Alexander Gallus Heimat »Weltbühne« Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte Herausgegeben von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Band 50 Redaktion: Joachim Szodrzynski Alexander Gallus Heimat »Weltbühne« Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert

WALLSTEIN VERLAG Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2012 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlaggestaltung: Basta Werbeagentur, Steffi Riemann Titelfoto: Umschlag »Die Weltbühne« vom 1.3.1927 Druck: Hubert & Co, Göttingen ISBN (Print) 978-3-8353-1117-6 ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-2287-5 Inhalt

Einleitung ...... 9 Vermessung des Themas ...... 9 Gedankenwelten und Wirkungskontexte ...... 23 Welcher Staat, welche Demokratie (ideelle Dimension)? ...... 23 Welcher Standort, welcher Status (strukturelle Dimension)? . . . . . 27 Vorgehen und Aufbau ...... 31

Forschungsstand und Quellenlage ...... 34 Weimarer Ausgangslage: Linksintellektuelle und die Geschichte der Weltbühne ...... 34 Zäsurübergreifende Betrachtungen: die Biografien Hillers, Eggebrechts, Schlamms und Steinigers ...... 44

Die Weltbühne als Heimat für heimatlose »Republikaner ohne Republik« – eine kurze politische Geschichte der Zeitschrift 51

Weltbühnen-Sehnsucht, gescheiterte Zeitschriften-Renovatio und öffentliche Würdigung einer Weimarer Ikone nach 1945 ...... 62

Ein sich stets selbst treuer Ego-Dogmatiker – Kurt Hiller . . 80 Frühe Jahre und Herausbildung des politischen Publizisten 80 Aktivismus, Aristokratismus, Antidemokratismus, Antinationalsozialismus: der Weltbühne-Autor 86 Ins Abseits der Öffentlichkeit: Marginalisierung im Exil ...... 108 Politische Publizistik für einen freiheitlichen Sozialismus und Adenauer-Kritik ...... 134 Neusozialistischer Bund, Ablehnung der Studentenbewegung und Annäherung an die SPD ...... 143 Fazit ...... 152

5 Ein für allemal ein streitbarer Linker – Axel Eggebrecht 157 Irrungen und Wirrungen des Kapp-Putschisten und Kommunisten ...... 157 Politisch-publizistische Sozialisation durch die Weltbühne ...... 162 Im Wartezustand und Halbschatten: heraufziehender Nationalsozialismus und »Drittes Reich« ...... 170 Eine »reale Machtposition« beim Nordwestdeutschen Rundfunk . . . . 174 Streit beim NWDR und Rückkehr in den »freischwebenden« Zustand 183 »Axel Eggebrecht spricht«: politische Kommentare ...... 195 Die zornigen alten Männer und ihr Kampf im Geist der Weltbühne . . . 203 Fazit ...... 207

Hauptsache nonkonform, ob als Kommunist, Linksintellektueller oder Konservativer – William S. Schlamm ...... 210 Vom Parteikommunisten zum linksunabhängigen Totalitarismuskritiker und Anhänger eines ethischen Sozialismus . . . . 210 In der Neuen Welt: »intellektuelle Amerikanisierung« ...... 231 Rückkehr in die Alte Welt und an die Grenzen des Wunders: Thesen und Reaktionen 243 Konservative Zeitkritik von der Stern-Kolumne über die Welt am Sonntag bis zur Zeitbühne ...... 254 Fazit ...... 274

Wege eines Wandlungsfähigen vom »bürgerlichen Intellektuellen« zum marxistisch-leninistischen Scholastiker – Peter Alfons Steiniger ...... 279 Entscheidungsjahr 1950 279 Zwischen Anbiederung und Verfolgung im »Dritten Reich« ...... 283 Autor der Weimarer Weltbühne ...... 290 Vom Intellektuellen zur Intelligenz ...... 299 Marxistisch-leninistischer Scholastiker und Kalter Krieger ...... 306 Ein Linientreuer im Blickfeld der Staatssicherheit ...... 306 Feindbild kapitalistisch-imperialistischer Westen und Bundesrepublik 312 Der Berater als Expertenintellektueller? ...... 320 Fazit ...... 326

Vier Weltbühne-Solitäre – eine Beziehungsgeschichte? 330

6  Intellektuelle Biografien und politische Positionen zwischen den Zeiten – Bilanz und Vergleich ...... 339 Politisches Denken: Argumentationen und Transformationen des Staats- und Demokratieverständnisses ...... 339 Intellektuelles Rollenverständnis und Positionierung in einer gewandelten politischen Öffentlichkeit ...... 353

Quellen und Literatur ...... 362

Abkürzungsverzeichnis ...... 409

Abbildungsverzeichnis ...... 411

Nachwort und Dank ...... 413

Personenregister ...... 417

7 »… mein ganzes Leben wurde durch die damals gemachten Erfahrungen be- stimmt. Die WELTBÜHNE wurde meine geistige Heimat. Jungen Schriftstel- lern von heute wünsche ich eine ähnliche; doch mir schwant, dass es die nicht gibt.« Axel Eggebrecht (1979) Einleitung

Medias in res: Diese Arbeit handelt vom Staats- und Demokratiedenken ausge- wählter Autoren oder Redakteure der Weimarer Weltbühne. Sie verharrt nicht in den Jahren zwischen 1918 und 1933, sondern fragt auch nach dem geistigen Erbe dieser Linksintellektuellen, nach ihren Lebenswegen in wendungsreichen Zei- ten, nach ihrer politischen sowie publizistischen Positionierung während des »Dritten Reichs«, im Exil und nicht zuletzt im geteilten Deutschland. Den Wandlungsprozessen oder Beharrungskräften von intellektuellen Vorstellungs- welten und politischer Öffentlichkeit zwischen den Zeiten von den zwanziger bis in die siebziger Jahre hinein gilt die besondere Aufmerksamkeit. Die Prota- gonisten heißen: Axel Eggebrecht, Kurt Hiller, William Siegmund Schlamm und Peter Alfons Steiniger. Die vier verband ein politisch-publizistisches Erwe- ckungserlebnis durch die alte Weltbühne, die sie als eine geistige Heimat begrif- fen, deren Verlust sie melancholisch stimmte und die sie mitunter kämpferisch wiederbeleben wollten. Ihre unterschiedlich sich entwickelnden, eigenwilligen, manchmal exzentrischen Biografien dienen als Sonden, um Facetten einer Intel- lektuellengeschichte im 20. Jahrhundert angesichts ganz verschiedener politi- scher Systeme und lebensweltlicher Hintergründe auszuleuchten. Die Wahl und Vermessung des Themas gilt es nun näher zu erläutern.

Vermessung des Themas

Das Leiden der Weimarer Republik an institutionellen Strukturdefekten hilft zu erklären, weshalb der ersten deutschen Demokratie kein Erfolg beschieden war. Doch bedarf eine solche Sichtweise der Ergänzung. Schon in seiner »klassisch« zu nennenden Studie von 1955 über die Auflösung der Weimarer Republik wies Karl Dietrich Bracher darauf hin, dass zu den tief verwurzelten Schwächen Wei- mars nicht nur eine labile Machtstruktur, sondern auch eine labile Bewusstseins- struktur gehörte.1 Bereits Zeitgenossen der Jahre 1918 bis 1933 sprachen von einer »Republik ohne Republikaner«. Es gelang den die Republik tragenden oder sie zumindest nicht grundsätzlich ablehnenden Kräften nur in unzureichendem Maße, ein Demokratie und Republik geneigtes Meinungsklima zu schaffen. Umgekehrt genügt es nicht, die »Erfolgsgeschichte« der Bundesrepublik allein mit der Errichtung einer neuen Institutionenordnung zu erklären.2 Auch hier

1 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, 5. Aufl., Düsseldorf 1978. Fragen der Machtstruktur durchziehen die gesamte Studie Brachers, Probleme des politischen Be- wusstseins behandelt er vor allem im sechsten Kapitel. 2 Vgl. die aktuellen Darstellungen von Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Ge- schichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006; so- wie Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik

