Was ist los mit ? © 2016 Cosmics Verlag, Neu Isenburg © 2016 Ilan Pappe Schutzumschlag: Johannes Wolfesberger Lektorat: Dr. Ludwig Watzal ISBN: 978-3-9817922-6-3 www.Cosmics-Verlag.de ILAN PAPPE

WAS IST LOS MIT ISRAEL?

Die zehn Hauptmythen des Zionismus

Aus dem Englischen übersetzt von Michael M. Schiffmann

Cosmics Verlag

Inhalt

Vorwort 7

Kapitel 1: Palästina war ein menschenleeres Land 9 Kapitel 2: Die Juden waren ein Volk ohne Land 14 Kapitel 3: Zionismus und Judentum sind dasselbe 25 Kapitel 4: Zionismus und Kolonialismus sind zweierlei 40 Kapitel 5: Die Palästinenser verließen ihre Heimat 1948 freiwillig 50 Kapitel 6: Im Junikrieg von 1967 hatte Israel „keine Wahl“ 67 Kapitel 7: Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten 85 Kapitel 8: Die Mythen um Oslo 103 Kapitel 9: Die Gaza-Mythologien 124 Kapitel 10: Die Zweistaatenlösung ist nur eine Frage der Zeit 154

Vorwort

Jeder Versuch zur Lösung eines Konflikts muss sich zu allererst mit des- sen Kern auseinandersetzen und dieser Kern findet sich meistens in sei- ner Geschichte. Eine verfälschte oder manipulierte Geschichte erklärt oft gut, warum ein Konflikt nicht beendet wurde, während eine wahrhaftige, umfassende Betrachtung der Vergangenheit zu einem dauerhaften Frie- den und einer bleibenden Lösung beitragen kann. Wie die Untersuchung des Falls Israel/Palästina zeigt, kann eine falsch verstandene Geschichte der jüngeren oder ferneren Vergangenheit sogar noch direkteren Schaden an- richten: Sie kann die Unterdrückung, Kolonisierung und Besatzung von heute rechtfertigen. Es überrascht nicht, dass in solchen Fällen auch die Gegenwart verfälscht wird, ist sie doch Teil der Geschichte, deren Ver- gangenheit bereits entstellt wurde. Diese Täuschungen über Vergangen- heit und Gegenwart verhindern das Verständnis des fraglichen Konfliktes, erlauben eine Manipulation der Fakten und richten sich gegen die Interes- sen all jener, die Opfer des Konfliktes sind. Die Tatsache, dass die israelische und zionistische Version der Geschich- te des umstrittenen Landes in Deutschland weitgehend akzeptiert wird, ba- siert auf einer ganzen Ansammlung von Mythen, die alle darin münden, das moralische Recht und das ethische Verhalten der Palästinenser ins Zwielicht zu rücken, was allerdings jede Chance auf einen zukünftigen gerechten Frie- den enorm verringert. Dass dies funktioniert, liegt daran, dass diese Mythen von den Mainstreammedien und politischen Eliten in Deutschland – wie im Westen überhaupt – als die Wahrheit akzeptiert werden. Damit dienen sie dann der Rechtfertigung des israelischen Handelns, aber noch viel mehr der Weigerung Deutschlands, sich auf sinnvolle Art in diesem Konflikt zu enga- gieren. Und sie erlauben der deutschen Regierung außerdem, das israelische Militär ohne große moralische Skrupel mit immer neuen Waffen und sonsti- gem Zubehör aufzurüsten. Das vorliegende Buch zerlegt seine im Titel gestellte Frage – Was ist los mit Israel? – in die Untersuchung einer Reihe grundsätzlicher Annahmen, die unter anderem in der deutschen Öffentlichkeit weit verbreitet sind. Diese Annahmen stellen in meinen Augen Mythen dar, die durch einen gründlichen Blick auf die Realität widerlegt werden können. Diese Ge- genüberstellung weithin akzeptierter Mythen und der historischen Reali-

7 tät vor Ort bildet den roten Fadendieses Buches. Jedes der Kapitel des Bu- ches behandelt eine dieser Annahmen und untersucht, inwieweit sie der Forschung und der historischen Wahrheit standhalten. Es ist meine Hoffnung, damit zur Aufklärung des vorherrschenden, grundlegend falschen Verständnisses der vergangenen und gegenwärtigen Probleme in Israel und Palästina beizutragen. Solange diese Annahmen nicht in Frage gestellt wurden, übernahmen sie die Funktion eines Schutz- schildes, hinter dem im Lande Palästina straflos eine unmenschliche Po- litik praktiziert werden konnte. Eine Untersuchung dieser Annahmen im Lichte neuerer und neuester Forschungen zeigt, wie weit sie von der histo- rischen Wahrheit entfernt sind – und dass und warum die Richtigstellung der geschichtlichen Tatsachen einen Einfluss auf die zukünftigen Chancen für Frieden und Versöhnung in Israel und Palästina haben kann.

8 Teil Eins: Die Täuschungen der Vergangenheit

Kapitel 1: Palästina war ein menschenleeres Land

eginnen wir mit einem Zitat der offiziellen Website des israelischen BAußenministeriums zur Geschichte Palästinas zwischen dem Jahr 1.500 und heute:

Nach der osmanischen Eroberung 1517 wurde das Land in vier Be- zirke aufgeteilt, die der Provinz Damaskus zugeschlagen und von Istanbul aus regiert wurden. Zu Beginn der osmanischen Ära lebten dort etwa 1.000 jüdische Familien, hauptsächlich in Jerusalem, Nab- lus (Schechem), Hebron, Gaza, Safet (Tzfad) und den Dörfern Gali- läas. Die Gemeinde bestand aus Nachkommen der Juden, die immer im Land gelebt hatten, und aus Einwanderern aus Nordafrika und Europa. Bis zum Tod Sultan Suleimans des Prächtigen (1566) sorg- te ein geordnetes Staatswesen für verbesserte Bedingungen für eine jüdische Einwanderung. Einige der Neuankömmlinge siedelten sich in Jerusalem an, aber die Mehrheit ging nach Safed. Dort war die jü- dische Bevölkerung bis Ende des 16. Jahrhunderts auf etwa 10.000 angestiegen, und die Stadt hatte sich in ein blühendes Zentrum der Textilindustrie verwandelt.1

Diese Darstellung erweckt den Anschein, als sei Palästina im 16. Jahrhun- dert in erster Linie jüdisch gewesen und sein Leben habe sich in städti- schen jüdischen Gemeinden konzentriert. Was geschah in den Jahrhun- derten danach? Lesen wir weiter:

Der allmähliche Niedergang der osmanischen Herrschaft führte dazu, dass das Land immer mehr vernachlässigt wurde. Ende des 18. Jahrhunderts gehörte ein Großteil des Landes abwesenden Grund- herren und wurde von verarmten Pachtbauern bestellt, deren Be- steuerung ebenso drückend wie willkürlich war. Die großen Wälder

1 Offizielle Website des israelischen Außenministeriums (Englisch): www.mfa.gov. il/MFA/facts+About+Israel/.../History-+Foreign+Domination.htm.

9 Galiläas und des Carmel-Gebirges hatten kaum noch Baumbestand, während sich auf dem Agrarland Sümpfe und Wüsten ausbreiteten.2

In diesem Bild ist Palästina vor der Ankunft des Zionismus nur eine Wüs- te, in der Bauern, die dort eigentlich nichts zu suchen haben, Land bestel- len, das ihnen gar nicht gehört. Palästina war offenbar eine Art Insel, die von den Osmanen von außen regiert wurde, eine beträchtliche jüdische Bevölkerung hatte und unter intensiven osmanischen Abholzungsprojek- ten litt. Mit jedem Jahr wurde es unfruchtbarer und glich mehr einer Wüs- te. Ein derartig erfundenes Bild dürfte für den offiziellen Internetauftritt eines modernen Landes wohl beispiellos sein. Besonders bemerkenswert daran finde ich, dass die Autoren dieser Passage sich für diese historische Darstellung durchaus nicht auf die israelische Geschichtswissenschaft stüt- zen konnten. Kaum ein israelischer Wissenschaftler würde die Gültigkeit dieser Beschreibung akzeptieren oder die Darstellung auf der Website in dieser Form bestätigen. Und nicht wenige israelische Historiker haben im Lauf der Jahre erfolgreich die Fehler dieser Geschichtsversion aufgezeigt. Ihre Forschung hat demonstriert, dass Palästina im Lauf vieler Jahrhunder- te eine sich immer weiter entwickelnde, blühende arabische – und größ- tenteils muslimische – Gesellschaft war, die ländlich geprägt war, aber ein sehr lebendiges städtisches Zentrum besaß. Umso bemerkenswerter ist es, dass sowohl das israelische Schulkurri- kulum als auch die israelischen Medien – ebenso wie einige prominen- te Wissenschaftler – diesen Mythos weiter propagieren. Außerhalb Israels ist diese These einer leeren, unfruchtbaren Wüste, die vor der Ankunft des Zionismus in Palästina geherrscht habe, in Ländern wie Deutschland im- mer noch sehr populär, weshalb es sich lohnt, näher auf sie einzugehen. Tatsächlich war Palästina eine Gesellschaft wie alle anderen benachbar- ten arabischen Gesellschaften und unterschied sich nicht von den restli- chen Ländern des östlichen Mittelmeers, die stärker als andere in Kontakt mit anderen Kulturen standen und daher rasch einen modernen und na- tionalen Charakter annahmen. Sie befanden sich alle unter osmanischer Herrschaft und waren Teil des Reiches. Aufgrund der Aktivitäten energi- scher lokaler Regenten wie Daher al-Umar (1690-1775), der die Städte Haifa, Shefamru Tiberias und Akko erneuerte und sie mit neuem Leben

2 Ibid.

10 erfüllte, hatte Palästina schon lange vor der Ankunft der zionistischen Be- wegung begonnen, sich zu entwickeln und zu verändern. Den Küstenre- gionen ging es aufgrund ihrer Handelsbeziehungen mit Europa sehr gut, während die Ebenen im Inneren in regem Austausch mit dem benachbar- ten Hinterland standen. Palästina war alles andere als ein Sumpf, sondern ein blühender Teil des Bilad al-Sham (des Landes im Norden), das heißt, der Levante dieser Zeit.3 Dieses Land stellte vor der Ankunft der Zionisten mit einer ertragrei- chen Landwirtschaft, kleinen Ortschaften und historischen Städten für eine Bevölkerung von einer halben Million Menschen die Heimat dar. Für das ausgehende 19. Jahrhunderts war die Zahl der Einwohner dort groß, wenn nicht sogar beträchtlich. Sie bestand vorwiegend aus sunnitischen Muslimen, einer nicht unerheblichen christlichen Gemeinde und einem sehr kleinen jüdischen Bevölkerungsanteil von weniger als zehn Prozent, der die von der zionistischen Bewegung verbreiteten Ideen größtenteils ab- lehnte. Der überwiegende Teil der Bevölkerung lebte in Dörfern, von de- nen es etwa tausend gab, aber an der Küste, auf den Ebenen abseits des Mittelmeers und in den Bergen gab es auch eine erfolgreiche städtische Elite. Damals bezeichnete „Palästina“ in erster Linie eine geografische und kulturelle und keine politische Einheit. Aber wo dieses Land sich befand, war den Menschen dort sehr klar, und so kam es, dass man schon Anfang des 20. Jahrhunderts eine Zeitung namens „Filastin“ abonnieren konn- te, deren Name schlicht das Wort war, das die Menschen zur Bezeichnung ihres Landes gebrauchten.4 Sie sprachen ihren eigenen Dialekt, sie hatten ihre eigenen Bräuche und Rituale und wurden auf Landkarten der Welt als Bewohner eines Landes namens Palästina bezeichnet. Im 19. Jahrhunderts wurde Palästina ebenso wie die Nachbargebiete aufgrund von durch Istanbul initiierten Verwaltungsreformen zu einer kla- rer umrissenen geopolitischen Einheit. Wie in anderen Ländern der Re- gion begann die dortige Elite, sich Gedanken über Nationalismus und Selbstbestimmung zu machen. Ursprünglich war die Idee, Selbstbestim-

3 Für eine sehr genaue Untersuchung solcher Handelsbeziehungen siehe Beshara Doumani, Rediscovering Palestine: Merchants and Peasants in Jabal Nablus, 1700- 1900, Berkeley 1995. 4 Weitere Informationen zu dieser Zeitung und ihrer Rolle in der palästinensischen Nationalbewegung finden sich in Rashid Khalidis Buch: Rashid Khalidi, Palesti- nian Identity: the Construction of Modern National Consciousness, New York 2010.

11 mung und Unabhängigkeit in einem vereinten Syrien oder sogar (nach dem Muster der Vereinigten Staaten) einer vereinten arabischen Welt an- zustreben. Dieser panarabische nationale Ansatz heißt auf Arabisch Qaw- miyya und war in Palästina und im Rest der arabischen Welt populär, so- lange die Hoffnung auf eine vereinte arabische Republik oder auch nur auf ein vereintes Großsyrien bestand. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs, vor allem aber nach dem Krieg, als die Region durch die kolonialen Besat- zungsmächte England und Frankreich aufgeteilt wurde, entwickelte sich eine neue Haltung, nämlich eine eher lokal orientierte Art von Nationa- lismus. In ihrem berühmten, oder besser gesagt, berüchtigten Sykes-Pi- cot-Abkommen von 1916 teilten die beiden Kolonialmächte Großbritan- nien und Frankreich das Gebiet in neue Nationalstaaten auf, und in diesen neuen Staaten, zu denen auch Palästina gehörte, entwickelte sich ein Na- tionalismus mit stärkerem lokalem Bezug, der im Arabischen als Watniyya bezeichnet wird. Unabhängig von diesen Facetten hätte sich Palästina ge- nau wie Jordanien und Syrien ohne den Zionismus zu einem unabhängi- gen arabischen Staat entwickelt.5 Ohne das Auftauchen des Zionismus hätte Palästina wahrscheinlich denselben Weg eingeschlagen wie der Libanon, Jordanien oder Syrien und denselben Modernisierungs- und Wachstumsprozess erlebt wie diese Länder. Gerade aufgrund der osmanischen Politik Ende des 19. Jahrhun- derts hätte das Land zu einem klar definierten politischen Raum werden können. In den 1870er Jahren schuf die osmanische Regierung durch die Gründung des Sandschaks (d.h. der Verwaltungsprovinz) Jerusalem 1872 zum ersten Mal einen zusammenhängenden geopolitischen Raum in Pa- lästina. Einen kurzen Augenblick lang spielten die herrschenden Mächte in Istanbul mit der Möglichkeit, dem Sandschak, der einen Großteil des heutigen Palästina umfasste, die Unterprovinzen Nablus und Akko hinzu- zufügen. Wäre dies geschehen, hätten sie damit eine geografische Einheit geschaffen, in der, genau wie es in Ägypten geschah, auch damals schon ein eigenständiger Nationalismus hätte entstehen können.6

5 Diese alternative Möglichkeit einer Modernisierung Palästinas wird brillant in einer Artikelsammlung Salim Tamaris diskutiert: The Mountain against the Sea: Essays on Palestinian Society and Culture, Berkley 2008. 6 Siehe Butrus Abu-Manneh, „The Rise of the Sanjaq of Jerusalem in the Nine- teenth Century“, in: Ilan Pappé (Hg.), The Israel/Palestine Question, London/ New York 2007, S. 40-50.

12 Doch trotz seiner administrativen Teilung in einen von Beirut aus re- gierten Norden und einen von Jerusalem aus regierten Süden wurde Pa- lästina als Ganzes 1872 aus seinem vorherigen peripheren Status, in dem es in kleine regionale Unterprovinzen aufgeteilt war, herausgehoben. Und mit Beginn der britischen Herrschaft wurden Norden und Süden 1918 zu einer Einheit. Ganz ähnlich – und im selben Jahr – schufen die Briten die Grundlage für den modernen Irak, indem sie die drei osmanischen Pro- vinzen Mosul, Bagdad und Basra zu einem modernen Nationalstaat ver- einten. Anders als im Irak wirkten in Palästina Familienbeziehungen und geografische Grenzen wie der Litani im Norden, der Jordan im Osten und das Mittelmeer im Westen darauf hin, die drei Unterprovinzen Südbeirut, Nablus und Jerusalem zu einer einzigen sozialen und kulturellen Einheit zusammenzuschweißen. Dieser geopolitische Raum besaß seinen eigenen arabischen Dialekt und seine eigenen Sitten, Bräuche und Traditionen.7 Hätte der Zionismus nicht 1882 begonnen, sich in Palästina auszubreiten, wäre es auf ganz natürliche Art zur Heimat einer palästinensischen Nation und eines palästinensischen Staates geworden. 1918 war Palästina aufgrund der erwähnten Fusion der drei Unterpro- vinzen zu einer einzigen Verwaltungseinheit nach dem Ersten Weltkrieg administrativ gesehen einheitlicher, als es das zur osmanischen Zeit je ge- wesen war. Während die britische Regierung auf die endgültige internatio- nale Anerkennung des Status Palästinas wartete, die dann 1922 kam, legte sie die endgültigen Grenzen des Landes fest und schuf so nicht nur einen klarer definierten Raum für entstehende Nationalbewegungen, sondern auch ein deutlicheres Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Men- schen, die in diesem Raum lebten. Diese endgültige Gestaltung der Gren- zen half aber auch der zionistischen Bewegung bei der geografischen Kon- zeptualisierung von „Eretz Israel“ – des Landes Israel, in dem nur Juden ein Recht auf das Land und seine Ressourcen hatten. Demnach waren die Palästinenser ebenso sehr ein Volk wie andere Völ- ker im damaligen Nahen Osten, und sie waren es sicher nicht weniger als die jüdischen Siedler, von denen nun immer mehr in Palästina ankamen.

7 Für eine detailliertere Analyse siehe Ilan Pappé, A History of Modern Palestine; One Land, Two Peoples, Cambridge 2006, S. 14-60.

13 Kapitel 2: Die Juden waren ein Volk ohne Land

ie im vorigen Kapitel untersuchte Behauptung geht normalerweise DHand in Hand mit der Behauptung, die Juden seien ein Volk ohne Land gewesen. Das ist ebenfalls zweifelhaft, wenn auch von geringerer Be- deutung. Waren die jüdischen Siedler ein Volk? Neuere Forschungen ha- ben auch hier die bereits vor vielen Jahren angemeldeten Zweifel bestä- tigt. Der gemeinsame Angelpunkt dieses kritischen Standpunktes, der am besten in Shlomo Sands Buch Die Erfindung des jüdischen Volkes dargelegt wird,8 ist die Beobachtung, dass die christliche Welt in einem bestimmten Moment der modernen Geschichte aus ganz eigenen Interessen die Idee unterstützt, die Juden seien eine Nation, die ins Heilige Land zurückkeh- ren müsse, da diese Rückkehr Bestandteil des göttlichen Plans für die End- zeit, die Wiedererweckung der Toten und die Wiederkunft des Messias sei. Untersuchen wir diese Frage etwas genauer. Der Gedanke einer Rückkehr der Juden nach Palästina war im protes- tantischen Christentum von Anfang an tief verwurzelt. Thomas Bright- man, ein englischer Geistlicher im 16. Jahrhundert, brachte diese Ideen klar zum Ausdruck, als er schrieb:

Werden sie wieder nach Jerusalem zurückkehren? Nichts ist sicherer als das: Die Propheten bestätigen es überall und verkünden es laut.9

Wie bei allen anderen, die sich später auf ähnliche Art äußern würden, war der Wunsch nicht nur, dass die Juden die Weissagung der Propheten erfül- len sollten, sondern auch, dass sie Europa verließen. Der deutscher Theo- loge und Naturphilosoph Heinrich Oldenburg schrieb hundert Jahre spä- ter:

Wenn sich in den Fährnissen, denen menschliche Angelegenheiten ausgesetzt sind, die Gelegenheit ergibt, könnten [sie] vielleicht so-

8 Shlomo Sand, Die Erfindung des jüdischen Volkes: Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Berlin 2010. Übersetzung der hebräischen Originalausgabe von 2008. 9 Thomas Brightman, The Revelation of St. John illustrated with an analysis and scholions [sic], 4. Ausgabe, London 1644, S. 544.

14 gar ihr Reich neu errichten, und Gott könnte sie ein zweites Mal er- wählen.10

Und der österreichisch-ungarische Feldmarschall Charles Joseph de Lig- ne verkündete:

Ich bin überzeugt, dass der Jude nicht fähig ist, sich zu assimilieren, und dass er immer und überall, wo er ist, eine „Nation innerhalb der Nation“ darstellen wird. Das Einfachste wäre meiner Meinung nach, die Juden in ihr Heimatland zurückzuführen, aus dem sie vertrie- ben wurden.11

Wie aus dieser Passage leicht ersichtlich, gab es eine offensichtliche Verbin- dungslinie zwischen dem Antisemitismus und den frühen Ideen des Zio- nismus. Auch der berühmte französische Schriftsteller und Politiker Chateaub- riand schrieb, die Juden seien „die rechtmäßigen Herren Judäas“. Damit beeinflusste er Napoleon Bonaparte, der Anfang des 19. Jahrhunderts für sein Vorhaben einer Besetzung des Nahen Ostens neben der Unterstüt- zung der anderen Bewohner Palästinas auch die der jüdischen Gemein- schaft dort zu gewinnen suchte, indem er den Juden eine „Rückkehr nach Palästina“ und die Gründung eines jüdischen Staates versprach.12 Wie wir an all dem schon sehen können, war der Zionismus ein christliches Kolo- nisationsprojekt, noch bevor er ein jüdisches wurde. Im 18. Jahrhundert gewannen derartige Vorstellungen besonders in Großbritannien an Popularität und ein Jahrhundert später beeinflussten sie auch die offizielle Politik des Imperiums:

Die Erde Palästinas […] wartet nur darauf, dass die Rückkehr ihrer verbannten Kinder und der Einsatz von Fleiß zusammen mit land-

10 Das ist ein Zitat aus einem Brief, den er am 4. Dezember 1665 an Baruch Spino- za schrieb. Zitiert in: Franz Kobler, The Vision Was There: The History of the British Movement for the Restoration of the Jews to Palestine, London 1956, S. 25f. 11 Hagai Baruch, Le Sionisme Politique: Precurseurs et Militants: Le Prince De Linge, Paris 1920, S. 20. 12 Suja R. Sawafta, „Mapping the Middle East: From Bonaparte’s to Cha- teaubriand’s Palestine“, Doktorarbeit an der University of North Carolina at Chapel Hill, 2103.

15 wirtschaftlichen Fähigkeiten ein weiteres Mal zu allgemeiner Fülle führen und das Land zu all dem machen werden, was es einst zu Zei- ten Salomos war.13

So die Worte des schottischen Adligen und Militärkommandeurs John Lindsay. Seine Vorahnung fand ein Echo bei dem englischen Philosophen David Hartley, der schrieb, „Wahrscheinlich werden die Juden nach Paläs- tina zurückkommen.“14 Die aufwühlenden und oft beunruhigenden theologischen und religiö- sen Umwälzungen in der christlichen Welt während des 17. Jahrhunderts führten unter anderem, vor allem unter Protestanten, zu einer klaren As- soziation zwischen der messianischen Endzeit und der Bekehrung der Ju- den sowie ihrer Rückkehr nach Palästina. Wie die Kreuzfahrerzeit uns lehrt, können der politische Wille, die mi- litärische Macht und die wirtschaftlichen Ressourcen, solche Vorstellun- gen tatsächlich durchzusetzen, furchtbare Auswirkung auf die örtliche Be- völkerung haben. Der Wunsch, die Juden nach Palästina „zurückkehren“ zu sehen, war ein alter Gedanke, wurde aber erst im späten 19. Jahrhun- dert zur Realität, was dann katastrophale Konsequenzen für die Palästi- nenser hatte. Verhängnisvolle Vorzeichen dafür, wie solche scheinbar rein religiösen und mythischen Texte sich in ein reales Programm der Kolonisierung und Enteignung verwandeln können, erschienen erstmals schon in den 1820er Jahren. Danach entstand eine mächtige theologische und imperiale Bewe- gung, die die Rückkehr der Juden nach Palästina zum Herzen eines strate- gischen Planes zur Übernahme Palästina und seiner Verwandlung in eine christlich beherrschte Entität machte. Eine einfache Ideengeschichte führt uns direkt von den Vätern dieser Bewegung zu den Politikern mit der Macht, das Leben der Menschen in Palästina selbst zu verändern. Einer der wichtigsten unter ihnen war der führende britische Politiker Lord Shaftesbury (1801-1885), der höchst ak- tiv für ein jüdisches Heimatland in Palästina eintrat. Seine Argumente für eine stärkere britische Präsenz in Palästina waren sowohl religiöser als auch

13 A. W. C. Crawford & Lord Lindsay, Letters on Egypt, Edom and the Holy Land, Band 2, London 1847, S. 71. 14 Zitiert in: Anthony Julius, Trials of the Diaspora: A History of Anti-Semitism in England, Oxford 2010, S. 432.

16 strategischer Art, eine gefährliche Mischung, die letztlich von seinen ei- genen Aktivitäten Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Balfour-Erklärung führte.15 Shaftesbury hatte einen weiteren Gedanken, der später von den Ar- chitekten der Balfour-Erklärung übernommen wurde. Er erkannte, dass es nicht ausreichen würde, die Rückkehr der Juden zu unterstützen, son- dern dass sie in ihren anfänglichen Kolonisierungsbemühungen von Groß- britannien unterstützt werden müssten. Das sollte Shaftesburys Meinung nach dadurch geschehen, dass den Juden schon zu seiner Zeit, Mitte des 19. Jahrhunderts, Unterstützung für Reisen ins osmanische Palästina ange- boten wurde. Er überzeugte das anglikanische Bistum der Kathedrale von Jerusalem, dieses frühe Projekt aktiv zu unterstützen. Das alles wäre wohl kaum Realität geworden, wenn Shaftesbury nicht seinen Schwiegervater, den britischen Außenminister und späteren Minis- terpräsidenten Lord Palmerston, für seine Sache gewonnen hätte. Am 1. August 1838 schrieb Shaftesbury in sein Tagebuch:

Mit Palmerston zu Abend gegessen. Nach dem Essen allein mit ihm. Legte meine Pläne dar, die seinen Gefallen zu finden scheinen. Er stellte Fragen und versprach bereitwillig, es [das Programm, den Ju- den bei ihrer Rückkehr nach Palästina und der Übernahme des Lan- des zu helfen] in Betracht zu ziehen. Wie einzigartig ist doch die Fügung der Vorsehung. Einzigartig, wenn vom menschlichen Stand- punkt aus betrachtet. Palmerston war bereits von Gott ausersehen, ein Werkzeug für das Wohl Seines alten Volkes zu sein, dem Erbe dieses Volkes zu huldigen und seine Rechte anzuerkennen, ohne an seine Bestimmung zu glauben. Wie es scheint, wird er noch mehr tun. Aber ein wohlgesonnenes Motiv steht noch nicht auf festen Fü- ßen. Ich bin gezwungen, politisch, finanziell, kommerziell zu argu- mentieren. Er weint nicht, wie sein Vorgesetzter, über Jerusalem, noch betet er, dass es jetzt endlich seine schönen Gewänder anlegt.16

15 Donald Lewis, The Origins of Christian Zionism: Lord Shaftesbury and Evangelical Support for a Jewish Homeland, Cambridge 2014, S. 380. 16 Anthony Ashley, Earl of Shaftesbury. Tagebucheinträge zitiert nach: Edwin Hod- der, The Life and Work of the Seventh Earl of Shaftesbury, London 1886, 1, S. 310f.; siehe außerdem Geoffrey B.A.M. Finlayson, The Seventh Earl of Shaftes- bury, London 1981, S. 114; The National Register Archives, London, Shaftes-

17 Als erstes überzeugte Shaftesbury Palmerston, den ihm gleichgesonne- nen „Restaurationsanhänger“ (Befürworter einer Rückgabe Palästinas an die Juden) William Young zum ersten britischen Vizekonsul in Jerusalem zu ernennen. Danach schrieb er in sein Tagebuch:

Was für ein wunderbares Ereignis ist das! Die uralte Stadt von Got- tes Volk gewinnt einen Platz unter den Nationen zurück, und Eng- land ist das erste der nichtjüdischen Königreiche, das aufhört, „sie niederzuhalten“. 17

Ein Jahr später, 1839, schrieb Shaftesbury einen dreißigseitigen Artikel für The Quarterly Review mit dem Titel „Status und Restauration [sic] der Ju- den“. In diesem Artikel prophezeite Shaftesbury eine neue Ära für das aus- erwählte Volk Gottes. Er bestand darauf, die Juden müssten

…ermutigt werden, in noch größeren Zahlen zurückzukehren und von neuem die Landbesteller Judäas und Galiläas zu werden […] Obwohl ein halsstarriges Volk mit finsterem Herzen, abgesunken in einen Zustand des moralischen Verfalls, der Verstocktheit und der Unkenntnis des Evangeliums, waren sie nicht nur Wert der Rettung, sondern auch lebenswichtig für die Hoffnung auf Rettung in der Christenheit.18

Shaftesburys zuvorkommende Umwerbung Palmerstons erwies sich als er- folgreich. So wurde Palmerston eher aus politischen denn aus religiösen Gründen zu einem Verfechter der jüdischen „Restauration“. Einer der Faktoren, die seine Reflexionen über eine britische Unterstützung der Rückkehr der Ju- den beeinflussten, war

die Auffassung, dass die Juden bei sich bei der Stärkung des zusam- menbrechenden osmanischen Reiches als nützlich erweisen und so

bury (Broadlands) MSS, SHA/PD/2, 1. August 1840. 17 Zitiert in: Gertrude Himelfarb, The People of the Book: Philosemitism in England, From Cromwell to Churchill, New York 2011, S. 119. 18 The London Quarterly Review, Band 64, S. 104f.

18 dazu beitragen könnten, das wichtigste Ziel der britischen Außenpo- litik in dieser Region zu erreichen.19

Am 11. August 1840 schrieb Palmerston dem britischen Botschafter in Konstantinopel einen Brief, in dem es um den Nutzen ging, den sowohl das osmanische Reich als auch Großbritannien von einer Erlaubnis für die Juden hätten, nach Palästina zurückzukehren. Ironischerweise wurde die Rückkehr der Juden damals als wichtiges Instrument zur Aufrechterhal- tung des Status Quo und zur Vermeidung eines Auseinanderbrechens des osmanischen Reiches betrachtet. Palmerston schrieb:

Es gibt derzeit unter den über Europa verstreuten Juden ein starkes Gefühl, die Zeit komme näher, da ihre Nation nach Palästina zu- rückkehren muss. […] Es wäre von großer Bedeutung, wenn der Sultan die Juden dazu ermutigte, zurückzukehren und sich in Paläs- tina anzusiedeln, weil der Reichtum, den sie mit sich bringen wür- den, die Schätze der Herrschaftsgebiete des Sultans vergrößern wür- de, und weil das jüdische Volk, wenn es unter Billigung und Schutz und auf Einladung des Sultans zurückkehrte, ein Hindernis für alle üblen künftigen Pläne Mohamet Alis oder seines Nachfolgers dar- stellen würde. […] Ich muss Eure Exzellenz klar anweisen, [der tür- kischen Regierung] zu empfehlen, den Juden Europas jede Ermuti- gung zu geben, nach Palästina zurückzukehren.20

Nur wenige Tage nach der Absendung dieses Briefs forderte ein Leitarti- kel in The Times vom 17. August 1840 einen Plan, „das jüdische Volk im Land seiner Vorväter anzusiedeln“; der Autor behauptete, ein solcher Plan werde „politisch ernsthaft erwogen“ und begrüßte die Bemühungen Shaf- tesburys, der der Initiator dieses Plans sei, den der Artikel als „praktikabel und staatsmännisch“ lobte. Auch Lady Palmerston unterstützte die Hal- tung ihres Mannes und schrieb an eine Freundin:

Wir wissen die fanatischen und religiösen Elemente auf unserer Seite und Sie wissen, wie groß ihre Gefolgschaft in unserem Land ist. Sie

19 Ibid. 20 The Times of London, 17 August 1840.

19 sind absolut entschlossen, Jerusalem und ganz Palästina der Rück- kehr der Juden vorzubehalten; es ist ihre einzige Sehnsucht, die Ju- den wieder in ihr Recht einzusetzen.21

So war die folgende Beschreibung des Earls von Shaftesbury wenig er- staunlich: Er sei

der führende Vertreter des christlichen Zionismus im 19. Jahrhun- dert und der erste Politiker von Statur, der versuchte, den Juden den Weg für die Etablierung eines Heimatlandes in Palästina zu berei- ten.22

All dies waren Vorformen des reifen Zionismus und wir sollten nicht den Fehler begehen, in diese Traktate die Ideologie von heute hineinzulesen. Dennoch trug dieser Proto-Zionismus bereits alles in sich, was diese Ideen später in eine theologische Rechtfertigung für die Negierung und Verwei- gerung der grundlegenden Rechte der ursprünglich ortsansässigen Bevöl- kerung in Palästina verwandeln würde. Es gab sehr wohl auch Kirchenge- meinden und Geistliche, die Partei für die Palästinenser vor Ort ergriffen, doch im Vergleich zu den frühen Trieben des christlichen Zionismus in Großbritannien waren sie politisch so gut wie ohnmächtig. Der britische christliche Zionismus unterhielt enge Verbindungen zur pietistischen Bewegung in Deutschland, die später das hervorbrachte, was Historiker „den stillen Kreuzzug“ genannt haben, der sich dann kurz vor der zionistischen Kolonisierung Palästinas in der Templerbewegung ma- nifestierte, die direkt zu dieser Kolonisierung beitrug und auf die ich im nächsten Kapitel zurückkommen werde. Aus dieser deutsch-britischen Zusammenarbeit ging 1838 das erste bri- tische Konsulat in Jerusalem hervor. Zum Auftrag des Konsulats gehörte informell auch, Juden dazu zu ermutigen, nach Palästina zu kommen. Das Konsulat versprach, sie zu unterstützen, und in einigen Fällen versuchte es, sie zum Christentum zu bekehren. Der bekannteste Konsul war James

21 Zitiert in: Geoffrey Lewis, Balfour and Weizmann, The Zionist, The Zealot and the Emergence of Israel, London 2009, S. 19. 22 Deborah J. Schmidle & Anthony Ashely-Cooper, Seventh Earl of Shaftsbury in: Hugh D. Hindman (Hg.), The World of Child Labour, An Historical and Regional Survey, London/New York 2009, S. 569.

20 Finn (1806-1872), dessen Charakter und direkte Art dazu führten, dass er die Bedeutung des erwähnten Auftrags für die örtliche palästinensische Bevölkerung nicht zu verheimlichen versuchte.23 James Finn hatte diesen Posten in Jerusalem von 1845 bis 1863 inne. Israelische Historiker haben ihn dafür gepriesen, dass er Juden dabei ge- holfen habe, sich im Land ihrer Ahnen anzusiedeln, und seine Memoiren sind ins Hebräische übersetzt worden. Er ist nicht die einzige historische Figur, die in der Ehrengalerie der einen Nation und dafür in der Schur- kengalerie einer anderen erscheint. Finn hasste den Islam insgesamt, ganz besonders aber die islamischen Notabeln von Jerusalem. Er lernte nie Ara- bisch und verständigte sich mit Hilfe eines Dolmetschers, was nicht gera- de zu reibungsfreien Beziehungen zur lokalen palästinensischen Bevölke- rung beitrug. Finn konnte sich unter anderem auf das 1841 neu eingeweihte Anglika- nische Bistum unter Michael Solomon Alexander, einem Konvertiten vom Judentum, und die 1843 eröffnete Christuskirche in der Nähe des Jaf- fa-Tors, die erste Anglikanische Kirche in Jerusalem stützen. Während ei- nige dieser Institutionen später starke Sympathien für das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung entwickelten, unterstützten sie damals Finns proto-zionistische Bestrebungen. Finn arbeitete wohl eifriger als jeder andere Europäer an der Etablie- rung einer dauerhaften westlichen Präsenz in Jerusalem, was hauptsäch- lich durch den Kauf von Ländereien und Immobilien für missionarische und später auch kommerzielle Unternehmen, Amtssitze oder die Inhaber dieser Ämter geschah. Mit der Entwicklung der zionistische Bewegung in Ost- und Mittel- europa und der Schaffung der ersten zionistischen Kolonien in Palästina in den 1880er Jahren wurden die britischen Beziehungen zum Zionismus noch stärker. Sie wurden schließlich so eng, dass einige der führenden Fi- guren in Palästina begannen, sich Sorgen zu machen, da sie davon einen sehr negativen Einfluss auf ihre Gesellschaft befürchteten. Eine dieser Fi- guren war der damalige Mufti von Jerusalem, Tahir al-Hussayni II, der die jüdische Einwanderung als Infragestellung des Status der Stadt als musli- misches Heiligtum durch Europa betrachtete. Einige seiner Berater hatten

23 Meine Gedanken zu diesem Thema finden sich in: Ilan Pappé, The Rise and Fall of the a Palestinian Dynasty, The Husaynis, 1700-1948, London 2010, S. 84, 117.

21 bereits zuvor bemerkt, dass James Finns Idee, die „Rückkehr“ der Juden mit der Wiederherstellung des Ruhms der Kreuzfahrer in Verbindung zu bringen, genau darauf hinauslief. So wundert es wenig, dass Mufti Tahir II. den Widerstand gegen diese Einwanderung anführte und insbesondere davor warnte, Land an Projekte wie die oben genannten zu verkaufen. Er wusste, dass Landbesitz einen Nachweis für langfristige Ansässigkeit und einen Anspruch auf Eigentum darstellte, während Einwanderung ohne feste Ansiedlung nicht mehr Rechte begründen konnte als eine flüchti- ge Pilgerfahrt.24 So traf der strategische imperiale Impuls Großbritanniens, die jüdische Rückkehr nach Palästina als Mittel einer Vertiefung des Engagements Lon- dons im „Heiligen Land“ zu nutzen, auf vielerlei Art mit dem neuen geis- tigen Impuls in vielen jüdischen Gemeinden Europas zusammen, der den Judaismus als nationales Projekt und die Kolonisierung Palästinas als Akt der Rückkehr und der Erlösung neu definieren wollte. Der Zusammen- fluss beider Impulse brachte ein mächtiges Bündnis hervor, das die anti- semitischen und messianischen Ideen einer Transferierung der Juden von Europa nach Palästina auf Kosten der ursprünglichen Bevölkerung Paläs- tinas in ein reales Kolonisierungsprojekt verwandelte. Somit basierte die Vorstellung von einem Volk, das in sein Heimat- land zurückkehrt, um dieses zu erlösen, die in der neueren Zeit internati- onal erstmals in der Balfour-Erklärung zum Ausdruck gebracht wurde, auf verschiedene historische Strömungen, die protestantische Glaubensinhal- te mit imperialen Interessen, kolonialistischen Impulsen, Antisemitismus und Islamophobie verschmolzen, ein Gemisch, aus dem sich dann mit der britischen Besatzung Palästinas 1918 eine neue Realität bildete. Dieser Prozess hatte erst dann vollen Erfolg, als er auch von den Verei- nigten Staaten unterstützt wurde. Auch dort hatte die Idee einer jüdischen Nation, die das Recht hat, nach Palästina zurückzukehren und dort ein Zion aufzubauen, eine lange Tradition und Geschichte. Zur selben Zeit, zu der viele europäische Protestanten Auffassungen klar artikulierten, er- schienen sie in ähnlicher Form auf der anderen Seite des Atlantiks. So etwa meinte US-Präsident John Adams (1735-1826): „Ich wünsche mir wirk- lich, dass die Juden wieder eine unabhängige Nation in Judäa werden.“25

24 Siehe ibid, S. 115. 25 Quoted in www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/US-Israel/adams.html.

22 Aber die Unterstützung der USA für all das wurde erst viele Jahre später entscheidend. Ich weiß natürlich, dass einige auch bezweifeln, ob die Juden, die sich dann als Zionisten in Palästina ansiedelten, tatsächlich die Nachkommen der Juden waren, die zweitausend Jahre zuvor von den Römern ins Exil ge- trieben worden waren. Diese Fragestellung begann mit den populär ge- wordenen Zweifeln Arthur Koestlers (1905-1985), der in seinem 1976 er- schienenen Buch Der dreizehnte Stamm die These vortrug, die jüdischen Siedler in Israel stammten in Wirklichkeit von den Khasaren ab, einem türkischen Stamm im Kaukasus, der im 8. Jahrhundert zum Judaismus konvertierte und später weiter nach Westen ziehen musste. Seit der Veröf- fentlichung seines Buchs haben israelische Wissenschaftler immer wieder zu zeigen versucht, dass es genetische- und DNA-Beweise dafür gibt, dass die Juden des römischen Palästina und die des heutigen Israel miteinander verwandt sind. Die Debatte dauert bis heute an.26 Nicht vom Zionismus beeinflusste Bibelwissenschaftler wie Keith Whitlam, Thomas Thompson und der israelische Wissenschaftler Isra- el Finkelstein legten dann ernsthaftere Analysen vor, die allesamt die Bi- bel als irgendwie bedeutsamen Tatsachenbericht zurückweisen.27 Whitlam und Thompson bezweifelten außerdem die Existenz eines Gebildes wie der jüdischen Nation zu biblischen Zeiten und kritisierten ebenso wie ande- re Wissenschaftler ein Phänomen, das sie als die „Erfindung des moder- nen Israel“ bezeichnen, als Werk pro-zionistischer christlicher Theologen. Die neueste und aktuellste Dekonstruktion dieser Idee findet sich in Shlo- mo Sands beiden Büchern Die Erfindung des jüdischen Volkes und Die Er- findung des Landes Israel.28 Ich respektiere und schätze diese wissenschaftliche Arbeit. Dennoch denk ich, dass die Widerlegung des Mythos von der Existenz eines jüdi-

26 Arthur Koestlers Buch The Thirteenth Tribe. Khazar Empire and Its Heritage er- schien ursprünglich 1976 in London und ist seitdem in zahlreichen Neuauflagen dort und anderswo veröffentlicht worden. Deutsch: Der dreizehnte Stamm. Das Reich der Khasaren und sein Erbe, München 1977. 27 Keith Whitelam, The Invention of Ancient Israel, London/New York 1999 und Thomas L. Thompson, The Mythical Past: Biblical Archaeology and the Myth of Israel, London 1999 sind die Gründer der Kopenhagener Schule des biblischen Minimalismus. 28 Siehe Fußnote 1 und Shlomo Sand, Die Erfindung des Landes Israel: Mythos und Wahrheit, Berlin 2012, Übersetzung der hebräischen Originalausgabe von 2012.

23 schen Volkes weniger wichtig ist, als die These, die bestreitet, dass es ein palästinensisches Volk gab – und das, obwohl der eine Mythos das genaue Gegenstück des anderen ist. Völker haben das Recht dazu, sich selbst zu er- finden, wie es so viele nationale Bewegungen vom Augenblick ihrer Grün- dung an getan haben. Das Problem wird dann akut, wenn Erzählungen von der „Geburt“ der einen Nation zu gegen andere Gruppen gerichteten politischen Projekten wie Völkermord, ethnischer Säuberung und Unter- drückung führen. Im spezifischen Fall des Zionismus kommt es nicht auf die historische Richtigkeit der Behauptung, immer ein Volk gewesen zu sein, an, sondern darauf, dass der Staat Israel darauf besteht, sämtliche Ju- den auf der ganzen Welt zu repräsentieren, weshalb alles, was er tut, um ih- retwillen und in ihrem Namen geschehe. Bis 1967 war diese Behauptung für den Staat Israel von enormem Nutzen. Die Juden auf der ganzen Welt, insbesondere in den Vereinigten Staaten, wurden sofort zu seiner wichtigs- ten Gruppe von Unterstützern, wann immer seine Politik in Frage gestellt wurde. In vielerlei Hinsicht ist das in den USA immer noch der Fall. Aber selbst in den Vereinigten Staaten, und noch mehr in anderen jüdischen Gemeinschaften andernorts, wird diese klare Verbindung heute in Zwei- fel gezogen. Das bringt uns zu der dritten fragwürdigen Behauptung un- serer Mythologie.

24 Kapitel 3: Zionismus und Judentum sind dasselbe oder: Wir glau- ben zwar nicht an Gott, aber er hat uns Palästina versprochen

m diese Grundannahme angemessen zu untersuchen, muss man den Uhistorischen Kontext betrachten, aus dem sie hervorging. Der Zio- nismus war nur eine von vielen Arten der Praktizierung des Judentums seit dessen Entstehung, und als er entstand, war er, selbst nach dem Holocaust, nur eine der möglichen Antworten auf den Antisemitismus. Viele weltliche Juden waren und sind keineswegs der Meinung, der Zi- onismus sei eine Lösung für das Problem des Antisemitismus oder spiege- le ihre eigene Auffassung vom Judentum wider. Außerdem fanden weltli- che und sozialistische Juden die Idee eines jüdischen Nationalismus meist unattraktiv. Während liberale Juden hofften, eine weitaus liberalere Welt als heute werde die Probleme der Judenverfolgung und des Antisemitis- mus lösen, strebten jüdische Sozialisten und Kommunisten nach der Be- freiung der Menschen aller Konfessionen und nicht nur der Juden von Unterdrückung. In den Augen dieser Aktivisten war schon die bloße Idee, die jüdischen Sozialisten sollten, wie es etwa der „Bund“ tat, eine eigenständige Bewe- gung bilden, völlig abseitig. So tat der russische marxistische Politiker und Theoretiker Georgij Plechanow die Anhänger des „Bundes“, die gern Teil der internationalen sozialistischen Bewegung sein wollten, spöttisch als „Zionisten mit Angst vor Seekrankheit“ ab.29 Dennoch muss zur Ehren- rettung des „Bundismus“ gesagt werden, dass er eine echte Alternative zum Zionismus darstellte. Die eher pragmatisch-liberalen Juden betrachteten den Propheten der zionistischen Bewegung, Theodor Herzl, als Scharlatan, dessen Ideen mit der Realität nichts gemein hatten. Die Führer der jüdischen Gemeinden nahmen ihn ernster, fürchteten aber seine Ideologie. Seine Forderung nach jüdischer Souveränität in einem fremden Land und staatlichem Status wie alle anderen souveränen Staaten der Welt beunruhigte sie. Für die etablier-

29 In einem Interview mit Wladimir Jabotinsky im Jahr 1905, zitiert nach: Jona- than Frankel, Prophecy and Politics: Socialism, Nationalism, and the Russian Jews, 1862-1917, Cambridge 1984, S. 255. Gemeint war, dass die Bundisten statt der Überfahrt nach Palästina übers Mittelmeer die Schaffung jüdisch autonomer Zonen in ihren Heimatländern anstrebten.

25 teren Teile des mittel- und westeuropäischen Judentums stellte der Zionis- mus eine provokative Zukunftsvision dar, die die Loyalität der englischen, deutschen und französischen Juden zu ihren jeweiligen Staaten in ein frag- würdiges Licht rückte. Seit der Einführung des Code Napoléon in Frank- reich hatte Frankreich diesem auch in anderen Ländern erhebliche Gel- tung verschafft. In weiten Gebieten Europas fühlten die Juden sich nun mehr und mehr assimiliert und integriert. Das entsetzliche Schicksal dieser Gemeinden und ihrer Führer ein halbes Jahrhundert später erklärt die magnetische Kraft, die die Argumente von Fi- guren wie Herzl nach dem Zweiten Weltkrieg auf das zionistische Denken und besonders das der ausübten. Herzl wurde nun als ein Prophet der Wahrheit angesehen, der blinde Assimilation ablehnte, als Retter, der zu Unrecht abgelehnt worden war. Die Wirkungsmacht seiner Ideen hatte je- doch nichts mit der jüdischen Religion zu tun, sondern ging auf die Schre- cken des europäischen Antisemitismus zurück. Und wenn er die Einwan- derung von Juden in die Vereinigten Staaten oder Südamerika vorhergesagt hätte, könnte man ihn heute natürlich ebenso als Prophet und Retter feiern. Im Übrigen waren nicht nur die Juden blind für die Katastrophe, die auf sie zukam. Eine weniger zionistisch geprägte Interpretation die- ser schrecklichen Jahre würde nicht nur von Millionen von Juden spre- chen, die in Europa massakriert wurden, sondern auch von den insgesamt 60 Millionen Menschen, die im Zweiten Weltkrieg starben – 2,5 Prozent der damaligen Weltbevölkerung. Nicht nur den Juden misslang es, diesen Schrecken zu entkommen; Opfer waren alle damals in Europa lebenden Menschen, darunter fast 30 Millionen getötete Russen. Das Gegengift ge- gen den wütenden und fanatischen Nationalismus der damaligen Deut- schen war in einer Welt zu suchen, in der die Rolle von Nationalismus, Kolonialismus und Unterdrückung so gering wie möglich war. Ein weiterer Beweis dafür, dass der Zionismus nur eine der Möglichkei- ten war, sich vor dem heraufziehenden Nazismus in Europa zu retten oder sich nach dem Holocaust eine Zukunft aufzubauen, besteht in der Tat- sache, dass die meisten Holocaust-Überlebenden nach dem Krieg in die USA und nicht nach Palästina auswandern wollten. Tatsächlich war die zionistische Bewegung über den Trend unter den Überlebenden des Holocaust, die USA Palästina vorzuziehen, sehr verdros- sen und reagierte harsch auf diese unerwünschte Realität. Vor einigen Jahren enthüllte der israelischer Wissenschaftler Yossi Grudjinsky die bittere Wahr-

26 heit über einige der Geschehnisse in den so genannten DP-Lagern („Dis- placed Person Camps“; Lager für Vertriebene und Verschleppte) in Euro- pa und besonders in Deutschland. Damals wurden jüdische Überlebende in ganz Europa in DP-Lagern untergebracht und warteten dort auf eine Ent- scheidung über ihre Zukunft. Die zionistischen Organisationen übten hef- tigen Druck auf die Insassen aus, damit sie ihren Wunsch erklärten, nach Palästina auszureisen. Als sie herausfanden, dass einige universaler und we- niger zionistisch ausgerichtete jüdische Organisationen den Insassen bei der Ausreise in die USA behilflich waren, griffen sie auf diverse üble Mittel zu- rück, um den Flüchtlingsstrom nach Palästina umzulenken. Sie versuchten, sie für die wichtigste paramilitärische zionistische Gruppe im Mandatsge- biet Palästina, die Hagana, zu rekrutieren und erklärten, eine Weigerung, nach Palästina zu gehen, käme einer Desertion aus der Armee gleich. Be- sonders bekämpfte die zionistische Bewegung die Aktivitäten von Organi- sationen wie dem American Jewish Joint Distribution Committee und dem Bund, die sich bemühten, Juden bei der Umsiedlung an Zielorte ihrer ei- genen Wahl zu unterstützen – und für viele Juden war Palästina nun ein- mal nicht das Land, in dem sie leben wollten.30 Viele Jahre später, Anfang der 1970er Jahre, versuchte Israel, die österreichische Regierung zu zwin- gen, Juden, denen es gelungen war, aus der Sowjetunion herauszukommen, die Ausreise in die USA zu untersagen. Israel verlangte, die Juden stattdes- sen in Transitlagern festzuhalten, die sie nur verlassen konnten, indem sie ein Flugzeug nach Israel bestiegen. Wie einige Leser sich vielleicht erinnern, waren die sowjetischen Juden damals im österreichischen Schloss Schönau interniert. Im September 1973 überfiel die palästinensischen Guerillagrup- pe al-Saiqa einen Zug, der sich auf dem Weg zum Lager befand, nahm eini- ge der Passagiere als Geiseln und verlangte im Gegenzug freies Geleit in ein Land der arabischen Welt. Diese Aktion führte zur Schließung des Lagers, und danach nahm Österreich eine offenere Haltung gegenüber den Wün- schen dieser Immigranten ein.31 Doch in seiner Anfangszeit befand sich der Zionismus vor allem im Wi- derspruch zum seinerzeitigen religiösen Establishment. Die führenden re- ligiösen Köpfe und Denker des europäischen Judentums lehnten den Zi-

30 Yosef Grodzinsky, Good Human Material: Jews against the Zionists, 1945-1951, Tel Aviv 1998 (Hebräisch). 31 Avner Yehuda, ‘The Schoenau Ultimatum’, The Jerusalem Post, 19. Februar 2011.

