakt mit dem Körper zu kom- dest anbahnte, war für uns offensichtlich – alles men, und Atemmasken, die verhindern, dass wir deutete darauf hin, aber mit Sicherheit wussten radioaktiven Staub einatmen. Alles haben wir wir eigentlich gar nichts. Wir mussten lernen, zwi- schließlich bekommen. Die Kollegen aus der schen den Zeilen all der öffentlichen Verlautbarun- »Grotte«1 in Mainz, Marina Kunke, Ralf Zimmer- gen zu lesen und zu diesem Zweck erst einmal mann von Siefart und die vielen anderen, haben verstehen, wie ein Atomreaktor funktioniert. Wir haben tagelang kaum geschlafen, mussten uns 1 Die zentrale Koordinationsstelle für Redaktionen und Reporter selbst, unsere Familien, Freunde und Kollegen im Sendezentrum Mainz

Fukushima und die Folgen I 111 Wettbewerb über alles zu stellen. Und letztlich zahlt sich das aus. Denn wir können heute, bes- tens informiert und mit dem Wissen, dass man sich in der Heimat um unsere Fragen und Proble- me kümmert, Dinge tun, die andere nicht tun. Wir können aus evakuierten Gebieten mit teils erheb- lich erhöhter Strahlung berichten, weil wir wissen, wie lange wir uns der Strahlung aussetzen kön- nen, bevor es gefährlich wird, weil wir Ausrüstun-

Johannes Hano (links sitzend) gen haben, die uns im Notfall zumindest Zeit ver- und sein Team im Studio Tokio schaffen. Wir haben den Umgang mit der Gefahr gelernt, aber auch, auf der Hut zu sein davor, die alles getan, damit wir diese für uns sehr schwieri- Situation als »normal« anzusehen. Denn sie ist es ge Situation unaufgeregt und professionell meis- nicht, auch wenn es in der täglichen Arbeit oft tern konnten. Wir sind in den Norden gefahren schwer fällt, sich die potenzielle Gefahr zu verge- und tun es bis heute – ausgestattet mit Dosime- genwärtigen. tern und Geigerzählern, die für uns mittlerweile zur Standard-Arbeitsausrüstung in Japan zählen. Noch immer ist die Lage in dem zerstörten Atom- Auch wenn das Arbeiten in den verseuchten Ge- kraftwerk Fukushima Daiichi nicht unter Kontrolle, bieten zumeist unproblematisch ist, Geigerzähler noch immer tritt Strahlung zumindest aus einem und Dosimeter geben uns die Sicherheit, die viele Reaktor aus. Immer weitere Kreise zieht die radio- Menschen in den betroffenen Gebieten so sehr aktive Belastung von Lebensmitteln, und nach wie vermissen. Denn die Geräte zeigen uns an, wenn vor lässt die Information durch die Behörden mehr es gefährlich wird, wenn die Strahlung dramatisch als zu wünschen übrig. Die meisten Japaner trau- ansteigt, wenn wir uns in einem so genannten Hot en ihrer Regierung nicht mehr, aber dafür der Be- Spot befinden. richterstattung des ZDF. Ein »Frontal 21«-Beitrag von Nicola Albrecht und Martin Niessen über die Das Gefährliche an der Arbeit ist nämlich nach wie radioaktive Belastung von Lebensmitteln wurde vor, dass man die Strahlung nicht sieht, hört oder nach der Ausstrahlung von einem Zuschauer mit riecht, dass sie auf einmal da ist. Gemeinsam mit japanischen Untertiteln versehen und bei YouTube Yvette Gerner aus der Chefredaktion und dem hochgeladen. Der Film hat in Japan für Furore Arbeitsschutz haben wir Regeln für das Arbeiten in gesorgt, wurde weit über 400 000 Mal abgerufen. den betroffenen Regionen aufgestellt. Wir haben Viele Menschen bedankten sich per Mail und Tele- unsere Mitarbeiter zu Strahlenschutzseminaren fon bei uns für Informationen, die sie in Japan und Strahlenuntersuchungen geschickt, um einen sonst nicht bekommen hätten. Ein Professor der möglichst informierten Umgang mit der potenziel- Universität Tokio meinte sogar, das ZDF sei, was len Gefahr sicherzustellen. die Berichterstattung über die Krise angehe, das weltweit beste Medium. Dieser Erfolg hat mich All das aber wäre nicht möglich ohne einen Arbeit- und meine Kolleginnen und Kollegen in Japan geber, zu dessen Unternehmensphilosophie es schon ein bisschen stolz gemacht, aber er hat gehört, auf seine Mitarbeiter zu hören, ihnen zu auch deutlich gemacht, welche Verantwortung wir vertrauen, ihre Ängste ernst zu nehmen und ihre bei unserer Berichterstattung in einer immer stär- persönliche Unversehrtheit auch im härtesten ker vernetzten Welt nicht nur für unsere Zuschauer

112 I 2011.Jahrbuch in Deutschland haben. Die großartigste Erfahrung und Jörg-Hendrik Brase eine saubere und seriöse aber war die Hingabe, die Professionalität, das Berichterstattung in den ersten Tagen rund um die Engagement und der persönliche Einsatz, mit Uhr erst möglich gemacht haben. Das ZDF kann dem Lilo Ohgo, Fuyuko Nishisato, Toby Marshall stolz auf solche Mitarbeiter sein.