9 einleitung müssen Perspektiven einer »intellectual history« und der politischen Kulturge- schichte ergänzt werden. Dazu gehört es beispielsweise, die Herausbildung eines »Verfassungspatriotismus« zu erklären,3 der zu Weimars Zeiten so gut wie gar nicht existierte.4 Der Mangel an politischer Konsensstiftung und an innerem Zuspruch zum Weimarer Staatsgebilde, das vielfach als »System« geschmäht wurde, war eklatant. Letztlich bestimmten nicht allein strukturelle Zwänge den Ablauf der Weimarer Geschichte, sie lag auch in der Verantwortung des Han- delns und Denkens einzelner Personen. Zugespitzt heißt es bei Hagen Schulze: »Bevölkerung, Gruppen, Parteien und einzelne Verantwortliche haben das Ex- periment Weimar scheitern lassen, weil sie falsch dachten und deshalb falsch handelten.«5 Die Weimarer Republik ist das Resultat eines Systemwechsels von einer au- toritär-monarchischen zu einer demokratisch-republikanischen Staatsform. Eine solche Transition besitzt verschiedene Stufen: erstens die Institutionalisie- rung der neuen Verfassungsordnung, zweitens die konstitutionelle und reprä- sentative Konsolidierung sowie drittens die auf einem tiefgreifenden politisch- ideologischen Wandel beruhende Verhaltenskonsolidierung.6 Die ersten beiden Komponenten wurden von der Weimarer Republik erfüllt, wenn auch teilweise mehr schlecht als recht. Die Verwirklichung des dritten Aspekts, der erst den längerfristigen Erfolg einer gesamtstaatlichen Demokratisierung im Übergang von einem autoritären zu einem demokratischen politischen System ausmacht, scheiterte – anders als im Falle der zweiten deutschen Demokratie – ungeachtet des Engagements mancher »Vernunftrepublikaner«7 und ganz weniger »Her- zensdemokraten« auf der ganzen Linie. Der politisch-ideologische Wandel ver- lief nicht dergestalt, dass damit eine breite Akzeptanz der neuen Ordnung, ihrer Prozeduren, Spielregeln und normativen Grundlagen als »the only game in

Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, 2009; auch Axel Schildt/Detlef Sieg- fried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009. 3 Vgl. Jan-Werner Müller, Verfassungspatriotismus, Berlin 2010. 4 Vgl. Detlef Lehnert, Desintegration durch Verfassung? – oder wie die Verfassung der Nationalversammlung von 1919 als Desintegrationsfaktor der Weimarer Republik inter- pretiert wurde, in: Hans Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, S. 237-265; zu gleichwohl vorhandenen Tendenzen demokratischen ebenso wie verfassungsstaatlichen Denkens bei Weimarer Staatsrechtslehrern siehe neuerdings um- fassend Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, ­Tübingen 2010. 5 Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917-1933, Neuaufl., Berlin 1998, S. 425. 6 Siehe grundsätzlich Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, 2. Aufl., Wiesbaden 2010; auch Alexander Gallus (Hrsg.), Deutsche Zäsuren. Systemwechsel seit 1806, Köln/Weimar 2006; Eckhard Jesse, Systemwechsel in Deutschland. 1918/19 – 1933 – 1945/49 – 1989/90, Köln/Weimar 2010. 7 Vgl. zu dieser erst jüngst genauer untersuchten Gruppe: Andreas Wirsching/Jürgen Eder (Hrsg.), Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008.

10 vermessung des themas town«8 einhergegangen wäre. Die mentale Verwurzelung der Weimarer Demo- kratie misslang. Als umfassend konsolidiert kann eine Demokratie nämlich erst gelten, »wenn ihre Spielregeln von allen wichtigen Gruppen als die einzig gülti- gen Spielregeln der Politik akzeptiert werden, die Regierenden diese Regeln nicht manipulieren, die Demokratie auf einer politischen Kultur vom Typ der Bürgerkultur (civic culture) beruht und die Anti-System-Opposition schwach ist«.9 Wie der parteiförmig organisierte Extremismus die Weimarer Republik zu zerstören half, auch indem er mittels des gewalttätigen Kampfs auf der Straße die Angst vor dem Bürgerkrieg schürte, ist inzwischen gut erforscht.10 Dagegen lässt die politisch-kulturelle Dimension – ob auf der Ebene der Mentalitäten oder der bewusst formulierten politischen Ideen – noch Fragen offen, vor allem wenn man das linksintellektuelle Milieu in den Blick nimmt, das eine Teilkultur innerhalb der tief fragmentierten und vielfach segmentierten Gesellschaft Wei- mars ausmachte.11 Vor fünfzig Jahren erschien Kurt Sontheimers Studie über Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik.12 Diese ideengeschichtliche Vermessung des rechtsintellektuellen Milieus zwischen 1918 und 1933 – nicht zu- letzt auch am Beispiel der Zeitschrift Die Tat und ihres Kreises dargelegt – avan- cierte rasch zum Klassiker der Politikwissenschaft wie der Zeitgeschichtsfor-

8 Juan J. Linz/Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America, and Post-Communist Europe, Baltimore/London 1996, S. 5. 9 Manfred G. Schmidt, Artikel »Konsolidierung«, in: Ders., Wörterbuch zur Politik, 2. Aufl., Stuttgart 2004, S. 379 (Hervorhebung im Original). 10 Vgl. neben weiteren Einzelstudien grundlegend Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918-1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürger- krieg, Essen 2001; Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1933/39. Berlin und Paris im Ver- gleich, München 1999; siehe auch Dirk Blasius, Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930-1933, Göttingen 2005. 11 Vgl. die Überblicke bei Detlef Lehnert/Klaus Megerle, Identitäts- und Konsenspro- bleme in einer fragmentierten Gesellschaft. Zur Politischen Kultur in der Weimarer Republik, in: Dirk Berg-Schlosser/Jakob Schissler (Hrsg.), Politische Kultur in Deutschland, Opladen 1987, S. 80-95; Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hrsg.), Politi- sche Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung, Opladen 1990; dies. (Hrsg.), Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weima- rer Republik, Opladen 1989; Kurt Sontheimer, Die politische Kultur der Weimarer Re- publik, in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Die Weimarer Republik 1918-1933. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft, 3. Aufl., Bonn 1998, S. 454-464; Wolfram Pyta, Politische Kultur und Wahlen in der Weimarer Republik, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Wahlen und Wahlkämpfe in Deutschland. Von den An- fängen im 19. Jahrhundert bis zur Bundesrepublik, Düsseldorf 1997, S. 197-239; Sabine Marquardt, Polis contra Polemos. Politik als Kampfbegriff der Weimarer Republik, Köln u. a. 1997. 12 Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politi- schen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, 3. Aufl., München 1992 (zuerst 1962).

11 einleitung schung. Dessen ungeachtet bezeichneten schon frühe Kritiken das Werk als unvollständig, widmete es sich mit dem konzentrierten Blick auf die »Konser- vative Revolution« doch nur einer Seite des politischen Spektrums.13 Riccardo Bavaj hat sich vor wenigen Jahren darangemacht, ein Gegenstück für das links- intellektuelle Milieu zu schreiben, indem er die verschiedenen Ausprägungen eines linken Antiparlamentarismus unter dem Rubrum des Linksextremismus zu erfassen suchte.14 Nach wie vor aber hinkt die zeithistorische wie politikwis- senschaftliche, empirische wie systematische Forschung zum Staats- und Demo- kratieverständnis im linken intellektuellen Milieu gegenüber dem im rechten hinterher. Ähnlich wie Sontheimers Werk beruht die vorliegende Arbeit auf der An- nahme, dass zur Formung des »Zeitgeists«, der Mentalitäten und der politischen Kultur eines Landes das publizistisch vermittelte politische Denken wesentlich beiträgt, Legitimitäts- und Kommunikationsfragen also gerade im 20. Jahrhun- dert eng aneinander gekoppelt sind.15 Dies entspricht dem Verständnis einer

