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61. Jahrgang • Mai 2010 • ISSN 0032-3462 • € 4,50 POLITISCHE Themenheft STUDIEN 1/2010

Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen 20 Jahre Deutsche Einheit

Mit Beiträgen von

Jürgen Aretz Lutz Haarmann Tilman Mayer Klaus Naumann Klaus Schroeder Richard Schröder Horst Teltschik 01-04_Innentit_Impr_Inhalt:01-04_Innentit_Impr_Inhalt 22.04.2010 10:01 Uhr Seite 1

61. Jahrgang • Mai 2010 • ISSN 0032-3462 • € 4,50 POLITISCHE Themenheft STUDIEN 1/2010

Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen 20 Jahre Deutsche Einheit

Mit Beiträgen von

Jürgen Aretz Lutz Haarmann Helmut Kohl Tilman Mayer Klaus Naumann Klaus Schroeder Richard Schröder Horst Seehofer Horst Teltschik Theo Waigel 01-04_Innentit_Impr_Inhalt:01-04_Innentit_Impr_Inhalt 22.04.2010 10:01 Uhr Seite 2

Hanns Seidel Stiftung

Herausgeber: irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm © 2010, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Lazarettstraße 33, 80636 München, Genehmigung der Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Tel. 089/1258-0, E-Mail: [email protected], reproduziert oder unter Verwendung elektroni- Online: www.hss.de scher Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Das Copyright für diese Publi- Vorsitzender: Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair, kation liegt bei der Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Staatsminister a.D., Senator E.h. Hauptgeschäftsführer: Dr. Peter Witterauf Die Beiträge in diesem Heft geben nicht unbe- Leiter der Akademie für Politik und Zeit- dingt die Meinung des Herausgebers wieder; geschehen: Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser die Autoren tragen für ihre Texte die volle Verant- Leiter PRÖ/Publikationen: Hubertus Klingsbögl wortung. Unverlangt eingesandte Manuskripte werden nur zurückgesandt, wenn ihnen ein Rück- Redaktion: porto beiliegt. Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser (Chefredakteur, V.i.S.d.P.) Bezugspreis: Einzelhefte € 4,50. Barbara Fürbeth M.A. (Redaktionsleiterin) Jahresabonnement € 27,00. Verena Hausner (Stv. Redaktionsleiterin) Schüler/Studenten-Jahresabonnement bei Vorlage Susanne Berke, Dipl. Bibl. (Redakteurin) einer gültigen Bescheinigung kostenlos. Claudia Magg-Frank, Dipl. sc. pol. (Redakteurin) Die Zeitschrift Politische Studien erscheint als Marion Steib (Redaktionsassistentin) Periodikum und Themenheft. Darüber hinaus er- scheinende Sonderausgaben sind im Abonnement Bildnachweis: vario images, Bonn: nicht enthalten. Abobestellungen und Einzelheft- Mauerfall 10.11.1989 bestellungen über die Redaktion und den Buch- handel. Druck: Bosch-Druck, Landshut Kündigungen müssen der Redaktion schriftlich Alle Rechte, insbesondere das Recht der Ver- mindestens 8 Wochen vor Ablauf des Abonne- vielfältigung, Verbreitung sowie Übersetzung, ments vorliegen, ansonsten verlängert sich der vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf in Bezug um weitere 12 Monate. 01-04_Innentit_Impr_Inhalt:01-04_Innentit_Impr_Inhalt 22.04.2010 10:01 Uhr Seite 3

Inhalt

Hans Zehetmair Einführung ...... 5

Helmut Kohl Mauerfall und Wiedervereinigung – Gestaltung und Geschenk ...... 8

Horst Seehofer Die CSU und die Deutsche Einheit .. 18

Theo Waigel Die deutsche Einheit und der Euro – Jahre der Entscheidung ..... 30

Horst Teltschik Die deutsche Einheit und Europa .. 35

Jürgen Aretz Der Weg zur Einheit – Die Ver- handlungen des Jahres 1990 ...... 46

Tilman Mayer/ Die Deutschlandpolitik der Lutz Haarmann Bundesrepublik Deutschland 1949–1990 ...... 57

Richard Schröder Der Beitrag der Kirchen zur fried- lichen Revolution in der DDR ...... 67

Klaus Naumann Die deutsche Einheit, die Streit- kräfte und die NATO ...... 79

Klaus Schroeder Das Zusammenwachsen Deutsch- lands und die Kosten der deutschen Einheit ...... 88

Autorenverzeichnis ...... 103 01-04_Innentit_Impr_Inhalt:01-04_Innentit_Impr_Inhalt 22.04.2010 10:01 Uhr Seite 4 05-07_Zehetmair:05-07 22.04.2010 9:18 Uhr Seite 5

Einführung

Hans Zehetmair

Die Zeit ist schnell vergangen: Seit 20 wie sich dieser Teil der Welt und vor al- Jahren leben wir wieder im geeinten lem das geteilte Deutschland im Zen- Vaterland, ist Deutschland staatsrecht- trum weiter entwickeln würden. Die lich wieder vereint. Für die jüngeren Beiträge der Autoren dieses Heftes ru- Generationen ist dies schon eine lange fen uns in Erinnerung, welche Voraus- Zeit, aber viele, die das geteilte Europa setzungen die deutsche Einheit hatte. noch selbst bewusst erlebt haben, erin- Nur so ist die Entwicklung der Jahre nern sich noch lebhaft an die Mauer, 1989/90, aber auch der folgenden Jahr- den Schießbefehl und Stacheldraht. zehnte zu verstehen. Brachte uns das Jahr 2009 den Fall der Mauer und das Ende der kommunisti- Ganz bewusst wollten wir nicht nur schen Regime ins Gedächtnis, so kön- Wissenschaftler und Publizisten, son- nen wir in diesem Jahr auf den Ge- dern auch an der Wiedervereinigung burtstag des vereinten Deutschland zu- Deutschlands aktiv beteiligte Akteure rückblicken. Am 3. Oktober 1990 war zu Wort kommen lassen. Allen voran die DDR endgültig Geschichte; eine steht der Beitrag Helmut Kohls, der uns vereinte Bundesrepublik Deutschland wieder bewusst macht, auf welchen trat auf die Bühne der Welt. Dieses Ju- Grundlagen dieser Prozess überhaupt biläum war für uns Anlass, Bilanz zu in Gang kommen und so erfolgreich ziehen. Heute ist für fast alle selbstver- verlaufen konnte. Aber das ist nur ein ständlich, dass Deutschland in Frieden Teil der Historie: Es braucht immer die und im Einklang mit seinen Nachbarn herausragende Persönlichkeit, die (wie in der Mitte Europas lebt. In den Jahr- Kohl Bismarck zitiert) erkennt, wenn zehnten der Teilung Europas nach der Mantel Gottes durch die Geschich- 1945 war aber lange nicht abzusehen, te weht und dann beherzt zugreift. Hel-

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mut Kohl hat die historische Chance sammenbruchs des kommunistischen erkannt und gehandelt; deshalb ist er Weltreichs das Selbstbestimmungs- zu Recht als Kanzler der Einheit in die recht für alle von Stalin unterjochten Geschichte eingegangen. Völker gelten muss. Für Deutschland musste das bedeuten, dass realiter Die Wiedervereinigung konnte auf nur eine Wiedervereinigung in Frage Fundamente aufbauen, die früher ge- kam. Die Ideologen und Träumer in legt wurden und im Kern gegen alle Deutschland, aber auch manche zyni- Stürme des Zeitgeistes verteidigt wer- schen Machtpolitiker in den Nachbar- den konnten. Dies unterstreichen die staaten, die ihre Hoffnungen auf ein Beiträge von Horst Seehofer und Theo Fortbestehen einer entstalinisierten Waigel. Ohne den festen Willen, am DDR richteten, wurden von dem mas- Anspruch nach Wiedervereinigung im senhaften Ruf „Wir sind ein Volk!“ der Sinne des Grundgesetzes festhalten zu Bürger dieses Landes bald eines Besse- wollen, hätte die Entwicklung in den ren belehrt. Die Deutschen haben ihre 1980er-Jahren völlig anders verlaufen einmalige welthistorische Chance ge- können. Wäre dieser Anspruch gar of- nutzt. fiziell aufgegeben worden, dann hätte es einen Beitritt der DDR zum Gel- Dazu hat aber auch die deutsche Poli- tungsbereich des Grundgesetzes nicht tik entscheidend beigetragen. Dies wird gegeben. Ob dann die Entwicklungen vor allem dadurch deutlich, wenn man der Jahre 1989 und 1990 zu einer sich – wie dies Tilman Mayer in seinem schnellen Wiedervereinigung in Frie- Beitrag unternimmt –, die Deutsch- den und Freiheit hätten führen kön- landpolitik der Bundesregierungen von nen, kann bezweifelt werden. Es waren 1949 bis 1990 vor Augen hält. Auch die Politiker der Union und an vor- dieser Überblick verdeutlicht das Ver- derster Front die CSU, die daran immer dienst vieler Politiker aus verschiede- festgehalten haben und insbesondere nen Parteien, den Gedanken an die durch die Klage vor dem Bundesverfas- Wiedervereinigung bis zuletzt zumin- sungsgericht gegen den Grundlagen- dest „latent aktualisierbar“ zu erhalten. vertrag Pflöcke eingeschlagen haben, Daran hatten – mit unterschiedlichen an denen sich die Deutschlandpolitik Akzenten – auch die Kirchen ihren An- auch bei ideologisiertem Gegenwind teil, woran uns Richard Schröder erin- festhalten konnte. nert. Aber die Umsetzung der Wieder- vereinigung in die politische Realität Gegenwind kam nicht nur von innen- erforderte auch viel konkrete Arbeit in politischen Gegnern der Union, son- der nationalen und internationalen Po- dern auch von manchen Nachbarn litik: Die „Zwei-plus-Vier-Verhandlun- und Verbündeten. Letztlich konnte gen“ waren für die Akteure alles ande- dies den Prozess aber nicht aufhalten. re als einfach; die endgültige Anerken- Wie Horst Teltschik und Jürgen Aretz nung der Oder-Neiße-Grenze war für darlegen, waren die Freunde und Ver- manchen konservativen Mitbürger ei- bündeten in Europa und den USA in ne harte Nuss und die Verankerung des diese Entwicklung intensiv eingebun- wiedervereinigten Deutschland in der den. Letztlich war den entscheidenden NATO außenpolitisch ein heißes Eisen. Akteuren klar, dass als Resultat des Zu- Klaus Naumann erinnert in seinem Bei- 05-07_Zehetmair:05-07 22.04.2010 9:18 Uhr Seite 7

Einführung 7

trag an ein besonders schweres Erbe des europäische Gemeinschaftswährung Kommunismus, nämlich die militäri- eingebracht hat, ist durch die Wieder- sche Hinterlassenschaft der NVA und vereinigung beschleunigt worden. Die deren Integration in die Bundeswehr. Einbindung Deutschlands in Europa Heute wird oft vergessen, dass neben war eine Voraussetzung für die Wie- den bewaffneten Organen der DDR dervereinigung, die Wiedervereinigung noch bis 1994 mehrere hunderttau- hat aber ihrerseits Deutschlands Rolle send Sowjetsoldaten im Osten Deutsch- in Europa gestärkt. Davon wird unser lands stationiert waren, die allmählich Vaterland ebenso wie Europa auch in in ihre Heimat zurückgeführt werden Zukunft profitieren. mussten. Dass all diese Prozesse fried- lich abliefen, wird auch in vielen Jahr- Ein Jubiläum ist eine Wegmarke zum hunderten noch als vorbildlich ge- Innehalten. Die Geschichte geht weiter sehen werden. All dies hat enorme – auch für Deutschland und Europa. Kosten verursacht, wie uns Klaus Für uns sollte das Gedenken an die Zeit Schroeder erläutert. Nicht alles konnte der friedlichen Wiedervereinigung un- und kann mit materiellen Regelungen seres Vaterlandes Anlass sein, darüber aufgefangen und geglättet werden. nachzudenken, wie wir Frieden und Trotz der friedlichen Entwicklung blei- Freiheit auch in Zukunft erhalten wol- ben im wiedervereinigten Deutschland len. Eine wichtige Lehre sollte für uns auch 20 Jahre nach diesen Ereignissen sein, dass wir immer danach streben ökonomische Schieflagen und struktu- müssen, die Werte der demokratischen relle Defizite, die sich nicht so entwi- Zivilisation nach innen wie nach au- ckelt haben, wie viele es sich wünsch- ßen aufrechtzuerhalten und offensiv ten. Aber nicht zuletzt die jüngste Wirt- zu verteidigen. Ein Kotau vor den Fein- schafts- und Finanzkrise hat uns den der Freiheit wäre heute genauso gezeigt, dass Deutschland auch trotz falsch wie er es in den Jahrzenten vor mancher anhaltender Belastungen als 1990 gewesen wäre. Das wiederverei- Folge der Wiedervereinigung heute in nigte Deutschland kann vor dem Hin- Europa ein angesehener, wirtschaftlich tergrund seiner Entwicklung in den starker und handlungsfähiger Akteur letzten 20 Jahren auch für andere Re- ist – jedenfalls deutlich stärker, als eini- gionen der Welt als ermutigendes Vor- ge der europäischen Nachbarn, die kei- bild dienen. Wenn ein Land weiß, wo- ne Wiedervereinigung zu „verkraften“ hin es will, kann es dieses Ziel in Frie- haben. Dass Deutschland sich in die den und Freiheit erreichen. 08-17_Kohl:08-17 12.05.2010 11:54 Uhr Seite 8

Mauerfall und Wiedervereinigung – Gestaltung und Geschenk*

Helmut Kohl

Am 9. November 1989 fiel die Berliner Nach dem Mauerfall im November Mauer – über vier Jahrzehnte nach Be- 1989 sollte nicht einmal ein Jahr ver- ginn des Kalten Krieges, 28 Jahre nach gehen, bis wir die Wiedervereinigung ihrer Errichtung. in Frieden und Freiheit und mit Zu- stimmung unserer Partner und Ver- Die Mauer von Berlin hatte jahrzehn- bündeten in der Welt erreichten. Am telang nicht nur – schlimm genug – Fa- 3. Oktober 1990 konnten wir den Tag milien zerrissen, eine Stadt und ein der deutschen Einheit feiern. Es war der Land faktisch in zwei Teile geteilt. Sie Triumph der Freiheit. war auch das Symbol des Kalten Krie- ges. Sie stand für die Spaltung , So ist der 20. Jahrestag des Mauerfalls unseres Landes, Europas und der Welt für uns Deutsche vor allem ein Tag gro- in einen freien und einen unfreien Teil. ßer Freude und Dankbarkeit. Zugleich ist er für uns auch ein gewichtiges Da- Die Mauer fiel schließlich ganz fried- tum, uns im historischen Kontext be- lich, ohne einen Schuss, ohne Blutver- wusst zu machen, wie es zum Mauerfall gießen. Es war wie ein Wunder. Der und wie es anschließend zur deutschen friedliche Protest der Menschen in der Einheit kam. Denn weder Mauerfall DDR hatte sich über Monate langsam, noch Wiedervereinigung sind zwangs- aber stetig aufgebaut und war schließ- läufige Ereignisse der Geschichte, die lich nicht mehr aufzuhalten. Das starr- sich einfach so ergeben haben. sinnige SED-Regime, das sich bis zuletzt grundlegenden Reformen verweigerte, Mauerfall und Wiedervereinigung sind scheiterte am Freiheitswillen der Men- vielmehr das Ergebnis eines seit schen – so, wie es Konrad Adenauer, der 1945/49 andauernden, schwierigen erste Bundeskanzler der Bundesrepu- und immer wieder auch höchst um- blik Deutschland, 40 Jahre zuvor vo- strittenen politischen Balanceaktes. Es rausgesehen hatte. war die stete Balance zwischen Abgren-

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Mauerfall und Wiedervereinigung 9

zung und Annäherung. Einerseits galt net, das ist wahr, aber entschieden war es, die deutsche Frage offenzuhalten. noch nichts an diesem Tag des Mauer- Andererseits galt es, so weit wie mög- falls. Die Wiedervereinigung unseres lich und ohne Aufgabe der eigenen Landes war vielmehr ein politischer Grundpositionen «normale Beziehun- Machtkampf um die europäische Statik gen» zwischen der Bundesrepublik und die Sicherheitsinteressen in Ost Deutschland und der DDR aufzubauen, wie West. Sie war bis zuletzt ein Ba- den Menschen im östlichen Teil unse- lanceakt im Spannungsfeld des Kalten res Landes Erleichterungen zu ver- Krieges. schaffen und der Entfremdung zwi- schen den Deutschen in Ost und West Ich zitiere für die Situation, in der ich entgegenzuwirken. mich damals wiederfand, gerne Otto von Bismarck, denn es gibt kein bes- Dass die Mauer irgendwann fallen und seres Bild: Wenn der Mantel Gottes Deutschland wieder vereint würde, durch die Geschichte wehe, müsse daran hatte ich nie einen Zweifel. Aber man zuspringen und ihn festhalten. wie und wann dies geschehen würde, Dafür müssen drei Voraussetzungen war für mich immer eine offene Fra- gegeben sein: Erstens muss man einen ge. Lange Zeit wusste ich nicht ein- Blick dafür haben, dass es den Mantel mal, ob sich dies noch zu meinen Leb- Gottes gibt. Zweitens muss man ihn zeiten ergeben würde. Es war immer spüren, den historischen Moment, klar, dass dafür vieles zusammenkom- und drittens muss man springen und men musste – so, wie es in den Jahren ihn festhalten (wollen). Dazu gehört 1989 und 1990 dann auch geschah. nicht nur Mut. Es bedarf vielmehr ei- Nicht allein der Freiheitswillen der ner Paarung von Mut und Klugheit. Menschen in der DDR, nicht allein Denn Politik ist nicht wie «Zieten aus Glasnost und Perestroika, nicht allein dem Busch». Dass der Reitergeneral die Entspannungspolitik zwischen Ost Zieten Schlachten für Friedrich den und West, nicht allein US-Präsident Großen entschieden hat, indem er aus George Bush, nicht allein der sowje- dem Wald hervorbrach und die Geg- tische Generalsekretär Michail Gor- ner in einem Überraschungsangriff batschow, nicht allein der deutsche überwältigte, ist kein Vorbild für die Bundeskanzler – niemand allein hätte Politik. ausgereicht, um die Mauer zu Fall und die Wiedervereinigung zustande zu Politik braucht Gespür für das Mach- bringen. Es bedurfte dazu vielmehr bare, auch für das dem anderen Zu- einer glücklichen, ich möchte sagen mutbare. Dies galt in besonderer Weise einer historischen Konstellation von für die deutsche Frage, und hier erst Personen und Ereignissen. recht in der Zeit nach dem Mauerfall. Der politische Einigungsprozess war in Zum historischen Bewusstsein gehört höchstem Maße sensibel, denn wir auch die Erkenntnis: Mit dem Mauer- Deutschen waren ja nicht allein auf der fall war die Einheit noch nicht erreicht. Welt. In dem Moment, als die Einheit Im Gegenteil, noch war nichts ent- greifbar nahe schien, wäre es für die Sa- schieden am 9. November 1989. Eine che der Deutschen in hohem Maße Tür hatte sich einen Spalt breit geöff- schädlich gewesen, der deutschen Ein- 08-17_Kohl:08-17 12.05.2010 11:54 Uhr Seite 10

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heit das Wort zu reden oder etwa den geringsten Anlass gegeben hätte, deutschnationale Reden zu führen. In- zu glauben, dass wir Deutschen einen nerlich war ich, zumal nach dem Fall unverständlichen Alleingang unter- der Mauer, auf dem Weg der Einheit nehmen würden. schon viel weiter, als ich aussprechen durfte. Auf die Wiedervereinigung unseres Landes hatte ich immer hingearbeitet. Ein besonders eindringliches Beispiel Es entsprach meiner tiefsten Überzeu- dafür ist mein Zehn-Punkte-Programm, gung, dass wir die deutsche Frage of- das ich zweieinhalb Wochen nach dem fenhalten mussten, bis der Moment Mauerfall, am 28. November 1989, im kommen würde. Ich habe mich dabei Deutschen im Alleingang, immer in der Kontinuität Konrad das heißt ohne jede innen- und außen- Adenauers gesehen. Der erste Bundes- politische Abstimmung, vorgelegt ha- kanzler der Bundesrepublik Deutsch- be. Als Ziel nannte ich in Punkt zehn land hat die entscheidenden Weichen die Wiedergewinnung der staatlichen in der deutschen Frage gestellt. Von Be- Einheit Deutschlands beim Namen, ginn an hatte Adenauer einen klaren verzichtete allerdings bewusst auf eine Kompass. Er wollte Deutschland nach zeitliche Festlegung. Mit dem in Zehn dem Zweiten Weltkrieg wieder in die Punkte gekleideten Fahrplan habe ich Gemeinschaft der freien Völker zu- die Initiative auf dem Weg zur deut- rückführen, er wollte ein freies und ge- schen Einheit übernommen und die eintes Europa mit einem freien und ge- Richtung unzweideutig vorgegeben. Es einten Deutschland. Er stand klar auf war damals das Äußerste, das ich wagen der Seite des freiheitlichen Westens, er durfte. Die Reaktionen verdeutlichten war kein Wanderer zwischen West und dies einmal mehr. Ost. Die Integration der Bundesrepu- blik in den freien Westen und die Bin- Ein anderes Beispiel für die gebotene dung an die USA standen für ihn ein- Vorsicht ist meine Rede in Dresden wie- deutig vor der deutschen Wiederverei- derum drei Wochen später, am 19. De- nigung, die er gleichwohl immer fest zember 1989. Zahlreiche Journalisten im Blick hatte. aus dem In- und Ausland waren ange- reist. Auch hier, vor der gesamten Welt- So rief Konrad Adenauer am 5. Mai öffentlichkeit, die auf uns schaute, 1955, dem Tag, an dem die Westmäch- durfte es nicht mein Thema sein, in der te die Bundesrepublik für souverän er- Frage der Einheit die Stimmung anzu- klärten, an dem die Bundesrepublik heizen, auch wenn die Menschen of- der Westeuropäischen Union beitrat fenkundig auf eine klare Antwort von und an dem sie in die NATO aufge- mir warteten. Und das machte die Re- nommen wurde, den Landsleuten in de, die ich gewissermaßen aus dem der DDR zu: «Ihr gehört zu uns, wir Stegreif hielt, so schwierig. Ich musste gehören zu Euch. Ihr könnt Euch im- den rund 100 000 Menschen in einer mer auf uns verlassen, denn gemein- aufgeheizten Stimmung ein Wort der sam mit der freien Welt werden wir Treue und der Besonnenheit sagen. Ich nicht rasten und nicht ruhen, bis auch durfte zugleich aber keine Formulie- Ihr die Menschenrechte wiedererlangt rung wählen, die im Ausland auch nur habt und mit uns friedlich vereint im 08-17_Kohl:08-17 12.05.2010 11:54 Uhr Seite 11

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gleichen Staate seid.» Beharrlich hielt zeit gleichwohl gelang, 1955 die letz- er auch am Alleinvertretungsanspruch ten deutschen Kriegsgefangenen aus der Bundesrepublik für Deutschland der Sowjetunion heimzuholen, unter- fest. streicht, dass die Westbindung für ihn kein Dogma war, das der Wahrung na- Was heute manchem wie eine Selbst- tionaler Interessen im Osten im Wege verständlichkeit erscheint, war in den stand. insgesamt labilen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in höchstem Maße Aus meiner Sicht hatten Adenauers unsicher. Der Schuman-Plan von 1950 Überzeugungen nie an Aktualität ver- als Grundstein der heutigen Europäi- loren: Eine Wiedervereinigung ohne schen Union, der Deutschlandvertrag feste Einbettung in die westlichen von 1952 mit der Aufhebung des Be- Bündnisse hätte unser Land in die Neu- satzungsstatuts und zugleich der Ver- tralität geführt. Die Folge wäre letztlich pflichtung der Westmächte auf ein wie- ein unfreies Deutschland im Machtbe- dervereinigtes Deutschland, der Beitritt reich der Sowjetunion gewesen. Der der Bundesrepublik Deutschland zur Mauerfall am 9. November 1989 und NATO im Mai 1955, um nur einige we- die deutsche Wiedervereinigung am nige Punkte zu nennen – all dies trägt 3. Oktober 1990 sind daher nicht zu- Adenauers Handschrift. Adenauer war letzt die beeindruckende, späte Bestäti- sich sicher, dass die Attraktivität des gung von Adenauers konsequentem Westens und der Freiheit irgendwann Kurs der Westbindung mit Wiederver- zur deutschen Wiedervereinigung füh- einigungsvorbehalt, an dem wir über ren müsste. Und er war immer auch die Jahre festgehalten hatten. klug genug, dies nicht um den Preis der Neutralität erreichen zu wollen. Wahr ist auch, dass das Festhalten an der deutschen Frage immer schwieriger Die brutale Niederschlagung des Volks- wurde, weil der Zeitgeist immer stärker aufstands in der DDR am 17. Juni 1953 dagegen stand. Je länger die Teilung durch sowjetische Truppen hat Kon- dauerte, desto größer wurde in der Bun- rad Adenauer darin bestärkt, dass es desrepublik die Gruppe derer, die sich keine verantwortbare Alternative zur mit der Zweistaatlichkeit zumindest ar- Integration in den Westen gab. Es war rangiert hatte und die Teilung Deutsch- richtig, dass die Westalliierten als Ant- lands als Realität akzeptiert wissen wort auf die Stalin-Note von 1952 im wollte. Schon in den siebziger Jahren Einklang mit dem deutschen Bundes- war die Einheit nur noch für wenige in kanzler freie Wahlen in ganz Deutsch- unserem Land eine Herzensangelegen- land als Voraussetzung für weitere heit. Nicht die Mehrheit der Men- Schritte gefordert hatten. Denn die schen, aber sicher eine Mehrheit der Bedingung Stalins war ein neutrales politischen Klasse in unserem Land Deutschland gewesen. Adenauer ging hatte die Idee der Einheit längst aufge- zu Recht davon aus, dass eine Neu- geben. Diese Haltung war durchaus tralisierung Deutschlands zu einem parteiübergreifend anzutreffen. Der Machtvakuum in Europa führen wür- Unterschied zwischen den Parteien lag de, das die Sowjetunion ausfüllen wür- aber darin, wo die Mehrheit der Partei de. Dass es ihm in seiner Regierungs- und wo ihre Führung stand. 08-17_Kohl:08-17 12.05.2010 11:54 Uhr Seite 12

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Wer damals für die Einheit eintrat, galt Schritt für Schritt und gegen Kleinmut als Ewiggestriger oder Kriegstreiber. Ich und Ängstlichkeit der Skeptiker auf erinnere mich noch sehr gut an die dem europäischen Einigungsweg vo- Zeit, als ich 1976 als Oppositionsführer rangegangen. nach Bonn kam. Weil ich einer der we- nigen war, die noch an die deutsche Mit Erfolg, denn als 1989 die Wieder- Einheit glaubten, stand ich in dem Ruf vereinigung auf die politische Tages- des «Hardliners». Mit meinem Amtsan- ordnung rückte, war zwar noch vie- tritt als Bundeskanzler 1982 schürten les zu tun, aber waren mit meinem Zu- meine innenpolitischen Gegner so- tun doch ganz wesentliche Fortschrit- gleich Ängste vor einer vermeintlichen te gemacht worden: So hatten wir in «neuen Eiszeit» zwischen Ost und den achtziger Jahren die Einheitliche West, die mit mir als Regierungschef Europäische Akte unter anderem zur anbrechen sollte. Meine Gegner soll- Vollendung des Europäischen Binnen- ten sich irren, das Gegenteil war der marktes unterzeichnet. Bereits ab Mit- Fall: Unter meiner politischen Führung te der achtziger Jahre hatte ich mich wurden ganz wesentliche Weichenstel- auch gemeinsam mit dem französi- lungen auf dem Weg zur Einheit vorge- schen Staatspräsidenten Mitterrand nommen. Ich trieb den europäischen für die Einführung einer gemeinsa- Integrationsprozess im Tandem mit men europäischen Währung einge- Frankreichs Staatspräsident François setzt und die Weichen in diese Rich- Mitterrand voran. Ich bemühte mich tung gestellt. um ganz konkrete Erleichterungen für die Menschen in der DDR, ich ver- In der Deutschlandpolitik führte ich suchte, keinen Anlass für Spannungen mit der Übernahme der Kanzlerschaft zwischen Ost und West zu geben, sig- ein, dass der alljährliche Bericht zur La- nalisierte auch der Sowjetunion Ge- ge der Nation inhaltlich wieder erwei- sprächsbereitschaft, bot Möglichkei- tert und im Titel mit dem Zusatz «im ten der Zusammenarbeit an und hielt geteilten Deutschland» versehen wur- doch an meinen deutschlandpoliti- de. Ich sah darin zugleich ein wichtiges schen Grundpositionen fest. Signal nach innen wie nach außen. Mit dem Milliardenkredit an die DDR, der Mit meiner Politik folgte ich der Ade- mit meiner Rückendeckung im we- nauerschen Logik: Europäische Eini- sentlichen über Franz Josef Strauß lief, gung und deutsche Einheit sind zwei nahmen wir den Gesprächsfaden mit Seiten derselben Medaille. Zu Beginn der DDR wieder auf und erreichten als meiner Kanzlerzeit war der europäische Gegenleistungen erhebliche menschli- Einigungsprozess an einem Tiefpunkt che Erleichterungen, wie den Abbau angelangt. Viele glaubten nicht mehr der Selbstschussanlagen an der inner- an die Idee des gemeinsamen Hauses deutschen Grenze, Erleichterungen bei Europa. Das hässliche Wort der «Euro- der Familienzusammenführung und sklerose» beherrschte das Meinungs- beim Mindestumtausch. bild und drückte die ganze Mutlo- sigkeit aus. Doch mit Überzeugung Die Entscheidung aller Entscheidun- und Ausdauer sind wir, die Befürworter gen auf dem Weg zur deutschen Ein- der europäischen Integration, weiter heit war der NATO-Doppelbeschluss, 08-17_Kohl:08-17 12.05.2010 11:54 Uhr Seite 13

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den mein Vorgänger pelbeschluss verbundene Standfestig- gegen den Willen seiner Partei auf den keit des Westens die Entspannungs- Weg brachte und den ich mit meiner politik zwischen Ost und West erst Regierung 1983 gegen alle Widerstände möglich – und damit auch Michail in unserem Land durchsetzte. So über- Gorbatschow mit Glasnost und Peres- zeugt ich von der Richtigkeit der Ent- troika in der Sowjetunion. scheidung bis heute bin, so persönlich schwierig war sie damals. Es war eine Meine Bundesregierung verteidigte ge- sehr einsame Entscheidung. Das Bild gen alle Widerstände auch die grundle- von Hunderttausenden Demonstran- genden Positionen unserer Deutsch- ten, die gegen den NATO-Doppelbe- landpolitik. Dazu gehörte vor allem die schluss auf die Straße gingen, habe ich Frage der deutschen Staatsbürgerschaft. bis heute vor Augen. Ich erinnere mich Ich erinnere mich sehr genau an die auch an die eisigen Mienen der Sozial- Debatte, die gerade in der Zeit meines demokraten, als der Sozialist Mitter- Amtsantritts als Bundeskanzler heftig rand sich in einer Rede vor dem Deut- geführt wurde. Die Anerkennung der schen Bundestag ohne Wenn und Aber DDR-Staatsbürgerschaft sollte über die an unsere Seite stellte – und gegen sei- Jahre eine der hartnäckigsten Forde- ne deutschen Parteifreunde, die mit ih- rungen Honeckers an die Bundesregie- rer Ablehnung in Westeuropa völlig rung bleiben. Für meine strikte Ableh- isoliert waren. nung hatte ich gute Gründe. Mit der Aufgabe der einen deutschen Staats- Ich bin zutiefst überzeugt, dass oh- bürgerschaft hätten wir zugleich die ne den NATO-Doppelbeschluss 1989 Idee der einen deutschen Nation auf- nicht die Mauer gefallen wäre und wir gegeben, wir hätten damit das ent- 1990 nicht die Wiedervereinigung scheidende Band der Gemeinsamkeit erreicht hätten. Die Welt hätte eine zwischen den Menschen in beiden Tei- ganz andere Entwicklung genommen. len Deutschlands aufgelöst, und wir Das Risiko war offenkundig. Ohne hätten den Menschen in der DDR ei- NATO-Doppelbeschluss drohte eine nen ganz wesentlichen Schutz und ein massive Machtverschiebung in Euro- gutes Stück Hoffnung genommen. Zu pa zugunsten der Sowjetunion. Die den praktischen Folgen hätte gehört: NATO mit den Amerikanern hätte sich Ungarn hätte 1989 keine völkerrechtli- schrittweise aus Kerneuropa zurückge- che Grundlage gehabt, unseren Lands- zogen. Mindestens die Bundesrepublik leuten den Weg in die Freiheit «legal» Deutschland, Österreich und die DDR, zu ermöglichen. Und die Menschen wenn nicht sogar die Benelux-Staaten aus der DDR hätten – wie Ausländer – und Italien wären in der Folge zur so- bei uns um Asyl nachsuchen müssen. genannten atomwaffenfreien Zone ge- worden und entmilitarisiert worden, Weniger gewichtig in der Konsequenz, während die Sowjetunion ihren Ein- aber bedeutsam für die Betroffenen, flussbereich ausgedehnt und vor allem war auch immer die zweite große For- von der Wirtschaftskraft der Bundesre- derung Honeckers an die Bundesregie- publik profitiert hätte. Entgegen allen rung, die Zentrale Erfassungsstelle für Befürchtungen seiner Gegner und Kri- DDR-Unrecht in Salzgitter zu schlie- tiker machte die mit dem NATO-Dop- ßen. Ich habe mich auch dieser Forde- 08-17_Kohl:08-17 12.05.2010 11:54 Uhr Seite 14

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rung – ebenfalls im Gegensatz zu den deutschen Frage verpflichtet. Der Un- Sozialdemokraten – deutlich wider- terschied zu uns aber bestand darin, setzt. Ich habe es, im Gegenteil, immer dass die SPD immer stärker national für einen Verrat an den politischen Ge- ausgerichtet war und den Primat der fangenen in der DDR gehalten, dass die Westintegration nie in ganzer Konse- sozialdemokratisch geführten Bundes- quenz akzeptierte. Während die Union länder Mitte der achtziger Jahre damit im Balanceakt zwischen Annäherung drohten und es zum Teil auch be- und Abgrenzung bei ihrer klaren Dis- schlossen, ihren Anteil an der Finan- tanz blieb, ging die SPD eher auf Annä- zierung dieser Stelle einzustellen. herungskurs mit der SED. Das offen- kundigste Beispiel dafür bleibt das SPD- Die Einladung meines Vorgängers Hel- SED-Papier von 1987. Der Skandal zeigt mut Schmidt an hielt sich in der zentralen Aussage: «Keine ich aufrecht, als ich ins Amt kam. Es Seite darf der anderen die Existenzbe- war notwendig, mit dem anderen Teil rechtigung absprechen. Unsere Hoff- Deutschlands im Gespräch zu bleiben. nung kann sich nicht darauf richten, Als der SED-Generalsekretär 1987 end- dass ein System das andere abschafft. lich Bonn besuchen sollte, verband ich Sie richtet sich darauf, dass beide Syste- die Begegnung mit dem Junktim, dass me reformfähig sind und der Wettbe- unsere Tischreden beim offiziellen werb der Systeme den Willen zur Re- Abendessen live im westlichen und vor form auf beiden Seiten stärkt. Koexis- allem auch im östlichen Teil unseres tenz und gemeinsame Sicherheit gelten Landes gesendet wurden. Millionen also ohne zeitliche Begrenzung.» Das Menschen in der DDR blickten an die- hierin zum Ausdruck kommende ideo- sem Abend durch den Eisernen Vor- logische Arrangement der SPD mit dem hang und konnten am Fernsehen mit- SED-Unrechtsregime war auch inner- erleben, wie ich Honecker sagte: «Das halb der SPD selbst umstritten. Das Pa- Bewusstsein für die Einheit der Nation pier betont die Gemeinsamkeiten und ist wach wie eh und je, und ungebro- verwischt die grundlegenden, men- chen ist der Wille, sie zu bewahren. […] schenverachtenden Unterschiede, die Für die Bundesregierung wiederhole uns systembedingt trennten. Es war zu- ich: Die Präambel unseres Grundgeset- gleich eine Absage an die auch in der zes steht nicht zur Disposition, weil sie Präambel unseres Grundgesetzes ver- unserer Überzeugung entspricht. Sie ankerte Verpflichtung, die deutsche will das vereinte Europa, und sie fordert Einheit anzustreben. Am Vorabend der das gesamte deutsche Volk auf, in frei- Wiedervereinigung, in den entschei- er Selbstbestimmung die Einheit und denden Monaten in den Jahren 1989 Freiheit Deutschlands zu vollenden. und 1990, zeigte sich diese Ambivalenz Das ist unser Ziel. Wir stehen zu diesem in einer in sich völlig zerstrittenen SPD, Verfassungsauftrag, und wir haben kei- die sich in innerparteilichen Kämpfen nen Zweifel, dass dies dem Wunsch und populistischen Sprüchen gegen die und Willen, ja der Sehnsucht der Men- deutsche Einheit verlor und Ängste bei schen in Deutschland entspricht.» den Deutschen in West wie Ost schürte.

Wie die Union sahen sich auch die So- Natürlich gab es auch in den Reihen zialdemokraten im Grundsatz stets der der Union, dem Zeitgeist folgend, Be- 08-17_Kohl:08-17 12.05.2010 11:54 Uhr Seite 15

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fürworter einer stärkeren Annäherung Ganz ähnlich, was die Bedeutung von an die DDR und das SED-Regime, dies Vertrauen angeht, und doch ganz an- allerdings nur am Rande, nie in der ders, was die deutsche Frage betrifft, ver- Mehrheit. Beispielhaft dafür stehen hielt es sich mit Michail Gorbatschow. meine innenparteilichen Widersacher, Das Staatsoberhaupt der Sowjetunion die mich auf dem Bremer Parteitag wollte die deutsche Einheit ursprüng- noch im September 1989 – also wäh- lich nicht. Er sah die Notwendigkeit rend die Welt sich grundlegend verän- von Reformen nicht zuletzt aus der ei- derte und die Lösung der deutschen genen Erfahrung mit der desolaten wirt- Frage immer näher rückte – stürzen schaftlichen Lage in Russland. Mit den wollten, um den Kurs der Partei zu än- Worten Glasnost und Perestroika öffne- dern. Mit meiner Wiederwahl zum Par- te er den Weg für Veränderungen im ge- teivorsitzenden entzog die Basis diesem samten Ostblock. Gleichwohl, und das Ansinnen den Boden und gab zugleich habe ich in Gesprächen immer wieder ein klares Votum für meinen deutsch- feststellen können, wollte er die Konse- landpolitischen Kurs ab. quenzen seines Reformkurses nicht zu Ende denken. Er wollte die Öffnung des Die entscheidenden Verbündeten auf Ostblocks, aber er wollte das daraus sich unserem Weg waren die Amerikaner. Sie zwangsläufig ergebende Ende auch der erwiesen sich einmal mehr als Schutz- Sowjetunion nicht sehen oder nicht macht denn als Besatzungsmacht und wahrhaben. Sein größtes Verdienst als Freunde der Deutschen. Die inhalt- bleibt, dass er seine Politik den Not- lich bedeutsamste Rede eines amerika- wendigkeiten immer wieder anpasste. nischen Präsidenten für das deutsch- Dazu gehört vor allem, dass er in den amerikanische Verhältnis hielt George aufgeregten Tagen des Mauerfalls in Bush Ende Mai 1989 in Mainz, wenige Berlin die sowjetischen Panzer in den Monate nachdem er Präsident der Ver- Kasernen gehalten hat und den Auf- einigten Staaten geworden war. Es war stand nicht blutig niederschlagen ließ. eine ganz bewusste Proklamation auch Die friedliche Linie behielt er über den an die Adresse unserer europäischen gesamten Einigungsprozess bei. Wir Partner wie an die Sowjetunion, als Deutschen können ihm für seinen Mut Bush vor dem Hintergrund der weltpo- nicht dankbar genug sein. Er ist damit litischen Veränderungen Amerika und auch ein großes persönliches Risiko ein- Deutschland «partners in leadership» gegangen. Michail Gorbatschow muss- nannte. Während des gesamten Eini- te 1989/90 ständig fürchten, von den gungsprozesses konnte ich mich auch Reformgegnern in der Sowjetunion persönlich immer auf meinen Freund weggeputscht zu werden. Für uns hätte George Bush verlassen, mit dem ich mich dies bedeutet, dass die Grenze mit Mau- über den gesamten Zeitraum eng ab- er und Stacheldraht über Nacht wieder stimmte. Dies war vor allem in der Frage hochgezogen und die deutsche Frage der Bündniszugehörigkeit des vereinten auf Jahre verschoben worden wäre. Deutschlands außerordentlich hilfreich. Unser Schulterschluss beruhte neben Michail Gorbatschow hat für seine persönlicher Sympathie ganz wesent- friedliche Linie einen hohen Preis be- lich darauf, dass wir die gleichen Grund- zahlt. Ich erinnere mich gut daran, wie überzeugungen von Freiheit hatten. er bei seinem Besuch im Juni 1989 in 08-17_Kohl:08-17 12.05.2010 11:54 Uhr Seite 16

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Bonn unter dem Eindruck der «Gorbi- Einsicht in die Unabwendbarkeit der manie» in der Bundesrepublik zu mir Entwicklung nicht mehr gegen die sagte, auf dem Bonner Marktplatz habe Wiedervereinigung unseres Landes er sich gefühlt wie auf dem Roten Platz sperrte, hatte irrtümlich darauf gesetzt, in Moskau. Als ich dann später, Ende dass Gorbatschow der NATO-Zugehö- der neunziger Jahre, nach dem Zerfall rigkeit eines vereinten Deutschlands der Sowjetunion mit Michail Gor- nie zustimmen würde. Sie sah sich da- batschow über den Roten Platz in rin zumindest anfänglich mit François Moskau ging, haben sich die Menschen Mitterrand einig. von ihm abgewandt. Auch von dem Präsidenten der Grande Unsere europäischen Nachbarn und Nation kam manches unfreundliche Partner trafen der Mauerfall und die Wort, bis er sich schließlich zu einer für Aussicht auf die Wiedervereinigung die Deutschen klaren, freundlichen Po- Deutschlands wie ein Schock. Viele hat- sition bekannte. Mitterrands Um- ten damit gerechnet, dass die deutsche schwenken von seiner anfänglich kriti- Einheit kommt, aber nicht zu ihren schen Haltung zur Wiedervereinigung Lebzeiten und schon gar nicht zu die- Deutschlands auf Zustimmung lag si- sem Zeitpunkt. Der Mauerfall kam da- cher ganz wesentlich darin begründet, her für die meisten schlicht ungelegen. dass ich ihn einmal mehr davon über- Selbstverständlich war in vielen Verträ- zeugen konnte: Die deutsche Einigung gen in den vorangegangenen Jahren und die europäische Einigung waren das Recht der Deutschen auf die Einheit für mich zwei Seiten derselben Me- verankert worden, aber das war gestern daille. Dafür stand nicht zuletzt die gewesen mit der Aussicht auf übermor- deutsch-französische Initiative zur Ein- gen. Und nun war sie da, unsere histo- führung der gemeinsamen europä- rische Chance auf ein geeintes deut- ischen Währung, des Euro, und für die sches Vaterland. Und nach kurzer Zeit Politische Union, die wir im Frühjahr schon flammte das alte Misstrauen ge- 1990 parallel zum deutschen Eini- gen die Deutschen wieder auf – nur für gungsprozess mit ganz konkreten kurze Zeit zwar, aber dafür umso hefti- Schritten vorantrieben. ger. Aus dem Kreis unserer europäi- schen Verbündeten stand nur einer von Und so haben wir Deutschen schließ- Beginn an fest an unserer Seite: der spa- lich mit Gottes Hilfe und der Hilfe un- nische Ministerpräsident Felipe Gonzá- serer Freunde und Verbündeten nach lez, der keine Minute einen Zweifel auf- über 40 Jahren des Kalten Krieges, in kommen ließ, wo sein Platz war. nicht einmal einem Jahr ab dem Zeit- punkt des Mauerfalls, die Wiederverei- Margaret Thatcher war die Ehrlichste nigung unseres Landes in Frieden und unter den Gegnern der Einheit und sag- Freiheit erreicht. Es hätte alles auch te: «Zwei Deutschland sind mir lieber ganz anders kommen können. Es war als eines.» Sie sagte auch: «Zweimal ha- auch ein Geschenk. Das wollen wir nie ben wir die Deutschen geschlagen, jetzt vergessen. Es sollte uns einmal mehr sind sie wieder da!» Die britische Re- Ansporn und Verpflichtung für die Zu- gierungschefin, die sich schließlich aus kunft sein. 08-17_Kohl:08-17 12.05.2010 11:54 Uhr Seite 17

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Anmerkung *Bei dem Beitrag handelt es sich um einen Auszug aus dem Vorwort zu dem Werk Kohl, Helmut: Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung, Verlag Droemer Knaur, München 2009, S. 7–22. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags. 18-29_Seehofer:18-29 29.04.2010 11:49 Uhr Seite 18

Die CSU und die Deutsche Einheit

Horst Seehofer

Die Deutsche Einheit ist ein Glücksfall der neueren Geschichte unseres Landes, denn sie markiert das gute Ende einer von den Menschen getragenen friedlichen Revolution. Möglich war die Deutsche Einheit aber vor allem deswegen, weil die Vollendung der Teilung verhindert werden konnte. Ursächlich dafür war ohne Zweifel die erfolgreiche Normenkontrollklage, die die CSU auf Initiative von Franz Josef Strauß gegen den Grundlagenvertrag der sozial-liberalen Koalition an- strengte. Mit Fug und Recht kann die CSU deshalb als die Partei der Deutschen Einheit gelten.