27 onismus ab und nur vom äußersten Rand des religiösen Establishments schloss sich eine kleine Gruppe religiöser Führer der Bewegung an und legte so den Grundstein für den nationalreligiösen Flügel des Zionismus. Viele traditionelle Rabbiner untersagten ihren Gläubigen sogar den Um- gang mit zionistischen Aktivisten. Sie betrachteten den Zionismus als Ein- mischung in Gottes Vorsehung und Seinen Willen, nach dem die Juden bis zur Ankunft des Messias im Exil bleiben sollten. Die Idee, die Juden sollten alles in ihrer Macht Stehende tun, um das „Exil“ zu beenden, lehn- ten sie vollkommen ab. Für sie hatten die Juden in dieser Hinsicht auf das Wort Gottes zu warten und bis dahin ihrer traditionellen Lebensführung nachzugehen. Sie durften einzeln als Pilger nach Palästina fahren und dort meditieren, nicht aber als Körperschaft oder Volk. Der große chassidische deutsche Rabbiner von Dzikov fasste seine Haltung mit den harten Wor- ten zusammen, der Zionismus fordere von ihm, all die Jahre jüdischer Weisheit und jüdischen Rechts gegen einen Lumpen, ein Stück Dreck und ein Lied (die Flagge, das Land und die Nationalhymne) einzutauschen.32 Diese komplexe Beziehung war Resultat der Existenz anderer Formen des Judentums und alternativer Reaktionen auf die missliche Lage, im Eu- ropa vor 1948 ein Jude zu sein. Eine weitere Komplikation war jedoch in gewisser Weise noch wichtiger. Der Zionismus zielte nicht nur auf die Kolonisierung Palästinas, sondern auch auf die Verweltlichung der Juden ab. Die Ideologen der Bewegung träumten von der Erfindung eines „neu- en Juden“ – der Antithese zu den religiös-orthodoxen Juden Europas. Es war die bizarre Idee eines europäischen Juden, der aber nicht in Europa le- ben konnte, sondern als Europäer außerhalb des Kontinents leben muss- te, weil in diesem so viel Antisemitismus herrschte. An sich war die zio- nistische Bewegung in einer Zeit, in der andere religiöse Gruppen sich aus ähnlichen oder anderen Gründen national neu definierten, gar nicht ein- zigartig – er unterschied sich aber von diesen darin, dass er für diese Kon- version auch ein neues Land ins Auge fasste. Eines der klaren Beispiele für den Unterschied zwischen Judentum und Zionismus ist die jeweilige Stellung die Bibel. In der vorzionistischen jü- dischen Welt wurde die Bibel in den jüdischen Bildungs- und Studienein- richtungen Europas oder der arabischen Welt (dem, was der Zionismus verächtlich als „das Golah“ – „das Exil“ bezeichnete) nicht als Text mit

32 Eli Kedourie, Nationalism, Oxford 1993, S. 70.

28 irgendwelchen politischen oder gar nationalen Bedeutungskomponenten gelehrt. Für die Juden in Palästina und die große Mehrheit, die außerhalb des Landes lebte, galt ein Leben außerhalb Palästinas als Selbstverständ- lichkeit und neuzeitliche Basis der jüdischen Identität. Die führenden Rabbiner betrachteten die politische Geschichte, die sich in der Bibel findet, und die Idee der jüdischen Souveränität über das Land Israel als Themen, die für ihre spirituelle Welt der Gelehrsamkeit höchst marginal waren. Wie das Judentum als Religion überhaupt, waren auch sie wesentlich mehr mit den heiligen Schriften befasst, die von den Beziehungen unter den Gläubigen und den Beziehungen der Gläubigen zu Gott handelten. Die zionistische Führung benutzte die Bibel als Rechtfertigung für die Kolonisierung Palästinas. Paradoxerweise wollten die weltlichen Juden, die die zionistische Bewegung gründeten, sowohl das jüdische Leben verwelt- lichen, als auch die Bibel zur Rechtfertigung der Kolonisierung Palästin- as benutzen. Mit anderen Worten (wenn es erlaubt ist, in dieser ernsten Sache einen kleinen Scherz einzustreuen): Sie glaubten zwar gar nicht an Gott, aber dennoch hatte Er ihnen Palästina versprochen. Dass die Berufung auf die Bibel für viele zionistische Führer nur ein Mittel zum Zweck und keineswegs ein Wesensmerkmal des Zionismus darstellte, zeigt sich klar an den Texten von Theodor Herzl: Der obers- te Prophet des Zionismus zog ernsthaft Uganda anstelle von Palästina als das Gelobte Land Zion in Erwägung. Er und andere sondierten auch wei- tere Möglichkeiten in Nord- und Südamerika und sogar Aserbeidschan.33 Andererseits gab es eine einflussreiche Gruppe von Zionisten, die zwar wenig für Religion übrig hatten, aber dennoch, selbst ohne bereits dort zu sein, Palästina als ihr Heimatland ansahen, und sie setzten sich schließlich durch. Wie bereits im vorigen Kapitel angesprochen, war ihnen dabei eine starke protestantische Bewegung von Wissenschaftlern und Politikern sehr von Nutzen, die die Bibel und die Archäologie Palästinas vor dem Hinter- grund des Glaubens studierten, der Zionismus zeige womöglich die Rea- lisierung von Gottes Endzeitversprechen an. Teil dieser Endzeitvision war die Rückkehr der Juden nach Palästina als Vorbedingung für die Rückkehr des Messias und die Wiederauferstehung der Toten. Sie nahmen diese Ide-

33 Eine gute Diskussion dieser Optionen findet sich in: Adam Rovner,In the Shad- ow of Zion: Promised Lands before Israel, New York 2014.

29 en nicht weniger ernst als etliche Jahre später viele christliche Zionisten in den USA. In beiden Fällen leisteten die esoterischen religiösen Über- zeugungen dem Projekt der Kolonisierung Palästinas einen guten Dienst. Neuere Forschungen zeigen, dass der Trend des Zionismus, Palästina als Territorium für seine Besiedlungspläne zu wählen, neben anderen Fak- toren durch das ausgesprochen intensive Interesse protestantischer Kreise begünstigt wurde, das die Kolonisierung des „Heiligen Landes“ durch die Juden mit hochheiligen, apokalyptischen christlichen Doktrinen in Ver- bindung brachte, denen zufolge die Rückkehr der Juden der Auslöser für die Wiederkehr des Messias sein würde.34 Hinter diesen religiösen Visionen verbargen sich wohl auch klassische antisemitische Ressentiments. Wenn das stimmt, war die Ermunterung der jüdischen Gemeinden zur Auswanderung nach Palästina nicht nur ein religiöses Gebot, sondern half auch dabei, ein judenfreies Europa zu schaf- fen. So schlug man zwei Fliegen mit einer Klappe: Man wurde die Ju- den in Europa los, und gleichzeitig erfüllte man den göttlichen Plan, nach dem die Wiederkunft des Messias durch die Rückkehr der Juden ausge- löst wird – einschließlich ihrer nachfolgenden Bekehrung zum Christen- tum oder ihrer ewigwährenden Verbrennung im Höllenfeuer, falls sie dies verweigern. Von da an wurde die Bibel sowohl zur Rechtfertigung als auch zur Richtschnur der zionistischen Kolonisierung Palästinas. Der harte Kern der Zionisten wusste zwar, dass das nicht genug sein würde: Die Kolonisie- rung eines bereits bewohnten Palästina erforderte eine systematische Poli- tik der Besiedlung, Enteignung und sogar ethnischer Säuberung. Dennoch war die Darstellung der Enteignung der Bewohner Palästinas als Erfüllung eines in der christlichen Prophezeiung enthaltenen göttlichen Plans von unschätzbarem Wert für die Gewinnung weltweiter christlicher Unterstüt- zung für den Zionismus. Diese „bibeltreue“ protestantische Position half damit einer mächtigen, von Chaim Weizmann angeführten Fraktion des Zionismus, Herzls Vor- schläge, in Afrika und auf dem amerikanischen Kontinent nach Koloni-

34 Im Werk Stephen Sizers findet sich eine hervorragende Zusammenfassung dieses Punkts samt der Quellen; siehe seinen Artikel „The Road to Balfour: the History of Christian Zionism“, www.balfourproject.org/the-road-to-balfour-the-history-of-christian-zio- nism-by-step.

30 sierungsmöglichkeiten zu suchen, zu vereiteln. Die Statur Weizmanns, der später erster Präsident Israels wurde, gewann während des Ersten Weltkrie- ges aufgrund seines wissenschaftlichen Beitrags zu den alliierten Kriegsan- strengungen an Bedeutung, und er spielte dann eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Balfour-Erklärung von 1917.35 Nach Herzls Tod 1904 konzentrierte sich der Zionismus ganz auf Paläs- tina, und alle anderen territorialen Optionen wurden fallengelassen. Die Politiker, die nun an Stelle der mitteleuropäischen Propheten der Anfän- ge des Zionismus das Ruder übernahmen, sorgten dafür, dass die immer mehr Gestalt annehmende weltliche Realität des Zionismus in Palästina in hohem Maß von sozialistischer, ja sogar marxistischer Ideologie bestimmt wurde. Es ging von nun an – mit Hilfe Gottes! – um ein weltliches, sozia- listisches und kolonialistisches jüdisches Projekt im Lande Palästina. Wie die bereits dort lebenden Menschen bald erfahren sollten, ist das Schick- sal der Ureinwohner immer besiegelt, und zwar unabhängig davon, ob der Siedler die Werke von Marx, die Bibel oder Traktate der europäischen Auf- klärung mitbringt. Die einzige Frage ist, ob die Ureinwohner eine Rolle in der Zukunftsvision der Siedler spielen, und wenn ja, welche. Da die frü- hen Vertreter des Zionismus obsessive Schriftsteller waren, wissen wir heu- te aus ihren Werken, dass sie die Ureinwohner als Hindernis, als Fremde und als Feinde betrachteten, ganz gleich wer sie waren und was für eigene Aspirationen sie hatten.36 Da Besiedlung und Enteignung die beiden Hauptziele des Zionismus waren, ist auch die goldene Zeit des zionistischen Sozialismus hierdurch beschmutzt. Wie Ze’ev Sternhell und vor ihm unter anderem Zachary Lockman und Gershon Shafir gezeigt haben, war die zionistische Version von Sozialismus und Marxismus immer voller Vorbehalte und stark ein- geschränkt. Die universalen Werte und Bestrebungen, die für die ideolo- gischen Bewegungen der westlichen Linken kennzeichnend sind, wurden in Palästina schon sehr früh nationalisiert und zionisiert, während der So- zialismus selbst im Lauf der Jahre immer mehr an Attraktivität verlor.37

35 M.W, Weisgal und J. Carmichael (Hg.), Chaim Weizmann: A Biography by Several Hands, New York 1963. 36 Ilan Pappé, „Shtetl Colonialism: First and Last Impressions of Indigeneity by Colonised Colonisers“, Settler Colonial Studies, 2/1 (2012), S. 39-58. 37 Für eine Diskussion dieser Werke und die Anfänge der Einführung des „Kolo- nialismus-Paradigmas“ in die Forschung zum Zionismus siehe Uri Ram, „The

31 Zionisierung hieß in diesem Fall Berufung auf das religiöse Dogma und seine Umformulierung auf eine Art, dass es einen ewigen moralischen Rechtsanspruch auf das Land Palästina begründete, der in jener Endzeit von Kolonialismus und Imperialismus nicht nur alle anderen von außen kommenden Ansprüche ausschloss, sondern auch die der Ursprungsbevöl- kerung. Somit forderte eines der am stärksten sozialistisch und weltlich ge- prägten kolonialistischen Projekte Exklusivität im Namen eines rein gött- lichen Versprechens. Die Berufung weltlicher Kräfte auf das Wort Gottes als Rechtfertigung für Kolonisierung kann jedoch nicht einzige Grundlage für die Übernah- me eines Landes sein. Natürlich sind materielle Macht, Diplomatie, Bruta- lität usw. oft noch wesentlich wichtiger. Da die Menschen aber leider sind, wie sie sind, kann auch die Berufung auf heilige Texte schon an sich tödli- chen Charakter bekommen. Das Buch des brillanten Autors Michael Prior, The Bible and Colonialism, hat gezeigt, wie genau das rund um den Globus der Fall gewesen ist.38 Die weltliche Arbeiterbewegung, die den Staat Israel gründete, benutz- te die Bibel zur Rechtfertigung der Zerstörung der palästinensischen Dör- fer 1948 und der Errichtung jüdischer Siedlungen, Kibbuzim und Mos- havim, auf ihren Trümmern und behauptete dann, sie befänden sich in Wahrheit auf den Ruinen ehemaliger jüdischer biblischer Stätten.39 Ein weltlicher sozialistischer Jude, Yigal Alon, beschloss nach dem Krieg von 1967, eine neue jüdische Stadt unweit Hebrons zu bauen, da letzteres laut Bibel dem jüdischen Volk „gehöre“. Die so gegründete Siedlung Qiri- at Arba wurde zu einer Brutstätte für Kräfte, die die Bibel sehr ernsthaft als Handlungsanleitung betrachteten. Dabei wählten sie selektiv die Kapitel und Passagen in der Bibel aus, die in ihren Augen die Enteignung der Palästinen- ser und später dann, im Lauf der langen Jahre der Besatzung, auch ihre Er- mordung und Verbrennung rechtfertigten. Wie wir vom Fall des politischen Islam wissen, besteht, sobald man beginnt, heilige Texte als Handlungsanwei- sung zu verstehen, immer die Gefahr, dass die Fanatiker der eigenen Gesell-

Colonisation Perspective in Israeli Sociology“, in: Ilan Pappé (Hg.), The Israel/ Palestine Question, London/New York 1999, S. 53-77. 38 Michael Prior, The Bible and Colonialism; A Moral Critique, London 1997. 39 Ilan Pappé, „The Bible in the Service of Zionism“, in: Ingrid Helm, Thomas Thompson (Hg.), History, Archaeology and the Bible, Forty Years after “Historicity”, London/New York 2016, S. 205-218.

32 schaft noch einen Schritt weitergehen und eines Tages selbst zum Mainstre- am werden. Und der Prozess ist noch nicht am Endpunkt angelangt. In der Bibel finden sich Passagen, in denen von Völkermord die Rede ist – die Amale- kiter wurden von Joshua samt und sonders ausgerottet. Heute gibt es in Israel Kräfte – Gott sei Dank bisher nur eine fanatische Minderheit –, die nicht nur die Palästinenser als Amalekiter bezeichnen, sondern auch alle anderen, die in ihren Augen nicht zionistisch genug sind.40 Ähnliche Darstellungen von Völkermorden im Namen Gottes erschei- nen in der jüdischen Haggada für das Passahfest. Deren wichtigste Erzäh- lung, nämlich die vom Sederabend, in der Gott Moses in ein Land schickt, das von anderen Völkern bewohnt ist, die alle beim Namen genannt wer- den und deren Schicksal es ist, vernichtet zu werden, um die „Rückkehr“ der Juden in das Abraham versprochene Land zu ermöglichen, stellt für die große Mehrheit der Juden natürlich keine Aufforderung zum Handeln dar. Aber sie eignet sich zur Ausbeutung durch die neue Strömung des jüdischen messianischen Denkens, mit dem die Ermordung Yitzhak Ra- bins 1995 und die Verbrennung eines palästinensischen Ehepaars und ih- res kleinen Kindes im Sommer 2015 gerechtfertigt wurde. Israels neue Jus- tizministerin Ayelet Shaked hat ähnliche Ideen geäußert, die sich vorerst nur gegen Palästinenser, die es wagen gegen Israel aufzubegehren, und de- ren gesamte Familien richten:

Sie sollten ihren Söhnen folgen; nichts wäre gerechter. Sie sollten ver- schwinden, genau wie die Häuser selbst, in denen sie die Schlangen großgezogen haben. Andernfalls werden dort noch weitere Schlan- gen großgezogen werden. 41

Im Augenblick ist das nur eine Zukunftswarnung. Längst gängige Praxis seit 1882 ist die Verwendung der Bibel zur Rechtfertigung von Raub und Enteignung. Doch bis 1967 war es nur der rechte Rand der zionistischen Bewegung, der die Bibel als moralische Leitlinie zur Behandlung der Pa-

40 Diese Themen werden ausführlich in einem Buch diskutiert, das leider nur auf Hebräisch erschienen ist, nämlich Sefi Rachlevski, Der Esel des Messias, Tel Aviv 1998. 41 Dies erschien am 1. Juli 2014 auf ihrer offiziellen Facebook-Seite und wurde in der israelischen Presse ausgiebig zitiert.

33 lästinenser betrachtete: als Untermenschen und als ewige Feinde des jüdi- schen Volkes. Nach der Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens je- doch hatten diese messianischen und fundamentalistischen Gruppen, die sich in der Nationalreligiösen Partei MAFDAL sammelten, eine histori- sche Gelegenheit, ihre Halluzinationen in reale Aktionen vor Ort um- zusetzen. Sie siedelten sich mit oder ohne Zustimmung der Regierung überall in den neu besetzten Gebieten an und schufen Inseln jüdischen Lebens, deren integraler Bestandteil bösartiges Verhalten gegenüber ih- ren palästinensischen Nachbarn war. Darüber hinaus zogen und ziehen etliche Siedler aus wirtschaftlichen Gründen in die besetzten Gebiete, die diese Haltungen daher nicht teilen, aber auch nicht bereit sind, sich ihr zu widersetzen. Der harte Kern der nach 1967 entstandenen Siedlungsbewegung Gush Emunim brauchte die sehr besonderen Bedingungen, die durch die israeli- sche Herrschaft über das Westjordanland und den Gazastreifen geschaffen wurden, um im Namen der heiligen Texte Amok zu laufen und sich das Recht anzumaßen, zu Mord, Raub und Schikane zu greifen. Im 21. Jahrhundert wurde diese unbegrenzte Gewalttätigkeit von ähn- lich gesinnten Personen und Bewegungen aus den 1967 besetzten Gebie- ten in das Israel in den Grenzen von vor 1967 eingeschleppt, besonders in Orte wie Akko und Jaffa, die prekäre Nahtstellen zwischen arabischen und jüdischen urbanen Räumen darstellen und in denen die Palästinen- ser innerhalb Israels von der israelischen Raumentwicklungspolitik buch- stäblich stranguliert werden und sich verzweifelt wünschen, auch sie könn- ten sich innerhalb der zwar nur informell geschlossenen, aber dennoch apartheidartig abgesonderten Räume der jüdischen Gemeinden ausbrei- ten. Dieser Trend zu Gewalt könnte also durchaus ein Bote des erschre- ckenden künftigen Gesichts des biblischen Zionismus im Israel des 21. Jahrhunderts sein. Ich möchte in diesem Buch klarstellen, dass diese Manifestation von ex- tremem Rassismus gegen die Palästinenser auf beiden Seiten der grünen Li- nie eine Ausgeburt der zionistischen Bewegung selbst und direkte Folge der Entscheidung der weltlichen – und in vielerlei Hinsicht sozialistischen – Zi- onisten ist, die Bibel und andere heilige Texte zur Rechtfertigung der Über- nahme Palästinas und der Enteignung der Ursprungsbevölkerung des Lan- des einzusetzen.

34 Vom Führer der Bewegung von den 1920er bis zu den 1960er Jahren und ersten Ministerpräsidenten Israels David Ben-Gurion und seinem en- gen Freund und Kollegen Yitzhak Ben-Zvi, der neben ihm einer der Füh- rer der sozialistischen zionistischen Fraktion in Palästina war und zweiter Präsident Israels wurde, über die Ideologen in der Arbeiterpartei, die ihnen bis in die 1970er Jahre folgten, bis zum extrem hohlen Bibelfetischismus der Likud-Partei und ihrer verschiedenen Ableger der letzten Jahre – im- mer wurde das angebliche biblische Versprechen als schlagendstes Argu- ment für die Kolonisierung Palästinas eingesetzt. Die Nutzung der Bibel als Aufforderung zur und Wegweiser der Kolo- nisierung steht allerdings in Widerspruch zum anderen Hauptargument für den Zionismus: der Notwendigkeit einer sicheren Zuflucht für die Ju- den der ganzen Welt, besonders nach dem Holocaust. Wenn es wirklich um diese Frage gegangen wäre, hätte man seinerzeit lediglich eine poli- tische Lösung finden müssen, die für die Sicherheit aller jüdischen Ein- wanderer vor und direkt nach dem Holocaust sorgte und sie statt nach ir- gendwelchen biblischen Kriterien dort ansiedelte, wo das möglich war und wo dies keine Enteignung der Palästinenser mit sich brachte. Genau die- se Position wurde von einer Reihe bekannter Persönlichkeiten vertreten, aber diese wurden von der zionistischen Bewegung zunehmend als Feinde betrachtet. Führende Gestalten wie Mahatma Gandhi vertraten die Idee, man solle die Palästinenser bitten, den verfolgten Juden eine Zuflucht ne- ben der einheimischen Bevölkerung statt an ihrer Stelle einräumen (ich werde auf Gandhis Haltung noch zurückkommen). Aber der Raum, den die zionistische Bewegung in Palästina für sich verlangte, war nicht von der Notwendigkeit der Rettung verfolgter Juden bestimmt, sondern von dem Ziel, so viel von Palästina wie möglich mit so wenig Palästinensern darin wie möglich zu bekommen (und das wurde nach außen und nach innen mit dem biblischen Versprechen gerechtfertigt). Kein Wunder, dass in den 1980er Jahren islamistische Strömungen unter den Palästinensern ihre eigenen Rechtfertigungen durch heilige Schriften präsentierten. Das hauptsächliche Gegenargument der gegen die zionistischen An- sprüche beruft sich auf ein „Versprechen“ im Koran, Palästina gehöre für immer dem Islam. Der Grund, aus dem sich viele Palästinenser dieser Art von Diskurs zuwendeten, war die Indifferenz des Westens gegenüber ih- rem ursprünglichen Ansatz, Selbstbestimmung und Freiheit im Namen weltlicher und universaler nationaler Werte zu fordern.

35 Es ist faszinierend, den Versuch nüchterner und weltlicher jüdischer Ge- lehrter zu beobachten, eine „wissenschaftliche“ Verwandlung dieses nebulö- sen Versprechens aus grauer Vorzeit in eine Tatsache zu betreiben. Genauso ein Projekt stand unter Leitung des Chef-Historikers der jüdischen Gemein- de im Palästina des Mandatsgebiets, Ben Zion Dinburg (Dinur), und man findet eines seiner Resultate auf der Website des israelischen Außenministe- riums, die ich zu Beginn dieses Buches zitiert habe. Dinurs Aufgabe in den 1930er Jahren bestand in dem wissenschaftlichen Nachweis, dass die Juden seit der Römerzeit immer in Palästina präsent waren. Nicht, dass das je je- mand bezweifelt hätte. Allerdings ist es nur in einer surrealen Welt, in der Nicht-Gläubige sich zur Enteignung eines anderen Volkes auf einen heiligen Text berufen, möglich, dass die Tatsache, dass die Juden im 18. Jahrhundert zwei Prozent der Bevölkerung bildeten, die Gültigkeit des biblischen Ver- sprechens und des modernen zionistischen Anspruchs auf Palästina bewei- sen kann:42 Die Juden, die im 18. Jahrhundert in Palästina lebten, hätten den Gedanken eines jüdischen Staates – ebenso wie die orthodoxen Juden Ende des 19. Jahrhunderts – ganz selbstverständlich abgelehnt. Aber der Zi- onismus ist nicht die einzige Bewegung, die längst verstorbene Menschen „nationalisiert“ – wie Benedict Anderson, einer der interessantesten Auto- ren zum Thema Nationalismus, schrieb, finden nationale Bewegungen die Eingemeindung der Toten in die Nation oft sehr zweckdienlich, da letzte- re sich einer aufgezwungenen neuen Identität kaum widersetzen können.43 Im weltlichen Mainstream der zionistischen Bewegung und später im Staat Israel hat die Bibel zwei Narrativen gedient. Der Hauptnarrative zu- folge ist Israel das Gelobte Land, das Gott (vor drei- bis viertausend Jah- ren) Abraham versprach und das die Bibel und andere jüdische Quellen bis zur Auslöschung der letzten Form unabhängiger jüdischer Existenz durch die Römer beschreiben: eine Geschichte, die mit der Zerstörung des Zwei- ten Tempels im Jahr 70 endete. Der wichtigste wissenschaftliche und säku- lare Beweis für diese Erzählung findet sich in der biblischen Archäologie, während die weltlichen Juden sich auf den heiligen Text berufen.

42 Nen Zion Dinburgs Buch Das Volk Israels in seinem Land. Erster Band: Vom Ur- sprung Israels bis zum babylonischen Exil wurde 1936 auf Hebräisch veröffentlicht; der zweite Band, Israel im Exil erschien 1946. 43 Benedict Anderson, Imagined Communities, London/New York 1981, S. 197- 198. Deutsch: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Berlin 1998, S. 170f.

36 Wie das Zitat auf der Website des Außenministeriums zeigt, war das Land diesem Narrativ zufolge nach dem Jahr 70 bis zur zionistischen Rückkehr so gut wie leer. Wer nun meint, diese Beschreibung sei nur eine Karikatur, liegt damit falsch. Einer der angesehensten britischen Ge- schichtsprofessoren, Sir Martin Gilbert, veröffentlichte vor etlichen Jahren den Band The Atlas of the Arab-Israeli Conflict, der seitdem in zahlreichen Auflagen im renommierten Verlag Cambridge University Press erschien.44 Der Atlas beginnt mit der Geschichte des Konflikts in biblischen Zei- ten. Er betrachtet es als gegebene Tatsache, dass es ein jüdisches König- reich gab, in das die Juden nach 2.000 Jahren im Exil zurückkehrten und dass der Konflikt dann erneut wieder aufflammte, weil es Kräfte gab, die dies mit Gewalt und ohne gute Gründe zu verhindern suchten. Die erste Karte des Buchs sagt bereits alles. Wie erwähnt, zeigt sie das biblische Palästina; die zweite zeigt Palästina unter den Römern, die drit- te zeigt es zur Zeit der Kreuzfahrer und die vierte im Jahr 1882. Zwischen dem Mittelalter und der Ankunft des ersten Zionisten passierte dort also gar nichts! Ausschließlich, wenn Fremde (Römer, Kreuzfahrer und Zionis- ten) in Palästina sind, ist das Land überhaupt eine geschichtliche Erwäh- nung wert. Diese biblische Erzählung wurde während der Verhandlungen über die Zukunft Palästinas nach dem britischen Beschluss zum Abzug aus dem Land sehr intensiv eingesetzt. Sie war die zionistische Argumentationsli- nie vor dem Sonderausschuss der UN für Palästina (UNSCOP) und vor den Vereinten Nationen überhaupt. Wie bereits erwähnt, war sie auch ent- scheidend für die Umbenennung der palästinensischen Dörfer, die 1948 zerstört wurden und jetzt in Gestalt neuer jüdischer Siedlungen wiederau- ferstanden. Auch die israelischen Lehrpläne und Lehrwerke überliefern die Botschaft eines Rechts auf das Land auf Basis des biblischen Versprechens. So heißt es etwa in einem Brief des Kultusministerium an alle Schulen Israels vom 29. November 2014: „Die Bibel gibt uns die kulturelle Infrastruktur des Staa- tes Israel; in ihr ist unser Recht auf dieses Land verankert.“ Von diesem Zi- tat reicht eine direkte Linie zurück bis zu der Aussage David Ben-Gurions 1937 vor der Royal Peel Commission, dem britischen Untersuchungsaus-

44 Martin Gilbert, The Atlas of the Arab-Israeli Conflict, Oxford 1993. Erste Auflage 1974, bisher letzte 2012.

37 schuss, der versuchte, eine Lösung für den immer schärfer werdenden Kon- flikt zu finden. Er schwenkte dort die Bibel und rief den Mitgliedern des Ausschusses zu: „Das ist unser Qushan [Landtitel unter den Osmanen]; un- ser Recht auf Palästina kommt nicht aus der Charta des Mandats, die Bibel ist unsere Charta.“ Daneben gibt es eine zweite Erzählung, die man als biblische Mini-Er- zählung bezeichnen könnte. Sie dient nicht der Rechtfertigung des zionis- tischen Projekts als Ganzem, sondern der der Präsenz Israels im Westjor- danland (wie wir in Kapitel 9 sehen werden, verhalten sich die Dinge im Gazastreifen etwas anders). Unter der Ägide mächtiger weltlicher Politiker wie , Yi- gal Alon, und und mit der Unterstützung von Rabbinern und Archäologen wurde die Bibel zur Rechtfertigung des Baus jüdischer Kolonien im Westjordanland angeführt, vor allem in Gebieten, die den gemäßigteren israelischen Politikern strategisch problematisch er- schienen. Die meisten Politiker strebten eine Ansiedlung von Juden im Westjordanland nur in solchen Gebieten an, in denen sich relativ wenige Palästinenser befanden. Die „biblische“ Landkarte der Kolonisierung um- fasste jedoch auch die Gebiete, in denen ein Großteil der Palästinenser leb- te, was die Enteignung ihres Landes und ihre Einschnürung in Enklaven erforderlich machte. Als bezeichnend dafür, wie diese biblische Mini-Erzählung mit der Ma- kro-Erzählung verschmolzen wurde, könnte man das moderne israelische Unterrichtscurriculum betrachten. Bibelstudien stellen heute einen bedeu- tenden und wachsenden Teil dieses Curriculums dar, und zwar mit beson- derem Augenmerk auf alle Aspekte der Frühgeschichte, die den Anspruch auf das Land rechtfertigen. Sodann werden die biblischen Erzählungen und die nationalen Lehren, die daraus gezogen werden können, mit dem Studium des Holocaust und der Entstehung des Staates Israel 1948 ver- schmolzen. Das Ergebnis ist ein Mischmasch, der in Eyal Sivans Film The Slaves of Memory brillant dargestellt und kritisiert wird.45 Historisch gese- hen ist es natürlich unsinnig, die Bibel, die Untaten gegen die Juden in Europa und den Krieg von 1948 als ein einziges Kapitel zu behandeln. Doch auf ideologischer Ebene werden diese drei Themen als Doktrinen zur grundlegenden Rechtfertigung des heutigen jüdischen Staats einge-

45 Eyal Sivan, Yizkor: The Slaves of Memory, 1990.

38 setzt, wobei bemerkenswert ist, dass Fragen wie das Recht der Palästinen- ser auf Freiheit und Selbstbestimmung gar nicht erst gestellt werden. Die Diskussion über die Rolle der Bibel im heutigen Israel führt uns zur Untersuchung der nächsten Prämisse oder Grundannahme: Ist der Zionis- mus tatsächlich keine Form des Kolonialismus?

39 Kapitel 4: Zionismus und Kolonialismus sind zweierlei

ie die zionistischen Führer wussten und wie die erste Welle von W Siedlern, die im Land ankam, rasch erkannte, war das Land, das sie sich auserkoren hatten, keineswegs leer. Eine von den ersten zionisti- schen Organisationen nach Palästina geschickte Delegation schrieb von dort aus an ihre Mitstreiter zurück: „Die Braut ist schön, aber schon mit einem Anderen verheiratet.“ Auch die ersten zionistischen Siedler waren enttäuscht, an ihrem Zielort Einheimische vorzufinden und sahen diese als Eindringlinge und Fremde an, die das Heimatland usurpierten, das ih- nen, den Siedlern gehörte. Hinzu kam, dass ihre Führer ihnen sagten, die Einheimischen seien gar keine wirklich dort Ansässigen mit irgendwelchen Rechten auf das Land, sondern vielmehr ein Problem, das nicht nur gelöst werden musste, sondern auch gelöst werden konnte. Kernpunkt des tatsächlichen Problems war, dass der Zionismus eine ko- loniale Siedlerbewegung war, die sich wenig von anderen Bewegungen von Europäern unterschied, die den amerikanischen Kontinent, Südafrika, Aus- tralien und Neuseeland kolonisiert hatten. Anders als die konventionellen Kolonialisten, die im Dienst eines Reiches oder eines Mutterlandes standen, handelte es sich bei diesen Siedlerkolonialisten um Flüchtlinge, die nicht nur auf der Suche nach einer Heimat, sondern auch auf der nach einem Heimatland waren. Dabei trat dann immer das Problem auf, dass die neuen „Heimatländer“ bereits von anderen Menschen bewohnt waren. Oft führ- te dieses Hindernis zum Völkermord an der ursprünglichen Bevölkerung vor Ort. In Südafrika endete die Entwicklung mit der Durchsetzung eines Apartheidsystems gegenüber der schwarzen Mehrheit. Auch hier waren die weißen Gemeinschaften der Meinung, das neue Land gehöre kraft göttli- chen oder moralischen Rechts ihnen, auch wenn sie nicht behaupteten, sie hätten Tausende von Jahren zuvor schon einmal dort gelebt. Vor diesem Hintergrund ist der Zionismus nichts Einzigartiges. Eine Anzahl von Juden, die sich zu Recht in Europa unsicher fühlten und ange- sichts der damaligen Geschehnisse in Europa verständlicherweise nach ei- ner neuen nationalen Selbstdefinition suchten, wählten als Fokus schließ- lich das Land, das sie selbst ebenso wie die Christen und Muslime als das Heilige Land ansahen. Damit waren sie nicht die erste religiöse Gruppe, die einen heiligen Ort in eine politische Bastion zu verwandeln versuch-

40 te – die muslimischen Eroberer taten im 7. Jahrhundert dasselbe, und im Mittelalter befleißigten sich die Kreuzfahrer derselben Praxis. Dabei ver- suchten die Muslime mit einigem Erfolg, die Einheimischen, auf die sie stießen, zum Islam zu bekehren, während die Kreuzfahrer fast die gesam- te örtliche Bevölkerung summarisch massakrierten. Doch im 20. Jahrhun- dert wurden solche Akte und Bestrebungen immer weniger akzeptiert. Die Bevölkerung in Palästina war selbstbewusst und entschlossen, im Namen des Nationalismus gegen das neue koloniale Siedlungsprojekt des Zionis- mus Widerstand zu leisten. Wenn wir den Gedanken akzeptieren, dass der Zionismus eine koloni- ale Siedlerbewegung war, wirft dies ein neues Licht auf die Frage, wie wir den palästinensischen Widerstand gegen ihn betrachten sollten. Um hier die richtige Perspektive zu finden, müssen wir zum ersten Teil der berühm- ten ersten Prämisse zurückgehen, der zufolge Palästina ein Land ohne Volk war, das auf ein Volk ohne Land wartete. Diese Auffassung wurde 1972 immer noch von vertreten, doch führende US-Politiker be- sonders der Republikanischen Partei verfechten sie bis heute. Dabei ergibt sich die Notwendigkeit zu behaupten, die Palästinenser hätten nie natio- nale Bestrebungen gehabt und eigentlich gar nicht existiert, aus dem Be- dürfnis, jede palästinensische Aktion gegen die zionistische Besiedlung Pa- lästinas schlicht eingeborener, primitiver Gewalttätigkeit zuzuschreiben. Ein wichtiger Bestandteil der israelischen Gründungsmythologie ist die Idee, die Palästinenser hätten schon von der Ankunft der ersten Siedler an bis zur Gründung des Staates Israel eine antisemitische Terrorkampa- gne betrieben. Wie jedoch die Tagebücher der frühen Zionisten zeigen, wurden sie von den Palästinensern freundlich empfangen, die ihnen Un- terkunft boten und häufig sogar in der Bebauung des Landes unterrichte- ten.46 Erst als klar wurde, dass die Siedler nicht kamen, um als Nachbarn oder zusammen mit der Ursprungsbevölkerung zu leben, sondern an ihre Stelle treten wollten, begann der palästinensische Widerstand. Und als er begann, unterschied er sich nicht von irgendwelchen anderen antikoloni- alen Kämpfen. Der Gedanke, im Elend lebende Juden sollten eine sichere Zuflucht ha- ben, wurde von den Palästinensern und ihren Unterstützern nicht abgelehnt. Aber diese großzügige Haltung wurde von den zionistischen Führern nicht

46 Siehe Pappé, Shtetl, ibid.

41 erwidert, auch wenn die jüdische Gesellschaft selbst sie vermutlich durchaus zur Kenntnis nahm. Die Führung jedoch war nicht auf Koexistenz aus. Diese negative Haltung der Zionisten wurde auch von Mahatma Gandhi erkannt, als der jüdische Philosoph Martin Buber ihn bat, dem zionistischen Projekt in Palästina seine Unterstützung zu geben. Gandhis wichtigster Kommentar zu Palästina und zur jüdischen Fra- ge findet sich in seinem viel gelesenen Leitartikel in The Harijan vom 11. November 1938, der mitten während des heftigen Zusammenstoßes der einheimischen Palästinenser mit der prozionistischen britischen Regie- rungspolitik erschien. Buber war vom Führer der jüdischen Gemeinschaft, David Ben-Gurion gebeten worden, Druck auf diverse bekannte Figuren von moralischer Autorität auszuüben, sich öffentlich für den Zionismus auszusprechen. Da Gandhis internationaler Ruhm als Führer eines gewalt- losen nationalen Kampfes gegen den Imperialismus der Sache des Zio- nismus großen Auftrieb geben würde, hofften die zionistischen Führer, Gandhis Achtung vor Buber würde zu seiner Zustimmung zum zionisti- schen Projekt führen. Gandhis Artikel war die Antwort auf Bubers Bitte. Er begann mit der Feststellung, seine Sympathien lägen gänzlich bei den Juden, deren Volk schon seit so langer Zeit unmenschlicher Behandlung und Verfolgung aus- gesetzt gewesen sei. Doch Gandhi hatte einen schwerwiegenden Vorbehalt:

Aber meine Sympathie macht mich nicht blind für die Gebote der Gerechtigkeit. Der Ruf nach einer nationalen Heimstätte für die Ju- den hat auf mich wenig Wirkung. Die Begründung wird in der Bibel und der Beharrlichkeit gesucht, mit der die Juden sich immer nach der Rückkehr nach Palästina gesehnt haben. Aber warum sollten sie nicht wie die anderen Völker der Erde das Land zu ihrer Heimat ma- chen, wo sie geboren sind und ihren Lebensunterhalt verdienen?47

Er hinterfragte damit Kern und Basis der Logik des politischen Zionis- mus. Gandhi lehnte den Gedanken eines jüdischen Staates im Gelobten Land ab, indem er darauf hinwies, das „Palästina der biblischen Vorstel-

47 Jonathan K. Crane, „Faltering Dialogue? Religious Rhetoric of Mohandas Ghan- di and Martin Buber“, Anaskati Darshan, Band 3, Nr. 1, 2007, S. 34-52.

42 lungswelt“ sei „kein geografisches Gebiet“. Gandhi hatte also sowohl poli- tische als auch religiöse Gründe, das zionistische Projekt rundweg abzuleh- nen. Die Zustimmung der britischen Regierung zum zionistischen Projekt trug zu dieser Ablehnung nur noch weiter bei. Für ihn stand außer Zwei- fel, wem Palästina gehörte:

Palästina gehört den Arabern in genau dem Sinn, in dem England den Engländern oder Frankreich den Franzosen gehört. Es ist falsch und inhuman, den Arabern die Juden aufzuzwingen. […] Es wäre ein offensichtliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Rech- te der stolzen Araber zu beschneiden, damit Palästina ganz oder zum Teil den Juden als nationale Heimstätte zurückgegeben werden kann.48

Gandhis Antwort auf den Zionismus und die Palästinafrage enthält meh- rere Bedeutungsebenen, die von einer ethischen Position bis zum politi- schen Realismus reichen. Besonders interessant ist, dass Gandhi, der fest an die Untrennbarkeit von Religion und Politik glaubte, den kulturellen und religiösen Nationalismus des Zionismus konsistent und unzweideutig ablehnte.49 Die religiöse Rechtfertigung eines eigenen Nationalstaats, wie sie der Zionismus für sich in Anspruch nahm, machte auf ihn keinerlei tie- fen Eindruck. Buber reagierte auf Gandhis Artikel mit Versuchen, den Zi- onismus zu rechtfertigen, aber Gandhi hatte offenbar genug gehört. Wie oben angedeutet, war die Haltung der Siedler selbst, als mensch- licher Gemeinschaft, gegenüber den Palästinensern gemischter und ver- worrener als die der zionistischen Führung. Während der Mandatsperiode von 1918 bis 1948 gab es auch Beispiele für die Kooperation und Koexis- tenz zwischen jüdischen Siedlern und einheimischer Bevölkerung, die den Führern der zionistischen Bewegung jedoch ein Dorn im Auge waren. Ei- nige Forscher haben dokumentiert, dass es im Lauf dieser Jahre Hunder- te von gemeinsamen Unternehmen und Gewerkschaftsaktivitäten sowie landwirtschaftlichen Kooperationsbemühungen gab. Aber ohne politische

48 Dieses Zitat ist aus Avenr Falk, „Buber and Gandhi“, Gandhi Marg, 7th year, Oktober 1963, S. 2. Es gibt eine Reihe von Websites wie etwa die der Gandhi Archives, die den gesamten Dialog enthalten. 49 A. K. Ramakkrishnan, „Mahatma Ghandi Rejected Zionism“, The Wisdom Fund, 15 August 2001; www.twf.org/News/Y2001/0815-GhandhiZionism.html.

43 Unterstützung durch die Führung konnte das nicht den Weg zu einer al- ternativen Realität in Palästina bahnen.50 Mit zunehmender Aggressivität der zionistischen Bewegung nahmen auch die politischen Führer der Palästinenser diesen gemeinsamen Initi- ativen gegenüber eine immer feindseligere Haltung ein. Die Erkenntnis auf Seiten der politischen, sozialen und kulturellen Eliten der palästinensi- schen Gemeinschaft, dass der Zionismus ein kolonialistisches Projekt war, stärkte die gemeinsame nationale Identität der Palästinenser. Die palästinensische politische Bewegung brauchte zu ihrer Herausbil- dung und Festigung eine gewisse Zeit. Sie begann mit einer kleinen, in meh- reren palästinensischen Städten präsenten Gruppe, der Muslimisch-Christli- chen Gesellschaft, deren Ausrichtung im Wesentlichen modern und säkular war. Wie im ersten Kapitel beschrieben, hatte der nationale Impuls inner- halb der arabischen Welt zwei verschiedene Flügel. Der bedeutendere davon war panarabisch ausgerichtet, während der schwächere Teil, der aber nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidende Bedeutung gewann, sich als lokaler Patriotismus charakterisieren lässt. Als der panarabische Nationalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen raschen Aufstieg erlebte, be- stand eine seiner Hoffnungen darin, die bis dahin osmanisch beherrschte arabische Welt in eine unabhängige, ein wenig am Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika orientierte arabische Republik zu verwandeln, wäh- rend andere Kräfte auch ein arabisch-osmanisches Reich nach dem Muster des österreichisch-ungarischen Reichs in Betracht zogen. Als sich herausstellte, dass die panarabischen Bestrebungen der Macht der Kolonialreiche Großbritannien und Frankreich, die den osmanischen Nahen Osten lieber unter sich aufteilen wollten, nicht gewachsen waren, entwickelte sich eine lokalere Version des Nationalismus, die sich an die durch die osmanischen Verwaltungsgrenzen und die Aufteilung des Ge- biets durch die Kolonialmächte geschaffene Landkarte anpasste. Der pana- rabische Impuls wird im Arabischen Qawmiyya, die lokalere Variante des Nationalismus Wataniyya genannt. Die palästinensische Gemeinschaft spielte in beiden eine Rolle. Die palästinensischen Intellektuellen enga- gierten sich nun aktiv in diversen Gruppen und Bewegungen, die für ara- bische Einheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung eintraten. Doch

50 Ich habe diese Beziehung im Einzelnen untersucht in: Ilan Pappé, A History of Mo- dern Palestine, ibid, S. 108-116.

44 wie bereits im ersten Kapitel festgestellt, gab es, selbst bevor Großbritan- nien mit Hilfe der anderen europäischen Machte die Grenzen des geopoli- tischen Raums namens Palästina definierte, eine eigenständige palästinen- sische Existenz, die sich in den Bräuchen der Menschen, ihrem arabischen Dialekt und einer gemeinsamen Geschichte manifestierte. Als die zionistische Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts in Palästina eintraf, waren beide Impulse in der palästinensischen Gemeinschaft stark vertreten. Etliche ihrer damaligen Intellektuellen und Aktivisten träumten von einer vereinigten Arabischen Republik. Andere verfochten die Idee ei- nes Groß-Syrien und sahen Damaskus als Zentrum eines neuen Staates, zu dem auch Palästina gehören sollte. Als dann die Briten kamen und die in- ternationale Gemeinschaft in Gestalt des Völkerbunds begann, über die Zu- kunft Palästinas zu diskutieren, reagierten prominente Palästinenser mit der Publikation einer Zeitschrift namens „Süd-Syrien“ und erwogen zeitweise sogar die Gründung einer politischen Partei dieses Namens. Andere dagegen betrachteten schon sehr früh – und bevor sich heraus- stellte, dass äußere Mächte darüber entscheiden würden, was genau als „Palästina“ definiert würde – ein unabhängiges Palästina als das Gebot der Zukunft. So gründeten sie bereits 1909 ihre eigene Zeitung, Filastin, oder Palästina (dessen Bezeichnung als „Filastin“ auf die frühen Tage der mus- limischen Eroberung im achten Jahrhundert zurückgeht und Palästina da- mals vom Gebiet des heutigen Jordanien, „Urdun“, auf der anderen Seite des Jordanflusses unterschied).51 Als US-Präsident Woodrow Wilson 1919 eine Untersuchungskommis- sion, die King-Crane-Kommission, nach Palästina entsandte, die heraus- finden sollte, was die Zukunftsvorstellungen der – damals neunzig Pro- zent der Bevölkerung stellenden – Palästinenser waren, zeigte sich, dass die Mehrheit von ihnen für die nationale Unabhängigkeit eintrat. Dass das Streben nach einer panarabischen Republik 1919 nicht mehr aktuell war, lag wohl daran, dass man sich inzwischen überall in der arabischen Welt darüber klar geworden war, dass die Strategie der Kolonialmächte, den Nahen Osten in von ihnen bis zu ihrer Unabhängigkeit zu kontrol- lierende Nationalstaaten aufzuteilen, zu diesem Zeitpunkt nicht zu durch- kreuzen war.