13 Ahnliches gilt auch für einen weiteren ideengeschichtlichen »Klassiker«, der das rechts- intellektuelle Denken anhand der Biografien Paul de Lagardes, Julius Langbehns und Arthur Moeller van den Brucks zu entschlüsseln sucht: Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Neuausg., Stuttgart 2005 (zuerst 1963). Zu Weimars rechtsintellektuellen Kreisen sind die Studien mittlerweile Legion. Unter neueren Arbeiten sind besonders erwähnenswert: Claudia Kemper, Das »Gewissen« 1919-1925. Kommunikation und Vernetzung der Jungkonser- vativen, München 2011; Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalis- mus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989, 3. Aufl., Bonn 1996; siehe auch Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch. Hauptband und Ergänzungsband (mit Korrigenda) in einem Band, 4. Aufl., Darm- stadt 1994; Klemens von Klemperer, Konservative Bewegungen. Zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München/Wien 1962; Klaus Fritzsche, Politische Romantik und Gegenrevolution. Fluchtwege in der Krise der bürgerlichen Gesellschaft: Das Bei- spiel des ›Tat‹-Kreises, Frankfurt a. M. 1976; Jeffrey Herf, Reactionary Modernism. Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984; Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, 2. Aufl., Darmstadt 1995; Rolf- Peter Sieferle, Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen, Frankfurt a. M. 1995; Raimund von dem Bussche, Konservatismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen, Heidelberg 1998; Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen »Ring«- Kreises 1918-1933, Berlin 2000; Hans-Christof Kraus (Hrsg.), Konservative Zeitschrif- ten zwischen Kaiserreich und Diktatur. Fünf Fallstudien, Berlin 2003. 14 Vgl. Riccardo Bavaj, Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Bonn 2005; siehe auch unten den Forschungsstand. 15 Dies betont schon Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politi- schen Denkens im 20. Jahrhundert, München 1985 (zuerst 1982), S. 13. Jan-Werner Müller, European Intellectual History as Contemporary History, in: Journal of Contem- porary History, 46 (2011), S. 588 (Hervorhebung im Original), schreibt: »The point is not that there was no need for public justification before 1919 or so – of course there was. But in the twentieth century it had to become both more extensive and more ex- plicit.« Siehe speziell zu Weimar Burkhard Asmuss, Republik ohne Chance? Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik in der deutschen Tagespresse zwischen 1918

12 vermessung des themas politischen Kulturgeschichte und vor allem einer »intellectual history«, die den Gegensatz zwischen der Erörterung intellektueller Gipfelwanderungen und ge- sellschaftlicher Niederungen überwinden will und um die Kontextualisierung des politischen Denkens bemüht ist.16 Das Interesse gilt dabei den Intellektuel- len nicht nur als Ideenproduzenten, sondern auch und vorrangig als Ideenvermittlern/-verbreitern. Damit eng verbunden ist naturgemäß die Frage nach ihrer Positionierung im massenmedialen Feld.17 Erst jüngst hat das Verhältnis von Presse und Politik in der Weimarer Repu- blik wieder verstärkte Aufmerksamkeit in der historischen Forschung gefun- den.18 Dabei konnte am Beispiel der Berliner Tagespresse nachgewiesen werden, wie sehr diese auf die breitere Öffentlichkeit, aber auch und gerade auf politi- sche Positionen und Sprachen von Politikern19 einwirkte und bei ihnen die Grundsätze des Konflikts und der Kompromisslosigkeit im Meinungskampf we- sentlich zu verankern half. Aussagen über Medieneffekte müssen sich dabei an- gesichts fehlender quantitativ-repräsentativer Erhebungen auf Plausibilitätser- wägungen, die Erfassung von Meinungsführerimpulsen im Elitendiskurs und einzelner Zeitungen untereinander beschränken. So betrachtet dürfte allerdings

und 1923, Berlin/New York 1994; sowie die ältere Studie von Hellmut Diwald, Litera- tur und Zeitgeist in der Weimarer Republik, in: Hans-Joachim Schoeps (Hrsg.), Zeit- geist der Weimarer Republik, Stuttgart 1968, S. 203-260. 16 Vgl. Alexander Gallus, »Intellectual History« mit Intellektuellen und ohne sie. Facet- ten neuerer geistesgeschichtlicher Forschung, in: Historische Zeitschrift, Band 288 (2009), S. 139-150; Daniel Morat, Intellektuelle in Deutschland. Neue Literatur zur in- tellectual history des 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte, 41 (2001), S. 593- 607; ders., Intellektuelle und Intellektuellengeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia- Zeitgeschichte, 20.11.2011 (www.docupedia.de); Riccardo Bavaj, Intellectual History, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 13.9.2010 (www.docupedia.de); Hans Manfred Bock, Der Intellektuelle als Sozialfigur. Neuere vergleichende Forschungen zu ihren Formen, Funktionen und Wandlungen, in: Archiv für Sozialgeschichte, 51 (2011), S. 591-643. 17 Siehe zu neuen Trends der Medien- und politischen Kulturgeschichte: Wolfgang Hardtwig, Einleitung: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit, in: Ders. (Hrsg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918-1939, Göttingen 2005, S. 7-22; ders. (Hrsg.), Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933, München 2007; Axel Schildt, Das Jahrhundert der Massen- medien. Ansichten zu einer künftigen Geschichte der Öffentlichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft, 27 (2001), S. 177-206; Frank Bösch/Norbert Frei (Hrsg.), Medialisie- rung und Demokratie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006; Ute Daniel/Axel Schildt (Hrsg.), Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts, Köln/Weimar 2010. 18 Zum Gesamten Bernhard Fulda, Press and Politics in the Weimar Republic, Oxford 2009; Ute Daniel/Inge Marßolek/Wolfram Pyta (Hrsg.), Politische Kultur und Medi- enwirklichkeiten in den 1920er Jahren, München 2010. 19 Hierzu grundlegend: Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Re- publik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichs- tag, 2. Aufl., Düsseldorf 2005; vgl. auch schon Thomas Childers, The Social Language of Politics in . The Sociology of Political Discourse in the Weimar Republic, in: American Historical Review, 95 (1990), S. 331-358.

13 einleitung selbst der Beitrag relativ auflagenschwacher Intellektuellenblätter zur Formung von Leitthemen und -diskursen, wiewohl nicht präzise erfassbar, kaum gering zu schätzen sein. Die Weltbühne gilt dabei als das einflussreichste Publikationsorgan im links- intellektuellen Milieu während der Weimarer Periode. Ihre Auflage überstieg zwar nicht die Zahl von 16.000 Exemplaren, ihre Wirkung dürfte aber deutlich größer gewesen sein. »Was im Blatt stand«, schrieb Kurt Tucholsky selbstbewusst anlässlich des fünfundzwanzigjährigen Jubiläums der Weltbühne im September 1930, »das drang weit ins Land – totschweigen half nicht, kreischen half nicht, nach ›Motiven‹ suchen half nicht, denn es waren keine andern da, als nur eines: der niemals zu unterdrückende Drang, die Wahrheit zu sagen.« Als Protagonist der Weltbühne war Tucholsky von der publizistischen Meinungsführerschaft der Zeitschrift überzeugt. »Durch tausend Netzkanälchen«, schrieb er weiter, »lau- fen aus dieser Quelle Anregungen, Formulierungen, Weltbilder, Tendenzen und Willensströmungen ins Reich.« Schon heute gebe es »eine Reihe vernünftiger und mutiger Provinzredakteure«, die »nicht ohne eigenes Risiko die Bälle« auf- fingen und weitergäben, die von der Weltbühne aus geschleudert worden seien.20 Die Tagespresse und selbst Regionalzeitungen griffen Thesen der Weltbühne sowie Themen, die diese auf die Tagesordnung gesetzt hatte, auf. Sogar Berliner Abiturienten nahmen die Zeitschrift am Beginn der dreißiger Jahre aufmerksam zur Kenntnis. Nach Klaus-Peter Schulz, damals Schüler am Staatlichen Franzö- sischen Gymnasium und später Publizist und Politiker, waren »die drei erlauch- testen Autoren der ›Weltbühne‹, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky und Kurt Hiller, der ganzen Klasse ein Begriff«.21 Zudem trafen während jener Zeit in zahlreichen Städten wie Dresden, Hamburg, München oder Frankfurt am Main Leser der Zeitschrift regelmäßig zusammen, um deren aktuelle Ausgaben zu dis- kutieren. »Damals entstanden überall Leserzirkel der ausgezeichneten linksradi- kalen Berliner Zeitschrift Die Weltbühne, in denen sich sozusagen jeder Mensch, der auf geistige und politische Reputation aus war, informierte und bildete« – erinnerte sich der Münchner Schriftsteller Oskar Maria Graf.22 Auch Axel Egge- brecht sprach in seinen Memoiren von einer regelrechten Kettenreaktion, wel- che die von der Potsdamer Druckerei Edmund Stein ins gesamte Reich versandten »aufsässigen roten Hefte« auslösten: »Dort gingen sie von Hand zu Hand, in manchen Städten bildeten sich Lesergemeinschaften, so vervielfachte sich die Wirkung, zu der auch die Gegner beitrugen; sie nahmen den winzigen

20 Kurt Tucholsky, Fünfundzwanzig Jahre, in: Die Weltbühne vom 9. September 1930, S. 376, 380 f. Manches Mal resignierte er allerdings auch angesichts eines ihm zu gering erscheinenden politisch-publizistischen Einflusses. Vgl. Bavaj, Von links gegen Weimar (wie Anm. 14), S. 437. 21 Klaus-Peter Schulz, Authentische Spuren. Begegnungen mit Personen der Zeitge- schichte, Boppard a.Rh. 1993, S. 95. 22 Oskar Maria Graf, Gelächter von außen. Aus meinem Leben 1918-1933, München 1966 (zuerst 1946), S. 347. Erwähnung fanden die Leserzirkel regelmäßig am Ende der Welt- bühne-Hefte in der Rubrik »Hinweise der Redaktion«.

