Nr.9 September 2001 3 Schweizer Musikzeitung

Rudolf Kelterborn im Gespräch mit Sibylle Ehrismann «Meine Texte suche ich erst, wenn die Musik schon da ist»

Rudolf Kelterborn, eine der prominentesten Sprechen wir von Ihren Anfängen als Komponist. (Lacht) Ich war ein absoluter Aussenseiter. Mei- Schweizer Musikerpersönlichkeiten, feierte Was war in den 1950er-Jahren, als Sie studier- ne Musik wurde ja groteskerweise auch aufgeführt. am 3. September seinen 70. Geburtstag. ten, in aktuell? Die Brüder Kontarsky hatten eine Sonate für zwei Der musikalisch, pädagogisch, kulturpolitisch Ich habe damals vor allem das gehört, was Paul Sa- Klaviere von mir uraufgeführt. Das ist ein hoch vir- und publizistisch sehr vielseitige Kelterborn cher mit dem Kammerorchester gemacht hat: Bartók, tuoses und sehr motorisches Stück, das völlig aus Strawinsky, Hindemith, Honegger, auch Urauf- dem Rahmen fiel. Und später hat der Hessische hat sich kompositorisch mit seinem Stück führungen natürlich. Was wir damals nicht gehört Rundfunk das zweite Orchesterstück von mir – «Namenlos» neuerdings auch an die haben, ist die Zweite Wiener Schule. Diese habe ich Canto appassionato – das in einem Konzert in Elektronik gewagt. Und wie seit jeher erst kennengelernt, als ich bei Wolfgang Fortner stu- Darmstadt uraufgeführt wurde, gesendet. Das war macht er mit seiner kreativen Neugierde immer wieder neue Entdeckungen. Das lebhafte und anregende Gespräch, in dem es auch um die besondere Affinität des Komponisten zur Dichtung und zur Stimme geht, fand im Juni in der Basler Wohnung des Komponisten statt. Herr Kelterborn, für einen Komponisten haben Sie ein ungewöhnlich breites Betätigungsfeld. Sie haben u.a. auch bei den Medien gearbeitet, beim Rundfunk und als Chefredaktor der Schweizer Musikzeitung. Grundsätzlich habe ich neben dem Komponie- ren immer gerne etwas ganz anderes gemacht. Ich hätte nie nur einfach Komponist sein wollen, schon gar nicht freischaffender. So konnte ich immer das komponieren, was ich wollte. Dazu kommt, dass ich immer gerne geschrieben habe. Es hat mich interessiert, analytisch mit anderen Wer- ken umzugehen und mich mit der Schweizer Mu- sikszene ab und zu auch polemisch auseinander- zusetzen.

Und Ihre sechs Jahre bei Radio DRS? Das war wohl die anstrengendste Arbeit, die ich Rudolf Kelterborn Foto: zvg hatte. Einfach deshalb, weil ich jede Woche in den Programmsitzungen auf die Barrikaden steigen dierte, und natürlich in Darmstadt und Donaueschin- eigentlich ganz unmöglich, das Stück passte über- musste. Ich musste kämpfen dafür, dass man nicht gen. In Basel hatte ich bei Walther Geiser Kompositi- haupt nicht in diese Umgebung und wurde auch einfach spontan eine Sportsendung eine halbe onsunterricht, der ja bekanntlich Busoni-Schüler entsprechend ausgebuht. Stunde verlängert und dafür die Musiksendung und für mich ein ganz wichtiger Lehrer war, auch streicht. Und ich musste dafür plädieren, dass man wenn man das meiner Musik nicht anhört. Geiser war Weshalb wurden Ihre Stücke überhaupt in Darm- durchaus auch Ansprüche stellen darf und kann. sehr offen und tolerant, und er legte grosses Gewicht stadt gespielt? Ich habe «Die Stunde der Schweizer Musiker» ein- auf das Handwerk und auf die Durchhörbarkeit. Das war natürlich Fortner, der dort viel zu sagen geführt. Und es wurde damals viel mehr zeitgenös- hatte und der seinen Schülern die Gelegenheit zur sische Musik gebracht als heute, vor allem auch zu Sie nennen in Ihrer Biografie Bialas, Fortner und Präsentation ihrer Stücke bot. Es gab ja immer wie- vernünftigeren Zeiten. Blacher als wichtige Wegbereiter für Ihre eigene der solche Fälle. Ich