51 Siehe Khalidi, Palestinian Identity, ibid.

45 Aber ob sie nun Pan-Arabisten oder örtliche Patrioten oder Anhänger eines Groß-Syrien waren, eines wollten die Palästinenser jedenfalls nicht: Teil eines jüdischen Staates sein. Ihre Führer lehnten jede politische Lö- sung ab, die, und das im Zeitalter arabischer Nationalstaaten, der jüdischen Siedlergemeinde irgendeinen Teil des ohnehin kleinen Landes geben würde. Gleichzeitig waren sie, wie sie in ihren Verhandlungen mit den Briten Ende der 1920er Jahre sehr deutlich erklärten, bereit, mit den bereits eingetroffe- nen Siedlern einen Staat zu teilen. Bis 1928 kommunizierten sie ihre Haltung durch den Vollzugsausschuss einer seit 1918 jährlich zusammentretenden palästinensischen Nationalkon- ferenz, der die Palästinenser in ihren Verhandlungen mit der britischen Re- gierung und der zionistischen Bewegung repräsentierte. Die britische Regierung hatte schon eine Weile lang versucht, ein auf jü- disch-palästinensischer Parität in den Vertretungskörperschaften Palästin- as basierendes Abkommen zu erreichen. Obwohl die Palästinenser die große Mehrheit im Land bildeten, willigte die palästinensische Führung 1928 ein, den jüdischen Siedlern eine paritätische Vertretung in den künftigen Staatsor- ganen zu gewähren. Offiziell, das heißt, solange sie vermuten konnte, dass die Palästinenser sie ablehnen würden, stand die zionistische Führung dieser Idee positiv gegenüber. Doch eine geteilte Vertretung widersprach ja sämtlichen Zielen des Zionismus. Als die Idee dann von den Palästinensern akzeptiert wurde, wies die zionistische Bewegung sie folgerichtig zurück. Ganz ähnlich „unterstützte“ die zionistische Bewegung 1947 den Gedanken einer Teilung Palästinas, solange sie von einer Ablehnung durch die andere Seite ausgehen konnte. Als die Palästinenser sich 1949 bereit erklärten, eine Teilung in Be- tracht zu ziehen, wurde dies von Israel abgelehnt.52 Die Ablehnung des britischen Plans von 1928 führte zu den Unruhen von 1929 und mit ihnen zum Massaker an Juden in Hebron und einer noch viel größeren Zahl an Toten unter den Palästinensern. Aber sie war nicht der einzige Grund für diese Welle der Gewalt, die schlimmste seit Beginn der Mandatszeit. Auslöser war vor allem die Vertreibung palästi- nensischer Pächter, deren Land sich im Besitz abwesender Grundbesitzer oder örtlicher Notabeln befand und nun vom Jüdischen Nationalfonds ge- kauft wurde. Diese Pächter, die jahrhundertelang auf diesem Land gelebt

52 Siehe Ilan Pappé, The Ethnic Cleansing of Palestine, Oxford/New York 2006, S. 29-39.

46 hatten, wurden jetzt in die Slums der Städte Palästinas verdrängt. In einem dieser Armenviertel im Nordosten Haifas rekrutierte der exilierte syrische Prediger Izz al-Din al-Qassam Anfang der 1930er Jahre die ersten Anhän- ger für seinen islamischen heiligen Krieg gegen die Briten und die zionis- tische Bewegung. Nach 1930 nahm die palästinensische Führung institutionalisierte- re Formen an und reorganisierte sich in Gestalt des Hohen Arabischen Komitees, einer Körperschaft, die alle politischen Parteien und Bewegun- gen der palästinensischen Gemeinde repräsentierte. Dieses Hohe Arabi- sche Komitee strebte bis 1937 nach einem Kompromiss mit der britischen Regierung, aber an diesem Punkt hatten die zionistische Bewegung und das britische Reich schon aufgehört, sich für den palästinensischen Stand- punkt zu interessieren. Stattdessen arbeiteten sie daran, viele Aspekte der Zukunft des Landes unilateral zu entscheiden. Von da an betrachtete die palästinensische Nationalbewegung den Zionismus in der Tat als kolonia- listische Bewegung, die besiegt werden musste. Aber selbst 1947, als Groß- britannien beschloss, die Palästinafrage an die UNO abzuschieben, schlu- gen die Palästinenser gemeinsam mit anderen arabischen Ländern vor, das Mandat durch einen einheitlichen Staat zu ersetzen. Die „internationale Gemeinschaft“ zwang ihnen dann die Teilungslösung auf, die mit ihrer na- tionalen Auslöschung endete. Sobald man die Charakterisierung des Zionismus als koloniale Siedler- bewegung und der palästinensischen Nationalbewegung als antikolonialis- tische Bewegung akzeptiert, erscheinen das Verhalten und die Politik des Führers der palästinensischen Gemeinschaft, Hajj Amin al Husseinis, vor und während des Zweiten Weltkriegs in einem anderen Licht. Viele Leser in Deutschland werden wissen, dass sich eine geläufige, von Israel endlos propagierte Anschuldigung gegen die Palästinenser auf die Beobachtung stützt, dass al Husseini ein Sympathisant der Nazis war. Tat- sächlich wurde der wichtigste Teil der Forschung zu dieser Frage in Israel und in Deutschland geleistet. Amin war kein Engel. Er war noch sehr jung, als er von den Notabeln Palästinas und den Briten für das höchste religiöse Amt seiner Gemein- schaft ausgewählt wurde. Das Amt des Muftis von Jerusalem, das er wäh- rend der gesamten Mandatszeit von 1922 bis 1948 innehielt, brachte ihm politische Macht und gesellschaftliches Ansehen. Angesichts der zionis- tischen Kolonisierung des Landes versuchte er, seiner Gemeinschaft ein

47 Führer zu sein, und als Ende der 1930er Kräfte wie Izz al-din Qassam ei- nige Jahre lang einen bewaffneten Kampf gegen Großbritannien und den Zionismus führten, lehnte er diese Option ab. Als er stattdessen zu Streiks, Demonstrationen und ähnlichen Mitteln zur Beeinflussung der britischen Politik aufrief, erklärte das Imperium ihn zum Feind, und so musste er 1938 Jerusalem verlassen.53 Daraufhin sah er sich nach den Feinden seines Feindes um, und die- se, nämlich Deutschland und Italien, taten das gleiche. Nach zwei Jahren unter nazideutschem Einfluss sah er tatsächlich keinen Unterschied mehr zwischen Judaismus und Zionismus. Nur wenige Kräfte, schon gar nicht die zionistische Bewegung, insistierten damals auf einem solchen Unter- schied. Amins Bereitschaft, als Radiokommentator für die Nazis tätig zu sein und ihnen bei der Rekrutierung von Muslimen auf dem Balkan für die deutschen Kriegsanstrengungen zu helfen, ist ein schwarzer Fleck in seiner Laufbahn. Doch damit handelte er nicht anders als die zionistischen Führer in den 1930er Jahren, die ein Bündnis mit den Nazis gegen das bri- tische Reich anstrebten, und als all die antikolonialistischen Bewegungen, die das britische Reich durch Bündnisse mit seinen wichtigsten Gegnern, Italien und Deutschland, besiegen wollten. Am Ende des Krieges wendete er sich wieder legitimen Aufgaben zu und versuchte vor der Nakba, die Palästinenser zu organisieren, aber er war inzwischen machtlos, und die Welt der arabisch-osmanischen städtischen Notabeln, der er angehörte, war zu Ende gegangen. Wenn es einen Grund zur Kritik an ihm gibt, dann besteht dieser nicht in seiner Haltung zum Zionismus, sondern in seinem Mangel an Mitge- fühl für das schwere Los der Bauern in Palästina und seinen Streitereien mit anderen Notabeln, beides Faktoren, die die antikolonialistische Be- wegung schwächten. Nichts von dem, was er getan hat, rechtfertigt seine Porträtierung in dem US-amerikanisch-zionistischen Projekt namens Die Enzyklopädie des Holocaust, in der sein Eintrag nach dem Hitlers der zweit- längste ist. Das ist reine Manipulation, wenn nicht gar Missbrauch, des Gedankens an den Holocaust.54

53 Siehe Ilan Pappé, The Husaynis, ibid, S. 283-287. 54 Für eine eingehende Analyse siehe Ilan Pappé, The Idea of Israel: A History of Power and Knowledge , London/New York 2010, S. 153-178.

48 Fassen wir nun das vorliegende Buch bis hierher zusammen. Ich habe den beiden Annahmen widersprochen, Palästina sei eine leeres Land gewe- sen und die jüdische Kolonisierung des Landes seit Ende des 19. Jahrhun- dert sei eine „Rückkehr“ der Juden in ein unbewohntes ehemaliges Hei- matland gewesen, das zweitausend Jahre lang verwaist gewesen war. Ferner habe ich gezeigt, dass das Land von einer einheimischen Bevölkerung be- wohnt war, die zu dieser Zeit genau wie viele andere Nationen auf der gan- zen Welt Unabhängigkeit und Selbstbestimmung forderte. Angesichts der zionistischen Kolonisierung reagierten die Palästinenser wie so viele an- dere Nationen mit einem antikolonialistischen Kampf. Sie waren durch- aus (und das in höherem Maß als heute der größte Teil Europas) zur Auf- nahme von Flüchtlingen bereit – aber was sollten sie tun, als sie feststellen mussten, dass die Flüchtlinge nicht mit der Absicht kamen, mit ihnen zu leben, sondern mit der, sie zu verdrängen?

49 Kapitel 5: Die Palästinenser verließen ihre Heimat 1948 freiwillig

s gibt zwei Ansätze zur Untersuchung dieser These und ich werde Emich hier beider bedienen. Der erste fragt, ob ein Wille bestand, die Palästinenser zu vertreiben; der zweite, ob, wie in der zionistischen Mytho- logie behauptet, am Vorabend des Krieges von 1948 ein Aufruf an die Pa- lästinenser erging, freiwillig ihre Wohnorte zu verlassen. Nur Masala hat meines Erachtens sehr überzeugend analysiert, welch zentrale Rolle die Idee eines Bevölkerungstransfers im zionistischen Den- ken spielt.55 Ich werde seinen Ausführungen hier nur einige Zitate füh- render Zionisten hinzufügen, um zu demonstrieren, dass die zionistische Führung und die zionistischen Ideologen sich keine erfolgreiche Realisie- rung ihres Projekts vorstellen konnten, ohne die Ursprungsbevölkerung Palästinas loszuwerden. Seit einiger Zeit akzeptieren auch zionistische Historiker wie Anita Sha- pira nach Jahren der Leugnung, dass die Helden ihrer Erzählung, die Füh- rer der zionistischen Bewegung, ernsthaft einen Transfer der Palästinenser in Betracht zogen. Dabei klammern sie sich jedoch verzweifelt an die Tat- sache, dass die Ausführungen dieser politischen Figuren in Bezug auf die Bedeutung der Begriffe „zwangsweise“ und „freiwillig“ meist höchst un- klar waren.56 Es stimmt, dass sämtliche zionistischen Politiker und Ideologen, die sich zum Transfer äußerten, bei öffentlichen Versammlungen immer von freiwilligem, auf Übereinkunft basierendem Transfer sprachen. Aber selbst diese Reden offenbaren eine bittere Wahrheit, denn so etwas wie ein frei- williger Transfer existiert gar nicht. Es handelt sich dabei um semantische Übungen, nicht um praktische Realität. In den 1930er Jahren war der wichtigste Ideologe der Bewegung wahrscheinlich Berl Katznelson, der zugleich als ihr moralisches Gewis- sen bekannt war. Er war ein vorbehaltloser Unterstützer des Transfers. Auf der 20. Zionistischen Konferenz, die kurz nach dem ersten bedeu- tenden britischen Friedensvorschlag durch die Peel-Kommission zusam-

55 Nur Masalha, Expulsion of the : The Concept of “Transfer” in Zionist Political Thought, 1882-1948, Washington 1992. 56 Siehe Anita Shapira, Land and Power, New York 1992, S. 285f.

50 mentrat, trat er unmissverständlich für die Transferidee ein. Er erklärte den Anwesenden:

Der Gedanke eines Transfers der örtlichen Bevölkerung hat unter uns eine moralische Debatte ausgelöst. Mein Gewissen ist rein. Es ist besser, einen Nachbarn zu haben, der weit weg ist, als einen Feind ganz in der Nähe. Sie [die Palästinenser] werden durch ihren Trans- fer nichts verlieren und wir ganz gewiss nicht. Ich denke schon seit langer Zeit, dass das die beste Lösung ist […] und dass dies bald die- ser Tage geschehen muss.57

Nachdem er erfuhr, dass die britische Regierung im Peel-Bericht die Mög- lichkeit eines Transfers der Palästinenser innerhalb Palästinas erwog, war er sehr enttäuscht:

Der Transfer nach „außerhalb Palästinas“ würde hier das Gebiet um Schechem (Nablus) bedeuten. Ich bin der Meinung, dass ihre Zu- kunft in Syrien und im Irak liegt.58

1942 wurde von einigen Führern der zionistischen Linken, die zu Hasho- mer Hazair gehörten und glaubten, Ben-Gurion lehne die Idee eines Transfers der Palästinenser ab, dazu befragt. Seine Antwort war:

Soweit ich die zionistische Ideologie kenne, ist dies [der Transfer] Teil der Realisierung des Zionismus; aus dieser Sicht bedeutet Zio- nismus den Transfer der Menschen von einem Land ins andere – ein Transfer, der auf Übereinkunft basiert.59

In der Öffentlichkeit waren die Repräsentanten der Bewegung, Ben-Guri- on und andere Ideologen wie Katznelson allesamt für das, was sie „freiwil- ligen Transfer“ nannten. David Ben-Gurion sagte: „Der Transfer der Araber ist leichter als jeder andere Transfer, weil es in diesem Gebiet arabische Staaten gibt.“ Und er

57 David Ben-Gurion, The Roads of our State, Tel-Aviv 1938, S. 179f. 58 Ibid. 59 Berl Katznelson, Writings, Band 5, Tel-Aviv 1947, S. 112.

51 fügte hinzu, dies werde für die zu transferierenden Palästinenser eine Ver- besserung sein (ohne allerdings zu sagen, warum). Er schlug vor, die Paläs- tinenser nach Syrien zu transferieren. Und er sprach beständig weiterhin von freiwilligem Transfer.60 Dies war jedoch weder eine aufrichtige noch eine durchführbare Posi- tion. Tatsächlich sahen einige der Kollegen dieser Politiker und Ideologen nicht, wie ein Transfer anders als durch Zwang vor sich gehen sollte. Auf ihre Einwände wurde nicht direkt, sondern auf einem geschlossenen Tref- fen der Exekutive der Jewish Agency im Juni 1938 geantwortet, die der Frage des Transfers gewidmet war. Wie es scheint, sprachen sich fast alle Teilnehmer des Treffens, zu denen Ben-Gurion, Katznelson, Sharett, Ussisqin and andere berühmte Mitglie- der des zionistischen Pantheons gehörten, für einen zwangsweisen Trans- fer aus. Dabei versuchte Katznelson zu erklären, was er unter “zwangsweise” verstand:

Was ist mit zwangsweisem Transfer gemeint? Ist das ein Transfer ge- gen den Willen des arabischen Staates? Gegen diesen Willen könnte keine Macht der Welt einen solchen Transfer durchsetzen.61

Er erklärte dann weiter, „zwangsweise“ bedeute die Überwindung des Wi- derstandes der Palästinenser selbst:

Wenn man mit jedem arabischen Dorf und mit jedem einzelnen Ara- ber ein Transferabkommen schließen muss, wird man mit dem Pro- blem nie zurande kommen. Wir führen beständig Transfer von ein- zelnen Arabern durch, aber die echte Frage wird der Transfer großer Zahlen von Arabern mit Zustimmung des arabischen Staates sein.62

Das war der Trick. Die Sprache war die des freiwilligen Transfers, die Stra- tegie der schrittweise Transfer, bis sich 1948 die Gelegenheit zu einem

60 Central Zionist Archives, Minutes of the Jewish Agency Executive, 7. Mai 1944, S. 17-19. 61 Central Zionist Archives, Minutes of the Jewish Agency Executive, Band 28, Nummer 53, Treffen vom 12. Juni 1938, S. 31f. 62 Ibid.

52 wirklich massiven Transfer ergab. Aber wenn man die Narrative von in seinem Buch The Making of the Palestinian Refugee Problem ak- zeptiert, geschah ja selbst letzterer Transfer in der Praxis Schritt für Schritt und nicht massiv. Aber auch schrittweiser Transfer, bei dem einzelne Dör- fer oder Stadtviertel transferiert werden, stellt, sobald eine gewisse zahlen- mäßige Schwelle erreicht ist, eine massive ethnische Säuberung dar, ein Thema, zu dem ich später noch mehr sagen werde. Das Treffen von Juni 1938 machte den zentralen Platz der Ideologie des Transfers innerhalb der zionistischen Bewegung klar. Aus den Mitschrif- ten dieses Treffens erfahren wir, dass zwar öffentlich immer die Sprache des freiwilligen Transfers verwendet wurde, dabei in Wirklichkeit aber zwangs- weiser Transfer gemeint war. Ben-Gurion erklärte, seiner Meinung nach würde die Durchführung des zwangsweisen Transfers, besonders, wenn dies durch die Briten ge- schähe, „die größte Leistung in der Geschichte der jüdischen Besiedlung in Palästina“ darstellen. Und er fügte hinzu, „Ich bin für einen zwangswei- sen Transfer; ich sehe darin nichts Unethisches.“ Der prominente Politiker und Ideologe Menachem Ussisqin meinte, es sei „höchst ethisch, Araber aus Palästina zu transferieren und in besseren Umständen neu anzusie- deln“. Er deutete an, dies sei vermutlich die Logik hinter der Balfour-Er- klärung. Ferner erfahren wir auch, dass sofort mit einer Diskussion über nume- rische Ziele und die besten Mittel, sie zu erreichen, begonnen wurde. Der Prozess kam erst 1948 voll zum Tragen, aber seine Grundsteine wurden bei diesem Treffen gelegt. Nur eine sehr kleine Minderheit der Mitglieder der Exekutive wende- te sich gegen einen zwangsweisen Transfer. Resultat des Treffens war, dass man Syrien als bevorzugten Zielort eines Transfers betrachtete und auf eine erste Transfer-Welle von mindestens 100.000 Palästinensern hoffte.63 Siebzig Jahre später berichtete die israelische Tageszeitung Ma’ariv, 75 Prozent der jüdischen Bevölkerung Israels unterstützten einen Transfer der palästinensischen Bevölkerung in Israel. Im Lauf eines Jahrhunderts ist der Gedanke, die beste Lösung des Konflikts bestehe in der Vertreibung der

63 Ibid.

53 Palästinenser, zum Bestandteil der zionistischen DNA des modernen jüdi- schen Staates geworden.64 Dabei waren Ben-Gurion und die anderen Führer noch vorsichtig im Hinblick darauf, was zu tun sei, falls man die Palästinenser nicht überzeu- gen konnte zu gehen. Sie mussten damals, Ende der 1930er Jahre, noch nicht klar sagen, was sie dann tun würden. So sagte Ben-Gurion damals le- diglich, er sei nicht gegen einen gewaltsamen Transfer, verlange diesen aber für den Augenblick auch noch nicht. Demgegenüber ist die offizielle Geschichtsversion Israels viele Jahre un- verändert geblieben: Die Palästinenser wurden zu Flüchtlingen, weil ihre und die Führer der arabischen Welt sie aufforderten, Palästina zu verlassen, bevor die arabischen Armeen ins Land einmarschieren und die Juden hin- auswerfen würden, woraufhin sie zurückkehren könnten. In Wirklichkeit gab es nie eine solche Aufforderung zur Flucht – sie ist eine Erfindung des israelischen Außenministeriums von Anfang der 1950er Jahre. Später modifizierten israelische Historiker die Mytholo- gie und behaupteten, die Palästinenser seien wegen des Krieges gegangen oder geflohen. Tatsächlich wurde die Hälfte der Palästinenser, die 1948 zu Flüchtlingen wurden, noch vor Beginn des Krieges am 15. Mai 1948 ver- trieben. (Und nebenbei bemerkt, erfolgten die arabischen Aufrufe, Palästi- na zu verlassen, der israelischen Propaganda zufolge direkt vor dem Krieg, im Mai 1948, zu einem Zeitpunkt also, als es bereits Hunderttausende von palästinensischen Flüchtlingen gab).65 Die These, die Palästinenser hätten das Land freiwillig verlassen, ist nicht die einzige, deren Angelpunkt der Krieg von 1948 ist. Es gab und gibt noch drei weitere. Laut der ersten sind die Palästinenser selbst schuld an dem, was ihnen geschah, da sie den UN-Teilungsplan von November 1947 ablehnten. Dieser Vorwurf sieht völlig vom kolonialistischen Cha- rakter der zionistischen Bewegung ab. So hätten ja wohl auch die Algerier eine Teilung ihres Landes mit den französischen Siedlern wohl kaum ak- zeptiert – und eine solche Weigerung wäre wohl vom Rest der Welt kaum als unangemessen oder irrational betrachtet worden. So oder so sollte klar sein, dass eine solche Haltung nicht die ethnische Säuberung der Palästi-

64 Bericht von Eric Bender in: Ma’ariv, 31. März 2008. 65 Der erste, der die Existenz dieser Aufrufe widerlegte, war der irische Journalist Erskine Childers in: The Spectator, 12. Mai 1961.

54 nenser rechtfertigte, um sie für die Ablehnung eines UN-Friedensplans zu bestrafen, bei dessen Ausarbeitung sie nicht einmal konsultiert wor- den waren. Die anderen beiden Thesen zu 1948 besagen erstens, Israel sei ein David gewesen, der gegen einen arabischen Goliath kämpfte, und zweitens, es habe nach dem Krieg erfolglos die Hand zum Frieden ausgestreckt, während die Palästinenser und Araber diese Friedensgeste zurückgewiesen hätten. Aller- dings hat die Forschung im Hinblick auf die erste These klar bewiesen, dass die Palästinenser keinerlei militärische Macht besaßen, während die arabi- schen Staaten nur ein relativ schmales Truppenkontingent schickten, das kleiner als die jüdischen Streitkräfte und weitaus schlechter ausgerüstet und ausgebildet war als diese. Hinzu kommt die wichtige Tatsache, dass diese Truppen erst nach dem 15. Mai 1948, dem Tag, an dem der Staat Israel aus- gerufen wurde, nach Palästina geschickt wurden. Die Entsendung war eine Reaktion auf ethnische Säuberungen, mit denen die zionistischen Streitkräf- te schon im Februar 1948 begonnen hatten, und erfolgte kurz nach einem rasch überall bekannt gewordenen Massaker im Dorf Deir Yassin bei Jerusa- lem im April 1948, das die gesamte arabische Welt aufwühlte.66 Was den Mythos der ausgestreckten Friedenshand betrifft, zeigen die Dokumente unzweideutig die Unnachgiebigkeit der israelischen Füh- rung, die es ablehnte, Verhandlungen über die Zukunft Palästinas nach dem Mandat zu führen oder eine Rückkehr der Menschen in Betracht zu ziehen, die vertrieben wurden oder geflohen waren. Während die arabi- schen Regierungen und die palästinensischen Führer 1948 bereit waren, sich an einer neuen und angemesseneren UN-Friedensinitiative zu beteili- gen, unternahm die israelische Führung einfach nichts, als jüdische Terro- risten den UN-Friedensunterhändler, Graf Bernadotte, ermordeten, und lehnte den von der Palästinensischen Versöhnungskommission, einer Kör- perschaft der Vereinten Nationen, vorgeschlagenen neuen Plan zur Wie- deraufnahme von Verhandlungen ab. An dieser unnachgiebigen Haltung änderte sich auch später nichts, und wie Avi Shlaim in seinem Buch The Iron Wall gezeigt hat, war es – ganz im Gegensatz zu dem Mythos, laut dem die Palästinenser nie eine Möglichkeit versäumten, den Frieden zu

66 Siehe Pappé, The Ethnic Cleansing.

55 versäumen – Israel, das beständig die ihm gemachten Friedensangebote ablehnte.67 Die These von der freiwilligen Flucht mag vielleicht die wichtigere der beiden Thesen sein, aber in der Praxis werden sie ohnehin zu einem ein- zigen Bild verschmolzen, in dem der jüdische Staat sich gegen ungeheure Widrigkeiten behauptet, den Palästinensern anbietet, zu bleiben und sei- nen Nachbarn Friedensangebote macht, nur um dann erkennen zu müs- sen, dass es auf der anderen Seite „keine Partner gibt“. Die beste Art, diesem Bild entgegenzuwirken, ist wohl eine geduldige und systematische erneute Nacherzählung der Ereignisse in Palästina zwi- schen 1947 und 1949. Im Folgenden möchte ich eine kurze, aber hoffent- lich alles Notwendige enthaltende Darstellung geben. 1946 glaubt die britische Regierung in London immer noch, sie könne noch geraume Zeit über Palästina herrschen. Tatsächlich begann sie sogar, Truppen von Ägypten nach dort zu verlegen, obwohl der ägyptische nati- onale Befreiungskampf in diesem Jahr intensiver wurde. Doch dann führ- ten der harte Winter zu Ende des Jahres, die Verstärkung des zionistischen Untergrundkampfs gegen das britische Mandat und mehr als alles ande- re der Entschluss zur Aufgabe Indiens zu einem dramatischen Wandel der britischen Palästina-Politik. So beschloss Großbritannien im Februar 1947, Palästina zu verlas- sen. Die Reaktion der beiden ethnischen Gemeinschaften dort auf die- se Nachricht war sehr unterschiedlich. Die palästinensische Gemeinde und ihre Führer gingen davon aus, dieser Prozess werde dem in den ara- bischen Nachbarländern ähneln, in denen die Mandatsmacht die Herr- schaft schrittweise an die örtliche Bevölkerung übergeben wollte, damit diese dann demokratisch über die Art des zukünftigen Staates entschied. Die zionistische Führung war weitaus besser auf die künftigen Ereig- nisse in Palästina vorbereitet. Sofort nach der Entscheidung Londons zur Aufgabe Palästinas traf die zionistische Führung Vorbereitungen an zwei Fronten. Die erste war die diplomatische Front. Die einzige Weise, dem äußerst gut begründeten Anspruch der Palästinenser auf eine demokrati- sche Entscheidung der im Land lebenden Menschen über die Zukunft des Landes den Boden zu entziehen, war die untrennbare Verknüpfung des Holocaust und des weltweiten Schicksals der Juden mit dem Geschick der

67 Avi Shlaim, The Iron Wall: Israel and the Arab World, London 2014.

56 jüdischen Siedlergemeinschaft in Palästina. So unternahmen die zionisti- schen Diplomaten alles, die internationale Gemeinschaft, die nun anstel- le der Briten das Palästinaproblem lösen sollte, zu überzeugen, die Frage, wer Großbritannien als Souverän über Palästina ersetzte, sei engstens mit dem Schicksal aller Juden auf der Welt und, noch spezifischer, mit dem Anspruch des jüdischen Volkes auf Entschädigung für den Holocaust ver- bunden. Das Ergebnis war die UN-Teilungsresolution vom 29. November 1947. Sie wurde von dem Sonderkomitee der UN für Palästina UNSCOP aus- gearbeitet, das aus Delegierten von Mitgliedsstaaten der UN bestand, die wenig bis gar nichts über die Palästinafrage wussten. Die Idee, die beste Lösung sei eine Aufteilung des Gebiets, kam von der zionistischen Bewe- gung selbst. Von den Palästinensern selbst hörten die Mitglieder des Ko- mitees kaum etwas. Das Hohe Arabische Komitee, das heißt, die repräsen- tative politische Körperschaft der Palästinenser und der Arabischen Liga, beschloss, UNSCOP zu boykottieren, da für das Komitee die bloße Idee, Palästina könne nicht auf dieselbe Art den Palästinensern gehören, wie der Irak den Irakern gehörte, eine Verletzung der zahlreichen internationalen Versprechen im Hinblick auf das Recht auf nationale Selbstbestimmung darstellte, die der Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg gemacht hatte. Die zionistische Bewegung schlug vor, achtzig Prozent Palästinas solle zu einem jüdischen Staat werden, während der Rest entweder unabhängig oder von Jordanien annektiert werden sollte. Genau darum nahm das Kö- nigreich Jordanien eine so zwiespältige Haltung gegenüber den UN-Be- mühungen ein: Einerseits war da das verlockende Angebot einer mögli- chen Expansion des wasserarmen Königsreichs auf Teile des fruchtbaren Palästina, doch andererseits wollte Jordanien nicht als Verräter der paläs- tinensischen Sache dastehen. Dieses Dilemma wurde noch akuter, als die jüdische Führung der haschemitischen Dynastie in Jordanien eine Verein- barung anbot, die genau das vorsah. Und tatsächlich wurde Palästina am Ende des Krieges von 1948 mehr oder weniger auf die beschriebene Art zwischen der zionistischen Bewegung und Jordanien aufgeteilt.68 Die Zionisten besaßen keine absolute Kontrolle über UNSCOP. Das Komitee, das zwischen Februar und November 1947 tagte, revidierte den

68 Avi Shlaim, Collusion Across the Jordan: King Abdullah, The Zionist Movement and the Partition of Palestine, New York 1988.

57 ursprünglichen zionistischen Vorschlag. Zum einen vergrößerte es das den Palästinensern zugestandene Gebiet und zweitens legte es sich klar auf zwei unabhängige Staaten fest. Eine Hoffnung dabei war, dass die beiden Staa- ten sich auf eine wirtschaftliche Union, eine gemeinsame Einwanderungs- politik und gegebenenfalls auch verschiedene Optionen des Wahlrechts im jeweils anderen Staat einigen würden. Wie mittlerweile freigegebene Dokumente zeigen, akzeptierte die zio- nistische Führung die neue Aufteilung und die neuen Vorschläge der UN, weil sie wusste, dass die andere Seite den Plan ablehnen würde und die Entscheidung über die endgültige Aufteilung ohnehin vor Ort fallen wür- de.69 Die nun erfolgte internationale Legitimierung des jüdischen Staates war weitaus wichtiger als alles andere, einschließlich der Grenzen des zu- künftigen Staates. (Und wie wir wissen, hat Israel letztere Frage bis heute nicht geklärt!). Im Rückblick lässt sich sagen, dass die Zionisten von ihrem Standpunkt aus gesehen genau das Richtige taten. Und ihre Führung blieb zwischen der Verabschiedung des Teilungs- plans und dem Mandatsende im Mai 1948 nicht untätig. Sie musste auch aktiv sein, denn in der arabischen Welt wuchs der Druck auf die Regie- rungen, mit Gewalt gegen den neuen jüdischen Staat vorzugehen. Unter- dessen begannen paramilitärische Gruppen in Palästina mit Angriffen auf jüdische Transportwege und isolierte jüdische Gemeinden, um die Ver- wirklichung des internationalen Beschlusses, ihre Heimat in einen jüdi- schen Staat zu verwandeln, zu unterbinden. Diese Angriffe waren nicht sehr effektiv und verliefen schon einige Wochen nach Verkündung des UN-Teilungsplans mehr oder weniger im Sand. Eine besonders angespannte Zeit für die zionistische Bewegung kam im Februar und März 1948. Aufgrund der Berichte der US-Vertreter in Paläs- tina war man in den USA zu dem Schluss gekommen, dass der UN-Frie- densplan von November 1947, das heißt, der Teilungsplan, dem Land kei- neswegs Frieden und Hoffnung brachte, sondern der Hauptgrund für den Ausbruch der Gewalt war. Es gab bereits Berichte über die Vertreibung von Palästinensern aus ihren Häusern und von Tötungen auf beiden Sei- ten. So willigte Präsident Truman ein, die Idee einer Teilung zu überden-

69 Das wurde sehr überzeugend in Simha Flapans Buch The Birth of Israel: Myths and Realities, New York 1988, demonstriert. Deutsch Die Geburt Israels: Mythos und Wirklichkeit, Frankfurt 2015, Nachdruck der deutschen Erstlauflage Mün- chen 1988; mit einem neuen Vorwort von Mazim Qumsiyeh.

58 ken und schlug durch seinen UN-Botschafter einen neuen Plan vor, der eine fünfjährige internationale Treuhandschaft über ganz Palästina vorsah, um mehr Zeit für die Suche nach einer echten Lösung zu gewinnen. In den letzten Monaten vor Ende des Mandats agierte die zionistische Führung bis März 1948 an drei verschiedenen Fronten. Die erste bestand in der Vorbereitung auf die Möglichkeit eines Eindringens militärischer Einheiten aus der arabischen Welt, eine Aufgabe, die sie, wie wir im Rück- blick sehr genau sehen können, sehr gut erledigte. Allerdings profitierte sie dabei auch von dem Mangel an echter militärischer Vorbereitung, Zielstre- bigkeit und Koordination in der arabischen Welt, wo die politischen Eli- ten sehr stark zögerten, in Palästina einzugreifen. Das stillschweigende Ab- kommen mit Jordanien, das diesem erlaubte, im Gegenzug gegen eine nur höchst begrenzte Beteiligung an den arabischen Kriegsanstrengungen Tei- le Palästinas (die später als das Westjordanland bezeichnet werden würden) zu annektieren, war ein weiterer entscheidender Faktor für das sich her- ausbildende Kräftegleichgewicht, denn die jordanische Armee war die be- stausgebildete Armee der arabischen Welt. An der diplomatischen Front war die eben erwähnte neue US-Initiativ das Hauptproblem. Die Amerikaner beabsichtigten die Einreichung einer neuen UN-Resolution im Februar 1948, der zufolge Palästina für weite- re fünf Jahr unter internationaler Kontrolle stehen sollte, um weitere Ver- handlungen zu ermöglichen. Das war die erste Gelegenheit, bei der die jüdische Lobby in den USA eingesetzt wurde, um die Position der US-Ad- ministration zu ändern. Zwar existierte AIPAC damals noch nicht, wohl aber die Methoden, die politische Szenerie der USA mit den Interessen erst des Zionismus und später Israels in Palästina zu verknüpfen. Wie sich herausstellte, waren sie erfolgreich, und so kehrten die USA zu ihrer Un- terstützung des Teilungsplans zurück. (Hier sollte man auch erwähnen, dass die UdSSR noch loyaler gegenüber der zionistischen Position war und die jüdischen Streitkräfte sogar mit Waffen versorgte).70 Diese beiden Fronten, die mögliche militärische Konfrontation mit der arabischen Welt und die diplomatische Front, hatten keinen Einfluss auf die zionistische Strategie gegenüber der für die Zionisten wichtigsten und

70 Neues und tiefergehendes Material zu dieser eigenartigen Wendung findet sich in einem neuen Buch von Irene Gendzier, Dying to Forget; Oil, Power, Palestine, and the Foundations of US Policy in the Middle East, New York 2015.

59 beunruhigendsten Frage: Wie konnten sie in gleich welchem Teil Palästin- as, den sie unter ihre Kontrolle bekommen konnten, einen Staat haben, der sowohl demokratisch als auch jüdisch war? Oder anders ausgedrückt, was sollten sie mit der palästinensischen Bevölkerung im zukünftigen jü- dischen Staat tun? Die verschiedenen Beratungen zu dieser Frage endeten am 10. März 1948, als das Oberkommando den berüchtigten Plan D oder Plan Dalet beschloss, der festlegte, was mit den Palästinenser geschehen sollte, die in Gebieten lebten, die von den jüdischen Streitkräften besetzt würden. Die Debatten wurden vom Anführer der jüdischen Gemeinde, David Ben-Gu- rion, geleitet, der vor wie auch nach der Gründung des Staates Israel von demografischen Fragen geradezu besessen war. In den Tagen nach Annahme des Teilungsplans konstatierte er, ein Staat, dessen Bevölkerung nur zu 60 Prozent aus Juden bestehe, sei nicht lebensfähig. Er äußerte sich nicht zu der Frage, welcher Prozentsatz von Palästinensern in einem zukünftigen Staat diesen noch lebensfähig sein lassen würde. Aus der allgemeinen Tendenz seiner damaligen Auslassungen und aus seinen seit 1937 artikulierten Ideen geht klar hervor, dass die Bot- schaft, die er seinen Generälen und durch sie seinen Truppen übermittel- te, besagte, dass es in einem jüdischen Staat möglichst wenige Palästinen- ser geben sollte. Wie die Werke palästinensischer Wissenschaftler wie Nur Masala und Ahmad Saadi bewiesen haben, versuchte er genau darum auch nach dem Krieg, die Palästinenser, die noch im jüdischen Staat verblieben waren („die arabische Minderheit“) loszuwerden.71 In der Periode zwischen dem 29. November 1947 (dem Tag der An- nahme der UN-Resolution) und dem 15. Mai 1948 (dem Ende des bri- tischen Mandats) geschah aber noch etwas anderes, das der zionistischen Bewegung half, sich besser auf die kommende Zeit vorzubereiten. Mit Herannahen des Mandatsendes sank die Zahl der britischen Soldaten, bis schließlich nur noch die Truppen im Hafen von Haifa übrig waren. Sämtliche von ihnen geräumten Gebiete wurden von der jüdischen Ge- meinschaft übernommen, und diese säuberte sie dann noch lange vor Ende des Mandats von der örtlichen Bevölkerung. Es begann im Feb-

71 Ahmad Sa’di, „The Incorporation of the Palestinian Minority by the Israeli State, 1948-1970; On the Nature, Transformation and Constraints of Collaboration“, Social Text, Band 21, Nr. 2 (2003), S. 75-94.

60 ruar 1948 mit einigen Dörfern und kulminierte im April mit der Säu- berung Haifas, Jaffas, Safeds, Beisans, Akkos und Westjerusalems. Die letzten Stadien dieses Prozesses wurden bereits systematisch im Master- plan der Zionisten, Plan Dalet vom 10. März 1948 anvisiert, der vom Oberkommando der wichtigsten Militärorganisation der jüdischen Ge- meinde, der Haganah ausgearbeitet worden war, und klar die Methoden umriss, die bei der ethnischen Säuberung der arabischen Bevölkerung angewendet werden sollten:

Zerstörung von Dörfern (Niederbrennen, Sprengung, Verlegung von Minen in den Ruinen), besonders in jenen Bevölkerungszentren, die schwer dauerhaft zu kontrollieren sind. Organisierung von Such- und Kontrolloperationen nach den folgenden Richtlinien: Einkrei- sung des Dorfes und Durchführung einer Suche darin. Im Fall von Widerstand muss die bewaffnete Kraft zerstört werden, und die Be- völkerung ist über die Staatsgrenze zu vertreiben.72

Man kann sich durchaus fragen, wie diese Operationen, die ich in einem Buch als Die ethnische Säuberung Palästinas bezeichnet habe, überhaupt durchgeführt werden konnten, wo sich die israelische Armee doch seit dem 15. Mai 1948 in einem Krieg mit den ins Land eindringenden ara- bischen Einheiten befand. Dazu ist zunächst zu sagen, dass die städtische arabische Bevölkerung mit Ausnahme dreier Städte, Lydda, und Bir Saba, bereits vor Eintreffen der arabischen Armeen gesäubert worden war. Zweitens befanden sich die ländlichen Gebiete Palästinas schon vor Mai 1948 weitgehend unter israelischer Kontrolle, und die Konfrontation mit den arabischen Armeen fand an den Rändern dieser Gebiete und nicht innerhalb davon statt. In einem Fall, in dem die jordanische Armee den Palästinensern hätte helfen können, nämlich in den Städten Lydda und Ramla, beschloss der britische Kommandeur der jordanischen Armee, Sir John Glubb, seine Kräfte abzuziehen, um eine Konfrontation mit der isra- elischen Armee zu vermeiden.73

72 Walid Khalidi, „Plan Dalet: Master Plan for the Conquest of Palestine“, Journal of Palestine Studies, Band 18, Nr. 1 (Herbst 1988), S. 4-33. 73 Benny Morris, The Birth of the Palestinian Refugee Revisited, Cambridge 2004, S. 426.

61 Und drittens war der arabische Militäreinsatz ineffektiv und kurzlebig. Nach anfänglichen Erfolgen in den ersten drei Wochen stellte die Präsenz der arabischen Armeen in Palästina nur noch eine chaotische Geschichte von Niederlagen und raschen Rückzügen dar. Und nachdem es zunächst zu einer kurzen Pause gekommen war, gingen die israelischen ethnischen Säuberungen ab Ende 1948 wieder unvermindert weiter. Von einem heutigen Standpunkt und aus ethischer Perspektive betrach- tet, führt kein Weg daran vorbei, das israelische Vorgehen in den Landge- bieten Palästinas als Kriegsverbrechen und sogar als Verbrechen gegen die Menschheit zu charakterisieren. Ich möchte das nochmals unterstreichen, da es sich um eine Kernfrage handelt, die wir nicht ignorieren dürfen, denn sollten wir dies tun, werden wir nie begreifen, was mit Israel grund- sätzlich nicht stimmt und was der Haltung zugrunde liegt, die es als poli- tisches System und Gesellschaft gegenüber Palästina und den Palästinen- sern einnimmt. 1948 beging die Führung der zionistischen Bewegung – die dann zur Regierung Israels wurde – ein Verbrechen gegen das palästinensische Volk, das Verbrechen der ethnischen Säuberung. Das ist kein dahingeworfener Ausdruck, sondern eine Anklage mit weitreichenden politischen, rechtli- chen und moralischen Implikationen. Die Bedeutung dieser Worte wur- de nach den Bürgerkriegen auf dem Balkan in den 1990er Jahren geklärt: Jedes Handeln einer ethnischen Gruppe mit dem Ziel, eine andere ethni- sche Gruppe zu vertreiben, um eine ethnisch gemischte Region in ein eth- nisch reines Gebiet zu verwandeln, hat als ethnische Säuberung zu gelten. Ob ein Vorgehen als Politik der ethnischen Säuberung gilt, ist unabhängig von den Mitteln, die dabei angewendet werden. Jedes Mittel – von Über- redung und Drohungen bis hin zu Vertreibungen und Massentötungen – rechtfertigt die Bezeichnung der in Frage stehenden Politik als „ethnische Säuberung“. Darüber hinaus kommt es bei der Definition eines Vorgehens als ethnische Säuberung auf die dabei begangenen Handlungen selbst an, weshalb die internationale Gemeinschaft des Öfteren bestimmte Vorge- hensweisen als ethnische Säuberungen betrachtet hat, obwohl kein „Mas- terplan“ für sie gefunden wurde oder ans Licht kam. Daher haben nicht nur Menschen, die in einem koordinierten Vorgehen gewaltsam vertrie- ben wurden, sondern auch diejenigen, die schlich aus Angst aus ihrer Hei- mat flohen, als Opfer ethischer Säuberungen zu gelten. Diese Definitionen und Ausführungen sind die der Websites des US-Außenministeriums und

62 der Vereinten Nationen.74 Es sind die grundlegenden Leitlinien, die den Internationalen Gerichtshof in Den Haag motivierten, die Verantwortli- chen für die Planung und Ausführung der ethnischen Säuberungen als Tä- ter anzuklagen, die Verbrechen gegen die Menschheit begangen hatten. Warum geschah dieses Verbrechen? Der Grund war, dass das Ziel des Zionismus sich nicht verändert hatte: die Übernahme eines größtmög- lichen Teils des palästinensischen Territoriums und die Beseitigung der meisten palästinensischen Dörfer und städtischen Viertel aus dem zukünf- tigen jüdischen Staat. Die Ausführung dieses Plans war noch systemati- scher und umfassender als ursprünglich in ihm vorgesehen. In nur sieben Monaten wurden 531 Dörfer zerstört und elf Stadtviertel von Arabern ge- leert. Zu dieser Massenvertreibung hinzu kamen Massaker, Vergewaltigun- gen und die Einsperrung von „Männern“ (das heißt, Personen männlichen Geschlechts älter als zehn) in Arbeitslagern für über ein Jahr.75 Politisch bedeutet all dies, dass Israel allein die Schuld an der Entste- hung des palästinensischen Flüchtlingsproblems hat und daher auch die rechtliche und moralische Verantwortung dafür trägt. Rechtlich bedeu- tet es, dass selbst dann, wenn nach so langer Zeit die Verantwortlichen für eine Tat, die als Verbrechen gegen die Menschheit gilt, nicht mehr zur Re- chenschaft gezogen werden können, die Tat selbst immer noch ein Verbre- chen ist, für das dann eben nie jemand zu Verantwortung gezogen wurde. Moralisch bedeutet es, dass der jüdische Staat seine Geburt – ebenso wie viele andere Staaten – einer Sünde verdankt, auch wenn er diese Sünde, oder besser gesagt, dieses Verbrechen, nie zugegeben hat. Noch schlimmer ist, dass dies in bestimmten Kreisen in Israel durchaus eingeräumt wird, aber zugleich vorbehaltlos sowohl rückwirkend als auch als zukünftige Po- litik gegenüber den Palästinensern, ganz gleich wo diese gerade sind, ge- rechtfertigt wird. Das Verbrechen geht bis heute weiter. Doch all diese Erwägungen wurden von der israelischen Elite völlig ig- noriert, die stattdessen aus den Ereignissen von 1948 eine ganz andere Lehre zog: Sie konnte, als Staat, die Hälfte der Bevölkerung Palästinas ver- treiben und die Hälfte seiner Dörfer zerstören, ohne deswegen an Ansehen zu verlieren oder kritisiert zu werden. Die unvermeidliche Konsequenz

74 Für umfassendere Ausführungen zu diesem Thema siehe Ilan Pappé, „The 1948 Ethnic Cleansing of Palestine“, Journal of Palestine Studies, Band 46, Nr.1 (Herbst 2006), S. 6-20. 75 Siehe dazu ausführlich Pappé, Die ethische Säuberung Palästinas.

63 dieser Lehre war die Fortsetzung der Politik der ethnischen Säuberung, nur dass sie jetzt mit anderen Mitteln betrieben wurde. Einige wohlbe- kannte Meilensteine in diesem Prozess sind die Vertreibung der Bevölke- rung weiterer Dörfer in Israel selbst zwischen 1948 und 1956, der gewalt- same Transfer von 300.000 Palästinensern aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen während des Krieges von 1967 und eine langsame, aber beständige Säuberung der Palästinenser des Gebietes „Großjerusalem“ (bis zum Jahr 2000 mehr als 250.000).76 Aber die ethnische Säuberung hatte auch andere Formen. Es war nicht immer eine Taktik der Vertreibung. In manchen Teilen der besetzten Ge- biete und innerhalb Israels wurde die Politik der direkten Vertreibung durch das Verbot für Palästinenser ersetzt, ihre Dörfer oder Viertel zu ver- lassen. Diese Strangulierung der Palästinenser dort, wo sie lebten, verfolgte denselben Zweck wie ihre direkte Vertreibung. Wenn sie sich in belagerten Enklaven wie den Gebieten A, B, und C des Westjordanlands nach dem Oslo-Abkommen, Dörfern oder Vierteln Jerusalems, die zu Teilen des Westjordanlandes erklärt wurden, oder dem Ghetto des Gazastreifens be- finden, sind sie für die Belange der Demografie irrelevant, und das ist für die Entscheidungsträger der israelischen Politik wichtiger als alles andere. Solange die politische Lehre aus dem oben Gesagten nicht verstanden wird, wird es keine Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt geben. Die Flüchtlingsfrage wird alle Versuche zur Versöhnung der beiden Konfliktparteien immer wieder zunichtemachen, egal wie erfolgreich sie in anderer Hinsicht vielleicht sind. Genau darum ist die Erkenntnis, dass es sich bei den Ereignissen von 1948 um eine ethnische Säuberung han- delte, so wichtig: Sie sorgt dafür, dass politische Lösungen auch die Wur- zel des Konflikts angehen, nämlich die Vertreibung der Palästinenser. Die vergangenen Ausflüchte in Bezug auf diesen Punkt waren der Hauptgrund für das Scheitern aller früheren Friedensabkommen. Solange die rechtliche Lehre nicht verstanden wird, wird es bei den Palästinensern immer den Impuls von Rache und Vergeltung geben. Die offiziell-rechtliche Anerkennung der Nakba von 1948 als Akt ethnischer

76 Die Vertreibung der Palästinenser bis 1996 wird diskutiert in: Nur Maslha, A Land without People; Israel, Transfer and the Palestinians, 1949-1996, London 1997. Zur Vertreibung aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen siehe Gideon Levy, „Ethnic Cleansing of Palestinians or Democratic Israel at Work“, Ha’aretz, 12. Mai 2011.

64 Säuberung würde die Möglichkeit eröffnen, eine Politik ausgleichender Gerechtigkeit in Gang zu setzen, einen Prozess, der in den letzten Jahren in Südafrika stattgefunden hat. Die Anerkennung der Gräuel der Vergan- genheit verfolgt nicht den Zweck, die Täter vor Gericht zu stellen, sondern den, die Verbrechen selbst der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und durch sie beurteilen zu lassen. Das Urteil darüber folgt, da es keine Stra- fe gibt, nicht dem Prinzip der Vergeltung, sondern dem des Ausgleichs – die Opfer müssen entschädigt werden. Die angemessenste Entschädigung für den Fall der palästinensischen Flüchtlinge wurde schon in der Resoluti- on 194 der UN-Generalversammlung vom Dezember 1948 festgelegt: das bedingungslose Recht der Flüchtlinge und ihrer Familien auf Rückkehr in ihr Heimatland (und ihre Häuser, wo das noch möglich ist). Solange die moralische Lektion nicht verstanden wird, wird der Staat Israel auch weiterhin eine feindliche Enklave im Kernland der arabischen Welt bleiben. Israel bliebe die letzte Erinnerung an die kolonialistische Vergangenheit, die ja nicht nur seine Beziehung zu den Palästinensern, sondern zur gesamten arabischen Welt kompliziert. Und da diese morali- sche Lehre nicht gezogen wird, finden wir heute in Israel eine rückblicken- de Rechtfertigung der ethnischen Säuberung – und die echte Gefahr eines erneuten Versuchs zu dieser „Lösung“. Es muss jedoch auch gesagt werden, dass es in Israel Juden gibt, die all diese Lehren gründlich verinnerlicht haben. Nicht alle Juden sind gleich- gültig oder unwissend im Hinblick auf die Nakba. Sie sind eine kleine Minderheit, aber eine, deren Präsenz unübersehbar ist. Sie zeigen, dass ei- nige jüdische Bürger dieses Landes gegenüber den Schreien, dem Schmerz und der Brutalisierung derer, die 1948 viele Monate lang getötet, verge- waltigt oder verwundet wurden, nicht immun sind. Sie wissen von den Tausenden palästinensischer Bürgern, die in den 1950ern lange Haftstra- fen absaßen und erkennen die Tatsache an, dass in Kafr Qassem ein Massa- ker stattfand. Sie wissen Bescheid über die Kriegsverbrechen während des gesamten Krieges von 1967 und die kaltschnäuzigen Bombardierung liba- nesischer Flüchtlingslager 1982, und sie haben die brutale Misshandlung palästinensischer Jugendlicher in den besetzten Gebieten in den 1980er Jahren nicht vergessen. Sie sind nicht taub und hören bis heute die Stim- men der Armeeoffiziere, die die Hinrichtung unschuldiger Menschen an- ordneten, und das Gelächter der Soldaten, die untätig dabeistanden und zusahen.