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Unruhestifter ernst, mehr als einmal wollten sie ihm mit Hilfe der Gerichte beikommen.«23 Radikale zeitgenössische Widersacher wie die jungkonservative Zeitschrift Der Ring nannten die Weltbühne ein Blatt intellektueller »Salonbol- schewisten«, das aber gefährlich sei, weil »das Gift, welches ihre Federn versprit- zen, besonders von der Jugend gierig aufgesogen wird«.24 Auch spätere Analysten wie Kommentatoren der Medien- und Geistesge- schichte der Weimarer Republik messen der Weltbühne einen hohen sowohl in- tellektuellen als auch publizistischen Rang bei – und das ungeachtet normativer Prämissen. So erkennen zwei ihrer Kritiker in der Zeitschrift »das Sprachrohr der linken Intelligenz«25 oder sogar die »typischste periodische Hervorbringung«26 in der Weimarer Republik überhaupt, während sie zwei ihrer Fürsprecher das »be- deutendste linksbürgerliche Forum«27 oder auch »das Blatt der intellektuellen linken Außenseiter«28 in jener Zeit nennen. Über ihren herausgehobenen Rang herrscht Einigkeit, ansonsten bietet die Weltbühne Stoff für kontroverse Würdi- gungen. Axel Eggebrecht kommentierte dies in seinen Erinnerungen Der halbe Weg Mitte der siebziger Jahre mit den Worten: »Nach Jahrzehnten ruft ihr Name Groll bei den einen, freudige Sympathie bei den anderen hervor; erstaunlich le- bendige Nachwirkungen eines aktuellen Blattes.«29 Die Geister scheiden sich zuvorderst an der Frage, ob die Weltbühne der Wei- marer Republik eher geschadet oder genützt hat. Seit Jahren hält eine, wenn auch kaum noch wahrgenommene Kontroverse über die Verantwortung der von der Weltbühne repräsentierten Linksintellektuellen für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie an. Zu den kritischen Stimmen zählte Rudolf Augstein, der die nach Jacobsohns Tod im Jahr 1926 von Tucholsky und Carl von Os- sietzky herausgegebene Wochenschrift im Spiegel einmal als »Totengräber« der

23 Axel Eggebrecht, Der halbe Weg. Zwischenbilanz einer Epoche, Reinbek bei Hamburg 1981 (zuerst 1975), S. 223. In einem Brief an Marguerite Schramm vom 19. November 1977, in: Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky (SUB) Hamburg, Nachlass Axel Eggebrecht, NE : B 365 : 2, Bl. 5, meinte Eggebrecht, dass die Weltbühne einen weit größeren als nur einen elitären intellektuellen Leserkreis besessen habe. »Durch die überall in Deutschland bestehenden Leserkreise multiplizierte sich aber die Wirkung spürbar. Und so wurden auch Mittelstand und Arbeiter erreicht.« 24 Kulturbolschewisten, in: Der Ring vom 30. Oktober 1931, S. 830. 25 Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930, 2. Aufl., Berlin/Bonn 1988, S. 721 (Hervorhe- bung im Original); vgl. auch ders., Der lange Weg nach Westen. Band 1: Deutsche Ge- schichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000, S. 467. 26 Rudolf Augstein, Eine Republik und ihre Zeitschrift, in: Der Spiegel vom 16. Oktober 1978, S. 239. 27 Dieter Mayer, Die Weltbühne, ein Forum linksbürgerlichen Denkens, in: literatur für leser (1991), S. 102. 28 Elke Suhr, Carl von Ossietzky. Pazifist, Republikaner und Widerstandskämpfer, Mün- chen 1989, S. 128 (Hervorhebung im Original). 29 Eggebrecht, Der halbe Weg (wie Anm. 23), S. 222.

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Republik bezeichnete.30 Auch Hans-Ulrich Wehler beklagte in einem polemi- schen Essay am Ende der siebziger Jahre wie zwei Jahrzehnte später in seiner Ge- sellschaftsgeschichte, zunehmend gerate in Vergessenheit, wie sehr die Publizisten der Weltbühne zur Aushöhlung und Auflösung der Weimarer Republik beigetra- gen hätten. Wehler geht scharf mit der »Mythologie« ins Gericht, »die inzwischen die Weltbühne und die Symbolfigur v. Ossietzkys umgibt und in gewissen Kreisen als historische Realität missverstanden wird«. Darüber drohe »schon seit gerau- mer Zeit die Einsicht in die verhängnisvolle Rolle, die v. Ossietzky in den Schlussjahren der ungeliebten ersten Republik auch gespielt hat, verloren zu gehen«.31 Die Kritik der Weltbühne am politischen System Weimars von links sei kompromisslos gewesen und habe selbst der schon schwer angeschlagenen Re- publik kein Pardon gegeben, ja zu ihrer Aushöhlung und Auflösung einen we- sentlichen Beitrag geleistet. Ohne Rücksichtnahme habe sie wiederholt die »Grenze zur prinzipiellen Staatsfeindschaft«32 überschritten. Forderungen der Weltbühne in Weimars Endphase nach einer Einheitsfront aus KPD und SPD begegnet Wehler mit Unverständnis. Er erkennt in der »Gefühlsduseligkeit der Volksfrontromantik« einen »gravierenden Realitätsverlust«,33 und auch Augstein sieht darin ein »Wunsch-Phantom«.34 Schließlich sei ein Bündnis zwischen den demokratisch-republikanischen Sozialdemokraten und den totalitär-stalinisti- schen Kommunisten von Beginn an illusionär gewesen. Der Politikwissenschaftler Gerhard Kraiker hingegen belegt den Historiker Hans-Ulrich Wehler mit dem Vorwurf der Fehldeutung.35 Deren Korrektur er- scheint ihm umso wichtiger, als der Kritiker selbst der Linken zuzurechnen und als Geschichtswissenschaftler ebenso einflussreich wie ernst zu nehmen sei. Für Kraiker gaben die durch die Weltbühne repräsentierten Linksintellektuellen nie- mals die Verfassungsgrundsätze der Weimarer Republik preis. Zwei Grundideen

30 Augstein, Eine Republik und ihre Zeitschrift (wie Anm. 26). 31 Hans-Ulrich Wehler, Leopold Schwarzschild contra Carl v. Ossietzky. Politische Ver- nunft für die Verteidigung der Republik gegen ultralinke »System«-Kritik und Volks- front-Illusionen, in: Ders., Preußen ist wieder chic … Politik und Polemik in zwanzig Essays, Frankfurt a. M. 1983, S. 78 (Hervorhebung im Original); vgl. ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 479. 32 Wehler, Leopold Schwarzschild contra Carl v. Ossietzky (wie Anm. 31), S. 78. 33 Ebd. 34 Augstein, Eine Republik und ihre Zeitschrift (wie Anm. 26), S. 249. Scharfe Kritik an von Ossietzky und der Weltbühne übte Augstein bereits einige Zeit zuvor. Allerdings schrieb er damals noch: »Man muß einer dieser Kokett-Schreiber oder recht ahnungs- los sein, will man diesen Mann [von Ossietzky] einen Totengräber des Staates von Wei- mar nennen.« Ders., Die Republik unterm Beil, in: Rolf Becker (Hrsg.), Literatur im Spiegel, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 31. 35 Gerhard Kraiker, Eine Fehldeutung. Zu Hans-Ulrich Wehlers Kritik an Carl von Os- sietzky, in: Helmut Reinhardt (Hrsg.), Nachdenken über Ossietzky. Aufsätze und Gra- phik, Berlin 1989, S. 223-231.