hörte einmal in Donaueschin- kompositorische Laufbahn. Das geht in eine sehr gen ein Stück von Wilhelm Killmayer für Sing- Wie haben Sie es geschafft, bei all Ihren zeit- ‹deutsche› Richtung. stimme und Ensemble, eine Art französische und kräftezehrenden Tätigkeiten so konsequent Nach meinem Grundstudium wollte ich zuerst zu Chansons. Heinrich Strobel wollte Killmayer mit immer wieder die Ruhe und die Konzentration Frank Martin gehen. Ich mochte einige Stücke von dieser Aufführung deplazieren. Das Stück passte fürs Komponieren zu finden? ihm sehr und kannte ihn auch persönlich. Aber überhaupt nicht ins Programm, wurde aber zu ei- Ich habe bei meinen Anstellungsverträgen im- Martins Musik lag zu sehr auf meiner Linie, ich nem riesigen Erfolg. mer zusätzlich zu meinen Ferien vier bis fünf Wo- musste einfach einmal etwas ganz anderes machen. chen Freizeit fürs Komponieren ausgehandelt. Das Die Zeit mit Fortner war sehr interessant. Ich habe Was hat es für Sie bedeutet, wenn sie ausgebuht hat viele Leute furchtbar beschäftigt, und ich habe Fortner gesagt, dass er alle möglichen mir noch so wurden? einfach immer gesagt, wenn ihr das streicht, gehe fremden Übungen mit mir machen solle, in Rich- Das ist nicht lustig. Ich bin ausgepfiffen worden, ich. Zudem kann ich mich gut organisieren; ich war tung Isorhythmie, Zwölftontechnik und serielle entweder weil es zu wenig modern war, wie in immer ein sehr fleissiger Mensch. Aber wenn ich Versuche. Ich wollte einmal auf Widerstände stos- Darmstadt, oder weil es zu modern war. Das ist mir nicht mehr hätte komponieren können, hätte ich sen, das hat mir sehr gut getan. beides passiert. In Genf gab es einmal eine Auf- die Stelle aufgegeben. Ich habe auch mehrmals die führung meiner 2. Sinfonie mit Armin Jordan, und Stelle gewechselt und wurde im neuen Amt sehr Sie besuchten 1956 und 1960 die Darmstädter da haben sich die Leute im Publikum gegenseitig viel schlechter bezahlt als früher. Man muss eben in Ferienkurse, wie viele junge Komponisten da- heftig beschimpft. Aber ich habe mich schnell da- Kauf nehmen, dass man nicht immer auf demsel- mals. Wie fühlten Sie sich in dieser Hochburg ran gewöhnt, dass ich mich zwischen Stuhl und ben finanziellen Niveau leben kann. der Avantgarde und der Serialität? Bank befinde und dass es eigentlich unsinnig ist, Revue Musicale Suisse 4 No9 Septembre 2001

sich Gedanken zu machen darüber, ob ein Stück ak- noch nicht. Für uns war es jedoch noch einfacher, in tuell ist oder nicht. einen Verlag zu kommen, die Deutschschweizer in Konzert deutsche Verlage, die Welschen in Pariser Verlage; Konzert zum 70. Geburtstag von Kelterborn: Wie und wann fanden Sie zu Ihrem eigenen Stil? das ist heute sehr viel schwieriger geworden. Basler Musik Forum, 25. Oktober, ab 18.30 Uhr, Das kann ich Ihnen so nicht sagen. Ich weiss Stadtcasino Basel: Kelterborn: «Fantasien, In- auch nicht, was mein Stil sein soll. Ich habe immer Gibt es erkennbare Zäsuren oder Entwicklungs- ventionen und Gesänge» (1996), «Vier Sonette» die Musik geschrieben, die ich in mir höre. Und ich stufen in Ihrer kompositorischen Entwicklung? (1997), «Kammerkonzert für Klarinette und 14 habe mir immer diejenige Technik ausgewählt, von Am ehesten wohl Mitte der 1960er-Jahre. Da- Instrumente». Dazu Haydn, Madrigale des 16. der ich glaubte, ich könne meine inneren Vorstel- mals gab es wie einen Schub, meine Sprache hat Jahrhunderts und Neidhöfers «Zeitbogen» für lungen auf die bestmögliche und präziseste Weise sich erweitert. Die Klanglichkeit wurde reicher und Ensemble (1998). Hilliard-Ensemble, Ensemble realisieren. Eben dafür eignete ich mir ja ein mög- dichter, und