Fukushima und die Folgen I 113 Krisenberichterstattung für Kinder Wie »logo!« Fragen von Kindern zur Katastrophe in Japan beantwortet

Tsunami- und Atomkatastrophe in Japan, »logo!« stellte seine Berichterstattung konsequent Wirtschaftskrise in Europa, die Revolutionen darauf ein: In täglichen Schwerpunkten wurden in Nordafrika – das Jahr 2011 war ein Jahr verschiedene Aspekte der Katastrophe beleuch- großer Krisen. Kinder bekommen diese Er­ tet. In Dutzenden von Erklärstücken wurden Fra- eignisse mit, können sie aber nicht einordnen gen wie: »Was ist ein Tsunami?«, »Wie funktioniert und stellen viele Fragen. Die Kindernachrich­ ein Atomkraftwerk?« oder »Was ist eine Kern- tensendung »logo!« gibt auf möglichst viele schmelze?« anhand von Grafiken nachvollziehbar Markus Mörchen dieser Fragen Antworten – auch, wenn das erklärt. Experteninterviews und Schaltgespräche Verantwortlicher Redakteur »logo!« nicht immer einfach ist. mit den ZDF-Korrespondenten lieferten zusätzli- che Einordnungen. Die Kolleginnen und Kollegen Die erste Meldung erreichte die deutschen Nach- des Studios Tokio haben »logo!« dabei von An- richtenredaktionen um 6.53 Uhr am 11. März: fang an tatkräftig unterstützt. Trotz schwierigster »Starkes Erdbeben erschüttert Japan«, schrieb die Bedingungen vor Ort (siehe Artikel von Johannes Agentur Reuters. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch Hano in diesem Jahrbuch) waren sie für »logo!« niemand, dass sich daraus eines der folgen- jederzeit ansprechbar, lieferten Beiträge aus Kin- reichsten Ereignisse des Jahres 2011 entwickeln derperspektive und standen der Redaktion mehr- sollte. Doch spätestens, als am 12. März vor den mals für Schalten zur Verfügung. Augen der Weltöffentlichkeit ein Reaktor des Atomkraftwerks Fukushima explodierte, führte das Höhepunkt der Japan-Berichterstattung war ein zu weltweiter Verunsicherung – nicht nur bei Er- 25-minütiges »logo! extra« (»Japan – Eure Fra- wachsenen, auch bei vielen Kindern. gen«), in dem die wichtigsten Fragen der Kinder beantwortet wurden. Experte im Studio war Volker Das Reaktorunglück in Japan ist die erste Katas- Erbert, Physiker und Wissenschaftsexperte von trophe mit globalen Folgen, die die »logo!«-Zu- ZDF Digital. Mit einfachen Worten, anschaulichen schauer im Alter zwischen acht und zwölf Jahren Beispielen und mit großer Ruhe und Gelassenheit bewusst mitbekamen. Begriffe wie »Kernschmel- stellte er sich den Fragen der Kinder – sowohl ze«, »Reaktorsicherheit« oder »radioaktive Strah- während der Sendung als auch danach. lung«, die in ihrem Wortschatz zuvor nicht vertre- ten waren, tauchten auf einmal überall in den Medien auf und wurden anschließend beim Abendbrot mit den Eltern diskutiert.

In den Tagen nach der Katastrophe gingen täglich Hunderte von E-Mails, Chat- und Gästebuchein- träge mit Fragen und Kommentaren zu Japan bei »logo!« ein: »Kann die Radioaktivität zu uns kom- men?«, »Was passiert jetzt mit den Menschen in

»logo!«-Erklärgrafik: Was sind Japan?« oder »Warum werden überhaupt Atom- Staatsanleihen? kraftwerke gebaut, wenn sie so gefährlich sind?«.

114 I 2011.Jahrbuch Die »extra«-Sendung war das erste interaktive Auch zur Wirtschaftskrise, die 2011 globale Aus- »logo!«-Format mit direkter Zuschauerbeteiligung maße annahm, hatten Kinder viele Fragen. Doch im Studio. Da das Studio N, das virtuelle Nach- wie kann man ein Thema, das selbst bei erwach- richtenstudio, für eine Sendung mit rund 50 Kin- senen Zuschauern Fragen aufwirft und das sogar dern nicht ausgelegt ist, musste in drei Tagen eine erfahrenen Redakteuren Schweißperlen auf die komplett neue Studiodeko im Studio 3 gebaut Stirn treibt, kindgerecht aufbereiten? Auch, wenn werden. es paradox klingt: Bei einem so komplizierten Thema ist es zunächst hilfreich, genau darauf zu Dank großem Engagement und vielen kreativen hören, wie Kinder darüber denken. Im Alter von Ideen der Bühne, Regie, Produktion und Redakti- etwa zehn Jahren haben sie bereits eine Menge on entstand ein Format, das zwar aus der Not an Erfahrungen gesammelt. Sie entwickeln in vie- heraus geboren wurde, sich aber gleich beim len Fällen selbstständig und sehr kreativ Erklärun- ersten Mal bewährt hat und bei unseren Zuschau- gen für die Phänomene ihrer Lebenswelt. ern sehr gut angekommen ist. Daher soll es auch künftig für ähnliche Anlässe genutzt werden. So war eine zentrale Frage, die Kinder im Zusam- menhang mit der Wirtschaftskrise immer wieder Das »logo! extra« erreichte im KI.KA fast 800 000 gestellt haben: »Wenn Länder Schulden haben, Zuschauer und einen Zielgruppenmarktanteil bei warum drucken sie dann nicht einfach mehr Drei- bis 13-Jährigen von knapp 27 Prozent. Geld?«. Andere Kinder entwickelten sogar eigene Ebenso gefragt waren die »logo!«-Onlineseiten. Vorschläge, wie man Griechenland helfen könnte. Hier war eine umfangreiche Hintergrundberichter- So schrieb die elfjährige Nadine: »Warum kann stattung zum Thema Japan zu finden. Kinder Griechenland nicht einfach eine Band gründen konnten die Erklärstücke zum Thema gebündelt und die auf Weltreise schicken, um dann für Geld abrufen und in zusätzlichen Chats und Foren ihre zu spielen?«. Fragen loswerden. Kinder haben das Angebot in- tensiv genutzt: Die Pageimpressions von logo.de An Fragen und Erklärungen aus Kindersicht knüpft waren im März fast doppelt so hoch wie in allen »logo!« an. So dienten Fragen wie: »Wie kann es anderen Monaten des Jahres 2011. Diese Zahlen eigentlich passieren, dass ein Land pleite geht?« belegen, dass es gerade in Krisenzeiten einen als Grundlage für die Konzeption von »logo!«- immensen Bedarf an kindgerechter Information Beiträgen und Erklärstücken. gibt. »logo!« ist hier erste Adresse. Darüber hinaus steigt die Relevanz von Themen, wenn Kinder in die Berichterstattung integriert werden. So hat »logo!« griechische Familien in Deutschland besucht, hat berichtet, wie es an den Schulen in Griechenland aussieht oder hat eine Kinderreporterin zum Interview mit dem Chef der Eurogruppe Jean-Claude Juncker geschickt. Als die Proteste gegen die Sparmaßnahmen in Athen ihren Höhepunkt erreichten, war ein »logo!«-Re- porter vor Ort, um griechische Kinder zu treffen