65 Und sie sind nicht blind. Sie sehen das Wenige, was heute von 531 zer- störten Dörfern und Wohnvierteln übriggeblieben ist und weisen darauf hin. Sie sehen, was jeder Israeli ebenfalls sehen könnte, aber nicht sehen möchte: die Ruinen der Dörfer unter den Häusern der Kibbuzim und un- ter den Pinienbäumen der Wälder des Jüdischen Nationalfonds. Deswegen haben sie nicht vergessen, was geschehen ist, auch wenn der Rest der Gesellschaft es getan hat. Und vielleicht verstehen sie auch des- halb sehr genau den Nexus zwischen der ethnischen Säuberung von 1948 und den schrecklichen Dingen, die ihnen bis heute gefolgt sind. Sie se- hen klar die Verbindung zwischen den Helden des israelischen Unabhän- gigkeitskrieges und denen, die die grausame Niederschlagung der beiden Intifadas leiteten – sie hielten und Ariel Sharon nie für Friedenshelden. Und sie wiesen immer auf die offensichtliche Parallele zwischen dem Bau der Trennmauer und der permanenten Politik der eth- nischen Säuberung hin, die Israel betrieb. Die Vertreibung von 1948 und die Einkerkerung vom Menschen hinter Mauern sind unvermeidliche Fol- gen ein und derselben rassistischen, ethnisch zentrierten Ideologie. Die politische Führung der Palästinenser hat all dies vernachlässigt, und daher ist es jetzt zum größten Teil die Zivilgesellschaft, die sich bemüht, die Ereignisse von 1948 wieder ins Zentrum der nationalen Aufmerksam- keit zu rücken. Innerhalb wie außerhalb Israels koordinieren palästinen- sische NGOs wie Badil, das Komitee für die Flüchtlinge im Innern und Awda ihren Kampf zur Bewahrung der Erinnerung an 1948 und bemühen sich, zu erklären, warum es auch für die Zukunft unabdingbar ist, sich mit diesem Jahr auseinanderzusetzen.

66 Kapitel 6: Im Junikrieg von 1967 hatte Israel „keine Wahl“

er Ausdruck „keine Wahl“ tauchte in Israel während und nach dem Disraelischen Angriff auf den Libanon vom Juni 1982 auf. Die israe- lische Öffentlichkeit war gespalten in Kräfte, die diese Kampagne als not- wendig und gerechtfertigt ansahen und die, die ihren Sinn und ihren mo- ralischen Charakter bezweifelten. Dabei diente der Krieg von 1967 beiden Seiten der Debatte als Prüfstein. Sie bezeichneten ihn als klassisches Bei- spiel eines Kriegs, bei dem Israel „keine Wahl“ gehabt habe, um ihre Posi- tion von da aus weiter zu erläutern. Unser sechster Mythos oder unsere sechste These lautet also, im Krieg von 1967 sei Israel gezwungen gewesen, das Westjordanland und den Ga- zastreifen zu besetzen und unter Kontrolle zu halten, bis die Staaten der arabischen Welt oder die Palästinenser die Bereitschaft zeigten, Frieden mit dem jüdischen Staat zu schließen. Daraus ergibt sich ein weiterer My- thos, auf den ich in einem eigenen Kapitel eingehen werde und der besagt, es gebe darum keinen Frieden, weil die Palästinenser sich seit 1967 als un- beweglicher Partner erwiesen hätten. Daher müssten die besetzten Gebie- te unter der Obhut Israels bleiben. Ein Teil dieser Gleichung wurde jedoch mit dem einseitigen Rückzug Israels aus dem Gazastreifen abgeschwächt, ein Thema, das ich ebenfalls in einem weiteren Kapitel behandeln werde. Sehen wir uns zunächst die These näher an, der Krieg von 1967 sei Is- rael aufgezwungen worden, eine historische Behauptung, die selbst von ei- nigen der schärfsten Kritiker Israels wie etwa meinem Freund Avi Shlaim akzeptiert wird.77 Um hier eine andere Perspektive zu gewinnen, müssen wir geschicht- lich bis zum Krieg von 1948 zurückgehen. Die politische und militärische Elite Israels sah den Krieg von 1948 als verpasste Gelegenheit an: als histo- rischen Moment, in dem Israel das gesamte Palästina des Mandatsgebiets vom Jordanfluss bis zum Mittelmeer hätte besetzen können. Der einzige Grund, warum die Israelis dies damals nicht taten, war eine stillschwei- gende Übereinkunft mit dem haschemitischen Königreich Jordanien. Die- se Absprache wurde in den letzten Tagen des britischen Mandats ausge-

77 Avi Shlaim, Israel and Palestine: Reprisals, Revisions, Refutations, New York/Lon- don 2010.

67 handelt und setzte der militärischen Beteiligung der jordanischen Armee an der gesamten arabischen Kriegsanstrengung im Krieg von 1948 enge Grenzen. Im Gegenzug wurde Jordanien erlaubt, die Gebiete Palästinas zu annektieren, die dann zum „Westjordanland“ wurden – und zwar ohne dass auch nur ein Schuss abgefeuert wurde. Selbst Ben-Gurion, der dafür gesorgt hatte, das dieses schon vor 1948 geschlossene Abkommen während des Krieges in Kraft blieb, nannte die Entscheidung, Jordanien die Beset- zung des Westjordanlandes zu gestatten, später bechiya ledorot, was wört- lich bedeutet, zukünftige Generationen würden diese Entscheidung be- klagen; in einer etwas freieren Übersetzung könnte man diese Wendung als „ein verhängnisvoller historischer Fehler“ wiedergeben. Seit 1948 ha- ben wichtige Sektoren der jüdischen kulturellen, militärischen und po- litischen Eliten Israels immer nach Möglichkeiten gesucht, diesen „ver- hängnisvollen historischen Fehler“ rückgängig zu machen. Seit Mitte der 1960er Jahre schmiedeten sie emsig sorgfältige Pläne, wie sie den „histori- schen Fehler“ bereinigen und Großisrael unter Einschluss des Westjordan- landes schaffen konnten.78 Es gab mehrere historische Augenblicke, an denen Israel solche Pläne beinahe ausgeführt hätte, aber im letzten Moment Abstand davon nahm. Die berühmtesten Beispiele ereigneten sich 1958 und 1960, als der Staats- führer und erste Ministerpräsident des Landes, David Ben-Gurion, die Durchführung der Pläne im ersten Fall aufgrund der Angst vor der inter- nationalen Reaktion und im zweiten Fall aufgrund der demografischen Befürchtung, Israel könne keine so große Zahl von Palästinensern absor- bieren, in letzter Minute abbrach. Die beste Gelegenheit kam dann 1967. Ich werde weiter unten auf die Ursprünge dieses Krieges eingehen. Ferner werde ich meine Auffassung begründen, dass man ganz unabhängig da- von, was man für das richtige Narrativ der Gründe des Krieges von 1967 hält, sich sehr genau die Rolle Jordaniens (das ja über das Westjordanland herrschte) in ihm betrachten muss. Und schließlich werde ich eine Frage stellen, die nur selten mit diesem Krieg in Verbindung gebracht wird: Warum blieb Israel nach seinen Siegen

78 Mehr über diese Lobby und ihre Arbeit findet sich in: ,1967 – Israel and the War that Transformed the Middle East, New York 2008, deutsch: 1967: Israels zweite Geburt, München 2009, sowie in: Ilan Pappé, „The Junior Partner: Israel’s Role in the 1958 Crisis“, in: Roger Louis and Roger Owen (Hg.), A Rev- olutionary Year: The Middle East in 1958, London/New York 2002, S. 245-274.

68 über die jordanische und die ägyptische Armee im Westjordanland und im ehemals von Ägypten verwalteten Gazastreifen? Selbst wenn, wie von der israelischen Mythologie behauptet, die israelische Besetzung des Westjord- anlandes die Vergeltung für eine angebliche jordanische Aggression vom 5. Juni 1967 war, bleibt die Frage, warum Israel danach dort blieb. Schließ- lich gab es ja damals schon eine lange Geschichte gewaltsamer Auseinan- dersetzungen, die nicht mit einer territorialen Expansion Israels endeten. Wie ich in diesem Kapitel zu zeigen versuchen werde, handelte es sich bei der Einverleibung des Westjordanlandes und des Gazastreifens durch Isra- el um einen Plan, den Israel seit 1948 hegte und der 1967 in die Tat um- gesetzt wurde. Betrachten wir nun etwas näher die Frage der Unvermeidlichkeit des Krieges. Um sie in Frage stellen zu können, müssen wir, wie schon zuvor in diesem Buch, geduldig in der Geschichte zurückgehen und uns anse- hen, welche Relevanz sie für diese Aufgabe hat. Wir können dabei mit dem Jahr 1958 beginnen – einem Jahr, das in der wissenschaftlichen Literatur zum modernen Nahen Osten als das „Re- volutionsjahr“ beschrieben wird. In diesem Jahr begannen die progressi- ven und radikalen Ideen, die die ägyptischen freien Offiziere in Kairo an die Macht gebracht hatten, Einfluss auf die gesamte arabische Welt zu ge- winnen, und dieser Trend wurde von der Sowjetunion unterstützt, wäh- rend die Vereinigten Staaten sich ihm entgegenstemmten. Eine so instabile Zeit, in der der Kalte Krieg in den Nahen Osten überschwappte, eröffne- te für die Kräfte in Israel, die nach einem Vorwand zur Korrektur des „ver- hängnisvollen Fehlers“ von 1948 suchten, neue Möglichkeiten. Seit 1948 war eine mächtige Lobby innerhalb der israelischen Regierung und Armee permanent von dem Wunsch beseelt , den Irrtum von 1948 zu korrigieren, eine Lobby, die von den Helden des Krieges von 1948, Moshe Dayan und Yigal Alon, angeführt wurde, die immer eifrig nach Gelegen- heiten zur Besetzung des Westjordanlandes Ausschau hielten. Als sich im Westen der Konsens herausbildete, der von Ägypten aus- gehende „Radikalismus“ berge die Gefahr einer Ausbreitung auf andere Länder einschließlich Jordaniens, empfahl diese Lobby Ministerpräsident Ben-Gurion, der NATO einen israelischen Präventivschlag zur Übernah- me des Westjordanlandes vorzuschlagen.79

79 See Pappé, 1958, ibid.

69 Dies wurde erst recht zu einem plausiblen Szenario, nachdem der Irak, das zweite haschemitische Königreich neben Jordanien, wie zuvor Ägypten in die Hände progressiver oder sogar radikaler Offiziere gefallen war. Die neuen Herrscher in Bagdad machten kein Hehl aus ihrem Wunsch, ihren Einfluss auf ihren Nachbarstaat im Westen auszudehnen. Zu dieser Zeit gab es im westlichen Block die Befürchtung, auch der Libanon könne von revolutionären Kräften übernommen werden. Die NATO beschloss, all dem einen Riegel vorzuschieben, indem sie eigene Streitkräfte in den Nahen Osten entsandte. Im Fall des Libanon waren das US-Marines, in dem Jordaniens britische Special Forces. Es gab weder die Notwendigkeit noch den Wunsch, Israel an diesem heraufziehenden Krieg mit der arabischen Welt zu beteiligen.80 Als die israelische Idee, das Westjordanland zu „retten“, offener vorge- tragen wurde, wurde sie von Washington unzweideutig zurückgewiesen. Es scheint jedoch, als sei Ben-Gurion ganz zufrieden darüber gewesen, dass die Amerikaner ihn hiervor warnten. Er wollte keinesfalls gefährden, was er als die demografische Errungenschaft von 1948 ansah – das heißt, er wollte kein verändertes Gleichgewicht zwischen Juden und Arabern in einem neuen Großisrael durch Einschluss der Palästinenser im Westjord- anland. In seinem Tagebuch berichtete er, wie er seinen Ministern erklärt habe, dass eine Besetzung des Westjordanlandes eine große demografische Gefahr darstelle:

Ich setzte (den Ministern) auseinander, wie gefährlich es wäre, eine Million Araber in einen Staat mit einzugliedern, der eine Bevölke- rung von einer und drei Viertel Millionen Menschen hat.81

Das war auch der Grund, weshalb er zwei Jahre später, 1960, einen wei- teren Versuch derselben Lobby vereitelte, eine weitere Krise für ihre Zie- le auszunutzen. Solange er an der Macht war, konnte diese von Tom Segev in seinem Buch 1967 so brillant beschriebene Lobby ihren Willen nicht durchsetzen. Allerdings war es bereits 1960 viel schwieriger geworden, die Lobby im Zaum zu halten. Schon damals waren alle Ingredienzien, aus denen

80 Ibid. 81 Ben Gurion Archive, Tagebuch Ben Gurion, 19. August 1958.

70 die Krise von 1967 hervorging, vorhanden und hatten dasselbe Potential (das in diesem Fall nicht zum Tragen kam), zum Krieg zu führen wie sie- ben Jahre später. Der erste wichtige Akteur in dieser Hinsicht war der ägyptische Präsi- dent Gamal Abdul Nasser, der genau wie sieben Jahre später eine gefähr- lich gewagte Politik betrieb. Seine Motive von 1960 waren dieselben wie 1967. Er befürchtete, Israel werde Syrien angreifen. Dieses bildete von 1958 bis 1962 formal sogar eine Union mit Ägypten, die „Vereinigte Ara- bische Republik“ (VAR). Seit dem Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und Syrien vom Sommer 1949 waren eine ganze Reihe von Fragen ungelöst geblieben. Da- runter waren bestimmte, von den UN als „Niemandsland“ bezeichnete Ländereien, die beide Seiten für sich beanspruchten. Hin und wieder ermutigte Israel die Bewohner der an diese Länder an- grenzenden Kibbuzim und Siedlungen zur landwirtschaftlichen Nutzung dieser Ländereien, wobei auf der Hand lag, dass dies eine syrische Reakti- on von den oberhalb gelegenen Golanhöhen her auslösen würde. Damit wurde ein ständiger Kreislauf geschaffen: Im nächsten Schritt hatte die is- raelische Luftwaffe die Gelegenheit, echte Kriegserfahrungen zu sammeln und ihre Überlegenheit über die russischen Kampfflugzeuge der syrischen Luftwaffe zu demonstrieren. Darauf folgten weitere Schläge und Gegen- schläge und wechselseitiger Artilleriebeschuss, dem Waffenstillstandsko- mitee wurden Beschwerden vorgelegt, und danach herrschte eine trügeri- sche Ruhe bis zum nächsten Ausbruch von Gewalt.82 Eine zweite Quelle der Spannungen zwischen Israel und Syrien war der israelische Bau eines großen nationalen Wasserkanals zwischen den Mün- dungsarmen des Jordan und dem Süden Israels. Die Arbeiten an diesem Projekt begannen 1953 und sahen eine Übernahme von Wasserressourcen vor, die sowohl im Libanon als auch in Syrien benötigt wurden. Es gelang den Führern Syriens, ihre ägyptischen Verbündeten in der VAR zu überzeugen, Israel plane womöglich eine breitangelegte Militär- kampagne gegen Syrien, um sich die strategisch wichtigen Golanhöhen und die Zubringer des Jordan zu sichern.

82 Eine sehr aufrichtige Version all dieser Ereignisse findet sich in: David Shaham, Israel: die ersten vierzig Jahre, Tel-Aviv 1991, S. 239-247 (Hebräisch).

71 Nasser hatte noch ein anderes Motiv, das prekäre Kräftegleichgewicht im historischen Palästina und dessen geografischem Umfeld in Gefahr zu bringen. Er wollte die festgefahrene diplomatische Situation aufbrechen und der weltweiten Gleichgültigkeit im Hinblick auf die Palästinafrage ein Ende bereiten. Wie Avi Shlaim in seinem Buch The Iron Wall gezeigt hat, hatte er eine gewisse Hoffnung auf einen Ausweg aus der Sackgasse, da ihm der politisch gemäßigte israelische Außenminister Moshe Sharett als Verhandlungspartner gegenüberstand, der Mitte der 1950er Jahre kurz auch das Amt des Ministerpräsidenten innehatte.83 Allerdings war er sich darüber im Klaren, dass die wirkliche Macht bei David Ben-Gurions lag, und nachdem dieser 1955 erneut Ministerpräsident geworden war, gab es nur noch wenig Hoffnung auf einen echten Frieden – nicht in Palästina selbst, und nicht einmal zwischen Israel und Ägypten. Während dieser Verhandlungen diskutierten die beiden Seiten die Mög- lichkeit einer Landbrücke durch die Negev-Wüste zwischen Ägypten und Jordanien im Austausch gegen eine Beendigung des Konflikts. Leider wa- ren dies nur frühe, versuchsweise formulierte Ideen, die nie wirklich aus- gearbeitet wurden, und so können wir nicht wissen, ob sie am Ende zu ei- nem Friedensvertrag geführt hätten. Sie bekamen nie die Möglichkeit, bis zu einem Grad zu reifen, der zu einem echten Durchbruch führen konnte, da Ben-Gurion auch während der kurzen Episode seiner Abwesenheit aus der Regierung seinen Einfluss dazu nutzte, die Armee noch während der Verhandlungen zu provokativen Militäroperationen gegen die ägyptischen Truppen im Gazastreifen zu veranlassen. Vorwand hierfür war das wieder- holte Einsickern von Palästinensern aus dem Gazastreifen nach Israel, das immer mehr einen militärischeren Charakter annahm und sich schließlich zu einem echten Guerillakrieg gegen den jüdischen Staat entwickelte.84 Nach der Rückkehr Ben-Gurions an die Macht war es mit diesen Ver- handlungsbemühungen so gut wie vorbei, vor allem, nachdem dieser sich 1956 dem Militärbündnis Großbritanniens und Frankreichs zum Sturz Nassers anschloss. So nimmt es kaum Wunder, dass Nasser, als er vier Jah- re später einen Krieg gegen Israel in Erwägung zog, seine dahingehenden Manöver als Präventivaktionen zum Schutz seines Regimes vor möglichen anglo-französisch-israelischen Absprachen gegen Ägypten betrachtete.

83 Siehe Shlaim, The Iron Wall, ibid, S. 95-142. 84 Ilan Pappé, „Israel: the Junior Partner“, S. 251f.

72 Als es 1960 zu einem Wachstum der Spannungen an der israelisch-sy- rischen Grenze kam und es gleichzeitig keinerlei Fortschritte an der diplo- matischen Front gab, experimentierte Nasser mit einer neuen Strategie, die ich als „Hasardpolitik“ bezeichnen möchte. Sinn eines solchen Vorgehens ist, ständig die Grenzen des Möglichen auszutesten, in diesem Fall also, zu erkunden, inwieweit militärische Vorbereitungen und Drohungen die Re- alitäten verändern können, ohne tatsächlich Krieg führen zu müssen. Das Ergebnis dieser Praxis hängt allerdings nicht nur vom Initiator dieser Poli- tik ab, sondern auch von allen anderen betroffenen Parteien. Nasser setzte diese Strategie zum ersten Mal 1960 ein und agierte dann 1967 ganz ähnlich. Er schickte ägyptische Streitkräfte auf die Sinai-Halb- insel, obwohl diese laut dem Abkommen zur Beendigung des Kriegs von 1956 demilitarisiert sein sollte. 1960 reagierten Israel und die Vereinten Nationen sehr vernünftig auf die drohende Kriegsgefahr. UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld be- zog eine klare Position und verlangte den sofortigen Abzug der ägypti- schen Truppen. Die israelische Regierung zog ihre Reservisten ein, ließ aber sehr deutlich durchblicken, sie werde selbst keinen Krieg beginnen.85 Am Vorabend des Krieges von 1967 spielten all diese Faktoren eine Rol- le für den schließlichen Kriegsausbruch. Zwei wichtige Akteure waren nun allerdings nicht mehr dabei: der ehemalige israelische Ministerpräsident David Ben-Gurion und UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld. Ben-Gurion schied 1963 aus der aktiven Politik aus. Ironischerweise half eine auf den ersten Blick positive Entwicklung, die auf sein Ausschei- den zurückging, später ausgerechnet der Großisrael-Lobby. Er hatte bis zuletzt von der israelischen Führung die Aufrechterhaltung einer harten Militärherrschaft über die palästinensischen Gebiete innerhalb Israels ver- langt. Die israelische Regierung jedoch schaffte dieses Regime 1966 ab – und hatte damit einen fix und fertig bereitstehenden Apparat zur Kontrol- le des Westjordanlandes und des Gazastreifens in Reserve, bevor der Krieg vom Juni 1967 überhaupt begonnen hatte. Solange Ben-Gurion an der Macht war, blockierte seine Besessenheit von demografischen Gesichtspunkten eine Besetzung des Westjordanlan- des, aber leider war sie auch für die mittlerweile nur zu vertraute Mili-

85 Ami Gluska, The Israeli Military and the Origins of the 1967 War: Government, Armed Forces and Defence Policy, 1963-1967, London/New York 2007, S. 121f.

73 tärherrschaft verantwortlich, die Israel allen Gruppierungen der palästi- nensischen Bevölkerung aufzwingt, wann immer es der Meinung ist, das fragliche Territorium kontrollieren zu müssen, aber die dort lebenden Menschen nicht in die demografische Balance mit einbeziehen will. Und so wurde die Militärverwaltung, die 1966, ganz wenige Jahre nach dem Abtritt Ben-Gurions von der Macht, abgeschafft worden war, 1967 auf das Westjordanland und den Gazastreifen übertragen. Eine Gruppe is- raelischer Experten aus Armee, öffentlichem Dienst und Universitäten be- gann schon 1963 mit der Planung dieses Übergangs und entwickelte einen detaillierten Plan für seine Umsetzung, sobald sich die Gelegenheit ergab, eine Gelegenheit, die dann 1967 eintrat.86 Diese Gruppe sah einen Mili- tärapparat vor, dessen Vorgehen durch ein detailliertes Handbuch für die Verwaltung eines palästinensischen Territoriums durch Notstandsverord- nungen geregelt war – ein Handbuch, das ursprünglich 1945 von den bri- tischen Mandatsbehörden zusammengestellt worden war und der Armee in jedem Lebensbereich absolute Macht einräumte. Wir werden im Rah- men unserer Infragestellung einiger anderer Israel-Mythen noch genauer auf diese Militärherrschaft zurückkommen. Wie gesagt kam die Gelegenheit zur Übertragung dieses Apparats von einer palästinensischen Gruppe (der palästinensischen Minderheit in Is- rael) auf eine andere (die Palästinenser im Westjordanland und im Ga- zastreifen) 1967, als Nasser, aus denselben Gründen wie 1960, wieder ein Hasardspiel betrieb. Dieses Mal wurde er im Hintergrund von der sow- jetischen Führung unterstützt, die Ende 1966 und Anfang 1967 der fes- ten Überzeugung war, ein israelischer Angriff auf Syrien stehe unmittel- bar bevor.87 Im Sommer 1966 führte eine neue Gruppe von Offizieren und Ideolo- gen (bekannt als die „neue Ba’ath“) in Syrien einen Militärputsch durch und übernahm die Staatsmacht. Sie leitete sofort schärfere Maßnahmen gegen Israels Pläne zur Umleitung des Wassers des Jordans und seiner Ne- benflüsse ein. Syrien begann nun selbst mit dem Bau eines Kanals und leitete das Wasser des Flusses für seine eigenen Zwecke ab. Daraufhin bombardierte die israelische Armee dieses syrische Gegenprojekt, was zu

86 Ich habe dies ausführlich diskutiert in: 1967 Revisited. 87 Auf seine typische Art nimmt sich Norman Finkelstein die offizielle Version Is- raels, so wie sie von einem ihrer besten Vertreter, nämlich Abba Eban, artikuliert wird, vor und nimmt sie dann systematisch auseinander. Siehe S. 135-145.

74 häufigen und immer heftigeren Luftkämpfen zwischen den beiden Arme- en führte. Außerdem nahm das neue Regime in Syrien eine positive Haltung ge- genüber dem Versuch der von der geführten neu gebildeten paläs- tinensischen Befreiungsbewegung zur Führung eines Guerillakriegs gegen Israel ein, bei dem die Golanhöhen und der Libanon als Ausgangpunkte dienten. Das trug zu den Spannungen zwischen den beiden Staaten bei. Anscheinend hoffte Nasser bis April 1967 immer noch, seine Thea- ter-Manöver würden ausreichen, um die Realitäten zu verändern, ohne Krieg zu führen. Im November 1966 unterzeichnete er einen Verteidi- gungspakt mit Syrien und erklärte, er beabsichtige, Syrien zu Hilfe zu kommen, falls Israel einen Angriff auf das Land wagen sollte. Die Situation an der israelisch-syrischen Grenze verschlechterte sich immer mehr und erreichte im April 1967 einen neuen Tiefpunkt. In die- sem Monat startete Israel einen militärischen Angriff auf die syrischen Streitkräfte auf den Golanhöhen, der laut dem damaligen Stabschef der israelischen Armee Yitzhak Rabin den Zweck verfolgte, „Syrien zu demü- tigen“.88 Darüber hinaus sprach Rabin offen von der Notwendigkeit, Sy- rien als Ganzes anzugreifen und das dortige Regime der Baath-Partei zu stürzen.

Eine hohe israelische Quelle sagte heute, Israel werde zu begrenz- ten militärischen Aktionen greifen, die den Sturz des Armeeregimes in Damaskus verfolgen, falls syrische Terroristen auch weiterhin Sa- botageakte in Israel durchführten. Militärische Beobachter meinten, eine solche Offensive werde kein totaler Krieg sein, aber in einer Weise geführt werden, die der syrischen Regierung einen empfindli- chen Schlag versetzen solle.89

Erst jetzt sah Nasser sich genötigt, auf seinen Schachzug von 1960 zurück- zugreifen und Truppen auf die Sinai-Halbinsel zu verlegen sowie die Stra- ße von Tiran zu schließen – eine enge Meerespassage, die den Golf von Akaba mit dem Roten Meer verbindet und auf der daher der Schiffverkehr

88 Rabin gab der Nachrichtenagentur UPI am 12. Mai 1967 ein Interview, in dem er außerdem damit drohte, das syrische Regime zu stürzen. Siehe Bowen, S. 32f. 89 Siehe ibid.

75 zum südlichsten Hafen Israels in Eilat behindert oder unterbunden wer- den konnte. Genau wie 1960 wartete Nasser ab, wie die UN reagieren würden. Da- mals zeigte sich Dag Hammarskjöld unbeeindruckt und zog die UN-Trup- pen, die dort seit 1956 stationiert waren, nicht zurück, was zur Entschär- fung der Spannungen beitrug. Der neue UN-Generalsekretär U-Thant war weniger durchsetzungsfähig und selbstsicher und zog die UN-Trup- pen nach dem Vordingen der ägyptischen Streitkräfte von der Halbinsel ab. Damit eskalierte die ohnehin gespannte Situation noch weiter. Der wichtigste Faktor war jedoch die Tatsache, dass es damals innerhalb der israelischen Führung keine autoritative Stimme gegen das allgemeine Kriegsgeheul gab. Die internationale Gemeinschaft dagegen hätte Zeit zur Lösung des Problems gebraucht. US-geführte diplomatische Bemühungen befanden sich noch im Frühstadium, als Israel am 5. Juni 1967 mit seinem Angriff auf alle seine arabischen Nachbarn begann. Das israelische Kabinett hatte nicht die Absicht, den Friedensunter- händlern die nötige Zeit zu lassen. Dies war eine goldene Gelegenheit, die man nicht verstreichen lassen wollte. Bei den entscheidenden israelischen Kabinettssitzungen vor dem Krieg fragte Abba Eban seine Kollegen und die Armeekommandeure naiv, worin denn der Unterschied zwischen der Krise von 1960 und der von 1967 be- stehe, da die gegenwärtige Krise seiner Meinung nach auf die gleiche Art gelöst werden konnte wie die frühere.90 „Es ist eine Sache der Ehre und der Abschreckung“ war die Antwort. Dem entgegnete Eban, junge Solda- ten lediglich aus Motiven der Ehre und der Abschreckung zu opfern, sei ja wohl ein zu hoher menschlicher Preis. Ich habe den starken Verdacht, dass die Diskussion hierüber dann noch weiterging, aber diese wurden entweder nicht aufgezeichnet oder nicht auf- bewahrt. Vermutlich wurde noch bemerkt, er müsse doch verstehen, dass dies eine historische Gelegenheit zur Korrektur „des fatalen historischen Feh- lers“ sei, 1948 auf eine Besetzung des Westjordanlands verzichtet zu haben. Für diese Vermutung habe ich zwei Gründe. Der erste ist schlicht die in diesem Kapitel bereits skizzierte Geschichte seit 1948. Der zweite besteht darin, dass man sich doch fragen muss, warum Israel, wenn es ihm ledig-

90 Siehe Israel State Archives (ISA), Protokolle der Regierungssitzungen, Abschnitt 43.4 Sitzung Mai-Juni 1967, Sitzung vom 21. Mai 1967.

76 lich um die Abschreckung der arabischen Länder und den Schutz der Ehre der israelischen Armee ging, nach dem Sieg über die arabischen Armeen, besonders die Jordaniens, im Westjordanland geblieben ist? Außerdem muss man sich fragen, warum Israel vom ersten Tag der Be- satzung an eine organisierte und systematische Militärverwaltung einführ- te, die für Jahre in die Zukunft geplant war (und tatsächlich wissen wir jetzt aufgrund von Dokumenten, dass sie Jahrzehnte dauern sollte)?91 Eine etwas ausführlichere Betrachtung der Rolle Jordaniens am Vor- abend des Krieges von 1967 macht diesen Punkt sogar noch deutlicher. Wenn man sich das Verhalten der Jordanier am ersten Tag des Krieges an- sieht, ist offensichtlich, dass es keine echte Rechtfertigung für die israeli- sche Antwort darstellte, die darin bestand, dass die israelische Armee bis zum Ufer des Jordan vorstieß und bereits am ersten Tag begann, sich zum neuen Herrscher über die Palästinenser auszuschwingen und die Kontrol- le über sie auszuüben. Vor dem Krieg von 1967 hatte Jordanien mit Ägypten und Syrien ein Militärbündnis abgeschlossen. Aber unabhängig davon hatte König Hussein gegenüber Israel klar durchblicken lassen, er sei zwar, falls es zum Krieg komme, gezwungen, etwas zu tun, aber dies werde von kurzer Dau- er sein und kein echter Krieg sein, eine Position, die der seines Großva- ters 1948 sehr ähnlich war. Dennoch hatte die jordanische Beteiligung am Krieg mehr als nur symbolischen Charakter. So kam es dabei unter ande- rem zu einem heftigen Bombardement West-Jerusalems und der östlichen Vorstädte Tel Avivs. Das Problem war, dass die Armee nicht unter Kontrolle des Königs stand, sondern von einem ägyptischen General kommandiert wurde. Da- bei basiert die generell akzeptierte und kürzlich auch von Avi Shlaim be- stätigte Darstellung der Ereignisse auf König Husseins Memoiren und der Autobiografie des damaligen US-Außenministers Dean Rusk. Diesen bei- den zufolge sandte Israel Hussein eine versöhnliche Botschaft, in der es ihn bat, sich aus dem Krieg herauszuhalten – was Israel jedoch nicht davon ab- hielt, die jordanische Luftwaffe zu zerstören. Laut dieser Darstellung war Israel am ersten Tag noch immer bereit, sich bei seinem Angriff auf Jordanien zurückzuhalten, doch die Reaktion Jordani-

91 Pappé, 1967 Revisited.

77 ens auf die Zerstörung seiner Luftwaffe habe Israel dann zu einer sehr viel umfassenderen Operation am zweiten Tag veranlasst. Hussein schrieb in seinen Memoiren sogar, er habe die ganze Zeit ge- hofft, jemand werde den Wahnsinn stoppen, da er weder den Ägyptern den Gehorsam verweigern noch einen Krieg riskieren konnte. Am zweiten Tag bat er die Israelis um Mäßigung, und laut dieser Darstellung begann Israel erst dann mit seiner umfassenderen Operation.92 Es gibt mit dieser Darstellung zwei Probleme. Wie lässt sich der An- griff auf die jordanische Luftwaffe mit einer versöhnlichen Botschaft Is- raels vereinbaren? Noch wichtiger ist, dass selbst aus dieser Darstellung klar hervorgeht, dass Israel, selbst wenn es am ersten Tag in seiner Poli- tik gegenüber Jordanien noch geschwankt haben mochte, Jordanien ab dem zweiten Tag keinen Ausweg mehr ließ. Wie Norman Finkelstein rich- tig bemerkt hat, hätte für Israel, wenn es nur die Reste der jordanischen Armee vernichten wollte, aber ansonsten seine Beziehungen zu dem ge- genüber Israel am freundlichsten eingestellten arabischen Land aufrechter- halten wollte, eine kurze Operation im Westjordanland genügt, ohne das Gebiet einer Besatzung zu unterwerfen.93 Der israelische Historiker Moshe Shemesh, der die jordanischen Quel- len studiert hat, kommt auf dieser Basis zu dem Schluss, das jordanische Oberkommando sei seit dem israelischen Angriff auf das palästinensische Dorf Samua im November 1966, mit dem palästinensischen Guerillas ein Schlag versetzt werden sollte, überzeugt gewesen, dass Israel die Absicht hatte, gewaltsam das Westjordanland zu besetzen.94 Und damit lag das Oberkommando ja nicht falsch. Die jüdische Gesellschaft Israels war auf einmal vom messianischen Projekt der „Befreiung“ der heiligen Stätten des Judaismus beseelt, wobei Jerusalem das Kronjuwel Großisraels sein sollte. Linke und rechte Zionis- ten sowie die Unterstützer Israels im Westen waren allesamt in dieser eu- phorischen Hysterie gefangen und wie hypnotisiert von ihr.

92 Siehe Avi Shlaim, „Walking the Tight Rope“, in: Avi Shlaim und Roger W. M. Louis, The 1967 Arab-Israeli War: Origins and Consequences, Cambridge, S. 114. 93 Finkelstein, Image and Reality, S. 125-135, deutsch: Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Mythos und Realität, München 2002. 94 Moseh Shemesh, Arab Politics, and the Six Day War, Brighton 2008, S. 117.

78 Israel hatte nicht die Absicht, das Westjordanland und den Gazastreifen gleich nach ihrer Besetzung wieder zu verlassen – aber es hatte nicht ein- mal vor, überhaupt von dort abzuziehen, was unser zweiter Beweis für die Verantwortung Israels für die Entwicklung der Krise von Mai 1967 zu ei- nem echten Krieg ist. Wie wichtig dieser historische Wendepunkt für Israel war, lässt sich aus der Hartnäckigkeit erschließen, mit der die israelische Regierung sich dem starken internationalen Druck widersetzte, sich aus allen 1967 besetzten Gebieten zurückzuziehen, wie es in der berühmten Sicherheitsratsresolu- tion 242 desselben Jahrs verlangt wird. Eine Sicherheitsratsresolution hat wesentlich bindenderen Charakter als eine Resolution der Vollversamm- lung, und Resolution 242 war eine der wenigen Resolutionen des Sicher- heitsrats zu diesem Thema, gegen die die USA kein Veto einlegten. Wir verfügen mittlerweile über die Dokumente der israelischen Kabi- nettssitzungen in den Tagen gleich nach Beginn der Besatzung. Es handel- te sich hier um die dreizehnte Regierung Israels, und ihre Zusammenset- zung ist sehr wichtig für das Argument, das ich hier vortrage. Es war eine Einheitsregierung von einer Art, wie es sie in Israel noch nie gegeben hat- te und auch danach nicht mehr gab. In ihr war jede Schattierung des zio- nistischen und jüdischen politischen Spektrums repräsentiert. Sozialistische Parteien wie die Mapam, rechte Parteien wie Menachem Begins Herut, die Liberalen und sämtliche religiöse Parteien gehörten dazu. Die Mitschriften dieser Sitzungen vermitteln klar das Gefühl, dass die Minister wussten, dass sie einen breiten Konsens ihrer Gesellschaft vertraten. Diese Überzeugung wurde durch die euphorische Atmosphäre, die Israel nach seinem nach nur sechs Tagen gewonnenen triumphalen Blitzkrieg umhüllte, nur noch ver- stärkt. Vor diesem Hintergrund können wir das Wesen der von diesen Mi- nistern direkt nach dem Krieg von 1967 getroffenen Entscheidungen bes- ser verstehen. Ferner brauchen wir nur bis zum Beginn des vorliegenden Kapitels zu- rückzugehen, um zu sehen, dass etliche Politiker seit 1948 auf diesen Au- genblick gewartet hatten. Ich würde sogar noch weiter gehen: Meiner Auf- fassung nach war die Übernahme insbesondere des Westjordanlandes mit all seinen historischen biblischen Stätten schon vor 1948 ein zionistisches Ziel und entsprach der Logik des zionistischen Projektes als Ganzem. Die- se Logik kann als das Streben danach zusammengefasst werden, so viel wie möglich von Palästina mit so wenigen Palästinensern darin wie möglich zu

79 erobern. Wie ich gleich zeigen werde, sorgten die nach 1967 ausgearbei- teten Pläne und Strategien dafür, dass diese beiden Ziele, das geografische und das demografische, einander nicht ausschlossen. Der Konsens, die Euphorie und der geschichtliche Kontext erklären, wa- rum bis heute keine der folgenden israelischen Regierungen von den damals getroffenen Entscheidungen abgerückt ist. Die erste Entscheidung war die Feststellung, Israel könne ohne das West- jordanland nicht existieren. Im Hinblick auf den Gazastreifen herrschte in dieser Hinsicht weniger Einheit in der Regierung, aber man war sich völ- lig darüber einig, dass das Westjordanland aus strategischen und nationa- len Gründen unter direkter oder indirekter israelischer Kontrolle bleiben sollte. Solche direkten und indirekten Methoden wurden schließlich von Landwirtschaftsminister Yigal Alon vorgeschlagen, als er zwischen Gebie- ten unterschied, in denen jüdische Siedlungen gebaut werden sollten, und solchen, die eine hohe palästinensische Bevölkerungsdichte besaßen und indirekt regiert werden würden.95 Einige Jahre später änderte Alon seine Meinung über die beste Metho- de der indirekten Herrschaft. Zunächst hatte er gehofft, Jordanien würde die „arabischen Gebiete“ des Westjordanlandes übernehmen. Aber dann überzeugte ihn die lauwarme Reaktion Jordaniens auf seinen Plan, statt- dessen auf eine palästinensische Selbstregierung als beste Methode zur Lö- sung dieses Problems zu setzen. Die zweite Entscheidung war, die Bewohner des Westjordanlandes und des Gazastreifens nicht zu Bürgern Israels zu machen. Das betraf je- doch nicht die Palästinenser im dem Gebiet, das von Israel neuerdings als „Großjerusalem“ betrachtet wurde. Die Definition dieser Einheit und die Definitionen davon, wer darin ein Recht auf israelische Staatsbürgerschaft hat und wer nicht, wandelten sich, wann immer dieses Gebiet expandier- te. Mit dem wachsenden Umfang Großjerusalems wurde auch die Zahl der Palästinenser, die es beherbergte, immer größer. Heute leben dort etwa 200.000 Palästinenser. Um dafür zu sorgen, dass nicht alle von ihnen is- raelische Staatsbürger sein können, wurde eine beträchtliche Anzahl der entsprechenden Wohngebiete zu Dörfern des Westjordanlandes erklärt.96

95 Siehe Regierungssitzungen vom 11. und 18. Juni 1967, Israel State Archives (ISA), Protokolle der Regierungssitzungen. 96 Valerie Zink, ‘A Quiet Transfer: The Judaization of Jerusalem, Contemporary Arab Affairs, Band 2, Nr. 1, Januar 2009, S. 122-133.

80 Der Regierung war klar, dass eine Politik, die den Palästinensern die Staatsbürgerschaft verweigerte, ihnen zugleich aber auch die staatliche Un- abhängigkeit vorenthielt, die Menschen im Westjordanlande und im Ga- zastreifen zu einem Leben ohne die grundlegenden Bürger- und Men- schenrechte verurteilen würde. Die Frage war: Für wie lange? Wie es scheint, war die Antwort für die meisten Minister damals (ebenso wie heu- te): Für sehr lange. So etwa warf Verteidigungsminister Moshe Dayan im Juni 1967 eine Zeit von fünfzig Jahren in die Runde.97 Wenn das vorlie- gende Buch erscheint, befinden wir uns bereits im fünfzigsten Jahr der Be- satzung. Die dritte Entscheidung betraf unvermeidlich den Friedensprozess. Wie eben erwähnt, erwartete die internationale Gemeinschaft von Israel die Rückgabe der von ihm besetzten Territorien im Gegenzug für Frieden. Die israelische Regierung war bereit zu Verhandlungen mit Ägypten über die Sinai-Halbinsel und mit Syrien über die Golanhöhen, nicht jedoch zu Ver- handlungen über das Westjordanland und den Gazastreifen. In einer kurzen Pressekonferenz sagte der damalige Ministerpräsident Levy Eshkol letztlich genau das,98 aber seine Kollegen verstanden sehr bald, dass öffentliche Erklärungen dieser Art gelinde gesagt sehr wenig hilfreich waren. Und daher wurde diese strategische Position nie wieder in dieser Art öffentlich deutlich gemacht. Dessen ungeachtet liegt uns die un- zweideutige Feststellung einiger Personen, am prominentesten davon Dan Bavli, vor, die zu einem Team hoher Beamter gehörten, das mit der Ausar- beitung der langfristigen Politik gegenüber dem Westjordanland und dem Gazastreifen beauftragt waren und die im Rückblick ganz klar sagten, cha- rakteristisch für die damalige israelische Politik sei der Unwillen zu Ver- handlungen, besonders über das Westjordanland, gewesen. Und ich wür- de hinzufügen, dass dies sich seitdem nie geändert hat.99 Genau zu diesem Zeitpunkt erfanden die Israelis das, was Noam Chomsky als einen Prozess nach Nirgendwo bezeichnet hat.100 Sie verstan-

97 Israel State Archives, Regierungssitzungen, ibid, Aufzeichnungen vom 26. Juni 1967. 98 , 23. Juni 1967. 99 Dan Bavli, Träume und versäumte Gelegenheiten, 1967-1973, Jerusalem 2002 (Hebräisch). 100 Noam Chomsky, The Fateful , The United States, Israel and the Palestini- ans, Boston 1999, S. 131f, deutsch: Offene Wunde Nahost. Israel, die Palästinenser und die US-Politik, Hamburg 2002f.

81 den, dass vom Frieden zu reden Israel keineswegs davon abhalten muss, unwiderrufliche Fakten vor Ort zu schaffen, die einen Frieden in Wirk- lichkeit unmöglich machen. An dieser Stelle könnten Leser zu Recht fragen, ob es denn damals kein Friedenslager oder keine liberalen zionistischen Positionen gab, die auf- richtig nach Frieden strebten? Tatsächlich gab es solche Haltungen, und vielleicht gibt es sie auch heute noch. Allerdings waren sie von Anfang ge- nau wie heute immer marginal und wurden nur von einem kleinen Teil der Wählerschaft unterstützt. Wichtiger als alles andere in Israel ist dort ein Kern von Politikern, Ge- nerälen und Strategen, die unabhängig von allen öffentlichen Debatten die Politik festlegen. Ferner ist der einzige Weg, den Inhalt der israelischen Strategie zumindest im Rückblick zu beurteilen, nicht der Blick auf den Diskurs der politischen Entscheidungsträger, sondern der Blick auf ihre Taten. Der Diskurs der Einheitsregierung von 1967 mag sich vielleicht von dem der Labour-Regierungen,­ die in Israel bis 1977 an der Macht waren, und von dem der Likud-Regierungen, die seitdem bis heute meist (unter- brochen von einigen Regierungsjahren der nicht mehr existierenden Kadi- ma-Partei, die zwischen 2000 und 2010 von Sharon und dann von Olmert geführt wurde) an der Spitze Israels standen, unterscheiden. Ihr Handeln ist jedoch bei einer Regierung nach der andern sehr weitgehend gleich ge- blieben und entsprach in seiner Logik sehr genau den drei strategischen Entscheidungen, die im Israel nach 1967 zum Katechismus des zionisti- schen Dogmas wurden. Die entscheidendste politische Tat vor Ort war der Bau jüdischer Sied- lungen im Westjordanland und im Gazastreifen und ihre beständige Aus- weitung. Die Regierung platzierte diese Siedlungen zunächst in Gebieten mit relativ geringer palästinensischer Bevölkerungsdichte im Westjordan- land (seit 1968) und im Gazastreifen (seit 1969). Aber wie in dem brillanten Buch von Idit Zertal und Akiva Eldar Lords of the Land auf so schockierende Art beschrieben wird, gaben die Minister und Planer dann dem Druck der messianischen Siedlerbewegung Gush Emunim nach und siedelten Juden auch mitten im Herzland der palästinensischen Bevölkerung an.101

101 Idith Zetal und Akiva Eldar, Lords of the Land: The War Over Israel’s Settlements in the Occupied Territories, 1967-2007, New York 2007. Deutsch: Die Herren des Landes. Israel und die Siedlerbewegung seit 1967, München 2007.

82 Eine weitere Möglichkeit zur Beurteilung der tatsächlichen israelischen Absichten seit 1967 besteht in der Betrachtung dieser Politik vom Stand- punkt ihrer palästinensischen Opfer aus. Der neue Herrscher sperrte die Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen in den Käfig eines unmöglichen Niemandsland: Sie waren weder Flüchtlinge noch Bürger – sie waren und sind immer noch Bürger ohne Bürgerrechte. Sie waren in vielerlei Hinsicht Insassen eines riesigen Gefängnisses, in dem sie we- der Bürger- und Menschenrechte besaßen noch ihre Zukunft beeinflussen konnten – und so ist es bis heute geblieben. Die Welt duldet diese Situation, weil Israel immer – und bis vor kur- zem im wesentlichen unwidersprochen – behauptet hat, diese Situation sei nur vorläufig und werde nur so lange andauern, bis es einen geeignete pa- lästinensischen Partner für den Frieden gebe. Es ist kaum überraschend, dass ein solcher Partner bis heute nicht gefunden wurde. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen pfercht Israel bereits eine dritte Generation von Palästinensern mit unterschiedlichsten Mitteln und Methoden immer enger ein und stellt dabei diese Mega-Gefängnisse als zeitweilige Realitäten dar, die sich angeblich ändern werden, wenn erst einmal der Frieden nach Israel und Palästina kommt. Was hätten die Palästinenser tun können? Die Botschaft Israels war sehr klar: Wenn sie sich mit all diesen Landenteignungen, den strengen Be- schränkungen der Bewegungsfreiheit und einem von einer harten und wi- derwärtigen Besatzungsbürokratie beherrschten Leben abfinden würden, konnten sie auf einige wenige Krumen vom Tisch des Herrn rechnen. Zu diesen gehörten das Recht, in Israel zu arbeiten, das Recht auf eine gewis- se Autonomie und seit 1993 auch das Recht, einige dieser autonomen Ge- biete als Staat zu bezeichnen. Wenn sie jedoch den Weg des Widerstands wählten, wie dies gelegent- lich geschah, bekamen sie die volle Macht der israelischen Armee zu spü- ren. Der palästinensische Aktivist Mazen Qumsiyeh hat vierzehn solcher Aufstände und Ausbruchsversuche aus diesem Mega-Gefängnis aufgezählt – und alle stießen auf eine brutale und im Fall des Gazastreifens sogar an Völkermord heranreichende Antwort.102

102 Mazen Qumsiyeh, Popular Resistance: A History of Hope and Empowerment, Lon- don 2011.

83 Zusammenfassend können wir also sagen, dass die Übernahme des Westjordanlandes und des Gazastreifens die Vollendung eines 1948 be- gonnenen Projekts war. Damals, 1948, übernahm die zionistische Be- wegung fast achtzig Prozent Palästinas – und 1967 wurde dieser Prozess zu Ende geführt. Die demografischen Befürchtungen hinsichtlich eines Großisraels ohne jüdische Majorität, die Ben-Gurion so umgetrieben hat- ten, wurden auf zynische Art zerstreut, indem man die Palästinenser ein- kerkerte und ihnen die Staatsbürgerschaft verweigerte. Leider ist das nicht nur eine historische Beschreibung, sondern in vielerlei Hinsicht immer noch die Realität im Jahr 2017.

84 Kapitel 7: Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten

n den Augen vieler Israelis und der zahlreichen Unterstützer Israels welt- Iweit – und selbst derer, die viele Aspekte der Politik dieses Staates kriti- sieren – ist Israel letzten Endes doch ein gutartiger demokratischer Staat, der nach Frieden mit seinen Nachbarn strebt und Gleichheit für all seine Bürger garantiert. Außerdem gehen die meisten Kritiker Israels davon aus, falls sich vielleicht doch irgendetwas in dieser Demokratie in die falsche Richtung entwickelt habe, sei der Grund dafür im Krieg von 1967 zu su- chen. Das ist ein Mythos, der leider auch von einigen bedeutenden palästi- nensischen und pro-palästinensischen Gelehrten propagiert wird, aber kei- ne historische Basis in den Tatsachen hat. Auch vor 1967 konnte Israel definitiv nicht als Demokratie bezeichnet werden. Der Staat unterwarf ein Fünftel seiner Bürger einer auf den dra- konischen Notstandsverordnungen des britischen Mandats basierenden brutalen Militärverwaltung, die ihnen alle grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte verweigerte. Fast jeder Aspekt des Lebens, den wir heute als Realität des besetzten Westjordanlands sehen, fand sich auch schon im Le- ben der palästinensischen Bürger Israels zwischen 1948 und 1966. Die Militärherrschaft bedeutete, dass die Armee zugleich Legislative, Exekutive und Judikative war. Im Israel vor 1966 und nach 1967 im be- setzten Westjordanland und im Gazastreifen gab diese Herrschaftsform selbst noch dem rangniedrigsten Soldaten der IDF die Möglichkeit, das Leben jedes Palästinensers zu beherrschen und zu ruinieren. Die Palästi- nenser warten komplett wehrlos, wenn ein Soldat oder eine Einheit oder ein Kommandeur beschloss, ihre Häuser zu zerstören, sie stundenlang an Kontrollpunkten festzuhalten oder sie ohne Verfahren ins Gefängnis zu sperren. Es gab für sie keine andere Möglichkeit als die der Rebellion.103 Fast immer – mit der kurzen Ausnahme von 1966 bis 1967 – zwischen 1948 und heute gab es eine Gruppe von Palästinensern, die diese Erfah- rung machen musste. Die erste Gruppe, die unter diesem Joch zu leiden hatte, war die palästinensische Minderheit in Israel.