was vorher eher kontrapunktische Phoenix u.a., Ltg. Jürg Henneberger. lichst breites Können und ein vertieftes Metier an, Stimmen waren, entwickelte sich zu einem Kom- damit die Frage der Technik immer mehr an Bedeu- ponieren in Klangschichten. Plötzlich spielten Akademie sehr viel Geld dafür gesammelt. Und ich tung verlor. Klangfelder eine viel grössere Rolle. Ich habe nie ei- habe mir geschworen, dass ich mit dieser tollen In- nen eigentlichen Bruch erlebt, eher ein kontinuier- frastruktur einmal etwas mache. Sie haben eine internationale Komponistenlauf- liches Dazukommen. bahn hinter sich. Wie wurden Sie als Schweizer Der Umgang mit der Elektronik ist ja auch eine im Ausland wahrgenommen? Bei vielen Komponisten stellt sich mit dem Älter- Generationenfrage und setzt ein technisches Know- Es spielt keine Rolle, ob man Schweizer ist. Ich werden auch eine gewisse Altersweisheit ein, die how voraus. Das war für Sie kein Problem? war längere Zeit in Deutschland und war insgesamt Musik wird schlichter, das Material wird auf ein Es gibt jetzt neuerdings einen Beruf, den man elf Jahre an Deutschen Hochschulen tätig. Und vie- Minimum beschränkt. Wie ist das bei Ihnen? in Basel an der Akademie lernen kann, den sog. le meiner Stücke sind in Deutschland uraufgeführt Bei mir wird alles immer reicher, komplexer und Audio-Designer. Das ist eine fantastische Sache. So worden. Sie meinen wahrscheinlich, der Prophet differenzierter. Gerade in den letzten zehn Jahren wie ein Pianist lernt, Klavier zu spielen, so lernen gilt nichts im eigenen Land. Da möchte ich nicht in haben sich für mich eine Menge neuer Fenster die Audio-Designer zu realisieren, was der Kompo- den allgemeinen Klagechor einstimmen. Es mag ei- geöffnet: neue Spielarten auf den Instrumenten, nist an elektronischen Klängen will. Ich komme ne Rolle spielen, dass man im Ausland eine gewis- und ein besonders wichtiger Schritt war für mich auch bei der Elektronik mit ganz konkreten musi- se Anerkennung findet, was sich sicher positiv auf die Elektronik. kalischen Vorstellungen. Anfänglich musste ich die Rezeption in der Schweiz auswirkt. natürlich etwas ausprobieren. Ich habe zum Bei- Nehmen wir zum Beispiel Ihr Stück «Namenlos» spiel von einer Kontrabass-Klarinette einen Ober- Wenn Sie Ihre frühen Jahre als Komponist mit aus dem Jahre 1995/96, in welches Sie die Elek- tonausschnitt rausgefiltert. Diesen habe ich in der heutigen Generation vergleichen, was hat tronik einbeziehen. Was hat Sie zur Elektronik Terzabständen transponiert, um damit einen sich hautpsächlich geändert? geführt? Mischklang zu erzeugen. Ich wollte wissen, ob das Für mich war es seinerzeit leichter, von einem Ich habe früher nur ein einziges Stück mit Elek- klappt mit diesen Terzverwandtschaften. Und der grossen Orchester wie zum Beispiel der Tonhalle tronik gemacht, die 3. Sinfonie. Das wurde noch gute Audio-Designer war entsetzt, weil er glaubte, Zürich aufgeführt zu werden. Das ist den Jungen unter unglaublich primitiven Verhältnissen reali- ich mache jetzt so ein Kitschstück. Aber ich wollte heute verwehrt. Wir hatten aber so gut wie keine Auf- siert, aber von der Struktur her war das schon ziem- ja nur meine Vorstellungen überprüfen und ob das träge. Heute ist das ganz anders, es gibt Werkjahre lich raffiniert. Ich wollte nun einfach das Elektro- elektronisch funktioniert. Daraus habe ich dann für und viele Ensembles, die auf Neue Musik spezialisiert nische Studio an der Musikakademie Basel einmal ‹Namenlos› eine sehr raffinierte elektronische sind und Aufträge erteilen. Zu meiner Zeit gab es das selber nutzen. Ich habe damals als Direktor der Schicht komponiert.