und sich mit ihnen über die Auswirkungen der »logo!«-Kinderreporterin Sophie Krise auf ihr tägliches Leben zu unterhalten. trifft Jean-Claude Juncker

Krisenberichterstattung für Kinder I 115 sche Kinder, die im Ausland leben oder ausländi- sche Kinder, die »logo!« sehen, um Deutsch zu lernen. Eines dieser Kinder ist der zehnjährige Malik. Er lebt in Kairo und schrieb am 3. Februar 2011 ins »logo!«-Gästebuch: »Hallo, ich wohne in Kairo ziemlich nah am Tahrir-Platz. Mein Papa war heute demonstrieren. Es war friedlich, aber ich durfte nicht mit. Mubarak versteht sein Volk, glau- be ich, nicht (…)«. Wir nahmen daraufhin Kontakt mit ihm auf und fragten ihn, ob er bereit sei, uns in der Sendung Fragen zu beantworten. Er stand uns dann mehrmals per Skype-Schalte Rede und Antwort und erzählte uns auf dem Höhepunkt der Proteste, dass seine Schule geschlossen sei und dass er sich Sorgen um seinen Vater mache, der weiterhin täglich demonstriere. Nach dem Ende der Revolution berichtete Malik, wie sehr er sich freue, dass die Proteste erfolgreich waren.

Doch während die Revolution in Ägypten zu- nächst verhältnismäßig glimpflich ablief, gaben die Ereignisse in Libyen und Syrien unseren Zu-

Selbstgemaltes Bild der »logo!«- schauern wesentlich größeren Anlass zur Sorge. Zuschauerin Paula Salomon Was sie besonders beschäftigte, war die Frage, warum einige Herrscher in Nordafrika auf ihr eige- Während es bei einem Thema wie der europäi- nes Volk schießen und sich so lange an der Macht schen Wirtschaftskrise relativ einfach ist, betroffe- halten können. ne Kinder zu finden, erwies sich das bei einer an- deren großen Krise des Jahres 2011 als größte Nachrichtenereignisse wie die Revolutionen in Herausforderung für die »logo!«-Berichterstattung: Nordafrika, die Wirtschaftskrise in Europa und die bei den Revolutionen in Nordafrika – einem Atomkatastrophe in Japan haben eines gemein- Thema, das »logo!« und seine Zuschauer eben- sam: Kinder entwickeln eine große Empathie mit falls das ganze Jahr über beschäftigte. Generell den Betroffenen vor Ort und geben sich mit einer war die Nachrichten- und Bilderlage aus den ver- kurzfristigen, schlaglichtartigen Berichterstattung schiedenen Ländern schwach, und an Informatio- nicht zufrieden. Unsere Zuschauer fordern weitere nen über Kinder in den betroffenen Gebieten zu Beiträge und Erklärungen ein, sobald wir einige gelangen, war fast ausgeschlossen. Dabei sind Tage oder Wochen über ein Thema nicht berichtet persönliche Geschichten aus der Zielgruppenper- haben. Kinder wollen und brauchen Fortschrei- spektive für unsere Berichterstattung elementar. bungen, Hintergründe, Ergebnisse und besten- Denn nur das, was emotional berührt, wird von falls ein Happy End. Fragen können wir (meistens) Kindern auch als relevant empfunden. In dieser beantworten, Hintergründe und Fortschreibungen Situation kam der Sendung zugute, dass »logo!« können wir liefern. Ein Happy End aber gibt es junge Zuschauer in der ganzen Welt hat: Deut- auch in Kindernachrichten nur selten.