103 Für eine detaillierte Beschreibung des Lebens der Palästinenser unter Militärherr- schaft siehe Ilan Pappé, The Forgotten Palestinians; A History of the Palestinians in Israel, New Haven/London 2013, S. 46-93.

85 Es begann in den beiden ersten Jahren nach der Staatsgründung, wäh- rend derer man sie wie im Fall der palästinensischen Gemeinde in Hai- fa auf dem Karmelberg in Ghettos abdrängte oder aus den Städten, in de- nen es sie überhaupt noch gab, vertrieben wurden. Letzteres widerfuhr den Palästinensern in Safed und Aschdod, die im Falle Safeds in benachbarte Dörfer und im Falle Aschdods in den Gazastreifen vertrieben wurden. 104 Auf dem Land war die Situation noch schlimmer. Die verschiedenen Kibbuz-Bewegungen hatten ein Auge auf die palästinensischen Dörfer mit besonders fruchtbarem Land geworfen. Darin unterschied sich auch die sozialistische Kibbuz-Bewegung Hashmoer Ha-Zair nicht von den ande- ren. Lang nach dem Ende der Kämpfe wurden die Bewohner von Dör- fern wie Ghabsiyyeh, Iqrit, Birim, Qaidta, Zaytun und vielen anderen un- ter dem Vorwand, die Armee benötige ihr Land zwei Wochen lang für Übungszwecke, aus ihren Ortschaften fortgelockt, aber als sie zurückkeh- ren wollten, stellte sich heraus, dass ihre Dörfer ausgelöscht und an israeli- sche Juden vergeben worden waren.105 Kontrollpunkte, Verhaftungen ohne Prozess, Häuserzerstörungen sowie Vertreibungen und Deportationen waren bis 1966 an der Tagesordnung. Dabei waren die frühen Jahre am schlimmsten, was sich nicht zuletzt am Massaker von zeigt. Ende Oktober 1956, am Vorabend der Si- nai-Operation, wurden in dem Dorf Kafr Qasim unweit von Tel Aviv 49 palästinensische Bürger von der israelischen Armee massakriert. Der Vor- wand war, sie seien von der Feldarbeit zu spät nach Hause gekommen, ob- wohl eine Ausgangssperre bestand. Doch das war nicht der Grund. Israel zog damals ernsthaft die Vertreibung von Palästinensern aus Dörfern wie Kafr Qasim, aus dem Gebiet Wadi Ara und dem so genannten Dreieck in Betracht. Wadi Arad war ein Tal, das Afula im Osten und Hadera an der Mittelmeerküsten im Westen miteinander verband, das „Dreieck“ ein Ter- ritorium im östlichen Hinterland Jerusalems; beide wurden aufgrund des 1949 geschlossenen Waffenstillstandsabkommens mit Jordanien von Is- rael annektiert. Wie schon des Öfteren erwähnt, hieß Israel zusätzliches Territorium immer willkommen, nicht dagegen zusätzliche Palästinenser. Also suchte Israel an jedem Punkt, an dem der Staat sich ausdehnte, im-

104 Benny Morris, The Birth of the Palestinian Refugee Problem, Cambridge 2004, S. 471. 105 Siehe Pappé, The Ethnic Cleansing, S. 181-187.

86 mer nach Wegen, die palästinensische Bevölkerung in diesen annektierten Gebieten zu reduzieren. Operation Hafarfert, Maulwurf, war der Codename für ein Szenario, das für den Fall des Ausbruchs eines neuen Krieges mit den Arabern die massenhafte Vertreibung von Palästinensern vorsah. Heute hegen einige Forscher auf der Basis soliden Beweismaterials den starken Verdacht, dass das Massaker eine Art Fallstudie darstellte, um zu sehen, ob die Bevöl- kerung des Gebiets soweit eingeschüchtert werden konnte, dass sie Israel verließ. Das Problem der Armee dabei war, dass sich die palästinensische Minderheit als Ganze in keinem der großen Kriege Israels mit der arabi- schen Welt – denen von 1956, 1967 und 1973 – wie eine fünfte Kolon- ne verhielt und sich nie gegen das Regime erhob. Damit blieben für einen Transfer oder eine Vertreibung der Palästinenser letztlich doch nur Frie- denszeiten – und dies hat sich zumindest bis heute als etwas erwiesen, zu dem die meisten Politiker Israels nicht bereit sind. Die Täter des Massakers von 1956 kamen dann aufgrund des Eifers und der Zähigkeit zweier -Mitglieder, die davon erfahren hatten, vor Gericht: von der Kommunistischen Partei und Latif Dori von der links-zionistischen Partei Mapam. Die Kommandeure, die für die Einheit und das Gebiet verantwortlich waren, kamen mit lächerlichen Geldstrafen davon und mussten nicht ins Gefängnis.106 Israel war keine Demokratie. Und auch ein Großteil seiner Politik vor 1967 war nicht demokratisch, wie zum Beispiel der Befehl, auf Flüchtlin- ge, die versuchten, ihr Land, ihre Ernte und ihr Vieh wiederzubekommen, scharf zu schießen, und die Anzettelung eines Krieges zum Sturz des Nas- ser-Regimes in Ägypten. In dieser Zeit wurden mehr als fünfzig palästi- nensische Bürger von israelischen Sicherheitskräften getötet. Es gab noch einige weitere dauerhafte, bis heute weiterbestehende Ei- genheiten Israels, die sich Anfang der 1950er herausbildeten und die sei- ne Charakterisierung als Demokratie noch stärker und noch grundlegen- der in Frage stellen. Der Lackmustest für jede Demokratie ist ihre Haltung gegenüber den in ihr lebenden Minderheiten. Die Mehrheit bedarf keines Schutzes vor

106 Shira Robinson, „Local struggle, national struggle: Palestinian responses to the Kafr Qasim massacre and its aftermath, 1956–66“, International Journal of Mid- dle East Studies, Band 35 (2003), S. 393-416.

87 dem demokratischen System, während die Minderheit genau das benötigt. Es gibt etliche Gesetze in Israel, die für eine überlegene Position der Mehr- heit sorgen, wie das Gesetz zur Staatsbürgerschaft, die Gesetze zum Land- eigentum und vor allem natürlich das Gesetz zum Recht auf Rückkehr. Letzteres verleiht jedem Juden auf der ganzen Welt ganz gleich, wo er oder sie geboren sein mag, auf Wunsch automatisch die israelische Staatsbür- gerschaft. Es ist ein undemokratisches Gesetz, denn es war und ist beglei- tet von einer absoluten Ablehnung des palästinensischen Rechts auf Rück- kehr, das am 11. Dezember 1948 international durch Resolution 194 der UN-Vollversammlung anerkannt wurde. Diese Ablehnung macht es den palästinensischen Bürgern Israels unmöglich, mit näher oder entfernter verwandten Familienmitgliedern zusammenzuleben, die 1948 vertrieben worden waren, während es sie daran hindert, künftige Familienmitglieder überhaupt erst kennenzulernen. Menschen das Recht zu verweigern, in ihr Heimatland zurückzukehren, und gleichzeitig anderen Menschen, die gar keinen Bezug zum Land haben, das Recht auf Staatsbürgerschaft zu geben, ist keine demokratische Praxis. Ein weiterer Aspekt, der die demokratische Natur Israels in Frage stellt und bereits in den 1950er Jahren sichtbar war, war immer die in Israel be- stehende Verknüpfung zwischen dem Militärdienst und den demokrati- schen Rechten. Beinahe jede Diskriminierung palästinensischer Bürger in Israel, die ja, wie ich die Leser erinnern möchte, keine Einwanderer sind, sondern Menschen, deren Heimatlandes sich der jüdische Staat bemäch- tigt hat, wird damit gerechtfertigt, sie dienten ja auch nicht in der Ar- mee.107 Sicher wissen viele Leser von der Ausnahme von der Wehrpflicht, die für orthodoxe Juden gemacht wird, ohne dass man deswegen ihre demo- kratischen Rechte beschneiden würde. Wenn überhaupt, ist es hier umge- kehrt, und es gelingt den politischen Parteien der Orthodoxen oft, für ihre Klientel Privilegien durchzusetzen, die der Rest der Gesellschaft nicht un- bedingt bekommt. Diese Verknüpfung zwischen Rechten einerseits und militärischen Pflichten andererseits lässt sich besser verstehen, wenn wir zu den Anfangs- jahren zurückgehen, in denen die politischen Entscheidungsträger Israels

107 Ich habe diese Diskriminierungsformen aufgeführt in: Pappé, The Forgotten Pale- stinians.

88 den Grundstein für diese Verknüpfung legten. 1954 beschloss das israe- lische Verteidigungsministerium die Einberufung aller palästinensischen Bürger im wehrfähigen Alter zum Militärdienst. Der Geheimdienst warn- te die Regierung, diese Order werde mit Sicherheit auf massenhafte Ab- lehnung stoßen. Zur großen Überraschung der Geheimdienstvertreter er- schienen praktisch alle Einberufenen im Rekrutierungsbüro, und das auch noch mit Billigung der Kommunistischen Partei, die damals die größte und bedeutendste politische Kraft in der palästinensischen Gemeinschaft war. Der Geheimdienst berichtete später, Hauptgrund seien die Fadheit des Landlebens für heranwachsende Palästinenser und das natürliche Stre- ben solcher junger Männer nach Abwechslung und Abenteuer gewesen.108 Ungeachtet dieser Episode verbreitete das Verteidigungsministerium seit 1954 ein Bild, das der palästinensischen Gemeinschaft unterstellt, sie sei unwillig, im Militär zu dienen. Hierzu muss gesagt werden, dass die Palästinenser zwar mit der Zeit tatsächlich den Willen zur Beteiligung am israelischen Militär verloren, das ihre eigene Nation bekämpfte, aber dass die Ausschlachtung dieser Tatsache als Vorwand und Instrument der Dis- kriminierung Israels Behauptung, eine Demokratie zu sein, äußerst stark in Zweifel zieht. Und Diskriminierung unter diesem Vorwand ist in Israel weit verbrei- tet. Die Ansprüche palästinensischer Bürger, die nicht in der Armee ge- dient haben, auf staatliche Zuschüsse und Hilfe in ihrer Situation als Ar- beiter oder Angestellte, Studenten, Elternteile oder Ehepaare sind scharf beschränkt. Das betrifft besonders die Wohnungs- und Beschäftigungssi- tuation. Zu letzterer ist zu sagen, dass siebzig Prozent der israelischen In- dustrie als sicherheitsrelevant betrachtet werden, weshalb dort keine Bür- ger dieser Kategorie beschäftigt werden.109 Der demokratische Charakter Israels wird auch in Frage gestellt, wenn man sich seine Haushaltspolitik und die Landfrage ansieht. Auch wenn es in den letzten Jahren in diesen beiden Bereichen einige Verbesserun- gen gab, haben die palästinensischen Gemeinden und Kommunen ins- gesamt seit 1948 wesentlich weniger Fördergelder erhalten als ihre israe- lischen Gegenstücke. Die Raum- und Landknappheit schafft verbunden

108 Siehe ibid, S. 65. 109 Siehe Israeli Democracy Institute, „Employment Among Israeli “, 31. Ok- tober 2011, http://en.idi.org.il/analysis/articles/employment-among-israeli-ar- abs/.

89 mit dem Beschäftigungsmangel eine abnorme sozioökonomische Realität: Die reichste palästinensische Gemeinde, das Dorf Me’ilya im oberen Ga- liläa, ist immer noch schlechter gestellt als die ärmste jüdische Entwick- lungsstadt in der Negev-Wüste.110 2011 berichtete die Jerusalem Post, in den Jahren von 1997 bis 2009 sei das durchschnittliche Einkommen von Juden 40% bis 60% höher gewesen als das arabische Durchschnittsein- kommen.111 Das wirklich Groteske ist jedoch die Landfrage. Seit Langem gehören mehr als 90 Prozent des Landes dem Jüdischen Nationalfonds (JNF). Das bedeutet, dass Landbesitzer nicht das Recht haben, mit nicht-jüdischen Bürgern Transaktionen durchzuführen und dass öffentliches Land in ers- ter Linie für nationale Projekte reserviert ist, was wiederum heißt, dass stän- dig neue jüdische Siedlungen gebaut werden, während es kaum neue paläs- tinensische Wohnprojekte gibt. Dasselbe gilt für den Ausbau bestehender Orte und Siedlungen, der im jüdischen Sektor beständig betrieben wird, aber im palästinensischen Bereich kaum zu sehen ist. So ist die Fläche der größten palästinensischen Stadt, Nazareth, ungeachtet der Verdreifachung ihrer Bevölkerung seit 1948 um keinen einzigen Quadratkilometer gewach- sen, während die Entwicklungsstadt direkt oberhalb, Ober-Nazareth, ihre Fläche auf Land, das von palästinensischen Landbesitzern enteignet wurde, verdreifacht hat.112 Jedes palästinensische Dorf in Galiläa kann dieselbe Ge- schichte erzählen: Wie seine Fläche seit 1948 um 40 % und manchmal 60 % verringert wurde und wie auf dem enteigneten Land dann neue jüdische Siedlungen gebaut wurden. Die Beziehung zwischen Judentum und dem Recht auf Land manifes- tiert sich auch auf eine andere Art. Nach 1967 sorgte sich die israelische Regierung um die niedrige Zahl von Juden, die im Norden und im Süden des Staates lebte. Das führte zu einer Welle der „Judaisierung“, wodurch die Zahl der Juden in diesen Gebieten erhöht werden sollte. Eine solche

110 Zu den israelischen Entwicklungsstädten siehe https://de.wikipedia.org/wiki/ Israelische_Entwicklungsstadt. Dort werden sie als „in den ersten Jahren nach der israelischen Staatsgründung […] gezielt aufgebaute und geförderte Städte“ bezeichnet, die „die großen Wellen der jüdischen Neueinwanderer auffangen und die Bevölkerung gleichmäßiger über den neuen Staat verteilen“ sollten. A. d. Ü. 111 The Jerusalem Post, 24. November 2011. 112 Siehe Ilan Pappé, „In Upper Nazareth: Judaisation“, London Review of Books, 10. September 2009.

90 demografische Veränderung erforderte die Beschlagnahme von palästinen- sischem Land, um jüdische Siedlungen darauf bauen zu können. Schlimmer noch war der Ausschluss der Palästinenser von jedem Zu- gang zu diesen Siedlungen. Diese unverhüllte Verletzung des Rechts je- des Bürgers, dort zu leben, wo er oder sie es wünscht, sei es eine Stadt, eine Dorf oder eine Vorstadt, besteht bis heute fort, und alle Versuche von Menschenrechts-NGOs in Israel, etwas gegen diese Form von Apartheid zu unternehmen, sind völlig gescheitert. Nur in einigen wenigen Einzel- fällen war der Oberste Gerichtshof Israels bereit, diese rassistische Reali- tät in Frage zu stellen, nicht aber das zugrundeliegende Prinzip. Ich werde auf den Obersten Gerichtshof, der oft als letzte unverdorbene demokra- tische Körperschaft in einem Staat betrachtet wird, der seinen demokra- tischen Charakter im Lauf der Jahre immer mehr und mehr verloren hat, noch zurückkommen.113 Man stelle sich vor, in Deutschland würden Juden oder Katholiken per Gesetz davon ausgeschlossen, in bestimmten Dörfern, Vierteln oder sogar Städten zu leben. Wie lässt sich eine solche Realität mit dem Begriff der Demokratie vereinbaren? Und an diesem Punkt möchte ich die Leser er- neut und ein letztes Mal daran erinnern, dass ich hier über Bürger Israels spreche und die heutige Realität beschreibe! Demnach kann der jüdische Staat in seiner Haltung gegenüber mindes- tens zwei Gruppen von Palästinensern, den Flüchtlingen und der palästi- nensischen Gemeinschaft in Israel, beim besten Willen nicht als Demokra- tie bezeichnet werden. Die offensichtlichste Herausforderung für die Annahme, Israel sei eine Demokratie, ist jedoch die rücksichtslose Haltung Israels gegenüber der dritten Gruppe unter den Palästinensern: nämlich denen, die seit 1967 in Ost-Jerusalem, im Westjordanland und im Gazastreifen unter seiner di- rekten oder indirekten Herrschaft leben. Von der rechtlichen Infrastruk- tur, die schon 1967 etabliert wurde, über die absolute Macht, die das Militär im Innern des Westjordanlandes und von außer auch über den Gazastreifen ausübt, bis zur tagtäglichen Demütigung von Millionen von

113 Siehe den Bericht der Menschenrechtsorganisation Adalah, „An Anti-Human Rights Year for the Israeli Supreme Court“, 10. Dezember 2015, http://www. adalah.org/en/content/view/8710.gMi.

91 Menschen verhält sich die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ wie eine Diktatur schlimmster Art. Die wichtigste diplomatische und akademische Antwort auf diesen Vorwurf lautet, all das sei nur zeitweilig und könne geändert werden, so- bald die Palästinenser, wo immer sie sich befinden, sich endlich „besser“ verhielten. Es ist schon nötig zu forschen oder einmal selbst dort zu leben, um wirklich zu verstehen, wie lächerlich diese beiden Argumente sind. Wie schon mehrmals erwähnt, waren die Entscheidungsträger der israe- lischen Politik entschlossen, die Besatzung so lange beizubehalten, wie es den jüdischen Staat überhaupt gab. Sie ist jetzt Bestandteil dessen, was im israelischen politischen System als Status Quo gilt, der besser ist als jede mögliche Veränderung. Israel wird auch in Zukunft den größten Teil Pa- lästinas kontrollieren, und da sich dort immer eine umfangreichen palästi- nensische Bevölkerung befinden wird, kann das auch nicht mit demokra- tischen Mitteln geschehen. Die gerade skizzierte israelische Behauptung basiert auf zwei Annah- men, die erst einmal genauer analysiert werden müssen. Die eine besagt, es handele sich hier um eine „aufgeklärte Besatzung“ (ein weiterer Wider- spruch in sich im politischen Wörterbuch Israels). Die zweite behauptet, sämtliche harten Maßnahmen Israels seien ja lediglich „zeitweilig“. Untersuchen wir zunächst die erste Annahme. Laut diesem Mythos kam Israel mit der wohlmeinenden Absicht ins Westjordanland und den Gazastreifen, dort eine milde Besatzung zu praktizieren, war aber dann aufgrund der Gewalttätigkeit der Palästinenser zu einer härteren Haltung gezwungen. Ich habe die israelische Politik der Anfangsjahre der Besatzung ja im sechsten Kapitel schon beschrieben, und von daher sollte klar sein, dass diese frühe Politik keineswegs den Grundstein für eine „aufgeklärte“ oder zeitweilige Besatzung legte, sondern dafür sorgen sollte, dass Israel sich über einen sehr langen Zeitraum inmitten palästinensischer Gebiete fest- setzen konnte. Die israelische Regierung von 1967 und alle auf sie folgenden Regie- rungen behandelten das Westjordanland und den Gazastreifen als natür- liche Teile Eretz Israels, des Landes Israel. Bei der Debatte zwischen der Rechten und der Linken in Israel ging es nur darum, wie dieses Ziel durch- gesetzt werden sollte, und nicht um seine Gültigkeit. Dabei meine ich hier mit „Debatte“ die Diskussion unter den Politikern, nicht die der breiteren

92 Öffentlichkeit. Dort gab es durchaus eine echte Debatte zwischen jenen, die man als „Erlöser“, und denjenigen, die man als die „Treuhänder“ be- zeichnen könnte. Die „Erlöser“ meinten, Israel sei nun in den alten Kern des Heimatlandes zurückgekehrt und könne auch in Zukunft nicht mehr ohne diesen überleben. Die „Treuhänder“ dagegen argumentierten, diese Territorien sollten gegen Frieden mit Jordanien (im Fall des Westjordan- landes) und Ägypten (im Fall des Gazastreifens) ausgetauscht werden.114 Aber diese öffentliche Debatte hatte kaum einen Einfluss auf die Ent- scheidung der maßgeblichen politischen Kräfte Israels darüber, wie die be- setzten Gebiete in Zukunft regiert werden würden. Unter ihnen gab es ei- nen Konsens, der sich bis heute nicht geändert hat. Wie bereits in Kapitel 6 ausgeführt, entschieden die Strategen Israels 1967, der jüdische Staat könne ohne direkte oder indirekte Kontrolle Is- raels über das gesamte Gebiet des Westjordanlandes und des Gazastreifens nicht existieren. Sie entschieden außerdem, den Bewohnern dieser Territo- rien mit Ausnahme der in Jerusalem lebenden keine Staatsbürgerschaft zu geben, und verurteilten so die Palästinenser zu einem Leben ohne grundle- gende Bürgerrechte und ohne demokratisches Mitbestimmungsrecht über ihre Zukunft. Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste und ist nicht einmal der Hauptgrund, warum die Behauptung einer „aufgeklärten Besatzung“ zu- rückgewiesen werden sollte. Als die Regierung sich nach etwa einem Jahr über die Modalitäten dieser Strategie, die Gebiete zu behalten, aber den dort lebenden Menschen nicht die vollen Bürgerrechte zu geben, geeinigt hatte, stellte sich heraus, dass diese sehr repressiv aussehen würden. Die besetzten Gebiete wurden in „arabische“ und potentiell „jüdische“ Räume aufgeteilt. Gebiete, die dicht mit Palästinensern besiedelt waren, sollten „Autonomie bekommen und durch eine mit örtlichen Kollaborateuren garnierte Mili- tärherrschaft regiert werden, die dann 1981 durch eine Zivilverwaltung er- setzt wurde. Die anderen, „jüdischen“ Gebiete sollten durch jüdische Sied- lungen und Militärstützpunkte kolonisiert werden. Selbst wenn dies bereits die endgültige Landkarte der Kolonisierung gewesen wäre, hätte sie zu ei- ner Situation geführt, in der die örtliche Bevölkerung sowohl im Westjord-

114 Siehe Amnon Sella, „Custodians and Redeemers: Israel’s Leaders’ Perceptions of Peace, 1967-1979“, Middle East Studies, Band 22, Nr. 2 (April 1986), S. 236- 251.

93 anland als auch im Gazastreifen in voneinander abgetrennten Enklaven leb- te. Die folgte einer israelischen Logik, der zufolge die Palästinenser weder Grün- noch Erholungsgebiete noch überhaupt irgendwelchen Raum jen- seits ihrer Häuser brauchten. Doch mit den Jahren wurde die Situation noch schlimmer. Schon bald nach Beginn der Besatzung entstand eine messianische jüdische Siedler- bewegung namens Gush Emunim. Etwa eineinhalb Jahre nach Beginn der Besatzung begann sie mit ihrer Siedlungstätigkeit im Westjordanland und im Gazastreifen. Ihre Landkarte der Kolonisierung war jedoch die der Bi- bel, nicht die der Regierung. Sie drangen auch in die dicht besiedelten pa- lästinensischen Gebiete vor, und damit schrumpfte der Raum, der den Pa- lästinensern übrig blieb, noch weiter. Schon seit Beginn der Besatzung standen den Palästinensern nur zwei Möglichkeiten offen: die Realität der ständigen, auf sehr lange Zeit ange- legten Einkerkerung in einem Mega-Gefängnis zu akzeptieren, oder Wi- derstand zu leisten und sich damit der Macht der stärksten Armee des Nahen Ostens entgegenzustellen. Wenn die Palästinenser tatsächlich Wi- derstand leisteten, wie sie dies 1987, 2000, 2006, 2012 und 2014 taten, wurden sie behandelt, als seien sie Soldaten und damit Teil einer konven- tionellen Armee. Dementsprechend wurden Dörfer und Städte bombar- diert, als seien sie Militärstützpunkte, und die unbewaffnete Zivilbevölke- rung wurde auf eine Weise unter Beschuss genommen, als handele es sich um Truppen auf einem Schlachtfeld. Die „aufgeklärte Besatzung“ ließ den Palästinensern nur zwei Optio- nen: Sie konnten als gehorsame Insassen dieses Mega-Gefängnisses leben oder sich zu einer rebellischen Gesellschaft formieren, die dafür mit bru- talen Racheaktionen überzogen wird. Das Regime, das ihnen aufgezwun- gen wurde, war dasselbe wie das, dem die Palästinenser in Israel bis 1966 unterworfen waren. Israel kann nicht alle Palästinenser die ganze Zeit auf die gleiche Weise kontrollieren, aber es gibt keine einzige Zeitspanne, von der man sagen könnte, dass auch nur eine der verschiedenen Gruppen der Palästinenser unter einem demokratischen oder aufgeklärten Regime ge- standen hätte. Und wir wissen heute ohnehin zu viel über das Leben unter der Besat- zung vor und nach Oslo, um diese Behauptung ernst zu nehmen. Die Ver- haftungen ohne Prozess, wie sie so viele im Lauf der Jahre erfahren haben, die Zerstörung von Tausenden von Häusern, die Tötung und Verwun-

94 dung unschuldiger Menschen, die bewusste Austrocknung von Brunnen – das alles ist Zeugnis dafür, dass dies eines der gnadenlosesten Regime un- serer Zeit ist. Amnesty International dokumentiert das Wesen dieser Besatzung je- des Jahr sehr umfassend, und hier ist ein Auszug aus dem AI-Bericht von 2015:

Im Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem töteten israelische Streitkräfte 2015 rechtswidrig palästinensische Zivilpersonen, darun- ter auch Minderjährige. Sie nahmen Tausende Palästinenser fest, die gegen Israels anhaltende militärische Besetzung demonstrierten oder in anderer Form dagegen aufbegehrten. Hunderte Personen wurden in Verwaltungshaft genommen. Folter und andere Misshandlun- gen blieben an der Tagesordnung, und die dafür Verantwortlichen gingen straffrei aus. Die Behörden trieben den Bau unrechtmäßi- ger Siedlungen im Westjordanland weiter voran und schränkten das Recht auf Freizügigkeit der Palästinenser empfindlich ein. Nach ei- ner Gewalteskalation im Oktober 2015, als Palästinenser israelische Zivilpersonen angriffen und die israelischen Streitkräfte offenbar au- ßergerichtliche Hinrichtungen verübten, wurde die Bewegungsfrei- heit der Palästinenser noch stärker eingeschränkt. Israelische Sied- ler im Westjordanland griffen Palästinenser und deren Eigentum an, ohne dafür bestraft zu werden. Die andauernde Blockade des Ga- zastreifens durch die israelischen Streitkräfte stellte für die Bewohner des Gebiets eine Kollektivstrafe dar. Die israelischen Behörden zer- störten weiterhin palästinensische Wohnhäuser im Westjordanland. In Israel wurden vor allem Beduinendörfer in der Negev-Wüste zer- stört und die Bewohner rechtswidrig vertrieben.115

Unterteilen wir nun diesen Absatz des Berichts in seine Hauptbestandtei- le und beginnen wir mit den Morden, dem also, was der Amnesty-Bericht als „rechtswidrige“ Tötungen bezeichnet: In den Jahren seiner Besatzung hat Israel ungefähr fünfzehntausend Palästinenser „rechtswidrig“ getötet.

115 Siehe https://www.amnesty.org/en/countries/middle-east-and-north-africa/ israel-and-occupied-palestinian-territories/report-israel-and-occupied-palestini- an-territories/; deutsch https://www.amnesty.de/jahresbericht/2016/israel-und- besetzte-palaestinensische-gebiete.

95 Wie dem Leser klar sein wird, muss man bei der Diskussion solcher Zah- len eine an modernen Normen orientierte Perspektive einnehmen. Heut- zutage gilt auch eine Zahl von fünfzehntausend nicht als „geringfügig“ oder „unbedeutend“. Darunter waren an die zweitausend Kinder.116 Und in diesem Fall ist nicht nur die moderne Perspektive wichtig, sondern auch der erschreckende Doppelstandard, den wir auf westliche Opfer einerseits und nicht-westliche Opfer andererseits anwenden. Erstere lösen trauma- tische Empfindungen aus und bleiben lange im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit, während letztere regelmäßig völlig ignoriert werden. Es ist Israel gelungen, seine eigenen Opfer in der ersten und die Palästinenser in der zweiten Kategorie unterzubringen. Ein weiteres Kennzeichen der „aufgeklärten Besatzung“ waren die In- haftierungen ohne ordentlichen Prozess. Diese Erfahrung hat bis heute je- der fünfte Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen machen müssen.117 In dieser Hinsicht ist es interessant, einen Augenblick nachzu- denken und dieses israelische Vorgehen mit ähnlichen Praktiken in Ver- gangenheit und Gegenwart der USA zu vergleichen. Ich erwähne dies, weil etliche Kritiker der BDS-Bewegung gegen Israel behauptet haben, die US-Praktiken in diesem Bereich seien noch wesentlich schlimmer, und daher sollten zunächst einmal die USA Ziel einer solchen Kampagne sein. Die beiden schlimmsten Wellen von Verhaftungen ohne Anklage und Pro- zess waren die Internierung von hunderttausend Bürgern japanischer Her- kunft im Zweiten Weltkrieg und die Verhaftung von etwa dreißigtausend Bürgern im Rahmen des so genannten „Krieges gegen den Terror“. Kei- ne der beiden Zahlen kommt auch nur in die Nähe der Anzahl der Paläs- tinenser, die diesem Vorgehen unterworfen wurden. Es gibt selbst heute noch hunderte von Palästinensern in dieser Kategorie, die zum Teil sehr lange Zeit im Gefängnis verbracht haben, und unter den Opfern befanden

116 Die Opferzahlen sind seit 1987 noch genauer bekannt als für die vorigen Jahre, aber es gibt dennoch verlässliche Quellen für die gesamte Periode. Siehe dazu die Berichte von B’Tselem über Opferzahlen auf ihrer Statistik-Website (zuletzt eingesehen im April 2016). Weitere Quellen sind IMEMC und die UN-OCHA- Berichte. 117 Einer der gründlicheren Berichte über Gefangenenzahlen findet sich in Mo- hammad Ma’ri, „Israeli Forces Arrested 800,000 Palestinians since 1967“, The Saudi Gazette, 12. Dezember 2012.

96 sich Kinder bis hinunter zum Alter von zwei Jahren sowie sehr alte Men- schen.118 Die Unmöglichkeit, herauszufinden, wessen man angeklagt ist, die Un- terbindung des Kontakts zu einem Rechtsanwalt und die Spärlichkeit der Kontaktmöglichkeiten mit der Familie sind nur ein Teil des Leidesweges solcher Gefangener. Noch furchtbarer ist, dass die meisten dieser Verhaftungen das Ziel verfolgen, die Menschen zur Kollaboration zu zwingen, und auch ande- re Mittel der Einschüchterung wie die Verbreitung von Gerüchten über die angebliche oder wirkliche sexuelle Orientierung der Leute finden häu- fig Anwendung. Zum Thema Folter veröffentlichte die sehr verlässliche Website Midd- le East Monitor einen erschütternden Artikel, der zweihundert Methoden beschreibt, die Israel zur Folterung von Palästinensern einsetzt; der Arti- kel basiert seinerseits auf einem UN-Bericht und einem Bericht der israe- lischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem.119 Ich werde den Inhalt hier nicht wiederholen, sondern möchte stattdessen meine Leser bitten, sich den Artikel und die Berichte selbst anzusehen und sich zu fragen, ob sie sich an irgendeinen internationalen Aufschrei oder wenigstens einen Aus- druck der Sorge um die Opfer dieser Barbarei erinnern können. Folter kann nur dann massiv angewendet werden, wenn bereits Ent- menschlichung herrscht. Wie ich in meinem Abschlusskapitel zu zeigen ver- suchen werde, ist der schlimmste Mythos um Israel und Palästina der, dies sei Konflikt zwischen zwei Nationalbewegungen. Das ist nicht der Fall – es handelt sich um den Zusammenstoß zwischen einem siedlerkolonialisti- schen Projekt und einer antikolonialistischen Bewegung. Wie ich im letzten Kapitel erläutern werde, sind siedlerkolonialistische Projekte neben anderen Logiken von einer Logik der Entmenschlichung motiviert. Folter ist nur eine der vielen Manifestationen dieser Logik. Der Bericht erwähnt auch eine sehr bedeutende Dimension eines je- den siedlerkolonialistischen Projekts; die Übernahme von Land, einen Akt,

118 Siehe das Dokument in der Harry Truman Library, „The War Relocation Au- thority and the Incarceration of the Japanese-Americans in the Second World War“, http://www.trumanlibrary.org/whistlestop/study_collections/japanese_in- ternment/index.php. 119 Siehe https://www.middleeastmonitor.com/20141029-torture-in-israeli-pri- sons-200-methods.

97 den das Völkerrecht als Verbrechen betrachtet, wenn er von einer Besat- zungsmacht verübt wird. Jedes Kolonisierungsprojekt benötigt in erster Li- nie Land und Territorium – in den besetzten palästinensischen Gebieten konnte dies nur durch die massive Enteignung von Land, die Deportati- on von Menschen von Orten, an denen sie seit Generationen gelebt hatten, und ihren Einschluss unter unmöglichen Lebensbedingungen erreicht wer- den. Wenn man über das Westjordanland fliegt, kann man das kartografi- sche Resultat dieser Politik klar sehen: Man sieht große Siedlungsgürtel, die das Land gespalten haben und die palästinensische Gemeinschaft in klei- nen, isolierten und miteinander unverbundenen Gemeinden zusammen- drängen. Diese Judaisierungs-Gürtel trennen Dörfer von Dörfern und Dör- fer von Städten, und manchmal spalten sie ein und dasselbe Dorf in zwei Teile. Es ist das, was Forscher als eine Geografie des Desasters bezeichnen, da diese Politik sich auch als ökologisch katastrophal entpuppt hat. Einer der Effekte ist die Austrocknung der Wasserquellen der Dörfer, womit eini- ge der schönsten Kulissen der palästinensischen Landschaft zerstört werden. Außerdem wurden die jüdischen Siedlungen zu Brutstätten eines unkont- rollierbaren Wachstums des jüdischen Extremismus, dessen hauptsächliche Opfer die Palästinenser waren. So hat die Siedlung Efrat ein Juwel des Wel- terbes, das Wallajah-Tal bei Bethlehem ruiniert, und das Dorf Jafneh bei Ra- mallah, das für seine immer Frischwasser führenden Kanäle berühmt war, hat seine Identität und seine Attraktivität für Touristen verloren. Und das sind nur zwei kleine Beispiele aus einem ganzen Katalog, der Hunderte von ähnlichen Fällen umfasst. Schon die Anklagen Amnesty Internationals zum Thema Häuserzerstö- rung reichen aus, um allen Vorspiegelungen über eine „aufgeklärte Besat- zung“ den Boden zu entziehen. Die Zerstörung von Häusern ist in Paläs- tina nichts Neues. Ebenso wie ein Großteil der barbarischeren Methoden der Kollektivbestrafung, die Israel seit 1948 in seinen eigenen palästinen- sischen Territorien und seit 1967 in den besetzten Gebieten anwendete, wurden sie ursprünglich während der großen arabischen Revolte von 1936 bis 1939 von der britischen Mandatsregierung entwickelt und eingesetzt. Diese Revolte war der erste palästinensische Aufstand gegen die prozio- nistische Politik des britischen Mandats, und die britische Armee brauch- te drei Jahre, um ihn zu unterdrücken. Die Briten zerstörten im Rahmen

98 ihrer kollektiven Strafmaßnahmen gegen die örtliche Bevölkerung etwa 2.000 Häuser.120 Israel hat fast seit dem ersten Tag seiner Militärbesatzung des Westjor- danlandes und des Gazastreifens zum Mittel der Häuserzerstörung gegrif- fen. Die Arme sprengte jedes Jahr Hunderte von Häusern, um diverse Ver- gehen zu bestrafen, die von Familienangehörigen der Bewohner begangen worden waren.121 Ganz gleich, ob es sich dabei um geringfügige Verstöße gegen die Militärverwaltung oder die Beteiligung an Gewalttaten handelte – die Israelis waren rasch bei der Hand mit der Entsendung ihrer Bulldo- zer, um damit nicht nur die physische Struktur eines Gebäudes, sondern auch das Zentrum des Lebens und der Existenz der betroffenen Familie auszulöschen. Im Gebiet von Großjerusalem und in Israel stellt dies auch eine Strafmaßnahme für den nicht genehmigten Ausbau eines bereits vor- handenen Hauses oder die Unfähigkeit der Bewohner, ihre Rechnungen zu bezahlen, dar. Dann gibt es noch eine weitere Form der Kollektivbestrafung, die jüngst erneut ins israelische Repertoire aufgenommen worden ist: das Zumauern von Häusern. Meine Leser müssen hier ihre Vorstellungskraft benutzen, um die Grausamkeit dieser Maßnahme zu begreifen. Stellen Sie sich vor, alle Türen und Fenster in ihrem Haus würden mit Zement, Mörtel und Stei- nen zugemauert, und sie könnten nicht hineingehen, um die Sachen zu ho- len, die Sie nicht rechtzeitig mit hinaus nehmen konnten. Ich habe überall in meinen Geschichtsbüchern nachgesehen, um herauszufinden, wer sich vielleicht noch einer derart niederträchtigen Maßnahme bedient hat, aber ich fand kein weiteres Beispiel für diese ganz spezielle Form von Unmensch- lichkeit. Und schließlich wurde den Siedlern unter der „aufgeklärten Besatzung“ erlaubt, Banden von so genannten Bürgerwehren zu bilden, die die Men- schen drangsalieren und ihr Eigentum zerstören. Dabei haben sie im Lauf der Jahre ihre Vorgehensweise modifiziert. In den 1980er Jahren wende- ten sie echten Terror an, der von der Verwundung palästinensischer Füh-

120 Motti Golani, Palestine Between Politics and Terror, 1945-1947, Brandais 2013, S. 201. 121 Erschreckende Beschreibungen fast sämtlicher solcher Häuserzerstörungen fin- den sich in großem Umfang auf der Website des Israelischen Komitees gegen Häuserzerstörungen (Israeli Committee against House Demolitions, ICHAD) www.ichad.org.

99 rer (von denen einer bei einem Anschlag beide Beine verlor) zu Plänen reichte, die Moscheen auf dem Haram al-Sharif in Jerusalem in die Luft zu sprechen. Im 20. Jahrhundert sind sie zur täglichen Schikanierung der Palästinenser übergegangen: dem Ausreißen ihrer Bäume, der Zerstörung ihrer Ernten und der wahllosen Beschießung ihrer Häuser und Fahrzeuge. Seit 2000 hat es jeden Monat mindestens hundert derartige Angriffe ge- geben. In einigen Städten wie Hebron, wo 500 israelische Siedler leben, haben die Siedler die in ihrer Nachbarschaft lebenden Palästinenser auf noch brutalere Art schikaniert.122 Was ich in diesem Kapitel in Frage gestellt habe, war nicht nur die Be- hauptung Israels, es praktiziere eine aufgeklärte Besatzung, sondern auch seine Prätention, eine Demokratie zu sein. Aber ein solches Verhalten eines Staates gegenüber Millionen von Menschen unter seiner Herrschaft sollte niemandem erlauben, ihn als demokratisch zu bezeichnen. Aber Politik kann sehr zynisch sein, und obwohl große Teil der Zivilge- sellschaften auf der ganzen Welt Israel das Prädikat der „Demokratie“ ab- sprechen, porträtieren und behandeln die politischen Eliten dieser Gesell- schaften Israel aus verschiedenen Gründen immer noch als Mitglied des exklusiven Clubs der demokratischen Staaten. In vielerlei Hinsicht spie- gelt die Popularität der Boykott-, Divestitions- und Sanktions-Bewegung (BDS) die Verärgerung dieser Gesellschaften über die Politik ihrer Regie- rungen wider. Die zweite Rechtfertigung, die das offizielle Israel und seine Unterstüt- zer für die Weiterführung der Besatzung und der Unterdrückung geben, besagt, diese Maßnahmen seien nur zeitweilig und würden mit einem Frie- densabkommen enden. Allerdings, so das Argument weiter, gebe es bis jetzt auf der palästinensischen Seite leider keinen Partner für den Frieden, und darum müssten diese Maßnahmen eben weiter eingesetzt werden. Wie die nächsten Kapitel zeigen werden, waren palästinensische Führer wie Arafat und Abu Mazin bereit, sehr weit für eine Lösung des Konflikts zu gehen, hatten aber nur verschwindend geringe Möglichkeiten, auch nur der zionistischen Linken eine bedeutungsvolle palästinensische Unabhän- gigkeit oder Souveränität abzuringen, von der Mitte oder der Rechten des zionistischen Spektrums ganz zu schweigen.

122 Siehe die Berichte der israelischen NGO Yesh Din, http://files.yesh-din.org/userfiles/Datasheet_English_Oct%202015.pdf.

100 Auch heute noch gibt sich die israelisch-jüdische Gesellschaft der Illusi- on hin, Israel sei ein wohltätiger Besatzer. Wie erwähnt, ist die „aufgeklärte Besatzung“ ein weiterer von vielen Widersprüchen in sich, wie sie für diese Gesellschaft typisch sind. Ein weiterer und damit eng verbundener Wider- spruch in sich ist das Konzept der „die Reinheit der Waffen“ – der Glau- be, die israelische Armee sei die moralischste der Welt, obwohl die Fakten vor Ort natürlich eine ganz andere Sprache sprechen. Der Slogan von der „aufgeklärte Besatzung“ führte dazu, dass es den Palästinensern nach Mei- nung des durchschnittlichen jüdischen Bürgers in Israel unter der Besat- zung wesentlich besser ging als je zuvor und sie darum keinen Grund der Welt hatten, dagegen aufzubegehren, geschweige denn mit Gewalt. Und auch die unkritischen Unterstützer Israels im Ausland teilen diese merk- würdigen Annahmen. In den 1990er Jahren machte sich eine beträchtliche Anzahl von jüdi- schen Akademikern, Journalisten und Künstlern die bis jetzt in diesem Ka- pitel vorgetragene Kritik zu eigen. Tatsächlich basiert ein Großteil der obi- gen Analyse auf dem Werk dieser kritischen Stimmen. Es bedurfte einigen Mutes, die Gründungsmythologien der eigenen Gesellschaft und des eige- nen Staates herauszufordern. Genau darum gaben einige von ihnen spä- ter ihre mutige Haltung auf und kehrten in den Schoß des Mainstream zurück. Dessen ungeachtet brachten diese Kritiker im Lauf der 1990er Jahre eine Reihe von Werken hervor, die die These, Israel sei eine Demo- kratie, in Frage stellten. Sie porträtierten Israel als Mitglied einer ganz an- deren Gemeinschaft von Nationen, nämlich der der Nicht-Demokratien. Einer von ihnen, der Geograf Oren Yiftachel von der Ben-Gurion-Uni- versität, beschrieb Israel gemeinsam mit Asad Ghanem von der Universi- tät Haifa als eine Ethnokratie. Bei einer Ethnokratie handelt es sich um ein Regime, das einen ethnisch gemischten Staat mittels der rechtlichen und formalen Bevorzugung einer ethnischen Gruppe gegenüber allen an- deren beherrscht.123 Andere in den 1990er Jahren gingen noch weiter und bezeichneten Israel als Apartheidstaat oder als siedlerkolonialistischen Staat.124 Was immer die Definitionen waren, die diese kritischen Wissen-

123 Oren Yiftachel and Asad Ghanem „Towards a Theory of Ethnocratic Regimes: Learning from the Judaisation of Israel/Palestine“, in: E. Kaufman (ed.), Re- thinking Ethnicity, Majority Groups and Dominant Minorities, London/New York 2004, S. 179-197. 124 Siehe Uri Davis, Apartheid Israel: Possibilities for the Struggle from Within, London

101 schaftler vorschlugen – Demokratie gehörte nicht dazu. Ein dem Zionis- mus näher stehender Standpunkt wurde von dem langjährigen Soziologen an der Universität Haifa, Sammy Smooha, ventiliert, der dafür votierte, Israel als ethnische Demokratie zu bezeichnen. Aber hier fragt man sich, wo es etwas geben soll wie eine religiöse oder ethnische Demokratie – ob es nun eine jüdische Demokratie oder eine christliche oder eine muslimi- sche ist.125 Ein Staat, der seine eigene Ursprungsbevölkerung, die ja nicht aus Ein- wanderern besteht (denen man im Prinzip zunächst geringere Rechte ein- räumen kann) und die beinahe die Hälfte der Bewohner des Landes dar- stellt, gesetzlich und in der Praxis so offen diskriminiert, kann beim besten Willen nicht als Demokratie bezeichnet werden.

2004. 125 Sammy Smooha, „The Model of Ethnic Democracy: Israel as a Jewish and Dem- ocratic State“, Nations and Nationalism, Band 8, Nr. 4 (2002), S. 475-503.

102 Kapitel 8: Die Mythen um Oslo

it dem so genannten Oslo-Prozess sind zwei verschiedenen Mytho- Mlogien verbunden. Die erste besagt, es habe sich dabei um einen echten Friedensprozess gehandelt, die zweite, dieser sei von mit Absicht zum Scheitern gebracht worden, indem er mit der zweiten Intifada eine megaterroristische Operation gegen Israel angezettelt habe.

1. Oslo war ein Friedensprozess, der an den Palästinensern scheiterte

Die erste These besagt, das Oslo-Abkommen habe einen echten Friedens- prozess in die Wege geleitet, der sich aus dem Wunsch beider Seiten er- geben habe, eine Lösung zu finden, aber dann an der Unfähigkeit der pa- lästinensischen Führung gescheitert sei, ihn auch zu Ende zu führen. Eine nuanciertere, liberal-zionistische Version dieser Annahme schreibt die Schuld am Scheitern erst, bis zu dessen Tod, Yasser Arafat und danach der israelischen Rechten, besonders zu. Wie dem auch sei, der Konsens beider Varianten besagt, der frühe Miss- erfolg bei der Umsetzung des Abkommens habe ausschließlich an der Wei- gerung Arafats gelegen, die in dem Abkommen von 1993 gemachten pa- lästinensischen Zusagen einzulösen. Die wichtigste dieser Zusagen war die Bereitschaft, als für Israels Sicherheit zuständiger Subunternehmer zu fun- gieren und dafür zu sorgen, dass es keinen aktiven Widerstand gegen die Besatzung gab. Darüber hinaus wurde von Arafat stillschweigend erwar- tet, die israelische Interpretation der endgültigen Lösung zu akzeptieren, die aus diesem Abkommen hervorgehen sollte. Und diese Interpretation wurde Arafat im Sommer 2000 bei einem Gipfel mit dem israelischen Mi- nisterpräsident und US-Präsident Bill Clinton im US-ame- rikanischen Camp David präsentiert. Die israelische Interpretation sah einen entmilitarisierten palästinensischen Staat mit dem bei Jerusalem ge- legenen Dorf Abu Dis als Hauptstadt. Bedeutende Teile des Westjordan- landes wie das Jordantal, die großen jüdischen Siedlungsblocks und das Gebiet Großjerusalem sollten nicht in diesem Staat enthalten sein. Der zu- künftige Staat solle keine unabhängige Wirtschafts- und Außenpolitik ha- ben und praktisch nur im Inneren Autonomie genießen. Dieses Arrange-

103 ment sollte das Ende des Konflikts markieren und sämtlichen zukünftigen Ansprüchen der Palästinenser (wie etwa dem Recht der palästinensischen Flüchtlinge von 1948 auf Rückkehr) einen Riegel vorschieben. Um das Scheitern Oslos besser zu verstehen, müssen wir den analy- tischen Rahmen weiter fassen und uns zwei Konzepte ansehen, die von dem Friedensabkommen auf diametral verschiedene Art behandelt wur- den. Diese Herangehensweise ist meiner Meinung nach einer der Haupt- gründe für das Scheitern des Abkommens. Das Abkommen basierte auf dem Konzept einer Teilung des Landes auf der einen und auf der Vernei- nung des Rechts der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr auf der anderen Seite. Das Argument, die physische Teilung des Landes sei die beste Lösung für den Konflikt, wurde zum ersten Mal 1937 im so genannten Peel-Re- port der Königlich-Britischen Untersuchungskommission vorgebracht. Dann wurde es in der UN-Teilungsresolution von November 1947 als bes- ter gangbarer Weg übernommen und tauchte erneut in den von den USA nach 1967 unternommenen Bemühungen als die Formel für den Frieden auf, um schließlich zum Angelpunkt der Logik von Oslo zu werden. Jedes Mal in der Geschichte, wenn eine Teilung vorgeschlagen wurde, folgte da- rauf weiteres Blutvergießen, und bis jetzt haben all diese Teilungspläne kei- nen Frieden hervorgebracht. Dabei war der Vorschlag, Palästina zu teilen, nie von der palästinensi- schen Seite gekommen. Er war immer eine zionistische und später eine is- raelische Idee gewesen. Und das Gebiet, das die Israelis bei jeder dieser Teilungen für sich verlangten, wurde mit ihrer wachsenden Macht immer größer. Dies spiegelte sich in solchem Maß in einer wachsenden interna- tionalen Unterstützung für die Teilungsidee wider, dass auch die palästi- nensische Position zu diesem Prinzip davon nicht unbeeinflusst blieb. An- fang der 1970er Jahre erkannt die Fatah die Teilung als notwendiges Mittel oder Zwischenstadium auf dem Weg zur Befreiung, wenn auch nicht als endgültige Lösung an. Mit dem Oslo-Abkommen näherte sich die Inter- pretation der faktischen Bedeutung einer Teilung durch palästinensischen Führer derjenigen der Israelis an. Es hatte den Anschein, als sei die palästi- nensische Führung, die ihre Macht und Manövrierfähigkeit dahinschwin-

104 den sah, nunmehr bereit, diese Interpretation als das kleinste aller Übel zu akzeptieren.126 Ich werde auf die Idee der Teilung im letzten Kapitel dieses Buches zu- rückkommen, in dem ich den Zionismus als koloniale Siedlerbewegung und Israel als einen Siedlerstaat diskutiere. Im Kontext dieser Diskussion muss darauf hingewiesen werden, dass die Kolonisatoren den Kolonisier- ten immer eine Teilung anbieten, besonders natürlich dann, wenn die his- torischen Umstände ihnen noch nicht die volle Kontrolle über das begehr- te Land ermöglichen. Demgegenüber gibt es keinerlei Grund, warum eine Ursprungsbevölkerung einer Siedlerbewegung freiwillig eine Teilung ihres Heimatlandes anbieten sollte. Dies ist eine nützliche Reise in der Vergangenheit, da der innerste Kern der Logik von Oslo in dem Gedanken liegt, Frieden sei nur durch eine Aufteilung Palästinas zwischen Juden und Palästinensern zu erreichen. Tat- sächlich ist dies aber keine Idee des Friedens, sondern die eines Kompro- misses, den ein besiegtes, kolonisierten Volk eingeht, eines Kompromisses, von dem sich gezeigt hat, dass er immer gegen die Interessen dieses Volkes gerichtet war und sogar seine nackte Existenz gefährdet hat. Sehen wir uns nun einmal die wesentlichen Wendepunkte in der Ge- schichte der Teilung Palästina etwas genauer an. Wie erwähnt, wurde die Idee einer Teilung Palästinas erstmals in den 1930er Jahren im Rahmen der britischen Diskussion über eine mögliche Lösung des Konflikts ins Spiel gebracht. Die zionistische Bewegung bot daraufhin an, eine Annexi- on der „arabischen Teile Palästinas“ an Jordanien (damals Transjordanien) zu akzeptieren, aber diese Idee wurde von den Palästinensern abgelehnt. Die Briten suchten daraufhin nach weiteren Friedenformeln, von denen sich aber keine als tragfähig erwies.127 Wie im Kapitel über 1948 skizziert, übertrug Großbritannien die Pa- lästinafrage dann nach dreißig Jahren britischer Herrschaft an die Verein- ten Nationen. Die internationale Organisation beauftragte daraufhin einen Sonderausschuss (UNSCOP)128 damit, nach einer Lösung zu suchen. Die

126 Ich empfehle hierzu eine gründliche Lektüre des besten Berichts über die Ent- wicklungen, die zum Oslo-Abkommen führten, nämlich Hilde Henriksen Waa- ge, „Postscript to Oslo: The Mystery of Norway’s Missing Files“, Journal of Pale- stine Studies, Band 38, Nr. 1 (Herbst 2008), S. 54-65. 127 Nur Masalha, Expulsion, ibid, S. 107. 128 United Nations Special Commission on Palestine.