Wofür brauchen Sie dann den Audio-Designer? Rudolf Kelterborn – Biographische Notizen Ich kann jetzt Wolfgang Heiniger, der übrigens ein fantastischer Musiker und Audio-Designer ist, S.E. Rudolf Kelterborn zählt zu den wenigen Von 1974 bis 1980 war Kelterborn zudem Leiter um konkrete Hilfe bitten. Ich kann sagen, ich hätte Schweizer Komponisten, die sich weit über die der Abteilung Musik von Radio DRS und von gerne von diesem Klang einen beweglichen Filter, Landesgrenzen hinaus einen Namen gemacht ha- 1969 bis 1975 Chefredaktor der «Schweizerischen so dass sich dieser Klang immer ändert. Das kann ben. Bereits die Werke des jungen Kelterborn Musikzeitung». Drüber hinaus entfaltete er eine fanden internationale Beachtung und wurden rege Tätigkeit als Gastdirigent (vor allem eigener er dann am Computer umsetzen. Wenn ich das sel- mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter Werke) und schuf sich als Autor von musiktheo- ber machen müsste, müsste ich drei Jahre Elektro- mit dem Förderungspreis der Stadt Stuttgart retischen und analytischen Schriften einen Na- nik studieren. So ist es heute möglich, dass man (1961), dem Bernhard-Sprengel-Preis (1962), dem men (Gastvorlesungen in den USA, und zwar mit Elektronik komponiert, selber aber nicht C.F. Meyer-Preis (1970), dem Komponistenpreis ). den Aufwand betreiben muss, um das auch umset- des Schweizerischen Tonkünstlervereins und dem Die Musik Kelterborns ist geprägt von einer zen zu können. Das ist grossartig und sehr hilfreich. Kunstpreis der Stadt Basel (beide 1984). strukturellen und klanglichen Phantasie, die In seiner Geburtsstadt Basel studierte Kelterborn sich gleichermassen in lyrischer Verhaltenheit Wenn Sie Ihre Musik aufführen, programmieren Theorie, Komposition und Dirigieren. Danach und dramatischer Expressivität äussert. Emotio- Sie sie gerne in einem sinnvollen Beziehungsnetz. führten ihn weitere Studien nach Zürich, nale Vielgestaltigkeit und Direktheit, aber auch Man spürt eine Lust, gute Programme zu gestalten. Deutschland und nach Oesterreich, wo er sich bei kompositorisch-konstruktive Distanziertheit ge- Ich habe ja sechs Jahre lang als Abteilungsleiter , Günter Bialas, Wolfgang Fortner hen miteinander einher. Eine grosse Affinität beim Rundfunk gearbeitet. Da sind Sie täglich mit und Boris Blacher fortbildete. Einen ähnlichen hat Kelterborn zur Sprache und zur menschli- der Programmierungsfrage konfrontiert. Sie ma- Weg beschrieb Kelterborn auch während seiner chen Stimme. Von seinem Hang zur stimmungs- chen zwar die Programme nicht selber, aber Sie ha- langjährigen Tätigkeit als Lehrer für Musiktheo- vollen lyrischen Verdichtung und Überhöhung ben die Möglichkeit, mit den Kollegen zusammen