1. Einleitung bendiges Staatsvolk, ein einheitliches Staatsgebiet und ein legitimes staatli- Kein Mensch lebt nur für sich. Den be- ches Gewaltmonopol.1 Es liegt dabei zugslosen Egoist, den das Leben der in der Natur der Sache begründet, dass anderen gänzlich unberührt lässt, gibt es diesen Rahmen nur als historisch es nicht und hat es nie gegeben. Statt- gewachsene Einheit geben kann. Es dessen sind Menschen immer schon kommt daher nicht von ungefähr, soziale Wesen, Wesen, die in den ur- dass sich die Deutschen inmitten des sprünglichen Einheiten von Gemein- beispiellosen militärischen und mo- schaft und Gesellschaft leben und le- ralischen Trümmerfeldes, in dem sie ben wollen. Gerade deshalb sind Staa- am Ende des Zweiten Weltkriegs stan- ten keine Zufallsprodukte. Sie verdan- den, als ein Volk fühlten. Einem zu- ken sich nicht einer wechselvollen tiefst menschlichen Bedürfnis folgend Laune der Geschichte, sondern diesem musste ihnen die sich unmittelbar zutiefst sozialen Wesenszug des Men- nach dem Krieg und in den Nach- schen. Ihr Kern ist das kollektive Be- kriegsjahren abzeichnende Teilung wusstsein einer gemeinsamen kultu- umso schmerzlicher sein. rellen und sozialen Herkunft. Ihr An- trieb ist der vereinende Wille, die Doch so groß dieser Schmerz auch war, Herausforderungen des Lebens in ge- der 8. Mai 1945 war, wie Richard von meinsamer Verantwortung zu tragen. Weizsäcker 40 Jahre später zutreffend Und ihr tatsächliches Substrat lässt feststellte, „ein Tag der Befreiung“.2 Es sich mit Max Weber ganz konkret ist nur natürlich, dass der Tag des fassen: Es gehören zum Staat ein le- Kriegsendes mit ganz unterschiedli-

Politische Studien, Themenheft 1/2010, 61. Jahrgang, Mai 2010 18-29_Seehofer:18-29 29.04.2010 11:49 Uhr Seite 19

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chen Gefühlen verbunden wird. Aber auf der politischen Agenda hielt. Das an der Richtigkeit dieser Aussage kann mag zunächst überraschen, waren ihr kein Zweifel bestehen, wenn wir – dem doch das gesamtdeutsche Engagement Aufruf des ehemaligen Bundespräsi- und der uns heute so selbstverständ- denten folgend – uns anschicken, „der lich erscheinende bundesweite Gestal- Wahrheit, so gut wir eben können, ins tungsauftrag der CSU bei ihrer Grün- Auge zu blicken“. Es ist richtig: Befreit dung nicht vorgegeben. Heute wissen aus den Abgründen eines historisch wir: Es war Franz Josef Strauß, der einmaligen Irrweges wurde ganz nicht als erster und einziger, aber Deutschland, aber deswegen war nicht ganz sicher mit besonderem Nach- allen Deutschen der Weg in die Freiheit druck das gesamtdeutsche Profil der offen. Die Deutschen standen vor einer CSU schärfte. schicksalhaften Weggabelung. Ein In- nehalten war nicht möglich und so In der Deutschen Frage fühlte sich die trennten sich die Wege vieler unserer CSU von Anfang an nicht nur dem Landsleute. Die einen wurden aus ihrer Buchstaben, sondern in besonderer Heimat vertrieben, auf die anderen Weise dem Geist des Grundgesetzes wartete ein neues Unrechtsregime. Es verpflichtet. In der Präambel der alten war eine besondere Gnade der Ge- Fassung vom 23. Mai 1949 werden da- schichte, dass sich auf dem Boden der zu zwei fundamentale Grundsätze ge- späteren Bundesrepublik Rechtsstaat- legt: „Im Bewusstsein seiner Verant- lichkeit und Demokratie situieren wortung vor Gott und den Menschen, konnten. Das hat die Deutschen gera- von dem Willen beseelt, seine nationa- de im Westen unseres geteilten Vater- le und staatliche Einheit zu wahren landes von je her in besonderer Weise und als gleichwertiges Glied in einem verpflichtet: Friede und Freiheit waren vereinten Europa dem Frieden der Welt eine Gabe, für die wir noch heute dank- zu dienen, hat das Deutsche Volk … bar sein dürfen. Die Überwindung der kraft seiner verfassungsgebenden Ge- Teilung dagegen war fortan eine Auf- walt dieses Grundgesetz der Bundesre- gabe, eine historisch und kulturelle zu- publik Deutschland beschlossen. … Es tiefst menschliche Aufgabe, die die hat auch für jene Deutschen gehandelt, Deutschen niemand anderem schulde- denen mitzuwirken versagt war. Das ten als sich selbst. gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefor- dert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu 2. Die Einheit Deutschlands als vollenden.“3 Das Gebot, „seine natio- historische Aufgabe nale und staatliche Einheit zu wahren“, und die Verpflichtung aller Staatsor- Der unbedingte Wille, die Teilung gane, „in freier Selbstbestimmung die Deutschlands zu überwinden, war Einheit und Freiheit Deutschlands zu nicht allen politischen Richtungen vollenden“, diese Formulierung ließ ei- gleichermaßen gegeben. Von Anfang gentlich in Sachen Klarheit keine Fra- an war die Deutsche Frage der Union gen offen. Und doch bedurfte es des ve- wichtiger als der SPD. Innerhalb der hementen Eintretens der CSU, um den Union war es die CSU, die mit beson- normativen Auftrag des Grundgesetzes derem Nachdruck die Deutsche Frage zu erfüllen. 18-29_Seehofer:18-29 29.04.2010 11:49 Uhr Seite 20

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3. Die Deutsche Frage zwischen ziehungen als einen „unfreundlichen Hallstein-Doktrin und Akt“. Grundlagenvertrag Die Hallstein-Doktrin blieb gut einein- Die Deutsche Frage war von einer ein- halb Jahrzehnte die Leitlinie der Bon- fachen politischen Logik bestimmt. Die ner Deutschlandpolitik. Nach Jahren Vollendung der Einheit, wie sie im ihrer schleichenden Aushöhlung war Einheitswahrungs- und Wiedervereini- es schließlich , der die Hall- gungsgebot als Leitidee dem Grundge- stein-Doktrin endgültig aufgab. Brandt setz vorangestellt ist, war nur zu erfül- sprach in seiner Regierungserklärung len, wenn die Vollendung der Teilung am 28. Oktober 1969 von „zwei Staa- verhindert wurde. Konrad Adenauer ten“4 einer Nation in Deutschland. Da- sprach deshalb von der DDR ohne Un- mit hatte die neue sozialliberale Koali- terlass als der „sowjetisch besetzten Zo- tion ein grundsätzlich anderes Credo ne Deutschlands“ (SBZ). Unter seiner für die Deutsche Frage ausgegeben. Führung reihte sich die junge Bonner Während die Union am Gedanken der Republik ein in den Kreis der freien Freiheit und der Einbindung in die Völker. Im Jahre 1952 trat die Bundes- westlichen Demokratien festhielt, ging republik der Montanunion, drei Jahre es der Regierung Brandt um „Wandel später der NATO und der Westeuropä- durch Annäherung“5. Über direkte Ver- ischen Union bei. Weitere zwei Jahre handlungen zwischen der Bundesrepu- später wurde sie Teil der Europäischen blik Deutschland und der DDR zur ver- Wirtschaftsgemeinschaft. Die Westin- traglichen Regelung der Beziehungen tegration zeitigte Erfolg um Erfolg und zueinander führte diese neue und mit ihr drohte die Bedeutung der Deut- grundsätzlich anders angelegte Ostpo- schen Frage zu verblassen. Als Ade- litik zum Abschluss des Grundlagen- nauer bei seinem Moskau-Besuch vom vertrages. 9. bis 14. September 1955 die Aufnah- me diplomatischer Beziehungen mit Der Grundlagenvertrag sollte die Bezie- der Sowjetunion vereinbart hatte und hungen zwischen der Bundesrepublik die Sowjetunion die DDR am 20. Sep- und der DDR regeln. Dazu vereinbarten tember 1955 ebenfalls in ihren inne- die beiden Vertragspartner nicht nur ren und äußeren Angelegenheiten für die Beschränkung der jeweiligen Ho- „souverän“ erklärt hatte, kam die Bun- heitsgewalt auf das je eigene Staats- desregierung in Zugzwang. Sie musste gebiet. Gleichsam als stumme Drein- erklären, warum sie in Moskau einen gabe sicherte man sich gegenseitig die zweiten deutschen Botschafter hin- Selbstständigkeit und Unabhängigkeit nahm und zugleich auf die Nichtaner- in inneren und äußeren Angelegen- kennung der DDR als einem selbst- heiten zu. Die DDR sollte souverän ständigen Staat pochte. Auf diesen werden und aus der Demarkationslinie Widerspruch reagierte die Bundesregie- eine Grenze im Vollsinn des Wortes. rung mit der „Hallstein-Doktrin“. Sie Auf Kosten der Hinnahme der Teilung besagte, die Bundesregierung betrachte Deutschlands wären die Bewohner der die faktische völkerrechtliche Anerken- DDR Bürger eines souveränen Staates nung der DDR durch die Aufnahme geworden. Als am 21. Dezember 1972 oder Unterhaltung diplomatischer Be- , Bundesminister für beson- 18-29_Seehofer:18-29 29.04.2010 11:49 Uhr Seite 21

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dere Aufgaben, in Ost-Berlin seine Un- len Schicksal das bewegende Element terschrift unter diesen Vertrag setzte, unserer neueren Geschichte ist, ist ein schien die historische Aufgabe aus der so hohes Gut, dass jede staatliche Ge- Präambel des Grundgesetzes, die ja in walt an ihren Handlungen zur Erhal- besonderer Weise die Staatsorgane in tung dieses Gutes gemessen wird.“6 die Pflicht nahm, in Vergessenheit ge- raten zu sein. An die Stelle der fakti- Strauß und Goppel setzten damit ei- schen Normativität des Grundgesetzes ne lange Tradition fort. Den Anfang stellte die sozialliberale Koalition die machte Ministerpräsident Hans Ehard. scheinbar normative Kraft des Fakti- Unter seiner maßgeblichen Mitwirkung schen. Ulbrichts und Honeckers DDR fand Anfang Juni 1947 in der Baye- bekam, wonach es ihr am sehnlichsten rischen Staatskanzlei in München ei- verlangte: die Anerkennung durch die ne Ministerpräsidentenkonferenz statt. Bonner Republik. Als ein erster gesamtdeutscher Versuch wollte die Konferenz die sich abzeich- nende Teilung Deutschlands verhin- 4. Die Renaissance der Deutschen dern. Seine Eröffnungsrede schloss er Frage durch die Klage gegen mit den denkwürdigen Worten: „Trotz den Grundlagenvertrag der Aufspaltung Deutschlands in vier Zonen geben wir keinen Teil unseres Aber das wollte und konnte die CSU deutschen Vaterlandes auf. … Den nicht akzeptieren. Denn gute Bezie- deutschen Osten und Berlin betrach- hungen können niemals ein Selbst- ten wir als lebendigen Bestandteil zweck sein – zumal nicht, wenn sie mit Deutschlands.“ Die Unverbrüchlich- einem Unrechtsregime unterhalten keit dieses Bekenntnisses hat man im- werden sollen und nur um einen Preis mer wegzuwischen versucht, indem zu haben sind, den die Menschen in man der CSU das Etikett anhängen der DDR zu zahlen hatten. Nach inten- wollte, sie sei im Grunde ihres Herzens siven und mitunter kontroversen De- eine bayerische Regionalpartei, durch- batten in Partei, Parteivorstand und Ka- setzt von separatistischen Tendenzen. binett war klar: Die endgültige Teilung Es war abermals Ehard, der in seiner Deutschlands durfte nicht hingenom- berühmten Regensburger Rede am men werden. Im Ganzen ging es, als 3. April 1948 klarstellte: „Selbst wenn sich die CSU und die bayerische Staats- es in Bayern da und dort einen ver- regierung auf Initiative und Drängen trauten Separatisten geben sollte, der von Franz Josef Strauß dazu entschlos- nur sich und seine kleine bayerische sen, eine Normenkontrollklage beim Umwelt sieht, so könnte das nichts an Bundesverfassungsgericht gegen den der Tatsache ändern, dass Bayern nie- Grundlagenvertrag einzureichen, um mals mehr eine geschichtliche Ent- Großes und Grundsätzliches. „Die wicklung abstreifen kann, die es schick- deutsche Nation“, so stellte Minister- salsmäßig mit Gesamtdeutschland ver- präsident Alfons Goppel im Hauptsa- bunden und verwoben hat.“7 Und an cheverfahren um den Grundlagenver- die Adresse aller Deutschen fügte er an- trag fest, „die im Heiligen Römischen gesichts der sich abzeichnenden und Reich Deutscher Nation ihren Ur- immer weiter voranschreitenden Ent- sprung hat und mit ihrem wechselvol- fremdung der Ostzone hinzu: „Je ge- 18-29_Seehofer:18-29 29.04.2010 11:49 Uhr Seite 22

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ringer die Aussicht wird, auf die inner- brachte seine Partei und die bayerische staatliche Gestaltung des deutschen Staatsregierung dazu, vor allem diese Ostens Einfluss zu nehmen, desto ver- zweite Lesart in den Mittelpunkt der pflichtender um der gesamtstaatlichen Auseinandersetzung zu stellen. Denn Zukunft willen erhebt die Forderung in diesem Punkt, so die Argumentation ihr Haupt, wenigstens den anderen Teil von Strauß, verstoße der Grundlagen- Deutschlands so aufzubauen, dass dem vertrag gegen das Grundgesetz. Deshalb einen Spannungsfeld nicht ein gleich- müsse die Klage so angelegt werden, artiges Spannungsfeld zugesellt wird.“8 dass ein Urteilspruch eben diese ver- Damit war der intellektuelle Boden hängnisvolle doppelte Auslegungs- und bereitet, auf dem Strauß die Idee der Anwendungsmöglichkeit des Grundla- Klage gegen den Grundlagenvertrag genvertrags ausschließe.9 gebar. Das Kalkül ging auf. Das am 31. Juli Die Verpflichtung des Wiedervereini- 1973 ergangene Urteil legte dar, dass gungsgebots vor dem geistigen Auge der Grundlagenvertrag nicht vollum- und den Widerstand gegen das wach- fänglich mit dem Grundgesetz verein- sende Verblassen der Deutschen Frage bar ist. Die Bayern und die CSU hatten im Sinn war Strauß entschlossen, die obsiegt, aber die wahren Gewinner wa- Einheit Deutschlands – mag sie auch in ren die Deutschen in der DDR. Denn noch so weite Ferne gerückt sein – Karlsruhe stellte klar: In Wahrheit führ- nicht aufzugeben. Notfalls müssten te der von der sozialliberalen Koalition eben, wenn alle anderen von der Fah- propagierte „Wandel durch Annähe- ne gingen, die Bayern die „letzten rung“ zur allmählichen Aushöhlung Preußen“ sein. Das war fortan der des materiellen Verfassungsrechts, mit- Markstein bayerischer Deutschlandpo- hin zu einem „stillen Verfassungswan- litik. Strauß’ Strategie war einfach und del“. Gegen diesen „weichen“ Staats- klar: Eine Klage konnte Erfolg haben, begriff rief das Bundesverfassungsge- wenn es gelänge, die im Vertragswerk richt den Deutschen, vor allem aber angelegte Doppeldeutigkeit des Grund- den sozialliberalen Koalitionären den lagenvertrags offenzulegen. Denn nach Buchstaben und Geist des Grundgeset- der einen Lesart beschreibt er den Mo- zes ins Gedächtnis. Allen voran ist hier dus vivendi im innenpolitischen Um- das Gebot der Präambel zu nennen, gang mit der aus der SBZ hervorgegan- den Wiedervereinigungsanspruch nach genen DDR durch die Regierungspar- innen aufrechtzuhalten und nach au- teien. Aber in einer anderen, vor allem ßen alles zu unterlassen, was diesem von Moskau und Ost-Berlin favorisier- zuwiderlaufen könnte. Dieter Blumen- ten Lesart stellt der Grundlagenvertrag witz fasste das Entscheidende so zu- die faktische Regelung der deutsch- sammen: „Die völkerrechtliche Aner- deutschen Beziehungen dar, mit der kennung der DDR durch die Bundesre- Folge der Anerkennung der DDR und publik war nach dem Urteil nicht nur der Hinnahme der Teilung Deutsch- nicht ausgesprochen worden, sondern lands. Nach dieser zweiten Lesart sollte konnte für die Bundesregierung auch der in der Präambel niedergelegte Auf- zukünftig nicht in Betracht kom- trag, die Einheit Deutschlands zu voll- men.“10. Die DDR war demnach sozu- enden, ad acta gelegt werden. Strauß sagen ein Quasi-Staat. Sie war zwar ein 18-29_Seehofer:18-29 29.04.2010 11:49 Uhr Seite 23

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Völkerrechtssubjekt, aber sie war dies Schutzschirm der Freiheit. Schon des- mit der einschränkenden Besonder- wegen durfte der Umgang mit der DDR heit, dass sie immer noch Teil eines bei aller notwendigen Annäherung nie- existierenden Staates Gesamtdeutsch- mals zu deren Anerkennung führen. land war. Gesamtdeutschland wurde Denn ihre Anerkennung hätte die DDR also vor seiner Selbstaufgabe gerettet unmittelbar und ihr Unrecht mittelbar und existierte als ein noch zu legitimiert. Eine Flucht aus ihr wäre da- verwirklichendes Staatswesen in der durch noch schwieriger und damit rechtlichen Klammer der Viermächte- noch gefährlicher geworden. Die Aner- verantwortung weiter. Die Wiederver- kennung hätte den Menschen alle einigung auf der Basis einer freiheit- Hoffnung auf eine Wendung zum Gu- lich-demokratischen Verfassung sollte ten genommen. das Ziel bleiben. Alle Verfassungsor- gane waren diesem Ziel der Deutschen Es muss zynisch anmuten, gleichsam Einheit weiter verpflichtet. Eine recht- vom grünen Tisch aus die unterschied- liche Zementierung der Teilung war lichen Risiken einer Republikflucht ge- damit ausgeschlossen. So wurde das geneinander abzuwägen. Schon das von der CSU angestrebte Urteil weg- Wort „Republikflucht“ ist ein einziger weisend für die gesamte weitere Ost- Zynismus. Denn die Deutschen in der West-Politik. DDR, die sich zur Flucht entschlossen hatten, weil sie in ihr nicht leben woll- ten und konnten, haben das getan, was 5. Das Grundgesetz als Schutz- in einem schlichten Sinn des Wortes schirm der Freiheit aller ihr gutes Recht war. Sie haben in Ab- Deutschen wägung existenzieller Fragen nichts weiter gewagt, als über ihr Leben selbst Verträge werden gemacht, um das Zu- zu bestimmen. Sie haben Familien zu- sammenleben von Menschen zu re- rückgelassen und hatten mit der be- geln. Was immer vereinbart wird, be- drückenden Erkenntnis umzugehen, troffen von Verträgen sind deshalb dass die Angehörigen von Republik- nicht abstrakte Rechtssubjekte, wie es flüchtlingen schlimme Repressionen Staaten sind. Wenn wir also die ganze zu erleiden hatten. Und doch rangen Tragweite des Urteils zum Grundlagen- sich viele am Ende zur Flucht durch vertrag ermessen wollen, dann kom- und suchten Zuflucht in den deut- men wir nicht umhin, auch das Schick- schen Botschaften der damaligen so ge- sal derer in den Blick zu nehmen, die nannten „sozialistischen Bruderlän- von diesem Vertragswerk in besonderer der“. Auch diese Form der Flucht war Weise betroffen waren. Und das waren höchst risikoreich. Aber die Chance die Deutschen in der DDR – allen voran mit dem nackten Leben davonzukom- jene, die die DDR verlassen wollten, men, war deutlich größer als direkt aber nicht durften. Für all diese Men- über die mit Selbstschussanlagen gesi- schen war das Grundgesetz, ob sie nun cherte Mauer und die ihr vorgelagerten bleiben wollten oder bleiben mussten, Sperrgebiete in die Freiheit zu fliehen. ob sie aufgingen in der sozialistischen Ideologie oder sich zurückgezogen hat- Das Grundgesetz war von seinen Vä- ten in die innere Immigration, ein tern für alle Deutschen geschrieben. So 18-29_Seehofer:18-29 29.04.2010 11:49 Uhr Seite 24

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konnte dieses „Leuchtfeuer der Frei- len Bewohnern der DDR Hoffnung heit“11, wie es Bundespräsident Horst und Zuversicht. Köhler 60 Jahre später treffend charak- terisierte, den Deutschen in der DDR Erinnern wir uns an die Bilder der völ- auch in den dunkelsten Stunden der lig überfüllten deutschen Botschaft in deutsch-deutschen Geschichte Licht Prag. Im Vorfeld der friedlichen Revo- spenden und Hoffnung geben. Denn lution von 1989 wurde das Gelände der nach seinem Verständnis gab es infol- Botschaft mehr und mehr zum Zu- ge der Fortexistenz des Staatswesens fluchtsort von Flüchtlingen aus der Gesamtdeutschland auch nur eine DDR. Ab August 1989 und vermehrt in deutsche Staatsangehörigkeit. Eine den folgenden Wochen retteten sich Anerkennung der DDR-Staatsbürger- Tausende auf das Gelände der deut- schaft war damit unmöglich. Das be- schen Botschaft und damit unter den kräftigte das Grundlagenvertragsurteil Schutz des Grundgesetzes. Das Prager eindrucksvoll. Im Zuge der Staatsange- Palais Lobkowitz wurde so zu einer In- hörigkeitsregelung stellt der Urteils- sel der Freiheit. Sie harrten dort aus, bis spruch fest, dass nach Art. 16 GG die die DDR-Behörden schließlich einlenk- deutsche Staatsangehörigkeit zugleich ten und ab 30. September insgesamt die Staatsangehörigkeit aller Deut- 17.000 Menschen die Ausreise in die schen ist. Das bedeutet, dass nicht nur Bundesrepublik erlaubten. Am 3. No- die Bürger der Bundesrepublik deut- vember gestatteten dann die CˇSSR-Be- sche Staatsangehörige waren, sondern hörden den DDR-Bürgern die unregle- eben auch die Bewohner der DDR. Wo mentierte Ausreise in den Westen. Der immer sich also im In- und Ausland Eiserne Vorhang begann zu bröckeln ein DDR-Bewohner in den Schutzbe- und die Freiheit brach ihren Bann. reich staatlicher Stellen der Bundesre- Heute wissen wir: Das war eine der publik retten konnte, billigt ihm das wichtigsten Vorstufen zum Fall der Ber- Grundgesetz den gleichen Anspruch liner Mauer. auf Justizgewährung zu wie einem Staatsbürger der Bundesrepublik. In- Ohne das von der CSU errungene dem das Grundlagenvertragsurteil den Grundlagenurteil wäre die Geschichte Fortbestand „Deutschlands in den wahrscheinlich anders verlaufen. Hätte Grenzen vom 31. Dezember 1937“ si- die Teilung vollendet werden können, cherstellte, gab es zugleich die juristi- dann hätte es an Stelle der einen – auf sche Basis für die umfassende deutsche dem Geist des Grundgesetzes fußenden Staatsangehörigkeit. De facto waren – Staatsbürgerschaft für alle Deutschen die Deutschen geteilt, aber de iuris wa- zwei deutsche Staatsbürgerschaften ge- ren sie geeint. Dieses besonders ein- geben: zwei Staatsbürgerschaften für drückliche Beispiel für die Wirkmäch- zwei – nicht kulturell und historisch, tigkeit eines contrafaktischen Ideals aber juristisch – voneinander getrenn- war für viele das Tor zur Freiheit. Denn te Staatsvölker. Niemals hätte die DDR die Gewissheit, dass eine Flucht aus der unter solchen Voraussetzungen der Aus- DDR mit hoher Wahrscheinlichkeit ge- reise derer, die in der Prager Botschaft lungen war, wenn man nur das Terri- Schutz unter dem Schirm des Grund- torium einer deutschen Botschaft er- gesetzes gesucht hatten, zugestimmt. reichen konnte, gab ohne Zweifel vie- Nicht nur deshalb war Beharrlichkeit 18-29_Seehofer:18-29 29.04.2010 11:49 Uhr Seite 25

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der CSU in der deutschen Frage ein unter dem SED-Regime besonders zu Glücksfall für die Deutschen in der leiden hatten. Auf seinen Reisen durch DDR, mithin für alle Deutschen. Aus die DDR nahm er immer wieder Hilfs- heutiger Sicht kann kein Zweifel be- gesuche auf und sorgte dafür, dass viele stehen: Das Grundlagenvertragsurteil aus der -Diktatur ausreisen konn- hat dazu beigetragen, dass viele Men- ten. Auch das hat der CSU großes Ver- schenleben gerettet werden konnten. trauen der Menschen in Ostdeutsch- land eingebracht.

6. Die CSU als Partei der Einheit So hartnäckig und unbeugsam, wie die CSU in der deutschen Frage mit Franz Überblickt man aus heutiger Sicht die Josef Strauß war, blieb die CSU auch Zeit der Spaltung bis zur Wiederverei- mit Theo Waigel. Als Nachfolger im nigung unseres Vaterlandes, so bestä- CSU-Vorsitz und dann als Bundesfi- tigt sich eindrücklich: Keine andere nanzminister knüpfte Waigel an diese Partei hat sich in den Jahrzehnten der Politik ungebrochen an. Als Waigel im deutschen Teilung so klar und konse- Sommer 1989 davon sprach, dass die quent zur Einheit unseres Vaterlandes Wiedervereinigung wieder auf der Ta- bekannt wie die CSU. Keine andere Par- gesordnung der Weltpolitik stehe, wur- tei hat sich der „Nebenaußenpolitk“ de er aus den verschiedensten politi- des Kabinetts Brandt, seiner insgehei- schen Richtungen – vornehmlich der men Ablehnung der Bindung Deutsch- linken – dafür verspottet. Noch am lands an das transatlantische Bündnis 14. September 1988 bezeichnet Willy und der damit verbundenen stillen Brandt unter breiter Zustimmung bun- Aushöhlung des Wiedervereinigungs- desdeutscher Medien das Festhalten gebots des Grundgesetzes so scharf ab- am Wiedervereinigungsgebot als eine gegrenzt wie die CSU. Natürlich sind „Lebenslüge der zweiten Republik“12. Annäherung und Aussöhnung ehren- Und auch Peter Glotz tat noch in seiner werte Motive, aber der von der sozial- 1989 erschienenen Streitschrift „Die liberalen Koalition Brandts propagierte deutsche Rechte“ die verfassungsrecht- „Wandel durch Annäherung“ durfte lich verankerten Begriffe „Wiederverei- die Grenze zwischen Recht und Un- nigung“ und „Einheit der Nation“ als recht nicht verwischen. Die CSU hat schlichten Nationalismus ab.13 Und wie keine andere Partei das Unrecht, doch sollte die Einheit kommen. Das si- das die DDR verübte, beim Namen ge- cherste Indiz für die Richtigkeit dieser nannt und die Menschen, die unter Haltung ist der schlichte Umstand, dass diesem Regime zu leben und zu leiden dem sogenannten „Arbeiter und Bau- hatten, nach Kräften unterstützt. Um ernstaat“ in allen Phasen seiner 40-jäh- das Recht der Menschen auf ein besse- rigen Geschichte die Werktätigen da- res Leben in Frieden und Freiheit, in vonliefen. Politisch durch und durch Wohlstand und Sicherheit zu verwirk- ideologisiert und wirtschaftlich dahin- lichen, um dieses zutiefst humane An- darbend blutete die DDR vor allem liegen kämpfte Strauß nicht nur, als es durch den Verlust von Facharbeitern gegen den Grundlagenvertrag ging. Er und Akademikern regelrecht aus. Selbst machte sich auch später zu einem en- Mauer und Stacheldraht und Schießbe- gagierten Fürsprecher derjenigen, die fehl konnten die von der DDR als „Re- 18-29_Seehofer:18-29 29.04.2010 11:49 Uhr Seite 26

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publikflüchtlinge“ diffamierten Frei- auch im wiedervereinigten Deutsch- heitssuchenden nicht zurückhalten. land die unterschiedlichsten Gefühle verbunden sind. Das gilt für alle Deut- Die Einheit umzusetzen, war die Leis- schen – im Osten wie im Westen un- tung des Kanzlers der Einheit – Helmut seres Vaterlandes, aber besonders für Kohl. Für die CSU war es Theo Waigel, jene, die in Ermangelung anderer Al- der an Kohls Seite maßgeblich für die ternativen ihr Leben unter den Vorzei- Wiedervereinigung gearbeitet und ge- chen des DDR-Sozialismus zu leben kämpft hat. Er hat sich und der CSU hatten. Sie hatten keine Wahl und wur- größte Verdienste beim Aushandeln den nicht gefragt, wo und wie sie leben des Staatsvertrags über die Währungs-, wollten. Sie hatten nicht das histo- Wirtschafts- und Sozialunion erwor- rische Glück, auf dem Boden West- ben, den er am 18. Mai 1990 für die deutschlands leben zu können. Die Bundesrepublik unterzeichnete. Die Aufgaben, die ihnen das alltägliche Le- Einführung der D-Mark in der DDR war ben stellte, waren ungleich schwieriger. der unumkehrbare Schritt zur staatli- Was denen, die nicht mitmachen woll- chen Einheit. Aber auch am Abzug der ten, blieb, war, sich so gut es ging in der russischen Truppen aus Deutschland Lebenswirklichkeit der DDR einzurich- hat Theo Waigel maßgeblich mitge- ten. Gerade deshalb haben wir Deut- wirkt. In schwierigen Verhandlungen sche heute nicht das Recht, die je indi- gelang es ihm, dass 600.000 Russen viduelle Lebensleistung der Menschen Mitteleuropa friedlich verlassen haben. in der DDR zu schmälern oder gar klein Theo Waigel darf sich deswegen zu zu reden. Aber diese notwendige Rück- Recht als einer der Architekten der Ein- sichtnahme entbindet uns nicht von heit bezeichnen lassen. der historischen Pflicht, verübtes und erlittenes Unrecht beim Namen zu Strauß war es nicht vergönnt, den Er- nennen. Unrecht muss Unrecht und folg seiner Politik noch selbst zu erle- Recht muss Recht bleiben. Vielleicht ist ben. Er starb am 3. Oktober 1988, auf das die zentrale Lehre aus der deutsch- den Tag zwei Jahre vor der Deutschen deutschen Geschichte, dass ein tieferes Einheit. Es scheint wie eine symboli- Verständnis für die Lebenswirklichkeit sche Fügung der Geschichte, dass wir in der DDR und die unterschiedlichen, an diesem Tag auch seines Todestages mitunter ambivalenten Gefühle der gedenken. Am Jahrestag des Falls der Menschen Ostdeutschlands zu ihrer Berliner Mauer blicken wir mit Stolz auf Heimat die Annahme der Einsicht ver- die Verdienste von Franz Josef Strauß, langen, dass die DDR eine illegitimes von Theo Waigel und der CSU zurück. Regime war. Gerade denen, die unter Gerade an diesem historischen Datum diesem Regime zu leiden hatten oder bewahrheitet sich: Die CSU ist die Par- gar in dessen Mühlen zu Tode kamen, tei der Deutschen Einheit. schulden wir das Festhalten an der his- torischen Wahrheit. Und die Wahrheit ist: Von Anfang an war die DDR ein 7. Die DDR als Unrechtsstaat Unrechtsstaat.

Es ist nur natürlich, dass mit dem Unrechtsstaaten versündigen sich in Scheitern der sozialistischen Ideologie fundamentaler Weise an den ursprüng- 18-29_Seehofer:18-29 29.04.2010 11:49 Uhr Seite 27

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lichen Rechten des Menschen, ja am staaten. Damit hatte sich die DDR Menschen selbst: Unrechtsstaaten beu- denkbar weit vom Menschen entfernt. gen Recht, pervertieren Gleichheit und Nicht der Mensch hat sich von sich, nehmen dem Menschen seine innere sondern die DDR von den Menschen und äußere Freiheit. Bei der Konstruk- entfremdet. tion und Ausgestaltung ihrer system- immanenten Scheinwahrheiten ist ih- Gerade dieser schonungslose Blick auf nen nichts zu aufwendig und nichts zu das Unrecht der DDR zeigt: Ohne den absurd. Weil der Mensch aber ein inne- Willen zur Wahrheit verkommt alles. res Bedürfnis nach Wahrheit hat, ist die Die Liebe zum Vaterland gleitet in hoh- Entwicklung, die Ausgestaltung und le äußere Scheinbekenntnisse ab. Aus Aufrechterhaltung von Gegenwahrhei- der Politik wird Ideologie, ein leeres Ge- ten ein so aufwendiges Unterfangen. Es häuse, das man nach Belieben füllen ist ein Unterfangen, das nur gelingen kann. In diesem Sinn und Geist pre- kann, wenn dem Menschen seine Frei- digte Papst Benedikt XIV. als Kardinal heit beschnitten oder ganz genommen 1979 auf dem Münchner Marienplatz: wird. Der Marxismus rechtfertigte das „Nur die Annahme der Wahrheit kann immerzu mit der von ihm diagnosti- heilen.“14 Denn nur mit der Annahme zierten „Selbstentfremdung des Men- der Wahrheit ist ein Lernen aus der Ge- schen“, die er in der klassenlosen Ge- schichte möglich. sellschaft aufheben wollte. Er glaubte die Entfremdung des Menschen von sich selbst – von seinem Wesen, vom 8. Der 9. November – Ein Schick- dem, was er ist, was er sein und werden salstag der Deutschen mit der soll – läge in der Struktur des Kapitalis- Wendung zum Guten mus und den Werten der westlichen Welt begründet. Das war der vielleicht 2009 begingen die Deutschen im ver- folgenschwerste Irrtum des histori- einten Vaterland die Feierlichkeiten schen Materialismus. Denn in Wahr- zum 20. Jahrestag des Mauerfalls. Dass heit ist es der Verlust der Wahrheit die Geschichte Irrungen und Wirrun- selbst, der Menschen von sich selbst gen, Abgründe und Unmenschlichkeit entfremdet. Und es ist der Verlust der kennt, wissen wir alle nur zu Genüge. Wahrhaftigkeit, der Unrechtsstaaten zu Dass sie sich aber auch zum Guten Unrechtsstaaten macht. Nicht die wenden kann, dafür ist unser Land ein Trennung von Arbeitskraft und Pro- lehrreiches Beispiel. Sinnbildlich dafür duktionsmitteln, sondern die Tren- steht der 9. November: der „deutsche nung des Staatswesens von der Freiheit Schicksalstag“. Wie kein anderer Tag zur Wahrheit und von der Wahrheit in zeitigt er Licht und Schatten der deut- Freiheit ist die wahre Selbstentfrem- schen Geschichte im 20. Jahrhundert. dung des Menschen. Die DDR nahm ihren Bürgern die Freiheit, sich selbst Der Anfang war verheißungsvoll. Am und den Modus ihres Zusammenlebens 9. November 1918 fand Deutschland zu bestimmen. Sie hat damit den Men- nach den Jahren übersteigerter All- schen als zoon politicon, als soziales machtsphantasien und den Schrecken und politisches Wesen enthumanisiert. des Ersten Weltkriegs ein erstes Mal zu Staaten, die das tun, sind Unrechts- sich: Deutschland wurde Republik. Aus 18-29_Seehofer:18-29 29.04.2010 11:49 Uhr Seite 28

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der Kulturnation wurde eine Staats- Und die Bayern und Deutschen nah- nation. Aber schon recht bald wendete men diese Wahrheit an. Sie besannen sich das Blatt. Nach einigen wenigen sich auf ihre christlichen Wurzeln. Die relativ unbeschwerten Jahren erschüt- Väter der bayerischen Verfassungen terte am 9. November 1923 der Hitler- und des bundesdeutschen Grundgeset- putsch das hoffnungsvolle Land. Nur zes bekannten sich frei von jeder Ideo- fünfzehn Jahre später, im Jahr 1938 – es logie zur Verantwortung vor Gott. Alles war abermals ein 9. November – zeigte politische Denken wurde nun an einen sich Deutschland von seiner abgrün- das Weltliche übersteigenden, zeitlos digsten Seite. Das in den Jahren nach gültigen Sinn – ganz im Sinne der wört- der Machtergreifung heraufgezogene lichen Übersetzung von „religio“ – rück- Unheil des Nationalsozialismus war gebunden. Die Werte der christlichen unübersehbar geworden: Die soge- Gesellschaftslehren avancierten so zum nannte „Reichspogromnacht“ führte Widerlager politischen Handelns. Sie der Welt vor Augen, wie weit der gaben ihm Sinn und Richtung, Beharr- Nationalsozialismus die Zivilkultur lichkeit und Durchsetzungskraft. Aus Deutschlands zersetzt hatte. Deutsch- der Verantwortung vor Gott wurde so land und die Schar seiner Verbündeten eine Verantwortung für den Mitmen- hatten sich vom Rest der Welt – ja vom schen. Es war diese Verantwortung für Menschen selbst – entfremdet. Insge- den Mitmenschen, die die Christlich- samt zwölf endlos lange Jahre überzo- Soziale Union fortan zu ihrem Wahl- gen Hitler und seine Schergen erst spruch erhob. Und diese Verantwor- Deutschland und dann die Welt mit tung war es auch, die sie an der Wieder- Krieg und Terror, Angst und Schrecken. vereinigung festhalten und an sie glau- Es sind dies zweifellos die dunkelsten ben ließ, bis schließlich an jenem 9. No- Stunden der deutschen Geschichte. vember 1989 Deutschland mit dem Fall der Mauer endgültig zu sich selbst fand. Am Ende des Krieges hatten fremde Der Kreis hatte sich geschlossen. Mächte unser Land aus den eigenen Abgründen befreit. Wo anders als am Was damals vor gut 20 Jahren geschah, Boden konnte Deutschland da sein. In ist einzigartig: Die Bürger der ehemali- Trümmern lagen aber nicht nur die gen DDR haben das eigene Unrechtsre- Häuser, Brücken und Straßen, sondern gime mit friedlichen Mittel niederge- auch die Identität eines ganzen Volkes. rissen. Die deutsche Geschichte hat Die militärische und moralische Nie- sich mit diesem historischen Tag zum derlage war umfassend. Zu diesem Guten gewendet. Das muss uns alle mit Trümmerfeld hatte „eine Staats- und großer Freude und Zuversicht erfüllen. Gesellschaftsordnung ohne Gott, oh- Wenn wir eines aus diesem deutschen ne Gewissen und ohne Achtung vor Schicksalstag lernen können, dann der Würde des Menschen“15 geführt. dies: Es sind die Ehrfurcht vor der Ver- So steht es im Vorspruch zur Verfas- gangenheit und die Verantwortung ge- sung des Freistaates Bayern. Das war die genüber der Zukunft, die unserem Le- Wahrheit, die es anzunehmen galt. ben die richtige Haltung geben. 18-29_Seehofer:18-29 29.04.2010 11:49 Uhr Seite 29

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Anmerkungen 1 Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesell- Strauß. Erkenntnisse – Standpunkte – schaft: Grundriss der verstehenden So- Ausblicke, hrsg. von , Alfons ziologie, Tübingen 1972, S.25. Goppel, Henry Kissinger u.a., München 2 Weizsäcker, Richard von: Rede bei der Ge- 1985, S.197ff. denkveranstaltung im Plenarsaal des 8 Ebd. Deutschen Bundestages zum 40. Jahres- 9 Vgl. Blumenwitz, Dieter: Die Christlich- tag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Soziale Union und die deutsche Frage, in: Europa am 8.5.1985. Geschichte einer Volkspartei. 50 Jahre 3 Präambel des Grundgesetztes in der alten CSU, hrsg. von Manfred Baumgärtel und Fassung vom 23.5.1949. Alfred Bayer, München 1995, S.342–348. 4 Brandt, Willy: Regierungserklärung im 10 Ebd., S.350. Deutschen Bundestag vom 28.10.1969. 11 Köhler, Horst: Die Verfassung der Freiheit 5 Die Formulierung „Wandel durch Annä- – Festansprache beim Staatsakt aus Anlass herung“ wurde maßgeblich von Egon des 60-jährigen Bestehens der Bundesre- Bahr, dem damaligen Leiter des Presse- publik Deutschland am 22.5.2009. und Informationsamtes des Landes Ber- 12 Frankfurter Rundschau vom 15.9.1988, lin geprägt. In seiner gleichnamigen Re- S.8. de vor der Evangelischen Akademie Tut- 13 Vgl. Glotz, Peter: Die deutsche Rechte. Ei- zing skizzierte und erläuterte Bahr am ne Streitschrift, Stuttgart 1989. 15.7.1963 erstmals das später maßgeblich 14 Ratzinger, Joseph: Predigt am Pfingst- gewordene Konzept der sozialliberalen sonntag 1979 beim Gottesdienst zum Su- . detendeutschen Tag in München, in: 6 Schriftsatz vom 18.6.1973; vgl. Cieslar, Christlicher Glaube und Europa, 12 Pre- Eva/Hampel, Johannes/Zeitler, Franz- digten, hrsg. vom Pressereferat der Erz- Christoph: Der Streit um den Grundla- diözese München und Freising, München genvertrag. München/Wien 1973, S.168. 1982. 7 Vgl. Blumenwitz, Dieter: Bayerns Beiträ- 15 Präambel der Verfassung des Freistaates ge zur Deutschlandpolitik, in: Franz Josef Bayern, in Kraft getreten am 8.12.1946. 30-34_Waigel:30-34 20.04.2010 9:12 Uhr Seite 30

Die deutsche Einheit und der Euro –Jahre der Entscheidung

Theo Waigel

Das Ende der 80er- und der Beginn der 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts stan- den im Zeichen welthistorischer Entscheidungen. Am 9. November 2009 fanden in Berlin die Feierlichkeiten zur 20jährigen Wiederkehr des Berliner Mauerfalls statt. Am 3. Oktober 2010 können wir auf 20 Jahre Deutsche Einheit zurückbli- cken. Diese Phase der historischen Entwicklung markiert definitiv das Ende der Nachkriegsgeschichte. Die damaligen politischen Grundsatzentscheidungen führten zu einer Neugestaltung Europas. Die Wiedervereinigung unseres Vater- landes in Frieden und Freiheit steht hierfür als Symbol.