105 Ausschussmitglieder kamen aus Ländern, die sich sehr wenig für Palästina interessierten und in denen kaum etwas über dieses Land bekannt war. Hin- zu kam, dass sie sowohl von der palästinensischen als auch von der arabi- schen Führung insgesamt boykottiert wurden. So entstand ein Vakuum, das von den zionistischen Diplomaten und der zionistischen Führung gefüllt wurde, die nun gegenüber der UNSCOP als Ideengeber fungierten. Die zi- onistische Führung schlug die Schaffung eines jüdischen Staates auf 80 Pro- zent des palästinensischen Territoriums vor, was dann von der Kommission auf 56 Prozent reduziert wurde.129 Seit 1948 haben die Palästinenser auf die Befreiung ganz Palästina als Ganzes gehofft, aber bis 1993 waren sie nicht einmal Teil der Verhandlun- gen. Diese Rolle spielten bis dahin hauptsächlich Ägypten und Jordanien, die jedoch bereit waren, die israelische Übernahme der 80 Prozent Paläs- tinas, die der neue Staat 1948 besetzt hatte, im Austausch gegen bilatera- le Abkommen zu legitimieren, und solche Abkommen gab es dann auch, nämlich 1979 mit Ägypten und 1994 mit Jordanien. Nach 1967 tauchte das Konzept der Teilung unter verschiedenen Na- men und in verschiedenen Zusammenhängen erneut auf. Die Teilung ver- barg sich nun hinter der zunehmenden Prominenz zweier neuer Konzepte, die aber dem Wesen dasselbe bedeuteten: Teilung. Das erste dieser Kon- zepte lautete „Land gegen Frieden“ und wurde von sämtlichen Friedens- unterhändlern als geheiligte Formel für den Frieden behandelt – je mehr Territorium Israel wieder herausgab, desto mehr Frieden würde es bekom- men. Nun aber bestand das Territorium in Palästina, von dem Israel wie- der abziehen konnte, in jenen 20 Prozent, die es 1948 noch nicht an sich genommen hatte. Daher zielte die Idee nunmehr im Wesentlichen darauf ab, den Frieden auf der Basis der Aufteilung der verbleibenden 20 Prozent zwischen Israel und jedweder Partei zu erreichen, die von Israel als Frie- denspartner legitimiert werden würde. Das waren bis Ende der 1980er Jahre die Jordanier und seitdem die Palästinenser selbst. Das zweite Konzept war die Zweistaatenlösung, die nichts anderes dar- stellt als eine Teilung unter anderem Namen. Dabei würde Israel nicht nur selbst entscheiden wieviel Territorium es aufgibt, sondern auch, was in den Gebieten geschieht, die es zurücklässt. Was es möglich machte, der Welt

129 Walid Khalidi, „Revisiting the UNGA Partition Resolution“, Journal of Palestine Studies, Band 27, Nr. 1 (Herbst 1997), S. 5-21.

106 und zumindest einigen Palästinensern diese (zukünftige) neue Teilung zu verkaufen, die den Palästinenser noch weniger geben würde als die Teilung von 1947, war das Versprechen der Staatlichkeit. Aber sobald einmal klar wurde, was Israel mit “Staatlichkeit” meint, verlor die Idee für die meisten Palästinenser, die sie ursprünglich unter- stützt hatten, ihre Attraktivität, und in der weltweiten Zivilgesellschaft entwickelten sich ernste Zweifel an ihrer Richtigkeit. Dennoch wird, wie die Leser sehr wohl wissen werden, die Zweistaatenlösung im Allgemeinen immer noch als die wichtigste Möglichkeit betrachtet, wenn vom Frie- densprozess die Rede ist. Wie dem auch sei, diese beiden miteinander verknüpften Konzepte des territorialen Rückzugs und der Staatlichkeit, die auf eine weitere Teilung der verbliebenen 20 Prozent Palästinas hinausliefen, wurden in Oslo er- folgreich als Friedenspaket präsentiert. Schon vor dem abschließenden Gipfeltreffen im Sommer 2000 hatten palästinensische Friedensaktivisten, Akademiker und Politiker erkennen müssen, dass der von ihnen unter- stützte Friedensprozess weder einen echten militärischen Abzug Israels aus den besetzten Gebieten mit sich brachte, noch die Schaffung eines echten palästinensischen Staates in Aussicht stellte. Der „Frieden“ entlarvte sich als Farce und erzeugte eine Verzweiflung, die maßgeblich zum Ausbruch des zweiten palästinensischen Aufstandes beitrug. Das erste Menetekel zeigte sich bereits im September 1995, zwei Jah- re, nachdem das Oslo-Abkommen am 13. September 1993 als so genann- te „Grundsatzerklärung“ auf dem Rasen des Weißen Hauses unterzeichnet worden war. Am Ende dieses Monats wurden jene vagen Grundsätze in den Dokumenten, die dann Oslo-II- oder Taba-Abkommen genannt wur- den, in die Realität umgesetzt.130 In diesem Abkommen tauchte, wie eine Amöbe, die sich in verschiede- nen Formen und Versionen selbst reproduziert, auch die Teilung wieder auf. Die israelischen Strategen schienen sich in das Konzept verliebt zu ha- ben. So beinhaltete Oslo-II nicht nur die Aufteilung des Westjordanlan- des und des Gazastreifens in „jüdische und palästinensische“ Zonen, son- dern auch die weitere Aufteilung aller palästinensischer Gebiete in kleine Kantone oder Bantustans. Die Friedenskartografie von 1995 sah ein zwei-

130 Siehe http://israelipalestinian.procon.org/view.background-resource.php?resour- ceID=000921.

107 geteiltes palästinensisches Gebiet vor, dessen Hälften wiederum, in den Worten nicht weniger Kommentatoren, einem Schweizer Käse ähnelten (nämlich dem Emmentaler, der voller Löcher ist, die in dieser Metapher den palästinensischen Enklaven entsprechen).131 Es war nicht nur der Missbrauch des Teilungsprinzips, der Oslo zu ei- nem unmöglichen Friedensplan machte. Das ursprüngliche Abkommen enthielt die Zusicherung Israels, die drei Fragen, die die Palästinenser am meisten beschäftigen – die Zukunft Jerusalems, die Flüchtlinge und die jüdischen Kolonien – würden verhandelt, sobald eine vorgesehene Über- gangsperiode von fünf Jahren erfolgreich zu Ende gebracht sei. In dieser Übergangsperiode hatte die palästinensische Seite zu beweisen, dass sie als effiziente Subunternehmer für Israels Sicherheit fungieren konnte, womit gemeint war, dass sie sich als fähig erweisen würde, jegliche Guerilla- oder Terrorangriffe auf den jüdischen Stadt sowie sein Militär, seine Siedler und seine Bürger zu unterbinden. Die Periode von fünf Jahren wurde nicht aufgrund eines palästinensi- schen „Fehlverhaltens“ verlängert, sondern wegen der internen Entwick- lungen in Israel. Diese Verlängerung geht in erster Linie auf die Ermor- dung des israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin im November 1995 zurück. Auf diesen Mord folgte der Sieg des von Benjamin Neta- nyahu geführten Likud-Blocks bei den nationalen Wahlen von 1996. Ne- tanjahus Ablehnung des Abkommens brachte den dort vorgesehenen Pro- zess zum Stehen, und als sie USA ihn zwangen, ihn wieder in Gang zu setzen, schlich er dennoch qualvoll langsam vor sich hin, bis die Arbeiter- partei unter Ehud Barak 1999 wieder an die Macht zurückkehrte. Barak war entschlossen, den Prozess mit einem endgültigen Friedensabkommen abzuschließen, ein Vorhaben, das von der Clinton-Administration in vol- lem Maß unterstützt wurde. Als dann während der Diskussionen in Camp David im Sommer 2000 das endgültige israelische Angebot vorgelegt wurde, sah es so aus, wie ich es zu Anfang dieses Kapitels umrissen habe: ein kleiner palästinensi- scher Staat mit Hauptstadt in dem Dorf Abu Dis, keine bedeutsame Räu- mung irgendwelcher Siedlungen, und keine Hoffnung auf die Rückkehr der Flüchtlinge. Nachdem die Palästinenser diesen Plan abgelehnt hatten,

131 Siehe Ian Black, „How the Oslo Accord Robbed the Palestinians“, The Guardian, 4. Februar 2013.

108 gab es einen informellen Versuch des stellvertretenden israelischen Außen- ministers Yossi Beilin, zumindest in der Flüchtlingsfrage ein vernünftige- res Angebot zu machen, bei dem der Rückkehr der Flüchtlinge in einen zukünftigen palästinensischen Staat und der Repatriierung eines symboli- schen Kontingents nach Israel zugestimmt wurde. Aber als diese Angebote 2001 bei Verhandlungen in Taba unterbreitet wurden, hatten weder Bei- lin noch die Vertreter der Palästinenser, mit denen er sprach, ein offizielles Mandat ihrer jeweiligen Führung, und so landete diese „weichere“ Version des Abkommens ebenfalls auf dem Müllhaufen der Geschichte. Dank der inzwischen unter dem Namen „Palästina Papers“ durchgesickerten Schlüs- seldokumente haben wir jetzt einen besseren Einblick in den Charakter der Verhandlungen, und auch im Hinblick auf weitere Aspekte der isra- elisch-palästinensischen Verhandlungen zwischen 2001 und 2007 ist ein Studium dieser leicht zugänglichen Quelle lohnenswert.132 Um zu verstehen, wie unfair die Darstellung ist, der zufolge die PLO eine starrsinnige Position bezog, die dann zum Scheitern von Oslo führte, muss man sich darüber im Klaren sein, in welch hohem Maß es auf Seiten der palästinensischen Führung eine echte Unterstützung für die Idee der Zweistaatenlösung und eine historische Bereitschaft zur Akzeptierung des Teilungsgedanken gab. Wie bereits erwähnt, machte sich die Fatah zu Anfang der 1970er Jah- re eine bestimmte funktionale und taktische Haltung zur Frage der Tei- lung zu eigen. Die Teilung wurde als zeitweiliges Stadium auf dem Weg zu vollständigen Befreiung Palästinas legitimiert. Nach der Niederlage der PLO im Libanon und ihrer Vertreibung aus ihrem Hauptquartier in Bei- rut wurde die Teilung ein noch bedeutsameres politisches Ziel. Die Positi- on der PLO in Tunis war immer gefährdet und es gab für sie nie die Sicher- heit, dass sie dort lange bleiben konnte. Nach dem ersten Golfkrieg von 1991 wurde ihre Lange noch prekärer. Yasser Arafat hatte sich für eine öf- fentliche Unterstützung des irakischen Präsidenten Saddam Hussein ent- schieden, was zu einer Ächtung der PLO in der arabischen Welt führte. Sie entfremdete sich damit von ihren ehemals wichtigsten Unterstützern wie Ägypten, Saudi-Arabien und den Golfstaaten.133

132 Siehe http://thepalestinepapers.com/en/projects/thepalestinepa- pers/20121821231215230.html. 133 Avi Shlaim, „The Rise and Fall of the Oslo Peace Process“, in: Louise Fawcett (Hg.), The International Relations of the Middle East, Oxford 2005, S. 241-261.

109 Außerdem war die PLO auch blich vom Zusammenbruch der Sowjet- union berührt. Die nun fehlende Unterstützung dieser Supermacht mach- te die palästinensische Führung verwundbar und zwang sie in vieler Hin- sicht, eine Pax Americana zu akzeptieren, wenn sie überhaupt eine Rolle in den diplomatischen Bemühungen spielen wollte. Das waren jedenfalls die Gründe, die Yasser Arafat in einem Gespräch mit Edward Said und dem ägyptischen Journalisten Hassanein Heikal für seine Bereitschaft zur An- nahme des Oslo-Abkommens gab, als diese ihn aufsuchten, um ihn von der Schädlichkeit des Abkommens zu überzeugen.134 Es gab in der palästinensischen Führung echte Unterstützung für die Idee eines unabhängigen Nationalstaates – so klein er, als Belohnung für ein Jahrhundert des Kampfes, auch sein mochte – als Weg zur Beendigung der israelischen Militärpräsenz im Leben von Millionen von Palästinen- sern sowie als Basis für zukünftige nationale Projekte des staatlichen Auf- baus und der Befreiung. Sie erschien vielen als realistisches Ziel und viele Mitgliedern der Füh- rung der Palästinensischen Autorität im Westjordanland, vielleicht sogar auch führende Mitglieder der Hamas sind heute noch dieser Meinung, ebenso einige der echten Unterstützer der Palästinenser im Westen wie Norman Finkelstein und Noam Chomsky. Die Unterstützung, die die Idee der Teilung in den Solidaritätsbewegungen auf der ganzen Welt ge- wann, ging weitgehend auf die Befürwortung der Idee durch die PLO 1993 zurück. Vor Unterzeichnung des Abkommens schien es, dass sogar die palästi- nensische Führung an diese Farce glaubte. Ein kleines Palästina, so hieß es, sei das einzig vernünftige und realistische Ziel. All das spielte sich in einem Rahmen von Ereignissen ab, die die PLO und ihren Führer, Yas- ser Arafat, in einem solchen Maße aller Macht beraubten, dass Arafat sich gegen den Rat seiner besten Freunde an diesem Prozess beteiligte, weil er hoffte, so wenigstens für einen Teil Palästinas die Unabhängigkeit zu ge- winnen. Das Endresultat war eine fast vollständige Vernichtung Palästin- as und der Palästinenser.

134 Edward Said, Peace and Its Discontents: Essays on Palestine, London 1996, pp. xxxi-3, deutsch: Frieden in Nahost? Essays über Israel und Palästina, Heidelberg 1997, S. 37-42. Das ist tatsächlich so, und auch in dem Shlaim-Artikel, den Ilan jetzt unter „ibid“ als Quelle anzugeben scheint, kommt dieses Gespräch nicht vor. Auch hier frage ich Ilan.

110 Jede Diskussion der Entwicklung der palästinensischen Position muss sich die volle Bedeutung dieses Wandels bewusst machen. Die PLO wurde in den 1960er Jahren mit dem Ziel gegründet, das Leben und die Rechte der Palästinenser als Ganzes, besonders aber der Flüchtlinge, zu schützen. Aber das „Friedenslager“ in Israel und dessen weltweite Unterstützer for- derten von den Palästinensern nicht nur, im Austausch gegen einen unab- hängigen Staat im Westjordanland und im Gazastreifen den größten Teil Palästinas aufzugeben – nicht weniger wichtig war die Forderung, das pa- lästinensische Recht auf Rückkehr von allen bedeutsamen Verhandlungen auszuschließen. Der Ausschluss des palästinensischen Rückkehrrechts aus der Friedensa- genda ist meines Erachtens neben der Frage der Teilung der zweite Grund, weshalb der Oslo-Prozess nie ein authentischer Friedensprozess sein konnte. Man könnte dem noch die israelische Siedlungspolitik als weiteren Grund des Scheiterns hinzufügen. Ich möchte dem jedoch keine besondere Auf- merksamkeit widmen, weil die Behauptung, das einzige Problem seien die Siedlungen, die liberal-zionistische Erklärung für das Scheitern des Prozes- ses ist. Tatsächlich aber liegen die Gründe für dieses Scheitern, wie ich in diesem Buch zu zeigen versuche, sehr viel tiefer. Die Betonung, die das Oslo-Abkommen auf die Teilung legte, führ- te zu einer weiteren Aufspaltung des Landes. Palästina war jetzt geogra- fisch auf Teile des Westjordanlandes und des Gazastreifens reduziert. Der Ausschluss der Gemeinschaft der Flüchtlinge (ebenso wie der palästinen- sischen Gemeinschaft in Israel) reduzierte die Palästinenser, so wie der Jar- gon des Abkommens den Begriff verwendete, demografisch auf weniger als die Hälfte der gesamten palästinensischen Nation. Ich möchte hier aus zwei Gründen behaupten, dass das Oslo-Abkom- men ein großer Erfolg für Israel war. Erstens überzeugte es die Welt davon, die Aufteilung nicht nur Palästinas, sondern auch des Westjordanlandes sei gleichbedeutend mit Frieden und Versöhnung, und zweitens, und noch wichtiger, eliminierte es die Kernfrage des Konflikts, nämlich die Flücht- lingsfrage, aus den Friedensverhandlungen. Man kann demnach die Bedeutung der Teilungsfrage am Einfluss Oslos auf das Leben aller Menschen in Israel und Palästina ablesen. Einen ähn- lichen Einfluss hatte der Ausschluss der palästinensischen Flüchtlingsfrage aus der Agenda von und den Diskussionen um Oslo.

111 Wie im Fall der Teilung möchte ich mich hier ein wenig länger mit der Art beschäftigen, wie in der Geschichte des Friedensprozesses mit der Flüchtlingsfrage umgegangen wurde. Der Mangel an Aufmerksamkeit für die Flüchtlingsfrage im Rahmen des diplomatischen Prozesses war nicht neu. Die palästinensischen Flücht- linge wurden seit dem Beginn von Friedensbemühungen im Palästina nach dem Mandat vernachlässigt und waren starker Repression ausgesetzt. Seit der ersten Friedenskonferenz zu Palästina nach 1948, dem Treffen in Lau- sanne von April 1949, wurde das Flüchtlingsproblem von der Friedensa- genda ausgeschlossen und überhaupt vom ganzen Konzept „Palästinakon- flikt“ abgetrennt. Ich sage „seit“, weil diese Konferenz die letzte überhaupt war, in der die Flüchtlingsfrage als bedeutendes Thema diskutiert wurde. Israel nahm an dieser Konferenz nur deshalb teil, weil das die Vorbedin- gung für seine Zulassung als vollberechtigtes Mitglied der UN war.135 Die UN verlangten von Israel die Unterzeichnung eines als „Mai-Protokoll“ bezeichneten Dokuments, in dem es sich auf die Zustimmung zu Resoluti- on 194 der UN-Vollversammlung vom 11. Dezember 1948 verpflichtete, die eine bedingungslose Unterstützung des Rechts der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr oder, wenn sie dies wünschten, Entschädigung enthielt. Einen Tag nach Unterzeichnung des Protokolls wurde Israel als Mitgliedsstaat in die UN aufgenommen und nahm seine Zustimmung zum Mai-Protokoll sofort zurück. Nach dem Krieg vom Juni 1967 akzeptierte der größte Teil der Welt die Behauptung Israels, bei dem Konflikt in Palästina gehe es nur um die Gebiete, die Israel in diesem Krieg besetzt hatte. Mehrere arabische Staa- ten kooperierten hier mit Israel, indem sie bereit waren, in ihren bilatera- len Friedensverhandlungen das Flüchtlingsproblem fallenzulassen. Doch die Flüchtlingslager waren Orte intensiver politischer, sozialer und kultu- reller Aktivität: In ihnen wurde die palästinensische Befreiungsbewegung geboren. Ungeachtet aller Fehler und Niederlagen gelang es der PLO, das Flüchtlingsthema im Bewusstsein der Menschen im Nahen Osten und im Rest der Welt wachzuhalten, selbst als die internationale Gemeinschaft und die arabische Welt es vergessen wollten.

135 Ilan Pappé, The Making of the Arab-Israeli Conflict, 1948-1951, London/New York 1992, S. 203-243.

112 Es waren leider nur die UN, die in einigen ihrer Resolutionen die Ver- pflichtung der internationalen Gemeinschaft erwähnten, für eine volle und bedingungslose Repatriierung der palästinensischen Flüchtlinge zu sorgen, eine Forderung, die die UN zuerst in ihrer Resolution 194 vom 11. Dezember 1948 erhoben hatte. Auch heute gibt es bei den UN noch eine Körperschaft namens „Ausschuss für die unveräußerlichen Rechte der palästinensischen Flüchtlinge“, die allerdings kaum Einfluss auf den Frie- densprozess hat. Das Oslo-Abkommen nimmt dieselbe Haltung zur Flüchtlingsfrage ein. Seine Architekten, Amerikaner, Israelis wie Palästinenser, haben das Flüchtlingsthema in einen Unterabschnitt verbannt, der in der Flut von Worten in all den Dokumenten, die zukünftige Brücken, Umgehungsstra- ßen, Garnisonen und Kantone beschreiben, fast unsichtbar bleibt. Die pa- lästinensischen Partner des Abkommens haben zu dieser Vernebelung des Problems beigetragen, und auch wenn dies vermutlich eher auf Fahrlässig- keit als auf böse Absichten zurückgeht, sind die Resultate doch sehr klar: Das Flüchtlingsproblem, der Kern des Palästinakonflikts, eine Realität, die von allen Palästinensern, wo auch immer sie sich befinden mögen, und von allen Sympathisanten der palästinensischen Sache anerkannt wird, wurde in den Oslo-Dokumenten an den Rand gedrängt. Die Struktur, die zur Umsetzung des Abkommens geschaffen wurde, zeigte klar, wie sehr die Unterhändler das Flüchtlingsproblem missachteten und sogar eine fast verächtliche Haltung dazu einnahmen. Das Oslo-Abkommen trat im Hinblick auf die Flüchtlingsfrage an die Stelle eines aus dem Madrider Friedensprozess von 1991 hervorgegange- nen embryonalen Versuchs zur Bildung einer multilateralen Gruppe, die das Flüchtlingsthema auf der Basis der UN-Resolution 194 diskutieren sollte. Die multilaterale Gruppe, die von den Kanadiern, die das Recht auf Rückkehr als Mythos betrachteten, geführt wurde, tagte bis 1994 und ver- lief dann im Sand. Jedenfalls stellte diese Körperschaft ohne irgendeine of- fizielle Verlautbarung ihre Treffen ein, und selbst die Frage des Schicksals der Flüchtlinge von 1967, von denen es mehr als 300.000 gab, wurde fal- lengelassen.136

136 Robert Bowker, Palestinian Refugees: Mythology, Identity and the Search for Peace, Boulder 2003, S. 157.

113 Die Umsetzung der UN-Dokumente im Oslo-Prozess war jedoch nicht besser, sondern sogar noch schlechter. Die Spielregeln von Oslo de- finierten jede Unterstützung des Rückkehrrechts durch die palästinensi- sche Führung als Regelverstoß vergleichbar dem Bau neuer Siedlungen in den besetzten Gebieten (nicht dass keine neuen Siedlungen in Verlet- zung des Abkommens gebaut worden wären, aber das ist hier nicht der Punkt). Fünf Jahre nach der Zweiteilung und Kantonisierung „des pa- lästinensischen Gebildes“ und seiner Verwandlung in ein Bantustan wur- de der palästinensischen Führung die Erlaubnis zu der Bitte gegeben, das Flüchtlingsproblem als Teil der Verhandlungen über die endgültige Rege- lung der Palästinafrage zu behandeln. Der israelische Diskurs unterschied zu diesem Zeitpunkt zwischen der Einführung des „Flüchtlingsproblems“ als verhandelbarem Thema der Tagesordnung und legitimem palästinen- sischen Schritt, und der Forderung nach dem Recht auf Rückkehr, die als palästinensische Provokation betrachtet wurde. Der letzte Akt des Friedensprozesses war der Gipfel in Camp David im Sommer 2000. In diesem letzten Versuch zur Rettung eines gescheiterten Prozesses erging es dem Flüchtlingsthema nicht besser als zuvor. Im Januar 2000 präsentierte die Barak-Regierung ein von den US-Unterhändlern ab- gesegnetes Papier, das die Parameter der Verhandlungen festlegte. Das war faktisch ein israelisches Diktat, und leider versäumten es die Palästinenser, bis zur Einberufung des Gipfels im Sommer einen Gegenvorschlag vorzule- gen. Im Sommer bestanden dann die „Verhandlungen“ über den endgülti- gen Status im Wesentlichen in israelischem und amerikanischem Druck auf die Palästinenser, das israelische Papier zu akzeptieren. Dieses enthielt un- ter anderem eine absolute und kategorische Zurückweisung des palästinen- sischen Rückkehrrechts. Es ließ zur Diskussion offen, wie hoch die Zahl der Palästinenser sein sollte, die in von der Palästinensischen Autorität kontrol- lierten Gebiete zurückkehren durfte, obwohl alle beteiligten Seiten nur zu gut verstanden, dass diese bereits überfüllten Gebiete keine weiteren Men- schen mehr absorbieren konnten und obwohl es ausreichen Raum im Rest von Israel und Palästina gab, um zurückkehrende Palästinenser aufzuneh- men. Dieser Teil der Diskussion war daher ein Sandkastenspiel: ein bedeu- tungsloses Thema, das nur eingeführt wurde, um die Kritik, es werde kei- ne Lösung für das fünfzig Jahre alte Flüchtlingsproblem vorgeschlagen, zum Schweigen zu bringen.

114 Wenn die Unterhändler Israels und der USA ihren Willen bekommen hätten, wäre das Rückkehrrecht, wie es in Resolution 194 vom 11. De- zember 1948 legitimiert und definiert wurde, aus den Bestimmungen des endgültigen Abkommens zwischen der Palästinensischen Autorität und dem Staat Israel verbannt worden – einem Abkommen, das den Konflikt beenden und auf dessen Basis ein permanenter Frieden hergestellt wer- den sollte. Das Bestehen auf Teilung und den Ausschluss der Flüchtlingsfrage aus der Friedensagenda machte aus dem Oslo-Prozess bestenfalls eine militäri- schen Umgruppierung und ein Neuarrangement der israelischen Kontrol- le im Westjordanland und im Gazastreifen. Schlimmstenfalls führte es zu einem neuen Arrangement der israelischen Kontrolle, das das Leben der Palästinenser in diesen Gebieten noch wesentlich schlechter als vor Inau- gurierung des Oslo-Prozesses machte. Tatsächlich sind die Auswirkungen des Oslo-Abkommens als Faktor, der die Leben der Opfer ruiniert, statt Frieden zu bringen, seit 1995 schmerzlich klar geworden. Nach der Er- mordung Yitzhak Rabins 1995 und der Wahl Benjamin Netanyahus 1996 verwandelte sich das Oslo-Abkommen in einen Friedensdiskurs, der kei- ne Relevanz für die Realitäten vor Ort hatte. Es war nicht die palästinen- sische Führung, die beschloss, ihm keine Chance zu geben – und das trotz der Entstehung einer starken Opposition sowohl von Seiten der palästi- nensischen Linken als auch der islamistischen politischen Gruppen ge- gen den Prozess und trotz der Tatsache, dass die PA von diesen Kräften des Verrats geziehen wurde. Genau wie die Regierung der Arbeiterpartei zuvor perfektionierte die neu israelische Regierung die Taktik, nach der Worte nichts kosten und keinen Schaden anrichten – was zählt, sind die Fakten vor Ort. Und so wurden zwischen 1996 und 1999 weitere Siedlun- gen gebaut und weitere Kollektivstrafen über die Palästinenser verhängt, und selbst wenn man noch an die Zweitstaatenlösung glaubte, hätte eine Reise durch das Westjordanland oder den Gazastreifen einen davon über- zeugt, dass der israelische Wissenschaftler Meron Benvenisti Recht hatte, als er schrieb, Israel habe längst unwiderrufliche Fakten vor Ort geschaf- fen. Die Zweistaatenlösung wurde von Israel dem Orkus überantwortet.137 Sie wurde ersetzt durch ein einheitliches, nicht-demokratisches Israel, das

137 Meron Benvenisti, West Bank Data Project; A Survey of Israel’s Politics, Jerusalem 1984.

115 offiziell immer noch an Friedensinitiativen und Konferenzen wie der in Wye138 teilnahm (die mit einer weiteren Teilung endete, diesmal derjeni- gen der Stadt Hebron in einen jüdischen und einen palästinensischen Teil) und verbal immer noch dem Frieden verpflichtet war. Zwischen jeder die- ser Initiativen und jedem dieser Treffen expandierten die alten Siedlungen auf palästinensischem Land und bildeten so immer mehr eine Matrix von Gürteln der Kolonisierung, die gemeinsam mit Militärstützpunkten und Kontrollpunkten die Palästinenser im Westjordanland in winzige Kantone einschnürten und den Gazastreifen in zwei Teile spalteten. Der Sieg Ehud Baraks bei den Wahlen in Israel 1999 wurde in der Re- gion und international als Rückkehr des jüdischen Staates auf den Kurs des Friedens begrüßt. Ein Seufzer der Erleichterung begleitete die Nie- derlage Benjamin Netanyahus, und die Wiederaufnahme der Friedensver- handlungen mit den Palästinensern führte zu einer optimistischen Stim- mung. Wie die internationalen Medien schnell verkündeten, schien nun das letzte Stadium des langen, mit Oslo begonnenen Weges unmittelbar bevorzustehen. Und doch verging der größte Teil des Jahres 1999 mit Vorverhandlungen darüber, wie über die letzten Stadien verhandelt werden sollte. Das geschah, während weitere Siedlungen gebaut wurden und die Palästinenser ein weite- res Jahr voller Absperrungen, Ausgangssperren und Kollektivstrafen von Sei- ten dieser „Friedensregierung“ erlebten – ein Vorspiel für die Blutbäder im Westjordanland 2002 und im Gazastreifen 2006. Kurz, es gab, selbst verglichen mit den Verhandlungen unter dem Ne- tanyahu-Regime, nur sehr wenige Fortschritte. Daran ändern auch Baraks theatralisches Gehabe und die dramatischen Erklärungen nichts, die er und alle möglichen Unterstützer des Oslo-Abkommens unter Zuhilfenah- me eines leidenschaftlichen Friedensdiskurses von sich gaben. Wie wir wissen, bestand das letzte Stadium in einem Treffen in Camp Da- vid in den USA im Sommer 2000. Die PA unter Führung Yasser Arafats sah sich gezwungen, sich an dieser letzten Stufe eines fehlkonzipierten und trüge- rischen Friedensprozesses zu beteiligen, weil sie fürchtete, die westliche Welt

138 Der offizielle Text dessen, was unter dem Namen Memorandum des Wye-Ab- kommens bekannt wurde, findet sich in einer Serie von US-Dokumenten. Siehe https://web.archive.org/web/20060922202408/http://telaviv.usembassy.gov/pu- blish/peace/archives/1998/october/memo_of_agreement.html.

116 werde sie ansonsten zu Kriegstreibern abstempeln. Aber sie wusste genau, was davon zu erwarten war. Wenn man all das objektiv betrachtet, war der „Oslo-Prozess“ kein au- thentischer Friedensprozess und die Teilnahme der Palästinenser daran und ihr späteres Zögern, bis zum Ende zu gehen, war kein Zeichen ihrer Halsstarrigkeit und gewaltsamen politischen Kultur, sondern die natürli- che Reaktion auf eine Diplomatie, die die israelische Kontrolle über die besetzten Gebiete nur noch festigte.

2. Die Unnachgiebigkeit Arafats verurteilte den Camp-David-Gipfel von 2000 (auch bekannt als „das großzügigste Zugeständnis Israels“) zum Scheitern

Zwei Fragen müssen hier beantwortet werden. Erstens: Was geschah im Sommer 2000 in Camp David – und wer war verantwortlich für das Scheitern dieses Gipfels? Und zweitens: Wer war verantwortlich für die Gewalt während der zweiten Intifada? Die Beantwortung dieser beiden Fragen wird uns helfen, uns mit der verbreiteten These auseinanderzusetzen, Arafat sei ein Kriegstreiber gewe- sen, der nur nach Camp David kam, um den Friedensprozess scheitern zu lassen, und sei dann mit der Entschlossenheit, eine neue Intifada zu be- ginnen, nach Palästina zurückgekehrt. Bevor wir sie beantworten, sollten wir uns an die Realität in den besetzten Gebieten erinnern, als Arafat sich nach Camp David begab, da unser Hauptargument darin bestehen wird, dass Arafat dorthin ging, um diese Realität zu verändern, während die Isra- eli und die Amerikaner dort mit der Entschlossenheit ankamen, den Kon- flikt ein für alle Mal zu beenden. Ich werde später in diesem Kapitel auf die Spannungen zwischen den Erwartungen dieser drei Konfliktparteien zurückkommen. Der Oslo-Prozess verwandelte die besetzten Gebiete in eine Geografie des Desasters, was bedeutete, dass die Lebensqualität der Palästinenser nach dem Abkommen wesentlich geringer war als vor der Zeit von Oslo. Schon 1994 und noch zu Lebzeiten Rabins war klar geworden, was Oslo – statt als nebulöser Vision – als Realität bedeutete. Die Regierung Rabins zwang Ar- afat, ihre Interpretation der praktischen Bedeutung des Oslo-Abkommens vor Ort zu akzeptieren.

117 Das Westjordanland wurde in die berüchtigten Zonen A, B und C auf- geteilt. Zone C war die, die direkt von Israel kontrolliert wurde und um- fasste die Hälfte des Westjordanlandes. Der Verkehr von Palästinensern zwischen und selbst innerhalb dieser Zonen wurde fast unmöglich, und das Westjordanland wurde vom Gazastreifen abgeschnitten. Letzteren wie- derum mussten die Palästinenser mit den Siedlern teilen, die den größ- ten Teil der Wasservorräte für sich beanspruchten und sich in bewachten Wohnanlagen verschanzten. 2005 kam Ministerpräsident Ariel Sharon zu dem Schluss, der Schutz dieser Siedler innerhalb des Gazastreifens sei we- niger praktikabel, als den gesamten Gazastreifen – nunmehr ohne Juden – in ein Ghetto zu sperren. Hier sollte erwähnt werden, dass der Gazastrei- fen schon 1994 mit Stacheldraht abgesperrt wurde; seine Ghettoisierung war also kein neues Konzept, das erst 2005 erfunden wurde. Ich werde auf die Fragen zum Gazastreifen im nächsten Kapitel zurückkommen. Wie bei allen von israelischer Seite entwickelten Friedensplänen war das Endresultat eine Verschlechterung des Lebens der Palästinenser. Ihr Leben vor der Teilungsresolution der UN von 1947 war wesentlich bes- ser als das danach. So könnte man von einem anderen Standpunkt aus auch sagen, dass der Oslo-Prozess nicht scheiterte: Er gab Israel weitere Zeit, unwiderrufliche Fakten vor Ort zu schaffen, Fakten, die die Zweitstaatenlösung in ein Ar- rangement verwandelten, das bestenfalls den Palästinensern erlauben wür- de, zwei kleine Bantustans zu verwalten, und schlimmstenfalls Israel die Annexion von noch mehr Territorium gestatten würde. Das war die Wahl, vor der Arafat im Sommer 2000 stand: Diese Reali- tät durch ein endgültiges Abkommen zu bestätigen und alle zukünftigen palästinensischen Ansprüche aufzugeben, oder zumindest mit der Aussicht zurückzukehren, einige der täglichen Härten, unter denen die Palästinen- ser zu leiden hatten, zu lindern. Wir verfügen über einen sehr authentischen und verlässlichen Bericht über das, was in Camp David geschah. Er stammt von Hussein Agha und Robert Malley, den Beamten des US-Außenministeriums, die während der Tage des Gipfels zugegen waren. Ihr detaillierter Bericht erschien als Artikel in der New York Times of Books.139 Er beginnt mit der Zurückweisung der israelischen Behauptung,

139 Robert Malley und Hussein Agha, „Camp David: the Tragedy of Errors“, New

118 Arafat sei für das Scheitern des Gipfels von Camp David verantwort- lich. Das Bemerkenswerte dabei ist, dass diese beiden Beamten Mainstre- am-Politiker sind und nicht die Mitglieder einer radikalen antizionisti- schen Gruppe, und dass die Zeitschrift, die sie sich zur Veröffentlichung ihrer Ansichten aussuchten, immer sehr darum bemüht war, Israel nicht zu verärgern. Der Artikel macht klar, dass Arafat, als er zum Gipfel kam, vor dem Problem stand, dass das Leben der Palästinenser in den besetzten Gebieten sich seit Oslo gegenüber der Zeit vor der Unterzeichnung des Abkommens wesentlich verschlechtert hatte. Der Darstellung der beiden US-Vertreter zufolge machte er den recht vernünftigen Vorschlag, Israel solle, statt in- nerhalb zweier Wochen „ein Ende des Konflikt ein für alle Mal“ zu erzwin- gen, erst einigen Maßnahmen zustimmen, die geeignet wären, den Glau- ben der Palästinenser an den Nutzen und Gewinn des Friedensprozesses wiederherzustellen. Nebenbei bemerkt, handelte es sich bei dem zeitlichen Ultimatum von zwei Wochen weniger um eine Forderung der Israelis als eine unsinnige Idee des US-Präsidenten Bill Clinton, der seinem demokra- tischen Nachfolgekandidaten helfen wollte, die bevorstehenden US-Wah- len zu gewinnen und vielleicht auch darauf hoffte, als Friedensbringer in die Geschichte einzugehen. Es gab zwei Gebiete, wo Arafat mögliche Veränderungen sah, die zu einer Verbesserung der Realitäten vor Ort hätten führen können. Der erste Punkt war eine Verlangsamung der intensiven Kolonisierung des Westjordanlan- des, die sich nach Oslo noch verstärkt hatte. Der zweite Punkt war ein Ende der täglichen Brutalisierung des palästinensischen Alltagslebens, eine Bruta- lisierung, die sich in scharfen Beschränkungen der Bewegungsfreiheit, häu- figen Kollektivbestrafungen, Verhaftungen ohne Prozess und permanenter Demütigung an Kontrollpunkten äußerte. All diese Praktiken zeigten sich auf die niederträchtigste Art überall dort, wo es direkten Kontakt zwischen der israelischen Armee oder Zivilverwaltung (der Körperschaft, die die Ge- biete verwaltet) und der örtlichen Bevölkerung gab. Laut dem Zeugnis der US-Vertreter in Camp David lehnte es Barak ab, Israels Politik im Hinblick auf die jüdischen Kolonien oder die täglichen Übergriffe auf die Palästinenser zu ändern. Er nahm eine harte Position ein, die Arafat gar keine Wahl ließ. Was immer Barak als „endgültige Lö-

York Review of Books, 9. August 2001.

119 sung des Konflikts“ ausmalte, bedeutete nicht viel, wenn er nicht einmal unmittelbaren Veränderungen vor Ort versprechen konnte. Wie zu erwarten, wurde Arafat dann von Israel und seinen Verbün- deten als Aufhetzer zur Gewalt hingestellt, der unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Camp David die Pläne für die zweite Intifada ausheckte. Hier besteht der Mythos darin, dass die zweite Intifada ein terroristischer Mega-Angriff war, den Arafat persönlich ersonnen und geplant hatte. In Wirklichkeit war sie eine massenhafte Demonstration der Unzufriedenheit mit dem Verrat von Oslo, einer Wut, die mit dem provokativen Vorgehen Ariel Sharons und seiner Begleiter auf dem Gelände der heiligen Stätten des Islam in Palästina ihren Gipfel erreichte. (Sharon, damals noch Füh- rer der Opposition, betrat im September 2000 unter massiver Begleitung von Sicherheitsorganen und massiver Medienpräsenz den Haram al-Sha- rif, den Tempelberg, was das Pulverfass von Jahrzehnten der Unterdrü- ckung zur Explosion brachte.) Der ursprüngliche Protest zeigte sich in gewaltlosem Protest, der von Is- rael mit brutaler Gewalt niedergeschlagen wurde. Die kaltschnäuzige Un- terdrückung dieser Demonstrationen führte zu einer verzweifelteren Re- aktion – einer Fortsetzung der Taktik der Selbstmordattentate als letzter Zuflucht im Kampf gegen die stärkste Militärmacht der Region. Es gibt aufschlussreiche Aussagen israelischer Zeitungskorrespondenten darüber, wie ihre Berichte über die frühen Stadien der Intifada – eine gewaltlose Be- wegung, die gewaltsam unterdrückt wurde – von ihren Herausgebern zen- siert wurden, um die Narrative der Regierung zu unterstützen. Einer von ihnen war stellvertretender Herausgeber von Yedi’ot Acharonot, der wich- tigsten Tageszeitung des Landes, und schrieb ein Buch über die Desinfor- mation, die von den Medien in den ersten Tagen der zweiten Intifada pro- duziert wurde.140 Wir verstehen heute die Gründe genauer, die eine solche wütende Re- aktion Israels auslösten. Zwei bedeutende israelische Journalisten, Ofer Shelah und Raviv Drucker, schrieben ein Buch namens Bumerang zu die- sem Thema.141 Sie hatten enge Beziehungen zum den Stabschefs des isra- elischen Generalstabs und zu Strategen im Verteidigungsministerium und

140 Daniel Dor, The Suppression of Guilt: The Israeli Media and the Reoccupation of the West Bank, London 2005. 141 Raviv Drucker und Ofer Shelah, Bumerang, Jerusalem 2005 (Hebräisch).

120 hatten Insiderwissen darüber, wie diese Beamten und Generäle über die- ses Thema dachten. Sie kamen zu dem Schluss, dass die israelische Ar- mee in diesem Sommer außerordentlich frustriert war. Dies ging auf die demütigende Niederlage zurück, die die Hizbollah ihr im Libanon zuge- fügt hatte und die die IDF zum vollständigen Rückzug aus dem Libanon zwang. Und es war nicht nur eine Frage der Demütigung, sondern diese hohen Vertreter des israelischen Sicherheitsapparats waren auch der Mei- nung, diese Niederlage werde Israels Macht zur Abschreckung seiner Fein- de schwächen. Daher war es notwendig, anhand einer „Fallstudie“, in die- sem Fall den besetzten Gebieten, die schiere Macht der „unbesiegbaren“ israelischen Armee zu demonstrieren. Darum wurde der Armee befohlen, mit aller Macht zu reagieren, und das tat sie auch. Als Israel gegen den Terrorangriff auf ein Hotel in dem Badeort Netanya im April 2002, bei dem 30 Menschen getötet wurden, zurückschlug, setzte die Armee zum ersten Mal Flugzeuge ein, um dichtbesiedelte palästinensische Städte und Flüchtlingslager im Westjordanland zu bombardieren. Statt die Personen zu jagen und zu ergreifen, die diesen und ähnliche Angriffe durchgeführt hatten, setzte die israelische Armee ihre schwersten und tödlichsten Waf- fen gegen Zivilisten ein. (Aber die USA und Großbritannien wendeten ja auch, mit ähnlich katastrophalen Ergebnissen, dieselbe Logik im Irak und in Afghanistan an. Es wundert wenig, dass auch Syrien und danach Sau- di-Arabien in den letzten Jahren ähnliche Taktiken angewendet haben.) Die Version, der zufolge die Palästinenser den Friedensprozess gewalt- sam abbrachen, passte wunderbar zu der generellen Dämonisierung der angeblichen Unnachgiebigkeit der Palästinenser von Seiten Israels und sei- ner bedingungslosen Anhänger. Wieder einmal behaupteten offizielle isra- elische Propagandasprecher, das Verhalten der Palästinenser bestätige das berühmte Bonmot des ehemaligen israelischen Superdiplomaten Abba Eben, nach dem die Palästinenser nie eine Gelegenheit versäumten, eine Gelegenheit für den Frieden zu versäumen. Ein weiteres verbreitetes ideologisches Muster, das die israelischen und US-amerikanischen Schuldzuweisungen an die Adresse der Palästinenser nach dem Scheitern des Gipfels von Camp David begleitete, war, die Öf- fentlichkeit an ein chronisches Problem mit den palästinensischen Führern zu erinnern: Im Augenblick der Wahrheit offenbarten diese regelmäßig ihre Neigung zu Gewalt. So tauchte die Formel „Es gibt auf der palästinen- sischen Seite niemanden, mit dem man reden kann“ in dieser Zeit erneut

121 wieder auf und war eine gängige Analyse der Experten und Kommentato- ren in Israel, Europa und den USA. Diese Anwürfe sind ganz besonders zynisch, hatten doch die israeli- sche Regierung und Armee die ganze Zeit mit Gewalt versucht, ihre ei- gene Version von Oslo durchzusetzen, die eine Verewigung der Besatzung vorsah – nur das nun auch die Palästinenser selbst dem zustimmen soll- ten. Das konnte selbst ein dramatisch geschwächter Arafat nicht akzeptie- ren. Er und so viele andere Vertreter der Palästinenser, die ihr Volk zur Ver- söhnung hätten führen können, wurden von den Israelis systematisch zur Zielscheibe gemacht, und die meisten von ihnen, so wahrscheinlich auch Arafat selbst, wurden von Israel ermordet. Die gezielte Tötung palästinensischer Führer, einschließlich der gemä- ßigten unter ihnen, ist kein neues Merkmal des Konflikts. Israel begann diese Politik mit der Ermordung Ghassan Kanafanis 1972, eines Dichters und Schriftstellers, der sein Volk auf den Weg der Versöhnung hätte füh- ren können. Die Tatsache, dass ausgerechnet er, ein weltlicher und linker Aktivist, getötet wurde, ist symbolisch für die Rolle, die Israel bei der Tö- tung gerade der Art von Palästinensern gespielt hat, deren Abwesenheit als Friedenspartner es später „bedauerte“. Im Mai 2001 ernannte Präsident George W. Bush Jr. Senator Robert Mitchell zum Sondergesandten für den Nahostkonflikt. Mitchell erstell- te einen Bericht über die Gründe für die zweite Intifada und kam darin zu folgendem Schluss:

Wir haben keinerlei Gründe zu der Annahme, dass es einen vorsätz- lichen Plan der PA zum Beginn einer Gewaltkampagne bei der erst- möglichen Gelegenheit gab, oder zu der Meinung, es habe einen be- wussten Plan der [Regierung Israels] gegeben, mit tödlicher Gewalt zu reagieren.142

Andererseits bezichtigte er Ariel Sharon, die Unruhen provoziert zu haben, indem er gewaltsam einen Besuch der Al-Aqsa-Moschee und der heiligen Stätten des Islam erzwang und sie damit entweihte.

142 Für den vollständigen Text siehe: http://eeas.europa.eu/mepp/docs/mit- chell_report_2001_en.pdf.

122 Selbst ein weitgehend entmachteter Arafat erkannte also, dass die isra- elische Interpretation des Oslo-Abkommens im Jahr 2000 für die Palästi- nenser das Ende jeder Hoffnung auf ein normales Leben bedeutete und sie zu weiterem Leid auch in der Zukunft verdammte. Dieses Szenario war in seinen Augen nicht nur falsch, sondern hätte auch, wie er nur zu genau wusste, diejenigen Kräfte gestärkt, die den bewaffneten Kampf gegen Isra- el als den einzigen Weg zur Befreiung Palästinas betrachteten. Israel hatte es zu jeder Zeit in der Hand, die zweite Intifada zu beenden, aber die Ar- mee brauchte einen „Erfolg“. Erst nachdem dieser durch die barbarische Operation „Verteidigungsschild“ von 2002 und den Bau der berüchtig- ten „Apartheid-Mauer“ erreicht war, konnte sich Israel mit seiner Unter- drückungsstrategie gegen die zweite Intifada, zumindest zeitweilig, durch- setzen.