rie, Analyse und Komposition: Von der Basler zeugen seine vielgestaltigen und zahlreichen Musik-Akademie (1955-60) an die Musik-Akade- Lieder und Vokalwerke. Und mit seinen Opern Ideen zu entwickeln. Das reizt mich in der Tat, aber mie Detmold (1960-68), danach an die Musik- «Ein Engel kommt nach Babylon» (1975/76), nicht nur, was die eigene Musik angeht, sondern hochschule Zürich (1968–75, 1980–83) und «Der Kirschgarten» (1979–81), «Julia» (1989/90) generell. schliesslich an die Staatliche Hochschule für Mu- u.a. wurde der ausgeprochene Dramatiker Kel- sik in Karlsruhe (1980–83). Ab 1983 amtierte er terborn zu einem der wichtigsten Opernkompo- Worauf achten Sie konkret beim Programmieren? bis 1994 als Direktor der Musik-Akademie Basel. nisten der Schweiz. Ich gehe einfach davon aus, was ich als Kon- zertbesucher am liebsten höre. Ich schätze vor al- Nr.9 September 2001 5 Schweizer Musikzeitung

lem gemischte Programme – es gibt selbstver- ständlich Ausnahmen. Ich finde es sehr interessant, ein neues Stück zu hören, das ich vielleicht schon kenne – es muss ja nicht immer Unbekanntes sein – und das in der Begegnung mit einem historischen Stück eine neue Ausleuchtung bekommt. Man hört ein neues Stück anders, wenn ein altes vorher oder nachher kommt, als wenn es isoliert dasteht. Das Geburtstagskonzert für mich, das jetzt im Oktober in Basel kommt, das ist so ein Beispiel. Da habe ich auch eigene Sachen mit alten kombiniert.

Mit welchen ‹historischen› Komponisten pro- grammieren Sie Ihre Musik am liebsten? Das kommt sehr auf das Stück drauf an. Haydn und Mozart sicher und einige Stücke von Wagner, Mahler und Schumann. Ich suche aber auch nach Analogien und Kontrasten in der Neuen Musik, be- ziehe gerne auch mal ein Stück eines Schülers von mir mit ein.

Ihre Musik hat etwas Klangsinnliches und weist eine leidenschaftliche Expressivität auf. Sie be- ruht aber gleichzeitig auf einer sehr komplexen strukturellen Vernetzung. Wie finden Sie zu Ihrem Ausdruck? Komponieren ist immer ein Denkvorgang. Die Struktur kann man ja selten gehörsmässig nach- vollziehen, sie ist aber wahrnehmbar als eine Art innere Logik. Ich hoffe natürlich, dass meine Musik die Zuhörer berührt, bewegt, vielleicht auch einmal erschreckt. Ich habe einmal an einer japanischen Universität über meine Musik einen Vortrag gehal- ten und gesagt, dass meine Musik von der Span- nung lebt zwischen der Schönheit dieser Welt, den Möglichkeiten des Lebens und den Nöten und Schrecklichkeiten unserer Zeit. Danach kam ein Student zu mir und sagte, das mit den Schrecklich- keiten, das könne er in meiner Musik gut nachvoll- ziehen, nur das mit der Schönheit nicht (lacht). Ich empfinde meine Musik sehr oft als schön.