1. Einführung Bilanz zu ziehen und die damaligen Entscheidungen einem politischen Be- Tatsächlich kann jedoch die Wieder- standstest zu unterziehen. vereinigung nicht isoliert betrachtet werden. Sie ist Teil der mit Gorba- tschows Reformkurs beginnenden Ent- 2. Historischer Rückblick wicklung, die zur friedlichen Revoluti- on in Osteuropa und zu einem Über- Über 40 Jahre wurde Europa vom Kal- gang der dortigen Systeme zu einem ten Krieg, dem Eisernen Vorhang und demokratischen Staatswesen, einer frei- dem permanenten Zustand der Span- heitlichen Gesellschaftsordnung und nungen zwischen Ost und West ge- einem marktwirtschaftlichen Wirt- kennzeichnet. Deutschland war als schaftssystem führte. Sie mündete Folge des Zweiten Weltkrieges in zwei schließlich in eine Neugestaltung des Teile mit unterschiedlicher Staats-, Ge- alten Kontinents mit dem Vertragswerk sellschafts- und Wirtschaftsordnung von Maastricht, zur Europäischen Uni- geteilt. Berlin, von 1871 bis 1945 on, der Einführung einer europäischen Hauptstadt der Deutschen, stand im Gemeinschaftswährung und Jahre spä- Brennpunkt dieser Spannungen. Der ter zu einem Beitritt der mitteleuropäi- Freiheitswille der ostdeutschen Bevöl- schen Reformstaaten zur Union. 20 kerung wurde in unsäglicher Weise un- Jahre nach dieser Phase historischer terdrückt – von der brutalen Nieder- Weichenstellung ist es angebracht, eine schlagung des Arbeiteraufstands 1953

Politische Studien, Themenheft 1/2010, 61. Jahrgang, Mai 2010 30-34_Waigel:30-34 20.04.2010 9:12 Uhr Seite 31

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über den Bau der Mauer in Berlin und begann, drohte auf dem Niveau der entlang der Zonengrenze 1961 bis hin Länder der Dritten Welt zu enden. Der zum unmenschlichen Instrument des „Kapitalismus“ im Westen, der längst Schießbefehls. Die dortigen Machtha- durch ein umfangreiches sozialstaatli- ber gingen davon aus, dass die Mauer ches Netz ergänzt worden war, erwies noch weitere 100 Jahre stehen werde. sich im Vergleich zu dem, was Karl Tatsächlich war sie jedoch nicht das Marx und seine Nachfolger prognosti- letzte Wort der Geschichte. ziert und versprochen hatten, als we- sentlich reformfreudiger, innovativer Bis weit in die 80er-Jahre hinein galt es und leistungsstärker. Dies blieb selbst- als wirklichkeitsfremd, ja als reaktionär, verständlich auch im Osten nicht ver- wenn ein deutscher Politiker vom borgen. Recht der Deutschen auf nationale Selbstbestimmung sprach. Das Fest- Die politischen Bemühungen der Sow- halten am Ziel der nationalen Einheit jetunion, Europa von den USA zu wurde vom damaligen Zeitgeist als „Le- trennen und ein Rüstungsübergewicht benslüge“ denunziert. Wer – so die da- festzuschreiben, waren spätestens seit maligen Argumente des linken politi- dem NATO-Doppelbeschluss geschei- schen Spektrums – Deutschlands Wie- tert. Gleichzeitig setzte sich die Ein- dervereinigung fordere, der stelle den sicht durch, dass die sozialistische Plan- Frieden in Europa in Frage. Es war ein wirtschaft im gesamten Comecon- historisches Verdienst der CSU und Bereich nicht mehr haltbar war. Gor- ihres damaligen Vorsitzenden Franz- batschow war bemüht, am Sozialismus Josef Strauß, wegen der umstrittenen festzuhalten und ihn mit systemimma- Ostverträge das Bundesverfassungs- nenten Reformen zu modernisieren. gericht in Karlsruhe anzurufen. Nach Dieser Kurs endete schließlich in dessen Entscheidung wurde die Poli- grundlegenden ökonomischen und po- tik verpflichtet, die deutsche Frage litischen Umwälzungen, die im Zu- politisch und völkerrechtlich offenzu- sammenbruch der Sowjetunion, im Zer- halten. fall des russischen Imperiums und der friedlichen Revolution Osteuropas zum Ausdruck kamen. 3. Der Wettlauf der Systeme Auch die DDR konnte sich diesem Die Jahrzehnte des Kalten Kriegs zwi- Zerfallsprozess nicht entziehen. Ihre schen den großen Machtblöcken stan- ökonomische Schlussbilanz war katas- den von Anfang an im Zeichen eines trophal. Im Vergleich zum Westen ökonomischen und später auch tech- Deutschlands lag die Produktivität bei nologischen Wettlaufs. Im Laufe der weniger als 30%. Ihre Infrastruktur ent- Jahrzehnte wurde der ökonomische sprach unserem Stand der 50er-Jahre. Abstand der Staaten des Ostblocks ge- Der SED gelang es in ihrer 40jährigen genüber dem Westen immer größer. In Diktatur nie, im Osten eine nationale den 80er-Jahren wurde die eklatante Identität herauszubilden. Die andau- Verschlechterung der Wirtschaftslage ernde Repression der Bevölkerung in Osteuropa immer offenkundiger. durch Überwachung und Schießbefehl Was als wirtschaftliche Aufholjagd tat ein Übriges. 30-34_Waigel:30-34 20.04.2010 9:12 Uhr Seite 32

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4. Von der Maueröffnung Belange und die Verankerung des ver- zum Einheitsvertrag einten Deutschland in der NATO wur- den im Zwei-Plus-Vier-Vertrag geregelt. Vom Fall der Mauer bis zum Vertrag Und schließlich war es mir vergönnt, über die Staatliche Einheit führte ein mit dem Überleitungsvertrag und dem mühsamer Weg, der sowohl innen- wie Einsatz von nur 15 Milliarden DM die außenpolitisch mit gewaltigen Heraus- Grundlagen dafür zu schaffen, dass die forderungen verbunden war.1 Die fried- letzten sowjetischen Soldaten 50 Jahre liche Umwälzung in der damaligen nach dem Einmarsch der Roten Armee DDR entwickelte eine ungeheure Ei- deutschen Boden verließen. gendynamik. Aus deutscher Sicht war es vor allem die historische Leistung Helmut Kohls, der die wohl einmalige 5. Verstummende Kritik Chance zur Wiedervereinigung mit Mut, Durchsetzungskraft und Augen- Die Kritik am Vollzug der Wiederver- maß in die Hand nahm. Diese Leistung einigung ist widerlegt. Eine Stabili- wiegt umso schwerer, als die Öffnung sierung einer selbstständigen DDR der Archive in den Hauptstädten eini- wäre vor dem Hintergrund der Umwäl- ger unserer europäischer Partnerstaa- zungen in Osteuropa völlig absurd ge- ten deren nicht unerheblichen Wider- wesen. Zum raschen Übergang von der stand gegen die Wiedervereinigung ge- Planwirtschaft zu einer Marktwirt- zeigt hat. schaft gab es keine realistische Alter- native. Die ursprünglichen Befürch- Der Maueröffnung folgte eine Ausrei- tungen im Hinblick auf Inflation und sewelle, die die Aufnahmekapazitäten Währungsstabilität haben sich als im Westen zu überfordern drohten. grundlos erwiesen. Helmut Kohl reagierte mit dem be- rühmten Zehn-Punkte-Programm, das Die Deutschen im Westen haben in his- zu einer Konföderation führen sollte. torisch vorbildlicher Weise ihre Solida- Die Entwicklung von zum rität unter Beweis gestellt. Seit der Wie- Runden Tisch, von der SED zur Allianz dervereinigung flossen Jahr für Jahr ho- für Deutschland verlief jedoch schnel- he zweistellige Milliardenbeträge in die ler als erwartet. Das unter meiner poli- östlichen Bundesländer. Mit dem Soli- tischen Verantwortung konzipierte An- darpakt I und II wurde die Vorausset- gebot für eine Wirtschafts-, Währungs- zung geschaffen, dass der wirtschaftli- und Sozialunion war schließlich das che Aufholprozess und die finanzielle entscheidende „Signal zum Bleiben“. Unterstützung bis Ende dieses Jahr- zehnts gesichert sind. Die Einführung der D-Mark in der da- maligen DDR bedeutete in ihrer Aus- Auch wenn innerhalb von 20 Jahren wirkung den unumkehrbaren Schritt nicht alle Ruinen und Altlasten von 40 zur staatlichen Einheit. Diese wurde Jahren Sozialismus beseitigt werden mit dem Staatsvertrag und dem Beitritt konnten, sind doch die Erfolge des Auf- der DDR zur Bundesrepublik Deutsch- holprozesses unbestreitbar. Die reale land am 3. Oktober 1990 vollzogen. Wirtschaftsleistung je Einwohner stieg Die außen- und sicherheitspolitischen von 40 auf rund 70% des Westniveaus. 30-34_Waigel:30-34 20.04.2010 9:12 Uhr Seite 33

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Im Bereich der Infrastruktur hat der Os- der sogenannten Delors-Gruppe,3 der ten weitgehend aufgeholt. Hinsichtlich zur Geschäftsgrundlage der Verhand- der Einkommens- und Lebensverhält- lungen über das Vertragswerk von nisse hat sich der Abstand zwischen Maastricht wurde. West und Ost spürbar verringert. Sor- genkind bleibt jedoch die höhere Ar- Maastricht stellt das währungspoliti- beitslosigkeit. sche Fundament, der Euro das monetä- re Dach der Wirtschaftsunion dar. Die- Wer sich an die Monate nach Öffnung se garantiert in Europa die Freiheit des der Mauer erinnert und heute durch Waren- und Dienstleistungsaustauschs, Berlin-Mitte fährt, der kann die erfolg- des Kapitalverkehrs und die Freizügig- reiche Gestaltung der Wiederverei- keit. Die Europäische Währungsunion nigung nicht länger leugnen. Viele war von Anfang an auch ein politisches Gebiete Ostdeutschlands haben sich Projekt. Ziel des Projekts Europa ist unter Wirtschafts- wie auch Umweltge- eine echte politische Union selbststän- sichtspunkten zu blühenden Land- diger Nationalstaaten mit einem ge- schaften entwickelt. Leipzig und Dres- meinsamen Markt und einer einheitli- den zählen heute zu den dynamischs- chen Währung. In diesem Sinne stellte ten Städten Deutschlands. Die große Maastricht einen echten europapoliti- Mehrheit der Deutschen in Ost und schen Quantensprung dar. Mit der Ein- West ist stolz auf die Wiedervereini- führung der Gemeinschaftswährung gung, auch wenn es immer noch Un- hat das Projekt aber keineswegs sein belehrbare geben mag, die sich nach Ende gefunden. Es wurde vielmehr dem Eisernen Vorhang zurücksehnen. fortentwickelt sowohl durch die Erwei- terung als auch die Vertiefung der Uni- on. Weitere Meilensteine waren die 6. Maastricht als Preis der Verträge von Amsterdam und Nizza, Wiedervereinigung? die Grundrechtecharta und zuletzt der Vertrag von Lissabon. Hin und wieder wird die Vermutung aufgestellt, Deutschlands Zustimmung Rückblickend lässt sich feststellen: zu Maastricht sei die Voraussetzung für Deutschlands Einheit war ein „Kataly- die Zustimmung unserer Partner zur sator der europäischen Einigung“4. Die Wiedervereinigung gewesen. Ein sol- Wiedervereinigung hat zu einer Be- cher Vorwurf ist absurd und durch alle schleunigung der Entscheidungen über Fakten widerlegt. Die Weichen für die das Vertragswerk von Maastricht ge- europäische Gemeinschaftswährung führt.5 wurden lange vor dem Mauerfall ge- stellt.2 Anfang der 80er-Jahre war der Prozess der europäischen Einigung 7. Positive Euro-Zwischenbilanz durch die sogenannte „Eurosklerose“ ins Stottern geraten. Dies änderte sich Die Euro-Zwischenbilanz kann sich aber durch die Verabschiedung der Ein- sehen lassen. Der Euro hat zu einer heitlichen Europäischen Akte. Die wei- spürbaren Belebung des innergemein- teren Meilensteine waren der EG-Gip- schaftlichen Handels geführt. Die fel 1988 in Hannover und der Bericht durchschnittliche Inflationsrate lag 30-34_Waigel:30-34 20.04.2010 9:12 Uhr Seite 34

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bislang unter der langjährigen Inflati- globalen Finanzkrise in den Griff zu onsrate der D-Mark. Die Zinsen bewe- bekommen. gen sich auf einem äußerst niedrigen Niveau. Die unabhängige Europäische Wie Helmut Kohl immer wieder be- Zentralbank hat sich weltweit Ansehen tont hat, sind die Wiedervereinigung erworben. Nach anfänglicher Schwä- Deutschlands und die Einigung Euro- che erreichte der Außenwert des Euro pas zwei Seiten der gleichen Medaille. eine bemerkenswerte Höhe. Und der Mit der Wiedervereinigung Deutsch- Stabilitätspakt hat sich als wichtiges In- lands gehören die Teilung und die jahr- strument zur Durchsetzung von Haus- zehntelangen Spannungen auf unse- haltsdisziplin im gesamten Euro-Raum rem Kontinent der Geschichte an. An erwiesen, was jedoch nicht darüber ihre Stelle sind Selbstbestimmung und hinwegtäuschen darf, dass nach einer echte Entspannung getreten. Das Pro- Bewältigung der Finanzkrise die Haus- jekt der europäischen Einigung hat haltspolitik wieder zu einer glaubwür- eine Friedensgemeinschaft entstehen digen Konsolidierung zurückkehren lassen. Ihr gemeinsamer Markt sichert muss. die Wettbewerbsfähigkeit Europas im Zeitalter der Globalisierung. Und ihre Der Euro hat entscheidend zur Inte- politischen Institutionen ermöglichen gration der Finanzmärkte beigetragen. ein einheitliches Auftreten des alten Er ist nun nach dem US-Dollar die Kontinents auf der Bühne der Weltpo- zweitwichtigste Währung der Welt. litik. Die Gemeinschaftswährung hat Rund 27% der Weltwährungsreserven sich als politischer Katalysator erwie- werden in Euro gehalten. In den zu- sen, der zu einem irreversiblen Element rückliegenden Finanzkrisen hat sich der europäischen Zusammenarbeit ge- der Euro als Anker der Stabilität im worden ist. Die europäische Gemein- Weltfinanzsystem erwiesen. Rund 40 schaftswährung hat ihren Test bestan- Länder der Welt richten ihre Wechsel- den. Selbst ein ursprünglicher Kritiker kurse am Euro aus. Ohne eine starke des Projekts, Alan Greenspan, räumt in Gemeinschaftswährung hätten es die seinem Memoiren ein: „Es war eine au- europäischen Staaten mit einer jeweils ßergewöhnliche Leistung und ich stau- nationalen Währung ungleich schwe- ne bis heute, was meine europäischen rer, die negativen Auswirkungen der Kollegen aufgebaut haben“.6

Anmerkungen 1 Eine ausgezeichnete Darstellung der da- 5 So schreibt Grosser, Dieter: „Die ver- maligen Entwicklung findet sich bei Kohl, breitete Ansicht, Kohls Zustimmung zur Helmut: Vom Mauerfall zur Wiederverei- Europäischen Wirtschafts- und Wäh- nigung, München 2009. rungsunion sei der Preis gewesen, den 2 Tietmeyer, Hans: Herausforderung Euro, Mitterrand einforderte, ehe er der deut- München/Wien 2005. schen Einheit zustimmte, ist kaum ver- 3 Siehe hierzu die einzelnen Beiträge der tretbar“, in: Das Wagnis der Währungs-, damaligen Akteure in: Unsere Zukunft Wirtschafts- und Sozialunion, Stuttgart heißt Europa, hrsg. von Theo Waigel, 1998, S.403. Düsseldorf 1996. 6 Greenspan, Alan: Mein Leben für die 4 Kohl: S.319. Wirtschaft, Frankfurt 2007, S.12. 35-45_Teltschik:35-45 19.04.2010 12:39 Uhr Seite 35

Die deutsche Einheit und Europa

Horst Teltschik

In der zweiten Jahreshälfte 1989 begannen sich die Ereignisse in Europa zu über- schlagen. Über 100.000 DDR-Bürger flüchteten über Ungarn, Polen, Prag und über die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin nach Westdeutschland. Die dramatischen Szenen, die sich in der Botschaft in Prag und mehrmals an der ungarisch-österreichischen Grenze abspielten, sind in aller Er- innerung. Aber wo und wie hatte diese Entwicklung begonnen?

1. Es begann in Mitteleuropa ... spruch. Im Mai begann der Abbau der Grenzanlagen. Am 27. Juni durch- In Polen hatte es im Juni 1989 die ers- schnitten die beiden Außenminister ten halbfreien Wahlen gegeben, die der Gyula Horn von Ungarn und Alois Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc Mock symbolhaft den Stacheldraht. mit Lech Walesa einen triumphalen Moskau schwieg dazu. Als während des Sieg bescherten. Sie gewann alle frei zu Paneuropäischen Frühstücks am 19. wählenden Mandate. Am 24. August August in Sopron Hunderte von DDR- 1989 wurde Tadeusz Mazowiecki von Bürgern die Chance zur Flucht nach der Solidarnosc der erste demokratisch Österreich nutzen, blieb Moskau er- gewählte Ministerpräsident Polens und neut stumm. Für Miklós Németh waren des Warschauer Paktes. Im November das alles Schritte, das Verhalten der 1988 war Miklós Németh zum Minis- sowjetischen Führung zu testen, wie terpräsidenten in Ungarn ernannt wor- weit er sich vorwagen könne. Das den. Er war von Anbeginn entschlos- Schweigen Moskaus ermutigte Né- sen, marktwirtschaftliche und politi- meth, Bundeskanzler Helmut Kohl in sche Reformen in Richtung einer einem Gespräch am 25. August auf freiheitlichen Demokratie einzuleiten. Schloss Gymnich/Bonn anzukündi- Als er im März 1989 zu einem ersten gen, dass er die ungarische Grenze end- Gespräch mit dem sowjetischen Gene- gültig öffnen werde. Am 10. September ralsekretär Michail Gorbatschow in war es dann soweit. Moskau zusammentraf, eröffnete er ihm, dass er die ungarischen Grenzan- Im August hatte es auch die ersten grö- lagen aus Kostengründen abbauen wer- ßeren Demonstrationen in Prag und in de. Gorbatschow erhob keinen Ein- anderen Städten der Tschechoslowakei

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gegeben, die noch von den kommu- lage gestellt werden sollten. Eine „Ge- nistischen Machthabern blutig aufge- meinsame Erklärung“ sollte dazu vor- löst worden waren. Drei Monate später bereitet werden und beim Gegenbe- löste eine weitere Demonstration die such in Bonn gemeinsam unterzeich- Samtene Revolution aus, die das Ende net werden. Am 13. Juni 1989 kam es des kommunistischen Systems einlei- zur Unterzeichnung in Bonn. tete. Was Generalsekretär Gorbatschow im Juli 1988 auf dem Warschauer Gip- Diese Gemeinsame Erklärung wie die fel in Moskau angekündigt hatte, war vielen Gespräche zwischen dem Bun- eingetreten. Er hatte versprochen, sich deskanzler Helmut Kohl und General- nicht mehr in die inneren Verhältnisse sekretär Gorbatschow und seine Besu- seiner Bündnispartner einmischen zu che in Düsseldorf und Stuttgart sollten wollen. Das war das Ende der Bresch- ein wichtiger Schlüssel für die weiteren new-Doktrin, die zur Niederschlagung Entwicklungen werden. Zum ersten des Prager Frühlings im August 1968 Mal hatte die sowjetische Führung in geführt hatte. In Polen, in Ungarn und einem offiziellen Dokument das „Selbst- in der Tschechoslowakei hatte Gorba- bestimmungsrecht der Völker“ und die tschow Wort gehalten. Er sollte es auch „Anerkennung des internationalen gegenüber der DDR tun. Völkerrechts nach innen und außen“ akzeptiert. Das war sensationell. Darü- ber hinaus hatten die vielfältigen Un- 2. … und setzte sich in der ternehmensbesuche Gorbatschow erst- Sowjetunion fort mals einen tiefen Einblick in die Leis- tungsfähigkeit der deutschen Industrie Seit 1987 hatte Michail Gorbatschow vermittelt. Er war tief beeindruckt. Hel- in der Sowjetunion selbst eine neue Po- mut Kohl hatte ihm versprochen, dass litik eingeleitet. Seine Reformpolitik er alles tun werde was möglich sei, die unter den Namen Glasnost (Offenheit) Reformpolitik in der Sowjetunion zu und Perestroika (Umgestaltung) ge- unterstützen. 1990 sollte Gorbatschow wann ungeahnte Dynamik. Sie sollte konkret darauf zurückkommen. vor allem den Reformkräften in Polen und in Ungarn neue Hoffnung geben. Die neue Politik Gorbatschows sollte 3. Die Reaktion der DDR auch unmittelbare Auswirkungen auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen Doch die Führung der DDR wie auch haben. Als Bundeskanzler Helmut Kohl viele Verantwortliche in Westdeutsch- im Oktober 1988 in Moskau mit land blieben von allen diesen Ereignis- Gorbatschow zusammentraf, machte sen unberührt. Der SED-Chefideologe er die Beziehungen zur Bundesrepublik Kurt Hager hatte am 9. April 1987 auf Deutschland nicht mehr „von den Fra- die Frage nach den Auswirkungen der gen der Sicherheit“ (sprich: Doppelbe- Reformpolitik Gorbatschows auf die schluss der NATO) abhängig, wie er es DDR noch geantwortet: „Würden Sie, noch im März 1985 bei der ersten Be- wenn der Nachbar seine Wohnung neu gegnung getan hatte. Er erklärte viel- tapeziert, sich verpflichtet fühlen, ihre mehr, dass „das Eis gebrochen sei“ und Wohnung ebenfalls neu zu tapezie- die Beziehungen auf eine neue Grund- ren?“ Diese Ignoranz sollte sich rächen. 35-45_Teltschik:35-45 19.04.2010 12:39 Uhr Seite 37

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Die von der SED schamlos manipulier- schen Präsidenten Shiwkow und mit ten Kommunalwahlen vom 7. Mai dem tschechoslowakischen Minister- 1989 führten dazu, dass in vielen Städ- präsidenten Adamec geführt. Entweder ten – zumeist nach Friedensgebeten in werde die DDR gezwungen, ebenfalls einer Kirche – Teilnehmer immer häu- einen Reformprozess einzuleiten. Den figer auf die Straße gingen. Im Septem- würde sie am Ende nicht überleben. ber und dann vor allem im Oktober Würde sie Reformen verweigern, dann wurden aus Hunderten von Demons- werde sich die DDR isolieren und das tranten Tausende, dann Zehntausende, werde sie auch nicht überleben. Die am Ende waren es Hunderttausende. Signale waren spätestens mit der Öff- Sie erhoben den trotzigen Anspruch nung der Mauer offensichtlich. „Wir sind das Volk“ und mündeten in die Forderung ein: „Wir sind ein Volk“. Im Oktober/November 1989 erreichten Die Leipziger Demonstration vom 9. Ok- die öffentlichen Diskussionen einen tober mit rund 70.000 Demonstranten Höhepunkt. Weltweit wurde darüber hat dem SED-Regime einen vernich- spekuliert, welche Auswirkungen alle tenden Schlag versetzt. „Wir waren auf diese Prozesse auf Europa und vor al- alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen lem auf die DDR und nicht zuletzt auf und Gebete“, soll die resignative Reak- die Sowjetunion selbst haben werden. tion eines SED-Funktionärs gewesen Präsident George Bush wie auch Präsi- sein. Einen Monat später sollte sich dent François Mitterrand hatten in öf- durch glückliche Umstände und zur fentlichen Erklärungen eine Wieder- Überraschung aller die Mauer öffnen. vereinigung Deutschlands nicht ausge- schlossen. Auf diesem Hintergrund war es überfällig, dass Bundeskanzler Hel- 4. Die Strategie von Helmut Kohl mut Kohl versuchen musste, die Dis- kussion zu ordnen, für seine Regierung Warum habe ich einleitend alle diese eine klare Richtung vorzugeben und Ereignisse noch einmal angesprochen? die Ziele seiner Politik zu definieren. Es ist fast unbegreiflich, wie wenig Re- Der richtige Zeitpunkt dafür war die sonanz alle diese Entwicklungen im Haushaltsdebatte am 28. November im Sommer 1989 in der deutschen Öffent- Deutschen Bundestag. Am Tag vorher lichkeit gefunden haben. Es war offen- hatte noch der stellvertretende Leiter sichtlich, dass diese Prozesse Auswir- der Internationalen Abteilung des ZK kungen auf die DDR und damit auf die der KPdSU, Andrej Gratschow in einem „deutsche Frage“ haben mussten. Die Interview festgestellt, dass „die deut- Strategie von Helmut Kohl war un- sche Frage wieder auf der Tagesord- missverständlich. Sein Ziel war es von nung“ stehe, „auch wenn eine Reihe Anfang an, die Reformen in Ungarn, von Politikern in Ost und West dies Polen und in der Sowjetunion politisch nicht so sehen wollen“. und wirtschaftlich zu unterstützen, um damit den Druck auf die DDR zu erhö- hen. Seit 1984 hatte es geheime Ge- 5. Die Zehn-Punkte-Rede spräche mit ungarischen Politikern ge- geben, seit 1988 mit Polen. Geheime Die sogenannte Zehn-Punkte-Rede Gespräche wurden mit dem bulgari- schlug in Deutschland und internatio- 35-45_Teltschik:35-45 19.04.2010 12:39 Uhr Seite 38

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nal wie eine Bombe ein. Der Bundes- 6. Westliche Integration als kanzler hatte die Einigung Deutsch- Voraussetzung für die lands als klares Ziel definiert und die Ostpolitik Wege aufgezeigt, wie er dieses Ziel er- reichen wolle. Er hatte aber ausdrück- Während seiner gesamten politischen lich darauf hingewiesen, dass die deut- Laufbahn war Helmut Kohl ein ent- sche Einheit nicht vom „grünen Tisch“ schiedener Verfechter der Westintegra- aus oder „mit dem Terminkalender in tion Deutschlands gewesen. Die Ein- der Hand geplant“ werden könne. Der bindung Westdeutschlands in die At- Zeithorizont war bewusst offen gelas- lantische Allianz 1955 und 1957 in die sen worden. Gleichzeitig sollte der Pro- Europäische Gemeinschaft unter Kon- zess in die „künftige Architektur Ge- rad Adenauer gegen den Widerstand samteuropas“ (Punkt 6) eingebettet der SPD waren und bleiben die zwei werden. Das „Herzstück“ der gesamt- Säulen deutscher Außenpolitik. Willy europäischen Struktur sei der KSZE-Pro- Brandts Ostpolitik wäre ohne diese Ein- zess, der energisch vorangetrieben wer- bindung nicht möglich gewesen. Der den müsse (Punkt 8). Erfolg der EG hatte eine wichtige Funk- tion für die Erosionsprozesse innerhalb Der Bundeskanzler unterstrich, dass die des Warschauer Paktes. Die EG wurde Europäische Gemeinschaft (EG) eine weltweit zum Vorbild für eine Politik „Konstante der gesamteuropäischen der Versöhnung, der Freundschaft und Entwicklung“ sei und deshalb die Wie- engen Zusammenarbeit zwischen ehe- dervereinigung ein europäisches Anlie- maligen Erzfeinden. gen und im Gesamtzusammenhang mit der europäischen Einigung zu se- Die Ostpolitik war keine Erfindung von hen sei (Punkt 7). Die deutsche Einheit Willy Brandt. Schon Konrad Adenauer und die Integration Europas waren und war 1955 nach Moskau gereist. Er blieben für den Bundeskanzler die zwei nahm diplomatische Beziehungen mit Seiten einer Medaille. Das eine war der Sowjetunion auf und erreichte die ohne das andere nicht möglich. „Das Rückkehr aller deutschen Kriegsgefan- Handeln von Helmut Kohl am 28. No- genen. Außenminister Gerhard Schrö- vember 1989 war ein Beispiel von welt- der (CDU) entwickelte unter Bundes- politischer Bedeutung“, schreibt Hel- kanzler die Ostpolitik mut Schmidt in seinem Buch „Außer vorsichtig weiter. Im Dezember 1967 Dienst“. Helmut Kohl habe die „Chan- beschloss die NATO eine neue Sicher- ce zur deutschen Vereinigung“ erkannt heitsstrategie. In dem sogenannten und „beschloss, sie zu nutzen“. So war „Harmel-Bericht über die künftigen es. In der BILD-Zeitung vom 31. Okto- Aufgaben der Allianz“ hatten sich alle ber 2009 dankte Helmut Schmidt „im Mitglieder auf eine neue Doppelstrate- Namen aller Deutschen“, dass Helmut gie verständigt, in der es wörtlich hieß: Kohl „mit seinem Zehn-Punkte-Plan „Militärische Sicherheit und eine Poli- den Weg der deutschen Einheit einge- tik der Entspannung stellen keinen Wi- leitet hat“. derspruch, sondern eine gegenseitige 35-45_Teltschik:35-45 19.04.2010 12:39 Uhr Seite 39

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Ergänzung dar“. Das war eine weise bereits 1977 darauf hingewiesen, dass Formel. Sie hat die Politik aller Bundes- die sowjetische Aufrüstung Europa von regierungen seit 1967 bis zur Wieder- der Sicherheit der USA abkopple. Doch vereinigung bestimmt. seine eigene Partei verweigerte ihm die Gefolgschaft. Bundeskanzler Helmut Willy Brandt hat also seine Ostpolitik Kohl und Außenminister Hans Die- nicht ohne westliches Sicherheitsnetz trich Genscher setzten den Doppelbe- betrieben. CDU/CSU haben anlässlich schluss konsequent durch, unterstützt der Unterzeichnung des Moskauer Ver- vor allem durch Präsident François Mit- trages am 12. August 1970 den „Brief terrand. Das war das vorläufige Ende zur Deutschen Einheit“ durchgesetzt der Entspannungspolitik. Präsident Ro- und die deutsche Frage offengehalten. nald Reagan goss mit seiner SDI-Initia- Und es war Helmut Kohl, der unter An- tive (Strategic Defense Initiative) noch drohung seines Rücktritts als Parteivor- zusätzliches Öl ins Feuer. Michail Gor- sitzender für eine Mehrheit im Bundes- batschow und Eduard Schewardnadse rat für die Ratifizierung des Warschau- haben später mehrfach erklärt, dass er Vertrages gesorgt hatte. Er war es beide westlichen Entscheidungen die auch, der von Anfang an gegenüber sowjetische Führung zu einem Um- den Ostverträgen von pacta sunt ser- denken in ihrer Außen- und Sicher- vanda sprach. Die Unterzeichnung der heitspolitik veranlasst hätten. Sie wuss- KSZE-Schlussakte 1975 in Helsinki ten, dass ein neues Wettrüsten die Sow- wirkte nach Václav Havel für immer jetunion überfordern würde. mehr Menschen in den kommunisti- schen Staaten wie eine Sauerstoffzu- Gleichzeitig ging es Bundeskanzler fuhr. Umso unverständlicher war die Kohl nach Amtsübernahme darum, das Ablehnung durch die Union. deutsch-amerikanische Verhältnis zu verbessern. Die Beziehungen waren nicht nur wegen der innenpoliti- 7. Ein neuer Höhepunkt des schen Kampagnen gegen den Doppel- Kalten Krieges beschluss der NATO mit großen Teilen der SPD an der Spitze ins Zwielicht ge- Als Helmut Kohl 1982 Bundeskanzler raten. Offensichtlich waren auch die wurde, hatten die Ost-West-Beziehun- persönlichen Beziehungen von Helmut gen einen neuen Höhepunkt des Kal- Schmidt zu den beiden amerikani- ten Krieges erreicht. Trotz der Entspan- schen Präsidenten Jimmy Carter und nungspolitik in den 70er-Jahren hatte Ronald Reagan belastet. der sowjetische Generalsekretär Leonid Breschnew mit der Aufrüstung neuer nuklearer Mittelstreckenraketen (SS 20) 8. Die Europapolitik von begonnen, die ausschließlich auf West- Helmut Kohl europa und auf die Bundesrepublik ge- richtet waren, auf die Staaten also, die Im Januar 1983 übernahm Deutsch- die Motoren der Entspannung und des land die EG-Präsidentschaft zu einem Dialoges waren. Die Antwort der NATO Zeitpunkt, in der die EG in einer tiefen war der Doppelbeschluss von 1979. Krise steckte. Auf dem Stuttgarter Gip- Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte fel im Juni 1983 ging es um die Neure- 35-45_Teltschik:35-45 19.04.2010 12:39 Uhr Seite 40

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gelung der Finanzierung und einer ge- fluss in Europa und darüber hinaus rechteren Verteilung der Lasten, um die erhöht. Eindämmung der Agrarausgaben und um den Beitritt Spaniens und Portugals Helmut Kohl war es in den Jahren 1982 zur EG. Helmut Kohl gelang nach har- bis 1989 gelungen, die beiden Säulen tem Ringen mit der britischen Premier- der deutschen Außenpolitik wieder zu ministerin Margret Thatcher und dem festigen: die Atlantische Allianz und französischen Präsidenten François die Freundschaft zu den USA sowie die Mitterrand der Durchbruch. Die Kon- Europäische Gemeinschaft und die ferenz stand mehrfach am Rande des deutsch-französische Freundschaft. Das Scheiterns. war die Basis für eine offensive Deutschland- und Ostpolitik und die Die Europapolitik sollte in den Folge- beste Vertrauensbasis, im November jahren mit zu den größten Erfolgen 1989 das Ziel der deutschen Einheit von Helmut Kohl zählen. Gemeinsam nicht nur ins Visier zu nehmen, son- mit Mitterrand begann er Mitte der dern konkret darauf hinzuarbeiten. 80er-Jahre erste Gespräche über ei- ne Wirtschafts- und Währungsunion. Auslöser waren die wachsenden Han- 9. Enttäuschung über delsbilanzdefizite Frankreichs gegen- Präsident Mitterrand über Deutschland gewesen. 1985 wur- de das Schengener Abkommen verein- Umso größer war die Überraschung bart. Spanien und Portugal wurden und die Enttäuschung, von Helmut 1986 Mitglieder der EG. 1987 wurde Kohl zu erfahren, wie kritisch und zu- der deutsch-französische Verteidigungs- rückhaltend Präsident Mitterrand und und Sicherheitsrat gegründet. Eine wie ablehnend Margret Thatcher auf deutsch-französische integrierte Infan- die Zehn-Punkte-Rede reagierten. Hät- terie-Brigade folgte. 1988 kam ein te der Bundeskanzler den sowjetischen deutsch-französischer Finanz- und Generalsekretär und seine westlichen Wirtschaftsrat hinzu. Gemeinsam und Bündnispartner vorab über den Inhalt in diesem Fall mit Unterstützung von seiner Rede unterrichten sollen? Das Margret Thatcher wurde 1988 auf dem Veto Gorbatschows wäre ihm sicher ge- EG-Gipfel in Hannover der Binnen- wesen. Dieser bezeichnete die Rede als markt beschlossen. Unter Leitung des ein „Diktat“. Präsident Bush hatte EG-Kommissionspräsidenten Jacques Kohls Rede auf seinem Schreibtisch, Delors wurde unter Einbeziehung der bevor sie gehalten wurde, nicht aber Gouverneure des Zentralbankrates ei- Präsident Mitterrand und Premiermi- ne Arbeitsgruppe eingesetzt, die Vor- nisterin Thatcher. schläge für eine Wirtschafts- und Wäh- rungsunion erarbeiten sollte. Welch ei- Eine Woche vor dem Fall der Mauer war ne Bilanz der deutsch-französischen Mitterrand zu einem bilateralen Ge- Zusammenarbeit. Helmut Kohl und spräch mit Helmut Kohl nach Bonn ge- François Mitterrand waren beide zu- kommen. Beide sprachen lange und in- tiefst davon überzeugt, dass die enge tensiv über die dramatischen Vorgänge und freundschaftliche Zusammenar- in der DDR und über die Reformpro- beit beide Seiten stärkt und ihren Ein- zesse in der Sowjetunion, in Polen und 35-45_Teltschik:35-45 19.04.2010 12:39 Uhr Seite 41

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Ungarn und über ihre möglichen Aus- Deutschland weiterhin ein verlässli- wirkungen. Der Bundeskanzler hatte cher und enger Partner Frankreichs Mitterrand aufgefordert, in der anschlie- und gemeinsam mit Paris ein Motor ßenden Pressekonferenz die französi- der europäischen Integration bleiben sche Position zur deutschen Frage zu werde oder ob das neue Deutschland erläutern. Mitterrand folgte diesem Rat. wieder einmal der Versuchung erliegen Auf die Frage eines Journalisten, ob er könnte, die westlichen Bindungen zu- „Angst vor einer möglichen Wiederver- gunsten einer größeren Unabhängig- einigung Deutschlands“ habe, antwor- keit oder gar Neuorientierung in Rich- tete er, dass er „keine Angst vor der Wie- tung Osten zu vernachlässigen. Bun- dervereinigung“ habe. Er nehme „die deskanzler Helmut Kohl war sofort klar, Geschichte, wie sie ist … Frankreich dass er darauf reagieren musste. Die wird seine Politik dem Verlauf der Ge- Vorbereitungen zu einer europäischen schichte anpassen, um im besten Inte- Wirtschafts- und Währungsunion wa- resse Europas und seiner selbst zu han- ren längst beschlossen und im Gange. deln“. Nach der Öffnung der Mauer we- Es musste deshalb eine neue Initiative nige Tage später bedankte sich Mitter- sein. In einem Brief vom 5. Dezember rand in einem Telefonat ausdrücklich 1989 schlug Helmut Kohl dem franzö- beim Bundeskanzler für dessen Anre- sischen Präsidenten vor, gemeinsam ei- gung, denn jetzt sei die französische Po- ne Politische Union vorzubereiten. Sie sition zur deutschen Einheit bekannt. sollte ein weiterer Schritt zur Vertie- Er hatte sich in überraschend freundli- fung der Europäischen Integration cher und sehr klarer Weise zur deut- sein. Paris griff diesen Vorschlag sofort schen Einheit geäußert. Helmut Kohl auf und im April 1990 brachten Bun- hatte sich deshalb der französischen deskanzler Kohl und Präsident Mitter- Unterstützung von vornherein sicher rand gemeinsam diesen Vorschlag auf sein können. Im Übrigen hätte ein fran- dem EG-Gipfel in Dublin ein. Er mün- zösischer Präsident in einer vergleich- dete 1992 in den Vertrag von Maas- baren Situation niemals vorher das Vo- tricht über die Europäische Union ein tum eines Nachbarstaates eingeholt. und wurde im Amsterdamer Vertrag der EU von 1997 weiterentwickelt. Die Wahrscheinlich hätten sowohl Bush Einführung des EURO 1999 als Buch- als auch Mitterrand und Thatcher von geld und 2002 als Bargeld war die Krö- der Zehn-Punkte-Rede abgeraten. Zu nung der Europapolitik Helmut Kohls. groß wäre deren Sorge über die mögli- Er hatte damit sein Ziel, die europäi- chen Auswirkungen auf die Position sche Integration unumkehrbar zu ma- Gorbatschows in der Sowjetunion ge- chen, praktisch erreicht. wesen. Hätte sich dann Kohl über ei- nen solchen Rat hinweggesetzt, wäre der Affront noch größer gewesen. Wä- 10. Die Pariser Charta für ein re er aber einem solchen Rat gefolgt, neues Europa hätte er möglicherweise eine histori- sche Chance vertan. 1989/90 vollzog sich in Deutschland und in Europa eine friedliche Revoluti- Präsident Mitterrand hatte vor allem on. Geschichte wurde geschrieben. Ha- die Sorge, ob ein geeintes und größeres ben wir seitdem alle Chancen genutzt, 35-45_Teltschik:35-45 19.04.2010 12:39 Uhr Seite 42