16 vermessung des themas standen für die linken Publizisten unverbrüchlich fest: die Idee des Friedens und die Idee einer demokratisch-sozialen Republik, die freilich für die meisten Autoren der Weltbühne nicht mit der real existierenden politischen Ordnung der Weimarer Republik übereinstimmte, sondern als zu erreichendes Ziel zu verste- hen war. Wenn Carl von Ossietzky beispielsweise Kritik an Entwicklungen und Strukturen der Weimarer Republik übte und nicht zuletzt gegen das Präsidial- system publizistisch kämpfte, so hatte dies nichts mit prinzipieller Staatsfeind- schaft zu tun, sondern zielte vielmehr, wie Kraiker argumentiert, auf die »Ret- tung der Überreste an demokratischer Staatlichkeit«.36 Die Weltbühne habe auch nicht in »Volksfrontromantik« geschwelgt. Vielmehr hätten Leitartikler wie Os- sietzky einen Linksblock republikanischer Solidarität angestrebt und einem »De- fensivbündnis der beiden Arbeiterparteien«37 mit vergleichsweise nüchternen Erwartungen entgegengesehen. Der Journalist Heribert Prantl – gleichsam als Kontrapunkt zu Rudolf Augstein – nimmt die Weltbühne ebenfalls gegen die nachträglichen »Rüffel und Rügen« in Schutz. Sein Fazit: »Die ›Weltbühne‹ ge- hört dick eingezeichnet auf der Landkarte der Orte der deutschen Demokratie; und der Name ›Weltbühne‹ gehört dort wiederum zu denen, die groß umrandet werden müssen […].«38 Damit sind die Pole der Auseinandersetzung über eine politische Vermessung des linksintellektuellen Milieus markiert: die Weltbühne als staats- und repub- likfeindlich hier, als pro-republikanisch und demokratisch dort. Den starken Thesen liegt dabei weder eine systematische, begrifflich abgesicherte noch eine quellennahe Analyse zugrunde. Auch lassen sie keinen Raum für Grautöne, Am- bivalenzen und Inkongruenzen. Diese sind allein wegen der Vielfältigkeit der Weltbühne-Autoren anzunehmen, deren Denken verschiedenen Linksströmun- gen und intellektuellen Biografien entsprang. Zusammen repräsentierten sie so etwas wie die »außerparlamentarische linke Opposition«39 während der Weima- rer Republik. Obwohl Widerspruch und Polemik das Verhältnis der Weltbühne- Mitarbeiter untereinander prägten und sie auf »keinen Nenner« zu bringen wa- ren, empfanden sie sich als eine »Gemeinschaft«. »[…] wir hielten zusammen«, erinnerte sich Axel Eggebrecht an diese erstaunliche, nicht leicht erklärbare

36 Ebd., S. 227. 37 Ebd., S. 229. 38 Heribert Prantl, Vorwort, in: Friedhelm Greis/Stefanie Oswalt (Hrsg.), Aus Teutsch- land Deutschland machen. Ein politisches Lesebuch zur »Weltbühne«, Berlin 2008, S. 9; ähnlich auch Fritz J. Raddatz, Es war und ist der deutsche Hass. Sorgen sich die Intellektuellen wirklich um den Erhalt der Demokratie? In der Weimarer Republik ta- ten sie es. Eine Mahnung, in: Die Welt vom 7. Januar 2012. In unmittelbarer, polemisch gehaltener Reaktion auf Augstein siehe Hermann L. Gremliza, Augstein contra Oss. Endlich gibt es einen Neudruck der »Weltbühne« (Jahrgänge 1918 bis 1933). Und wie- der haben die Liberalen ihre Schwierigkeiten damit, in: konkret, 11/1978, S. 36 f., vor- handen in: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (SBB), Handschrif- tenabteilung, Nachlass Weltbühne-Archiv, Kasten 20, Mappe I, 12, Bl. 53 f. 39 Werner Becker, Die Rolle der liberalen Presse, in: Werner E. Mosse (Hrsg.), Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923. Ein Sammelband, Tübingen 1971, S. 104.

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­Kohäsionskraft, »obwohl oder gerade weil es kein Programm, keine vorgeschrie- bene Linie gab«.40 Die Weltbühne, ihre Autoren und Redakteure motivieren nach wie vor zu po- larisierten Urteilen, und das durch sie repräsentierte politische Denken während der Weimarer Periode belässt noch große Wissenslücken. Es ist etwas dran an der Feststellung, dass die Weltbühne bis heute »viel genannt und wenig gekannt« sei.41 Einen kompletten Blindfleck bildet das politisch-publizistische Engage- ment von Weltbühne-Protagonisten nach 1945.42 Zwar erlebten die Herausgeber , Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky diese Zeit nicht, andere Stammautoren und Redakteure des »Blättchens«, wie der Begründer der Weltbühne Jacobsohn sie einst liebevoll nannte, entfalteten in der Nachkriegszeit aber bis weit in die siebziger Jahre hinein mit mehr oder weniger großer Reso- nanz eine beträchtliche Tätigkeit im sich neu strukturierenden massenmedialen Feld. Ein Grund für den Mangel an einer zäsurenübergreifenden, den Zusammen- hang von Lebens- und Zeitenwenden berücksichtigenden Geschichte43 dieser Linksintellektuellen dürfte mit der vorrangigen Erklärungsbedürftigkeit der na- tionalsozialistischen »Machtergreifung« zu tun haben. Im Angesicht der Zäsur von 1933 konzentrierte sich die historische Forschung lange Zeit verständlicher- weise auf die Analyse der Beziehung oder auch Komplizenschaft zwischen »Kon- servativer Revolution« und Nationalsozialismus,44 um sich dann mit nochma­ liger Verzögerung der Frage nach ideeller und personeller Kontinuität nach 1945 zuzuwenden. Und selbst hier besteht noch viel Forschungsbedarf, obgleich in den letzten Jahren manch gewichtiger Fortschritt zu verzeichnen war. So fanden Fragen der Persistenz einer konservativen Kulturkritik an den Beispielen der Journalisten Karl Korn und Peter de Mendelssohn ebenso intensive Erörterung wie die rechtsintellektuelle Gedankenwelt sowohl Heideggers als auch der Jün- ger-Brüder zwischen Weimar und Bonn. Carl Schmitts intellektuelle Ausstrah- lungskraft über die Zeiten hinweg ist wiederholt das Thema grundlegender Stu- dien geworden, und die Nachgeschichte des George-Kreises hat ein präzises

40 Eggebrecht, Der halbe Weg (wie Anm. 23), S. 223. 41 Willi Winkler, Jahre früher Leidenschaft. Die »Weltbühne« war mutig, als es das Le- ben kosten konnte – ein Buch erinnert an den streitbaren Journalismus, in: Süddeut- sche Zeitung vom 5. Juli 2008. 42 Siehe dazu unten den Forschungsstand. 43 Vgl. grundsätzlich Volker Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Poli- tiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, München 2007; Dirk van Laak, Zur Soziologie der geistigen Umorientierung. Neuere Literatur zur intellektuellen Verarbei- tung zeitgeschichtlicher Zäsuren, in: Neue Politische Literatur, 47 (2002), S. 422-449; auch Karl Dietrich Bracher, 1918 – 1945 – 1989: Umgang mit Zeitbrüchen, in: Ders., Geschichte als Erfahrung. Betrachtungen zum 20. Jahrhundert, Stuttgart/München 2001, S. 132-150. 44 Vgl. dazu differenziert Frank-Lothar Kroll, Konservative Revolution und National- sozialismus. Aspekte und Perspektiven ihrer Erforschung, in: Kirchliche Zeitgeschichte, 11 (1998), S. 339-354.

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Porträt erfahren.45 Anders als im Falle der Rechtsintellektuellen fehlen gründ­ liche wissenschaftliche Studien zu (Dis-)Kontinuität und Metamorphosen des politischen Denkens und der intellektuellen Biografien für das linke Milieu fast vollständig.46 Zu den Redakteuren oder Stammautoren der Weltbühne, die noch nach 1945 eine politisch-publizistische Rolle spielten oder dies zumindest beanspruchten, gehören die folgenden für eine nähere Erörterung ausgewählten vier Personen: • Axel Eggebrecht (1899-1991) kam als junger Autor zur Weltbühne, schrieb manche Filmkritik, bezog auf ihren Seiten aber auch wiederholt dezidiert poli- tisch Stellung. Das »Dritte Reich« überwinterte er gewissermaßen als Drehbuch- autor für Unterhaltungsfilme. Nach Kriegsende betätigte er sich als Mitheraus- geber der Nordwestdeutschen Hefte, half den »Nordwestdeutschen Rundfunk« aufzubauen und gehörte bis in die siebziger Jahre hinein zu den bekanntesten Radiokommentatoren und Journalisten der Bundesrepublik Deutschland. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung charakterisierte ihn im Nachruf als linksliberalen, streitbaren, ewig-jugendlichen Publizisten und »anständige[n] Deutsche[n]«.47 Die Frankfurter Rundschau rechnete Eggebrecht einige Jahre zuvor zu der »bei uns seltenen Spezies des couragierten einzelgängerischen Radikal-Demokraten«.48