Was bedeutet für Sie Schönheit? Das ist etwas, was einen zum Staunen bringt, das eine seelische Reaktion der Emphase, der Begeiste- rung auslösen kann. Das vermag aber nur eine Mu- sik, die ganz streng konstruiert ist. Schönheit hat auch mit einer insgesamt eher positiven Lebens- haltung zu tun. Das gehört aber untrennbar mit der Rudolf Kelterborn: «Namenlos», sechs Kompositionen für grosses Ensemble und elektronische Klänge Angst, der Not und dem Leiden zusammen. Die Mu- (1995-96) Formplan (Paul Sacher Stiftung, Basel, Sammlung Rudolf Kelterborn) sik ist für mich die Fülle des Lebens. sitzt im Orchester, und plötzlich steht dieser Mensch setze, die gesprochen, geschrien und gesungen wer- Vokalität spielt in Ihrem Werk eine grosse Rolle. auf, den man bisher gar nicht beachtet hat, und fängt den. Neueren Datums ist die Goethe-Musik, für die Sie haben zahlreiche Lieder und Opern geschrie- an zu singen. Und das ganze Stück ist auf diesen ich Texte von Goethe, von seiner Frau Christiane ben. Welche Bedeutung hat für Sie die menschli- Schluss und auf diesen Petrarca-Text hin angelegt. Vulpius und von der Mutter Goethes verwendet ha- che Stimme? be. Auch hier ist ‹Gretchen am Spinnrad› ein reines Die menschliche Stimme bringt immer eine be- Und bei Ihren ‹Ensemble-Büchern›? Instrumentalstück, und in ‹Über allen Wipfeln ist sondere Dimension in die Musik. Als junger Kom- Das erste ‹Ensemble-Buch› habe ich auf Texte von Ruh› werden nur die Vokale gesungen. ponist ging ich noch ganz naiv ans Werk, und glück- Erika Burkart geschrieben. Einige Stücke sind nur in- licherweise konnte ich mir von dieser Naivität bis strumental, aber sie beziehen sich auf einen Text. Ich Welche Textqualitäten sind es, die Sie zum Verto- heute etwas bewahren. Mein Umgang mit der Stim- kenne die Dichterin persönlich sehr gut, wir haben nen inspirieren? me hat sich im Laufe der Zeit differenziert und ver- auch einen ausgedehnten Briefwechsel miteinander Meistens habe ich ein Stück schon sehr weit ent- feinert. Wenn ich nicht einfach ein vokales Stück gehabt und sie hat mir sogar ein Gedicht gewidmet. wickelt, und erst dann suche ich den passenden schreibe, kommt diese Dimension besonders zum Vielleicht komme ich demnächst wieder auf einen Text dazu. Die Texte sprechen mich emotional an, Tragen. Zum Beispiel im Orchesterstück «Namenlos». Text von ihr zurück. Oder das zweite ‹Ensemble- sie müssen in mir etwas auslösen. Und ich gehe ja Die sechs Teile dauern eine halbe Stunde, und erst in Buch› über Georg Trakl, da gibt es Stellen, wo die mit meinen musikalischen Vorstellungen auf die den letzten zwei Minuten kommt ein Solobariton Singstimme nur vokale Übungen mimt oder wo ich vor. Eigentlich ist das Stück zu Ende. Der Bariton aus den Texten neue Wortschöpfungen zusammen- Fortsetzung auf Seite 8 Revue Musicale Suisse 8 No9 Septembre 2001

tions dans le domaine de la musique? Comment De son côté, Christine Rottiers a débusqué chez La suite de ces journées est d'ores et déjà prévue en tenir compte dans l'enseignement musical? de nombreux élèves des représentations négatives pour 2002, toujours sur le thème des représenta- Elda Meyer, animatrice de musique dans l'ensei- (et des échecs) en solfège et en écoute musicale. tions, des enseignants cette fois. Bernadette gnement primaire du canton de Vaud, et Christine Ces constats l'ont alors incitée à construire avec Charlier, professeure aux Facultés universitaires Rottiers, formatrice d'enseignants dans différentes une équipe d'enseignants un enseignement expé- Notre-Dame de la Paix à Namur, en a donné un académies de musique de Bruxelles, ont apporté rimental basé sur la mémorisation de chansons avant-goût en guise de conclusion. Les enseignants leur témoignage d'enseignantes de musique, et ont connues des élèves. Elle a observé que le travail eux aussi se font des représentations de l'objet qu'il donc contribué à répondre à ces questions. entrepris conduit à