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die sich in diesen Jahren ergeben ha- stand gewähren als eine solche Ge- ben? Im November 1990 haben alle 35 meinschaft auf der Grundlage einer Staats- und Regierungschefs auf dem gesamteuropäischen Friedens- und Si- KSZE-Gipfel in Paris die „Charta für ein cherheitsordnung. neues Europa“ unterzeichnet. Sie woll- ten mit dieser Charta „ein neues Zeit- alter der Demokratie, des Friedens und 11. Die Erfahrungen von der Einheit“ einleiten. Das Zeitalter der 1989/90 Konfrontation und der Teilung Europas sei zu Ende gegangen. Die Beziehungen Aus den Erfahrungen von 1989/90 liegt sollen künftig auf Achtung und Zu- eine Schlussfolgerung klar auf der sammenarbeit gründen. In Europa soll Hand. Die Mitgliedschaft Deutschlands ein „neues Zeitalter der Demokratie, in der Europäischen Union und in der des Friedens und der Einheit“ anbre- Atlantischen Allianz gehört zu unserer chen. Gemeinsame Leitlinien wurden Staatsräson. Beide Allianzen waren die festgelegt, nach denen das neue Europa Voraussetzung dafür, dass Deutschland gestaltet werden sollte. Mit der KSZE wieder geeint werden konnte. Das sollte ein Mechanismus entwickelt waren zwei Seiten einer Medaille. Die werden, um Konfrontationen zu ver- Europäer haben mit der EU auch den meiden, Krisen zu beherrschen und Beweis erbracht, dass Erzfeinde wie Konflikte friedlich zu beenden. Deutschland und Frankreich enge Freunde werden können. Das hatte Welch eine Vision, welch ein Traum. „I Wirkung auch in den Warschauer Pakt have a dream …“, begann der amerika- hinein. Außerdem müssen wir Deut- nische Bürgerrechtler Martin Luther sche wissen: Das geeinte Deutschland King seine berühmteste Rede. Sollte ein im Herzen Europas ist für unsere Nach- gemeinsames, freies und demokrati- barn nur erträglich, wenn wir Partner sches Europa von Vancouver bis Wla- und Verbündete in der EU und in der diwostok nicht unser Traum sein? In NATO bleiben. Viele Deutsche sind seiner Aachener Rede am 9. Mai 1991 sich dessen nicht bewusst. Die Diskus- erklärte der französische Präsident sionen, die wir bis heute in Polen, aber François Mitterrand: „Europa hatte lan- auch zum Teil in der tschechischen Re- ge nicht so viele Gründe zur Hoff- publik und in anderen Nachbarländern nung“. 1990 ist uns Europäern zum erleben, bestätigen dies. Deutsche Al- ersten Mal in der Geschichte unseres leingänge lösen sofort höchste Nervo- Kontinents die vielleicht unwieder- sität aus. Deshalb brauchen wir auch bringliche Chance eröffnet worden, zukünftig die EU und die NATO für uns ein gemeinsames europäisches Haus zu selbst, auch wenn unsere russischen bauen, eine Gemeinschaft freiheitli- Partner das nicht wahrhaben wollen. cher und rechtsstaatlicher Staaten, in der jedem Mitglied seine Sicherheit ga- Nach der Erweiterung der NATO er- rantiert ist. Nichts könnte diesen von folgte die Erweiterung der EU auf 27 zahllosen Kriegen durchfurchten und Mitgliedsstaaten. Weitere Mitglieds- vom Blut von Millionen Menschen ge- anwärter stehen vor der Tür. Parallel tränkten Kontinent dauerhaften Frie- wurde die Politik der Vertiefung der den, Freiheit, Sicherheit und Wohl- Integration mit der Vollendung des 35-45_Teltschik:35-45 19.04.2010 12:39 Uhr Seite 43

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Binnenmarktes, der Wirtschafts- und sche Felder nicht. Andere wollen mehr Währungsunion und der ersten Schrit- oder weniger nur eine gemeinsame te zur Politischen Union fortgesetzt Freihandelszone wie vermutlich Präsi- und sogar intensiviert. Die Etappen dent Klaus und die britische Conserva- sind bekannt. Alle Verträge von Maas- tive Party; andere wollen ein Europa tricht bis Lissabon haben das Ziel, die der Nationen, was immer das ist, ande- Integration zu vertiefen, die Institutio- re – meistens nur Außenseiter wie ich – nen angesichts der Vielzahl der Mit- wollen die Vereinigten Staaten von gliedstaaten anzupassen und die Ent- Europa. Das stand übrigens bis 1994 im scheidungsprozesse zu verbessern. CDU-Parteiprogramm. Die Vereinigten Staaten von Europa müssten und soll- Die Europäische Union musste also seit ten aber auch keine Kopie der USA sein. den 90er-Jahren zwei Prozesse gleich- zeitig gestalten: die Vertiefung und die Kein Wunder, dass die Bürger in unse- Erweiterung. Es ist deshalb nicht über- ren Ländern unsicher sind, was die Po- raschend, dass diese Entwicklung die litiker mit der EU vorhaben. Hinzu Diskussion auslöste, ob es nicht klüger kommt, dass Entscheidungen im Euro- gewesen wäre, erst zu vertiefen und päischen Rat bei 27 Mitgliedstaaten fast dann zu erweitern. Aus meiner Sicht immer einen Kompromisscharakter ha- gab es aus politischen Gründen diese ben. Deshalb ist es nicht überraschend, Alternative nicht. Die Erweiterung war dass die gleichen Politiker, die diese und ist eine historische Chance, die wir Entscheidungen treffen, nach Rück- nicht versäumen durften. Es ist deshalb kehr in ihre nationalen Parlamente ih- nicht überraschend, dass die Geschich- re eigenen Entscheidungen häufig kri- te der EU von einer Vielzahl von Krisen tisieren. Dann wundern sie sich auch geprägt ist. Das wird auch in Zukunft so noch, dass die Bürger gegenüber der EU sein. Aber jede Krise hat zu Fortschrit- kritisch eingestellt sind und der Euro- ten in die richtige Richtung der Inte- pawahl fernbleiben. Die meisten Richt- gration geführt. Deshalb bin ich ein linien, die in Brüssel erlassen werden, Anhänger von Krisen in der EU. sind keine Erfindungen der dortigen EU-Beamten, sondern in der Regel von den nationalen Regierungen, von Lan- 12. Offene Fragen der EU des- und Provinzregierungen bis hin zu Wirtschaftsverbänden veranlasst wor- Dennoch bleiben zwei Schlüsselfragen den. Die Verärgerung der Bürger, die unbeantwortet: 1. Wie groß soll und die Politiker in der Regel selbst hervor- kann die EU werden? 2. Was soll das gerufen haben, wird dann noch zum Ziel der Integration sein? Die meisten Anlass genommen, Volksabstimmun- Politiker weichen diesen Fragen aus. Sie gen zu verlangen. Das ist eine richtige wollen die Antwort der zukünftigen Chuzpe. Entwicklung überlassen. Andere geben Teilantworten, wer noch Mitglied wer- Wir sollten uns Gedanken darüber ma- den soll und wer nicht. Bestimmte po- chen, welches Ziel wir mit der EU er- litische Bereiche wie z.B. die Außen- reichen wollen. Sollen wir mit der Ver- und Sicherheitspolitik sollen verge- tiefung der Integration vorangehen meinschaftet werden, andere politi- oder das Erreichte konsolidieren? Sol- 35-45_Teltschik:35-45 19.04.2010 12:39 Uhr Seite 44

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len die, die eine föderative Union wol- ischen Friedens- und Sicherheitsord- len, vorangehen dürfen, aber offen nung nicht nähergekommen sind. bleiben für alle anderen, sollten diese sich zu einem späteren Zeitpunkt an- Es war deshalb nicht überraschend, schließen wollen? Sollen wir also ein dass der russische Präsident Dmitri Europa mit unterschiedlichen Ge- Medwedew in einem Vortrag im Juni schwindigkeiten ermöglichen, wie es 2008 in Berlin eine „Europäische Si- mit der Einführung des Euro oder beim cherheitsordnung von Vancouver bis Schengen-Abkommen bereits prakti- Wladiwostok“ vorgeschlagen hat. Russ- ziert wird? Dennoch: Die EU ist eine land hat inzwischen mehrere Prinzi- einzigartige Erfolgsgeschichte. Sie ist pien als möglichen Inhalt eines Vertra- ein Faktor der politischen Stabilität, ges genannt, aber blieb bewusst vage. des Friedens, der Freiheit, des Wohl- Auf diese Weise wollte die russische standes und der Sicherheit in Europa. Führung verhindern, dass ihre Initiati- Sie ist heute zum Vorbild für viele Re- ve vom Westen sofort „vom Tisch ge- gionen in der Welt geworden. Daran schleudert“ würde, wie ein russischer müssen wir die Bürger immer wieder Politiker zu mir sagte. In der Tat haben erinnern. die westlichen Regierungen lange nicht oder nur zögerlich und sehr allgemein reagiert. Der Vorschlag sei zu vage, war 13. Gesamteuropäische der Vorwurf. Inzwischen haben Präsi- Sicherheitsordnung dent Obama und Präsident Medwedew eine gemeinsame Arbeitsgruppe ein- Was ist aus der „Pariser Charta für ein gerichtet. Wir Europäer warten wie- neues Europa“ und dem KSZE-Prozess der einmal ab. Es scheint ja für uns geworden? Am 1. Januar 1995 wurde besser zu sein, vor vollendete Tatsa- die KSZE in OSZE umbenannt. Die 56 chen gestellt zu werden anstatt mitzu- Teilnehmerstaaten haben gemeinsame wirken. Gremien und Organe eingerichtet. Es gibt einen jährlichen Außenminister- rat, einen Außenminister als ständig 14. Die Beziehungen zu wechselnden Generalsekretär, ein Büro Russland für demokratische Institutionen und Menschenrechte, einen Hohen Kom- Unser gemeinsames Interesse müsste missar für nationale Minderheiten, ei- sich vorrangig auf Russland richten. nen Beauftragten für die Freiheit der Wie entwickeln wir zukünftig die Be- Medien und anderes mehr. So liegt der ziehungen mit Russland? Die EU und Schwerpunkt der Tätigkeit der OSZE bei Deutschland sprechen von einer stra- den Menschenrechten. Damit ist die tegischen Partnerschaft. Das ist bisher OSZE für Russland in erster Linie ein In- eine inhaltslose Formel geblieben. Die strument der Einmischung in die inne- EU verhandelt gegenwärtig einen neu- ren Verhältnisse der Mitgliedstaaten en Vertrag über Partnerschaft und Zu- geworden. Die Klage Russlands mag sammenarbeit mit Russland. Der letzte uns wenig bekümmern. Besorgt sollte Vertrag blieb blutleer. Haben wir jetzt uns jedoch machen, dass wir dem ei- eine gemeinsame Strategie? Sollten wir gentlichen Ziel einer gesamteuropä- nicht ein besonderes Vertragsverhält- 35-45_Teltschik:35-45 19.04.2010 12:39 Uhr Seite 45

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nis zwischen der EU und Russland an- telfristig könnte das aus meiner Sicht streben? Wir könnten mit einer ge- ein Ziel sein. Wenn wir Russland nicht meinsamen gesamteuropäischen Frei- stärker in die vorhandenen europäi- handelszone beginnen. Der vormalige schen Strukturen einbinden wollen, EU-Präsident Romano Prodi hatte Prä- dann müssen wir über Alternativen sident Putin bereits einmal einen sol- nachdenken, wie sie Präsident Medwe- chen Vorschlag gemacht, ihn aber dew mit seinem Vorschlag eines neuen nicht weiter verfolgt. Wenn Deutsch- Vertrages über eine europäische Sicher- land und Nord- und Mitteleuropa ge- heitsordnung von Vancouver bis Wla- genüber Russland nicht die intellektu- diwostok auf den Verhandlungstisch elle Führung übernehmen, wird es gelegt hat. sonst keiner tun. Frankreich, Großbri- tannien oder Spanien sind an Russland Die Jahre 1989/90 haben viele neue nicht sonderlich interessiert, Italien Chancen eröffnet. Manche haben wir nur wirtschaftlich. genutzt, viele nicht. Dennoch haben gerade wir Europäer Anlass zur Dank- Russland versteht sich als Teil Europas. barkeit. Die Union sollte sich nicht Wie integrieren wir Russland? Wir kön- schwer tun, Helmut Kohl dankbar zu nen die vorhandenen Strukturen nut- sein. Nach der friedlichen Revolution zen, um Russland einzubinden. US-Prä- haben sich für uns Chancen eröffnet, sident Bill Clinton hatte bereits Präsi- von denen Generationen vor uns nicht dent Boris Yelzin schriftlich und einmal zu träumen wagten. Wenn wir mündlich die Mitgliedschaft in der diese Chancen nutzen wollen, brau- NATO angeboten. Für Yelzin kam das chen wir jetzt Politiker, Wirtschafts- Angebot zu früh. Inzwischen haben wir führer und gesellschaftliche Eliten mit den NATO-Russland-Rat. Bundeskanz- historischem Verständnis, mit Weit- lerin schlug mehrfach blick, mit der Fähigkeit, konzeptionell vor, die Beziehungen zwischen der und strategisch zu denken, mit Mut zu NATO und Russland weiter zu entwi- entscheiden und zu handeln. Jeder von ckeln. Wie das aussehen soll, ist bisher uns ist aufgefordert, mitzuarbeiten an nicht beantwortet. Der polnische Au- einer friedlichen Zukunft Gesamteuro- ßenminister Andrej Sakorski erklärte in pas in Freiheit und Sicherheit. Arbeiten einem Interview in Deutschland, dass wir für eine gemeinsame glückliche Zu- er sich eine NATO-Mitgliedschaft Russ- kunft unserer Völker in einem geeinten lands durchaus vorstellen könne. Mit- und freien Europa. 46-56_Aretz:46-56 22.04.2010 9:48 Uhr Seite 46

Der Weg zur Einheit – Die Verhandlungen des Jahres 1990

Jürgen Aretz

Mit der Öffnung der Berliner Mauer am 9. November erreichte die dramatische Entwicklung des Jahres 1989 ihren Höhepunkt. Welche Erklärung diese Ereignisse auch immer finden mögen – letztlich sind es die Menschen in der DDR gewesen, die mit ihrem mutigen Protest die SED-Führung zu diesem Schritt gezwungen haben.

1. Einführung des Selbstbestimmungsrechtes möglich machen würde. Zum Zeitpunkt der Maueröffnung war in keiner Weise absehbar, dass Deutsch- Die sozialdemokratische Entspan- land weniger als ein Jahr später wieder nungspolitik dagegen gründete auf vereinigt sein würde. Eines machten dem Status quo, der im Interesse des schon die unmittelbaren Reaktionen Friedens nicht in Frage gestellt werden auf den Fall der Mauer deutlich: In den dürfe. In diesem Sinne kam Willy westdeutschen Parteien und ihrem Brandt in den 1980er-Jahren zu dem gesellschaftlichen und medialen Um- Ergebnis, dass die Wiedervereinigung feld gab es extrem unterschiedliche die Lebenslüge der Bundesrepublik sei. Auffassungen über den weiteren Weg War es bei Brandt ein Stück weit Resig- Deutschlands. Von Adenauer bis Kohl nation und Skepsis, die ihn zu einer hatten die Christlichen Demokraten pessimistischen Einschätzung der Mög- und phasenweise noch unmissver- lichkeiten einer Wiedervereinigung ständlicher die Christlich-Sozialen auf kommen ließ, so war es bei anderen ei- dem Selbstbestimmungsrecht der Deut- ne ideologische Fixierung. Egon Bahr schen bestanden. Die deutsche Frage etwa stellte noch 1988 die These auf, sei erst entschieden, wenn sie die dass es dauerhaft zwei deutsche Staaten Deutschen selbst in freier Entschei- geben werde, „also so weit wir nach dung beantwortet hätten. Diese Politik vorn sehen können. Das muss man setzte auf eine friedliche Überwindung nicht nur wissen, sondern man muss es des Status quo, die eine Verwirklichung auch sagen und sogar wollen.“ Die

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Deutschen hätten „Wichtigeres zu tun“ darüber, dass eine Vereinigung der bei- als „die deutschen Staaten zusammen- den deutschen Staaten erstrebenswert zuführen“.1 sei. Vielmehr glaubten nicht wenige Intellektuelle an eine bessere DDR, die Die unterschiedlichen Auffassungen einen Weg zwischen der sozialistischen wurden überdeutlich am Tag nach der Diktatur und der Herrschaft des Kapi- Maueröffnung, als der Regierende Bür- tals, zwischen Ost und West finden germeister von Berlin, Walter Momper sollte. Die von vielen Idealisten ge- (SPD), auf einer Großveranstaltung er- führten Diskussionen am Runden klärte, es gehe nicht um die Wiederver- Tisch, der freilich nicht durch allge- einigung, sondern um ein Wiederse- meine Wahlen legitimiert war, gingen hen. Helmut Kohl rief in derselben Ver- zum Teil in diese Richtung. Die Trans- anstaltung den Menschen in der DDR parente der Demonstranten zeigten zu: „Ihr steht nicht alleine, wir sind hingegen, dass die überwältigende und bleiben eine Nation, und wir ge- Mehrheit in der Vereinigung der DDR hören zusammen.“2 Die folgende Ent- mit der Bundesrepublik Deutschland wicklung bis zum 3. Oktober 1990 und den einzig gangbaren Weg sahen. Nur darüber hinaus die Gewinnung und die so schien es möglich, Demokratie, Gestaltung der deutschen Einheit wur- Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand de immer wieder durch diesen Gegen- dauerhaft auch für die Menschen in der satz beeinflusst und bestimmt. DDR zu sichern.

Helmut Kohl vertrat am 10. November 2. Der Wandel in der DDR 1989 in Berlin keine andere Haltung als die, die er etwa im September 1987 bei In der DDR suchte die SED, die weni- dem Besuch des DDR-Staats- und Par- ge Wochen nach der Maueröffnung teichefs Honecker in Bonn unmissver- ihrem Namen die Bezeichnung „Par- ständlich geäußert hatte. Seine Grund- tei des Demokratischen Sozialismus“ satzpositionen verband er mit prak- (SED/PDS) hinzufügte, mit allen Mit- tisch-pragmatischer Politik. Schon vor teln ihr Machtmonopol zu erhalten. der Maueröffnung hatte er der DDR die Als schließlich die Machtteilung und Bereitschaft zur wirtschaftlichen Hilfe die Aufnahme demokratischer Parteien signalisiert, falls sie sich auf den Weg und Gruppierungen in die DDR-Regie- der Reform begeben und das Macht- rung unvermeidlich wurden, ging es monopol der SED aufgeben würde. der SED/PDS um Zeitgewinn. Die Ins- tallierung einer demokratischen Regie- Am 28. November 1989 überraschte rung sollte hinausgeschoben werden, Kohl die deutsche und internationale um Strukturen zu errichten, die soviel Öffentlichkeit mit seinem Zehn-Punk- politischen Einfluss wie möglich über te-Programm, das er im Deutschen den Tag hinaus sichern sollten und Bundestag vortrug. Er benannte die ebenso die materielle Absicherung vie- zentralen Punkte – von den innenpo- ler Parteigänger. litischen Reformen in der DDR über die wirtschaftliche Situation bis hin zu den In den demokratischen Gruppierungen internationalen Aspekten –, die eine der DDR bestand keineswegs Einigkeit positive Zukunftsgestaltung möglich 46-56_Aretz:46-56 22.04.2010 9:48 Uhr Seite 48

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machen würden. Er ließ aber erneut Lebensstandard in der DDR schon im keinen Zweifel daran, dass „die Wieder- kommenden Jahr um 25–30% sinken vereinigung, d.h. die Wiedergewinnung und die DDR unregierbar machen. der staatlichen Einheit Deutschlands“ Kohl lehnte wiederholt Überbrü- das politische Ziel der Bundesregierung ckungshilfen ab, die er nur einer de- bleibe.3 Mit Kohls Zehn-Punkte-Pro- mokratisch legitimierten DDR-Regie- gramm nahm der Einigungsprozess rung geben wollte. Fahrt auf, auch wenn er einen Zeit- plan – und das war eine Stärke des Kon- zepts – nicht vorgelegt hatte. Aber er 3. Die Wirtschafts-, Währungs- hatte die Initiative an sich gezogen, und Sozialunion und er sollte sie bis zum Ende des Eini- gungsprozesses nicht mehr abgeben. Die ersten und zugleich letzen freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 In der SPD löste Kohls Vorstoß offene führten zu einem nicht erwarteten Er- Uneinigkeit aus; während es im Bun- folg der CDU und der mit ihr verbün- destag spontane Zustimmung gab, deten Parteien. Ihr Kandidat Lothar de führte die anschließende innerpartei- Maizière bildete eine Koalitionsregie- liche Diskussion zu zum Teil erbitterten rung, die auch die DDR-Sozialdemokra- Auseinandersetzungen. Dieser Streit ten einschloss und über eine breite hatte zur Folge, dass die Partei den Ei- Mehrheit in der verfügte. nigungsprozess nur marginal mitge- Am 19. April gab Lothar de Maizière sei- stalten konnte. Besonnene Persönlich- ne Regierungserklärung ab: Die deut- keiten wie Hans-Jochen Vogel haben sche Einheit müsse „so schnell wie die westdeutsche SPD vor einem Versa- möglich kommen“, sagte er und mach- gen in historischer Stunde bewahrt.4 te deutlich, dass er für die Anwendung des Art. 23 des Grundgesetzes sei. Da- Selbst außerhalb Deutschlands wurde mit waren auch die Gedankenspiele be- die Situation schon früh sehr viel rea- züglich eines dritten Weges für die DDR listischer eingeschätzt als in Teilen der faktisch beendet. In der Tat musste es Opposition. Anfang Dezember 1990 angesichts der politischen und wirt- besuchte eine Delegation des US-Senats schaftlichen Lage aus der Sicht der DDR Berlin. Der sie begleitende Botschafter um eine rasche Verwirklichung des Bei- Vernon Walters legte sich gegenüber tritts gehen. Der neue Ministerpräsi- der Bundesministerin dent nannte als weitere Regierungszie- fest: „Frau Minister, Sie werden die Ein- le eine soziale und ökologische Markt- heit viel früher erhalten als jetzt ange- wirtschaft, die Wiederherstellung der nommen wird.“5 1952 abgeschafften Länder und den Ab- schluss einer Wirtschafts-, Währungs- Die DDR-Führung kämpfte bereits seit und Sozialunion mit der Bundesrepu- längerer Zeit mit einer katastrophalen blik innerhalb von acht Wochen. Dabei wirtschaftlichen Situation. Ende Okto- sollte die Währung der DDR im Verhält- ber 1989 hatte Gerhard Schürer, der nis 1:1 zur D-Mark umgestellt werden. Wirtschaftsexperte des Politbüros der SED, eine ernüchternde Analyse vorge- Kohl hatte der Regierung Modrow legt: Ohne weitere Kredite werde der schon Anfang Februar Verhandlungen 46-56_Aretz:46-56 22.04.2010 9:48 Uhr Seite 49

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über eine solche Union angeboten. Die Verhandlungen über die Wirt- Unmittelbar vor seinem Aufbruch zu schafts-, Währungs- und Sozialunion, der, wie sich herausstellen sollte, vor- die nichts anderes als eine Vorfestle- entscheidenden Moskau-Reise legte er gung auf die deutsche Einheit bedeute- damit gegenüber der sowjetischen te, wurden zügig aufgenommen. Am Führung noch einmal die Wiederver- 16. Mai einigten sich der Bund und die einigung als das eigentliche politi- Länder über die Finanzierung der deut- sche Ziel seiner Regierung offen. Am schen Einheit. Ein Fonds in Höhe von 10. Februar 1990 erhielt der deutsche 115 Mrd. D-Mark wurde eingerichtet, Bundeskanzler von dem sowjetischen der im Staatsvertrag verankert wurde Staats- und Parteichef Gorbatschow und als Hilfe für die neuen Länder in erstmals das Signal, dass er sich der den nächsten vier Jahren vorgesehen Wiedervereinigung der Deutschen war. grundsätzlich nicht entgegenstellen werde. Ordnungspolitisch mussten zwei Syste- me zusammengeführt werden, von de- Dass die Bundesregierung im April nen Honecker 1987 zutreffend gesagt 1990 rasch auf de Maizières Vorstellun- hatte, dass sie sich wie Feuer und Was- gen einging, resultierte keineswegs nur ser gegenüberstanden. Auch der Unter- aus dem Verständnis für die sich zu- schied in der Wirtschaftsleistung war spitzende wirtschaftliche und soziale gewaltig. Nicht weniger gilt das für die Lage in der DDR: Faktisch wurde die Prinzipien und die Leistungsfähigkeit DDR-Mark immer mehr durch die D- der Sozialsysteme; Sozialversicherung, Mark verdrängt, es gab einen Mangel Arbeitslosen- und Unfallversicherung, an Produktions- und auch an Nah- Rente, Sozialhilfe und – ganz neu für rungsmitteln. Die massive Abwande- die Menschen in der DDR – die Kriegs- rung aus der DDR drohte indes auch opferversorgung mussten eingeführt die Bundesrepublik zu überfordern, für bzw. übertragen werden. Ohne Frage die 1989 eines der besten wirtschaftli- hat die Erhöhung der Zahl der Leis- chen Jahre überhaupt gewesen war. Bis tungsbezieher das (west-)deutsche So- zum Frühjahr 1990 waren binnen zialsystem, das sich bereits in einer zwölf Monaten rund 400.000 Deutsche angespannten Lage befand, weiter ge- aus der DDR gekommen. Die Übersied- schwächt. Eine Alternative zu der So- ler hatten Anspruch auf volle Sozial- zialunion gab es allerdings nicht – sie leistungen, es fehlten Wohnungen und hat entscheidend zur Akzeptanz des Ei- Arbeitsplätze. Gleichzeitig begann in nigungsprozesses beigetragen, der für der Bundesrepublik eine infame Angst- die Menschen in der DDR mit so vielen und Neidkampagne. Der SPD-Vorsit- Herausforderungen und Anpassungs- zende Lafontaine forderte, die DDR- zwängen verbunden war. Bürger von Sozialleistungen auszu- schließen und der niedersächsische Der Staatsvertrag zwischen der DDR SPD-Vorsitzende Gerhard Schröder und der Bundesrepublik wurde am hatte bereits früher unter Anspielung 18. Mai unterzeichnet und einen Mo- auf die Rechte der Alteingesessenen ge- nat später von den Parlamenten an- äußert, wer später komme, müsse sich genommen. Im Bundesrat stimmten hinten anstellen.6 die Ministerpräsidenten des Saarlandes 46-56_Aretz:46-56 22.04.2010 9:48 Uhr Seite 50

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und Niedersachsens, Lafontaine und nen rechnete, in einem katastrophalen Schröder, gegen den Vertrag. Skepsis ökonomischen Zustand. Schürer hatte gab es auch unter den Arbeitgebern darauf eindrucksvoll hingewiesen – und Gewerkschaften. Kohl hätte es freilich in einem geheimen Papier, das bevorzugt, die Sozialstaatsregelungen zu diesem Zeitpunkt der Bundesregie- schrittweise zu übertragen. Dem aber rung noch nicht vorlag. Im Sommer widersprachen die Forderungen der 1990 gingen weite Teile der westdeut- DDR-Regierung und die Einflussnahme schen Öffentlichkeit, aber selbst seriö- westdeutscher Sozialdemokraten und se Fachleute von viel zu optimistischen Gewerkschaften. Einschätzungen aus. Detlev Karsten Rohwedder, der später von Linksextre- Vor den Kursturbulenzen des Winters misten ermordete Präsident der Treu- 1989/90 betrug der inoffizielle Wech- hand-Anstalt, unterstellte Mitte 1990 selkurs der nicht konvertiblen DDR- noch ein Netto-Industrievermögen der Mark zur D-Mark 4:1. Er stieg um die DDR von 600 Mrd. D-Mark; gut vier Jahreswende auf ein Verhältnis von bis Jahre später verzeichnete die Ab- zu 20:1, mit anderen Worten: Für eine schlussbilanz der Treuhand ein Defizit DDR-Mark gab es fünf D-Pfennige. Ein von 250 Mrd. D-Mark. zentraler und hochsensibler Punkt war daher die Währungsparität. Der Vertrag Letztlich ist es das schwere ökonomi- sah vor, dass Löhne und Gehälter sowie sche und ökologische Erbe der DDR ge- die Renten im Verhältnis 1:1 umgestellt wesen, das die Überwindung der Tei- werden sollten. Das galt auch mit ge- lung so teuer gemacht hat. Zu den Ge- wissen Grenzen für die Sparguthaben, winnern der Einheit gehörten – das war wobei ältere Menschen höhere Beträge gerade auch für die Bundesregierung umtauschen konnten. Forderungen ein Ausdruck der Solidarität – vor allem und Verbindlichkeiten, etwa solche diejenigen, denen keine aktive Berufs- von Betrieben, wurden im Verhältnis zeit mehr blieb, um die Vorteile des Sys- 1:2 umgestellt. Damit ergab sich ein tems der Marktwirtschaft nutzen zu Gesamtumtauschkurs von 1:1,8. können, nämlich die Rentner. Ihre durchschnittliche Monatsrente stieg Das war ohne Frage kein Kurs, der den innerhalb von fünf Jahren von 600 ökonomischen Realitäten in der DDR DDR-Mark auf 1.400 D-Mark. entsprach. Bundesbankpräsident Pöhl und Bundesfinanzminister Waigel hat- ten anfänglich auch widersprochen, 4. Die Verhandlungen über waren aber den politischen Notwen- den Einigungsvertrag digkeiten gefolgt. Sie wurden nicht zu- letzt bestimmt durch die öffentlichen Mit dem Inkrafttreten des Vertrages Forderungen der DDR-Regierung und über die Wirtschafts-, Währungs- und die dadurch ausgelösten Erwartungen. Sozialunion, in dessen Präambel es Teile der SPD hatten überdies eine weit- hieß, er stelle „einen ersten bedeutsa- gehende Streichung der betrieblichen men Schritt in Richtung auf die Her- Schulden gefordert. Tatsächlich befand stellung der staatlichen Einheit nach sich die DDR, die u.a. Artikel 23 des Grundgesetzes“ dar, war zu den zehn stärksten Industrienatio- am 1. Juli 1990 die Einheit Deutsch- 46-56_Aretz:46-56 22.04.2010 9:48 Uhr Seite 51

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lands grundgelegt, aber noch keines- Bundesrepublik stammender Vetter wegs besiegelt. Dies musste in einem Thomas de Maizière, der heutige Bun- zweiten Staatsvertrag erreicht werden. desminister des Innern. Die gute Zu- Kohl hat das in seinen Erinnerungen sammenarbeit bei den Verhandlungen damit erklärt, dass der alternative Weg über den ersten Staatsvertrag hatte die Verabschiedung einer größeren Schäuble veranlasst, Krause das ver- Zahl von Überleitungsgesetzen gewe- trauliche Vorbereitungspapier der Bun- sen wäre. Das hätte viel Zeit erfordert desregierung für den Einigungsvertrag und die Unsicherheit der Menschen in vorab zur Kenntnis zu geben. der DDR wohl noch vergrößert.7 Die rasche Abfolge der dramatischen Die Verhandlungen über den Eini- Ereignisse und die Intensität des Pro- gungsvertrag unterschieden sich von zesses mag dazu beigetragen haben, dem ersten Staatsvertrag protokolla- dass die meisten, besonders westdeut- risch und politisch deutlich. Sie began- sche Verhandlungsteilnehmer, eine nen am 6. Juli 1990 in Ostberlin. Die eher nüchterne und professionelle Hal- Delegation der Bundesrepublik wurde tung zeigten. Lothar de Maizière dage- angeführt durch den Bundesminister gen war anzumerken, dass ihn die Be- des Innern, Wolfgang Schäuble. Sein deutung dieser historischen Stunde Ressort hatte die Federführung bei den auch persönlich sehr bewegte. Für ihn vorbereitenden Abstimmungen, in de- ging es nicht nur um einen zweiten nen sich die Bundesregierung über die Staatsvertrag. Er wollte dieses Vertrags- Grundstrukturen des Vertrages ver- werk sehr bewusst Einigungsvertrag ständigte. Schäuble war überdies als nennen. De Maizière verband damit ei- früherer Chef des Kanzleramtes für die nen programmatischen Anspruch: Der Beziehungen der Bundesrepublik mit Vertrag wurde aus seiner Sicht von zwei der DDR zuständig gewesen, brachte al- gleichberechtigten Partnern geschlos- so wertvolle Erfahrungen mit. Zu der sen. Da aber einer der beiden Partner westdeutschen Delegation gehörten mit dem Abschluss der Verhandlungen ferner Staatsminister und Staatssekre- völkerrechtlich untergehe, so seine Ar- täre verschiedener Ressorts sowie Ver- gumentation, müssten die Interessen treter der Länder. dieses Partners besondere Berücksichti- gung finden. So erwartete er u.a., dass Bei der Eröffnung der Verhandlungen die im ersten Vertrag offengebliebenen kam es für die westdeutsche Seite zu Vermögens- und Eigentumsfragen ab- einer Überraschung. Entgegen infor- schließend geregelt werden sollten. mellen Absprachen erschien als DDR- Verhandlungsführer Ministerpräsident Während es in der Volkskammer hefti- Lothar de Maizière, an seiner Seite ge Debatten und konkrete Vorstöße Staatssekretär Günther Krause, der bei gab, den Beitritt der DDR zum Gel- der Vorbereitung der Wirtschafts-, tungsbereich des Grundgesetzes un- Währungs- und Sozialunion ausge- verzüglich zu vollziehen, vertrat de zeichnete Arbeit geleistet hatte und als Maizière eine andere Position. Er woll- eigentlicher Delegationschef erwartet te die ersten gesamtdeutschen Bundes- worden war. Zu den Beratern des Mi- tagswahlen getrennt durchführen und nisterpräsidenten gehörte sein aus der den Beitritt danach erklären. Zur Be- 46-56_Aretz:46-56 22.04.2010 9:48 Uhr Seite 52

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gründung führte er u.a. organisato- De Maizières Vorstöße waren ernst ge- rische Schwierigkeiten an. Schäuble meint. Hinter vorgehaltener Hand er- hielt dagegen, dass eine Beitrittserklä- schienen sie einigen Mitgliedern der rung der Volkskammer mit anschlie- westdeutschen Delegation schon fast ßenden gemeinsamen Bundestagswah- skurril. Tatsächlich handelte de Maiziè- len der bessere Weg sei. De Maizières re bewusst: Wenn schon inhaltlich von Verfahrensvorschlag hätte eine erheb- der in 40 Jahren gewachsenen DDR- liche Verzögerung zur Folge gehabt Identität kaum etwas Nennenswertes und möglicherweise auch Diskussio- in den Vertrag eingebracht werden nen über die Legitimation des Beitritts konnte, so sollten wenigstens die Sym- ausgelöst. bole des wiedervereinigten Deutsch- lands verändert werden, auch, um den Sehr rasch kam er auf Fragen, denen Bruch mit der bisherigen bundesrepu- von westdeutscher Seite eher symboli- blikanischen Kontinuität zu demons- sche Bedeutung beigemessen wurden, trieren. Vielleicht wollte er auf diese die für ihn aber erkennbar einen zen- Weise die Akzeptanz in Teilen der DDR- tralen Stellenwert hatten. Mit Inkraft- Bevölkerung erhöhen. Man tut aber de treten des Einigungsvertrages, so de Maizière wohl nicht Unrecht, wenn Maizière, solle der Begriff Bundesre- man ihm eine emotionale und politi- publik Deutschland aufgegeben und sche Ferne zu der von ihm als rheinisch durch Deutsche Bundesrepublik oder und katholisch wahrgenommenen al- Bund Deutscher Länder ersetzt werden. ten Bundesrepublik attestiert. Diese da- Unter Bezug auf seine musikalische malige Wahrnehmung entspricht in- Fachkompetenz – der Jurist de Maiziè- zwischen einem erfolgreich tradierten re hatte zunächst Musik studiert – Klischee. überraschte er die Konferenzteilneh- mer mit einem weiteren Vorschlag. Die Lothar de Maizière sah sich während deutsche Nationalhymne, die Haydn- der Verhandlungsrunden einem wach- Melodie mit der dritten Strophe des senden Druck ausgesetzt. Wirtschaft- Deutschlandliedes von Hoffmann von lich spitzte sich die Situation in der Fallersleben, lasse sich problemlos er- DDR zu und der Ruf nach einem ra- gänzen durch die erste Strophe der von schen Beitritt wurde immer lauter. Er Johannes R. Becher verfassten DDR- korrigierte abrupt seinen ursprüngli- Hymne „Auferstanden aus Ruinen“. chen Kurs und suchte auch Kohl zu ei- Deren Text wurde in der DDR seit fast nem vorgezogenen Beitritt zu bewegen. zwei Jahrzehnten nicht mehr ge- Der Bundeskanzler zeigte sich ange- sungen, weil die SED-Führung eine ge- sichts des plötzlichen Sinneswandels ir- meinsame deutsche Nation inzwi- ritiert, setzte aber seine von nüchter- schen ablehnte und die DDR als so- nen Überlegungen bestimmte Linie zialistische Nation definierte. Künftige unverändert fort. Das galt auch für den Hauptstadt, so der DDR-Ministerprä- Zeitplan. sident, müsse selbstverständlich Ber- lin sein. Schäuble erwiderte schon Schon in der ersten Runde war deutlich leicht ironisch, die schwarz-rot-golde- geworden, dass die Verhandlungen ne Flagge könne aber doch wohl so nicht zu einem raschen Abschluss füh- bleiben.8 ren würden. Von der Rechtsanglei- 46-56_Aretz:46-56 22.04.2010 9:48 Uhr Seite 53

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chung, der Eigentumsproblematik, der sowjetische Forderungen berief. Darü- künftigen Finanzverfassung, dem Um- ber kam es zu erbitterten Auseinander- gang mit den Stasi-Akten, der Frage der setzungen mit den Betroffenen. Das Strafbarkeit des Schwangerschaftsab- angerufene Bundesverfassungsgericht bruchs bis hin zur Diskussion über die entschied später im Sinne des Eini- Hauptstadt waren zahlreiche Problem- gungsvertrages. Dieses Urteil wird von felder zu überwinden. Dennoch gelang den Enteigneten bzw. ihren Nachfah- es, diese gewaltige Aufgabe in vier Ver- ren bis heute in Frage gestellt. handlungsrunden und in einem Zeit- rahmen von weniger als acht Wochen In der Nacht vom 22. auf den 23. Au- zu bewältigen – im Rückblick eine fast gust 1990 stimmte die Volkskammer unwirklich erscheinende Tatsache. der DDR über den Einigungsvertrag ab. Mehr als vier Fünftel der Abgeordneten Nach den Erfahrungen der ersten Ver- votierten für den Beitritt zur Bundesre- handlungsrunde konnte nicht davon publik Deutschland gemäß Art. 23 des ausgegangen werden, dass alle Fragen Grundgesetzes mit Wirkung zum 3. Ok- zur beiderseitigen Zufriedenheit geklärt tober 1990. Die überwältigende Mehr- werden würden. So kam es in der heit, die dieser Antrag in der Volks- Hauptstadtfrage zu einer Lösung, die kammer gefunden hatte, belegt, dass von weiten Teilen der westdeutschen die unter demagogischer Anspielung Bevölkerung zunächst nicht mitgetra- auf die Ereignisse von 1938 formulier- gen wurde, und bei der Strafbarkeit des te These vom „Anschluss“ nichts ande- Schwangerschaftsabbruchs galt für ei- res ist als der Versuch, den demokrati- ne Übergangszeit im Beitrittsgebiet die schen Willen der Menschen in der DDR alte DDR-Fristenregelung. In der Frage zu diffamieren. Einer Äußerung des der Stasi-Unterlagen gab Kohl seine ur- Bundestages und des Bundesrates zu sprüngliche Ansicht auf und schloss der Beitrittserklärung bedurfte es nach sich der Position an, die von den Stasi- der verfassungsrechtlichen Lage nicht. Opfern vertreten wurde. Sie hatten ei- Der Einigungsvertrag selbst wurde mit ne besondere Legitimation, über den großen Mehrheiten ratifiziert. Umgang mit ihren Akten zu entschei- den. 5. Die außenpolitischen Kontroverse Reaktionen lösten die Re- Regelungen gelungen der Eigentumsfrage aus. Aus rechtsstaatlichen Erwägungen setzte Die Einigung der beiden deutschen die Bundesregierung bei den von der Staaten oder, wie es in der Bundesrepu- DDR vorgenommenen Enteignungen blik verfassungsrechtlich korrekt ge- den Grundsatz „Rückgabe vor Ent- heißen hatte, der beiden Staaten in schädigung“ durch, wobei es unter be- Deutschland, ging im Sommer 1990 stimmten Voraussetzungen Ausnah- zügig voran. Der Prozess war freilich men geben sollte. Anders verhielt es nicht nur eine bilaterale Angelegenheit sich bei den Enteignungen der sowjeti- zwischen der DDR und der Bundesre- schen Besatzungsmacht zwischen 1945 publik. Er vollzog sich unter schwieri- und 1949. Sie wurden auf Druck der gen außenpolitischen Bedingungen, DDR anerkannt, die sich auf aktuelle setzte doch die Wiedervereinigung 46-56_Aretz:46-56 22.04.2010 9:48 Uhr Seite 54