123 Kapitel 9: Die Gaza-Mythologien

1. Die Hamas ist eine terroristische Organisation

er Sieg der Hamas bei den allgemeinen Wahlen in den besetzten Ge- Dbieten von 2006 führte in Israel zu einer Welle islamophober Reak- tionen. Zu der üblichen Dämonisierung der Palästinenser als der verab- scheuten „Araber“ kam nun noch das neue Etikett „fanatische Muslime“ hinzu. Diese Sprache des Hasses war von einer neuen, aggressiv anti- palästinen­sischen Politik begleitet, die die Situation in den besetzten Ge- bieten noch weiter verschlimmerte, obwohl der Zustand ohnehin schon trostlos und entsetzlich war. Israel hat schon früher einige Wellen von Islamophobie erlebt. Die ers- te fand Ende der 1980er Jahre statt, als eine Handvoll palästinensischer Arbeiter in Israel – 40 aus einer Gemeinschaft von etwa 150.000 Men- schen – zu Messerattentaten auf ihre Arbeitgeber und zufällige Passan- ten griff: Vierzig Menschen, die die sklavenartigen Bedingungen, die sie erdulden mussten, nicht mehr aushielten. Israelische Akademiker, Jour- nalisten und Politiker brachten die Attentate sofort direkt mit der isla- mischen Religion und Kultur in Verbindung, ohne auch nur auf die Besat- zung und den Sklavenarbeitermarkt Bezug zu nehmen, der sich an ihrem halblegalen Rand entwickelte.143 Eine weitaus ernstere Welle der Islamo- phobie schwappte während der zweiten Intifada seit Oktober 2000 hoch. Da der militarisierte Teil des Aufstandes hauptsächlich von den islamisti- schen Gruppierungen – besonders in Gestalt der Selbstmordattentäter – organisiert wurde, war es für die politische Elite und die Medien Israels ein Leichtes, den „Islam“ in den Augen zahlreicher Israelis noch weiter zu dä- monisieren.144 Eine dritte Welle begann 2006 nach dem Sieg der Hamas bei den paläs- tinensischen Parlamentswahlen. Auch diese neue Welle trug die typischen Kennzeichen ihrer beiden Vorläufer. Das herausstechendste Merkmal ist

143 Ilan Pappé, „The Loner Desparado: Oppression, Nationalism and Islam in Oc- cupied Palestine“, in: Marco Demchiles (Hg.), A Struggle to Define A Nation, im Erscheinen, Piscataway, NJ. 144 Pappé, The Idea of Israel, London/New York 2014, S. 27-47, Deutsch: Die Idee Israel, Hamburg 2015.

124 die reduktionistische Sicht, die alles Muslimische durch das Prisma von Gewalt, Terror und Unmenschlichkeit betrachtet. Wie ich in meinem Buch The Idea of Israel gezeigt habe,145 wurden die Palästinenser zwischen 1948 und 1982 dämonisiert, indem man sie mit den Nazis verglich.146 Derselbe Prozess der „Nazifizierung“, der die israeli- sche Wahrnehmung des Volkes, das von den Israelis enteignet wurde, seit 1948 charakterisierte, wird jetzt ganz allgemein auf den Islam, besonders aber auf die Aktivisten angewendet, die in seinem Namen agieren. Solange die Hamas und ihre Schwesterorganisation, der „Islamische Jihad“, sich tatsächlich vorwiegend mit militärischen Aktivitäten, Gueril- laoperationen und Terror beschäftigten, gab es im offiziellen israelischen Bewusstsein und bei den israelischen Verbündeten im Westen keine kog- nitive Dissonanz. Das dämonische und negative Bild des Islam passte in gewisser Weise zu den Realitäten vor Ort. Dennoch reichte es auch da- mals schon, sich aus den Fängen orientalistischer Dämonisierung zu be- freien, um hier sowohl die reiche Geschichte des politischen Islam in Pa- lästina als auch die große Bandbreite sozialer und kultureller Aktivitäten zu sehen, die Hamas seit Entstehung der Organisation in Gang gebracht hatte. Tatsächlich zeigte eine etwas neutralere Analyse von 2011, wie re- alitätsfern das dämonisierte Bild der Hamas als Gruppe rücksichtsloser und geisteskranker Fanatiker war.147 Wie andere Bewegungen des politi- schen Islam spiegelte die Bewegung eine komplexe örtliche Reaktion auf harte Realitäten wie die fortgesetzte Besatzung und eine Antwort auf die von den säkularen und sozialistischen Kräften in der Vergangenheit ange- botenen Sackgassen wider. Diese Art von soliderer Analyse hätte auch Be- obachtern in Israel erlaubt, auf die Ereignisse bei den Wahlen vom Januar 2006, also auf den Triumph der Hamas, vorbereitet zu sein, statt wie die Regierungen Israels, der USA und Europas völlig überrumpelt und über- rascht dazustehen. Es ist ironisch, dass gerade die Experten und Orientalisten Israels – ganz zu schweigen von den Politikern und den Chefs der Nachrichtendienste – überraschter waren als alle anderen; sie waren über das Wahlergebnis regel-

145 Ibid. 146 Ibid, S. 153-178. 147 Eine erfrischend vorurteilsfreie Darstellung von Hamas findet sich in: Sara Roy, Hamas and the Civil Society in Gaza: Engaging the Islamist Social Sector, Princeton 2011.

125 recht verblüfft. Dabei machte es diese großen Experten des Islam beson- ders sprachlos, dass der Sieg der Hamas auf demokratische Art zustande gekommen war: fanatische Muslime können ja weder demokratisch noch beliebt sein. Genau dieselben Experten haben auch schon weiter zurück- liegende Ereignisse nicht verstanden. Seit dem Aufstieg des politischen Is- lam im Iran und in der arabischen Welt verhielt sich die Expertengemein- de in Israel, als entfalte sich vor ihren Augen etwas schlicht Unmögliches. Missverständnisse und daher falsche Prognosen waren typisch für Isra- els Einschätzung des palästinensischen Verhaltens überhaupt, nicht nur im Hinblick auf die islamistischen politischen Kräfte innerhalb von Palästina. 1976 ließ die israelische Regierung – es war die erste Regierung unter Ra- bin – im Westjordanland und im Gazastreifen Kommunalwahlen zu, weil sie fälschlich davon ausging, dass im Westjordanland die alte Garde projor- danischer Politiker und im Gazastreifen deren proägyptische Gegenstücke gewählt werden würden. Doch die Wähler stimmten mit überwältigender Mehrheit für die PLO-Kandidaten.148 Die Israelis hätten sich nicht wundern sollen. Schließlich verlief der Aufstieg der Hamas zu Macht und Popularität parallel zu einer konzertier- ten Anstrengung Israels, die weltlichen und sozialistischen Bewegungen in der palästinensischen Gesellschaft einzudämmen und zu dezimieren, wenn nicht sogar ganz zu eliminieren, ganz gleich, ob in den Flüchtlingslager oder in den besetzten Gebieten. Tatsächlich wurde die Hamas mit Hilfe einer israelischen Politik zu einer bedeutenden Kraft vor Ort, die den Auf- bau einer islamistischen ideologischen Infrastruktur im Gazastreifen er- mutigte, um gegen die Dominanz der weltlichen Fatah über die Gesell- schaft dort ein Gegengewicht zu schaffen. Das war der direkte israelische Beitrag zur Konsolidierung der Macht der Hamas in den besetzten Gebie- ten. Der israelische Journalist Shlomi Eldar schrieb ein Buch namens Ha- mas kennen, das 2012 auf Hebräisch, aber leider bisher in keiner anderen Sprache veröffentlicht wurde, ein erstaunlicher und sehr expliziter Bericht über die Geschichte der Beziehungen Israels zu Hamas in dieser Hinsicht. Auch andere Quellen können uns helfen zu verstehen, wie und warum Hamas zunächst von Israel unterstützt wurde, um die Stellung der Fatah und der säkularen Linken zu untergraben.149

148 Yehuda Lucaks, Israel, Jordan and the Peace Process, Albany 1999, S. 141. 149 Shlomi Eldar, To Know the Hamas, Jerusalem 2012 (Hebräisch).

126 Als die Hamas zur wichtigsten Opposition gegen das Oslo-Abkommen wurde, erlitt ihre Popularität in den besetzten Gebieten starke Einbußen. Diese machte sie jedoch wieder wett, da Israel beinahe alle Versprechen, die sie den Palästinensern im Oslo-Abkommen gemacht hatte, wieder zu- rücknahm. Besonders wichtig hierbei waren die Siedlungspolitik Israels und sein exzessiver Einsatz von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten. Außerdem verdankte sich die Popularität der Hamas der allgemeinen Rückwendung zur Religion überall auf der Welt und be- sonders im Nahen Osten – die weltweite Modernisierung und Säkularisie- rung nutzen einigen wenigen, aber ließ viele Menschen unglücklich, arm und verbittert zurück. Religion erschien vielen als Allheilmittel – und zu Zeiten sogar als politische Option. Zu Lebzeiten Präsident Arafats musste Hamas immer noch hart darum kämpfen, die politische Unterstützung eines erheblichen Teils der Paläs- tinenser zu gewinnen. Arafats Tod, der durch Israels gegen ihn gerichtete Politik beschleunigt wurde, schuf ein Vakuum, das von der Hamas sofort gefüllt wurde. Darüber hinaus verringerten die neuen, während der zwei- ten Intifada eingeführten israelischen Unterdrückungsmechanismen – be- sonders die Apartheidmauer, die Straßensperren und die Ermordungen – die Unterstützung für die palästinensische Autorität und vergrößerten die Popularität und das Prestige der Hamas. Daher ist der Schluss nur fair, dass die aufeinander folgenden israeli- schen Regierungen alles getan haben, um den Palästinensern nur noch die Option zu lassen, nämlich den militärischen Gruppen zu vertrauen und ihnen ihre Stimmen zu geben, weil sie es wagten, sich einer Besat- zung entgegenzustellen, die in den Worten des renommierten Autors Mi- chael Chabon „die schlimmste Ungerechtigkeit, die ich je gesehen habe“, war.150 Darüber hinaus hat ein Großteil der Palästinenser das Vertrauen in die linken und Mainstream-Gruppen des politischen Spektrums verloren. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass auch die interne Korruption der Fatah zu diesem Prozess beigetragen hat. Die meisten der israelischen „Exper- ten“ für palästinensische Fragen innerhalb und außerhalb des Establish- ments behaupteten, sie hätten die gerade erwähnten Entwicklungen nicht vorhergesehen, und die einzige Erklärung, die sie anbieten konnten, war die des neokonservativen US-amerikanischen Gurus Samuel Huntington,

150 Chavon in einem Interview mit Ha’aretz, 25. April 2016.

127 nämlich die vom „Zusammenstoß der Kulturen“. Huntington teilte die Welt in zwei Kulturen, nämlich rationale und irrationale auf, die seiner Meinung nach unvermeidlich miteinander zusammenstoßen würden. Aus dieser Sicht bewiesen die Palästinenser, indem sie für Hamas stimmten, dass sie auf der „irrationalen“ Seite der Geschichte standen, was aufgrund ihrer Religion und Kultur praktisch unvermeidlich sei. Benjamin Neta- nyahu drückt das Ganze noch gröber aus, wenn er von dem kulturellen und moralischen Abgrund spricht, der die beiden Völker trenne.151 Angesichts des offenkundigen Scheiterns sämtlicher palästinensischer Einzelpersonen oder Gruppen, die in der Vergangenheit für Verhandlun- gen mit Israel eingetreten sind, und angesichts des wahrnehmbaren Erfolgs der islamistischen Gruppen, denen es immerhin gelang, die Israelis aus dem Gazastreifen zu vertreiben, ist leicht zu sehen, warum die Hamas heu- te dort steht, wo sie steht. Hinter diesem Status steht jedoch noch mehr. Der Grund, weshalb die Hamas so tief in der palästinensischen Gesell- schaft verankert ist, ist ihr authentisches Bemühen, das Leiden der einfa- chen Menschen zu lindern, indem sie für Bildung, ein Gesundheitssystem und Sozialleistungen sorgt. Nicht weniger wichtig ist, dass Hamas im Un- terschied zur PA nie vergessen hat, dass nicht alle Palästinenser im Westjor- danland und im Gazastreifen leben, und dass sie daher jede künftige Lö- sung vom Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr abhängig macht.

2. Die israelische „Entflechtung“ war ein Akt des Friedens. Dabei bewiesen die Palästinenser ein weiteres Mal, dass sie keinen Frieden wollen

Der Gazastreifen macht nur wenig mehr als zwei Prozent von Palästina aus. Dieses kleine Detail wird in den Nachrichten über den Gazastrei- fen nie erwähnt, und auch in der Berichterstattung der westlichen Medi- en über die dramatischen Ereignisse im Sommer 2014 erfuhr man darü- ber nichts. Tatsächlich ist der „Streifen“ ein so kleiner Teil des Landes, dass er in der Vergangenheit nie als separates Gebiet existierte. Vor der Zioni- sierung Palästinas war die Geschichte Gazas weder einzigartig, noch un-

151 Für eine gute Analyse der Art, wie Netanyahu das Konzept des Zusammenstoßes der Zivilisationen einsetzt, durch einen Universitätsstudenten siehe Joshua R. Fattal, „Israel vs. Hamas: A Clash of Civilizations?“, The World Post, http://www. huffingtonpost.com/joshua-r-fattal/israel-vs-hamas-a-clash-o_b_5699216.html.

128 terschied sie sich von der des restlichen Palästinas: administra- tiv und politisch immer mit dem Rest des Landes verbunden und bis 1948 in jeder Hinsicht ein integraler und natürlicher Teil Palästinas. Als einer der wichtigsten Land- und Seezugänge Palästinas entwickelte es eine flexi- blere und kosmopolitischere Lebensweise, die der anderen „Durchgangs- gesellschaften“ im östlichen Mittelmeer in der Neuzeit nicht unähnlich war. Diese Lage – nah am Meer und an der Via Maris von Ägypten bis zum Libanon – brachte Prosperität und Stabilität mit sich, bis dieses Le- ben durch die israelische ethnische Säuberung 1948 erschüttert und fast zerstört wurde. Der „Streifen“ als solcher wurde erst in den letzten Tagen des Krie- ges von 1948 erfunden, als Zone, in die Israel Hunderttausende von Pa- lästinensern aus Jaffa und den südlich davon gelegenen Gebieten bis hi- nunter zur Stadt Bir-Saba (dem heutigen Be’er Scheva) vertrieb. Weitere Palästinenser wurden selbst noch 1950, während der letzten Phasen der ethnischen Säuberung Palästinas, aus Städten wie Majdal (dem heutigen Aschkelon) in dieses Gebiet vertrieben. So wurde ein kleiner, idyllischer Teil Palästinas zum größten Flüchtlingslager der Welt, und das ist der Ga- zastreifen bis heute geblieben. Dieses große Flüchtlingslager wurde von 1948 bis 1967 sowohl durch die Politik Israels als auch die Ägyptens schwersten Beschränkungen unter- worfen: beide Staaten ließen niemanden aus dem Gazastreifen ausreisen. Die Lebensbedingungen waren schon damals hart, da die Zahl der Men- schen, deren Vorfahren schon seit Jahrhunderten dort gelebt hatten nun durch die Opfer der Enteignungspolitik Israels verdoppelt wurde. Schon vor der israelischen Besetzung des Gazastreifens 1967 war klar, wie katast- rophal diese erzwungene demografische Transformation für diesen kleinen Landstrich war. Innerhalb von zwanzig Jahren wurde dieses einst ländliche Küstengebiet im Süden Palästinas zu einem der dichtbesiedeltsten Territori- en der Welt, das zudem keine adäquate wirtschaftliche und berufliche Infra- struktur hatte, die es tragfähig gemacht hätte. Die ersten zwanzig Jahre der israelischen Besatzung von 1967 bis 1987 gewährten zumindest noch einige kleine Schlupflöcher aus dem „Strei- fen“, der von 1948 bis 1967 als Kriegszone durch einen Zaun abgesperrt war. Zehntausende von Palästinensern erhielten als ungelernte und unter- bezahlte Arbeiter Arbeitserlaubnisse in Israel. Der Preis, den Israel für den Zugang zu diesem Sklavenmarkt verlangte, war die totale Aufgabe jedwe-

129 den nationalen Kampfes und jeder nationalen Agenda. Als die Palästinen- ser sich 1987 weigerten, den Preis zu zahlen, wurde das „Geschenk“ der Bewegungsfreiheit der Arbeiter zurückgenommen und wieder abgeschafft. Während der Zeit, die von da bis zum Oslo-Abkommen von 1993 führte, versuchte Israel, den Gazastreifen in eine Enklave zu verwandeln, von der das Friedenslager hoffte, sie würde autonom oder zu einem Teil Ägyptens werden, während das nationalistische Lager der Rechten ihn an Großisra- el anschließen wollte, das seiner Ansicht nach an die Stelle Palästinas tre- ten sollte. Das Oslo-Abkommen versetzte die Israelis in die Lage, den Status des Streifens als separater geografischer Entität zu bekräftigen, die sich nicht nur außerhalb Palästinas befand, sondern vor allem auch vom Westjord- anland abgeschnitten war. Nach außen hin unterstanden sowohl der Ga- zastreifen als auch das Westjordanland der Palästinensischen Autorität, aber jeder Verkehr zwischen ihnen war vom guten Willen Israels abhän- gig, den Israel aber nur selten an den Tag legte und der beinahe völlig ver- schwand, als Benjamin Netanyahu 1996 an die Macht kam. Darüber hi- naus verfügte Israel damals genau wie heute über die Infrastruktur von Strom und Wasser. Dieses Kontrollmittel hat Israel seit 1993 ausgiebig eingesetzt, oder besser gesagt, missbraucht, um (bis 2005) für das Wohler- gehen der jüdischen Gemeinde dort zu sorgen, vor allem aber, um die pa- lästinensische Bevölkerung zu erpressen und zur Unterwerfung zu zwin- gen. So schwankte der Status der Menschen im Gazastreifen in den letzten siebzig Jahren zwischen dem von Internierten, Geiseln und Gefangenen in einem praktisch unbewohnbaren Ort. Das ist der historische Kontext, in dem wir die gewaltsamen Zusam- menstöße zwischen Israel und Hamas seit 2006 sehen sollten. Ein sol- cher Kontext wird uns dabei helfen, die Darstellung des israelischen Vor- gehens im Gazastreifen als Kampagne im Rahmen des „globalen Krieges gegen den Terror“ oder als „Krieg zur Selbstverteidigung“ zurückzuwei- sen. Und wir sollten weder das Bild der Hamas als Anhängsel von al-Qai- da, oder jüngst sogar als Teil des Netzwerks des Islamischen Staates IS ak- zeptieren, noch sollten wir Hamas als bloßen Satelliten von Versuchen des Iran sehen, durch die Stiftung von Aufruhr in diesen Teil der Welt vorzu- dringen. All diese Anwürfe fügen sich gut in Huntingtons gefürchteten Zusammenstoß der Kulturen ein, von dem ich im ersten Teil dieses Kapi- tels sprach. Ich habe hier nur einige wenige der vielen Invektiven heraus-

130 gepickt, die die westlichen Medien zur Darstellung des Vorgehens und der Politik der Hamas im Gazastreifen verwenden. Wenn es eine hässliche Seite der Präsenz der Hamas im Gazastreifen gibt, dann liegt sie in ihrem Vorgehen gegen andere palästinensische Frak- tionen. Die Hamas nahm Führer und Aktivisten der Fatah ins Visier, tö- tete einige von ihnen, verwundete viele weitere und vertrieb sie fast alle.152 Doch dieser kurze, einige Monate währende „Mini-Bürgerkrieg“ sollte vor dem Hintergrund der Geschichte des Gazastreifens, und von sechzig Jah- ren Enteignung, Besatzung und Gefangenschaft verstanden werden. Solch abnormale Bedingungen führten unvermeidlich auch zu interner Gewalt, wie dies im Gazastreifen 2007 der Fall war, und ein Leben unter solch unmöglichen Umständen produziert noch weitere abstoßende Begleitum- stände wie zum Beispiel die Tötung von Kollaborateuren während der zweiten Intifada. Tatsächlich muss der Fairness halber angemerkt werden, dass das Ausmaß palästinensischer Gewalt im Allgemeinen und der inter- nen Gewalt im Besonderen wesentlich geringer ist, als man angesichts der von der völkermörderischen Politik der Israelis in den letzten acht Jahren geschaffenen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen erwarten würde. Machtkämpfe unter Politikern, die die Unterstützung militärischer Gruppen genießen, sind in der Tat sehr widerlich und fügen der gesamten Gesellschaft Schaden zu. Ein Teil dessen, was sich im Gazastreifen abspiel- te, war ein solcher Kampf, und zwar zwischen Politikern, die demokra- tisch gewählt worden waren und solchen, die sich nicht bereitfanden, das Verdikt der Bevölkerung zu akzeptieren. Aber das war kaum der Hauptas- pekt in dieser Auseinandersetzung. Was sich im Gazastreifen entwickelte, war ein Schlachtfeld zwischen den örtlichen Stellvertretern Israels und der USA – vor allem Mitgliedern der Fatah und der PA, die diese Rolle größ- tenteils unabsichtlich spielten, aber nichtsdestoweniger letztlich nach Isra- els Pfeife tanzten – auf der einen und Kräften, die sich dem entgegenstell- ten, auf der anderen Seite. Das brutale Vorgehen der Hamas gegen andere palästinensische Fraktionen wurde ihr später durch das Vorgehen der PA gegen Hamas im Westjordanland heimgezahlt. Beides kann man schwer- lich gutheißen oder begrüßen. Nicht die Vision der Hamas für Palästina

152 Ibrahim Razzaq, „Reporter’s Family was Caught in the Gunfire“, Boston Globe, 17. Mai 2007 ist einer der vielen Augenzeugenberichte über die schwierigen Tage dieser Auseinandersetzungen.

131 ist besorgniserregend, sondern die Mittel, die sie dafür einsetzte, Mittel, die die PA in den letzten Jahren allerdings ebenfalls angewendet hat. Zu Gunsten der Hamas muss klar gesagt werden, dass die Mittel, die die Or- ganisation in dieser Auseinandersetzung angewendet hat, Teil eines Arsen- als waren, das sie historisch zu der einzigen aktiven Kraft gemacht hat, die wenigstens versucht, die völlige Zerstörung Palästinas zu verhindern. Die Art, wie diese Mittel gegen andere Palästinenser eingesetzt wurden, war weniger glaubwürdig und wird sich hoffentlich als vorübergehend erwei- sen. Die wirkliche Frage ist jedoch die nach dem Kampf der Hamas ge- gen Israel, der als purer Akt des Terrorismus hingestellt wird, womit dann die harten israelischen Gegenreaktionen gerechtfertigt werden. Der israeli- schen Version zufolge ist die Gewalt von Seiten der Hamas besonders bös- artig, da Israel mit dem Abzug aus dem Gazastreifen einen Schritt in Rich- tung Frieden machte, der von der undankbaren Hamas mit Terror und Raketen beantwortet wurde. Stellen wir also zunächst die Frage, ob Israel tatsächlich um des Frie- dens willen aus dem Gazastreifen abzog. Die Antwort ist ein klares Nein. Um dieses Thema besser zu verstehen, sollten wir zum 17. April 2004 zurückgehen, dem Tag, an dem der Hamas-Führer Abdul Aziz al-Rantisi von Israel ermordet wurde. Einen Tag danach gab Yuval Steinitz, der Vor- sitzende des Knesset-Ausschusses für Außenpolitik und Verteidigung und enge Berater Benjamin Netanyahus im israelischen Radio ein Interview. Vor seiner Zeit als Politiker hatte er an der Universität Haifa abendländi- sche Philosophie unterrichtet. Er behauptete, sein Mentor sei Descartes, doch als Politiker schien er mehr von romantischen Nationalisten wie Go- bineau und Fichte beeinflusst zu sein, die die Reinheit der Rasse als Vo- raussetzung für hervorragende nationale Leistungen unterstrichen.153 Die Übertragung dieser europäischen Konzepte rassischer Überlegenheit auf Israel wurde deutlich, als der Interviewer ihn nach den Plänen der Regie- rung für die übrigen Führer der Palästinenser fragte. Dabei kicherten In- terviewer und Interviewter und waren sich einig, dass diese Politik na- türlich in der Ermordung oder Vertreibung der gesamten gegenwärtigen Führung, das heißt, sämtlicher Beschäftigten der PA und mithin vierzig-

153 Ein Eindruck seiner Ansichten vermittelt Yuval Steinitz, „How Palestinian Hate Prevents Peace“, New York Times, 15. Oktober 2013.

132 tausend Menschen bestehen würde. „Ich bin so glücklich“, sagte Steinitz, „dass die Amerikaner zur Vernunft gekommen sind und unsere Politik voll unterstützen.“ 154 Am selben Tag trat Benny Morris von der Ben-Gurion Universität im Fernsehen auf und bekräftigte dort erneut seine Unterstützung für die eth- nische Säuberung der Palästinenser, die er als bestes Mittel zur Lösung des Konfliktes in Palästina präsentierte. Die New York Times und The New Re- public waren nur zwei von vielen Plattformen, die Benny Morris ebenfalls zur Verbreitung seiner Ansichten nutzen konnte.155 Auffassungen, die früher einmal bestenfalls als marginal und schlimms- tenfalls als geistesgestört galten, waren 2004 im Mittelpunkt des israeli- schen Konsenses angelangt und wurden von etablierten Akademikern zur besten Sendezeit des Fernsehens als die einzige Wahrheit verbreitet. Das Israel von 2004 war eine von Verfolgungswahn geprägte Gesellschaft, ge- führt von einer fanatischen politischen Elite, die entschlossen war, den Konflikt durch Gewalt und Zerstörung zu beenden, was immer der Preis für die eigene Gesellschaft oder die Opfer dieser Politik sein würde. Oft wurde diese Elite ausschließlich von der US-Administra­tion und den poli- tischen Eliten des Westens unterstützt, während der Rest der Welt, in dem es noch so etwas wie ein Gewissen gab, dem Spektakel erschrocken und hilflos zusah. Das Israel jener Tage war wie ein Flugzeug auf Autopilot. Kurs und Ge- schwindigkeit waren vorherbestimmt. Die Richtung hieß Schaffung eines Großisraels, zu dem die Hälfte des Westjordanlandes und ein kleiner Teil des Gazastreifens, und damit beinahe 90 Prozent des historischen Palästina gehören würden. Ein Großisrael ohne palästinensische Präsenz, mit hohen Mauern, die es von der eingeborenen Bevölkerung Palästinas trennen wür- den, die in zwei riesige Gefängnislager im Gazastreifen und dem, was noch vom Westjordanland übrig war, zusammengezwängt werden sollte. In die- ser Vision konnten die Palästinenser innerhalb Israels entweder das Land verlassen und sich den Millionen in Lagern schmachtenden palästinen- sischen Flüchtlingen zugesellen oder sich einem durch Diskriminierung und Benachteiligung gekennzeichneten Apartheidsystem unterwerfen.

154 18. April 2004, Israelischer Rundfunk, Reshet Bet. 155 Benny Morris, Channel One, 18. April 2004; siehe auch Joel Beinin, „No More Tears: Benny Morris and the Road Back from Liberal Zionism“, MERIP, Num- mer 230 (Frühjahr 2004).

133 Im selben Jahr, 2004, hatten die USA die Oberaufsicht über einen Pro- zess inne, den sie die „Straßenkarte“ (Road Map) zum Frieden bezeich- neten. Das war eine lächerliche Idee, die von Präsident Bush im Som- mer 2002 vorgeschlagen worden und noch weiter hergeholt war als das Oslo-Abkom­men. Sie bestand darin, dass man den Palästinensern einen Plan zur wirtschaftlichen Erholung anbieten würde, während die israeli- sche Militärpräsenz auf Teile des Westjordanlandes reduziert werden soll- te. Drei Jahre später sollte dann ein weiterer Gipfel auf irgendeine Art ein für alle Mal zu einem Ende des Konfliktes führen. In vielen Teilen der westlichen Welt beschrieben die Medien diese Road Map und die israelische Vision eines (autonome palästinensische Enkla- ven enthaltenden) Großisrael als ein und dasselbe, das zugleich der ein- zig sichere Weg zu Frieden und Stabilität sei. Der Friedensdiskurs des für die Road Map zuständigen Quartetts – die USA, die EU, Russland und die UN – seit Beginn dieses Prozesses schien viele vernünftige Beobachter zu blenden, die diesen Weg aus irgendwelchen Gründen für sinnvoll hiel- ten. Doch vor Ort gab die Road Map genau wie zuvor das Oslo-Abkom- men Israel die Möglichkeit, auch weiter seinen Plan zur Schaffung eines Großisraels in die Tat umzusetzen. Der Unterschied zu Oslo war nur, dass der Architekt des Ganzen diesmal Ariel Sharon war, ein weitaus fokussier- terer und entschlossenerer Politiker als seine Amtsvorgänger Rabin, Peres und Netanyahu. Er hatte einen überraschenden Schachzug in petto, mit dem fast niemand gerechnet hatte, nämlich die Evakuierung der israelischen Siedlungen aus dem Gazastreifen. Sharon warf diesen Vorschlag erstmals 2003 in die öffent- liche Debatte und übte dann Druck auf das politische System aus, ihn zu akzeptieren. Eineinhalb Jahre später hatte er damit Erfolg. 2005 wurde die Armee in den Gazastreifen geschickt, um die widerstrebenden Siedler mit Gewalt auszuquartieren. Was stand hinter dieser Entscheidung? Diese Strategie passte gut in das gesamte Muster der israelischen Politik seit 1967. Die auf dieses Jahr fol- genden israelischen Regierungen hatten klare Vorstellungen über die Zu- kunft des Westjordanlandes, während sie sich im Hinblick auf den Ga- zastreifen unsicher waren. Die messianische Siedlerbewegung Gush Emunim betrachtete sowohl das Westjordanland als auch den Gazastrei- fen als Teil von Großisrael. Doch das mächtige Image, das diese Bewegung

134 hat, ist nur zum Teil gerechtfertigt und letztlich übertrieben, da Gush Emunim nicht die strategische Agenda Israels bestimmte.156 Die Strategie für das Westjordanland bestand in der Etablierung direkter oder indirekter israelischer Kontrolle. Die meisten Regierungen seit 1967 einschließlich derer Sharons hofften, dass diese Herrschaft in einen „Frie- densprozesses“ eingebaut werden könnte. Das Westjordanland durfte in dieser Vision ruhig ein „Staat“ werden, solange dieser ein Bantustan blieb, das über verschiedene Teile des Westjordanlandes (und des Gazastreifens) verstreut war. Das war die alte Idee Yigal Allons und Moshe Dayans von 1967. Dabei sollten dicht mit Palästinensern besiedelte Gebiete von außen kontrolliert werden. Natürlich galt das dann auch für den Gazastreifen. Sha- ron hatte die ursprüngliche Entscheidung früherer, meist von der Arbeiter- partei geführter Regierungen zur Entsendung von Siedlern mitten ins Herz des Gazastreifens gebilligt, ebenso wie er den Bau israelischer Siedlungen auf der Sinai-Halbinsel unterstützt hatte, die dann aufgrund des bilatera- len Friedensabkommens mit Ägypten alle wieder geräumt wurden. Im 21. Jahrhundert akzeptierte er dann die Meinung führender Mitglieder des Li- kud-Blocks und der Arbeiterpartei (wie etwa der Minister Roni Milo von Likud und Haim Ramon von der Arbeiterpartei), man solle den Gazastrei- fen verlassen, um das Westjordanland behalten zu können.157 Die jüdischen Siedler waren Ende der 1960er Jahre von der Arbei- terpartei in den Gazastreifen entsandt worden, und einer der wichtigs- ten Schirmherren dieses Projekts war Yitzhak Rabin. Bis zu Beginn des Oslo-Prozesses führte das zu keinen weiteren Komplikationen, aber so- bald die neue Idee einer Palästinensischen Autorität, die unter israelischer Oberherrschaft autonome Gebiete verwalten würde, einmal Fuß gefasst hatte, verwandelte sich die Präsenz der Siedler im Gazastreifen aus einem Pluspunkt in einen Klotz am Bein. Seit Oslo suchten viele israelische Politiker, darunter auch solche, die nicht unbedingt für eine Räumung waren, nach Möglichkeiten, sich den Gazastreifen sowohl aus den Augen als auch aus dem Sinn zu schaffen. Das lässt sich leicht zeigen. Als eine der Maßnahmen zur Umsetzung der neu- en Realität des Oslo-II-Abkommens vor Ort umgab Israel den Gazastrei-

156 Ilan Pappé, „Revisiting 1967: the false paradigm of peace, partition and parity“, Settler Colonial Studies, Band 3, Nr. 3-4 (2013), S. 341-351. 157 Ari Shavit, „PM Aide: Gaza Plan Aims to Freeze the Peace Process“, Haaretz, 6. Oktober 2004.

135 fen mit einem Stacheldrahtzaun und führte drastische Beschränkungen für die Einreisemöglichkeiten von Arbeitern aus dem Gazastreifen (und aus dem Westjordanland) nach Israel ein. In diesem neuen Arrangement war es ein Leichtes, den Gazastreifen von außen einer strategischen Kontrol- le zu unterwerfen, aber die Präsenz der Siedler innerhalb des Streifens war dafür eher ein Hindernis. Eine der versuchten Lösungen war die Aufteilung des Streifens in ein jüdisches Gebiet mit direktem Zugang zu Israel und ein palästinensisches Gebiet. Das funktionierte bis zum Ausbruch der zweiten Intifada gut. Doch die Straße, die die sechzehn Siedlungen des Gush-Katif-Block mit- einander und mit Israel verband, war eine leichte Zielscheibe für den Auf- stand. Die Verwundbarkeit der Siedler, die die palästinensische Gemein- schaft ihres Wassers beraubte, zeigte sich nun in ihrem ganzen Ausmaß. Im Verlauf der zweiten Intifada entwickelte die israelische Armee eine sehr klare Taktik gegen den palästinensischen Aufstand. Dazu gehöhrten die massive Bombardierung und Zerstörung rebellischer palästinensischer Gebiete, was im April 2002 zu einem Massaker an unschuldigen Palästi- nensern im Flüchtlingslager Jenin führte. Im dichtbesiedelten Gazastreifen war diese Taktik aufgrund der Anwesenheit der jüdischen Siedler, deren Standorte teilweise eng mit der der Palästinenser verflochten waren, weni- ger leicht zu praktizieren. Daher ist es nicht überraschend, dass Sharon ein Jahr nach dem brutalsten und massivsten Militärangriff auf das Westjor- danland, der Operation „Verteidigungsschild“, begann, über die Evakuie- rung der Siedler aus dem Gazastreifen nachzudenken, um die israelische Vergeltungspolitik gegenüber der zweiten Intifada auch im Gazastreifen effektiv durchführen zu können. 2004 erarbeitete Sharon aus all diesen Überlegungen einen Plan. Dieser reichte jedoch für sich genommen nicht dazu aus, dem Gazastreifen nach der „Entflechtung“ und Evakuierung der Siedler seinen politischen Willen aufzuzwingen. Und hier kommen wir auf die Ermordung der Hamas-Füh- rer zurück, die weiter oben schon erwähnt wurde. Sharon hoffte, mit der Order zur Ermordung der beiden höchsten Führer der Hamas, Sheikh Ah- mad Yassins und Abd al-Aziz al-Rantisis am 22. März 2004 bzw. am 17. April 2004 die Zukunft des Gazastreifens beeinflussen zu können. Selbst eine sonst so nüchterne und realistische Quelle wie Ha’aretz gab sich der Vermutung hin, Hamas werde nach diesen Morden ihre Machtbasis im Gazastreifen verlieren und nunmehr zu einer wenig effektiven Präsenz im

136 Ausland in Damaskus verdammt sein, wo sie überdies wenn nötig eben- falls von Israel angegriffen werden konnte. Die Zeitung war auch sehr be- eindruckt von der Unterstützung dieser Morde durch die USA. Aber so- wohl Ha’aretz als auch die Vereinigten Staaten sollten diese Art von Politik in späteren Jahren sehr viel skeptischer sehen.158 Die Hamas erwies sich als weitaus widerstandfähiger als gedacht und schaffte es auch ohne ihren politischen Führer Rantisi und ohne ihren Ideologen und Gründer Yassin rasch, im Gazastreifen die Macht zu über- nehmen. Sharons Plan war, die Palästinensische Autorität den Gazastreifen über- nehmen zu lassen und ihn wie eine Zone der Kategorie A im Westjordan- land zu behandeln, aber dazu kam es nicht. Sharon war jedoch auch be- reit, ein Szenario zu akzeptieren, in dem der Streifen nicht von der PA regiert würde. Für ihn tat dies nichts zur Schwächung der beiden Logiken, die ihn zu seiner Entscheidung geführt hatten. Die erste besagte, dass es wesentlich leichter war, Vergeltungsschläge gegen den Gazastreifen durch- zuführen, wenn keine jüdischen Siedler dort waren, und die zweite, dass die Evakuierung des Gazastreifens Israel die Möglichkeit geben würde, das Westjordanland oder zumindest Teile davon zu annektieren. Um auch für internationale Akzeptanz dieser zweiten Logik zu sorgen, inszenierte Sharon ein großes Schauspiel, auf das fast alle hereinfielen. Da- bei half ihm die Siedlerbewegung Gush Emunim. Diese entblödete sich nicht, die Evakuierung der Siedler mit dem Holocaust zu vergleichen und führte für das Fernsehen ein regelrechtes Theaterdrama auf, als ihre Mit- glieder gewaltsam aus den Siedlungen fortgebracht wurden. Dabei sollte man natürlich nicht ignorieren, dass diese Evakuierung für Familien, die – mit Billigung der israelischen Gesellschaft – seit Ende der 1960er Jah- re dort gelebt hatten, tatsächlich schmerzlich war. Dieser echte Schmerz spielte der Scharade, die Sharon für die Weltöffentlichkeit aufführte, auf willkommene Art in die Hände. Das Ganze erweckte den Anschein, als gebe es in Israel einen Bürgerkrieg zwischen denen, die die Siedler unter- stützten, die nun evakuiert wurden, und denen – darunter viele ehemals heftige Gegner Sharons – auf der Linken, die seinen Plan als Friedensini- tiative unterstützten.

158 Haaretz, 17. April 2004.

137 Innerhalb Israels hat dieser Schachzug Sharons andersdenkende Stim- men geschwächt und in einigen Fällen ganz zum Schweigen gebracht. Frü- her waren Versuche zur Durchsetzung der Vision eines Großisraels unter dem Vorwand von Friedensplänen noch auf Widerstand gestoßen: Vie- le wollten mit einer solchen Politik nichts zu tun haben oder zögerten zu- mindest, bevor sie sie öffentlich unterstützten. Das ist heute anders: Die kritischen Impulse der meisten Intellektuellen und Journalisten haben sich im 21. Jahrhundert in Luft ausgelöst. Dieser ethische Kollaps ermöglich- te es Sharon, auch weiterhin unbewaffnete Palästinenser zu töten und die besetzte Gesellschaft mit Hilfe von Ausgangssperren und langfristiger Ab- sperrungen regelrecht auszuhungern. Noch schlimmer war, dass all das Po- litiker und Intellektuelle des Mainstream ermutigte, zur ethnischen Säube- rung und der weiteren Zugrunderichtung Palästinas und seiner Menschen aufzurufen. Die verschiedenen US-Regierungen haben die Politik Israels schon frü- her meist unterstützt, solange sie jüdische Konsenspositionen repräsentier- te, und dabei war es gleichgültig, wie diese Politik sich auf die Palästinen- ser auswirkte oder von ihnen wahrgenommen wurde. Diese Unterstützung hatte jedoch immer auch Verhandlungen und ein gewisse Bereitschaft Isra- els, der anderen Seite entgegenzukommen, zur Voraussetzung. Sogar nach dem Ausbruch der zweiten Intifada im Oktober 2000 traten manche po- litische Kräfte in Washington dafür ein, sich von Israels brutaler Reaktion auf den Aufstand abzugrenzen. Die Amerikaner schienen ein Weile lang besorgt über das tägliche Töten von Palästinensern und die große Zahl ge- töteter Kinder; der israelische Einsatz von Maßnahmen wie Kollektivstra- fen, Häuserzerstörungen und wahllosen Verhaftungen löste durchaus Un- behagen aus. Aber schließlich gewöhnte man sich in Washington an all diese Dinge, und als der Militärangriff auf das Westjordanland im April 2002 – eine beispiellos grausame Episode in der an Gräueln nicht armen Geschichte der Besatzung – unter den Juden Israels auf breiten Konsens stieß, sprach sich die US-Administration lediglich gegen neue Siedlungen und neue Gebietsannexionen durch Israel aus, die in der US- und EU-ge- sponserten Road Map ohnehin ausdrücklich verboten waren. 2004 bat Sharon um die Unterstützung der USA und Großbritanni- ens für eine Kolonisierung des Westjordanlandes im Austausch für den is- raelischen Abzug aus dem Gazastreifen – und er bekam sie. Sein Plan, der in Israel als einvernehmlicher Friedensplan gefeiert wurde, wurde von den

138 USA zunächst als wenig zielführend abgelehnt, während die restliche Welt ihn noch wesentlich negativer sah. Doch die Israelis hofften, dass die Ähn- lichkeiten zwischen dem US-Vorgehen­ im Irak und Israels Politik in Pa- lästina letztlich zu einem Wandel in der Position der USA führen würden, und sie behielten damit Recht. Dennoch zögerte Washington bis zum letzten Augenblick, bevor es Sharon das grüne Licht zum Abzug aus dem Gazastreifen und den weite- ren Implikationen gab, die dieser Schritt dann nach sich zog. Am 13. April 2004 spielte sich auf der Landebahn des Ben-Gurion-Flug- hafens eine bizarre Szene ab. Drei Stunden nach seinem planmäßigen Abflug in Richtung Washington stand das Flugzeug von Ministerpräsident Sharon immer noch dort. Die Ursache: Sharon weigerte sich, seine Zustimmung zum Abflug nach Washington zu geben, bevor er nicht die Zustimmung der USA zu seinem neuen, so genannten Entflechtungsplan hatte. US-Prä- sident Bush war eigentlich für den Entflechtungsplan. Was seinen Beratern Kopfschmerzen bereitete, war der Brief, den Bush nach der Vorstellung Sha- rons als Teil der amerikanischen Zustimmung zum Entflechtungsplan un- terzeichnen sollte. Dieser Brief, den Sharon von Bush dann auch bekam, enthielt ein Versprechen der US-amerikanischen Seite, in Zukunft hinsicht- lich des Fortschritts des Friedensprozesses keinen Druck mehr auf Israel auszuüben. Außerdem schloss er das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge von allen künftigen Verhandlungen aus. Es gelang Sharon, Bus- hs Berater davon zu überzeugen, dass es ihm ohne die Unterstützung der USA nicht gelingen würde, die jüdisch-israelische Öffentlichkeit für sein Entflechtungsprogramm zu gewinnen.159 Zuvor hatte es immer eine gewis- se Zeit gedauert, bis die USA sich den Konsensbedürfnissen israelischer Po- litiker an der Heimatfront beugten. Dieses Mal geschah das innerhalb weni- ger Stunden. 2004 gab es noch einen weiteren Grund für die Dringlichkeit, mit der Sharon auf seinem Anliegen insistierte. Er wusste bereits, dass auf- grund ernster Korruptionsvorwürfe polizeilich gegen ihn ermittelt wurde, und er musste die israelische Öffentlichkeit davon überzeugen, ihm trotz ei- nes möglichen Gerichtsverfahrens zu vertrauen. „Je umfangreicher die Er- mittlung, desto umfangreicher die Entflechtung“, kommentierte der linke

159 Für eine hervorragende Analyse noch vom selben Tag siehe Ali Abunimah, „Why all the Fuss about the Bush Sharon Meeting“, Electronic Intifada, 14. April 2014.

139 Knesset-Abgeordnete Yossi Sarid die Beziehung zwischen Sharons rechtli- chen Problemen und seinem Engagement für die Entflechtung.160 Die US-Administration handelte hier auf sträfliche Art voreilig. Letztlich forderte Sharon hier von Präsident Bush, alle Verpflichtungen fallenzulassen, die die USA gegenüber Palästina je eingegangen sind. Der Plan bot einen isra- elischen Abzug aus dem Gazastreifen (obwohl die Israelis diesen ja theoretisch schon nach dem Oslo-Abkommen verlassen hatten), die Schließung der klei- nen Handvoll von Siedlungen dort und einiger weiterer Siedlungen im West- jordanland an. Im Gegenzug sollte die Mehrzahl der Siedlungen im Westjord- anland von Israel annektiert werden. Die Amerikaner wussten außerdem nur zu gut, wie ein anderer Teil sich in dieses Puzzle einfügte, nämlich die Apartheidmauer. Für Sharon konn- te die Annexion der Teile des Westjordanlandes, die Israel haben wollte, nur durch die Fertigstellung der Apartheidmauer bewerkstelligt werden, mit deren Bau Israel 2001 begonnen hatte, um die palästinensischen Teile des Westjordanlandes in Stücke zu teilen und voneinander abzuschneiden. Dieses Projekt war auf seine Art – nicht anders als der Sieg der Hamas bei den Wahlen im Gazastreifen – ein weiterer Misserfolg, da Israel nicht mit der internationalen Ablehnung der Mauer gerechnet hatte, die auf einmal zum markantesten Symbol der Besatzung wurde, was so weit ging, dass der Internationale Gerichtshof urteilte, die Mauer stelle eine Menschenrechts- verletzung dar. Die Zeit wird zeigen, ob dieses Urteil tatsächlich praktische Bedeutung haben wird.161 Sharon verlangte außerdem eine klare Ablehnung des palästinensischen Rückkehrrechts durch die USA. Nun gab Washington zum ersten Mal ei- ner Road Map seine Unterstützung, die den größten Teil des Westjordan- landes in israelischen Händen und sämtliche Flüchtlinge im Exil ließ. Ge- nau das war der Hauptzweck der „Entflechtung“ des Gazastreifens. Sharon hatte sich als Verbündeten für seine neuen Pläne genau den rich- tigen amerikanischen Präsidenten ausgesucht: einen Mann, der vom christ- lichen Zionismus beeinflusst war und vielleicht sogar dessen Auffassung teil- te, jeder israelische Schritt zur Festigung der Präsenz der Juden im Heiligen Land werde die Christenheit dem Jüngsten Tag näher bringen, an dem der

160 Zitiert in: Yediot Achronot, 22. April 2014. 161 Siehe die Website des Gerichtshofs: www.icj-cij.org/docket/index. php?p1=3&p2=4&case=131&p3=4.

140 Messias endlich wiederkehren würde. Bushs eher weltlich gestimmte neo- konservative Berater wiederum waren beeindruckt von Sharons Krieg gegen Hamas, der Israels Evakuierungs- und Friedensversprechen begleitete. Ihnen dienten diese so erfolgreich scheinenden israelischen Operationen – vor al- lem die gezielten Tötungen – als stellvertretender Beweis, dass auch Amerikas eigener „Krieg gegen den Terror“ triumphieren würde. Aber dem von der Re- gierung täglich herausposaunt „Erfolg“ im Antiterrorkampf lag eine zynische Verdrehung der Fakten vor Ort zugrunde. In Wirklichkeit wurde die relati- ve Schwächung der palästinensischen Guerilla- und Terroraktivitäten durch Ausgangssperren, Absperrungen und die lang andauernde Einkerkerung von mehr als zwei Millionen Menschen in ihren Häusern erreicht, wo sie weder arbeiten konnten noch etwas zu essen hatten. Selbst Neokonservative hät- ten fähig sein müssen zu begreifen, dass so keine langfristige Lösung für die durch eine Besatzung provozierte Feindseligkeit und Gewalt aussehen konn- te, ganz gleich, ob es sich um den Irak oder Palästina handelte. Sharons Plan wurde von Bushs PR-Leuten gutgeheißen, denen es gelang, ihn als einen weiteren Schritt zum Frieden zu präsentieren, abgesehen davon, dass er eine willkommene Ablenkung von der eskalierenden Katastrophe des US-Kriegs im Irak darstellte. Er war wahrscheinlich auch für jene etwas ob- jektivere US-Berater auf Regierungsebene akzeptabel, die so sehr Veränderun- gen gleich welcher Art sehen wollten, dass auch dieser Plan ihnen eine Chan- ce auf Frieden und eine bessere Zukunft zu bieten schien. Sie hatten längst vergessen, wo der Unterschied zwischen betörenden Worten und der Reali- tät liegt, die von diesen Worten angeblich beschrieben wird. Solange der isra- elische Plan nur das magische Wort „Abzug“ enthielt, wurde er von einigen sonst meist klarsichtigen Journalisten in den USA, den Führern der israeli- schen Arbeiterpartei (die im Namen des Konsenses der Sharon-Regierung beitreten wollten) und selbst dem gerade gewählten Politiker der linken israe- lischen Partei Meretz, Yossi Beilin (der nicht lange bei dieser Partei blieb, wes- halb Sie, lieber Leser, sich wahrscheinlich nicht an dieses Kapitel seiner an- sonsten sehr beeindruckenden Karriere erinnern werden) als alles in allem gutes Projekt betrachtet.162

162 Beilin war zunächst, im März 2004, gegen die „Entflechtung“, aber seit Juli 2004 unterstützte er sie offen (Channel 1 Israel Fernsehinterview mit Beilin, 4. Juli 2004).

141 Jedenfalls wusste Sharon Ende 2004, dass er keinen Druck von außen fürchten musste. Die Regierungen Europas und der USA waren nicht wil- lens oder nicht fähig, die Besatzung zu stoppen und den weiteren Ruin der Palästinenser zu verhindern. Die wenigen Israelis, die bereit waren, sich an einer Bewegung gegen die Besatzung zu beteiligen, waren jetzt angesichts des neuen Konsenses, der Sharon und seine Vision unterstützte, in der Po- sition einer demoralisierten und dezimierten Minderheit. Es ist nicht überraschend, dass sich gerade zu diesem Zeitpunkt die Zi- vilgesellschaft Europas und der USA über ihre Möglichkeit klar wurde, in diesem Konflikt eine wichtige Rolle zu spielen, und sich den Boykott-Di- vestitions-Sanktions-Gedanken (BDS) zu eigen machte. Zahlreiche Orga- nisationen, Gewerkschaften und Einzelpersonen schlossen sich der neuen Initiative an und gelobten, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um Is- rael die Botschaft zu vermitteln, dass eine Politik à la Sharon ihren Preis hat. Seitdem wurden im Westen vom akademischen Boykott bis zu Wirt- schaftssanktionen alle möglichen Mittel eingesetzt, und die Ergebnisse wa- ren eindrucksvoll. Auch die innenpolitische Botschaft war dabei klar: Die jeweiligen Regierungen dieser Länder waren letztlich ebenso für die ver- gangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Katastrophen des palästinen- sischen Volkes verantwortlich wie Israel. Die Anhänger der BDS-Bewe- gung verlangten eine neue Politik, die eine Alternative zu der einseitigen Strategie Sharons darstellte, und zwar nicht nur aus moralischen und his- torischen Gründen, sondern auch im Interesse der eigenen Sicherheit und sogar der Überlebensperspektiven Europas. Wie die Gewalt am 11. Sep- tember 2001 und danach uns so schmerzlich gezeigt hat, untergräbt der Palästinakonflikt das delikate multikulturelle Gewebe der westlichen Ge- sellschaften, indem er die USA auf der einen und die muslimische Welt auf der anderen Seite zu einem Verhältnis drängt, das immer mehr einem Alp- traum ähnelt. Druck auf Israel auszuüben, schien vielen ein kleiner Preis, wenn dadurch die Interessen des Friedens, der regionalen Stabilität und der Versöhnung in Palästina befördert werden konnten. Sharons Abzug aus dem Gazastreifen hatte also nichts mit einem Frie- densplan zu tun. Doch der israelischen Version zufolge war das eine Frie- densgeste, auf die die Palästinenser, undankbar, wie sie waren, erst mit der Wahl von Hamas und dann mit Raketen auf Israel antworteten. Ergo war es sinnlos oder dumm, sich aus irgendwelchen weiteren palästinensischen Territorien zurückzuziehen. Israel blieb nichts anderes übrig, als sich zu

142 verteidigen. Außerdem sollte das „Trauma“, das „fast zu einem Bürgerkrieg geführt hätte“, die Gesellschaft davon überzeugen, dass eine derartige Epi- sode sich nicht wiederholen sollte.