l'acquisition de compétences — enseignent, de leur métier, des élèves et de leurs «Qu'est-ce que la musique pour toi?» demande parfois même inattendues — dans les domaines apprentissages, de l'école, etc. Reste à savoir ce Elda Meyer à des élèves de sept à treize ans (voir problématiques du solfège et de l'écoute. Les dis- qu'elles sont, comment elles se transforment, dans son article dans ce même numéro). Les réponses cussions menées lors de ces journées ont ainsi le domaine musical en particulier. On ne peut que sont diverses, sensibles, exprimant avant tout souligné les parentés entre les disciplines d'ensei- se réjouir de ce qui s'annonce, au vu de la réussite une relation affective à la musique. En revanche, gnement. Les représentations des élèves doivent des journées d'avril 2001, dont F. Regnard a été la cette même question revêt une signification être appréhendées dans toutes leurs dimensions principale instigatrice, parfaitement secondée par quelque peu différente chez les enseignants in- (cognitive, affective, sociale) par les systèmes de un groupe de chercheurs pour la partie scientifique terrogés qui, de leur côté, mettent en évidence le formation. Comme d'autres activités humaines, la et par ses collaborateurs du CEFEDEM pour la par- rôle formateur que la musique joue pour eux. Ces musique est avant tout une activité sociale, prati- tie administrative. Une publication relative à ces représentations influencent le travail de l'anima- quée avec d'autres. Il est important dès lors de pla- journées est prévue. — A noter: la parution cet au- trice qu'est Elda Meyer et la conduisent à centrer cer les élèves dans des situations complexes d'ap- tomne, chez l'Harmattan, d'un ouvrage édité par son approche sur le développement d'un savoir prentissage qui leur offrent la possibilité de Martine Wirthner et Madeleine Zulauf, A la re- faire musical chez les élèves, et sur la découverte s'approprier des savoir-faire et de transformer leurs cherche du développement musical, dans le droit fil de la valeur artistique de la musique. représentations au fil de leurs apprentissages. des journées de Neuchâtel.

Fortsetzung von Seite 5 und Lernfreiheit. Das war zwar ganz lustig, aber wecken und bis zu einem gewissen Grad auch be- auch furchtbar chaotisch. friedigen. Sie sollten auch nicht fixierte Vorstellun- Suche und spüre sofort, dass dieser Text einfach gen haben. Auf der anderen Seite habe ich mich ge- ‹stimmt›. Bei der Goethe-Musik war das umgekehrt, Wenn Sie eine Hochschul-Utopie entwerfen rade in den letzten Jahren in Basel vehement gegen weil der Auftrag ja von einem Goethe-Institut kam. müssten, wie würde diese aussehen? die grassierende Intellekt- und Kopffeindlichkeit Es gibt diese Szene im Faust I ‹Die Trödelhexe›. Hier Das kann ich Ihnen so nicht sagen. Das schreib gestellt. Es ist verheerend, wenn man alles, was mit geht es um Dolche, Giftbecher, einfach um alles, mit ich vielleicht einmal noch auf, aber das wäre sicher Denken zu tun hat, als anti-kreativ bezeichnet. Und dem gemordet wird. Das ist ein ganz böser Text. abendfüllend. Aber ich finde nach wie vor, dass ge- wenn ich Musik sinnvoll analysiere, also nicht for- Wenn ich also noch keine konkrete musikalische rade Basel eine sehr schöne und gute Hochschule malistisch, sondern eben dem Sinn entsprechend, Vorstellung habe, dann suche ich die Texte nach ei- ist. Und auch für Zürich, das sich jetzt in einem dann wird ja das Staunen über die grossen Musik- ner gewissen Dramaturgie aus: Gegensatz oder Ein- grossen Wandel befindet, habe ich ein sehr gutes werke immer noch tiefer und grösser. Ich habe einige heit. Mich haben diese Gräuelvorstellungen, die Gefühl. Es gibt eine Öffnung, es wird viel mehr an- sehr begabte Studentinnen und Studenten gehabt, von Goethe eher lustig geschildert werden, gefan- geboten, die Studenten werden stark motiviert. und die habe ich immer ermuntert, in sich hinein- gen genommen. In einer Biografie