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Deutschlands die Zustimmung der Sie- der noch im Dezember 1989 der DDR germächte des 2. Weltkriegs voraus, die unter Ministerpräsident Modrow einen immer noch über Rechte in Bezug auf offiziellen Staatsbesuch abgestattet hat- Deutschland als Ganzes verfügten. Die te, lange zögerlich und unentschlos- Wiedervereinigung bedeutete auch aus sen. Die britische Ministerpräsidentin der Sicht mancher befreundeter Nach- Margaret Thatcher sperrte sich mehr barn eine Neujustierung des euro- oder weniger offen gegen die Wieder- päischen Gleichgewichts. Uneinge- vereinigung, ungeachtet aller früheren schränkte Zustimmung fand Deutsch- Beteuerungen und der vertraglichen land nur durch die spanische Regierung Verpflichtungen, die auch britische Re- unter dem sozialistischen Ministerprä- gierungen zugunsten des deutschen sidenten Felipe González. Selbstbestimmungsrechtes eingegan- gen waren. Polen forderte nachdrücklich die Aner- kennung der Oder-Neiße-Linie als end- Die Schlüsselrolle in der deutschen Fra- gültige polnische Westgrenze. In der ge fiel freilich der Sowjetunion und Bundesrepublik wurde die Diskussion ihrem Staats- und Parteichef Michail darüber besonders von der SPD zeit- Gorbatschow zu. Nach anfänglichen weise so geführt, als ob der Hauptge- Irritationen hatte Kohl in den voran- genstand der Erörterung die Grenzfra- gegangenen Jahren ein persönliches ge und nicht die Wiedervereinigung Vertrauensverhältnis zu ihm aufge- sei. Das war umso befremdlicher, als baut, das sich angesichts seiner Sorge Kohl keinen Zweifel an seiner Position um die Lage in der DDR und Kohls Zu- gelassen hatte. Für ihn war die Grenze sicherungen im Herbst 1989 bewährt ein Ergebnis des 2. Weltkrieges, das hatte. Die kritische Lage in der DDR, 1990 nicht (mehr) in Frage gestellt wer- die politischen und ökonomischen den konnte. Nach seiner Überzeugung Probleme in der Sowjetunion und Gor- war aber nur das wiedervereinigte batschows Hoffnung auf die Unterstüt- Deutschland berechtigt, eine völker- zung Deutschlands sowie das persönli- rechtlich abschließende Regelung zu che Verhältnis der beiden Staatsmän- treffen. Den beiden Teilstaaten blieb ner trugen entscheidend dazu bei, dass nur die Möglichkeit vorheriger politi- der Bundeskanzler im Februar 1990 in scher Absichtserklärungen. So ist dann Moskau die grundsätzliche Zustim- auch verfahren worden. Kohl hat mit mung Gorbatschows zum Selbstbe- seiner Strategie indirekt nach War- stimmungsrecht der Deutschen erlang- schau signalisiert, dass die Wiederver- te. Das war eine Voraussetzung für das einigung Deutschlands gerade wegen Gelingen des sog. „2+4 Prozesses“, der der Grenzfrage auch im Interesse Po- am 12. Februar 1990 begann. Die Au- lens war. ßenminister der vier Siegermächte so- wie der DDR und der Bundesrepublik Von den Siegermächten des 2. Welt- berieten in den folgenden Monaten kriegs hatten sich nur die USA unter über die außenpolitischen Rahmenbe- Präsident Bush sen. uneingeschränkt dingungen der deutschen Wiederverei- auf die Seite Deutschlands gestellt. Da- nigung. Es galt im Besonderen, die gegen zeigte sich der französische grundsätzlichen Fragen der Souveräni- Staatspräsident François Mitterrand, tät sowie der Bündniszugehörigkeit des 46-56_Aretz:46-56 22.04.2010 9:48 Uhr Seite 55

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wiedervereinigten Deutschlands zu re- jetunion fand sich damit ab, dass das geln sowie die Truppenstärke der Bun- wiedervereinigte Deutschland in glei- deswehr und den Abzug alliierter bzw. cher Weise der NATO angehören wür- sowjetischer Truppen aus Berlin bzw. de wie zuvor die alte Bundesrepublik. Deutschland unter Einschluss der Waf- Die Einigung ging selbst über die Posi- fenarsenale. tion des deutschen Außenministers hi- naus, der in der Frage der Ausdehnung Das Jahr 1990 war angesichts der epo- des NATO-Gebiets und der Truppen- chalen weltpolitischen Veränderungen stärke der Bundeswehr eine Ansicht geprägt durch eine Vielzahl von Begeg- vertreten hatte, die Kohl verstimmte. nungen der Staatspersönlichkeiten und Das von ihm erreichte Endergebnis war internationalen Konferenzen. Einen günstiger als Genschers Ausgangsposi- Höhepunkt erreichten sie im Juni/Juli tion. 1990, als sich die EG in Dublin, die NATO in London und die G7-Wirt- Während des Jahres 1990 hat Kohl den schaftsmächte in Houston zu Gipfel- sowjetischen Staats- und Parteichef konferenzen trafen. Diese Konferenzen wiederholt materiell unterstützt. Zu führten zu entscheidenden Weichen- umfangreichen Nahrungsmittelliefe- stellungen. rungen kamen finanzielle Hilfen für die Sowjetunion. Tatsächlich hing die Ein- Kohl konnte zwar in Dublin eine wirt- heit Deutschlands buchstäblich jeden schaftliche Soforthilfe der EG für die Tag davon ab, dass Gorbatschow nicht Sowjetunion nicht durchsetzen, weil gestürzt wurde. Die weitere Entwick- Margaret Thatcher zuvor ökonomische lung der Sowjetunion im folgenden Reformen in der Sowjetunion verlang- Jahr bestätigte überdeutlich, dass das te. Die Botschaft für Moskau aber war Zeitfenster für die Wiedervereinigung eindeutig: Auf Kohl war Verlass. Die jederzeit hätte zuschlagen können. Neuorientierung der NATO unter Ein- Kohl stand also unter einem doppelten schluss eines Kooperationsangebotes Beschleunigungsdruck, nämlich der an die Sowjetunion sowie die Signale unsicheren Lage in der Sowjetunion des Weltwirtschaftsgipfels, die Reform- und dem Druck, der sich, wie die Volks- bewegungen in der Sowjetunion und kammerdiskussionen zeigten, in der in Mittelosteuropa zu unterstützen, DDR aufbaute. Die später aufgekom- verfehlten ihre Wirkung nicht. Kohl mene Kritik, man hätte den Wieder- wurde von Gorbatschow kurzfristig vereinigungsprozess entschleunigen nach Moskau und von dort in den Kau- sollen, um Zeit für Übergangsphasen kasus eingeladen. Hier gelang der zu gewinnen, geht daher von falschen Durchbruch. Die Sowjetunion gab die historischen Voraussetzungen aus. Forderung auf, Deutschland auch in Zukunft unter einen Sonderstatus mit Die finanziellen Hilfen für die Sowjet- eingeschränkter Souveränität zu stel- union beliefen sich zunächst auf fünf len. Deutschland, so die neue Position Milliarden D-Mark, einen Bankenkre- der Sowjetunion, sollte in allen, auch dit, den die Bundesregierung verbürgte. sicherheitspolitischen Fragen, unein- Im September erfolgte eine Zusage über geschränkt und souverän entscheiden zwölf Milliarden D-Mark und einen können. Im Klartext hieß das: Die Sow- zweiten (zinslosen) Kredit über drei 46-56_Aretz:46-56 22.04.2010 9:48 Uhr Seite 56

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Milliarden D-Mark, die für die Statio- auf. Die Sowjetunion sagte zu, bis 1994 nierung und die Abzugskosten der sow- alle Truppen und Waffensysteme, da- jetischen Armee aus Deutschland ein- runter eine hohe Zahl von nuklearen gesetzt wurden. Andere, vergleichswei- Sprengköpfen, aus Deutschland abzu- se geringere Leistungen kamen hinzu. ziehen. Deutschland gewann dafür seine Ein- heit, die Beseitigung der gefährlichsten Deutschland hatte 45 Jahre nach der Grenze in Europa und die Perspektive bedingungslosen Kapitulation seine auf gutnachbarschaftliche Beziehun- volle Souveränität wiedererlangt. Der gen zur Sowjetunion. Weg zur Wiedervereinigung war end- gültig frei. Der 3. Oktober 1990, dessen Am 12. September 1990 unterzeichne- Jahrestag zum neuen Nationalfeiertag ten die Außenminister der vier Sieger- der Bundesrepublik Deutschland wur- mächte sowie der Bundesrepublik und de, war der wohl glücklichste Tag in der der DDR den „2+4-Vertrag“. Die Alli- deutschen Nachkriegsgeschichte. Die ierten des 2. Weltkrieges gaben ihre überschwänglichen Feiern der Men- Sonderrechte in Bezug auf Berlin sowie schen in allen Regionen Deutschlands auf Deutschland als Ganzes endgültig belegten dies eindrucksvoll.

Anmerkungen 1 Bahr, Egon: Rede über das eigene Land: Einheit. Die Sozialdemokratie und die Ver- Deutschland, in: Egon Bahr, Sicherheit einigung Deutschlands 1989/90, Bonn 2006. für und vor Deutschland, München 1991, 5 Eigene Aufzeichnungen. S.141. 6 In: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 2 Kohl, Helmut: Erinnerungen 1982–1990, 8.11.1989. München 2005, S.971. 7 Kohl, Helmut: Erinnerungen 1990–1994, 3 Ebd., S.991ff. München 2007, S.189f. 4 Vgl. Sturm, Daniel Friedrich: Uneinig in die 8 Eigene Aufzeichnungen. 57-66_Mayer_Haarmann:57-66 19.04.2010 12:58 Uhr Seite 57

Die Deutschlandpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949–1990

Tilman Mayer/Lutz Haarmann

„Deutschlandpolitik war Chefsache.“1 Mit diesem Diktum des Politikwissen- schaftlers Karl-Rudolf Korte lässt sich die Zentrierung der deutschlandpolitischen Entscheidungskompetenz auf bundesdeutscher Seite treffend in einem Satz charakterisieren. Der Bundeskanzler und das Bundeskanzleramt waren in der Deutschlandpolitik die zentralen Schaltstellen. Das Bundeskanzleramt war Hauptgesprächspartner für die DDR. Hier waren die deutschlandpolitischen Zu- ständigkeiten gebündelt. Das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen hingegen besaß lediglich koordinierende Funktionen, eine eigene, operative Zu- ständigkeit besaß es nur in humanitären Angelegenheiten wie z.B. der Familien- zusammenführung.

1. Einführung gespannt. Auch nach der Übernahme der Kanzlerschaft durch Helmut Kohl – In den folgenden Überlegungen zur vierte Phase – ab 1982 riss dieses Netz Geschichte der Deutschlandpolitik der nicht. Vielmehr lässt sich eine „Phase Bundesrepublik Deutschland zwischen der Intensivierung der innerdeutschen ihrer Gründung 1949 und der Wieder- Beziehungen“ bzw. des normativen Ab- vereinigung 1990 wird von fünf ver- stands zum SED-Regime feststellen.2 schiedenen Phasen ausgegangen: In Als fünfte deutschlandpolitische Phase der ersten Phase, der Ära Konrad Aden- lässt sich die Zeit von der deutschen Re- auers 1949–1963, gab es zunächst kei- volution im Herbst 1989 bis zur Wie- ne Beziehungen zum anderen Teil dervereinigung 1990 charakterisieren.3 Deutschlands. In der zweiten Phase, der Übergangsphase bzw. der Phase der Neuorientierung unter Ludwig Erhard 2. Inakzeptanz: Die Phase der und Kurt-Georg Kiesinger, etwa 1963– Nichtbeziehungen in der Ära 1969, kam es zu vorsichtigen Kontakt- Konrad Adenauers 1949–1963 versuchen beider deutscher Teilstaaten. In der dritten Phase zwischen 1969 und Die deutsche Teilung war ursächlich 1982 unter den Bundeskanzlern Willy dem Ende der Siegerallianz des Zweiten Brandt und Helmut Schmidt wurde Weltkrieges und dem Heraufziehen des durch die sozialliberale „neue“ Ost- Kalten Krieges geschuldet. Die Sieger- und Deutschlandpolitik ein innerdeut- mächte waren unterschiedlicher Auf- sches Beziehungsnetz besonderer Art fassung über das Vorgehen gegenüber

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dem besiegten Deutschen Reich und gung ohne Freiheit für das gesamte handelten entsprechend ihrer politi- deutsche Volk stand für ihn nicht zur schen Vorstellungen in ihren jewei- Debatte6. Im Gegensatz zum Bundes- ligen Besatzungszonen.4 Das geteilte kanzler verfocht der Oppositionsführer Deutschland war Nahtstelle der sich im Deutschen Bundestag und SPD-Vor- feindlich gegenüberstehenden Blöcke, sitzende Kurt Schumacher einen sog. die auch Europa teilten. Die entstehen- Dritten Weg. Schumacher, überzeugter de Bundesrepublik wurde sehr bald ein Sozialist und Antikommunist, baute Bollwerk gegen den sich mit sowjeti- auf einen wirtschaftlich starken West- scher Hilfe in Osteuropa ausbreitenden staat, der eine magnetische Anziehung Kommunismus. Beide 1949 gegründe- auf die Ostzone bzw. spätere DDR aus- ten Teilstaaten erhoben den Alleinver- üben würde, was zu einer zwangsläufi- tretungsanspruch gegenüber dem je- gen Wiedervereinigung führen sollte weils anderen, der sowohl im Grund- (Magnettheorie). Durch die Westbin- gesetz als auch in der DDR-Verfassung dung sah er seine deutschlandpoliti- verankert worden war. Die Bundesre- schen Ziele gefährdet, da diese für ihn publik Deutschland wollte auch für die nicht auf die direkte Einheit zielte.7 DDR-Deutschen sprechen, da diesen Auch aus den Reihen der eigenen Par- teilungsbedingt die Mitwirkung an der tei erfuhr Adenauers Konzept der West- Ausarbeitung des Grundgesetzes ver- bindung Widerspruch. Zu nennen wä- sagt geblieben ist.5 re an dieser Stelle Jakob Kaiser, von den Sowjets aus dem Amt gedrängter ehe- Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) maliger Vorsitzender der Ost-CDU und verfocht seit 1949 einen außenpoliti- späterer erster gesamtdeutscher Minis- schen Kurs der Westbindung und lehn- ter im Kabinett Adenauers. Kaiser woll- te jegliche Form einer Schaukelpolitik te verhindern, dass sich die ehemaligen ab. Mit der politischen Verankerung Westzonen in Gestalt der Bundesrepu- des freien Teils Deutschlands, der Bun- blik zu vorschnell an eine Seite binden desrepublik, in Westeuropa und Nord- würden. Das von ihm und seinen Bera- amerika verfolgte er seine Nahziele: tern entwickelte Konzept sah Deutsch- Frieden und Sicherheit, Wiederaufbau land bis 1947 dabei als Brücke zwischen und Wohlstand, Gleichberechtigung Ost und West. Neben einem innenpo- und Wiedererlangung der Souveräni- litisch-taktischen „christlichen Sozia- tät. Die Westintegration stellte für lismus“ sollte die CDU als transzonale Adenauer auch den einzig denkbaren Gruppierung hervortreten. Kaisers Kurs Weg hin zur Lösung der deutschen Fra- fand nicht die gewünschte Resonanz, ge dar. Mit einer Politik der Stärke soll- das Konzept der sofortigen Westbin- te ein geeinter Westen gegenüber der dung setzte sich durch. Das aggressive Sowjetunion in den möglichen Ver- und militante Auftreten der Sowjetuni- handlungen über die deutsche Einheit on im Kalten Krieg führte dazu, dass al- Druck aufbauen können, um so die öst- le gesamtdeutschen oder neutralisti- liche Führungsmacht zu Zugeständnis- schen Konzepte eines wie auch immer sen im Zuge einer Überwindung der gearteten Dritten Weges (z.B. Gustav deutschen Teilung zu bewegen. Die Heinemanns Gesamtdeutsche Volks- Westbindung war für Adenauer auch partei oder Ulrich Noaks Bemühungen eine Wertefrage: eine Wiedervereini- des Nauheimer Kreises) nicht ernsthaft 57-66_Mayer_Haarmann:57-66 19.04.2010 12:58 Uhr Seite 59

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in Erwägung gezogen werden und so- Staaten, allerdings hier noch unter Um- mit letzthin auch keinen Erfolg haben gehung der DDR.10 konnten. Auch die Stalin-Noten von 1952 wurden als Finten gesehen, die Kiesinger setzte darauf, das Verhältnis Westdeutschland von seinem Kurs der zum zweiten deutschen Staat ent- Westintegration abbringen sollten.8 krampfen zu können, indem er ver- Der Bau der Berliner Mauer 1961 und suchte, die Beziehungen im menschli- die Hinnahme dieser durch die westli- chen, wirtschaftlichen und kulturellen chen Alliierten beendete eine Phase der Bereich zu fördern. Die Bundesregie- Entwicklung des Ost-West-Konflikts, in rung unter Kiesinger hielt am Allein- der es zu keinem Durchbruch in der na- vertretungsanspruch fest, gleichwohl tionalen Frage kam. Die Debatten um sie faktisch die Hallsteindoktrin auf- eine mögliche Wiedervereinigung gab, in dem sie 1967 diplomatische Deutschlands um den Preis der Neutra- Beziehungen zu Jugoslawien aufnahm, lität waren eher ein Ausdruck des Un- obgleich Jugoslawien Beziehungen zur behagens am Status quo, als dass sie DDR unterhielt.11 Als eine wichtige realistische Alternativen zu Adenauers Neuerung der Deutschlandpolitik un- Politik der Westintegration hätten lie- ter Kiesinger kann der Briefwechsel des fern können.9 Kanzlers mit dem DDR-Ministerprä- sidenten Willi Stoph im Jahre 1967 gelten, der jedoch keine Anerkennung 3. Abwägungen: Jahre des Über- des zweiten deutschen Staates beinhal- gangs unter Ludwig Erhard tete.12 und Kurt-Georg Kiesinger 1963–1969 4. Anerkennung: Die „neue“ Nach der politischen Lösung der Kuba- Ost- und Deutschlandpolitik Krise 1962 veränderte sich die weltpo- der sozialliberalen Bundes- litische Konstellation. Im Rahmen der regierung 1969–1982 auf diese Krise folgenden Entspan- nungspolitik zwischen den USA und Bereits Anfang der 60er-Jahre begann der Sowjetunion verschoben sich auch die Abkehr der SPD von ihrem strikten die Gewichte in der deutschen Frage. Antikommunismus Schumacherscher Unter der im Herbst 1966 gebildeten Prägung. Im Zuge der „Strategie des Großen Koalition von Bundeskanzler Friedens“ des US-Präsidenten John F. Kurt-Georg Kiesinger (CDU) und Au- Kennedy entwickelte der Sozialdemo- ßenminister Willy Brandt (SPD) kam es krat Egon Bahr, Mitarbeiter des Berli- zu einem Entgegenkommen der west- ner Regierenden Bürgermeisters Willy deutschen Seite gegenüber der DDR- Brandt, in seiner Tutzinger Rede am Führung. Bereits im Frühjahr 1966 ver- 15. Juli 1963 das Konzept des „Wandels suchte Bundeskanzler Ludwig Erhard durch Annäherung“. Kernpunkt war (CDU), Bewegung in die Ostpolitik zu die Anerkennung des Status quo in bringen, so etwa mit einem als „Frie- Deutschland und Europa, sie sollte aber densnote“ bekannt gewordenen Ange- gleichzeitig der erste Schritt zu seiner bot eines Gewaltverzichts an die Sow- Überwindung darstellen. Menschliche jetunion und an die osteuropäischen Erleichterungen standen im Zentrum 57-66_Mayer_Haarmann:57-66 19.04.2010 12:58 Uhr Seite 60

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dieses Konzepts, nicht die direkte und was auch die Aufgabe des Bonner Al- sofortige Wiedervereinigung.13 leinvertretungsanspruches beinhaltete. Aber auch die Regierung Brandt war Bereits am Ende der Großen Koalition wie ihre Vorgängerinnen nicht zu einer unter Kiesinger zeigten sich die deutsch- völkerrechtlichen Anerkennung der landpolitischen Unterschiede zwischen DDR bereit.15 Mit dem Grundlagenver- Union und SPD, die zu Konflikten auf trag sollten nun „normale gutnachbar- den Feldern der deutschen Ostgebiete, liche Beziehungen zueinander auf der des Alleinvertretungsanspruchs und Grundlage der Gleichberechtigung“16 einer möglichen Hinnahme des Status entwickelt werden, wie es in Artikel 1 quo führten.14 Nach der Regierungs- des Vertrages hieß. übernahme durch die sozialliberale Bundesregierung stellte Bundeskanzler War dieser Vertrag politisch als ein Tei- Brandt in seiner Regierungserklärung lungsvertrag zu deuten, wie dies von vom 28. Oktober 1969 sein „Zwei- weiten Teilen der westdeutschen Publi- Staaten-Konzept“ vor: Demnach exis- zistik geschah? Die Bonner Opposition tierten in Deutschland zwei Staaten, hat hier auf Anregung von Franz Josef die füreinander nicht Ausland sein Strauß durch den Gang der bayerischen konnten. Man wollte also mit der DDR- Staatsregierung vor das Bundesverfas- Seite Verhandlungen auf Regierungs- sungsgericht erheblich zur Klärung die- ebene führen, um zu einer auf Ver- ser Frage beigetragen.17 In der Bilanz trägen basierenden Zusammenarbeit hat Karlsruhe durch seine Interpretati- zu kommen. Die Hallstein-Doktrin on des Grundlagenvertrages der Bun- wurde durch die bundesdeutsche Vor- desregierung aufgetragen, auf keinerlei leistung abgelöst, dass die Haltung ge- deutschlandpolitische Rechtstitel zu genüber den Außenbeziehungen der verzichten sowie der DDR die Möglich- DDR zukünftig von den Fortschritten keit eines Beitritts offenzuhalten.18 Das in den deutsch-deutschen Beziehun- Karlsruher Urteil berührte wegen sei- gen (Scheel-Doktrin) abhängig ge- nes Wiedervereinigungsgedankens vie- macht werden würden. le Anhänger der Entspannungspolitik unangenehm. Durch diese These zur Zentrales Dokument der deutsch-deut- Einheit wurde höchstgerichtlich der schen Beziehungen in der soziallibera- Status quo und damit die DDR in Frage len Ära war der Grundlagenvertrag, der gestellt, die Teilung eben gerade nicht am 21. Dezember 1972 unterzeichnet respektiert. Die DDR stand zur Disposi- wurde. Da es der Großen Koalition auf- tion – kein Ziel von Entspannungspoli- grund der starren Haltung der SED- tikern. Die DDR-Führung reagierte ent- Führung nicht gelungen war, mensch- sprechend entsetzt. liche Erleichterungen für die Deut- schen in der DDR durchzusetzen, Nach dem Rücktritt Brandts im Zuge wollte nun die seit Herbst 1969 regie- der sog. Guillaume-Affäre konnte unter rende sozialliberale Koalition unter dem neuen Bundeskanzler Helmut Kanzler Brandt einen neuen Anlauf in Schmidt (SPD) eine Internationalisie- der Deutschlandpolitik wagen. So wur- rung der deutschen Außenpolitik fest- de von Anfang an erklärt, dass die deut- gestellt werden. KSZE-Prozess, Nord- sche Teilung anerkannt werden solle, Süd-Problematik und neue Fragen in 57-66_Mayer_Haarmann:57-66 19.04.2010 12:58 Uhr Seite 61

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der Sicherheitspolitik bestimmten die 5. Distanz: Neuer normativer Agenda des Kanzlers. Innenpolitisch Abstand zur DDR in Helmut musste sich Schmidt vor allem mit dem Kohls Kanzlerschaft RAF-Terror auseinandersetzen. Deutsch- 1982–1989 land- und ostpolitisch bemühte sich die Bundesregierung um ein besseres In Helmut Kohls Kanzlerschaft ab 1982 Verhältnis zur Sowjetunion; mit der fallen wichtige und zugleich umstrit- DDR wurden 1974 Ständige Vertreter, tene deutschlandpolitische Ereignisse. aber eben nicht Botschafter, ausge- So gab es zweimal Milliardenbürg- tauscht. schaften für die DDR, das Kulturab- kommen wurde unterzeichnet, der Eine neue Eiszeit im Ost-West-Konflikt NATO-Doppelbeschluss wurde durch- brach mit dem Einmarsch der UdSSR in geführt, Erich Honecker besuchte im Afghanistan19, der Stationierung der September 1987 die Bundesrepublik sowjetischen SS-20-Raketen und dem Deutschland und als Höhepunkt vor nachfolgenden NATO-Doppelbeschluss der staatlichen Vereinigung der Fall der an. Honeckers Geraer Forderungen von Mauer am 9. November 1989.22 1980 (Respektierung der DDR-Staats- bürgerschaft, Umwandlung der Ständi- Das deutschlandpolitische Handeln gen Vertretungen in Botschaften, Elbe- Kohls beinhaltete drei Prämissen: Ers- Grenzverlauf in der Strommitte, Schlie- tens verschärfte er den normativen Ab- ßung der Zentralen Erfassungsstelle für stand zur DDR, nahm dabei Bezug auf DDR-Verbrechen in Salzgitter) zielten die rechtlichen Grundlagen der Bun- auf eine völkerrechtliche Anerkennung desrepublik Deutschland (z.B. die Ver- der DDR, der allerdings von westdeut- teidigung der Präambel des Grundge- scher Seite nicht stattgegeben wurde. setzes gegenüber der sozialdemokra- Zu einem weiteren deutsch-deutschen tischen Bonner Opposition, die viele Treffen kam es 1981 zwischen Schmidt als überholt ansahen) und definierte und Honecker am Werbellinsee, das die deutsche Frage rechtlich und ge- allerdings – gerade auch vor dem Hin- schichtlich als offen. Zweitens bettete tergrund der Ausrufung des Kriegs- er seine Deutschlandpolitik in den Pro- rechts in Polen – keine substanziel- zess der europäischen Einheit ein, und len deutschlandpolitischen Fortschrit- drittens bewies er einen pragmatischen te brachte.20 Man könnte – mit Andreas und kooperativen deutschlandpoliti- Rödder gesprochen – die deutschland- schen Stil gegenüber dem SED-Regime. politische Bilanz der Regierung Schmidt Diese Fortsetzung des entspannungs- als die Einrichtung im Status quo be- politischen Kurses war ein Zugeständ- zeichnen: Die Bundesregierung habe nis an den kleineren Koalitionspartner, demnach unter seiner Führung „die in der auf diese Kontinuität im operati- der Konzeption der sozial-liberalen ven deutschlandpolitischen Geschäft Ostpolitik angelegten revisionistischen Wert legte. Helmut Kohls Deutsch- Potenziale zunehmend ab[gestreift]“21. landpolitik war auf das langfristige Ziel 57-66_Mayer_Haarmann:57-66 19.04.2010 12:58 Uhr Seite 62

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der deutschen Einheit ausgelegt23. Dass mokrat und spätere Präses der Evange- er sich keine seiner Grundpositionen lischen Kirche in Deutschland, Jürgen von der DDR-Seite abhandeln ließ (z.B. Schmude, im Jahre 1984 die Zentrale die gemeinsame deutsche Staatsbürger- Erfassungsstelle für Verbrechen an der schaft), führte dann im Herbst 1989 innerdeutschen Grenze als „fragwürdi- dazu, dass es den DDR-Flüchtlingen ges Symbol“. Der frühere Regierungs- erspart blieb, ein Asylverfahren in sprecher Klaus Bölling forderte die der Bundesrepublik durchmachen zu Änderung der Präambel des Grundge- müssen.24 setzes, in der auf den Wiedervereini- gungsanspruch künftig verzichtet wer- Der Höhepunkt während der deutsch- den sollte.27 Der ostdeutsche Historiker deutschen Beziehungen in der Ära Ilko-Sascha Kowalczuk erinnerte später Kohl war sicherlich der Arbeitsbesuch daran, dass „innerhalb der westdeut- des DDR-Staats- und Parteichefs Erich schen Gesellschaft die Idee der deut- Honecker in der Bundesrepublik im schen Einheit weitaus weniger vital ge- September 1987. Auch hier zeigten sich blieben war als in der DDR: Politiker wieder die „vielen Ironien und Parado- wie Oskar Lafontaine oder Joseph Fi- xien im deutsch-deutschen Verhält- scher stellten sich namens ihrer Partei nis“, so A. Rödder. Obwohl man an- ebenso massiv dagegen wie einflussrei- nehmen konnte, dass die SED mit die- che Intellektuelle, etwa der Schriftstel- sem deutschlandpolitischen Ereignis ler Günter Grass oder der Sozialphilo- ihre politische Gleichrangigkeit hatte soph Jürgen Habermas.“28 durchsetzen können, so wurde sie öko- nomisch immer abhängiger von der Dass die deutsche Einheit viele Väter Bundesrepublik. Zudem betrieb die hatte, ist evident. Andreas Rödder bei- Bundesrepublik eine Politik der Konso- spielsweise misst der Rolle des sowjeti- lidierung der DDR, ohne damit jedoch schen Staats- und Parteichefs, Michail eine Liberalisierung des dortigen Sys- Gorbatschow, eine überragende Rolle tems zu bewirken. Diese Politik führte bei der Beendigung des Kalten Krieges jedoch insbesondere durch den inten- zu: „Am Anfang war Gorbatschow.“29 siven Ausbau der Besuchsmöglichkei- Seine Reformpolitik habe einen unge- ten von DDR-Bürgern in Westdeutsch- planten Prozess in Gang gesetzt, der land tendenziell zu einer Destabili- letztendlich die deutsche Wiederverei- sierung des SED-Regimes25, die das nigung ermöglichte.30 scheinbar längst ad acta gelegte Ziel der Bonner Deutschlandpolitik, nämlich Jedoch spielten auch die langfristigen die staatliche Einheit in Frieden und Prozesse in der Sowjetunion – schon Freiheit, für viele unerwartet dennoch vor dem Machtantritt Gorbatschows – ermöglichte.26 eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Beendigung des Ost-West-Kon- Gleichwohl hatte es auch in den 80er- flikts. Zu nennen wären hierbei insbe- Jahren mannigfache Versuche aus dem sondere ihre technologischen und fi- linksliberalen Umfeld in der Bundesre- nanziellen Defizite gegenüber dem publik gegeben, auf deutschlandpoliti- Westen. Nicht also die Entspannungs- sche Rechtstitel zu verzichten. So be- politik der 70er-Jahre schuf somit die zeichnete beispielsweise der Sozialde- Grundlage für das Ende des Kalten Krie- 57-66_Mayer_Haarmann:57-66 19.04.2010 12:58 Uhr Seite 63

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ges, wie es bislang häufig fälschlicher- oben genannten Ereignisse bereits weit weise angenommen wurde.31 Vielmehr vor der deutschen Revolution das Ende waren vollmundig formulierte Anwür- der SED-Diktatur erkannten, gehörte fe, wie sie Egon Bahr etwa formulierte, der Kieler Völkerrechter Wolfgang Seif- schlicht realitätsfern. Er hatte in einer fert. In einem Zeitungsaufsatz schrieb kuriosen Schrift von 1988 verkündet: er im August 1989: „Eben deshalb aber „Gorbatschow lehrt diejenigen bei uns, wird die Krise der DDR ihre Auswir- die es nötig haben: Nicht der Riese ist kungen auch auf die innenpolitische hohl, sondern die Hoffnungen auf sei- Lage der Bundesrepublik haben. Es nen Zusammenbruch.“32 kann nicht ausgeschlossen werden, dass manche Politiker sich mit ihren Reden von der bloßen Fortschreibung 6. Revolution: Von der der bisherigen Deutschlandpolitik um deutschen Revolution 1989 Kopf und Kragen reden.“35 Angesichts zur staatlichen Einheit 1990 der anhaltenden Massenflucht von Deutschen aus der DDR auch nach der Der letzte Abschnitt der Geschichte der Maueröffnung am 9. November und Deutschlandpolitik der Bundesrepu- weiteren Demonstrationen im gesam- blik Deutschland handelt zunächst ten Land (jetzt mit der Losung „Deutsch- von Ereignissen, die sich außerhalb der land einig Vaterland“), nahm Bundes- Bundesrepublik ereignet haben. Als Fa- kanzler Kohl das deutschlandpolitische nal für das Ende des SED-Regimes kön- Heft in die Hand und stellte am 28. No- nen die gefälschten Kommunalwahlen vember 1989 im Deutschen Bundes- vom 7. Mai 1989 gelten. Ein Jahr zuvor tag sein „Zehn-Punkte-Programm“ vor. wurde von Gorbatschow das Ende der Jetzt stellte der Kanzler der DDR seine Breschnew-Doktrin verkündet. Rund Hilfe bei tiefgreifenden Reformen in um die Feierlichkeiten zum 40. Jahres- Aussicht (wie z.B. einer demokratisch tag der DDR im Oktober 1989 kam es legitimierten Regierung). Die Perspek- zu Auseinandersetzungen zwischen op- tive einer deutsch-deutschen Konföde- positionellen Demonstranten und der ration bzw. deutschen Einheit gehörte Staatsmacht. Im September, einen Mo- ebenso zu Kohls Hilfsangebot. Kohl nat zuvor, wurde vom Neuen Forum bezeichnete seinen Besuch in Dresden dessen formelle Gründung beschlos- im Dezember 1989 später selbst als sen.33 „Schlüsselereignis“ auf dem Weg zur deutschen Einheit, da hier konkrete Was tat sich auf westdeutscher Seite? Schritte zwischen ihm und dem SED- Zunächst nichts. Auch hier trifft die Ministerpräsidenten aus- Analyse Kortes zu: „Die Wende vom gehandelt wurden. Die Volkskammer- Herbst 1989 traf Ost und West völlig wahlen in der DDR am 18. März 1990 unvorbereitet. Keiner hatte die Revolu- schufen eine weitere wichtige Grund- tion vorhergesagt. Die meisten Beob- lage für die Verhandlungen zur Einheit, achter brauchten fast ein Jahr, um zu nämlich die notwendige frei gewählte erkennen, dass der Zusammenbruch DDR-Regierung. Am 5. Mai 1990 be- des SED-Regimes auch alternativlos das gannen die internationalen Gespräche Ende der Teilung Deutschlands bedeu- (Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen) über tete.“34 Zu denjenigen, die im Zuge der die Wiedervereinigung. Mit der Wäh- 57-66_Mayer_Haarmann:57-66 19.04.2010 12:58 Uhr Seite 64

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rungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ren Bevölkerungsschichten ausgepräg- und der damit verbundenen Einfüh- ter als bei den jüngeren, vorwiegend rung der D-Mark in der DDR am 1. Juli auch eher im bürgerlichen Lager mit 1990 wurde eine weitere Stufe der den Anhängern der CDU/CSU an der deutsch-deutschen Zusammenarbeit Spitze als im rot-grünen Lager, trotz- auf dem Weg zur deutschen Einheit dem wurde von einer Mehrheit der Ge- beschritten. Der letzte Teil des We- samtbevölkerung in der Bundesrepu- ges zur staatlichen Einheit begann mit blik die Streichung des Wiedervereini- den deutsch-deutschen Verhandlun- gungsgebotes aus der Präambel des gen über den Einigungsvertrag am Grundgesetzes abgelehnt. Ebenso wur- 6. Juli 1990. Am 31. August 1990 mün- de im Herbst 1989 eine mögliche Neu- deten die Gespräche in den „Vertrag tralität als Bedingung der sowjetischen zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Zustimmung zur Wiedervereinigung land und der Deutschen Demokrati- abgelehnt. Dieses latente Nationalbe- schen Republik über die Herstellung wusstsein wurde dann im Prozess der der Einheit Deutschlands – Einigungs- Überwindung der Teilung manifest.36 vertrag“. Bundestag und Volkskammer stimmten diesem Vertrag am 20. Sep- Die Wiedervereinigung ereignete sich tember 1990, der Bundesrat am 21. Sep- am Ende wie man sie in den 50er-Jah- tember 1990 zu. Am 3. Oktober 1990 ren erhofft hatte: Der Schlüssel zur Ein- wurde die Einheit formal durch einen heit lag in Moskau. Weder die Ausei- Beitritt der DDR-Länder zur Bundesre- nandersetzungen im Kalten Krieg noch publik Deutschland vollzogen. Das die Entspannungsbemühungen waren Selbstbestimmungsrecht des deutschen jede für sich genommen zielführend. Volkes hatte sich damit verwirklichen Dennoch lieferte die Entspannungspo- lassen, auch wenn der Preis, auf die litik das Vertrauenskapital, mit dem das Ostgebiete zu verzichten, bezahlt wer- in den 50er-Jahren viel stärker verfoch- den musste. tene Ziel eines vereinten Deutschlands erreicht werden konnte.37

7. Fazit Neben der eben dargelegten staatlichen Ebene der westdeutschen Deutsch- Bleibt abschließend noch die Frage zu landpolitik, mit ihren Vier-Mächte- erörtern, warum es 1989/90 zur Wie- Kontakten, den zwangsnotwendigen dervereinigungschance kam. Neben den Kontakten zum SED-Regime und der beiden schon oben angesprochenen Beziehungspflege zu den weiteren Faktoren des Revisionismus Gorba- kommunistischen Regimes des Ost- tschows und dem Vermeiden jeglichen blocks, sollte aber die Leistung der Dis- Triumphalismus über den Erfolg in der sidenten in West und Ost beim Wach- nationalen Frage im Prozess der Wie- halten des Gedankens an die Wider- dervereinigung trat ein dritter hinzu: natürlichkeit des Status quo nicht Der Gedanke an die Wiedervereini- vergessen werden. Zu nennen wären an gung war in der westdeutschen öffent- dieser Stelle beispielhaft der sowjeti- lichen Meinung ein latent aktualisier- sche Dissident Andrei Amalrik38 oder barer geblieben. Dieser Wiedervereini- einer der westdeutschen Dissidenten, gungswunsch war zwar in den älte- der Kieler Völkerrechtler Wolfgang Seif- 57-66_Mayer_Haarmann:57-66 19.04.2010 12:58 Uhr Seite 65

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fert.39 Den Fall der Mauer anzudenken Deutschlandpolitik 1949 bis 1990 in war nicht vielen Analytikern gegeben, toto auch lesen. Insofern ist dem Aus- aber es gab diese Perspektiven eben ruf „Schluss mit den Mauerlegenden!“ auch in der öffentlichen Meinung und des französischen Publizisten Bernard- so könnte man die Geschichte der Henri Lévy zuzustimmen.40

Anmerkungen 1 Korte, Karl-Rudolf: Deutschlandpolitik in Revolution von 1989 in der DDR, Mün- Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungs- chen 2009, S.84–85. stil und Entscheidungen 1982–1989, 14 Vgl. Winkels: Die Deutschland- und Ost- Stuttgart 1998, S.7 politik der ersten Großen Koalition, 2 Vgl. zur Einteilung der Phasen der S.313–314. Deutschlandpolitik insbes. Glaab, Ma- 15 Vgl. Hacker, Jens: Grundlagenvertrag, nuela: Deutschlandpolitik der Bundesre- in: Handbuch zur deutschen Einheit publik Deutschland, in: Handbuch zur 1949–1989–1999, hrsg. von Werner Wei- deutschen Einheit 1949–1989–1999, hrsg. denfeld und Karl-Rudolf Korte, Bonn von Werner Weidenfeld und Karl-Rudolf 1999, S.417–430, hier S.418. Vorausge- Korte, Bonn 1999, S.239–252, hier S.239. gangen war dem Grundlagenvertrag der 3 Vgl. Schuller, Wolfgang: Die deutsche Re- deutsch-deutsche Verkehrsvertrag, der im volution, Berlin 2009. Mai 1972 unterzeichnet worden war. 4 Vgl. Glaab: Deutschlandpolitik der Bun- Überhaupt erst möglich wurden inner- desrepublik Deutschland, S.239–240. deutsche Verhandlungen nach den Ge- 5 Vgl. Schroeder, Klaus: Die veränderte Re- waltverzichtsabkommen der Bundesre- publik. Deutschland nach der Wieder- publik Deutschland mit der Sowjetunion vereinigung, Stamsried 2006, S.91. (Moskauer Vertrag) und mit Polen (War- 6 Vgl. auch Jahn, Hans Edgar: Die deutsche schauer Vertrag) im Jahre 1970 sowie Frage von 1945 bis heute. Der Weg der nach Unterzeichnung des Vier-Mächte- Parteien und Regierungen, Mainz 1985. Abkommens über Berlin (Berlin-Abkom- 7 Vgl. Glaab: Deutschlandpolitik der Bun- men) von 1971. desrepublik, S.240. 16 Vertrag über die Grundlagen der Bezie- 8 Vgl. Mayer, Tilman: Kontroversen zur hungen zwischen der Bundesrepublik deutschen Frage, in: Handbuch zur deut- Deutschland und der Deutschen Demo- schen Einheit 1949–1989–1999, hrsg. von kratischen Republik, 21.12.1972. Werner Weidenfeld, Karl-Rudolf Korte, 17 Vgl. Hacker, Jens: Deutsche Irrtümer. Bonn 1999, S.501–509, hier S.502–503. Schönfärber und Helfershelfer der SED- Zu Jakob Kaiser vgl. auch Mayer, Tilman: Diktatur im Westen, Berlin u.a., 3. Aufl., „Macht das Tor auf“, Jakob Kaiser-Studi- 1994, S.235. en, Berlin 1996. 18 Vgl. Isensee, Josef: Die deutsche Teilung 9 Vgl. Mayer: Kontroversen zur deutschen und die deutsche Einheit im Spiegel der Frage, S.504. Zu den Neutralisten vgl. Rechtsprechung des Bundesverfassungs- auch die Studie von Gallus, Alexander: gerichts, in: Einigkeit und Recht und Frei- Die Neutralisten. Verfechter eines ver- heit, Symposium anlässlich des 70. Ge- einten Deutschland zwischen Ost und burtstages von Frau Richterin des Bundes- West 1945–1990, Düsseldorf 2001. verfassungsgerichts a.D. Prof. Dr. Karin 10 Vgl. Glaab: Deutschlandpolitik der Bun- Graßhof, hrsg. von Christian Hillgruber, desrepublik Deutschland, S.243–244. Berlin 2008, S.7–38, hier S.11–12. 11 Vgl. ebd., S.244. 19 An sich hätte ja nach der Entspannungs- 12 Vgl. Winkels, Martin: Die Deutschland- philosophie sich alles anders entwickeln und Ostpolitik der ersten Großen Koali- müssen. Insofern war auch dieser Schritt tion in der Bundesrepublik Deutschland der SU eine erneute Widerlegung eben (1966–1969), Diss., Bonn 2009, S.316–317. dieses Ansatzes. Schon Ende der 60er-Jah- 13 „Nichts hat dem SED-Staat mehr Legiti- re hatte Karl Theodor Freiherr zu Gut- mität und Stabilität verliehen als die in- tenberg, wenn auch vergeblich, zu be- ternationale Anerkennungswelle Anfang denken gegeben: „Letztlich kann nur der der siebziger Jahre … Das SED-Regime die Entspannung bewirken, der die Span- schien dauerhaft etabliert, die Nach- nung erzeugt hat. – Und wer wollte be- kriegsordnung von Jalta zementiert“, sie- haupten, dass wir die Spannung erzeugt he Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die hätten?“ in: Ders.: Fußnoten, Stuttgart, 57-66_Mayer_Haarmann:57-66 19.04.2010 12:58 Uhr Seite 66