45 Marcus M. Payk, Der Geist der Demokratie. Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn, Mün- chen 2008; Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920-1960, Göttingen 2007; Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, 2. Aufl., Berlin 2002; Jan- Werner Müller, Ein gefährlicher Geist. Carl Schmitts Wirkung in Europa, Darmstadt 2007; Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009; vgl. zudem exemplarisch Axel Schildt, Deutschlands Platz in einem »christlichen Abendland«. Konservative Publizisten aus dem Tat-Kreis in der Kriegs- und Nach- kriegszeit, in: Thomas Koebner/Gert Sautermeister/Sigrid Schneider (Hrsg.), Deutsch- land nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939-1949, Op­ laden 1987, S. 344-369; Alexander Gallus, Von der »Konservativen Revolution« zur westdeutschen Demokratie. Rudolf Pechels »Deutsche Rundschau« und die Wandlun- gen des Konservatismus (1919-1961), in: Tilman Mayer (Hrsg.), Medienmacht und Öf- fentlichkeit in der Ära Adenauer, Bonn 2009, S. 62-84. 46 Vgl. nun allerdings in dieser Perspektive manche Einzelstudie in: Alexander Gallus/ Axel Schildt (Hrsg.), Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und in- tellektuelle Positionen um 1950 und um 1930, Göttingen 2011; siehe auch Michel Grune­wald (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock, Das linke Intellek- tuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890-1960), Frankfurt a. M. 2002. Die darin versammelten Aufsätze verharren indes ganz überwiegend in den politischen Epochengrenzen. 47 Jochen Hieber, Weltkrieg, Weltbühne, Wiener Blut. Zum Tode des Publizisten und Schriftstellers Axel Eggebrecht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Juli 1991. 48 So in einer redaktionellen Einleitung zu dem Beitrag von Eggebrechts Rundfunk- Schüler Hanjo Kesting, Die Pflicht, aufrecht zu stehen. Laudatio auf Axel Eggebrecht, in: Frankfurter Rundschau vom 7. Januar 1984.

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• Kurt Hiller (1885-1972) flüchtete vor den Nationalsozialisten nach Prag, dann nach London. Die neuen Staatswesen in Bundesrepublik und DDR beob- achtete er zunächst von seinem britischen Exil aus, bevor er 1955 nach (West-) Deutschland zurückkehrte und u. a. meinungsbildende Artikel in der Zeitschrift konkret veröffentlichte, die ihr Herausgeber Klaus Rainer Röhl gerne in die Tra- dition der alten Weltbühne stellte. Der Spiegel sollte Hiller einmal zum »bedeu- tendsten Hitz- und Trotzkopf der deutschen Linken« küren.49 Die Süddeutsche Zeitung würdigte ihn anlässlich seines 125. Geburtstages als »großen Freidenker« und »Wortführer der Weimarer Republik«.50 • William S. Schlamm (1904-1978) vollzog abenteuerlich erscheinende Wen- dungen vom Kommunisten und späteren Weltbühne-Redakteur (in Wien und Prag) hin zu einem McCarthy-Konservativen im amerikanischen Exil. Ende der fünfziger Jahre nach Europa zurückgekehrt, sollte er zum Starkolumnisten erst des Stern und dann der Welt am Sonntag avancieren, bevor der Radikalkonser- vative in den siebziger Jahren an öffentlichem Terrain verlor und mit der Zeit- schrift Zeitbühne an die Weltbühne anknüpfen wollte – freilich unter politisch umgekehrten Vorzeichen. Manchem Kritiker stieß diese Inanspruchnahme von Tradition übel auf.51 • Peter Alfons Steiniger (1904-1980) stellt den einzigen späteren ostdeutschen Fall dar, der hier Berücksichtigung findet. Für die Weimarer Weltbühne hatte er eine Reihe politisch meinungsbildender Artikel verfasst. Das NS-Regime über- lebte der als »Mischling« stigmatisierte Steiniger trotz ständiger Gefährdung, be- vor er später in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR Karriere machte. Insbesondere in den Übergangsjahren von 1946 bis 1949 wirkte er nicht zuletzt als Autor des Aufbau im publizistisch-intellektuellen Feld. Danach kon- zentrierte sich der parteitreue Marxist-Leninist, anfangs auch Stalinist, auf sein Amt als Professor für Völkerrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin und diverse Funktionärsposten. In einem zwanzigseitigen handschriftlichen Lebens- lauf vom Mai 1950 – abgelegt in seiner Kaderakte – kam Steiniger gleichsam sei- ner Pflicht zur Selbstkritik nach und distanzierte sich im Rückblick von einem »intellektuellen Analphabetismus«, der ihn wie die anderen Weltbühne-Autoren in der Weimarer Republik gekennzeichnet habe. Er wie sie seien »ungebildete wohlmeinende Utopisten, heruntergekommene geistige Kleinbürger« gewesen, die die »Grundfragen der Gesellschaft« nicht erkannt hätten.52

49 So in einer Kritik seiner Redensammlung »Ratioaktiv« (Wiesbaden 1966), in: Der Spie- gel vom 6. Februar 1967, S. 99. 50 Willi Winkler, Wortführer der Weimarer Republik, in: Süddeutsche Zeitung vom 13. August 2010. 51 Vgl. Henryk M. Broder, William S. Schlamm ist wieder da. Die Ein-Mann-Zeitschrift »Zeitbühne«, in: Frankfurter Rundschau vom 1. Juli 1972. 52 Peter Alfons Steiniger, Lebenslauf vom 11. Mai 1950, in: Bundesarchiv – Stiftung Ar- chiv der Parteien und Massenorganisationen der Deutschen Demokratischen Republik (BArch-SAPMO), DY 30/IV/2/11/v. 2831.

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Diese Liste beansprucht keine Vollständigkeit und ließe sich leicht erweitern. Ergänzend zu nennen wären etwa Erich Dombrowski (1882-1972), Erich Kästner (1899-1974), Walther Karsch (1906-1975), Heinz Pol (eigentlich: Heinz Pollak, 1901-1972) und Friedrich Sieburg (1893-1964). Dombrowski, der unter dem Pseudonym Johannes Fischart eine Reihe Politikerporträts zur Weltbühne beige- steuert, sich vor allem aber als leitender Innenpolitik-Redakteur des Berliner ­Tageblatts einen Namen gemacht hatte, zählte zu den Mitbegründern und dem ersten Herausgeberkollegium der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Kästner avan- cierte nach einer Zwischenetappe als Feuilletonchef bei der amerikanischen Neuen Zeitung in München zu einem der bekanntesten deutschen Schriftsteller von Romanen, Kinder- und Drehbüchern. Zwischen 1951 und 1962 fungierte er zudem als Präsident des westdeutschen P.E.N.-Zentrums. Karsch, zwischen 1930 und 1933 Redakteur der Weltbühne, wurde nach 1945 Mitherausgeber des Ber­ liner Tagesspiegel und machte sich als Theater- und Literaturkenner einen Na- men. Pol, neben seiner Tätigkeit für die Weltbühne über mehrere Jahre hinweg Redakteur der Vossischen Zeitung, emigrierte später in die Vereinigten Staaten. Er siedelte nicht nach Deutschland zurück, arbeitete freilich als USA-Korres- pondent u. a. für die Frankfurter Rundschau. Sieburg trug gelegentlich Artikel zur Weltbühne bei, wirkte aber in erster Linie als Paris- und London-Korrespon- dent der Frankfurter Zeitung, bevor er sich ab Ende der Weimarer Republik jungkonservativen Zirkeln um Hans Zehrer annäherte. Nach dem Krieg auf- grund seiner als zweifelhaft angesehenen Rolle während des Nationalsozialismus bis 1948 von der französischen Besatzungsmacht mit einem Publikationsverbot belegt, stieg der Kulturkonservative in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zu einem der bekanntesten Feuilletonisten und Literaturkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf. Gleichsam den Aufnahmetest bestanden Eggebrecht, Hiller, Schlamm und Steiniger aufgrund der folgenden sechs Gesichtspunkte, die zusammengenom- men zu einer Entscheidung führten: Erstens fiel die Wahl auf ehemalige Stamm- autoren oder Redaktionsmitglieder, die auch noch nach 1945 im politischen/pu- blizistischen Feld tätig waren. Zweitens sollten sie über die Zeiten hinweg verschiedene Strömungen innerhalb des (links-)intellektuellen Spektrums reprä- sentieren. Drittens wurden Beispiele der »inneren« wie der »äußeren« Emigra- tion ebenso wie nach 1945 aus West und – in einem Falle – auch aus Ost berück- sichtigt. Viertens kamen nur solche Autoren in die engere Wahl, die sich wenigstens für eine gewisse Zeit zuvorderst über die Zugehörigkeit zur Welt- bühne definierten und so auch wahrgenommen wurden. Insofern fielen etwa Kästner und Sieburg durch das Raster. Fünftens gerieten nur diejenigen in den Fokus, die sich während ihrer gesamten Schaffensperiode als genuin politische Publizisten oder Akteure verstanden. Dies schloss beispielsweise Karsch aus, der sich seit den späten vierziger Jahren ganz auf das Feld der Theater- und Litera- turkritik zurückzog. Sechstens schließlich war dem Einspruchsrecht der Quel- lenlage Rechnung zu tragen, weswegen insbesondere Dombrowski unberück- sichtigt bleiben musste.