über Christiane Was war für Sie als Pädagoge Ihr wichtigstes Ziel? zuhören, dass sie zuerst wirklich wahrnehmen, was habe ich dann einen Brief von der Mutter an Goethe Ich wollte immer die Neugierde der jungen Leute in ihnen klingt, und das dann umsetzen. gefunden, wo drin steht, dass Goethe als Geschenk für seinen vierjährigen Sohn August eine Spiel- zeug-Guillotine bestellt hatte. Und da hat die alte Die neuste CD von Rudolf Kelterborn Frau Goethe ihren Sohn richtiggehend zusammen- geschissen! Diesen Brief habe ich in dieser ‹Trödel- Cellokonzert – Namenlos – Kammerkonzert. Das zentrale Werk dieser CD ist das sechsteilige «Na- hexen-Szene› ebenfalls verwendet. Musikszene Schweiz MGB CD 6182 menlos», für welches sich Kelterborn erstmals seit über Sie sind alle in den letzten fünf Jahren entstanden: zwanzig Jahren wieder mit Elektronik beschäftigt hat. Wie arbeiten Sie einen Text nachträglich in Ihre das Konzert in einem Satz für Cello und Orchester Gleich am Anfang werden die beiden Welten exponiert: Musik ein? 1998/99, «Namenlos», 6 Kompositionen für grosses Exaltiert heftig beginnt das Stück, «violente» in den tie- Die Singstimme ist meistens skizziert in einer Li- Ensemble und elektronische Klänge 1995/96, und das fen Streichern, «ekstatisch» die hohen Bläser, «atemlos nie vorhanden. Sie wird dann natürlich dem Wort Kammerkonzert für Klarinette und 14 Instrumente hektisch» das Schlagzeug – und nach der kurzen Gene- angepasst. Und von der Bedeutung her ist der Text 1999. Der Vergleich dieser drei neueren Werke zeigt ralpause eine betonartige, aber im Innern belebte Wand dann wie ein Kommentar zu meiner Musik. einmal mehr Kelterborns souveräne formale Disposi- aus elektronischen Klängen. Das Sinfonieorchester Ba- tion, die ganz aus der Expressivität heraus abgeleitet sel sorgt unter der Leitung von Howard Griffiths für ei- Ich möchte noch über Ihre breitgefächerte päda- zu sein scheint (s. Formplan auf S. 5). Da ist das einsät- ne präzise und spannungsgeladene Interpretation. gogische Arbeit sprechen. Sie haben an der Hoch- zige, im Solopart emotional direkt ansprechende und Doch die Elektronik bleibt nicht der Widerpart des schule in Zürich und an der Musik-Akademie kantilenenhafte Cellokonzert mit dem musikalisch en- Orchesters. Sie erweitert vielmehr den raffinierten Or- Basel gelehrt, aber auch in Detmold und Karls- gagierten Ivan Monighetti, dessen Ausdrucksbereich chesterklang, verlängert ihn in eine neue, fast un- ruhe. Wie würde Ihr Vergleich des deutschen mit sich in der subtilen kammermusikalischen Vernetzung heimliche Raumdimension. Und die live-elektroni- dem schweizerischen Hochschulwesen ausfallen? weitet. Oder dann die beiden Welten im zweisätzigen sche Verfremdung mit Ringmodulation überhöht die Detmold war eine spezielle Hochschule, die et- Kammerkonzert mit einem sehr virtuosen und trocken konkrete und emotional aufgeladene musikalische was sehr Elitäres hatte. Sie war vergleichbar mit ei- staccatierten «Agitato» und einem sonoren, in die my- Sprache Kelterborns noch. Hinter dieser raffinierten nem englischen Internat, und es lehrten hervorra- steriöse Weite verweisenden «Grave». Dieses Stück ist Verflechtung von realen und elektronischen Klängen gende Leute dort. Sie war auch nicht besonders dem Klarinettisten Matthias Müller gewidmet, der die steckt eine ausgeklügelte Dramaturgie, die das hören- gross. Und das ist vielleicht auch ein Vorteil der virtuose Vernetzung mit den Musikern des Ensembles de Mitgehen spannend macht bis zum offenen Schluss Schweizer Hochschulen, dass sie nicht so gross Collegium Novum Zürich unter Jürg Wyttenbach präzi- mit dem ergreifenden Bariton-Solo von Kurt Widmer, sind. Das Verrückteste, was ich erlebt habe, war se und dynamisch vielschichtig auszuloten vermag. Die «molto tranquillo» und «sotto voce» ... Karlsruhe. Dort herrschte damals absolute Lehr- Live-Aufnahme aller drei Werke ist hautnah spürbar. Sibylle Ehrismann