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3. Aufl., 1971, S.149. die klassische Totalitarismusthese erneut 20 Vgl. Glaab: Deutschlandpolitik der Bun- bestätigte. Vgl. auch Jesse, Eckhard: War desrepublik Deutschland, S.247. Vgl. zur die DDR totalitär?, in: Ders.: Diktaturen späteren Aufweichung der Haltung der in Deutschland. Diagnosen und Analy- oppositionellen SPD gegenüber den Ge- sen, Baden-Baden 2008, S.379–396. raer Forderungen Sturm, Daniel Friedrich: 30 Vgl. Rödder: Deutschland einig Vaterland, Uneinig in die Einheit, Die Sozialdemo- S.15. kratie und die Vereinigung Deutschlands 31 Vgl. ebd., S.60–61. 1989/90, Bonn 2006. 32 Bahr, Egon: Zum europäischen Frieden. 21 Rödder, Andreas: Deutschland einig Va- Eine Antwort auf Gorbatschow, Berlin terland. Die Geschichte der Wiederverei- 1988, S.19; Günter Schabowski hat der- nigung, München 2009, S.48. artigen Illusionisten später korrigierend 22 Vgl. insbes. Korte: Deutschlandpolitik in mitgeteilt: „Was wäre aus dem Land bis Helmut Kohls Kanzlerschaft, S.7. heute geworden, wenn es immer noch 23 Roos, Sören: Das Wiedervereinigungsge- DDR hieße? Aus der teils ausgetrockne- bot des Grundgesetzes in der deutschen ten, teils versottenen Wirtschaft hätten Kritik zwischen 1982 und 1989, in: Schrif- weder Reformer noch optimistische Bür- tenreihe der Gesellschaft für Deutsch- gerrechtler auf Dauer Genießbares für die landforschung, Band 90, Berlin 1996; vgl. Menschen zaubern können. Da war auch die Beiträge von Buchstab, Rödder, nichts zu reformieren, sondern nur ab- Glaab, Richter, Küsters, Wilms in den His- zuschaffen. Selbst Gorbatschow ist diese torisch-Politischen Mitteilungen, ACDP, Erfahrung nicht erspart geblieben“, siehe 15. Jahrgang, 2008, S.289–394. Schabowski, Günter: Ich bin draußen. Er- 24 Vgl. Korte: Deutschlandpolitik in Helmut zwungene Denkpause: Mein Gefängnis- Kohls Kanzlerschaft, S.481. tagebuch, in: FAZ, 5.10.2000, S.55. 25 „Dieses von der Bundesregierung maß- 33 Vgl. Korte, Karl-Rudolf: Die deutsche Wie- geblich initiierte und geförderte private dervereinigung, in: Die Bundesrepublik Besuchsprogramm zählte zu den nach- Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, haltigsten Destabilisierungs- und Delegi- hrsg. von Hans-Peter Schwarz, Köln u.a. timierungsfaktoren der SED-Diktatur“, in: 2008, S.181–203, hier S.185–186. Obwohl Kowalczuk, Endspiel, S.185. Ungarn bereits am 2.5.1989 damit be- 26 Vgl. Rödder: Deutschland einig Vaterland, gonnen hatte, die Grenzsperren zu Öster- S.49. reich abzubauen, blieben doch die Rege- 27 Vgl. Mayer: Kontroversen zur deutschen lungen an der Grenze in Kraft. Vgl. dazu Frage, S.506; zur Haltung der Parteien zur Rödder: Deutschland einig Vaterland, deutschen Frage in den 80er-Jahren siehe S.72. Haarmann, Lutz: Warten auf die Wieder- 34 Korte: Die deutsche Wiedervereinigung, vereinigung? Die westdeutschen Parteien S.182. und die Deutsche Frage in den 80er-Jah- 35 Seiffert, Wolfgang: Eine Perspektive statt ren, in: Einsichten und Perspektiven, kleiner Schritte. Die Krise der DDR ist Bayerische Zeitschrift für Politik und Ge- auch eine Krise der Deutschlandpolitik, schichte 3/2009, S.178–197. in: FAZ, 26.8.1989. Seiffert lotete bereits 28 Siehe Kowalczuk: Endspiel, S.461; vgl. zu 1986 Wege zur Wiedervereinigung aus. den Wandlungen des DDR-Bildes auch in Die Behauptung, es habe niemand die der bundesdeutschen Politikwissenschaft kommende Einheit prognostiziert, ist Jesse, Eckhard: Die politikwissenschaftli- falsch. Vgl. dazu Seiffert, Wolfgang: Das che DDR-Forschung in der Bundesrepu- ganze Deutschland. Perspektiven der Wie- blik Deutschland, in: Ders.: Demokratie dervereinigung, München 1986. in Deutschland. Diagnosen und Analy- 36 Vgl. Mayer, Tilman: Warum es zur Wie- sen, hrsg. und eingeleitet von Uwe Backes dervereinigungschance kam, in: Wie- und Alexander Gallus, Köln u.a. 2008, dervereinigung Deutschlands, hrsg. von S.117–154. Karl Eckart, Jens Hacker und Siegfried 29 Rödder: Deutschland einig Vaterland, Mampel, Berlin 1998, S.233–241, hier S.15; zur herausgehobenen Rolle Gorba- S.240–241. tschows bei der Beendigung des Kalten 37 Vgl. Mayer: Kontroversen zur deutschen Krieges siehe auch Brown, Archie: Der Frage, S.508. Gorbatschow-Faktor. Wandel einer Welt- 38 Vgl. Lévy, Bernard-Henri: Schluss mit den macht, Frankfurt/M. u.a. 2000; „Nicht Mauerlegenden!, in: FAZ, 12.11.2009. Gorbatschow erwies sich als unfähig, son- 39 Müller, Reinhard: Trittbrettfahrer der Ein- dern das System war nicht reformierbar“, heit, in: FAZ, 23.12.2009. in: Kowalczuk, Endspiel, S.31, womit er 40 Vgl. Lévy: Mauerlegenden. 67-78_RichardSchroeder:67-78 20.04.2010 9:17 Uhr Seite 67

Der Beitrag der Kirchen zur friedlichen Revolution in der DDR

Richard Schröder

Das Bild von den Evangelischen Kirchen in der DDR ist in der öffentlichen Mei- nung nach dem Zusammenbruch der DDR plötzlich umgekippt. Erst galt sie als Mutter der Revolution, dann wurde sie als Stütze des Systems verdächtigt. Das eine war zu viel der Ehre, das andere ist zu viel der Schande.

1. Mutter der Revolution oder anders als in Polen, viel zu schwach, Stütze des Systems? um die Mutter der Revolution zu sein. Sie konnte keine Massen mobilisieren. Mutter der Revolution, diese Übertrei- Außerdem ist die Kirche keine politi- bung kam dadurch zustande, dass die sche Partei, die politische Programme Kirche der einzige Ort in der DDR war, zu vertreten und Revolutionen zu ver- an dem das freie Gespräch möglich anstalten hat. Sie hat Gottes Wort zu war. Die Evangelische Kirche hat in den Gehör zu bringen. Gottes Wort macht 80er-Jahren oppositionellen Gruppen, frei. Und deshalb war es richtig, dass die sich mit den Themen Frieden, Um- die Kirche der Freiheit des Wortes welt oder Dritte Welt beschäftigten, ihr Raum gegeben hat. Dadurch hatte sie Dach angeboten, auch Nichtchristen. Verdienste am Ende der SED-Diktatur Und sie hat, wenn Oppositionelle aus aufzuweisen. Allerdings ist auch die diesen Gruppen verhaftet wurden, Für- Kirche von der Geschwindigkeit dieses bitt-Gottesdienste und Mahnwachen Zusammenbruchs überrascht worden. ermöglicht. Im Herbst 1989 nahmen Denn das Bemühen der Kirche zielte die meisten Demonstrationen ihren immer auf Reformen, weil wir aus Er- Ausgang von Gottesdiensten. Diese Bil- fahrung wussten, dass, wenn es um die der von vollen Kirchen im Westfernse- Machtfrage geht, mit den Kommunis- hen haben bei vielen im Westen ein ten nicht zu spaßen ist – dann schlagen gänzlich irreales Bild vermittelt. Denn sie zu. in Wahrheit waren die Christen in der DDR zu einer verschwindenden Min- Stütze des Systems, dieser Vorwurf derheit geschrumpft. Die Kirche war, rührt wohl einerseits eben von dieser

Politische Studien, Themenheft 1/2010, 61. Jahrgang, Mai 2010 67-78_RichardSchroeder:67-78 20.04.2010 9:17 Uhr Seite 68

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sanften Strategie der Kirche im Um- diese Verfassung nicht gehalten und gang mit den Staatsvertretern her. Vor ein Gericht, bei dem die Kirche gegen allem aber wird er genährt von Stasi- den Verfassungsbruch hätte klagen Enthüllungen. Ich will dazu nur dies können, gab es nicht. Der Spielraum sagen: Jeder Fall von missbrauchtem der Kirche war deshalb eine Mischung Vertrauen ist enttäuschend und muss von jederzeit widerrufbaren Gewohn- aufgeklärt werden. Das ist aber auch heitsrechten und gewohnheitsrechtli- geschehen. Die Rechenschaftsberichte chen Illegalitäten. Insofern war unsere der entsprechenden kirchlichen Gre- Situation mit der von Geiseln ver- mien sind allerdings von der Öffent- gleichbar. Und da gibt es vier Reakti- lichkeit nur mäßig wahrgenommen onsmöglichkeiten: worden. Es stimmt aber nicht, dass die Kirche von der Stasi stärker durchsetzt •Man kann sich tätig widersetzen. war als andere gesellschaftliche Berei- Geiselnehmer machen dann in der che. Vielmehr stellte die Kirche für die Regel aber kurzen Prozess. SED ein großes Problem dar, weil sie die •Man kann still über sich ergehen las- einzige nicht gleichgeschaltete Organi- sen, was geschieht. sation in der DDR war, die entgegen •Man kann sich auf die Seite der Gei- der marxistisch-leninistischen Weltan- selnehmer schlagen. schauung und Staatsdoktrin eine an- •Oder man kann dieses und jenes zu dere Überzeugung, nämlich die christ- bewegen suchen. Dann darf man liche, vertrat. Und es stimmt nicht, aber nicht sagen: „Geiselnehmer dass die Stasi die kirchlichen Entschei- seid ihr und ich verachte euch“, son- dungen, namentlich die der Kirchen- dern eher so: „Ich verstehe euch ja, parlamente, beeinflussen konnte. Als aber … .“ Beweis ist anzuführen, dass sich die SED bei der Kirche regelmäßig über sy- Da die Kirchen keine Rechtsposition nodale Entscheidungen beschwerte. geltend machen konnten, konnten sie Und schließlich stimmt es auch nicht, nicht verhandeln, sondern nur bitten. dass die evangelische Kirche stärker Sie mussten, wenn es um die Gleichbe- von der Stasi durchsetzt war als die ka- rechtigung der Christen und die Ar- tholische. Diese hat aber keinen Minis- beitsmöglichkeiten der Kirche ging, terpräsidenten aus ihrer Führungsriege versuchen darzulegen, dass es im wohl- gestellt und das mindert das Medienin- verstandenen Interesse der anderen teresse erheblich. Der dritte Grund für Seite ist, dieser Bitte nachzukommen. den Vorwurf, Stütze des Systems gewe- Dies war nun umso schwieriger, als sen zu sein, ist die Formel „Kirche im die SED von Anfang an und bis zum Sozialismus“. Schluss der festen Überzeugung war, dass die Kirche erstens „die einzige In- stitution im Sozialismus [ist], die nicht 2. Kirche ohne dem Wesen der sozialistischen Gesell- Rechtsstaatsgarantien schaftsordnung entspricht, aus ihr nicht erwächst und für den Sozialismus und In der ersten Verfassung der DDR wa- seine Entwicklung überflüssig ist“ (so ren zwar die Rechte der Kirche be- ein Funktionär in seiner damals ge- schrieben, aber die SED hat sich an heim gehaltenen Dissertation 1983), 67-78_RichardSchroeder:67-78 20.04.2010 9:17 Uhr Seite 69

Der Beitrag der Kirchen zur friedlichen Revolution in der DDR 69

und dass die Kirche zweitens das Sam- gers“ ein Sonderfall. Nur in der DDR sa- melbecken der feindlich-negativen Kräf- hen sich die Kommunisten mit einer te sei, der Brückenkopf des Imperialis- überwiegend protestantischen Bevöl- mus usw. Die Hauptziele der SED-Kir- kerung konfrontiert. 1949 waren das chenpolitik waren: Die Kirche sollte 90%. Die Erfahrungen der sowjetischen ihren Einfluss auf die Jugend verlieren. Kommunisten mit der Russisch-Ortho- Dem diente die Jugendweihe, ein DDR- doxen Kirche passten da nicht. Wäh- Unicum in den sozialistischen Län- rend für den orthodoxen Gottesdienst dern, und die Behinderung kirchlicher die Liturgie das Entscheidende ist, stellt Jugendarbeit. Die kirchliche Arbeit soll- für den evangelischen die Predigt das te auf den „Kult“ und die Diakonie be- Zentrum dar. Neben dem Gottesdienst schränkt werden, also aus der Öffent- sind für protestantische Kirchen Ge- lichkeit herausgedrängt werden. Sie soll- meindekreise, Jugendarbeit, Bildungs- te eine grundsätzliche Loyalitätserklä- arbeit (Schulen, Studentengemeinden, rung zur Politik der SED abgeben. Die Akademien) und soziale Arbeit („inne- Methoden der SED wechselten. 1953 re Mission“, Diakonie), die sich zumeist inszenierte sie einen regelrechten Kir- „von unten“ als christliche Bürgerini- chenkampf, aber die Sowjetunion ver- tiativen gebildet hatten, charakteris- langte den Abbruch dieses radikalen tisch. Während die Russisch-Orthodo- Kurses. Von da ab verfuhr die SED tak- xe Kirche streng hierarchisch aufgebaut tisch raffinierter. Ihr Hauptinstrument ist, hat sich im Protestantismus das war, den Differenzierungsprozess vo- synodale Prinzip der Kirchenparlamen- ranzutreiben, d.h., „divide et impera“. te durchgesetzt, deren Mitglieder zur Hälfte keine Theologen, sondern „Lai- Über das zähe Ringen der Evangeli- en“ sind. Während für jene die Klöster, schen Kirche, diesem ihr zugedachten aus denen die Bischöfe kommen, die Tod zu entgehen, ließe sich viel er- geistlichen Zentren darstellen, werden zählen. 1970 z.B. erließ die SED eine protestantische Pfarrer an Universitä- Veranstaltungsverordnung, nach der ten und akademischen Hochschulen alle kirchlichen Veranstaltungen außer ausgebildet. Während jene die Theolo- Gottesdienst und Christenlehre ange- gie der antiken Kirche reproduzierte, meldet, also genehmigt werden muss- hat sich die protestantische Theologie ten. Die Kirche hat sich nicht daran ge- in der Auseinandersetzung mit der Auf- halten und regelmäßig Strafe bezahlt, klärung und der Moderne artikuliert. bis die Verordnung modifiziert wurde. Die Kämpfe um die Jugendrüstzeiten Deshalb verfing die plumpe antireli- und die schwierigen Bemühungen um giöse Propaganda der Kommunisten, Kirchentage sind andere Beispiele. die sich nach einer Empfehlung Lenins an Argumenten der französischen Auf- klärer orientierte, wenig. Diese Argu- 3. Sonderfall: mente waren in den Kirchen längst be- Protestantische Kirche im kannt und bedacht. Man lernte sie im „Sozialistischen Lager“ Theologiestudium kennen. Während die russischen Kommunisten 1917 mit Die evangelische Kirche in der DDR einer Kirche konfrontiert waren, die war innerhalb des „sozialistischen La- aufs engste mit dem Zaren und den 67-78_RichardSchroeder:67-78 20.04.2010 9:17 Uhr Seite 70

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vormodernen Lebensverhältnissen ver- um unterstanden, was eine eigentüm- bunden war, war im deutschen Protes- liche Freiheit mittels Diskriminierung tantismus die Verbindung von Thron ergab. Der großteils illegale Import von und Altar bereits 1919 gelöst worden. Fachliteratur machte die Kirchlichen Nach 1945 wurden die Männer und Hochschulen zu den einzigen Orten Frauen der Bekennenden Kirche mit ih- einer freien Bildung in der DDR. ren Erfahrungen aus dem (jedenfalls geistigen und geistlichen) Widerstand gegen die Nazi-Diktatur tonangebend. 4. Ausgangssituation und Ent- Die Theologie Karl Barths und Dietrich wicklung der Evangelischen Bonhoeffers war für die Kirchen in der Kirche nach 1945 in der DDR sehr wichtig. Während jene streng sowjetischen Besatzungszone hierarchisch organisiert war, ist der Pro- testantismus in Deutschland föderal 1945 waren über 90% der Bevölkerung organisiert (Landeskirchen), was nicht der sowjetischen Besatzungszone Kir- immer ein Segen ist. Und bis 1968 war chenmitglieder, wenn auch örtlich va- diese föderale Organisation gesamt- riierend. Die Flüchtlinge aus den viel deutsch (EKD). Weil die gesamtdeut- stärker volkskirchlich geprägten Ost- schen Gremien nach dem Mauerbau gebieten haben das Gemeindeleben nicht mehr gemeinsam tagen konnten, oft spürbar belebt. 1964 fand die letz- wurde 1968 der „Bund evangelischer te Volkszählung in der DDR statt. Sie Kirchen in der DDR“ gegründet. ergab 12 Millionen Kirchenmitglieder (72%). 1989 waren nur noch 25–30% Ein zweiter Grund war der, dass die Kirchenmitglieder. Auch in der Nazi- neue Verfassung der DDR Vereinbarun- zeit hatte es eine Kirchenaustrittsbewe- gen zwischen Staat und Kirche vorsah gung gegeben. Viele der Ausgetretenen und der Staat die EKD seit dem (west- sind nach dem Zusammenbruch des lichen) Militärseelsorgevertrag nicht Nationalsozialismus wieder in die Kir- mehr als Verhandlungspartner akzep- chen eingetreten. Oft lag ja der Kirchen- tierte. Trotzdem blieben intensive Kon- austritt nur wenige Jahre zurück. Eine takte zwischen östlichen und westli- solche Wiedereintrittsbewegung hat es chen Kirchenleitungen und Gemein- nach 1989 so nicht gegeben, denn 40 den in einem System von Partner- Jahre, das ist mehr als eine Generation. gemeinden, die nach 1990 oft zu kom- munalen Partnerschaften ausgeweitet Die sowjetische Besatzungsmacht hat wurden, bestehen. Die finanzielle Un- die Kirchen zunächst nicht behindert, terstützung durch die westdeutschen ja in Grenzen sogar gefördert. Denn sie Kirchen erlaubte es den ostdeutschen wurden als „antifaschistisch“ betrach- Kirchen, ihre Pfarrer selbst zu bezahlen tet. Zwar war die evangelische Kirche in (in anderen sozialistischen Ländern hat der Nazizeit in „Deutsche Christen“, das der Staat gern übernommen, um die mit dem Nationalsozialismus sym- bestimmen zu können, wer predigen pathisierten, und die „Bekennende Kir- darf) und eigene kirchliche Hochschu- che“ gespalten, aber die Deutschen len zu unterhalten, die vom Staat nicht Christen verloren ihren Einfluss 1945 als solche anerkannt wurden und somit vollständig. Es gab so etwas wie eine in- auch nicht dem Hochschulministeri- nerkirchliche „reeducation“. 67-78_RichardSchroeder:67-78 20.04.2010 9:17 Uhr Seite 71

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Die Besatzungsmacht hat den kirch- Weil sie bei dieser Rücknahme der Re- lichen Grundbesitz von der Bodenre- pressionen aber die Normerhöhung für form ausgenommen, also nicht ent- die Arbeiter nichtrevidierte, kam es eignet. Sie hat Ausbildungsstätten für zum Aufstand des 17. Juni. kirchliche Berufe genehmigt. Aller- dings hat sie das staatliche Schulmo- nopol eingeführt und allgemeinbilden- 5. „Kirche im Sozialismus“1 de christliche Schulen und Internate verstaatlicht. Die erste DDR-Regierung Seit der Gründung der DDR war es eine hatte sich verpflichten müssen, keine sehr umstrittene Frage, wie sich die Maßnahmen der Besatzungsmacht in Evangelische Kirche, im Besonderen Frage zu stellen. Damit waren auch die vor dem Hintergrund der Erfahrungen von der Besatzungsmacht genehmigten der Bekennenden Kirche in der Nazi- kirchlichen Einrichtungen geschützt. zeit, zu diesem Staat verhalten sollte. Die radikalste Position nahm der Berlin- Die erste Verfassung der DDR von 1949 Brandenburger Bischof Dibelius ein. Er garantierte die staatliche Amtshilfe zum erklärte 1959, in einem totalen Staat Kirchensteuereinzug und den Religi- sei der Obrigkeitsgehorsam suspen- onsunterricht in den Räumen der Schu- diert, da dieser Staat nicht legitimiert le. Sie gewährte den Kirchen das Recht, sei. Seine viel umstrittene Illustration zu den Lebensfragen des deutschen dazu war, in der DDR seien für ihn die Volkes Stellung zu nehmen. Aber schon Verkehrsregeln nicht verbindlich und ein Jahr später wurde die Amtshilfe wenn er sich dennoch daran halte, beim Kirchensteuereinzug eingestellt dann nur aus taktischen Erwägungen. und der Religionsunterricht aus den Diese Position stieß auf allgemeine Ab- Räumen der Schule verdrängt. Denn lehnung, sogar auf die seiner eigenen 1950 beschloss die SED den „Aufbau Kirchenleitung. Dibelius hatte ja mit des Sozialismus“. Nun sollte der Mar- seiner Diagnose, der SED-Staat sei eine xismus-Leninismus die Grundlage für Diktatur, Recht. Seine Konsequenz war Bildung und Erziehung sein. Die SED aber, zumal für die einfachen Gemein- ging mit Verhaftungen, willkürlichen deglieder, nicht lebbar. Sie konnten Verurteilungen und Enteignungen ge- sich nicht selbst pauschal zu Staats- gen wirtschaftlich Selbstständige, Bau- feinden erklären und dennoch im Land ern und andere Missliebige vor. Anfang bleiben. Der sogenannte Obrigkeits- 1953 kam es zu einem regelrechten Kir- streit hat damals die Gemüter enorm chenkampf, der sich besonders gegen erhitzt. Das Resultat dieser Auseinan- die Mitglieder der Jungen Gemeinde dersetzungen waren die 1963 von der und der Studentengemeinde richtete. Konferenz der Kirchenleitungen verab- Etwa 3.000 Oberschüler wurden damals schiedeten „Zehn Artikel von Freiheit relegiert, etwa 70 kirchliche Mitarbeiter und Dienst der Kirche.“ Diese wenden inhaftiert. Diakonische Einrichtungen sich sowohl gegen die totale Ableh- wurden enteignet. Aber nach Stalins nung als auch gegen Systemkonformi- Tod änderte die Sowjetunion ihre tät, denn auch ein Staat, der seinen Deutschlandpolitik radikal und zwang Auftrag verfehlt, kann der Herrschaft die DDR-Regierung, ihre repressive Po- Gottes nicht entlaufen. Sie weisen den litik abzubrechen, was sie auch tat. Absolutheitsanspruch der Ideologie der 67-78_RichardSchroeder:67-78 20.04.2010 9:17 Uhr Seite 72

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SED zurück und kritisieren die Ver- Kirche der DDR um die Frage nach dem nachlässigung des positiven Rechts Verhältnis der Kirche zur DDR. Sie hat- „um einer erstrebten vollkommenen te offenbart, dass eine einheitliche Stel- Gerechtigkeit willen“. Sie benennen lungnahme nicht zu erreichen war. Es Kriterien, denen eine Rechtsordnung wäre aber sehr gefährlich gewesen, aus christlicher Sicht genügen müsse wenn sich die Kirchen in dieser Frage und kritisieren die Unterwerfung des gespalten hätten. Denn genau darauf Rechts unter den Wahrheitsanspruch zielte die Strategie der SED. einer Ideologie. Sie fordern zur Unter- scheidung „zwischen dem gebotenen Als 1968 der Bund der Evangelischen Dienst an der Erhaltung des Lebens Kirchen in der DDR gegründet und so- und der gebotenen Verweigerung der mit die organisatorische Trennung von atheistischen Bindung“ auf. der gesamtdeutschen EKD vollzogen wurde, hat man deshalb kein umfang- Es ist allerdings nicht gelungen, diesem reicheres Grundsatzdokument zum Dokument die Geltung einer Grund- Verhältnis von Staat und Kirche for- satzerklärung zu verschaffen, denn es muliert, sondern sich mit schwammi- gab Widerspruch. Der Weißenseer Ar- gen Formeln begnügt. Inzwischen ist beitskreis formulierte „Sieben Sätze von klar, dass die Anregung zu der Formel der Freiheit der Kirche zum Dienen“. „Kirche im Sozialismus“ von der SED Sie beschreiben eine sich selbst ver- stammte. Sie sollte eine Loyalitätsfor- leugnende und die Welt selbstlos lie- mel sein, aber bereits eine gemilderte. bende Kirche. Deshalb dürfe sie nicht Der SED war nämlich klar geworden, Ankläger, Verteidiger oder Richter der dass sie von der Evangelischen Kirche Parteien der Welt sein. Eine Kritik des in der DDR nicht erwarten konnte, dass Absolutheitsanspruchs der atheisti- sie sich als „Kirche für den Sozialismus“ schen Ideologie der SED, des kommu- verstehe. Die Synode des Bundes in Ei- nistischen Staatsverständnisses und der senach 1971 übernahm deshalb auch Rechtspraxis in der DDR kommt des- nicht diese kurze Formel, sondern die- halb ebenso wenig in Frage wie eine se umständliche und gequälte: „Eine Kritik an der Begrenzung kirchlichen Zeugnis- und Dienstgemeinschaft von Einflusses und der Bestreitung kirchli- Kirchen in der DDR wird ihren Ort ge- cher Rechte. Bei der Ausarbeitung die- nau zu bedenken haben: in dieser so ge- ser Position hat der Theologe Hanfried prägten Gesellschaft, nicht neben ihr, Müller, Professor an der Humboldt- nicht gegen sie. Sie wird die Freiheit ih- Universität, eine unrühmliche Rolle ge- res Zeugnisses und Dienstes bewahren spielt. Er war ein fanatischer Anhänger müssen“. Man sieht, das „für“ ist be- der SED-Politik und übrigens aus West- wusst vermieden. deutschland übergesiedelt. Im Ergebnis berührte sich diese Position mit der des Und das hat die SED auch genau ge- „Thüringer Weges“ (Mitzenheim), der merkt. In einer Jahresanalyse des SED- die DDR fast unkritisch als „Obrigkeit“ Staatssekretärs für Kirchenfragen heißt akzeptierte. es 1978 ganz zutreffend: „‚Kirche im Sozialismus‘ in Gestalt einer patrioti- Dies war die letzte große Auseinander- schen Haltung zur sozialistischen Hei- setzung innerhalb der Evangelischen mat ist existent im Beispiel der Rus- 67-78_RichardSchroeder:67-78 20.04.2010 9:17 Uhr Seite 73

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sisch-orthodoxen Kirche oder der re- dem Sinne, dass sie sich nicht auf eine formierten Kirche Ungarns, deren un- Institution des Kults beschränkt oder eingeschränktes Ja zum Sozialismus sich in ein selbstgewähltes innerkirch- und zur Politik des sozialistischen Staa- liches Ghetto zurückzieht. Vielmehr tes feststehen. Hinsichtlich der evange- beansprucht sie ein Mitspracherecht in lischen Kirchen in der DDR ist dies auf Politik und Gesellschaft. … Die evan- Grund spezifischer geschichtlicher Ent- gelische Kirche sieht ihren Auftrag im wicklungen, der Klassenkampfbedin- Bekennen des Evangeliums, im Dienst gungen an der Nahtstelle zum Impe- am Menschen und an der Gesellschaft. rialismus und bedingt durch weiter Sie bezieht sich dabei auf den evangeli- existierende materielle Abhängigkeit schen Theologen Bonhoeffer, der eine von den Kirchen der BRD nur als Fern- Kirche, ‚die für andere da ist‘, gefordert ziel zu erstreben. Das wird deutlich, be- hat.“ trachtet man die derzeitige Vorstellung von ‚Kirchen im Sozialismus‘, wie sie Das Erstaunliche an dieser Beschrei- bei der Mehrheit der kirchlichen Amts- bung ist, dass sie stimmt. Die Kommu- träger anzutreffen sind. … Die Kirche nisten hatten nämlich erhebliche findet sich mit der Realität der sozialis- Schwierigkeiten, sich ein einigermaßen tischen Gesellschaft ab und stellt sich zutreffendes Bild von der Kirche zu ma- auf sie ein, was noch keine Option für chen, weil sie nur gelernt hatten, dass den Sozialismus beinhaltet. Die sozia- die Kirche reaktionär, ein Instrument listische Umwelt wird als der zwar des Klassenfeindes ist und dass Religion nicht ideale, so doch von Gott zuge- ein verkehrtes, unwissenschaftliches wiesene (zugemutete) Platz ihres Wir- Bewusstsein darstellt. Im Staatssekreta- kens betrachtet. … Die Kirche passt riat für Kirchenfragen dagegen hatte sich den realen politischen und gesell- sich nach und nach ein differenzier- schaftlichen Verhältnissen so an, dass teres und treffenderes Bild von der Kir- ihre Haltung weder als Akklamation che gebildet, was durchaus positiv zu noch als Opposition gegenüber dem werten war, denn verzerrte Feindbil- Staat aufgefasst werden kann. Die der sind sehr gefährlich, wenn sie Glaubwürdigkeit der Kirche setzt geis- zur Handlungsgrundlage werden. Zu- tig-weltanschauliche Eigenständigkeit gleich belegt der Text wie viele andere voraus, wobei man diese Eigenständig- aus dem Staatssekretariat aber auch, keit durch betonte Nichtidentifikation dass die SED mit der „Kirche im So- mit gesellschaftlichen Normen und zialismus“ überhaupt nicht zufrieden Entwicklungen im Sozialismus nach- war. zuweisen trachtet. … Das Auftreten von Konflikten wird infolge des Wei- Trotzdem muss ich gegen jene Formeln terbestehens grundlegender weltan- Bedenken erheben.2 Dass die Kirche schaulicher Gegensätze einkalkuliert. sich auf die SED-Terminologie „Sozia- Ihre Austragung soll jedoch unterhalb lismus“ eingelassen hat, ohne ihrerseits der Schwelle offener Konfrontation mit zu sagen, was sie unter dem Wort ver- dem Staat erfolgen. … Die Kirche ist in steht, war ein intellektuelles Versagen. dem Sinne unpolitisch, indem sie frü- Es hat zudem dazu geführt, dass die here Machtpositionen und Privilegien Unterscheidung zwischen Staat, Partei verloren hat. Sie ist politisch Kirche in und Gesellschaft vernebelt wurde. 67-78_RichardSchroeder:67-78 20.04.2010 9:17 Uhr Seite 74

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Während die Zehn Artikel noch klar •die Kirche will Partner des Staates die Defizite an Rechtsstaatlichkeit in sein, sie fordert ein allgemeines Mit- der DDR anmahnten, hat man nun spracherecht; statt von Staat von Gesellschaft und •sie versteht sich als Interessenvertre- von Gerechtigkeit statt Recht geredet. ter christlich gebundener Bürger; Die Kirche hat dadurch die Koordina- •sie will an der Erziehung teilhaben, ten ihrer Kritik vernebelt. •sie will das Recht haben, sich kri- tisch zur gesellschaftlichen Entwick- Wer allerdings denkt, mit der Über- lung der DDR zu äußern; nahme des Wortes Sozialismus sei der •sie will das marxistisch-leninistische Staat zufrieden gewesen, irrt sich. Der Gesellschafts- und Menschenbild in Staat verlangte nämlich außerdem noch Frage stellen, die alleinige Definitionsvollmacht des •sie will beratend wirken, wenn es Wortes Sozialismus für sich. Als Heino um die Ausgestaltung rechtlicher Falcke bei der Bundessynode in Dres- Beziehungen zwischen Staat und den 1972 erklärte: „Unter der Verhei- Kirche geht und ßung Christi werden wir unsere Gesell- •sie verlangt Einflussmöglichkeiten schaft nicht loslassen mit der engagier- in Neubaugebieten und landwirt- ten Hoffnung eines verbesserlichen schaftlichen Konzentrationspunk- Sozialismus“, löste das auf Seiten von ten. SED und Ost-CDU einen Sturm der Entrüstung aus, weil sie sich an den Zudem koppeln die „negativen Kräfte Prager Frühling erinnert sahen. Heute ihre Methode der Entwicklung von wundern sich viele, warum die meisten Alternativvorstellungen gegen den So- Oppositionellen im Herbst 1989 und zialismus mit Angriffen auf das sozia- namentlich vor dem Mauerfall nicht listische Bildungssystem, die Zulas- „den Sozialismus“ grundsätzlich in Fra- sungsverordnung an den Universitäten ge stellten. Die Antwort lautet: Das und die Veranstaltungsverordnung“. wäre als staatsfeindlicher Akt mit un- Solche Sündenkataloge hat das Staats- kalkulierbaren Risiken verbunden ge- sekretariat dann Jahr für Jahr wieder- wesen. Galt es doch schon als Unge- holt. Es ist also folgendes Merkwürdige heuerlichkeit, von einem verbesserli- eingetreten: In dem Moment, da die chen Sozialismus zu reden. Allerdings Kirche in der DDR die Bedingungen ih- spielte dabei auch eine Rolle, dass viele res Ortes und sogar das Wort „Sozialis- die Alternative –Kapitalismus als Feind- mus“ akzeptiert, wird sie für die SED bild –unbedacht verinnerlicht hatten unbequem. und zwischen der Wirtschaftsform, der Staatsform (Demokratie) und dem Was nun die Geschichte dieser Formel Rechtsstaat nicht zu unterscheiden selbst betrifft, so ist sie seit 1988 zu- wussten. nehmend unter innerkirchlichen Be- schuss geraten. Mein Haupteinwand Die Freude der SED an der kirchlichen war, diese Formel erwecke bei der SED Erklärung währte nicht einmal ein Jahr. Zustimmungserwartungen, die die Kir- Bereits 1972 verfertigte das Staatssekre- che nie erfüllen könne, denn ein Ja tariat einen Sündenkatalog der „Kirche zum Sozialismus, wie die SED selbst ihn im Sozialismus“: definierte, kam für die Kirche jedenfalls 67-78_RichardSchroeder:67-78 20.04.2010 9:17 Uhr Seite 75

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nicht in Frage. Ich hatte deshalb vor- •Welchen Beitrag kann ein soziales geschlagen, besser von „Kirche in der Gesellschafts- und Wirtschaftssys- DDR” zu sprechen, um klarzustellen, tem zu den Überlebensfragen der dass die Kirche sich unausweichlich zu Menschheit leisten? dem Staat ins Verhältnis setzen muss, •Worin bestehen die für ein mög- in dem sie faktisch existiert, nicht aber lichst gerechtes Leben der Gesell- zu einer Partei und ihrer angeblich wis- schaft notwendigen Funktionen des senschaftlichen Weltanschauung. Als Staates? Bischof Leich im Februar 1989 öffent- •Wie können wir zu einer Neube- lich erklärte, auch er halte die Bezeich- stimmung des Verhältnisses von nung „Kirche in der DDR“ für treffen- Staat und Gesellschaft kommen? der, war die Formel tot. •Wie stehen wir zum geschichtlichen Weg unseres Landes? •Welche Informationen und Fakten 6. Vorspiel des Herbstes: die öku- fehlen? menischen Versammlungen •Was heißt es, Deutscher in der DDR zu sein? Vom Februar 1988 an tagte in der DDR •Wie arbeiten wir unsere Identitäts- drei Mal die „Ökumenische Versamm- probleme auf? lung für Gerechtigkeit, Frieden und Be- •Wie kann auch die nationale Frage wahrung der Schöpfung“. Hier fanden im europäischen Friedensprozess ge- sich zum ersten Mal Vertreter aller klärt werden?“ christlichen Konfessionen und darun- ter sehr viele Aktive der sogenannten Es bestand Einigkeit in der Kirche und Gruppen zu einer breiten Diskussion. der Bevölkerung, dass es so wie bisher In der Arbeitsgruppe „Mehr Gerechtig- nicht weitergehen könne. Darüber, wie keit in der DDR“ wurden erstmals de- es weitergehen solle, bestand keine tailliert die Probleme der DDR aufgelis- Einigkeit, sondern nur ein unsicheres tet und konkrete Forderungen gestellt. Tappen ohne klare Zielvorstellungen. Dieses Dokument ist die ausführlichste kirchliche Stellungnahme zu den Pro- Die Texte der Ökumenischen Versamm- blemen der DDR, und wohl auch der lungen gingen an die Gemeinden und kritischste Text, den ein Gremium in wurden nach Rückmeldungen von dort der DDR veröffentlicht hat. Bei den noch einmal überarbeitet. Sie hatten Diskussionen zeigte sich, wie groß der also durchaus eine gewisse Breiten- Diskussionsbedarf war. Am Ende des wirkung. Dokuments findet sich eine Liste derje- nigen Fragen, über die wir uns nicht ei- nigen konnten: 7. Die Beiträge der Kirche zur Herbstrevolution •„Welches sind die bestimmenden Elemente und Werte einer sozialisti- Die evangelischen Kirchen haben we- schen Gesellschaft? der eine Revolution angestrebt und sie •Welche ökonomischen Strukturen schon gar nicht organisiert. Sie haben werden diesen Werten am ehesten Reformen angemahnt, meist allerdings gerecht? vergeblich. Trotzdem haben sie erheb- 67-78_RichardSchroeder:67-78 20.04.2010 9:17 Uhr Seite 76

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liche Verdienste an der Herbstrevolu- gegen die Berliner Umweltbibliothek tion. und gegen die ungebetenen Teilneh- mer der offiziellen Liebknecht-und-Lu- Seit den 80er-Jahren gab es in der Evan- xemburg-Demonstration 1988, konnte gelischen Kirche Gruppen, die sich mit durch Fürbitt-Gottesdienste und Kon- den Themen Frieden/Abrüstung, Um- takttelefondienste innerkirchliche Öf- welt und Dritte Welt beschäftigten, fentlichkeit hergestellt und das namen- Themen, die die SED nicht als konter- lose Verschwinden verhindert werden. revolutionär verdammen konnte, da Die westlichen Medien mit ihren Ver- sie sich diese selbst auf die Fahnen ge- tretern in der DDR machten diese Akti- schrieben hatte, freilich in anderer In- vitäten zudem deutschland- und DDR- tonation. Getragen wurden diese Grup- weit bekannt. Sie brachen so das Infor- pen von Jüngeren, die vom Schock des mationsmonopol der SED-Medien. Auf 17. Juni 1953 nicht mehr gelähmt wa- diesem Wege erst erfuhr die DDR-Be- ren. Eher unbeabsichtigt vermieden sie völkerung von jenen aufsässigen jun- aber die Themen von damals wie Wie- gen Leuten unter dem Dach der Kirche. dervereinigung, freie Wahlen und Frei- heit für politische Gefangene, auf die Anders als die Solidarnosc in Polen wa- die SED immer hart reagiert hatte. Die- ren die Oppositionellen in der DDR, se Gruppen waren unterschiedlichster die sich selbst nie so nannten und Art, von Intelektuellen bis Antibürger- nur im Westen Bürgerrechtler genannt liche. Das Verhältnis zu den Kirchen- wurden, nicht im Volk verwurzelt, son- gemeinden war nicht unproblema- dern wurden von sehr vielen eher belä- tisch, oft sogar spannungsreich, weil chelt, wenn nicht als Bürgerschreck die Gruppenaktivitäten die Kirchenge- und Unruhestifter abgelehnt. Sie wa- meinden ins Visier der Behörden und ren nicht repräsentativ. Aber Christen der Stasi rückten. Aber indem die Kir- und Nichtchristen sammelten sich in chen erklärten, sie seien Teil der kirch- dem gemeinsamen Bestreben, die Miss- lichen Arbeit, konnten sie sie vor Zer- stände in der DDR nicht wortlos hin- schlagung, namenlosem Verschwin- zunehmen. den und Ausweisung schützen, nicht aber vor Unterwanderung durch die Im Herbst 1989 entstanden aus dem Stasi. Denn die Bundesregierung, von Umfeld dieser Gruppen die ersten Bür- deren gutem Willen die DDR zuneh- gerbewegungen, die nun aus der Kirche mend abhängig wurde, weil sie West- in die Öffentlichkeit traten. Für die Kredite brauchte, betrachtete das Ver- Herbstrevolution waren sie in dreierlei hältnis der SED zu den Kirchen als ein Hinsicht wichtig. Sie beförderten die Kriterium für das Verhältnis zwischen öffentliche Diskussion ungemein. Die den beiden deutschen Staaten. ersten Demonstrationen gingen meist von Friedensgebeten aus wie die Mon- Diese Gruppen vernetzten sich infor- tagsdemonstrationen in Leipzig. Dass mell und überregional und begannen, diese friedlich blieben, obwohl die Si- Papiere zu vervielfältigen und Samis- cherheitskräfte zunächst brutal zu- dat-Zeitschriften zu gründen, was ille- schlugen, ist der Besonnenheit jener gal war. Als die Stasi dennoch Einzelne Gruppen und ihren Erfahrungen im ge- verhaftete, insbesondere bei der Aktion waltfreien Widerstand zu verdanken. 67-78_RichardSchroeder:67-78 20.04.2010 9:17 Uhr Seite 77

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Eine Revolte hätte die SED sofort nie- Frau eine Unterkunft in ihrem Haus an- dergeschlagen, denn darauf waren die geboten hätten. Da war sich plötzlich Sicherheitskräfte trainiert. Und drittens jeder selbst der Nächste und die viel be- hätte es ohne die Gruppen keinen Run- schworene Solidarität war vergessen. den Tisch gegeben, zu dem die Kirchen als Moderatoren Anfang Dezember ein- Maximal 30% der DDR-Bevölkerung luden. Wer sonst hätte auf der anderen waren 1989 noch Kirchenmitglieder. Seite Platz nehmen sollen? Weder aus Der ersten frei gewählten Volkskammer den Universitäten noch aus der Arbei- gehörten dagegen 64,2% Kirchenmit- terschaft sind 1989 oppositionelle Be- glieder an. Nur 15,6% bezeichneten wegungen hervorgegangen. Die wich- sich als Atheisten. Der Anteil der tigsten Gründungen wie Demokratie Theologen betrug 7,1% (11. Bundestag: Jetzt, Demokratischer Aufbruch oder 0,4%). Den höchsten Anteil von Theo- Sozialdemokratische Partei der DDR logen wiesen die SPD-Fraktion (16,5) (SDP) sind aus dem kirchlichen Milieus und die Fraktion Bündnis 90/Grüne hervorgegangen. (14,3) auf.3

Ein wichtiger Punkt wird meist überse- Die Verdienste der Evangelischen Kir- hen. Die SED-Genossen lebten in der chen um die Herbstrevolution kann Angst vor einer Konterrevolution, bei man also kurz so beschreiben. Sie ha- der sie befürchteten, liquidiert zu wer- ben einen gewissen Ersatz für die feh- den. Bei vielen SED-Genossen hatte lende Öffentlichkeit bieten können. sich nun aber die zutreffende Einsicht Das steht den Kirchen immer gut an, durchgesetzt, dass die Kirchenvertreter wenn sie ein Ort des freien Wortes, der keine Konterrevolutionäre diesen Zu- Nachdenklichkeit und der Meinungs- schnitts waren und Lynchjustiz ver- bildung ohne Scheuklappen sind. Auch hindern würden. Ganz anders dachten viele Nichtchristen haben in der DDR da Parteimitglieder, die die „Verräter in jener Zeit die Kirchen so erlebt und des Sozialismus“ wie z.B. Honecker ger- geschätzt, ohne freilich deshalb Kir- ne an die Wand gestellt hätten. Es war chenmitglieder zu werden. Die Kir- ja noch die SED-Justiz, die Honecker chengebäude wurden während der verhaftet hatte, und zwar wegen „Ge- Herbstrevolution zudem Ersatz für den heimnisverrat“, ein absurder Vorwurf. Marktplatz oder das Rathaus, indem Als sie ihn wieder entlassen haben und sich landesweit zuerst dort die neuen ihm eine einfache Wohnung in einem politischen Bewegungen bekannt mach- Häuserblock zugewiesen wurde, kam es ten. Landesweit wurden Pfarrer gebe- zu tumultartigen Protesten der Mieter. ten, die lokalen Runden Tische zu mo- Pfarrer Holmer bot ihm dann eine derieren. Es ist kein Zufall, dass so vie- Wohnung im Pfarrhaus an, also gewis- le Absolventen kirchlicher Hochschu- sermaßen Kirchenasyl. Er hat die len 1989/90 politisch aktiv wurden. christliche Unterscheidung von Person Das hatte nicht nur damit zu tun, dass und Werk praktiziert, nach der jeder sie in der freien Rede, eine selten ge- Mensch noch anderes ist als die Sum- pflegte Gabe in der DDR, geübt waren, me seiner Taten, nämlich Gottes Ge- sondern auch damit, dass sie ein freie- schöpf. Es ist nicht bekannt, dass SED- res Denken ohne die ML-Scheuklap- Spitzengenossen Honecker und seiner pen der gestanzten Sprache des Neuen 67-78_RichardSchroeder:67-78 20.04.2010 9:17 Uhr Seite 78

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Deutschlands pflegten. Bei den ersten eine explosive Situation nicht aus- freien Kommunalwahlen am 6. Mai ha- geschlossen gewesen. Die aber hätte ben überproportional viele Gemeinde- durchaus noch die sowjetischen Trup- mitglieder sich zur Kandidatur bereit pen zum Eingreifen bewegen können. gefunden und damit einen breiten po- Gelegentlich sollten wir uns auch des- litischen Elitenwechsel ermöglicht. sen erinnern, was hätte passieren kön- nen, aber nicht passiert ist. Das stärkt Die Kirchen haben nicht die Revoluti- die Freude über die Freiheit in Einheit on gemacht oder geplant. Auch die Kir- oder Einheit in Freiheit. chenleitenden wurden von der schnel- len Entwicklung zur deutschen Einheit Derzeit läuft eine Diskussion über „Re- überrascht, waren oft auch irritiert. ligion und Gewalt“. Anlass sind die is- Aber ohne die Kirchen und die Chris- lamistischen Selbstmordattentate. Eine ten hätte der Herbst 1989 auch anders Diskussion über „die Religion“ ist un- verlaufen können, nämlich so, wie die gefähr so ergiebig wie eine Diskussion SED es vergeblich versucht hat, durch über „die Sprache“. Die gibt es nämlich halbe und Scheinreformen die führen- nicht. Es gibt nur Sprachen. Und es gibt de Rolle der Partei sichern und sich nicht die Religion, sondern nur Reli- selbst Schein-erneuern. Die Strategie gionen. Es ist doch sehr verwunderlich, konnte auf Dauer nicht aufgehen, dass beim Disput über Religion und Ge- schon wegen des ökonomischen und walt, so weit ich sehe, bisher niemand finanziellen Desasters, das die SED an- auf die Idee gekommen ist, auf ein Er- gerichtet hatte, und nach dem Mauer- eignis hinzuweisen, das sich vor 20 Jah- fall wegen der offenen Grenze. Aber es ren vor unseren Augen abgespielt hat: hätte ein langer und zermürbender Pro- Eine (bestimmte) Religion hat eine zess werden können und dann wäre friedliche Revolution befördert.