116 I 2011.Jahrbuch Machtfaktor Erde »BURNOUT – Der erschöpfte Planet«

Für Autoren ist es ein besonderer Glücksfall, Das klingt interessant, wichtig und für die Produk- wenn ein Sender bereit ist, Geld und Sende­ tion teuer. Aber es klingt ganz sicher nicht nach plätze zu investieren in eine Reportage, die einem Straßenfeger. Das beginnt schon beim mit nicht mehr beginnt als mit einer Beobach­ Reizwort »Klima«. Im »heute-journal« beobachten tung und einer Frage. So entstand »Machtfak­ wir seit Jahren, dass die bloße Erwähnung des tor Erde«. Die Beobachtung: Ob man nun Wortes »Klimawandel« Tausende von Zuschauern Menschen dafür verantwortlich macht oder zum Ab- oder Umschalten bringt. nicht – unser Planet verändert sich massiv. Claus Kleber Eismeere brechen auf, Wüsten verlagern Für Filmemacher, die ja auch Erfolg haben wollen, Hauptredaktion Aktuelles/ sich, die uralten Rhythmen von Dürren und ist das also nicht unbedingt ein Themenfeld, auf Redaktion »heute-journal« Regenzeiten geraten aus dem Takt. Die Frage: das sie mit Begeisterung springen. Und doch: Als Muss das nicht Folgen haben? Für Industri­ wir aus immer mehr Quellen und verschiedenen en, für die Militärs, für Strategien und Außen­ Ländern hören, dass sich Strategen zunehmend politik großer Mächte? um die Gefahren des Klimawandels für den Welt- frieden sorgen, fangen wir Feuer. Nach Gesprä- Die letzte große Kältephase der Erde war eine der chen im Verteidigungsministerium in Berlin, im Ursachen für die europäische Völkerwanderung Pentagon, bei den Vereinten Nationen, im Aus- und damit für das Ende des Römischen Reiches. tausch mit Think-Tanks in China, Indien und Peru Gravierend genug, aber zu dieser Zeit gab es verdichtet sich der Eindruck: Überall beziehen noch Platz, Völker konnten wandern, wohin sie Militärs, Städteplaner und Rohstoff-Experten die wollten. Und sie hatten jede Menge Zeit, weil die rasanten Veränderungen des Planeten in ihr Kal- Veränderungen Jahrhunderte in Anspruch nah- kül mit ein. men. Diesmal geht es um eine globale Erwär- Angela Andersen mung – und eine ganz andere, rasante Dynamik. Die Recherche ist also vielversprechend. Peter Hauptredaktion Aktuelles/ Wie wird das werden für unsere dicht vernetzten, Frey, der Chefredakteur, geht das Wagnis ein. Er Redaktion »heute-journal« militarisierten, hochgezüchteten Industriegesell- setzt mit uns darauf, dass sich die Zuschauer für schaften? komplexe Sachverhalte gewinnen lassen, wenn sie Neues erfahren, das ihnen nirgendwo sonst gezeigt wird. Wer soll das anbieten, wenn nicht ein öffentlich-rechtliches Informationsprogramm? Wir bekommen den Sendeplatz, den Etat und unser »Dream-Team« in Redaktion, Produktion, Kamera und Schnitt. Unsere Dokumentation fügt sich spä- ter ein in den Programmschwerpunkt »BURNOUT – Der erschöpfte Planet«, der sich in einem großen Fernsehfilm (»Verschollen am Kap«), in Dokumen- tationen, Reportagen, Talk und Magazinformaten

eine Woche im November mit dem Thema endli- Claus Kleber im Gespräch mit cher Ressourcen beschäftigt. einem äthiopischen Bauern

Machtfaktor Erde I 117 Wassertanklaster in Lima, Peru

Teamfoto vor der Abreise: Jürgen Rapp, Jan Prillwitz, Claus Kleber und Angela Andersen

Nun könnten die Abenteuer beginnen, tatsächlich erst um Erlaubnis gebeten. Aber auch aus Indien beginnen erst mal die Probleme. Wir wollen unter schallt zunächst: »Ausgeschlossen mit drei Ausru- anderem in Asien, Russland, Südamerika und Af- fezeichen«. rika drehen. Selbst wenn wir nicht mit der Tür ins Haus fallen und von einer Bedrohung für den Endlich bekommen wir die Visa und fliegen über Weltfrieden reden, sind nicht alle wild darauf, uns Neu-Delhi nach Ladakh, in die atemberaubende für ein solches Filmprojekt Drehgenehmigungen Landschaft des ehemaligen Königreichs, das als zu erteilen. In vielen Ländern ist der Themenkom- das »indische Tibet« gilt. In den einschlägigen plex »Klimawandel und nationale Sicherheit« Führern wird geraten, sich in mehr als 3000 Me- schon längst nicht mehr so akademisch-fern wie tern Höhe mit der Akklimatisierung drei Tage Zeit bei uns im mild temperierten Westeuropa. Da geht zu lassen und möglichst wenig zu bewegen. Bei es um handfeste Interessen und akute Gefahren. unserem eng gestrickten Drehplan ist es schon Fernsehteams sind da für manche ein schwer ein Luxus, dass wir uns den Nachmittag nach der kontrollierbarer Störfaktor. Unermüdlich ringen Ankunft freinehmen, uns orientieren, nach Motiven Christoph Caron und Bernd Arens in Redaktion suchen und die Altstadt von Leh erkunden. Wir und Produktion mit Konsulaten, Botschaften und bummeln vorbei an flatternden Gebetsfahnen und Behörden in den jeweiligen Hauptstädten. Oft lächeln zurück in die gegerbten Gesichter der helfen uns die deutschen Diplomaten am Ort mit Bauern auf dem Markt, die ihre getrockneten Ap- großem und dankenswertem Engagement. Sie rikosen und Mandeln feilbieten. Jan Prillwitz, unser kennen die Brisanz unseres Themas aus nächster Kameraassistent, weiß gar nicht, was er zuerst Nähe und sind froh, dass darüber ein Film im fotografieren soll. Hauptabendprogramm entstehen soll. Beim Mango Lassi, einem Joghurtgetränk, ma- Das Hochland von Tibet und die Gletscher im chen wir einen Schlachtplan für den morgigen Himalaya sind die Süßwasserspeicher Asiens. Tag. Wir wissen noch nicht, ob wir wirklich in der Hier entspringen große Flüsse, in deren Einzugs- Garnison drehen dürfen. Auf einer großen Militär- gebiet mehr als eine Milliarde Menschen leben. basis wird die Truppe ausgebildet, die diesen Teil Sie fließen nicht mehr wie früher. Indische und der unwirtlichen Grenze zu China bewacht. Immer chinesische Truppen stehen sich im höchsten wieder kommt es in der Region zu Scharmützeln. Gebirge der Welt gegenüber. Dort wollen wir dre- Jetzt, da China vorbaut für die zunehmenden Dür- hen. Peking hatten wir in dieser Sache gar nicht ren und sich daranmacht, mit riesigen Staudäm-