21 einleitung

Mit Ausnahme Steinigers, der sich in der DDR vom Habitus des »bürger­ lichen Intellektuellen« verabschiedete oder verabschieden musste, trauerten die ausgewählten Weltbühne-Leute wiederholt und deutlich vernehmbar der alten Weimarer Zeitschrift nach, die ihnen nicht nur ein Forum für ihre intellektuell- publizistischen Bestrebungen, sondern auch eine geistige Heimat geboten hatte. In ihr formten sich – freilich nicht komplett gleichgerichtet – politische Einstel- lungen, Verhaltensweisen und habituelle Muster, durch die Tätigkeit für sie wuchs das Gefühl, einer auserlesenen, elitären Gruppe anzugehören: einer Avantgarde mit Zukunftspotential. Das Heimatgefühl wuchs mit dem konkre- ten Verlust des Ortes, einer durch die Weltbühne repräsentierten geistigen Landschaft,53 noch an. Bernhard Schlink definierte Heimat einmal als »Nichtort«, als Utopie, die am intensivsten durch ihr Fehlen – im Heimweh – erlebt werde: »Denn die Erinnerungen und Sehnsüchte machen die Orte zur Heimat.«54 Wer die nicht allzu weit auseinanderliegenden Lebensdaten der vier ausge- wählten Publizisten berücksichtigt, ist versucht, daraus eine synchrone Erlebnis- gemeinschaft – eine »Generation Weltbühne« – herauszulesen, die durch die identitätsstiftende Rolle dieser Zeitschrift politisch-intellektuell sozialisiert wur- de.55 Was die Vertreter dieser mit dem Namen der Zeitschrift verbundenen, ja gefühlten politisch-kulturellen Gemeinschaft oder »imagined community«56 ge- kennzeichnet hat, will diese Studie erörtern. Die ausgewählten Repräsentanten dienen gleichsam als Sonde, um die politischen Biografien und Ideenwelten je- ner Intellektuellen, die sich – abgesehen von ihrer Affiliation zur Weltbühne – einer »heimatlosen Linken« (später im Falle Schlamms auch einer »heimatlosen Rechten«) zurechneten, näher auszuleuchten. Diese »heimatlose Linke« ist ein stehender Begriff, ohne dass ihre Charakteristika bislang genauer erforscht wor- den wären. Was waren die Einstellungen und Werthaltungen – insbesondere mit Blick auf das Staats- und Demokratieverständnis – ihrer Vertreter, und wie

53 Vgl. in diesem Sinne den Heimatbegriff bei Jan Badewien (Hrsg.), Mutmaßungen über Uwe Johnson. Heimat als geistige Landschaft, Karlsruhe 2005. 54 Bernhard Schlink, Heimat als Utopie, Frankfurt a. M. 2000, S. 32. 55 Zum aktuellen Stand der seit den ersten Impulsen durch Karl Mannheim stark expan- dierten Forschungen zu »Generation« und »Generationalität« vgl. nur Jürgen Reulecke (Hrsg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003; Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hrsg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaft­ lichen Grundbegriffs, Hamburg 2005; Bernd Weisbrod (Hrsg.), Historische Beiträge zur Generationsforschung, Göttingen 2009; Beate Fietze, Historische Generationen. Über einen sozialen Mechanismus kulturellen Wandels und kollektiver Kreativität, Bielefeld 2009; Ulrike Jureit, Generation, Generationalität, Generationenforschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010 (www.docupedia.de). 56 Siehe Mark Roseman, Generationen als »Imagined Communities«. Mythen, generati- onelle Identitäten und Generationenkonflikte in Deutschland vom 18. bis zum 20. Jahr- hundert, in: Jureit/Wildt (Hrsg.), Generationen (wie Anm. 55), S. 180-199.

22 gedankenwelten und wirkungskontexte

­positionierten sich diese in einer je gewandelten politischen Öffentlichkeit in dem an Zwischenwelten und Übergangszeiten57 so reichen 20. Jahrhundert?

Gedankenwelten und Wirkungskontexte

Welcher Staat, welche Demokratie (ideelle Dimension)?

Die Leitfrage richtet sich zunächst an den Wahrnehmungs- und Denkweisen aus, vor allem den politischen Einstellungen und Ideenwelten der vier Protago- nisten. Im Mittelpunkt steht dabei insbesondere das Staats- und Demokratie- verständnis der früheren Stammautoren der Weltbühne zwischen den Zeiten. Wie bewerteten sie das politische System Weimars, wie dasjenige der Bundesre- publik oder der DDR? Zum politischen System zählt neben den verfassungs- rechtlichen Grundlagen wesentlich das Regierungssystem im engeren Sinne: Wie beurteilten sie Regierung, Staatsoberhaupt und Parlament? Darüber hinaus gilt es, ihre Einstellungen zum Parteiensystem und zu den einzelnen Parteien zu untersuchen. Für die Weimarer Zeit warf Anton Erkelenz, linksliberaler Politiker der Deut- schen Demokratischen Partei und Mitherausgeber von Friedrich Naumanns Zeitschrift Die Hilfe, den linksintellektuellen Streitern der Zeitschrift beispiels- weise vor: »Was für Männer in Deutschland auch immer zu irgendeiner Zeit herrschen mögen, in kürzester Zeit werden sie insgesamt, ohne Unterschied der Partei, von der Weltbühne so madig gemacht, dass kein Hund ein Stück Brot von ihnen nimmt.«58 Fiel die Würdigung von Regierung und Parteien tatsächlich un- differenziert aus? Oder variierten die Urteile über Repräsentanten des linken und des rechten Lagers, über Vertreter der Mitte und der politischen Ränder? Bei der Beantwortung dieser Fragen kommen die verschiedenen Ebenen der ­Politikbetrachtung zur Geltung: Welche grundsätzlichen Aussagen wurden über politische Institutionen und politische Strukturen (polity), welche über einzelne politische Prozesse (politics) und Themenfelder (policy) getroffen. Der Blick sollte eine weitere Dimension des Politischen einbeziehen, nämlich die perso- nelle, den »politician«.59 Wie beurteilten die Weltbühne-Kämpen einzelne poli- tische Akteure?

57 Eric Hobsbawm, Zwischenwelten und Übergangszeiten. Interventionen und Wortmel- dungen, Köln 2009; vgl. auch den anregenden Essay-Band von Tony Judt, Das verges- sene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, München 2010. 58 Anton Erkelenz, zitiert nach: Augstein, Die Republik unterm Beil (wie Anm. 34), S. 29. 59 Grundsätzlich für eine Erweiterung der Dimensionen-Trias plädiert Paul-Ludwig Weinacht, Die politische Person und das Persönliche an der Politik, in: Karl Graf ­Ballestrem u. a. (Hrsg.), Sozialethik und politische Bildung. Festschrift für Bernhard Sutor zum 65. Geburtstag, Paderborn u. a. 1995, S. 55-75. Unerlässlich ist diese Katego- rie auch für ein »mikropolitisches« Verständnis von Politik als einem Betrieb »von