Anmerkungen 1 Vgl. ausführlich dazu Schröder, Richard sich im Dokumentenanhang dieser Pub- (unter Mitarbeit von Zachhuber, J./ likation. Laudien, K./Raschke, Ch.): Der Versuch 2 Ich habe das bereits 1988 öffentlich ge- einer eigenständigen Standortbestim- tan: Schröder, Richard: Was kann „Kirche mung der Evangelischen Kirchen in der im Sozialismus“ sinnvoll heißen?, in: Kir- DDR am Beispiel der „Kirche im Sozialis- che im Sozialismus (Berlin-West) 14/1988, mus“, in: Kirchen in der SED-Diktatur, S.135–137, wieder abgedruckt in: Schrö- Materialien der Enquete-Kommission der, Richard: Denken im Zwielicht. Vor- „Aufarbeitung von Geschichte und Fol- träge und Aufsätze aus der alten DDR, Tü- gen der SED-Diktatur in Deutschland“, bingen 1990, S.49ff. Bd.2., hrsg. vom Deutschen Bundestag, 3 Deutscher Bundestag: Dossier: 20. Jah- Baden-Baden 1995. Die Dokumente, aus restag der freien Wahl zur Volkskammer denen im Folgenden zitiert wird, finden der DDR, 2010, S.5f. 79-87_Naumann:79-87 20.04.2010 9:19 Uhr Seite 79

Die deutsche Einheit, die Streitkräfte und die NATO

Klaus Naumann

Als die Berliner Mauer im November 1989 fiel, dachte kaum jemand, dass binnen eines Jahres die Einheit Deutschlands erreicht werden könnte. Heute, zwanzig Jahre später, erinnert man sich allenfalls noch an die Berliner Mauer, doch nur noch wenige an die Wirklichkeit des Jahres 1989 in Deutschland.

1. Einleitung flotten waren zur Unterstützung der Abwehr bereit und die geballte See- Durch unser Land lief ein mehr als macht der NATO sollte im Nordatlan- 1.200 Kilometer langer Zaun, bestückt tik die Seeverbindungen nach Nord- mit Sprengfallen, und Tag und Nacht amerika offen halten. Mehr als 10.000 von den Grenztruppen der DDR über- Atomwaffen waren in der alten Bun- wacht. Dahinter lagen fünf Kilometer desrepublik Deutschland gelagert, dazu tiefe Sperranlagen. Auf westlicher Seite chemische Munition der USA; in der fuhren alliierte Truppen Patrouillen, DDR gab es ähnliche Lager, die gela- der Bundesgrenzschutz lief Streife an gerten Mengen waren vermutlich ähn- der innerdeutschen und tschechoslo- lich oder größer. Dort standen fast wakischen Grenze, uniformierte Solda- 500.000 Mann sowjetische Streitkräfte, ten der Bundeswehr durften nicht nä- die so genannte Westgruppe der Trup- her als einen Kilometer an die Grenze pen (WGT) und etwa 160.000 Mann heran und der Luftraum wurde lücken- Nationale Volksarmee (NVA) mit ihren los durch die NATO überwacht. sechs aktiven und fünf binnen 48 Stun- den einsatzbereiten mobil zu machen- Im Westen standen neun Armeekorps den Divisionen. In der CSSR waren aus sieben NATO-Staaten, darunter das zwei Armeen der CSSR zum Angriff I., II. und III. Korps der Bundeswehr, bereit, dahinter standen sowjetische zur grenznahen Vorneverteidigung be- Truppen. In Polen hatten polnische reit, eine zum Teil in Deutschland sta- Truppen den Auftrag, in einer Seelan- tionierte französische Armee war Hee- dung Schleswig-Holstein zu nehmen resgruppenreserve, zwei alliierte Luft- und an die Beachtung der Neutralität

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Österreichs durch den Warschauer Pakt Kohl am 28. November 1989 vorstellte, glaubten nur die notorischen Gutmen- und dann beim NATO-Gipfel am 4. De- schen, die auch nach 1991, nach Be- zember 1989, wenige Tage nach dem kanntwerden der bis 1988 bestehen- Gipfeltreffen zwischen Bush und Gor- den, umfangreichen atomaren Erstein- batschow vor der Küste Maltas. satz vorsehenden sowjetischen An- griffspläne, alle Angriffsabsichten des Der Bundeskanzler sprach zwar noch Warschauer Paktes noch immer in von einer Föderation der beiden deut- Abrede stellten. schen Staaten, aber beim Gipfeltreffen der NATO wurde das Recht der Deut- Politisch gab es Anzeichen, dass das schen auf Selbstbestimmung durch sowjetische Imperium bröckelte und Präsident Bush so deutlich unterstri- dass die DDR mit ihren wirtschaftli- chen, dass niemand zweifeln konnte, chen Problemen kaum fertig werden dass die USA die Einheit Deutschlands könnte, aber mit den Ereignissen des unterstützen würden. Der Weg, der zur November 1989 rechnete kaum je- Einleitung des Zwei-plus-Vier-Prozesses mand. Es gab deshalb auch keine Pläne im Februar 1990 und dann schließlich für die Einheit Deutschlands. Im Ver- zum Durchbruch bei der Begegnung teidigungsministerium dachte selbst Kohl/Gorbatschow im Juli 1990 im am Tag als die Mauer fiel niemand an Kaukasus führte, war damit beschrit- die Vereinigung der beiden deutschen ten. Es war klar, dass am Ende dieses Staaten binnen Jahresfrist. Das Ge- Weges die Einheit stehen würde, aber schenk der deutschen Einheit wurde so wann es soweit sein würde, das war für die Streitkräfte zu einer Herausfor- auch Ende 1989 noch keineswegs klar. derung von einmaliger und wahrhaft Es konnten deshalb auch keinerlei Vor- historischer Dimension. Binnen eines arbeiten für die genannten komplexen Jahres waren die Streitkräfte der beiden Planungsaufgaben beginnen, Aufga- deutschen Teilstaaten zusammenzufü- ben, die mit den Stichworten Gestal- gen, es mussten die Lücken geschlossen tung der Streitkräfte, Ausgestaltung der werden, die der Status dieser beiden Souveränität und Regelung der Bünd- Staaten als Staaten mit eingeschränkter nisfragen nur in ihren Umrissen be- Souveränität geschaffen hatte und es schrieben sind. waren die internationalen Verpflich- tungen dieser beiden Staaten zu über- Im Januar 1990 trafen beim Doktrinen- prüfen und anzupassen. Seminar der KSZE in Wien erstmals der Generalinspekteur der Bundeswehr und der Chef des Hauptstabes der NVA 2. Politische Weichenstellungen aufeinander, doch es wurde nur über Möglichkeiten der Zusammenarbeit Das Thema Einheit Deutschlands be- gesprochen. Die Option der Einheit gann schon vor dem Fall der Mauer in Deutschlands wies die DDR-Seite als vertraulichen politischen Gesprächen völlig unrealistisch ab. Die Bundesre- eine Rolle zu spielen, doch die öffentli- gierung dagegen sah diese Option, aber chen Weichenstellungen in Richtung es gab im Februar 1990 heftigen Streit deutsche Einheit erfolgten durch den zwischen dem Verteidigungs- und dem Zehn-Punkte-Plan, den Bundeskanzler Außenminister über den sicherheits- 79-87_Naumann:79-87 20.04.2010 9:19 Uhr Seite 81

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politischen Status eines vereinten kam etwas Bewegung auf. Sichtbarer Deutschlands. Der Verteidigungsminis- Ausdruck war die Begegnung zwischen ter sah nur eine Lösung: eine Armee in Minister Stoltenberg und dem neu er- einem Staat. Er sah angesichts des fort- nannten Minister für Nationale Ver- bestehenden Warschauer Paktes auch teidigung und Abrüstung der DDR, Ep- keine andere Möglichkeit, als für das pelmann. Sie fand am 27. April 1990 vereinte Deutschland den Schutz der im Hotel Holiday Inn beim Flugplatz NATO zu suchen. Neutralität war für Köln/Bonn statt, da Eppelmann nicht Minister Stoltenberg ebenso wie für in das Bonner Verteidigungsministeri- den Bundeskanzler keine Lösung. Au- um kommen wollte. Eppelmanns Vor- ßenminister Genscher erschienen die- stellung waren zwei Armeen in einem se Fragen nachrangig und er sah in ih- deutschen Staat, die durchaus unter- nen eine Belastung, denn ihm ging es schiedlichen Bündnissen angehören darum, zunächst die Zustimmung der könnten. Er sah für die DDR eine Art Sowjetunion zur Einheit Deutschlands Brückenfunktion zwischen NATO und zu erreichen. Diesem Ziel ordnete er al- Warschauer Pakt in einer von der KSZE les unter und war zu sehr weitgehen- überwölbten Sicherheitsarchitektur. Ei- den Zugeständnissen bereit. Die Frage, ne gewiss kühne Vorstellung, aber ob ob es in einem Staat zwei Zonen unter- sie Sicherheit für Deutschland bedeutet schiedlicher Sicherheit geben könne hätte, muss dahingestellt bleiben. Stol- oder gar Umfangszahlen der Streitkräf- tenberg hielt davon nichts, konnte sie te, das waren für ihn Nebensächlich- aber wegen der ihn bindenden Erklä- keiten. Am 19. Februar 1990 musste rung vom 19. Februar nicht zurückwei- Stoltenberg auf Wunsch des Kanzlers sen. Eppelmann hat diese Idee dann in eine für ihn bittere Erklärung unter- der Kommandeur-Tagung der NVA am schreiben, die Genschers Drängen fol- 2. Mai 1990 der NVA als Richtlinie vor- gend sogar davon absah, deutsche gegeben und damit Hoffnungen auf Truppen im Gebiet der DDR zu statio- ein eigenständiges Fortbestehen der nieren, obwohl es eine derartige Forde- NVA geweckt, Hoffnungen, die wenige rung der Sowjetunion gar nicht gab. Monate später bitter enttäuscht wer- Stoltenberg schluckte die damit ausge- den mussten. Aber auch für das Bonner sprochene Bereitschaft, weiterhin ein Ministerium hatte dies Folgen: Planun- Staat mit beschränkter Souveränität zu gen für den Tag der Einheit durften wei- sein, aber sein Ziel, die volle Souverä- terhin nicht aufgenommen werden, nität zu erreichen und ganz Deutsch- obwohl zunehmend klar wurde, dass land als Zone gleicher Sicherheit zu se- eine Einigung in den Zwei-plus-Vier- hen, gab er nicht auf. Dass genau das Gesprächen auch Aussagen zu den am Ende erreicht wurde, ist auf deut- Streitkräften und zum sicherheitspoli- scher Seite niemandem mehr zu dan- tischen Status Deutschlands enthalten ken als . müsse. Es wurde deshalb begonnen, wenigstens eine den Sicherheitsinte- Für die Arbeit im Verteidigungsminis- ressen des vereinten Deutschlands ent- terium bedeutete dieser 19. Februar er- sprechende Position für die Wiener neuten Stillstand. Erst nach den Volks- Verhandlungen über die Begrenzung kammerwahlen im März 1990 und mit konventioneller Streitkräfte in Europa Beginn der Zwei-plus-Vier-Gespräche zu bestimmen. Dazu wurden Personal- 79-87_Naumann:79-87 20.04.2010 9:19 Uhr Seite 82

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obergrenzen entwickelt, allerdings oh- größe ohne Marine war aber 470.000 ne Kenntnis der DDR-Planungsdaten. Mann gewesen, es musste also eine völ- Sie standen dem Bundeskanzler nach lig neue Streitkräfteplanung erarbeitet langwierigen und vom Außenminister werden und es war nun klar, dass für je- nicht gerade geförderten internen Ver- den aus der NVA zu übernehmenden handlungen als eine Grundlage seiner Soldaten einer aus der alten Bundes- Gespräche mit Präsident Gorbatschow wehr zu entlassen sein würde. Es muss- im Kaukasus zur Verfügung. Bundes- te nicht zuletzt deshalb nun endlich kanzler Kohl erzielte am 16. Juli mit Klarheit geschaffen werden, was mit Gorbatschow Einvernehmen, dass das der NVA geschehen solle. Eppelmann vereinte Deutschland Mitglied der hatte der NVA noch am 21. Juli versi- NATO sein werde und seine Streitkräf- chert, sie werde bestehen bleiben. Ende te bis Ende 1994 auf die Höchstgrenze August entschied Minister Stoltenberg: von 370.000 Mann abbauen würde, ei- Die NVA wird aufgelöst und die Solda- ne Höchstgrenze, die im Gegensatz zu ten der NVA, nicht aber die Angehöri- den Wiener Verhandlungen auch die gen der anderen „bewaffneten Organe Marine einschloss. Damit und mit der der DDR“, werden mit dem Tag der Ein- Entscheidung, die WGT bis Ende 1994 heit vorläufig Soldaten der Bundes- aus Deutschland abzuziehen, war An- wehr. Es wurde die Aufstellung des fang August 1990 endlich die Klarheit Bundeswehrkommando Ost beschlos- geschaffen, die wir für die Planung der sen und es wurde entschieden, dass Streitkräfte des vereinten Deutschlands spätesten am Tag vor dem Beitritt der brauchten. Nun galt es unter einem un- DDR noch durch die DDR alle Genera- glaublichen Zeitdruck zu planen, denn le und Admirale der NVA, alle Politoffi- als Datum des Beitritts der DDR zur ziere sowie alle Soldaten, die älter als 55 Bundesrepublik nach Artikel 23 GG Jahre sind, zu entlassen seien. Im Ein- schälte sich immer mehr der frühe heitsvertrag war festgelegt worden, dass Herbst 1990 heraus. Das Verteidigungs- sie Anspruch auf Pensionszahlungen ministerium durfte aber selbst Anfang haben würden. Am 3. Oktober 1990 August noch keine offizielle Verbin- übernahm Generalleutnant Schön- dung zum DDR-Ministerium in Straus- bohm das dem Minister direkt un- berg aufnehmen, obwohl es inzwischen terstellte Bundeswehrkommando Ost. auf Truppenebene tausende von Begeg- Die Bundeswehr erreichte damit ihre nungen gegeben hatte. Erst am 17. Au- Höchststärke von rund 600.000 Mann. gust 1990 trat eine kleine Verbindungs- gruppe des Bonner Verteidigungsminis- teriums ihren Dienst in Strausberg an. 3. Die Armee der Einheit entsteht

In Bonn war inzwischen klar, dass in Die Aufgabe, die Schönbohm und sei- der DDR ein Bundeswehrkommando ne Mannen zu bewältigen hatten, war Ost von etwa 50.000 Mann Stärke auf- und bleibt einzigartig in der deutschen zustellen sein würde und damit nach Militärgeschichte. Er musste eine ihm Abzug von etwa 25.000 Mann Marine im Detail unbekannte Armee überneh- für die Bundeswehr West ein Zielum- men, sie weitgehend auflösen und fang 1994 von 295.000 Mann übrig gleichzeitig aus Teilen der NVA unter bleiben würde. Die bisherige Planungs- Führung von Offizieren der Bundes- 79-87_Naumann:79-87 20.04.2010 9:19 Uhr Seite 83

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wehr die Truppenteile der Bundeswehr plätze und 19 Standortübungsplätze Ost aufbauen. Dazu mussten er und von der Größe westdeutscher Truppen- sein Team das Vertrauen und die Mit- übungsplätze. Der Zustand der Ein- arbeit der Offiziere und Unteroffiziere richtungen, die dem Herstellen der der NVA gewinnen und ihnen glaub- schnellen Einsatzbereitschaft dienten, haft vermitteln, dass sie im vereinten war ordentlich, der der Kasernen dage- Deutschland eine faire Chance bekom- gen erbärmlich. Nach westdeutschen men würden. Sie mussten sie umschu- Maßstäben hätte die Mehrzahl der Kü- len auf einen Stil der Menschenfüh- chen und Sanitätseinrichtungen sofort rung und die Anwendung einer für sie geschlossen werden müssen. Die mit neuen Wehrgesetzgebung, in deren Braunkohle betriebenen Heizanlagen Mittelpunkt die Freiheit des Einzelnen erwärmten die Stuben auf nicht mehr und sein Schutz vor der Macht des Staa- als zwölf Grad, eine Wohlfühltempera- tes stehen. Das musste gelingen, denn tur für abgestellte Panzer, für die Solda- nur dann konnten die Herzen und ten aber eine Gefahr für ihre Gesund- Köpfe der Menschen in der früheren heit. Von diesen Liegenschaften wollte DDR gewonnen werden und nur so die Bundeswehr anfänglich 587 nutzen konnten wir dem ganzen Warschauer und für deren Instandsetzung ab 1992 Pakt zeigen, dass man in der NATO jährlich rund eine Milliarde Mark aus- auch dem Gegner von einst eine faire geben. Mehr als 1.500 Liegenschaften Chance gibt. Es gelang, besser als in je- sollten so rasch wie möglich der Bun- dem anderen Bereich unserer Gesell- desvermögensverwaltung übergeben schaft. Schönbohm und seine Mannen werden, alles in allem, die sowjeti- der ersten Stunde haben Deutschland schen Liegenschaften eingeschlossen, einen großen Dienst erwiesen, mehr ein Buchwert von mehr als 55 Milliar- noch, sie haben geholfen, dass Europa den Mark. seine mehr als fünf Jahrzehnte dauern- de Teilung rasch überwinden konnte. Hinzu kam eine gewaltige Menge Ma- terial, denn die Bundeswehr hatte Der erste Schritt war eine Bestands- nicht nur das Material der NVA, son- aufnahme. Ihre Ergebnisse waren zum dern auch das der rund 400.000 Mann Teil überraschend. Wir hatten einen Betriebskampfgruppen und der etwa militarisierten Staat übernommen. Rech- 40.000 Mann Grenztruppen zu über- net man alle militärischen Liegen- nehmen. Es waren, in deutlicher Ab- schaften der DDR und der sowjetischen weichung von den von der DDR-Regie- WGT einschließlich deren nur vom Mi- rung bei den Wiener Abrüstungsver- litär zu nutzenden Straßennetzes von handlungen genannten Zahlen, 8.317 11.000 Kilometer Länge zusammen, Kampfpanzer bzw. gepanzerte Ge- dann war ein Drittel der Fläche der fechtsfahrzeuge, 3.400 Artilleriewaffen, DDR militärisch genutzt. Das Bundes- davon 2.245 Artillerie-Geschütze, 479 wehrkommando Ost übernahm, ohne Flugzeuge und Angriffshubschrauber, die WGT Liegenschaften einzurechnen, 71 Kriegsschiffe, 250 Boden-, 10.600 anfänglich 900 Standorte mit 2.285 mi- Flugabwehr- und 46.000 Panzerab- litärischen Liegenschaften. Dazu ge- wehrraketen, 70.000 Kraftfahrzeuge, hörten 800 militärische Sicherheitsbe- 1,2 Mill. Handwaffen und 300.000 t reiche, neun größere Truppenübungs- Munition einzulagern, zu vernichten 79-87_Naumann:79-87 20.04.2010 9:19 Uhr Seite 84

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oder zu geringen Teilen an andere Län- einfach nicht möglich gewesen. Die der zu verkaufen. Durch die Bundes- NVA war die Armee der SED, die Bun- wehr wurde NVA-Material nur in ge- deswehr dagegen die Armee des ganzen ringem Maße weiterverwendet. deutschen Volkes. Doch in den Köpfen unserer Bürger hält sich das Bild, Bun- Außerdem hatte die Bundeswehr deswehr und NVA seien am 3. Oktober 136 km Grenzmauer in Berlin und 1990 miteinander verschmolzen wor- rund 1.200 km Grenzzaun abzubauen, den. Das gilt allenfalls für die Stunde 818 Beobachtungstürme zu entfernen des Beitritts, doch mit ihr begann auch und 1,3 Millionen Minen zu räumen. schon die Auflösung der NVA, die je Das volle Ausmaß der Militarisierung nach Truppenteil zwischen drei Mona- der DDR wird aber erst deutlich, wenn ten und zwei Jahren dauerte. man den Umfang der sowjetischen, später dann der russischen Truppen Aus dem Westen waren 2.000 Soldaten mit in Betracht zieht. Es waren rund und 250 Beamte/Angestellte entsandt 546.200 russische Staatsbürger, davon worden. Daraus wurden 156 Komman- 338.800 Soldaten in der DDR statio- deurgruppen und 175 Ausbildungs- niert. Sie verfügten über 4.209 Kampf- gruppen sowie eine Reihe von Unter- panzer, 3.682 Artilleriegeschütze, 8.209 stützungsgruppen für die sofort aufzu- gepanzerte Fahrzeuge, 691 Flugzeuge, lösenden Truppenteile gebildet. Jedem 683 Hubschrauber und rund 3 Millio- Truppenteil im Osten wurde ein „Cou- nen Tonnen Material, davon 677.032 leurtruppenteil“ im Westen zugeordnet Tonnen Munition. Es waren in rund und so wurde die Aufstellung der Ar- 1.500 Liegenschaften zahlreiche Kaser- mee der Einheit von der ersten Minute nen, Wohnsiedlungen, Depots, Übungs- an, was sie bis zum formellen Abschluss plätze enthalten, die rund 300.000 im Februar 1995, der NATO-Assignie- Hektar Fläche ausmachten, also etwa rung der Bundeswehr Ost, blieb: eine 1% der Fläche Deutschlands. Die Bun- Aufgabe der gesamten Bundeswehr. deswehr im Osten hatte den in der Auf- stellung zusätzlich belastenden Auf- Das Heer stellte in Potsdam/Geltow das trag, den Abzug der Russen zu begleiten Territorialkommando Ost auf, dem die und wo nötig zu unterstützen. Unsere Wehrbereichskommandos VII in Leip- Soldaten waren angewiesen alles zu zig und VIII in Neubrandenburg, her- tun, um einen Abzug in Würde wahr vorgegangen aus den Militärbezirken werden zu lassen. Auch diese Facette der NVA, unterstellt waren. Sie ent- gehört zum Bild der Streitkräfte in die- sprachen in ihrer Gliederung weitge- ser einmaligen Phase deutscher Mili- hend Divisionen im Westen und führ- tärgeschichte. Ich glaube sagen zu kön- ten insgesamt sechs Heimatschutzbri- nen, auch das ist gelungen. gaden in Dresden, Weißenfels, , Schwerin, Eggesin und Potsdam-Eiche Doch das Wichtigste bei der Auflösung sowie zusätzlich insgesamt 15 Verteidi- der NVA war der Umgang mit den Men- gungsbezirks- und 45 -kreiskomman- schen. Unsere Devise war: Wir gehen dos. als Deutsche zu Deutschen, aber wir konnten und wollten nicht die NVA in Die Luftwaffe stellte zunächst die die Bundeswehr integrieren. Das wäre 5. Luftwaffendivision in Strausberg-Eg- 79-87_Naumann:79-87 20.04.2010 9:19 Uhr Seite 85

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gersdorf auf, aus der später die 3. Luft- Behörde zum Opfer, da ihre Mitarbeit waffendivision in Berlin-Gatow wurde. bei der STASI nachgewiesen werden Die Marine richtete in Rostock das Ab- konnte. Der zusätzlich eingerichtete zi- schnittskommando Ost ein und be- vile Ausschuss zur Überprüfung der gann mit den Vorbereitungen für die Eignung, dem aus der früheren DDR Verlegung der Schnellboot-Flottille aus vorwiegend Menschen angehörten, die Schleswig-Holstein nach Warnemünde man dem Widerstand zurechnen konn- und dem Aufbau ihrer technischen te, überprüfte alle Akten, lud 500 Be- Schulen in Stralsund. Außerdem wurde werber zur Anhörung vor und beurteil- in Strausberg die Wehrbereichsverwal- te 40 als nicht geeignet. Sie wurden tung VII als Kopf der 26 Kreiswehrer- nicht übernommen. Insgesamt wurden satzämter und der 19 Standortverwal- 3.575 Offiziere der NVA übernommen, tungen eingerichtet, ein Novum im Os- 600 wurden in die Laufbahn der Un- ten, denn eine eigenständige zivile teroffiziere überführt und etwa 1.600 Wehrverwaltung hatte es in der NVA ehemalige NVA-Offiziere wurden zu nicht gegeben. Beamten oder Angestellten der Bun- deswehrverwaltung. Die ersten ehema- Am Tag der Vereinigung gab es 23.354 ligen NVA-Offiziere nahmen 1993 am Offiziere in der NVA. Von ihnen be- Stabsoffizierlehrgang der Bundeswehr warben sich 1990 insgesamt 11.500 für an der Führungsakademie in Hamburg einen zweijährigen Dienst auf Probe in teil. Man könnte das als den formalen der Bundeswehr. Abschluss der Integration bezeichnen.

Anfang 1991 übernahm die Bundes- Schwieriger war die Lage bei den Un- wehr 6.056 Offiziere, deren Dienstgra- teroffizieren. Die NVA kannte nach de durch die Anpassung an die Lauf- sowjetischem Muster keine Unteroffi- bahnen im Westen zum Teil um einen, ziere, die, wie die der Bundeswehr, Füh- in Einzelfällen sogar um drei Dienst- rungskompetenz haben. Die Unteroffi- grade herabgesetzt wurden. Sie hatten ziere der NVA waren Gehilfen, aber mit der Bewerbung eine Erklärung ab- keine Unterführer, doch 11.500 von ih- zugeben, dass sie nie mit der STASI zu- nen bewarben sich um die Übernahme. sammengearbeitet hatten und wuss- Um dem eigenen Anspruch, jedem ei- ten, dass sie bei einer Falschmeldung ne faire Chance zu geben, gerecht zu sofort entlassen werden würden. Nach werden, wurde nun in den Jahren 1991 Ablauf der zweijährigen Probezeit be- bis 1993 so viel wie möglich umge- warben sich 5.662 ehemalige NVA- schult. Der Erfolg hielt sich in Grenzen Offiziere um die Übernahme in die und so konnte der Bedarf an Unteroffi- Bundeswehr als Berufssoldaten oder zieren im Osten erst nach 1994 halb- als Zeitsoldaten mit bis zu 15 Jahren wegs gedeckt werden, als die ersten Re- Dienstzeit. Sie alle waren vorher von kruten des Jahres 1991 ihre Ausbildung mindestens zwei Vorgesetzten beurteilt zum erfolgreich abge- worden, die in 80% der Fälle die Eig- schlossen hatten. nung zur Übernahme bestätigten, 20% wurden als ungeeignet bewertet. Von Es hat in diesen Jahren des Aufbaus der den Geeigneten fielen etwa 20% den Bundeswehr im Osten sicher manche Ergebnissen der Anfrage bei der Gauck- Härte und gelegentlich auch Unzufrie- 79-87_Naumann:79-87 20.04.2010 9:19 Uhr Seite 86

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denheit gegeben, aber insgesamt ist das 4. Die Einheit und die NATO Bild positiv. Die ehemaligen Berufsol- daten der NVA haben trotz ihres oft un- Vor zwanzig Jahren wurde die Land- gewissen Schicksals überwiegend loyal karte Europas durch die deutsche Ein- und kompetent mitgearbeitet. Ohne heit friedlich verändert. Die Einheit sie wäre der gleichzeitige Ab-, Auf- und Deutschlands war der Anfang vom En- Umbau der Armee der Einheit nicht ge- de der Teilung Europas. Für die ehema- lungen. Das Versprechen der ersten lige Sowjetunion war es schwer, die Ein- Stunde, als Deutsche zu Deutschen ge- gliederung ganz Deutschlands in die kommen zu sein, wurde erfüllt und die NATO hinzunehmen. In Moskau denkt Soldaten der ehemaligen NVA erlebten, man gerne, auch heute noch, in den dass ihre neuen Vorgesetzten sich um Kategorien einer Landmacht, die sich sie kümmerten. Die Bürger in der ehe- umso sicherer fühlt, je mehr Territori- maligen DDR sahen, dass die Streit- um in ihrem Vorfeld sie kontrollieren kräfte nicht mehr Machtinstrument kann. Das maritime Bündnis NATO der Partei, sondern das in die Gesell- und vor allem seine Führungsmacht schaft integrierte, vom Parlament kon- USA denken nicht in solchen Katego- trollierte Instrument des Staates zur rien, und darum war es leicht möglich, Wahrung der äußeren Sicherheit wa- die NATO zur Zustimmung dazu be- ren, eine offene, transparente Organi- wegen, keine alliierten Truppen dauer- sation, die sich nicht mehr hinter Mau- haft auf dem Gebiet der ehemaligen ern versteckte und die sich keine Privi- DDR zu stationieren. Deshalb war es legien zuschanzt. auch leicht, 1998 beim Verhandeln der NATO-Russland-Vereinbarung ähnli- Die Bundeswehr hat wie keine andere che Zugeständnisse für die Gebiete der Gruppe unserer Gesellschaft Vereini- 1999 beitretenden Bündnismitglieder gung gelebt und damit geholfen, die zu machen. An diese Frage aber, Erwei- Einheit Deutschlands zu gestalten. Als terung der NATO, dachte zum Zeit- die Truppenteile der Bundeswehr auf punkt der deutschen Einheit niemand. dem Gebiet der ehemaligen DDR der Die Sowjetunion bestand, der War- NATO 1995 assigniert wurden, war der schauer Pakt ebenso, Planungen, die Aufbau formell abgeschlossen. Als Ar- deren Zerfall annahmen, gab es nicht. mee der Einheit ist die Bundeswehr Eine Festlegung der gesamten Bundes- aber erst in den Herzen der Menschen regierung auf Verzicht jeglicher NATO- angekommen, als Soldaten aus Ost und Erweiterung für alle Zeit gab und gibt es West Schulter an Schulter 1998 am nicht. Kein Minister wäre befugt ge- Oderbruch und 2002 an der Elbe hal- wesen, sich so festzulegen und kein fen, retteten und schützten. Doch die NATO-Staat hätte dies im Alleingang Aufgabe die Einheit zu vollenden ist für das Bündnis tun dürfen. Dennoch auch heute, zwanzig Jahre später, noch wird gerade dies heute in Moskau be- immer nicht abgeschlossen. Sie zu voll- hauptet und daraus das Gift gebraut, enden bleibt tägliche Aufgabe aller das die Zusammenarbeit zwischen Deutschen. NATO und Russland so schwer macht, 79-87_Naumann:79-87 20.04.2010 9:19 Uhr Seite 87

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weil zu viele in Moskau behaupten, der druck dieser Hoffnung. Es ist 2010 Zeit, Westen habe seine 1990 gegebenen sich an diesen Geist von 1990 zu erin- Versprechen gebrochen. Dies ist und nern und einen erneuten Versuch des bleibt eine Lüge, verbreitet von denen, Aufbruchs zur Zusammenarbeit zu ma- die noch immer nicht einsehen wollen, chen. Gerade wir Deutschen könnten dass der Kommunismus 1990 seine und sollten dies versuchen. Wir sind letzte Chance verspielt hatte, die Men- fest eingebettet in die NATO und wir schen zu gewinnen und die noch im- müssen dies bleiben, weil Europa Si- mer glauben, die Sowjetunion und ihre cherheit in einer unruhigen Welt nur Vorherrschaft in ihrem Vorfeld hätten im festen Bündnis mit den USA errei- gerettet werden können. Dazu bestand chen kann. Die Entscheidung von 1990 weder 1990 eine Chance, noch gibt es war deshalb eine kluge und richtige heute eine für russische Dominanz in Entscheidung von strategischer Weit- Europa. Aber gerade wir Deutschen wis- sicht. Sie hält gerade uns den Rücken sen, wie gefährlich Dolchstoßlegenden frei, nun Russland auf seinem Weg zu sein können. Es ist deshalb Zeit, heute Demokratie und Rechtsstaatlichkeit die zwanzig Jahre nach der deutschen Ein- Hand des Westens zur Zusammenarbeit heit, noch einmal an den Geist von zu bieten, weil niemand deutlicher und 1990 zu erinnern. Die Protagonisten schmerzlicher als die Deutschen im der Einheit auf westlicher Seite, Präsi- Kalten Krieg erlebt hat, dass dauerhafte dent Bush und Bundeskanzler Kohl, sa- Stabilität in Europa nur zu erreichen ist, hen in der Einheit einen Triumph von wenn Europa, untrennbar mit Nord- Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Selbst- amerika verbunden, versucht, Sicher- bestimmung und sie hofften, dass die- heit nicht gegen, sondern mit Russland ser Geist es möglich machen würde, zu erreichen. Das vereinte Deutschland den Antagonismus des Kalten Krieges in der NATO erlaubt ganz Europa die zu überwinden. Die 1990 vereinbarte Kooperation mit Russland ohne Angst Charta von Paris der KSZE ist der Aus- vor Russland.

Literatur Militärgeschichtliches Forschungsamt Schönbohm, Jörg: Zwei Armeen und ein (Hrsg.): Vom Kalten Krieg zur Deut- Vaterland. Das Ende der Nationalen Volks- schen Einheit. Analysen und Augen- armee, Berlin 1992. zeugenberichte zur deutschen Militär- Teltschik, Horst: 329 Tage. Innenansichten geschichte 1945 bis 1995, München der Einigung, Berlin 1991. 1995. Zoellick, Philip/Rice, Condoleezza: Ger- Naumann, Klaus: Frieden – der nicht er- many Unified and Europe Transformed, füllte Auftrag, Bonn 2002. Cambridge, MA 1995. 88-102_KlausSchroeder:88-102 19.04.2010 13:18 Uhr Seite 88

Das Zusammenwachsen Deutschlands und die Kosten der deutschen Einheit

Klaus Schroeder

In Deutschland sind auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung die Konturen zweier unterschiedlicher Teilgesellschaften sichtbar. Nur mühsam wächst zu- sammen, was historisch zusammengehört. Eine Mehrheit in beiden Landesteilen sieht mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Die unterschiedliche Vergan- genheit wirkt immer noch stärker nach als ursprünglich angenommen. Obwohl die Ostdeutschen durch beträchtliche Eigenleistungen und massive Finanztrans- fers nach 1990 eine historisch beispiellose Wohlstandsexplosion erlebten, ist die Stimmung schlechter als die Lage.

1. Einführung über den Westdeutschen. Der nationa- len Euphorie folgte der Katzenjammer. Mit dem Fall der Mauer und der Öff- nung der Grenze in der Nacht vom 9. Die Schwierigkeiten des Vereinigungs- auf den 10. November 1989 setzte der prozesses und das Unbehagen an der finale Todeskampf der wirtschaftlich, Einheit können freilich nicht ange- politisch, ideologisch und moralisch messen erklärt werden, wenn die jahr- bankrotten DDR ein. Geradezu eupho- zehntelange Teilung und das Leben in risch und unter vielen Tränen freuten diametral entgegengesetzten Gesell- sich die Deutschen in Ost und West schaftssystemen nicht berücksichtigt über das Wiedersehen nach fast 45 Jah- werden. Im Oktober 1990 standen sich ren Teilung. Zeigten sich breite Mehr- zwei deutsche Teilgesellschaften ge- heiten in beiden Landesteilen im Früh- genüber, die sich vor allem in der So- jahr/Sommer 1990 von der Zusammen- zialstruktur und der Alltagskultur stark gehörigkeit der Deutschen und der unterschieden. Die alte Bundesrepublik Notwendigkeit der Wiedervereinigung war sozial und kulturell eine mittel- überzeugt, erodierte dieses Selbstver- schichtsdominierte, der SED-Staat ge- ständnis bereits wenige Jahre später. mäß seines Selbstverständnisses eine Viele Westdeutsche sahen angesichts verproletarisierte Gesellschaft. Eine des desolaten Zustandes der DDR-Wirt- hochgradig individualisierte und plu- schaft hohe Kosten auf sich zukom- ralisierte, substanziell in den Westen men, viele Ostdeutsche wiederum be- integrierte Gesellschaft stieß auf ein in- fürchteten Arbeitslosigkeit sowie soziale stitutionell sowjetisiertes, im mentalen und materielle Benachteiligung gegen- Kern jedoch eher typisch deutsches Ge-

Politische Studien, Themenheft 1/2010, 61. Jahrgang, Mai 2010 88-102_KlausSchroeder:88-102 19.04.2010 13:18 Uhr Seite 89

Das Zusammenwachsen Deutschlands 89

meinwesen in einem sehr herkömmli- deutschen dagegen beurteilen sich chen, eher altmodischen Sinn. zwar ebenfalls durchaus positiv, sind aber auch deutlich selbstkritischer und bejahen zum Teil die ihnen von Ost- 2. Befindlichkeiten und deutschen zugeschriebenen negativen Zuschreibungen1 Eigenschaften, überheblich, machtgie- rig, ehrgeizig und egoistisch zu sein. Sie Trotz nie abreißender innerdeutscher sehen die Ostdeutschen in einem eher Kontakte waren sich die Menschen milden Licht und halten sie vor allem nach 45 Jahren Teilung fremd gewor- für hilfsbereit, freundlich, ehrlich und den; nach 20 Jahren gemeinsamen Le- zuverlässig, aber auch für unzufrieden, bens in einem gemeinsamen Staat sind misstrauisch, ängstlich und bequem. sich viele in Ost und West immer noch Beide Seiten vermuten tiefgreifende nicht nähergekommen. In der Selbst- Unterschiede zwischen den Deutschen beurteilung werden erstaunliche Un- in Ost und West in der jeweiligen Le- terschiede deutlich. Die ehemaligen bensweise, der Art zu denken und zu DDR-Bewohner schreiben sich und ih- fühlen sowie in dem, was sie im Leben ren „Leidensgenossen“ vor allem posi- für wichtig halten. Nicht einmal jeder tive Eigenschaften zu. Sie bewerten sich Fünfte sagt, die Landsleute im ehedem als sozial eingestellt, gefühlsstark, flei- anderen Teil Deutschlands stünden ßig, friedfertig und engagiert. Die West- ihm nahe.