118 I 2011.Jahrbuch men Indien das Wasser abzugraben, soll diese endlos großen Platz stehen reihenweise nagel- Elitetruppe eine unserer zentralen Geschichten neue Planierraupen, Bagger und Traktoren. Dieser sein. Wie das ausgeht, weiß jeder, der den ersten riesige Fuhrpark wirft einen um in einem Land, in Teil der Dokumentation über die »Beutezüge im dem die meisten Bauern noch schnalzend mit Klimawandel« gesehen hat. ihrem Ochsengespann den Boden durchfurchen. Saudi Star will am Horn von Afrika insgesamt so Ein Sprung nach Gambella, Äthiopien, und dem viel Land pachten, dass es fast der Größe Belgi- zweiten Teil des Films: Unser zerbeulter Leihwa- ens entspricht. Auf diesem Gebiet leben aber gen rast über die Schotterpiste. Wir Westler wür- Bauern, die dann weichen müssen. Die Begeg- den weniger Gas geben bei all den uns entgegen nung mit den Vertriebenen in Gambella gehört zu kommenden Eselskarren und Menschen, die un- den Erlebnissen, die uns auf diesen Reisen am glaubliche Lasten auf dem Kopf balancieren und meisten berührt haben. nur manchmal ausweichen. Unser junger Fahrer Belay vertraut auf sein Reaktionsvermögen und Bei keiner anderen Produktion haben wir das auf die Mutter Gottes, die als Heiligenbild am große Privileg unseres Berufs intensiver und dank- Spiegel schaukelt und bei jedem Schlagloch barer gespürt als bei »Machtfaktor Erde«. Wir einen Satz macht – wie wir auf den hinteren Plät- werden bezahlt für das Erleben und Berichten. Wir zen. waren anderthalb Jahre lang – so wie es der Takt der »heute-journal«-Moderationen erlaubt – auf Wir dürften auf keinen Fall die neuen Reisfelder allen Erdteilen unterwegs. Wir haben Menschen drehen, hieß es in Addis Abeba. Das macht uns kennengelernt, die sich unserer Arbeit in den Weg natürlich noch neugieriger. Die Repräsentanten stellten und solche, die aus Furcht vor Repressa- der Firma Saudi Star hatten wohl Sorge, dass wir lien nicht mit uns sprechen wollten. Aber eben über »Landraub« berichten oder »Neokolonialis- auch andere: Bauern in Gambella, Indianer in den mus«. In Äthiopien, einem Land, das eher mit er- Slums von Lima, den US-Generalstabschef und schreckendem Hunger in Verbindung gebracht den Generalsekretär der Vereinten Nationen. wird, klopfen Geschäftsleute aus Indien, Pakistan, Ihnen waren wir willkommen, weil sich endlich ein Japan und Saudi-Arabien bei Diktator Meles großer Fernsehsender um ein Thema kümmert, Zenawi an, um riesige Landflächen zu pachten. das ihnen den Schlaf raubt. Der Grund: In vielen Ländern ist das Wetter beim Getreideanbau inzwischen eine unkalkulierbare Aus einer Beobachtung und einer einfachen Frage Größe. Hier im Westen Äthiopiens ist der Boden ist ein Film geworden, der in seinen beiden Folgen gut und genug Wasser vorhanden, um Millionen zwei Mal rund drei Millionen Zuschauer interes- Tonnen Reis im Jahr anzubauen. Am nächsten sierte und – wie wir erfahren haben – auch in Mi- Tag geht es nach Abobo zum »verbotenen Dreh«. nisterien und Think-Tanks enormes Interesse ge- Wir biegen ab in eine Sandstraße, auf der Affenfa- funden hat. Einer der Beiträge der Chefredaktion milien herumspringen, fahren ein paar Kilometer zum viel beachteten Schwerpunkt »BURNOUT – und trauen unseren Augen nicht. Auf einem schier Der erschöpfte Planet«.

Machtfaktor Erde I 119 »ZDFzoom«: Als die Doku aus der Nacht kam Von der Wiederentdeckung der Königsdisziplin des Journalismus