3. Die fortgesetzten Angriffe auf den Gazastreifen waren ein Selbstverteidigungskrieg

Obwohl ich (mit Noam Chomsky) Ko-autor eines Buches bin, das den Titel Gaza in Crisis: Reflections on the US-Israeli War Against the Palestini- ans trägt,163 bin ich nicht sicher, das „Krieg“ der richtige Begriff zur Be- schreibung dessen ist, was während der verschiedenen Angriffe Israels auf den Gazastreifen seit 2006 geschah. Tatsächlich habe ich mich nach dem grausamen Angriff von 2008/2009 entschieden, die israelische Politik als schrittweisen Völkermord zu bezeichnen. Ich habe sehr lange gezögert, diesen extrem aufgeladenen Begriff zu verwenden, habe mir ihn aber dann dennoch als angemessen akzeptiert. Die Antworten, die ich darauf bekam, darunter von einigen bedeutenden Menschenrechtsaktivisten, zeigten mir, dass die Verwendung dieses Begriffs eine Menge Unbehagen auslöst. Ich war deshalb lang geneigt, ihn nochmals zu überdenken, doch seit einiger Zeit verwende ich ihn wieder, und zwar überzeugter als zuvor: Er stellt meines Erachtens die einzig angemessene Art der Beschreibung dessen dar, was die israelische Armee seit 2006 im Gazastreifen anrichtet. Am 28. Dezember 2006 veröffentlichte die israelische Menschenrechts- organisation B’Tselem ihren jährlichen Bericht über die israelischen Gräu- el in den besetzten Gebieten. Die israelischen Streitkräfte hatten in diesem Jahr 660 Bürger getötet. Damit hatte sich die Zahl der Toten im Vergleich zum Vorjahr, in dem „nur“ etwa 200 Palästinenser getötet worden waren, verdreifacht. Laut B’Tselem befanden sich 2006 114 Kinder unter den To- ten. Die meisten dieser Opfer gab es im Gazastreifen, in dem die Israe- lis außerdem fast 300 Häuser zerstörten und ganze Familien umbrachten. Von September 2000, dem Ausbruch der zweiten Intifada, bis Dezember 2008, das heißt, vor der israelischen Operation „Gegossenes Blei“, wurden fast 5.000 Palästinenser von israelischen Streitkräften getötet, darunter fast

163 Noam Chomsky & Ilan Pappé, Gaza in Crisis: Reflections on the US-Israeli War Against the Palestinians, aktualisierte Neuauflage, Chicago 2013.

143 tausend Kinder; hinzu kommt, dass schon bis 2006 mehr als 20.000 Paläs- tinenser verwundet wurden.164 B’Tselem ist eine konservative Organisation und daher könnten die tat- sächlichen Zahlen leicht noch höher sein. Es geht hier jedoch nicht nur um die immer höhere Zahl absichtlicher Tötungen, sondern um den allgemei- nen strategischen Trend der israelischen Politik. In den letzten zehn Jahren hatten die israelischen Politiker es im Westjordanland und im Gazastreifen mit zwei sehr verschiedenen Realitäten zu tun. Im Westjordanland waren sie ihrem Ziel, die Grenzen Israels im Osten endgültig einzuzeichnen, näher denn je. Ihre interne ideologische Debatte war vorbei und ihr strategischer Plan, die Hälfte des Gebiets zu annektieren, wurde immer rascher in die Tat umgesetzt. Dabei wurde die letzte Phase aufgrund des Versprechens Israels unter der Road Map, keine neuen Siedlungen zu bauen, ein wenig aufge- schoben. Aber Israel fand zwei Wege, dieses „Verbot“ zu umgehen. Erstens definierte es ein Drittel des Westjordanlandes zu Großjerusalem um, was es ihm erlaubte, innerhalb dieses neu annektierten Gebiets weitere Städte und Gemeindezentren zu bauen. Zweitens baute Israel die bereits bestehenden Siedlungen in einem solchen Ausmaß aus, dass kaum noch eine Notwen- digkeit bestand, neue zu bauen. Diese Tätigkeit erhielt 2006 nochmals ei- nen neuen Schub: Hunderte von Wohnwagen wurden fest installiert, um die Grenzen von Siedlungen abzustecken, die Pläne für die neuen Städte und Wohnviertel wurden fertiggestellt und das Apartheidsystems von Um- gehungsstraßen und Autobahnen wurde fertig gebaut. Alles in allem wür- den die Siedlungen, die Armeestützpunkte, die Straßen und die Mauer es Israel so erlauben, ganz offiziell fast die Hälfte des Westjordanlandes zu an- nektieren, wann immer Israel es für nötig befand. Innerhalb dieser Territo- rien befindet sich eine beträchtliche Anzahl von Palästinensern, gegen die die israelischen Behörden auch weiterhin eine langsame und schleichende Politik des Transfers anwenden werden – ein Thema, das für die westlichen Medien zu langweilig und für die Menschenrechtsorganisationen zu wenig greifbar ist, um es zum Brennpunkt ihrer Aktivitäten zu machen. Was die Is- raelis angeht, haben sie hier keinen Grund zur Eile – sie haben ohnehin die Oberhand. Die tägliche Misshandlung und Dehumanisierung, wie sie von

164 Siehe die Website von B’Tselem: www.btselem.org/statistics/fatalities/.../palesti- nians-killed-by-israeli-security-forces; für die Periode von 2000 bis 2008 siehe http://www.btselem.org/statistics/fatalities/before-cast-lead/by-date-of-event.

144 Armee und Bürokratie praktiziert werden, sind so effektiv wie je in ihrem Beitrag zum fortgesetzten Enteignungsprozess. Das strategische Argument Ariel Sharons, nach dem diese Politik bedeu- tend besser war, als die, die von unverblümten „Transferisten“ oder eth- nischen Säuberern wie zum Beispiel Avigdor Liberman propagiert wurde, wurde von allen Kräfte seiner letzten Regierung und der von akzeptiert, der das Ruder übernahm, nachdem Sharon ins Koma gefallen war. Sharon gründete sogar eine neue, zentristische Partei namens Kadima, die diesen Konsens hinsichtlich der Politik gegenüber den Palästinensern in den besetzten Gebieten reflektierte.165 Auf der anderen Seite hatten weder Sharon noch irgendeiner seiner Nachfolger eine klare israelische Strategie im Hinblick auf den Gazastrei- fen zu bieten. Dieser ist in den Augen Israels ein völlig anderes geopoli- tisches Gebilde als das Westjordanland. Die Hamas kontrolliert den Ga- zastreifen, während die Palästinensische Autorität mit dem Segen Israels und der USA das fragmentierte Westjordanland verwaltet. Es gibt im Ga- zastreifen keine Ländereien mehr, die Israel haben möchte und es gibt auch kein Hinterland wie Jordanien, in das Israel die Palästinenser vertrei- ben könnte. Die ethnische Säuberung ist hier kein effektives Mittel zur Lö- sung des Konflikts. Die frühere Strategie Israels im Gazastreifen bestand in der Ghettoi- sierung der Palästinenser, aber das funktionierte nicht. Die solchermaßen eingesperrte Gemeinschaft brachte ihren Lebenswillen zum Ausdruck, in- dem sie Raketen auf Israel abfeuerte. Die Ghettoisierung oder Quarantä- ne ethnischer Gemeinschaften hat historisch nie funktioniert, selbst da, wo sie von ihren Unterdrückern als gefährliche Untermenschen betrachtet wurden. Die Juden wissen das aus ihrer Geschichte am besten. Die nächs- ten Stadien der Behandlung der gegen solche Gruppen gerichteten Politik waren dann sogar noch schrecklicher und barbarischer. Es ist schwer zu sa- gen, was die Zukunft für die Palästinenser im Gazastreifen bereithält. In der Gegenwart leben sie, unerwünscht und dämonisiert, im Ghetto und unter Quarantäne. Haben wir eine Wiederholung der unheilvollen histo- rischen Beispiele zu erwarten oder ist immer noch eine bessere Zukunft möglich?

165 Leslie Susser, „The Rise and Fall of the Kadima Party“, The Jerusalem Post, 8. August 2012.

145 Ein Gefängnis zu schaffen und den Schlüssel ins Meer zu werfen, wie John Dugard es ausgedrückt hat, war eine Option, gegen die die Palästi- nenser bereits im September 2005 machtvoll aufbegehrten.166 Sie waren entschlossen, zu demonstrieren, dass sie immer noch zum Westjordanland und zu Palästina gehörten. Am 12. September 2005 verließen die israelischen Streitkräfte den Ga- zastreifen. Zur gleichen Zeit marschierte die israelische Armee in Tulkarem im Westjordanland ein, nahm massive Verhaftungen, besonders von islamis- tischen politischen Aktivisten des Islamischen Jihad, einer mit der Hamas verbündeten Organisation, vor und tötete einige Ortsbewohner. Daraufhin feuerte die Gruppe neun Raketen ab, die niemanden trafen und niemanden töteten. Israel reagierte mit der Operation „Erster Regen“. Es ist lohnens- wert, sich ein wenig mit dieser Operation zu befassen. Sie hatte die Straf- maßnahmen zum Vorbild, die zuerst von den Kolonialmächten und dann von diversen Diktaturen über eingekerkerte oder vertriebene Gemeinschaf- ten verhängt wurden, die es wagten, zu rebellieren. Die dahinter stehenden Herren stellten dabei zunächst ihre militärische Macht und deren Potential zur Einschüchterung zur Schau, bevor sie zur Bestrafung übergingen. Diese konnte in der Zerstörung eines Dorfes, summarischen Massenexekutionen und vielem anderen mehr bestehen. Bei der Operation „Erster Regen“ über- flogen Überschallflugzeuge den Gazastreifen, um die Bevölkerung zu terro- risieren, gefolgt von schweren Bombardements weiter Gebiete vom Land, von der See aus und aus der Luft. Wie Sprecher der israelischen Armee er- klärten, war die Logik dahinter, Druck zu erzeugen, der die Unterstützung der Gemeinschaft für die Raketenangriffe schwächen würde.167 Wie – im Übrigen auch von den Israelis – erwartet, führte dieses Vor- gehen nur dazu, dass die Unterstützung für die Kräfte, die die Raketen abfeuerten, wuchs. Gleichzeitig gab es den Guerillas neuen Ansporn zu weiteren Angriffen. Der wirkliche Zweck der israelischen Operation war experimenteller Natur. Die israelischen Generäle wollten wissen, wie sol- che Operationen in Israel, der Region und auf der ganzen Welt aufge- nommen würden. Sie waren mit dem Resultat zufrieden, da kaum eine

166 John Dugard, Report of the Special Rapporteur on the Situation of the Human Rights in the Palestinian Territories Occupied by Israel since 1967, UN-Menschen- rechtskommission (Genf, United Nations, 3. März 2005). 167 Siehe die Analyse von Roni Sofer in: , 27. September 2005.

146 internationale Verurteilung dieses Vorgehens erfolgte und selbst diese be- scheidenen Reaktionen nur sehr kurzlebig waren. Seit dem „Ersten Regen“ folgten alle weiteren Operationen einem ähn- lichen Muster. Der Unterschied lag im Grad der Eskalation: immer mehr Feuerkraft, immer mehr Opfer und immer größere Kollateralschäden – und wie erwartet, als Reaktion darauf noch mehr Quassam-Raketen.­ Eine weitere Dimension, die nach 2006 hinzukam, war der Einsatz noch üble- rer Mittel von Seiten Israels, das nun durch Boykott und Blockade für eine engmaschige Belagerung der Menschen im Gazastreifen sorgte. Die Gefangennahme des IDF-Soldaten Gilad Shalit im Juni 2006 war für den breiteren Ablauf der Dinge irrelevant, lieferte den Israelis aber die Gelegenheit, die verschiedenen Komponenten ihrer taktischen Maßnah- me und Strafmissionen weiter zu eskalieren. Schließlich gab es damals in Israel immer noch keine strategische Klarheit darüber, was man jenseits ei- nes endlosen Zyklus von Strafaktionen mit dem Gazastreifen tun sollte. Die Israelis gaben ihren Aktionen auch weiterhin absurde, tatsächlich sogar unheimliche Namen. Die Operation „Erster Regen“ wurde von der Operation „Sommerregen“ abgelöst, letzteres ein Sammelnamen, der den Strafaktionen seit Juni 2006 gegeben wurde. In einem Land, in dem es im Sommer keinen Regen gibt, ist der einzige Regen, der in diesen Monaten zu erwarten ist, der Schauer von F-16-Bomben und Artilleriegeschossen, die auf die Bewohner des Gebietes herabregnen. „Sommerregen“ brachte eine neue Komponente: die Landinvasion von Teilen des Gazastreifens. Das erlaubt der Armee, die Bürger dort sogar noch effektiver zu töten, und dies dann als Resultat von heftigen Kämpfen in dicht besiedelten Gebieten zu präsentieren: als das unvermeidliche Ergebnis der Umstände und nicht etwa der israelischen Politik. Nach dem Sommer kam die Operation „Herbstwolken“, die sogar noch effizienter war: Am 1. Okto- ber 2006 töteten die Israelis in weniger als 48 Stunden 70 Zivilisten, und bis Ende des Monats waren durch zusätzliche, kleinere Folgeoperationen fast 200 Menschen gestorben, von denen die Hälfte Frauen und Kinder waren. Wie man an den jeweiligen Zeitpunkten der Operationen ablesen kann, fanden einige davon parallel zu den israelischen Angriffen auf den Libanon im Juli und August 2006 statt, was es leichter machte, sie ohne große Aufmerksam- keit, geschweige denn Kritik, durchzuführen. Vom „Ersten Regen“ bis zu den „Herbstwolken“ kann man in jedem Parameter eine Eskalation beobachten. In einem ersten Parameter fin-

147 den wir das Verschwinden der Unterscheidung zwischen „zivilen“ und „nicht-zivilen“ Zielen: Das sinnlose Töten hat die Bevölkerung als Gan- zes zum Hauptziel der Operationen der israelischen Armee gemacht. Der zweite Parameter zeigt eine Eskalation der Mittel: den Einsatz sämtlicher Tötungsmaschinen im Besitz der israelischen Armee. Drittens sticht die Eskalation im Hinblick auf die Anzahl der Opfer hervor: Meist wurde mit jeder neuen Operation eine noch höhere Zahl von Menschen getötet oder verwundet. Und schließlich, und das ist der wichtigste Punkt, verwandel- ten sich die Operationen in eine Strategie – eine Strategie, die zeigte, wie Israel das Problem des Gazastreifens zu lösen gedenkt, nämlich durch eine sorgfältig dosierte Politik des Völkermords. Dennoch leistete der Streifen weiter Widerstand. Das führte zu weiteren israelischen Operationen mit völkermordartigem Charakter, aber bis jetzt noch nicht zur Wiederbesetzung des Gebiets. Im Februar und März 2008 wurden die „Sommer“- und „Herbst“-Ope- rationen von 2006 durch die Operation „Warmer Winter“ komplettiert. Die nächsten Runden der Aggression wurden dann mit weniger friedli- chen Codenamen belegt. Wie vorherzusehen, brachte der „Warme Win- ter“ noch mehr tote Zivilisten, nämlich mehr als hundert, als Israel den Gazastreifen ein weiteres Mal aus der Luft, von See und vom Land aus bombardierte und mit Bodentruppen angriff. Dieses Mal schien es zumin- dest einen Augenblick lang so, als brächte die internationale Gemeinschaft Interesse dafür auf. Die EU und die UN verurteilten Israel für seinen „un- verhältnismäßigen Einsatz von Gewalt“ und beschuldigten Israel der Ver- letzung des Völkerrechts; die Kritik aus den USA war wie üblich verhalten und „ausgewogen“. Dennoch war dies genug, um zu einem Waffenstill- stand zu führen, einem von vielen, die dann häufig durch weitere israeli- sche Operationen verletzt wurden.168 Hamas war bereit zu einer Verlängerung des Waffenstillstands und rechtfertigte diese Strategie mit dem religiösen Begriff Tahadin, was auf Arabisch so viel wie „Pause“ bedeutet und ideologisch auf eine sehr lange Periode des Friedens hinausläuft.

168 Anne Penketh, „U.S. and Arab States Clash at the UN Security Council“, The Independent, 3. März 2008.

148 Es gelang Hamas, die meisten Fraktionen davon zu überzeugen, keine Ra- keten auf Israel mehr abzufeuern. Das musste selbst Mark Regev, der Sprecher der israelischen Regierung, zugeben. 169 Voraussetzung für den Erfolg dieses Waffenstillstandes wäre eine Locke- rung der israelischen Belagerung des Gazastreifens gewesen. In der Praxis hatte das bedeutet, die Menge an Nahrung, die man in den Streifen ließ, zu erhöhen und die Ein- und Ausreise von Menschen in den Streifen zu er- leichtern. Aber Israel hielt sein Versprechen, genau dies zu tun, nicht ein. Dank der Enthüllungsplattform WikiLeaks wissen wir jetzt, dass Vertreter Israels die Wahrheit sagten, als sie gegenüber US-Vertretern erklärten, Isra- el werde dafür sorgen, dass die Wirtschaft des Gazastreifens „am Rande des Zusammenbruchs“ bleibt.170 Wie das folgende Diagramm des Carter Pea- ce Centers sehr deutlich zeigt, gab es eine direkte Korrelation zwischen der Intensität der Belagerung und der Intensität des Raketenfeuers auf Israel:

169 David Morrison, „The Israel-Hamas Ceasefire“, Sadaqa, März 2010 (2. Ausga- be), http://web.archive.org/web/20140826203113/http://sadaka.ie/Files/Gaza_ Ceasefire.pdf. 170 „Wikileaks: Israel Aimed to Keep Gaza Economy on the Brink of Collapse“, Reuters, 5. Januar 2011.

149 Am 4. November 2008 brach Israel den Waffenstillstand unter dem Vorwand, es habe einen von Hamas ausgehobenen Tunnel entdeckt – der, wie die Armee prompt behauptete, für eine weitere Entführungsoperati- on geplant war. Im Lauf der Jahre hatte die Hamas oftmals Tunnel gebaut, die aus dem Ghetto des Gazastreifens führten, um Zugang zu Nahrung zu bekommen, Menschen hinein und hinaus zu bringen und in der Tat auch als Teil ihres Widerstandes. Einen Tunnel als Vorwand zur Verletzung des Waffenstillstands zu benutzen, war in etwa so, als würde die Hamas be- schließen, den Waffenstillstand zu brechen, weil Israel Militärbasen an der Grenze hat. Übrigens behaupteten Vertreter der Hamas, der fragliche Tun- nel sei zu Verteidigungszwecken gebaut worden. Und da sie sich sonst nie scheuen, sich der anderen, offensiven Funktionen ihrer Tunnel zu brüsten, könnte das durchaus stimmen. Die irische Palästina-Solidaritätsgruppe Sadaqa veröffentlichte damals einen sehr detaillierten Bericht, der Beweismaterial dafür enthielt, dass die zuständigen israelischen Offiziere wussten, dass von dem Tunnel keinerlei Gefahr drohte. Tatsächlich war es so, dass die Regierung einen Vorwand für einen weiteren Versuch brauchte, Hamas zu vernichten, und sie fand ihn in diesem Tunnel.171 Hamas antwortete auf den israelischen Angriff mit einem Hagel von Raketen, durch den jedoch niemand getötet oder verletzt wurde. Israel unterbrach seine Angriffe kurz und verlangte von Hamas, einem Waffen- stillstand unter seinen Bedingungen zustimmen. Diese bestanden in der Aufrechterhaltung des Status Quo. Die Ablehnung der Forderung Isra- els durch Hamas führte zu der Operation „Gegossenes Blei“ Ende 2008. Die Codenamen der israelischen Operationen wurden immer unheilvoller. Der Auftat von „Gegossenes Blei“ war ein beispielloses Bombardement – es erinnerte viele an das Flächenbombardement des Irak 2003. Haupt- ziel dabei war die zivile Infrastruktur. Nichts blieb verschont, weder Kran- kenhäuser, Schulen noch Moscheen – alles wurde angegriffen und zerstört. Hamas reagierte, indem sie zum ersten Mal Raketen auf israelische Städte wie Beersheba und Aschdod abschoss, die bis dahin nicht zu ih- ren Zielen gehört hatten. Es gab einige Ziviltote, doch die meisten getöte- ten Israelis, nämlich insgesamt 13, waren durch „freundliches Feuer“ ge-

171 Morrison, ibid.

150 tötete Soldaten. Etwa 1.500 Palästinenser verloren bei dieser Operation ihr Leben.172 Nun kam eine neue Dimension des Zynismus hinzu: Die internatio- nale Gemeinschaft und die arabische Welt versprachen Milliardenhilfen zum Wiederaufbau einer Infrastruktur, von der klar war, dass Israel sie in Zukunft erneut zerstören würde. Selbst noch die schlimmste Katastrophe kann Gewinn abwerfen. Die nächste Runde kam 2012 und bestand aus zwei weiteren Operati- onen. „Wiederkehrendes Echo“ war eine Kampagne Mitte März, die we- sentlich kleinere Dimensionen hatte als „Gegossenes Blei“ und sich aus der Eskalation eines Zusammenstoßes an der Grenze hervorging. Wesentlich bedeutender war die Operation „Pfeiler der Verteidigung“ im Juli 2012. Sie bedeutete das Ende der sozialen Protestbewegung im Sommer 2012, der es fast gelungen wäre, die Regierung zu stürzen, deren Wirtschafts- und Sozialpolitik extrem verhasst war. Nichts ist so wirksam wie ein Krieg im Süden, wenn es darum geht, junge Israelis dazu zu bringen, ihre Pro- teste einzustellen und stattdessen ihr Heimatland zu verteidigen. Diese Taktik hatte schon zu früheren Zeiten Erfolg gehabt, und sie funktionier- te auch diesmal. 2012 erreichten die Raketen der Hamas zum ersten Mal Tel Aviv, auch wenn sie dort wenig Schaden anrichteten und es weder Tote noch Verletz- te gab. Unterdessen wurden, in Widerspiegelung einer inzwischen schon vertrauten Diskrepanz, etwa 200 Palästinenser getötet, unter denen Dut- zende von Kindern waren. Es war kein schlechtes Jahr für Israel. Die vom Konflikt erschöpften Regierungen der EU und der USA konnten sich nicht einmal zu einer Verurteilung der israelischen Angriffe in diesem Jahr aufraffen; stattdessen betonten sie immer wieder das „Recht Israels, sich zu verteidigen“. Kein Wunder, dass den Israelis zwei Jahre später klar war, dass sie ruhig noch weiter gehen konnten. „Starker Fels“ im Sommer 2014 war zwei Jahre lang geplant worden. Die Entführung und Ermordung dreier junger Siedler im Westjordanland lieferte dann den Vorwand für eine zerstörerische Operation, in deren Verlauf 2.200 Palästinenser getötet wurden. Auch Israel schien eine gewisse Zeit lang wie

172 B’Tselem-Bericht, http://www.btselem.org/statistics/fatalities/during-cast-lead/ by-date-of-event.

151 gelähmt, da Hamas-Raketen nunmehr sogar den Ben-Gurion-Flughafen er- reichten. Die israelische Armee versuchte sich zum ersten Mal im direkten Kampf mit den palästinensischen Guerillas im Gazastreifen und verlor bei die- ser Konfrontation 66 Soldaten. Es war, als würde eine Polizeitruppe ein Hochsicherheitsgefängnis stürmen, in dem die Gefangenen zwar belagert und umstellt sind, aber ihr Leben selbst organisieren und daher in ers- ter Linie von außerhalb kontrolliert werden. Eine solche Truppe gefährdet sich selbst, wenn sie versucht, hineinzukommen und sich der Verzweiflung und dem Widerstand der Insassen stellen muss, die vorher langsam aus- gehungert und stranguliert wurden. Es ist beängstigend, sich vorzustellen, was wohl die operative Schlussfolgerung Israels aus diesem Zusammenstoß mit den wagemutigen Kämpfern der Hamas ist. Der Krieg in Syrien und die Flüchtlingskrise ließen jedoch nur wenig Raum für internationales Interesse oder Handeln übrig. Unterdessen deu- tet alles auf eine weitere Runde der Aggression gegen die Bevölkerung des Gazastreifens hin. Und inzwischen prophezeien die UN, bei einer weiteren Entwicklung wie bisher werde der Gazastreifen im Jahr 2020 unbewohn- bar sein. Grund dafür ist nicht nur militärische Gewalt, sondern auch das, was die UN „Ent-Entwicklung“­ nennen – ein Prozess, durch den Entwick- lung tatsächlich umgekehrt wird.

Drei israelische Militäroperationen in den letzten sechs Jahren und acht Jahre wirtschaftliche Blockade haben die bereits verkrüppel- te Infrastruktur des Gazastreifens verwüstet, seine Produktionsbasis zerstört, keine Zeit für sinnvollen Wiederaufbau oder ökonomische Erholung gelassen und die palästinensische Bevölkerung im Ga- zastreifen zu Bettlern gemacht, deren wirtschaftliche Situation heute schlechter ist als noch vor zwanzig Jahren.173

Die Vollstreckung dieses Todesurteils ist seit dem Militärputsch in Ägypten noch wahrscheinlicher geworden. Das neue ägyptische Regime hat an dem einzigen Zugang, den der Gazastreifen noch zur Außenwelt hatte, ihre ei- gene Grenzabsperrung hinzugefügt. Seit 2010 haben zivilgesellschaftliche

173 UN News Center, 1. September 2015, siehe www.un.org/apps/news/story.asp?- NewsID=51770.

152 Initiativen Schiffe nach Gaza geschickt, um Solidarität zu demonstrieren und die israelische Belagerung zu brechen. Eines davon, die Mavi Mar- mara, wurde von israelischen Kommandos brutal angegriffen, wobei neun der Passagiere getötet und alle anderen in Haft genommen wurden. Ande- ren Schiffen erging es nicht ganz so schlimm. Doch die Schreckensvision von 2020 bleibt real, und es scheint, dass für die Menschen im Gazastrei- fen mehr nötig sein wird als Friedensflotillen, um die Israelis dazu zu brin- gen, mit dem langsamen Töten dieses Gebiets aufzuhören.

153 Kapitel 10: Die Zweistaatenlösung ist nur eine Frage der Zeit

ch bin sicher, dass dies für die meisten Leser ein vertrauter Mythos ist: Ider Mythos, man habe für eine Lösung des Israel/Palästina-Konflikts nur noch ein „ganz kleines Stück“ zu gehen und nur die Zweistaaten- lösung umzusetzen, und damit sei der Konflikt praktisch beendet. Aber dieses „kleine Stück“ befindet sich definitiv nicht auf dieser Erde – viel- leicht ja irgendwo im Rest des Universums. Die Realität an Ort und Stelle, wo eine massiven Kolonisierung stattfindet und große Teile des Westjor- danlandes direkt von Israel annektiert werden, macht jeden Staat in die- sen Gebieten, falls es überhaupt je zu einem entsprechenden Abkommen kommt, zu einer höchst unwahrscheinlichen Vision. Das Beste, worauf man hoffen kann, ist ein palästinensisches Bantustan, das keine echte Sou- veränität besitzt, in mehrere Kantone aufgespalten ist und nicht die Mittel hat, sich selbst zu schützen oder ohne Israel zu überleben. Selbst ein etwas unabhängigeres Gebilde, das zustande kommen könn- te, wenn es zu einem wundersamen Sinneswandel auf Seiten Israels käme, würde eine Zweistaatenlösung nicht in den letzten Akt des Konfliktes ver- wandeln. Es ist einfach undenkbar, dass ein nationaler Befreiungskampf, der jetzt fast 150 Jahre alt ist, mit einer bedingten Autonomie der Palästi- nenser über nur zwanzig Prozent ihres Heimatlandes enden soll. Davon abgesehen hat kein diplomatisches Abkommen oder Dokument die Macht, nur diejenigen Betroffenen als „Palästinenser“ zu definieren, die im Westjordanland leben oder das geografische Konzept Palästinas auf das Westjordanland zu reduzieren. Der Gazastreifen scheint ohnehin mittlerweile von jeder Diskussion über die Zukunft ausgeschlossen, wäh- rend ein Großteil Ost-Jerusalems ebenfalls nicht zu dem ins Auge gefass- ten Staat gehört. Die Zweistaatenlösung, wie sie in den historischen Kapiteln dieses Bu- ches umrissen und kommentiert wurde, war eine Erfindung Israel, die ihm erlauben sollte, die unmögliche Aufgabe zu lösen, vor der es seit 1967 stand. Dabei handelte es sich um das Problem, wie Israel das Westjordan- land seiner Kontrolle unterwerfen konnte, ohne auch die Verantwortung für die dort lebende Bevölkerung zu übernehmen. Dementsprechend wur- de vorgeschlagen, ein Teil des Westjordanlandes solle autonom und viel- leicht sogar ein Staat werden. Im Gegenzug sollten die Palästinenser all

154 ihre Hoffnungen auf Rückkehr, gleiche Rechte für die Palästinenser in Is- rael, einen gleichberechtigten Zugang zu Jerusalem und auf ein normales Leben in ihrem Heimatland aufgeben.174 Jede Kritik an diesem Mythos wird als Antisemitismus gebrandmarkt. Aber tatsächlich sind die israelische Politik und Mythologie der wahre Hauptgrund dafür, dass der Antisemitismus immer noch virulent ist. Isra- el selbst insistiert darauf, es tue das, was es tut, im Namen des Judentums – und genau das führt im Denken unbedarfter Menschen zu einer Gleich- setzung von zionistischer Kolonisierung und dem Judentum als solchem. Diese Verbindung sollte abgelehnt werden, und stattdessen sollte das Recht aller Menschen, die in Palästina wohnen oder von dort vertrieben wurden, als Gleiche in diesem Land zu leben, im Namen des Judentums und der universellen menschlichen Werte als wichtigster Punkt auf die Agenda von Frieden und Versöhnung gesetzt werden. Die Zweistaatenlösung ist wie ein lebloser Körper, den man hin und wieder aus dem Leichenschauhaus holt, um ihn wiederzubeleben, hübsch anzuziehen und als lebendige Person zu präsentieren. Wenn sich wieder einmal erweist, dass das Ganze nur eine Sackgasse ist, wird er in die Toten- kammer zurückgebracht. Ich bin ziemlich sicher, dass das endgültige Begräbnis der Zweistaa- tenlösung nah bevorsteht. Wahrscheinlicher Auslöser werden Diskussions- runden in den Vereinten Nationen über die Zulassung Palästinas als Voll- mitglied sein, die vermutlich zeitlich mit dem Abschluss der israelischen Übernahme von Zone C (mehr als 50 Prozent des Westjordanlandes) zu- sammenfallen werden. Die Spannung zwischen den symbolischen Akten der UN und der Realität vor Ort würde dann so groß werden, dass die in- ternationale Gemeinschaft sie nicht mehr erträgt. Das würde alle Kräfte zwingen, zurück ans Reißbrett zu gehen und die Lösung für den Konflikt neu zu überdenken. Die Unterstützung der gewaltigen Mehrheit der Mitglieder der Or- ganisation würde einen Kreis schließen, der 1967 begann und zu dem Rückhalt sämtlicher mächtiger und weniger mächtiger Akteure auf der internationalen und der regionalen Bühne für die schlecht durchdachte Zweistaatenlösung führte. Selbst in Israel wurde diese „Lösung“ schließ- lich sowohl vom rechten als auch dem mittleren und linken Flügel der zi-

174 Pappé, 1967 Revisited.

155 onistischen Politik unterstützt. Doch trotz dieser Unterstützung scheint jedermann innerhalb und außerhalb Palästinas zuzugeben, dass die Besat- zung weitergehen wird und dass selbst im besten aller möglichen Szenari- en das Ende ein größeres und rassistisches Israel neben einem fragmentier- ten und nutzlosen Bantustan sein wird. Diese Farce wird bald ein Ende nehmen – entweder schmerzhaft und ge- waltsam, falls die gegenwärtige israelische Regierung auch weiter interna- tionale Immunität genießt und durch schiere Gewalt ihre eigene Post-Os- lo-Vorstellung von Palästina in die Praxis umsetzen kann, oder revolutionärer und viel friedlicher durch die schrittweise Ersetzung alter Lügen durch so- lide neue Wahrheiten zur Frage von Frieden und Versöhnung in Palästina. Leider könnte sich das erste Szenario als Vorbedingung für das zweite erwei- sen. Das kann nur die Zeit zeigen. Im Altertum begrub man die Toten mit ihren geliebten Artefakten und Besitztümern. Das kommende Begräbnis wird vermutlich einem ähnli- chen Ritual folgen. Das Wichtigste, was wir begraben müssen, ist das Lexi- kon der Illusion und Täuschung, und mit ihm berühmte Floskeln wie „der Friedensprozess“, „die einzige Demokratie im Nahen Osten“, „eine fried- liebende Nation“, „Parität und Gegenseitigkeit“ und „eine humane Lö- sung für das Flüchtlingsproblem“. Das Lexikon, das an seine Stelle treten sollte, ist über viele Jahre hinweg erarbeitet worden und beschreibt den Zi- onismus als Kolonialismus, Israel als Apartheidstaat und die Nakba als eth- nische Säuberung. Es wird eine viel größere Verbreitung finden, sobald wir laut und deutlich den Tod der Zweistaatenlösung verkünden.175 Neben der Leiche werden auch die Landkarten der gescheiterten Lö- sung liegen. Die Kartografie, die Palästina auf ein Zehntel seines histori- schen Selbst schrumpfen ließ und als Landkarte des Friedens präsentiert wurde, wird hoffentlich für immer verschwinden. Es ist nicht einmal nö- tig, eine alternative Landkarte zu erstellen. Seit 1967 hat sich die reale Geografie nie verändert, obwohl sie sich im Diskurs liberaler zionistischer Politiker, Journalisten und Akademiker, die auch immer noch breite inter- nationale Unterstützung genießen, ständig wandelte. Palästina ist immer das Land zwischen Jordan und Mittelmeer gewesen, und es ist es auch heu- te noch. Sein wechselndes Schicksal wurde und wird nicht von der Geo-

175 Zum Wörterbuch siehe Noam Chomsky und Ilan Pappé, On Palestine, London 2016.

156 grafie, sondern der Demografie bestimmt. Die Siedlerbewegung, die im 19. Jahrhundert nach Palästina kam, stellt dort heute etwa die Hälfte der Bevölkerung und übt über die Matrix rassistischer Ideologien und Apart- heidstrategien die Kontrolle über die andere Hälfte aus. Der Frieden wird nicht durch demografische Veränderungen oder die Ziehung neuer Gren- zen kommen, sondern nur durch die Eliminierung dieser Ideologien und Strategien. Und es könnte sein, dass genau das jetzt leichter zu bewerkstel- ligen ist als je zuvor. Das Begräbnis wird auch die große Schwäche der israelischen Protest- bewegung vom Sommer 2012 benennen und zu gleicher Zeit ihr positi- ves Potential hervorheben. Sieben Wochen lang protestierte eine enorme Zahl von israelischen Juden der Mittelklasse gegen die Sozial- und Wirt- schaftspolitik der israelischen Regierung. Da die Führer und Koordinato- ren den Protest so lang wie möglich als Massenbewegung erhalten wollten, wagten sie es nicht, auch von Besatzung, Kolonisierung und Apartheid zu sprechen. Für sie war die Quelle allen Übels die brutale kapitalistische Politik der Regierung. Auf einer gewissen Ebene hatten sie damit Recht. Diese Politik machte es einem Teil der Herrenrasse Israels unmöglich, die Früchte der Vergewaltigung und Enteignung Palästinas in vollem Maß zu genießen. Doch eine gerechtere Aufteilung der Beute wird weder den Ju- den noch den Palästinenser ein normales Leben ermöglichen. Das kann nur ein Ende von Raub und Plünderung tun. Andererseits zeichneten sich die Demonstranten durch Skepsis und Misstrauen gegenüber den Behaup- tungen der Medien und Politiker über ihre sozioökonomische Realität aus. Dies könnte letztlich auch zu einem besseren Verständnis der Lügen füh- ren, die man ihnen so viele Jahre lang über den „Konflikt“ und ihre „nati- onale Sicherheit“ aufgetischt hat. Das Begräbnis sollte uns alle anspornen, derselben Arbeitsteilung zu folgen wie zuvor. Die Palästinenser müssen dringlich das Problem ihrer ei- genen Vertretung lösen. Die progressiven jüdischen Kräfte der Welt müs- sen noch intensiver zur Teilnahme an den BDS- und Solidaritätskampag- nen ermutigt werden. In Palästina/Israel selbst ist die Zeit gekommen, den Diskurs über den einen Staat in politische Aktion zu verwandeln und Schritt für Schritt das neue Lexikon anzuwenden. Die Enteignung ist allgegenwärtig, und daher müssen auch Ent-Enteignung und Versöhnung überall stattfinden. Wenn die Beziehungen zwischen Juden und Palästinensern auf einer gerechten

157 und demokratischen Basis neu gestaltet werden sollen, können wir we- der die alte, begrabene Landkarte der Zweistaatenlösung noch deren Lo- gik der Teilung akzeptieren. Das bedeutet ferner, dass die ängstliche Un- terscheidung zwischen jüdischen Siedlungen in der Gegend Haifas (vor 1967) und solchen bei Nablus (nach 1967) ebenfalls ins Grab gehört. Die tatsächlich bedeutsame Unterscheidung ist die zwischen Juden, die bereit sind, eine Neugestaltung der Beziehungen, eine Veränderung des Regimes und Gleichheit für alle zu diskutieren, und denen, die dazu nicht bereit sind – und dabei ist es gleichgültig, wo sie derzeit leben. Wenn man das menschliche und politische Mosaik des Großisraels von 2017 sorgfältig studiert, findet man hier einige überraschende Phänome- ne: die Bereitschaft zum Dialog ist teilweise jenseits der grünen Linie deut- licher zu spüren als innerhalb davon. Der Dialog in Israels über eine Änderung des Regimes, die Frage der Vertretung der Palästinenser, die BDS-Kampagne und vieles mehr sind in- tegraler Bestandteil ein und derselben Bemühung, Palästina Gerechtigkeit und Frieden zu bringen. Wenn die Zweistaatenlösung erst einmal begra- ben ist, lassen wir damit eines der Haupthindernisse für einen gerechten Frieden in Israel und Palästina hinter uns.

158 Schluss

m Jahr 2017 wird die israelische Besatzung des Westjordanlandes und Ides Gazastreifens fünfzig Jahre alt. Nach fünfzig Jahren wird der Begriff Besatzung obsolet und irrelevant. Schon zwei Generationen von Palästi- nensern haben ihr gesamtes Leben unter dieser „Besatzung“ gelebt. Ob- wohl sie selbst es auch weiterhin Besatzung nennen werden, ist das, was sie erleben und erdulden etwas, was viel schwerer zu besiegen oder zu verän- dern ist: Es ist Kolonisierung. Wie ich bereits in den Anfangskapiteln dieses Buchs gesagt habe, ist der Begriff Kolonisierung schwer auf die Gegenwart anzuwenden, da er meist mit Ereignissen der Vergangenheit assoziiert wird. Aus diesem Grund ver- wenden wir hier, gestützt auf neuere und aufregende Forschungsarbeiten, einen anderen Begriff, nämlich den des Siedlerkolonialismus. Diese Bewegung von Europäern, die sich in verschiedene Teile der Welt ausbreiteten, schuf neue „weiße“ Nationen an Orten, wo zuvor indigene Völker wie die Native Americans, die Aborigines und die Mayas ihre Ge- meinwesen und Königreiche hatten. Diese neuen Nationen konnten nur geschaffen werden, wenn die Siedler sich an zwei Maximen halten: die Lo- gik der Eliminierung (die Beiseiteschaffung der indigenen Bevölkerung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, einschließlich Völkermord) und die Maxime der Dehumanisierung (die Betrachtung der Nicht-Euro- päer als minderwertig und daher als Menschen, die nicht dieselben Rech- te verdienen wie die Siedler). In Südafrika führte diese doppelte Logik zu Schaffung des Apartheidsystems, das offiziell im selben Jahr, 1948, gegrün- det wurde, in dem die zionistische Bewegung diese doppelte Logik in eine ethnische Säuberungsoperation übersetzte, die die Hälfte der Palästinenser zu Flüchtlingen machte. Wie dieses Buch zu zeigen versucht hat, sind Vorgänge wie die Beset- zung des Westjordanlandes und des Gazastreifens, der Oslo-Prozess und der Abzug aus dem Gazastreifen 2005 aus einer siedlerkolonialistischen Perspektive alle Teil derselben israelischen Strategie, so viel wie möglich von Palästina mit so wenig Palästinensern darin wie möglich zu bekom- men. Die Mittel zur Durchsetzung dieser Strategie haben sich im Lauf der Zeit geändert, und das Ziel ist auch noch nicht erreicht. Doch diese Stra- tegie ist die wichtigste Triebkraft, die diesen Konflikt in Gang hält.

159 Die furchtbare Beziehung zwischen der Maxime der Dehumanisierung und der Maxime der Eliminierung, die in der Ausbreitung des europäi- schen Siedlerkolonialismus über die Welt so klar zum Ausdruck kommt, fand ihren Weg zuerst in die autoritären Staaten des Nahen Ostens. Sie zeigte sich brutal in der Vernichtung der Kurden durch Saddam Hussein und in den Strafaktionen des Assad-Regimes 2012, aber auch in ande- ren Teilen der Region. Sie wurde dann auch von Gruppen übernommen, die gegen solche Regimes kämpften; das schlimmste Beispiel hierfür ist die völkermordartige Politik des Islamischen Staates. Die Barbarisierung menschlicher Beziehungen im Nahen Osten kann nur von den Menschen der Region selbst gestoppt werden. Sie sollten dabei aber nicht auf Hilfe von der Außenwelt verzichten müssen. Insgesamt wäre es wünschenswert, wenn die Region zu einer gar nicht weit zurückliegenden Vergangenheit zurückkehrte, in der „Leben und leben lassen“ das Leitprinzip war. Es gibt keinen angemessenen Diskurs über ein Ende der Menschen- rechtsverletzungen im Nahen Osten ohne eine Diskussion über die seit über hundert Jahren andauernden Menschenrechtsverletzungen in Pa- lästina. Beide Fragen sind engstens miteinander verbunden. Die Aus- nahmebehandlung, die erst der zionistischen Bewegung und dann Israel zugestanden wurde, war ein Hohn auf alle Kritik des Westens an Men- schenrechtsverletzungen in der arabischen Welt. Eine angemessene Diskussion der Menschenrechtsverletzungen gegen- über den Palästinensern kann nur nur durch ein Verständnis der unver- meidlichen Resultate siedlerkolonialistischer Projekte wie des Zionismus zustande kommen. Die Siedler, die Ende des 19. Jahrhunderts in Palästi- na einzutreffen begannen, sind heute organischer und integraler Teil des Landes. Sie können und werden nicht wieder gehen. Sie sollten Teil der Zukunft des Landes sein, aber das kann nicht auf der Basis der permanen- ten Unterdrückung und Enteignung der Palästinenser vor Ort geschehen. Wir haben Jahre mit der Diskussion über die Zweistaatenlösung ver- geudet, als hätte sie irgendeine Bedeutung für das angesprochene. Wir hät- ten diese Zeit besser genutzt, um die Juden Israels und die restliche Welt von der Tatsache zu überzeugen, dass die moralische Legitimität eines Vol- kes, das seinen Staat auf die Unterdrückung eines anderen Volkes grün- det, immer in Frage gestellt werden wird – ganz gleich, wie beeindruckend dieser Staat aufgrund seiner blühenden Kultur, seiner erfolgreichen High- tech-Industrie und seines mächtigen Militärs ansonsten auch sein mag.

160 Wenn wir die Frage der Legitimität auf die 1967 von Israel besetzten Ter- ritorien, beschränken, gehen wir am Kern des Problems vorbei. Natür- lich wäre ein Abzug Israels aus dem Westjordanland hilfreich, aber auch da könnte Israel dieses Gebiet genauso überwachen und schikanieren, wie es das seit 2006 mit dem Gazastreifen tut. Das wäre dann kein Ende des Konflikts, sondern nur eine neue Variante davon. Es müssen auch einige tiefere Schichten angegangen werden, wenn es einen echten Versuch zur Lösung dieses schier endlosen Konfliktes geben soll. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubte man dem Zionismus die Rea- lisierung eines kolonialistischen Projekts, obwohl dies just die Wendezeit war, seit der der Kolonialismus von der zivilisierten Welt abgelehnt wird. Grund dafür war, dass der jüdische Staat Europa, vor allem aber West- deutschland eine billige Absolution für das schlimmste Kapitel des Antise- mitismus auf dem Kontinent bot. So erklärte ausgerechnet Israel als erstes, es gebe jetzt „ein neues Deutschland“ – und im Gegenzug erhielt es sehr viel Geld von dort. Noch wichtiger war jedoch, dass es auch grünes Licht für sein Projekt der Verwandlung Palästinas in Israel erhielt. Der Zionismus präsentierte sich als die simpelste Lösung für das Prob- lem des Antisemitismus, doch ironischerweise wurde es dann zum bedeu- tendsten Grund für dessen Fortbestehen. Der damit eingegangene „Han- del“ führte außerdem auch keineswegs zu einem Ende des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit, die in Europa fest verankert sind und auf dem Kontinent selbst den Nazismus und außerhalb davon brutale Kolonialrei- che hervorgebracht hatten. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wenden sich jetzt gegen die Muslime und den Islam; zugleich werden sie auch auf die Israel/Palästina-Frage projiziert und könnten reduziert werden, sobald für diese eine echte Lösung gefunden wird. Wir alle haben eine bessere Bewältigung der Geschichte des Holocaust verdient. Das könnte so aussehen, dass ein starkes, multikulturelles Deutsch- land dem Rest Europas den Weg zeigt, dass die Ge­sellschaft sich mutig mit dem Völkermord an den Native Americans und den Afroamerikanern ausei- nandersetzt, dass die arabische Welt die Barbarei und Unmenschlichkeit, die von außen in sie hineingetragen wurden, wieder ausmerzt – und dass Paläs- tina gerettet wird und den jüdischen Siedlern wie der angestammten paläs- tinensischen Bevölkerung ein gemeinsames Leben in politischen Formen er- möglicht, die von den authentischen Vertretern beider Gemeinschaften für am besten befunden wird.

161 Damit all dies geschieht, müssen wir aufhören, Mythen als Wahrheit zu behandeln. Palästina war nicht leer und die Juden der Welt hatten Hei- matländer. Palästina wurde kolonisiert, nicht „erlöst“, und die Bevölke- rung dort wurde 1948 enteignet und verließ das Land nicht freiwillig. Selbst nach der UN-Charta haben kolonisierte Völker das Recht auch auf bewaffneten Widerstand, um ihre Freiheit zu erlangen, und dieser Befrei- ungskampf sollte in die Schaffung eines demokratischen Staates für alle münden, die im jeweils betroffenen Gebiet leben. Es ist zu hoffen, dass eine Diskussion in Israel, die sich der zehn hier behandelten Mythen ent- ledigt, nicht nur Frieden für Israel und Palästina bringen wird, sondern auch dazu beiträgt, dass Europa einen angemessenen Schlussstrich unter die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und die dunkle Ära des Kolonialis- mus ziehen kann. Faten El-Dabbas Keine Märchen aus 1001 Nacht

Deutsch-Arabiscgh Broschur, 100 Seiten + DVD, VK 18,--€ Übersetzung ins Arabische: Sabine Chahbi Illustrationen: Zeinab A. Hammoud ISBN: 978-3-9817922-1-8 978-3-9817922-1-8

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Kein Märchen aus 1001 Nacht Letztens fragte mich die Freiheitsstatue: Was heißt Freiheit? Da muss wohl was schief gelaufen sein, dachte ich. Wenn die Freiheitsstatue ausgerechnet eine Palästinenserin Fragt was Freiheit heißt.

Die Menschenrechtsanwältin Felicia Langer erhielt den Erich-Mühsam Preis: Wer, wenn nicht sie? (taz vom 14.03.2005)

Felicia Langer MIT EIGENEN AUGEN Erinnerungen 292 Seiten, 20,--€ ISBN 978-3-9817922-0-1 Die Rechtsanwältin Felicia Langer, Trägerin des Alternativen Nobelpreises, beschreibt was sie vor israelischen Militärgerichten erlebt, gesehen und erdulden musste. 978-3-9817922-0-1 Hinter den einzelnen Fällen verstecken sich Schicksale, erleben wir Menschen aus Fleisch und Blut, Gestalten, die sich im Gedächtnis tief und nachhaltig eingraben. Es ist Felicias ersten Buch und ist im Eigenverlag erschienen, da kein Verlag in Israel bereit war es zu drucken.