Tabelle: Wechselseitige Zuschreibungen*

* Frage: „Hier auf diesen Karten ist einiges aufgeschrieben. Das ist sicher nicht ganz einfach zu sagen, aber was meinen Sie, was trifft eher auf Westdeutsche zu und was eher auf Ostdeutsche?“

Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach 88-102_KlausSchroeder:88-102 19.04.2010 13:18 Uhr Seite 90

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In der wechselseitigen Wahrnehmung schrieben und inszeniert. Diese Form schimmern auch alte systemspezifische des Umgangs setzte sich bei der Orga- Vorurteile durch. Die Ostdeutschen nisation des Erwachsenenalltags fort. wähnen sich den Westdeutschen mo- ralisch deshalb überlegen, weil nach al- Selbst in der privaten Lebensführung ter SED-Lesart der Sozialismus dem Ka- existierten systembedingte Unterschie- pitalismus um Lichtjahre voraus war. de, obschon gerade hier zugleich viele Deutlich wird diese Empfindung, wenn Gemeinsamkeiten vorhanden waren. 50% sich und die anderen früheren Die Kleinfamilie blieb in Ost und West DDR-Bewohner für ehrlich halten, aber trotz aller Veränderungen die bedeu- nur 8% den Westdeutschen das Gleiche tendste Einheit der Gesellschaft. In bei- zubilligen. Die Bewohner der alten den deutschen Teilstaaten genoss das Länder wiederum gestehen ihre eige- Familienleben in der subjektiven Wert- nen positiven Eigenschaften den neu- schätzung der Bevölkerung höchste en Bundesbürgern nicht zu. Es scheint Priorität. Allerdings prägte der gesell- so, als ob sich die Westdeutschen – schaftliche Rahmen den Alltag einer ty- mehr oder weniger bewusst – die Er- pischen DDR-Familie vergleichsweise folgsgeschichte ihres Landes persön- stärker. Die äußeren Bedingungen (Er- lich zuschreiben, während sie die Ost- werbstätigkeit beider Elternteile, Woh- deutschen in die Rolle der Verlierer und nungsnot, Familienfördermaßnahmen der wohlwollend Bemitleideten drän- etc.) erzwangen eine weitgehende gen und für die Misserfolge der DDR Gleichförmigkeit der Lebensplanung, verantwortlich machen. Ein dominan- deren sichtbarer Ausdruck frühe Ehe- ter Sieger steht hiernach einem trotzi- schließungen und Erstgeburten waren. gen Verlierer gegenüber.2 Auch wenn das Privatverhalten in der späten DDR in den Grundeinstellun- gen wie Ordnungsliebe, Autoritätsgläu- 3. Unterschiedliche Sozialisa- bigkeit, Verlässlichkeit und Regelmä- tionen in Zeiten der Teilung ßigkeit an die Lebensführung in der Bundesrepublik der späten 50er- und Die nicht zu übersehenden alltagskul- frühen 60er-Jahre erinnerte, war die turellen und mentalen Differenzen Kleinfamilie keineswegs ein abgeschot- sind vor allem auf unterschiedliche So- teter, durchprivatisierter Lebensbereich zialisationserfahrungen zurückzufüh- wie zumeist in der Bundesrepublik, son- ren. Die kollektive und autoritäre Form dern blieb eine in erheblichem Umfang der Erziehung in der DDR und des Um- von offiziellen Vorgaben durchdrunge- gangs miteinander erstreckte sich nicht ne und nicht selten von ihren Mitglie- nur auf den politisch-ideologischen, dern instrumentalisierte Lebenssphäre. sondern insbesondere auch auf den mentalen Bereich und prägte die Men- Stärker noch als das Alltagsleben un- schen unbewusst. Schon in Kinder- terschied sich das Berufsleben in bei- garten und Schule, aber auch in ihrer den deutschen Staaten. Während im Freizeit wurden Kinder und Jugendli- Westen berufliche und private Sphäre che zur Unterordnung unter Kollektiv weitgehend getrennt blieben, bildeten und Partei bzw. Massenorganisationen sie im Osten zum Teil nahezu eine Ein- erzogen. Nahezu alles wurde vorge- heit. Der Einzelne war im Arbeitsleben 88-102_KlausSchroeder:88-102 19.04.2010 13:18 Uhr Seite 91

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nicht nur in Kollektive eingebunden, schiede. In der DDR hatten die von der sondern erfuhr seinen Betrieb als über obersten Machtelite rekrutierten staats- das Berufsleben hinausgehenden sozia- tragenden Kräfte die Aufgabe, Vorga- len Raum. Für nicht wenige Werktätige ben umzusetzen und loyal zu sein; da- war ihr Betrieb eine „Ersatzfamilie“, ran maß sich Erfolg oder Misserfolg. Im was die SED unterstützte, da sie sich Westen dagegen mussten die jeweili- hiervon eine bessere Beeinflussung und gen Funktionseliten der Logik des Teil- Kontrolle der Individuen versprach. systems folgen und konnten nur dann ihre Positionen behaupten, wenn sich Im Rückblick wird deutlich, in wel- tatsächlich Erfolge einstellten. chem Maße die alte bundesdeutsche Gesellschaft durch schnelle Wohl- Angesichts der diametralen Folgen von standsgewinne, sozialen Wandel, Wert- Überfluss und Mangelwirtschaft entwi- veränderung und Auflösung tradierter ckelte sich auch das Miteinander der Strukturen geprägt war. Das Erhardt- Menschen auseinander. Individuelles sche Versprechen eines „Wohlstands soziales Verhalten zur Kompensation für alle“ wurde in den 60er-Jahren ein- alltäglichen Mangels war in der Bun- gelöst und sicherte der Bundesrepublik desrepublik der 70er- und 80er-Jahre eine historisch einmalige soziale und zumeist nicht mehr notwendig. Hier politische Stabilität. Auch die Ostdeut- entstanden soziale Netzwerke und schen erlebten – wenngleich auf deut- nachbarschaftliche Beziehungen über lich niedrigerem Niveau – eine positive gemeinsame Interessen und Aktivitä- Wohlstandsentwicklung. Gleichwohl ten, aber nur selten –wie in der DDR – war ihr Alltagsleben bis zuletzt von Ver- über informelle Tausch- und nachbar- sorgungsmängeln und Einschränkun- schaftliche Beziehungen sowie ge- gen im Konsum geprägt. Wurde die meinsame Betriebszugehörigkeit. Auch westdeutsche Gesellschaft spätestens wenn sich nach der Wiedervereinigung in den 70er-Jahren zu einer Überfluss- Wertemuster und Verhaltensstrukturen gesellschaft, blieb die DDR bis zu ihrem angenähert haben, sind die Nachwir- Ende eine Mangelgesellschaft. kungen dieser systembedingten Unter- schiede zumindest bei älteren Genera- Die in der alten Bundesrepublik trotz tionen immer noch sichtbar. des sozialen und kulturellen Wandels fortbestehende (alltags-)kulturelle Dif- ferenz zwischen sozialen Gruppen, 4. Systembedingte Nach- Schichten und Individuen war system- wirkungen bedingt in der DDR geringer und an- ders ausgeprägt. Hier überwog das Systembedingte Nachwirkungen sehen Gemeinsame das Trennende, zumal wir – wenn auch in stark abgeschwäch- Möglichkeiten zur individuellen Ab- ter Form – weiterhin in den Erzie- grenzung und zur Herausbildung von hungsstilen. Mit der „Kommandopä- schichtenspezifischer Identität nur ein- dagogik“ der SED korrespondierte ein geschränkt gegeben waren. Vor allem vergleichsweise autoritärer familiärer im Verhalten und Selbstverständnis der Erziehungsstil. Anders als in der Bun- Eliten und Intellektuellen bzw. der In- desrepublik, in der die Jugendrevolte telligenz gab es beträchtliche Unter- der 60er- und 70er-Jahre – trotz ihres ra- 88-102_KlausSchroeder:88-102 19.04.2010 13:18 Uhr Seite 92

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dikalen Überschwangs und entgegen Die Unterschiede in Wertauffassun- der Intention mancher ihrer Protago- gen, Einstellungen und Mentalität las- nisten – zu einem grundlegenden Wer- sen sich zum Teil aber auch aus der tewandel und zu einer Orientierung fortbestehenden unterschiedlichen so- der Pädagogik an mehr Liberalität und zialen Zusammensetzung der Teilge- Toleranz geführt hatte, blieben in der sellschaften erklären. In Ostdeutsch- DDR autoritäre Erziehungsmuster weit- land gibt es – im Vergleich zum Westen gehend ungebrochen erhalten. Selbst – als Erbe der verproletarisierten und in Familien, in denen der totalitäre ländlicheren DDR sozial und kulturell Anspruch der SED auf wenig Gegen- mehr Angehörige der Arbeiterschicht liebe stieß und autoritäre Erziehungs- als der Mittel- und Oberschicht, was stile abgelehnt wurden, waren einer sich auch in der subjektiven Schicht- „Gegenerziehung“ systembedingt Gren- einordnung widerspiegelt. Während zen gesetzt. Der „DDR-Normalbürger“ sich in den alten Ländern weiterhin schlüpfte in die ihm zugedachte Rolle, eine breite Mehrheit der Mittelschicht sicherlich nicht ohne Schweykschen zuordnet, dominiert 20 Jahre nach Eigensinn, aber doch mit einem öf- der Wiedervereinigung in den neuen fentlich erkennbaren Ergebnis: dem Ländern nach wie vor eine Selbst- Verhalten eines sozialistischen Unter- einstufung in die Unter- und Arbeiter- tans, der möglichst keine Verantwor- schicht. tung übernimmt und durch unauffälli- ges Verweigern gekennzeichnet ist. Die Schwierigkeiten des Zusammen- wachsens resultieren aber auch aus der Die Nachwirkungen unterschiedlicher Ausgangssituation. Die Vereinigung Sozialisationen vermengen sich beson- erfolgte nicht auf Augenhöhe, von ders bei den mittleren und älteren Ge- gleich zu gleich, sondern als Beitritt nerationen seit 20 Jahren mit den Er- eines kollabierenden Staates zu einem fahrungen im Vereinigungsprozess, so größeren deutschen Kernstaat. Fast al- dass sich alte Vorurteile reproduzieren le DDR-Bewohner erstrebten die Ein- und nostalgische Stimmungen auftre- heit, um so schnell wie möglich so le- ten. In der Beurteilung der neuen poli- ben zu können wie die Westdeutschen. tischen und gesellschaftlichen Ord- Diese wiederum wollten in ihrer weit nung stimmt eine sehr breite Mehrheit überwiegenden Mehrheit weder den der ostdeutschen Bevölkerung eher mit Lebensstil ihrer „Brüder und Schwes- der anderer ost-mitteleuropäischer tern“ noch die „sozialistischen Errun- Transformationsländer überein als mit genschaften der DDR“ übernehmen. der westdeutschen. Im Kern ist die ost- Diese Ausgangslage erklärt die identi- deutsche Gesellschaft auch 20 Jahre tätstiftende ostdeutsche Trotzreaktion nach der Wiedervereinigung immer ebenso wie westdeutsche Überlegen- noch vor allem eine postsozialistische. heitsgefühle. 88-102_KlausSchroeder:88-102 19.04.2010 13:18 Uhr Seite 93

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Schaubild 1: Freude und Sorge über die Wiedervereinigung in West- und Ostdeutschland*

* Frage: „Ist die deutsche Wiedervereinigung für Sie eher Anlass zur Freude oder eher zur Sorge?“

Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach

Eine sehr breite Mehrheit der Ostdeut- lensbach-Umfrage vom letzten Jahr schen sieht ebenso wie eine absolute eine Zwei-Drittel-Mehrheit der West- Mehrheit der Westdeutschen die Verei- deutschen, Deutschland sei es am bes- nigung dennoch eher mit Freude als ten in der Zeit zwischen 1945 und 1989 mit Sorge. Die Sehnsucht nach alten gegangen. Dieser Auffassung schließen Zeiten, die weniger real als konstruiert sich nur 28% der Ostdeutschen an. Sie scheinen, ist in Ost und West gleicher- halten mit knapp 60% die Zeit im maßen verbreitet, wobei entgegen der wiedervereinigten Deutschland für die öffentlichen Wahrnehmung eine West- beste.3 Dennoch neigen viele Ostdeut- algie derzeit mehr Menschen umtreibt sche – in der älteren Generation ver- als die Ostalgie. So sagt bei einer Al- mutlich sogar eine Mehrheit – zu einer 88-102_KlausSchroeder:88-102 19.04.2010 13:18 Uhr Seite 94

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Verklärung der DDR. Sie blenden die 5. Vereinigungskosten als Zank- negativen Seiten dieser sozialistischen apfel zwischen Ost und West Diktatur aus und erinnern sich vor allem an die positiven, vornehmlich Niemand hätte sich 1990 vorstellen alltagsbedingten. Ihr überwiegend po- können, welches Ausmaß die Vereini- sitives DDR-Bild überträgt sich auch gungskosten in den nachfolgenden 20 auf junge Generationen.4 Jahren annehmen würden. Bereits in dem Angebot zur Währungsunion fin- In die reale DDR zurück möchte aller- det sich die illusionäre Vorstellung, die dings – nicht zuletzt aufgrund der Einheit könne ohne zusätzliche Ein- Wohlstandsentwicklung nach der Wie- nahmen und Verschuldung gleichsam dervereinigung und der neu gewonne- aus der Portokasse finanziert werden. nen Freiheit – nur eine kleine Minder- Kurz vor den ersten und einzigen freien heit der Ostdeutschen, die sich nach Volkskammerwahlen kündigte der einer im Nachhinein konstruierten so- Bundeskanzler nicht zuletzt aus wahl- zialen DDR sehnt, die ihren Diktatur- taktischen Gründen an, kleinere Spar- charakter abgestreift hat. Insofern ist guthaben, Löhne, Gehälter und Renten die Nostalgie also eher Fiktion als Aus- im Verhältnis 1:1 umtauschen zu wol- druck realer Sehnsüchte. Diese Art der len. Zu diesem für die DDR-Bevölke- Verklärung der DDR geht bei vielen rung günstigen Umtauschkurs kam es Ostdeutschen einher mit einer fun- nicht zuletzt auch deshalb, weil auf ei- damentalen Kritik des Wiederverei- ner Vielzahl von Demonstrationen nigungsprozesses. Die Kritik an den massiv bis aggressiv eine paritätische politischen und gesellschaftlichen Ver- Währungsumstellung gefordert wurde. hältnissen in der Bundesrepublik und Damit war freilich das bis heute andau- die Verklärung der DDR als soziale ernde Dilemma der ostdeutschen Wirt- Idylle sind also zwei Seiten einer Me- schaft vorprogrammiert: der Wettbe- daille.5 werbsnachteil ostdeutscher Wirtschafts- unternehmen. Das Spannungsverhält- Trotz der generellen Freude ist ein Un- nis zwischen der niedrigen Produktivi- behagen an der Einheit gleichermaßen tät der ostdeutschen Wirtschaft, die an- unter Ost- und Westdeutschen vorhan- fangs pro Arbeitsstunde bei etwa 20% den, wenn auch aus unterschiedlichen des westdeutschen Niveaus lag,6 und ra- Motiven. Viele Ostdeutsche halten das schen Lohnsteigerungen konnte zu- durch gewaltige Finanztransfers aus mindest im ersten Jahrzehnt der Wie- dem Westen in ihren Landstrichen und dervereinigung nicht aufgelöst werden. Haushalten Geschaffene für selbstver- Die Wirtschafts- und Währungsunion ständlich und sehen weitergehende wurde auf Druck der DDR und der west- Ansprüche als nicht erfüllt an. Unter deutschen Gewerkschaften, aber auch Westdeutschen entwickelten sich an- der SPD, um die Sozialunion ergänzt. gesichts der hohen Vereinigungskos- Sie beeinträchtigte wegen der hierdurch ten, die für sie nachhaltige Wohl- notwendigen Anhebung der Sozialbei- standseinbußen bedeuten, ebenfalls träge die Wettbewerbsfähigkeit der west- Zweifel an der Einheit und vor allem an deutschen Wirtschaft nachhaltig und dem von der Politik eingeschlagenen führte zu einer lang andauernden Sta- Vereinigungspfad. gnation der Wirtschaftsentwicklung. 88-102_KlausSchroeder:88-102 19.04.2010 13:18 Uhr Seite 95

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Diese Weichenstellungen führten Transfers westdeutscher Rentenbei- zwangsläufig zu hohen materiellen tragszahler und Bundeszuweisungen Vereinigungskosten und zu einer Fi- bestritten wird. nanzierungsstruktur, die nachhaltig die Sozialversicherungen belastete. Schon Die seit 2004 weder von der Bundesre- 1990 überwies die Bundesrepublik ins- gierung noch vom Statistischen Bun- gesamt etwa 33 Mrd. Euro in die DDR desamt errechnete Sozialleistungsquo- und die neuen Länder, damit diese aus- te dürfte als Folge der Transfers in Ost- stehende Löhne und Renten bezahlen deutschland wie in den Jahren bis 2003 konnten. Bis zum Ende des Jahres 2009 bei etwa 50% gegenüber knapp 30% dürften sich die Vereinigungskosten, im Westen liegen. Angesichts der Fi- die nur bis 1998 von der Bundesregie- nanzierungsstruktur tragen sozialversi- rung detailliert ausgewiesen wurden, cherungspflichtige Arbeitnehmer die geschätzt auf brutto knapp zwei Billio- Hauptlast der Vereinigung, da sie so- nen Euro (netto: ca. 1,6 Billionen Euro) wohl über ihre Sozialbeiträge als auch belaufen haben.7 Die West-Ost-Trans- über die Steuern an der Finanzierung fers umfassen neben den verfassungs- beteiligt sind. Die Beiträge von Beam- rechtlich vorgesehenen Umverteilungs- ten, Selbstständigen und Rentnern zu und Ausgleichszahlungen im Bereich den Vereinigungskosten fallen dagegen der Länderfinanzen und der Sozialleis- deutlich niedriger aus. tungen auch befristete Sonderzahlun- gen, die nur den neuen Ländern zugu- te kommen. Die im Solidarpakt I und II 6. Historisch beispiellose vereinbarten Transfers sollen mit dem Wohlstandsexplosion in Jahr 2019 enden. Ob die neuen Länder Ostdeutschland bis dahin finanziell auf eigenen Füßen stehen, kann derzeit eher bezweifelt als Der konsumorientierte Transformati- angenommen werden. onspfad brachte den meisten ostdeut- schen Haushalten binnen kürzester Der überwiegende Teil der West-Ost- Zeit eine Wohlstandsexplosion. Bis Transfers floss und fließt in die soziale Mitte der 90er-Jahre wuchsen die rea- Absicherung des Transformationspro- len Haushaltsnettoeinkommen auf fast zesses, dient also der Herstellung der 90% des westdeutschen Niveaus. Die- „Sozialunion“. Von den insgesamt ser schnelle Angleichungsprozess ver- knapp eine Billion Euro sozialpolitisch dankt sich insbesondere den sozialen motivierten Transferleistungen seit Transfereinkommen. Im Jahre 2003 er- 1990 wird ein großer Teil zum Aus- reichten sie die gleiche Höhe wie die gleich der ostdeutschen Sozialversiche- Nettolohnsumme der Arbeitnehmer, rung verwendet, die ihre Ausgaben bei d.h. jeder zweite Euro, der ostdeut- weitem nicht durch Einnahmen de- schen Haushalten zur Verfügung stand, cken kann und dies auf absehbare Zeit resultierte aus Transfers. wohl auch nicht erreichen wird. Die ostdeutschen Renten zum Beispiel wer- Die Wohlstandsexplosion ohne wirt- den in den letzten 20 Jahren nur zu schaftliches Fundament ermöglichte etwas mehr als der Hälfte aus Einnah- den Haushalten eine schnelle Anglei- men finanziert, während der Rest über chung der Wohlstandsattribute bezo- 88-102_KlausSchroeder:88-102 19.04.2010 13:18 Uhr Seite 96

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gen auf die Ausstattung privater Haus- lautstark und Leserbriefspalten füllend halte mit langlebigen Konsumgütern. den Verlust ihres Status und das Ende Der bereits nach zehn Jahren Vereini- ihrer Träume auf ein besseres Leben im gung erreichte annähernd gleiche Aus- Sozialismus, erhalten jedoch eine stattungsgrad kann als sichtbarer Aus- überwiegend vom ehemaligen Klas- druck des schnellen und geradezu senfeind finanzierte, mitunter üppige atemberaubenden Angleichungspro- Rente. Abgesehen von ehemaligen zesses zwischen Ost und West angese- MfS-Mitarbeitern und einigen weni- hen werden. In einigen Bereichen ha- gen besonders hohen Staatsfunktionä- ben die ostdeutschen Haushalte die ren kommen inzwischen alle schon in westdeutschen ein-, in anderen – 40 der DDR privilegierten Personen in Jahre nach der Prophezeiung Walter den Genuss vergleichsweise hoher Ulbrichts – gar überholt. Ein gleicher Renten. Ausstattungsgrad mit Telefonen und Pkws wurde zum Beispiel innerhalb Die Folgekosten der Sonder- und Zu- von fünf Jahren erreicht, während ein satzversorgungssysteme, die vom Bund vergleichbarer Entwicklungssprung in und den neuen Ländern aufgebracht Westdeutschland 13 bis 15 Jahre ge- werden müssen, beliefen sich zwischen dauert hatte. 2002 und 2009 auf über 30 Mrd. Euro. Im Gegensatz hierzu fallen die Renten Materielle Gewinner der Vereinigung ehemaliger Opfer und Benachteiligter sind vor allem die Rentner in den neu- der SED-Diktatur deutlich geringer aus. en Ländern. Durch die Übertragung des Als Rentner profitieren sie zwar auch bundesdeutschen Rentensystems auf von der schnellen Übertragung des die Bevölkerung des Beitrittsgebietes westdeutschen Sozialsystems, so dass entstanden hier als Folge der Sozial- sie ihren Lebensabend nicht wie in der union gleichsam über Nacht, aufgrund DDR in ärmlichen Verhältnissen ver- der (fiktiv) auf Westniveau umgerech- bringen müssen, doch ihre Renten lie- neten Beiträge und längerer Lebensar- gen aufgrund ihrer schlechteren beruf- beitszeiten, kapitalisierte Ansprüche an lichen Chancen im SED-Staat deutlich die gesetzliche Rentenversicherung in unter den Bezügen derjenigen, die für beträchtlicher Höhe. Die tatsächlich die Diktatur in höheren Positionen ver- ausgezahlten gesetzlichen Renten lie- antwortlich zeichneten. Die Bundesre- gen bei den Männern und vor allem gierung entschloss sich erst vor weni- bei den Frauen seit der Frühphase der gen Jahren, den Opfern eine spezielle Wiedervereinigung deutlich über den Opferrente zu zahlen. Allerdings erhal- durchschnittlichen westdeutschen Ren- ten nur diejenigen Opfer der SED-Dik- ten. Dabei muss jedoch berücksichtigt tatur diese Rente, die ansonsten keine werden, dass über Betriebsrenten und höheren Einkommen beziehen. Die Pensionen der durchschnittliche Wohl- Kosten hierfür betrugen im Jahre 2008 stand der westdeutschen Senioren im- etwa 155 Mio. Euro. In Anbetracht der mer noch etwas höher liegt. Kosten für die Rentenerhöhung der ehemaligen Verantwortungsträger der Zu den materiellen Gewinnern der sozialistischen Diktatur sind dies – um Einheit zählen auch ehemalige Sys- mit den Worten eines Bankers zu reden temträger der DDR. Sie beklagen zwar – Peanuts. 88-102_KlausSchroeder:88-102 19.04.2010 13:18 Uhr Seite 97

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Der materielle Unterschied zwischen weiter öffnen, obschon seit 2006 so- Ost und West betrifft seit mehreren wohl im Westen als auch im Osten die Jahren nur noch kleine Teile der Be- Zahl der Arbeitslosen und selbst die völkerung, die „oberen Zehntausend“. Zahl der Langzeitarbeitslosen deutlich Dass diese sich auf Westdeutschland abgenommen hat. konzentrieren, kann angesichts der Vorgeschichte nicht überraschen. So gesehen, ist die „innere Einheit“ ma- 7. Die Gräben werden teriell inzwischen weitgehend er- wieder tiefer reicht, wenngleich dies noch nicht ins öffentliche Bewusstsein vor allem bei Zwar sehen wir auch 20 Jahre nach der der ostdeutschen Bevölkerung gedrun- Wiedervereinigung ausgeprägte Ost- gen ist. West-Unterschiede im Wohlstand, die sich aber unter Berücksichtigung der in Ein besonderes, wenn nicht das zentra- der Bundesrepublik immer schon vor- le Problem stellt zweifellos die im Ver- handenen regionalen Disparitäten re- gleich zum Westen deutlich höhere Ar- lativieren. So beträgt zum Beispiel die beitslosigkeit in Ostdeutschland dar, maximale Einkommensdifferenz zwi- die auch Ergebnis einer höheren Er- schen den Kreisen in Bayern knapp werbsneigung ostdeutscher Frauen ist, 80%, während der durchschnittliche die zudem erheblich weniger als ihre Unterschied zwischen Ost und West westdeutschen Geschlechtsgenossin- nur bei etwa 30% liegt.8 Eine nahezu nen einer Teilzeitbeschäftigung nach- vollständige Angleichung zwischen gehen. Während die staatliche Arbeits- Ost und West besteht 20 Jahre nach marktpolitik in den ersten Jahren nach dem Mauerfall bei der Lebenserwar- der Wiedervereinigung den Prozess des tung, den Umweltbedingungen, der Arbeitsplatzwandels und –abbaus, der Infrastruktur und selbst bei der Ge- sich zwangsläufig durch den Wechsel burtenrate, deren Rückgang von Kriti- von der staatlichen Planwirtschaft zur kern der Wiedervereinigung als Beleg sozialen Marktwirtschaft einstellte, mit für die tiefe Unzufriedenheit ostdeut- dreistelligen Milliardenbeträgen sozial scher Frauen angeführt wurde. Tat- abfederte, beobachten wir seit Mitte sächlich gründete der massive Rück- der 90er-Jahre und – noch einmal be- gang auf der Tatsache, dass mehrere schleunigt seit der Jahrtausendwende – Jahrgänge 1990 –aufgrund des in der eine stärkere Zunahme der Langzeitar- DDR niedrigeren Erstgeburtenalters – beitslosigkeit in den neuen Ländern. schon Kinder hatten und einem Ge- Dieser Prozess resultiert einerseits aus burtenaufschub durch kinderlose jün- der unterschiedlichen konjunkturellen gere Frauen, die nun wie im Westen Entwicklung, andererseits aber auch erst in höherem Alter Kinder bekom- aus demographischen und wande- men wollten. rungsbedingten Faktoren. Da vor allem die im Osten anteilig stärker vertrete- Wenngleich die Verfassung den Bund nen Älteren überdurchschnittlich häu- verpflichtet, einheitliche bzw. seit 1994 fig von Langzeitarbeitslosigkeit betrof- gleichwertige Lebensverhältnisse im fen und weniger mobil sind, dürfte sich Bundesgebiet herzustellen, blieb und die Schere auch in den nächsten Jahren bleibt offen, was unter „einheitlich“ 88-102_KlausSchroeder:88-102 19.04.2010 13:18 Uhr Seite 98

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bzw. „gleichwertig“ verstanden wird. Einkommen oder individuelle Lebens- Durch den Finanzausgleich und diver- verhältnisse, die ohnehin von zusätzli- se Bundeszuschüsse hat der Bund die chen Faktoren abhängen, sondern um Voraussetzungen für „gleichwertige Le- Infrastruktur, Bildung und Verkehr so- bensverhältnisse“ auf Länderebene ge- wie weitere staatliche Garantien, die schaffen. Dabei geht es aber nicht – wie gleiche Lebenschancen ermöglichen oft angenommen wird – um gleiche sollen.

Schaubild 2: Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen*

* Frage: „Wenn Sie jetzt einmal die Deutschen im Osten des Landes mit den Deut- schen im Westen vergleichen: Überwiegen da die Unterschiede, oder überwiegen da die Gemeinsamkeiten?“

Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach 88-102_KlausSchroeder:88-102 19.04.2010 13:18 Uhr Seite 99

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Im Jahre 2006 schien es so, als ob die Jahren wieder eingetrübt, so dass 2009 Deutschen in ihrer subjektiven Wahr- die Zahl derjenigen, die vor allem mehr nehmung endlich zusammengewach- Unterschiede und weniger Gemein- sen seien. Die Zahl derjenigen, die samkeiten sehen, sowohl in Ost als mehr Unterschiede als Gemeinsamkei- auch in West deutlich zugenommen ten sahen, war in beiden Landesteilen hat. deutlich geschrumpft, während der Anteil, der die Gemeinsamkeiten her- Ein analoges Bild zeigt sich auch bei der vorhob, deutlich angestiegen war. Lei- Frage nach einer gemeinsamen Identi- der hat sich dieses Bild in den letzten tät als Deutsche(r).

Schaubild 3: Identitätsgefühl in West- und Ostdeutschland*

* Frage: „Fühlen Sie sich im allgemeinen eher als Deutsche(r) oder mehr als Ost- bzw. Westdeutsche(r)?“

Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach 88-102_KlausSchroeder:88-102 19.04.2010 13:18 Uhr Seite 100

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Im Jahre 2006 bekundeten erstmals Linke“ breitete sich die ehemalige mehr Ostdeutsche, sie fühlten sich eher Staatspartei der DDR auch auf den als Deutsche denn als Ostdeutsche. Westen aus. Zwar lag die Quote immer noch unter der im Westen, aber immerhin fühlte Mit der praktizierten Demokratie zu- sich zu diesem Zeitpunkt eine absolute frieden äußerte sich im Jahre 2008 Mehrheit als Deutsche und sah sich nicht einmal jeder dritte Ostdeutsche; nicht mehr in einem Ost-West-Verhält- eine gute Meinung über das Wirt- nis. Im letzten Jahr stieg jedoch die schaftssystem hatte nicht einmal jeder Zahl derjenigen, die sich als Ostdeut- fünfte. Doch auch unter Westdeut- sche fühlten, wieder deutlich an und schen bröckelt die Zustimmung. Wäh- umfasste eine absolute Mehrheit, so rend zu Beginn der Vereinigung etwa dass sich das Befragungsergebnis von 80% bzw. 60% mit der Demokratie und 2006 höchstwahrscheinlich einer na- dem Wirtschaftssystem einverstanden tionalen Euphorie angesichts der Fuß- waren, waren es 2008 nur noch 62% ballweltmeisterschaft im eigenen Land bzw. 39%. Diesen Ergebnissen ent- verdankte. Der unbefangene, gleich- spricht der geringe Anteil derjenigen, sam spielerische Umgang mit der eige- die davon ausgehen, dass die Demo- nen Nation zeigte sich vor allem bei kratie prinzipiell die Probleme, die wir jungen Generationen. in Deutschland haben, lösen kann. Diese Annahme teilt nur knapp jeder Insgesamt hat sich die politische und Zweite in den alten und etwa jeder mentale Spaltung zwischen den beiden Vierte in den neuen Ländern. Es be- deutschen Teilgesellschaften im Laufe steht also weiterhin eine Differenz in der vergangenen 20 Jahre eher verfes- der positiven Beurteilung der politi- tigt als verflüchtigt. Die neuen Institu- schen Ordnung und des Wirtschafts- tionen sind vielen Ostdeutschen äu- systems; die schwindende Zustim- ßerlich fremd geblieben; sie entspra- mung in beiden Landesteilen lässt sich chen nicht ihren idealisierten Vorstel- jedoch nicht mehr übersehen.9 lungen. Die Ernüchterung über die Rea- lität führte nicht nur bei ewig Gestrigen zu einer Renaissance sozialistischen 8. Fazit Gedankenguts, wonach die kapitalisti- sche Bundesrepublik von sozialer Kälte In den letzten Jahren haben sich so- und Klassengegensätzen beherrscht wohl der mentale Graben zwischen Ost wird, auch ostdeutsche Normalbürger und West als auch die Kritik von Ost- sahen sich als vom Westen bzw. vom deutschen an der Gesellschaftsord- Kapitalismus unterdrückt und ausge- nung in Deutschland vertieft bzw. ver- beutet. Von diesem sich nach 2006 er- stärkt. Aber auch unter Westdeutschen neut verstärkenden Einstellungswan- ist die Distanz zum politischen und ge- del profitierte vor allem die in PDS um- sellschaftlichen System größer gewor- benannte SED, die bei Wahlen ihren den. Die seit der Wiedervereinigung er- relativen Stimmenanteil in Ostdeutsch- lebte Wohlstandsstagnation hinterlässt land verdoppeln konnte. Nach ihrem offenbar Spuren, wenngleich weiterhin Zusammenschluss mit der WASG und eine Mehrheit dem in der alten Bun- ihrer erneuten Umbenennung in „Die desrepublik erprobten System vertraut. 88-102_KlausSchroeder:88-102 19.04.2010 13:18 Uhr Seite 101

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Für die ehemalige DDR-Bevölkerung der veränderten Bedingungen vor erns- hat sich durch den Systemwechsel das ten Bewährungsproben, die ein „weiter Leben in vielerlei Hinsicht geändert. so“ in Politik und Gesellschaft nicht Sie verlor die gewohnte Alltäglichkeit, ratsam erscheinen lassen. Jenseits ihrer aber auch die diktatorischen Rahmen- fortbestehenden Institutionen ist in bedingungen und gewann Freiheit und der größer gewordenen Republik vieles Demokratie, verbunden mit höheren in Bewegung geraten, was die bisherige Anforderungen an individuelle Verant- politische und soziale Stabilität in Fra- wortung. Der institutionelle Wandel ge stellen könnte. Wie die anhaltenden vollzog sich dabei schneller als der und leider zunehmenden Differenzen mentale. Die Schwerkraft menschlicher zwischen Ost und West zeigen, lässt Einstellungen und Verhaltensweisen sich mit Geld zwar vieles, aber nicht al- kam hier ebenso zum Tragen wie der les bewerkstelligen. Finanzielle Solida- durch die Globalisierung bewirkte per- rität ist eine notwendige, aber keine manente Wandel nach dem System- hinreichenden Voraussetzung für das wechsel. Die Wiedervereinigung hat Zusammenwachsen. Deutschland insgesamt und damit die alte bundesrepublikanische Gesellschaft Zugleich aber können die Deutschen stärker verändert, als den meisten be- in Ost und West auf das nach der wusst ist. Die Folgen zeigen sich in der Vereinigung Geschaffene mit einigem Politik ebenso wie im alltäglichen Le- Recht durchaus stolz sein, denn ben und den Einstellungen. Dabei ist schließlich ist erreicht worden, was das vereinte Deutschland nicht westli- kaum noch für möglich gehalten wur- cher, sondern eher östlicher, eher lin- de: Deutschland hat sich friedlich und ker als rechter, eher sozialdemokrati- in Freiheit vereint und bisher keine scher als liberal-konservativer sowie Großmachtallüren gezeigt. Positiv ge- eher staats- als marktbezogener gewor- sehen ist das vereinte Deutschland eine den. Zwar existieren zwischen alten normale Gesellschaft geworden, deren und neuen Bundesbürgern weiterhin Sonderbedingungen (Wohlstand, Sozi- deutliche Unterschiede in Einstellun- alstaat, außenpolitische Abstinenz etc.) gen, Werteordnung und politischer entfallen sind, und die nun mit den Auffassung, aber der Veränderungspro- gleichen Problemen wie andere Länder zess läuft schon lange nicht mehr aus- zu kämpfen hat. Negativ gesehen steht schließlich von Ost nach West, son- Deutschland durch die Veränderungen dern in mancher Hinsicht in umge- vor der Herausforderung, ob die in kehrter Richtung. Die „innere Einheit“ Zeiten des Wohlstandes entstandene – gleichermaßen materiell wie werte- Akzeptanz der freiheitlich-demokrati- mäßig – wird sich in den nächsten Jah- schen und pluralen Ordnung stärker ren nicht auf dem alten bundesdeut- bedroht ist als in Ländern mit längerer schen Niveau einpendeln, sondern ir- bzw. ungebrochener demokratischer gendwo zwischen Ost und West. Tradition. Nüchtern betrachtet man- gelt es Deutschland vor allem an einem Trotz des konstatierten widersprüchli- Konsens über Grundüberzeugungen, chen Bildes besteht derzeit kein Anlass einem Zusammengehörigkeitsgefühl zur Panik. Die „neue“ Bundesrepublik und Leitlinien, wie die Zukunft ausse- ist nicht in Gefahr, steht aber aufgrund hen soll. Immer noch wissen wir Deut- 88-102_KlausSchroeder:88-102 19.04.2010 13:18 Uhr Seite 102

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sche nur unzureichend, wer wir sind gentliche Defizit: nicht nur zwischen und was wir wollen – darin liegt das ei- Ost- und Westdeutschen.

Anmerkungen 1 Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Partei, dieser Studie sind abgedruckt in: Monika Staat und Gesellschaft 1949–1990, Mün- Deutz-Schroeder/Klaus Schroeder: Oh, chen 1998 und 2000, S.596ff. wie schön ist die DDR. Kommentare und 2 Schroeder, Klaus: Die veränderte Repu- Materialien zu den Ergebnissen einer Stu- blik. Deutschland nach der Wiederverei- die, Schwalbach/Ts. 2009. nigung, München 2006, S.397ff. 5 Schroeder, Klaus: DemokratieverDRuss, 3 Schroeder, Klaus: Ostdeutschland 20 Jah- in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, re nach dem Mauerfall – eine Wohl- 6.1.2010, S.6. standsbilanz. Gutachten für die Initiati- 6 Schwarzer, Oskar: Sozialistische Zentral- ve Neue Soziale Marktwirtschaft, Berlin planwirtschaft in der SBZ/DDR. Ergebnis- 2009, S.246f. se eines ordnungspolitischen Experimen- 4 Deutz-Schroeder, Monika/Schroeder, Klaus: tes (1945–1989), Stuttgart 1999, S.166ff. Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das 7 Schroeder: Ostdeutschland 20 Jahre nach DDR-Bild von Schülern – ein Ost-West- dem Mauerfall, S.188ff. Vergleich, München/Stamsried 2008. Aus- 8 Ebd., S.129. gewählte Reaktionen auf die Ergebnisse 9 Ebd., S.241ff. 103_Autorenverzeichnis:103_Autoren 11.05.2010 10:30 Uhr Seite 103

Autorenverzeichnis

Aretz, Jürgen, Dr. Schröder, Richard, Staatssekretär a.D., Gene- Prof. Dr. Dr. h.c. ralbevollmächtigter Re- Humboldt-Universität präsentanz Thüringen Berlin, Mitglied des na- Aufbaubank/Landesent- tionalen Ethikrates, ehe- wicklungsgesellschaft maliger Präsident der Thüringen mbH, Brüssel deutschen Nationalstif- tung und Vorsitzender Haarmann, Lutz, M.A. des Fördervereins Berli- Wissenschaftlicher Mitar- ner Stadtschloss, Berlin beiter, Institut für Politi- sche Wissenschaft und Soziologie, Lehrstuhl Poli- tische Theorie, Ideen- und Seehofer, Horst Zeitgeschichte, Universi- Bayerischer Ministerprä- tät Bonn, Leiter des Büro sident, Vorsitzender der Bonn der Gesellschaft für Christlich Sozialen Uni- Deutschlandforschung on, München

Kohl, Helmut, Dr. Bundeskanzler der Bun- desrepublik Deutschland Teltschik, Horst, 1982–1998, Bundesvor- Prof. Dr. h.c. sitzender der CDU Internationaler Wirt- 1973–1998, Ludwigsha- schafts- und Politikbera- fen/Berlin ter, Präsident der Deutsch- Israelischen Wirtschafts- Mayer, Tilman, Prof. Dr. vereinigung in München Institut für Politische und Vizepräsident der Is- Wissenschaft und Sozio- raelisch-Deutschen Han- logie, Lehrstuhl Politi- delskammer in Tel Aviv, sche Theorie, Ideen- und Rottach-Egern Zeitgeschichte, Universi- tät Bonn, Vorsitzender der Gesellschaft für Deutsch- Waigel, Theo, Dr. landforschung, Berlin Bundesminister a.D., Rechtsanwalt, Anti-Kor- Naumann, Klaus, Dr. h.c. ruptions-Beauftragter General a.D., bis 1999 Ge- (Compliance Monitor) neralinspekteur der Bun- beim Technologiekon- deswehr und Vorsitzen- zern Siemens, München/ der des NATO-Militäraus- Seeg im Allgäu schusses, Otterfing

Schroeder, Klaus, Prof. Dr. Zehetmair, Hans, Leiter des Forschungsver- Dr. h.c. mult. bundes SED-Staat der Staatsminister a.D., Vor- Freien Universität Berlin, sitzender der Hanns-Sei- Professor am Otto-Suhr- del-Stiftung, München Institut der FU Berlin 104_Vakat:104_Vakat 19.04.2010 13:24 Uhr Seite 104