Seit dem 11. Mai 2011 hat die politische Lange hatten die Dokumentaristen in der Chefre- Dokumentation wieder ein Zuhause in der daktion auf ein solches Signal gewartet, ja, darauf Primetime des ZDF. Seit diesem Tag sendet gehofft. Hunderte von Dokumentationen hatte es »ZDFzoom« wöchentlich 30- oder 45-minütige in den vergangenen Jahren gegeben, aktuell, Filme zum Zeitgeschehen und gibt der vertie­ hintergründig, investigativ, viele gute Themen fenden und hintergründigen Berichterstat­ waren dabei und so mancher preisgekrönte und tung des Senders einen herausgehobenen herausragende Film. Aber immer fehlte die feste Christian Dezer Stellenwert. Heimat, der feste Sendeplatz. Die politischen, Hauptredaktion Politik und auch gerne »relevant« genannten Dokumentatio- Zeitgeschehen Alles begann an einem Nachmittag Mitte Dezem- nen liefen mal in der frühen, mal in der späten ber 2010. In den Tagen zuvor hatte es ein wenig Primetime und häufig erst spät in der Nacht. geschneit, der erste Frost war gekommen, und die Stimmung wurde langsam weihnachtlich. In »Zündstoff« – so hieß die letzte richtige Dokumen- der neugegründeten Hauptredaktion Politik und tationsreihe für die hintergründige Dokumentation Zeitgeschehen atmeten viele nach einem aufre- im ZDF. Sie behandelte die heißen Eisen aus Poli- genden Jahr zwischen der Fusion zweier Haupt- tik und Gesellschaft. »Zündstoff«, nur die Altvorde- abteilungen und umfänglicher Berichterstattung ren erinnern sich noch daran, starb irgendwann gerade ein bisschen durch. Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrtausends. Vielleicht zu Recht, weil eine solche Form der Da meldete sich plötzlich der Chefredakteur Peter Doku-Erzählung wie Bildungsbürgerfernsehen da- Frey. Seine Mitteilung war kurz und präzise und herkam und nicht mehr zeitgemäß war. von weitreichender Bedeutung. Er teilte mit, dass es bei der nächsten Programmschemareform im Im Winter 2010 gab es dann die Aussicht auf kommenden April einen neuen Sendeplatz für einen neuen Sendeplatz, die Chance auf ein rich- politische Dokumentationen geben solle. Deshalb tiges Dokumentationsformat. Kurzerhand wurde benötige er noch vor Weihnachten ein überzeu- eine Klausurtagung einberufen. Es wurde disku- gendes Konzept. tiert, überlegt und gerungen, Doku-Beispiele aus dem In- und Ausland gesichtet, Rat von Grafikex- perten und Designspezialisten eingeholt. Der Titel wurde aber schon bald im neuen Jahr gefunden: »ZDFzoom« sollte er lauten und für das näher Herangehen, das genaue Betrachten stehen.

Jetzt, nur ein Jahr später, kann man sagen, dass »ZDFzoom« zu einem klaren publizistischen State- ment geworden ist: Die Reihe steht für selbstge- machten, nachfragenden und investigativen Jour- nalismus. Kennzeichnend für »ZDFzoom« ist die Das »ZDFzoom«-Team frische Optik und der ästhetische Ausdruck des

120 I 2011.Jahrbuch neuen Formats. Gedreht wird überwiegend mit 5D-Kameras, die einen besonderen »cineasti- schen Look« erzeugen. Große Unterstützung kam dabei vom Geschäftsfeld Kamera, das diesen neuen Weg mit großem Engagement begleitet hat. In nur kurzer Zeit wurden für »ZDFzoom« so- wohl im Kamerabereich als auch im Schnitt neue Wege beschritten, die es möglich machen, dass »ZDFzoom« mit der entsprechenden Qualität pro- duziert werden kann. Logo von »ZDFzoom« »ZDFzoom« setzt grundsätzlich auf das Thema, auf den Inhalt. Die Redaktion versteht ihre Sen- chen von »ZDFzoom« gemausert. In der Welt der dung als hintergründiges Informationsmodul. Er- eher klassischen Dokumentationserzählungen hat zählt wird die Story von einem »handelnden Autor« »ZDFzoom« so für Auffälligkeit gesorgt. »ZDF­ – als Bindeglied zwischen Zuschauer und Thema. zoom« hat sich vorgenommen, möglichst nah an Der Autor macht seine Vorgehensweise, seine der Lebenswelt der Zuschauer zu sein. Vielleicht Recherche und seine Ergebnisse transparent und interessiert sich der Zuschauer nicht für die große für den Zuschauer nachvollziehbar. Er nimmt das Gesundheitsreform, aber er will wissen, warum er Publikum an die Hand oder streckt zumindest als Kassenpatient ein Patient zweiter Klasse ist. seine Hand hilfreich aus, um durch vielschichtige Beim Thema Energie interessiert ihn eher die und komplexe Themenbereiche zu führen. Frage: »Wieso ist mein Strom so teuer?«. Und erst dann: »Wer ist dafür verantwortlich?«, um sich auf Dabei ist »ZDFzoom« kein Presenter-Format. Die die Hintergründe der deutschen Energiewirtschaft Dokumentation steht vielmehr in der Tradition der einzulassen. Wenn es um ein Oligopol der Mine- britischen, französischen oder skandinavischen ralölkonzerne geht, ist die naheliegende Frage: Formate, wie »Panorma«, »envoyé speciale« oder »Wer ist für die hohen Spritpreise verantwortlich?«. »uppdrag granskning«, was so viel wie »Auftrag aufklären« bedeutet. Bei diesen Dokumentations- »ZDFzoom« hat eine komplett neue Redaktion formaten treten die Autoren in der Regel zurück- bekommen, zusammengesetzt aus Kolleginnen haltend auf, bringen die Geschichte im On voran, und Kollegen aus vielen Bereichen der Chefredak- wenn es passend ist, und nur dann, wenn ihre tion. Das neue Team hat seine Wurzeln in der alten Aktionen und Auftritte vor der Kamera auch Sinn Innen- und Außenpolitik, in der Aktualität und bei machen. den ZDF-Reportern.

Kennzeichen von »ZDFzoom« sind auch die 3D- Mit großem Elan geht das »ZDFzoom«-Team jede Grafiken, die in die Filme integriert werden und Woche aufs Neue an die Herausforderung, die eine zusätzliche Informationsebene bieten. Grafi- Zuschauer für politische Themen zu interessieren. ken und Zusatzinfos sind so nicht länger Bildtren- Dabei stehen auch aktuelle Probleme im Fokus, ner, sondern Ergänzungen, die beiläufig mitkon- sofern sie sich in kurzer Zeit dokumentarisch und sumiert werden können, ohne den Erzählfluss zu hintergründig aufarbeiten lassen. Die vertiefende unterbrechen. Diese Form der grafischen Aufbe- Information und das Erklären von politischen Zu- reitung hat sich sehr schnell zu einem Markenzei- sammenhängen ist für »ZDFzoom« maßgeblich.

»ZDFzoom«: Als die Doku aus der Nacht kam I 121 Der Zuschauer soll aus dem Kleinen, das ihn di- Gut acht Monate nach dem Sendestart kann man rekt betrifft, zum Großen und Ganzen geführt festhalten: »ZDFzoom« etabliert sich als Marke, werden. »Das Reiskorn im Wasserglas«, hat das die im Interesse der Zuschauer berichtet. Das der berühmte Dokumentarfilmer Gert Monheim zeigt die steigende Zahl von Zuschriften und einmal genannt. Was bedeutet die kleine Ge- Mails, in denen uns Zuschauer auf Themen und schichte für den Gesamtzusammenhang? Wie Missstände aufmerksam machen. Im neuen Jahr steht was in welchem Verhältnis? Auf diese Fra- wird »ZDFzoom« erstmals investigative Themen gen wünschen sich viele Zuschauer in dieser präsentieren, die von Zuschauern ins Rollen ge- schnelllebigen Zeit Antworten, Einordnungen und bracht wurden. Und auch in der öffentlichen Erklärungen. Wahrnehmung hat »ZDFzoom« erste Erfolge er- zielt. Beim d44. Bundeswirtschaftsfilmpreis erhielt Ein paar der »ZDFzoom«-Themen haben das im die Reihe gleich zwei Preise: Für kompetente ersten Jahr ganz gut geschafft: »ZDFzoom« be- wirtschaftspolitische Berichterstattung gewann richtete über die Tricks der Versicherungen, es »ZDFzoom« den zweiten und dritten Platz. ging um die umstrittene Methode der Erdgasför- derung, »Fracking«, um den Organhandel im Ko- Es begann an einem kalten Dezembertag. An sovo, den illegalen Handel mit deutschem Com- diesem Tag fand die politische Dokumentation im puterschrott in Ghana oder um die Fakten beim ZDF aus der Nacht in die Hauptsendezeit zurück. Prozess um den Wettermoderator Jörg Kachel- Das war ein guter Tag fürs ZDF und für die Königs- mann. disziplin des Journalismus – die Dokumentation.

122 I 2011.Jahrbuch Die FIFA Frauen-Weltmeisterschaft Ein sportliches Großereignis in den Stadien und an den Fernsehgeräten

Die FIFA Frauen-WM 2011 war in vielerlei Hin­ line-Redaktion) taktische Elemente der Teams mit sicht eine Veranstaltung der Superlative. Nie Hilfe modernster Computertechnik anschaulich zuvor fanden die Welttitelkämpfe in Deutsch­ aufgearbeitet. Die zweite feste Rubrik, »WM-Split- land statt. Noch nie war der Zuschauerzu­ ter«, befasste sich mit den kleinen abseitigen Ge- spruch in den Stadien und an den Bildschir­ schichten und Stimmungen im Gastgeberland. men bei einer Frauensportart so groß, und Alle wichtigen Regelentscheidungen wurden von erstmals zeigten ZDF und ARD alle Spiele unserer Expertin, der FIFA-Schiedsrichterin Dr. live. Das Motto der Veranstalter »20elf von Riem Hussein, charmant auf den Punkt gebracht. Andreas Lauterbach seiner schönsten Seite« beschrieb treffend Hauptredaktion Sport die 22 Tage in diesem Sommer. Das Fazit liest Die hohe Kompetenz der ZDF-Übertragungen sich gut, doch der Weg dahin war für alle wurde auch durch die Reporter gestärkt. Neben beteiligten Bereiche hart und steinig. dem erfahrenen Norbert Galeske saß zum ersten Mal bei einer Fußballweltmeisterschaft eine Frau Schon in der ersten Sitzung mit allen relevanten am Mikrofon. Claudia Neumann bestach durch Redaktionen im ZDF blies dem Frauenfußball ein exzellentes Fachwissen und emotionale Kommen- kühler Wind der Skepsis und Häme entgegen. Der tierung. immer wiederkehrende Vergleich mit dem Män- nerfußball erschwerte die Arbeit immens. Doch Dem ZDF-Team gelang es, den hohen Anforde- das motivierte das Team, etwas gänzlich Neues rungen an Produktion und Technik gerecht zu auf die Beine zu stellen. Die wichtigste Aufgabe werden, die notwendige Distanz in der Berichter- war es, dem Frauenfußball gerecht zu werden und stattung zu wahren und dennoch ein emotionales den Leistungen der Spielerinnen Respekt zu zol- Sportereignis zum Mitfiebern auf die Bildschirme len. zu bringen. Logistische Meisterleistungen wurden unter Federführung des ZDF unter anderem bei Das Sendekonzept sah vor, die Moderation im den Übertragungen aus den Stadien, den Hotels Stadion des Topspiels zu platzieren. Sven Voss der deutschen Mannschaft und dem IBCC (Inter- präsentierte das Geschehen locker und gekonnt nationales Koordinationscenter) in Frankfurt er- von einer Plattform inmitten der Zuschauer ge- bracht. meinsam mit Silke Rottenberg. Die langjährige Torfrau der deutschen Nationalmannschaft be- In enger Zusammenarbeit mit den Kollegen der stach durch ihre kompetente Art. Katrin Müller- Aktualität wurden auch die gesellschaftlichen As- Hohenstein präsentierte die neuesten Nachrichten pekte, vor allem das Thema »Frauen und Fußball«, und Interviews vor dem jeweiligen Hotel der deut- kompetent umgesetzt. Der von der Chefredaktion schen Nationalmannschaft. Unterstützt wurde die initiierte »Mannomann-Tag«, ein geglückter Weltre- Sportstudiomoderatorin von der »ZDF- kordversuch elfmeterschießender Frauen und Morgenmagazin«-Expertin Renate Lingor. Die frü- Mädchen, war ein voller Erfolg. Als zusätzlicher here Mittelfeldstrategin gab wertvolle Hinweise für Gewinn entpuppten sich die beiden ZDFneo-Do- die programmprägende Rubrik 3D. Hier wurden kumentationen zur Historie des Frauenfußballs exklusiv im ZDF jeden Tag (auch für die ZDFon- und der Chefin des Organisationskomitees Steffi

Die FIFA Frauen-Weltmeisterschaft I 123 Jones, sowie die Reportage der Hauptredaktion tistiken, Kurzmeldungen auf allen drei Plattformen Sport über die harte WM-Vorbereitung der deut- (zdf.de/heute.de/ sport.zdf.de), exklusiven Berich- schen Nationalmannschaft. ten zur deutschen Nationalmannschaft, dem »DFB11Center« mit Silke Rottenbergs DFB-Form- ZDFonline hatte nie zuvor einen reichhaltigeren check und Notentool, dem ZDF-Fanbus, unserem Rechteumfang, der, intensiv genutzt, zu einem WM-Blog und einer umgebauten ZDFmediathek, großen Erfolg des ZDF-Internetauftritts führte. Alle um das vielfältige Videoangebot übersichtlich Spiele, die das ZDF übertrug, gab es im Netz als präsentieren zu können. Livestream, dabei wurden durchschnittlich 22 648 Sichtungen erzielt. Betrachtet man nur die Diese Inhalte wurden mit einem völlig neuartigen Livestreams mit deutscher Beteiligung, so liegt Sendehinweis im Fernsehen präsentiert. Dabei der Durchschnittswert bei 61 795 Sichtungen. Zu wurde das Livebild in das Onlineangebot integriert allen Spielen (auch denen, die von der ARD aus- und die gesamte Webseite ausgestrahlt. Der Mo- gestrahlt wurden) gab es Zusammenfassungen derator (hier Sven Voss) stand damit im Onlinean- nach dem Prinzip: alle Spiele, alle Tore. Angerei- gebot und konnte dem Zuschauer am Bildschirm chert wurde die ZDFmediathek außerdem mit 3D- den Onlinemehrwert eindrucksvoll präsentieren. Analysen zu verschiedenen Teams. In den Sozialen Netzwerken Twitter und Facebook Neben den Videos glänzte das Onlineangebot wurde mit aktuellen Bildern aus den Stadien und durch eine Rundumversorgung mit Liveticker, Sta- Links zu ZDF-Inhalten auch die junge Generation

Die Frauenfußball-WM im Internet

124 I 2011.Jahrbuch Millionen Zuschauer mindestens ein WM-Spiel bei ARD oder ZDF. Das entspricht 54,1 Prozent des gesamten Publikumpotenzials. Im Schnitt sahen 2011 in Deutschland 6,70 Millionen die Livespiele im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Bei den deut- schen Begegnungen stieg die Zahl der Fernseh- zuschauer auf im Vorfeld nie für möglich gehalte- ne 16,34 Millionen (55,7 Prozent Marktanteil).

Dieter Gruschwitz (Bildmitte) und Den höchsten Wert des gesamten Turniers und sein Team sind für die Frauenfuß- aller Frauenspiele überhaupt erreichte das Viertel- ball-WM im Einsatz final-Aus der deutschen Nationalmannschaft auf die WM-Berichterstattung aufmerksam ge- gegen den späteren Weltmeister Japan. Die macht und zur Diskussion angeregt. 0:1-Niederlage am Samstagabend erlebten 17,01 Millionen (59,2 Prozent Marktanteil) und bescherte Mit »Celia kickt« gab es ein gemeinsam von On- dem ZDF somit auch die erfolgreichste ZDF-Sen- line-Redaktion und der Hauptredaktion Sport dung im Fernsehjahr 2011. sowie Journalistikstudenten der TU Dortmund entwickeltes Videomodul, das vor allem auf den Wahrhaft eine Veranstaltung der Superlative. familiären Charakter der Frauenfußball-WM abziel- Rückblickend lässt sich festhalten, dass aus dem te. Dabei lernten Zuschauer und User deutsche kühlen Wind der Skepsis ein warmer Regen ge- Nationalspielerinnen mal von einer ganz anderen worden ist. Die WM hat wieder einmal gezeigt, Seite kennen. Im Fernsehen wurden immer wieder dass das deutsche Publikum in den Stadien und Videoclips aus »Celia kickt« (145 000 Sichtungen) an den Fernsehgeräten ein sportliches Großereig- präsentiert und entsprechende Onlinehinweise nis als »Gesamtkunstwerk« versteht. Auch wenn gegeben. die eigene Mannschaft, wie in diesem Fall mit einer Bilanz von drei Siegen und einer Niederlage, Trotz des frühen WM-Aus der deutschen Mann- enttäuschte, blieb das Publikum dem Fußballfest schaft sprengte die Zuschauerakzeptanz der FIFA treu. Ganz im Sinne von Respekt und Fairness. Frauen-WM alle Rekorde. Insgesamt sahen 38,93 Und so haben doch irgendwie alle gewonnen.

Die FIFA Frauen-Weltmeisterschaft I 125