23 einleitung

Um das Bild des politischen Systems im Spiegel ihrer intellektuell-politischen Stellungnahmen zu vervollständigen, muss zudem die Haltung zu Wahlen und Plebisziten, ebenso zu den verschiedenen ideologischen Strömungen (vom Kom- munismus und Sozialismus über den Liberalismus und Konservatismus bis zum Faschismus und Nationalsozialismus) und überhaupt zu Intellektuellen, die an- dere Auffassungen vertraten und verbreiteten, in die Betrachtung einbezogen werden. Die empirisch-analytische Studie, die im Wesentlichen den Prinzipien einer hermeneutischen Quellenanalyse folgt und einen akteurszentrierten Ansatz wählt, berücksichtigt mithin implizit die Angebote einer typologisierenden Strukturierung der vergleichenden politischen Systemlehre. Die Arbeit will nicht nur das politische System Weimars, der Bundesrepublik oder auch der DDR im Spiegel intellektueller Kritik oder Befürwortung erfassen, sondern zu- gleich auch Antworten auf die grundsätzliche Frage nach dem Staats- und De- mokratieverständnis mit einschließen und dieses – so sehr das Selbstverständnis der Akteure im Mittelpunkt steht – unter normativen Gesichtspunkten würdi- gen. Zu diesem Zweck erscheint es unerlässlich, einen adäquaten Wertmaßstab zu formulieren. Um das demokratische vom antidemokratischen Denken zu unterscheiden, schlug Sontheimer in seiner ganz auf Weimar fokussierten Studie als Kriterium die Orientierung an den Normen der im August 1919 in Kraft gesetzten Reichs- verfassung vor.60 Dieser formale Maßstab genießt den Vorzug der Klarheit und Bestimmtheit – zumindest auf den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen weist der Ansatz jedoch gleich mehrere Schwächen auf. Erstens überblendet er die he- terogene Demokratiekonzeption der Weimarer Verfassungsordnung, die durch das Neben- und Gegeneinander von parlamentarischen, präsidialen und ple­ biszitären Elementen geprägt ist, wobei gerade der letzte Aspekt häufig über­ bewertet wird. Zweitens liegt bei diesem Vorgehen der Schwerpunkt auf der Verfassungstheorie, weniger – das ist für eine politikwissenschaftliche Studie be- merkenswert – auf der Verfassungswirklichkeit. Schließlich können Ist- und Soll-Zustand einer Regierungsform stark von- einander abweichen. Kritik, die sich nur gegen konkrete Missstände einer mög- licherweise von der Verfassungstheorie abweichenden Verfassungswirklichkeit richtet, entspricht nicht von vornherein einer prinzipiellen Demokratie- oder Republikfeindschaft. Die Frage ist durchaus berechtigt, wie demokratisch die Weimarer Republik zu welchem Zeitpunkt war. Karl Dietrich Bracher hat schon früh auf die Kompromissstruktur des politischen Systems Weimars und ins­

­vernetzten Menschen mit partikularen Interessen«. So Wolfgang Reinhard, Die Nase der Kleopatra. Geschichte im Lichte mikropolitischer Forschung. Ein Versuch, in: His- torische Zeitschrift, Band 293 (2011), S. 640 f.; vgl. allgemein Alexander Gallus, Politik- wissenschaft (und Zeitgeschichte), in: Christian Klein (Hrsg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart/Weimar 2009, S. 382-387. 60 Vgl. Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik (wie Anm. 12), S. 16.

24 gedankenwelten und wirkungskontexte besondere auf die neben dem demokratischen Parlamentarismus existierende autoritäre Reserveverfassung des Präsidentialismus hingewiesen.61 Andere Histo- riker interpretieren dieses Regierungssystem sogar als ein »halb parlamentari- sches, halb autoritäres Übergangssystem«.62 Es ist mindestens fragwürdig, die Weimarer Verfassungsordnung – in Theorie und Praxis – als alleinigen Maßstab für einen demokratischen Verfassungsstaat wie für eine funktionierende parla- mentarische Demokratie festzulegen. Ungeachtet der Einwände gegen Sontheimers Maßstabsetzung üben auch an- dere Politikwissenschaftler und Historiker Kritik an einer rein empirisch-de- skriptiven, gleichsam »wertfreien« Erfassung des Staats- und Demokratiever- ständnisses. So kennzeichnet es für Eberhard Kolb nicht unerhebliche Teile der Historiografie, »dass die antidemokratische und antiparlamentarische Grund- einstellung großer Teile des deutschen Bürgertums während der Weimarer Zeit zwar nicht offen gutgeheißen, aber auch nicht streng kritisiert, sondern – unter starker Strapazierung der Verstehens-Kategorie – mit außerordentlicher Milde beurteilt wird, was ja doch auf eine verdeckte Apologie antidemokratischer und autoritärer Tendenzen in der Weimarer Republik hinausläuft«. Eine normative Ausrichtung an der parlamentarischen Demokratie hält Kolb indes für den »sachlich angemessenen und legitimen Maßstab zur Bewertung von Verhaltens- weisen und Aktivitäten der politischen Kräfte in Weimar-Deutschland«.63 Anders als Sontheimer, der sich für die Weimarer Reichsverfassung, und Kolb, der sich für die parlamentarische Demokratie als Messlatte ausspricht, will diese nicht bei der Weimarer Republik verharrende, verschiedene Systemwechsel umgreifende Studie neben der konkreten Würdigung der einzelnen politischen Systeme in ihrer tatsächlichen Ausprägung (Verfassungswirklichkeit) eine ver- gleichsweise abstrakte Orientierungsmarke setzen, um am Ende die Koordinaten des Staats- und Demokratieverständnisses der ausgewählten Linksintellektuellen genauer bestimmen zu können. Als Kompass dienen die Normen des demokra- tischen Verfassungsstaates, die im Wesentlichen den demokratischen Grundsatz der Volksherrschaft und Volkssouveränität wie die verfassungsstaatlichen Ele- mente der Gewaltenteilung, der kontrollierten Machtausübung, Rechtsstaatlich- keit und nicht zuletzt des Pluralismus umfassen.64

61 Vgl. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik (wie Anm. 1). 62 Peter Longerich, Deutschland 1918-1933. Die Weimarer Republik. Handbuch zur Ge- schichte, Hannover 1995, S. 17. 63 Eberhard Kolb, Zwischen Parteiräson und staatspolitischer Verantwortung – Die Sozi- aldemokratie in der Weimarer Republik, in: Geschichte und Gesellschaft, 13 (1987), S. 105 f.; ähnlich auch Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisie- rung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918-1924, Berlin/ Bonn 1984. 64 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Begriff und Probleme des Verfassungsstaates, in: Ders., Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechts- philosophie, Frankfurt a. M. 1999, S. 127-140; Hans-Peter Schwarz, Der demokratische Verfassungsstaat im Deutschland des 20. Jahrhunderts – Gründung und Niedergang, Bewährung und Herausforderung, in: Klaus Dicke (Hrsg.), Der demokratische Ver-

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An dieses Verständnis knüpft auch der Rechtshistoriker Christoph Gusy bei seiner Suche nach Schlüsselbegriffen des demokratischen Denkens an, die nicht wie anachronistische Konstrukte wirken sollen und sich auf Vorstellungen poli- tischer Ordnung seit der Weimarer Republik anwenden lassen. Demzufolge sehen Demokraten den Staat als ein mit der Gesellschaft verwachsenes pluralis- tisches Gebilde, erkennen in der Volkssouveränität einen empirisch-pluralisti- schen Begriff, halten eine Realisierung des Volkswillens nur mit Hilfe einer komplexen Organisation der Willensbildung (über Parteien und Verbände) für möglich und demokratische Führung (repräsentativ und parlamentarisch orga- nisiert) sowie eine Gewaltenteilung und -kontrolle der demokratischen Staats- organisation für notwendig. »Demokratisches Denken«, resümiert Gusy, »be- jahte Organisations- und Organpluralität, Gewaltenteilung, Mehrheitsprinzip und Parteienstaat als notwendige Ausprägungen der Demokratie.«65 Dieser Maßstab steht in engem Zusammenhang mit der Demokratietheorie der Plura- listen.66 Diese Differenzierungen sind besonders wichtig, um dem politischen Selbst- verständnis der Linksintellektuellen gerecht zu werden. Für Sontheimers Unter- suchungsgegenstand – die rechte »Konservative Revolution« – ist eine solche Betrachtung der Demokratie aus mehreren Blickwinkeln nicht von so großer Bedeutung wie im Falle des linken Pendants. Denn die von ihm behandelten Rechtsintellektuellen lehnten Republik und Demokratie – ungeachtet von Ver- einnahmungen des »Volksstaats«- und »Volksgemeinschafts«-Gedankens – schon von der Idee her grundsätzlich ab. Im Falle der Linksintellektuellen ging die Ab- lehnung der Weimarer und später auch der – unter Konrad Adenauer als »res- taurativ« empfundenen – Bonner Republik häufig mit einem grundsätzlichen Bekenntnis zu einer anderen, »besseren« Republik und »wahren« Demokratie einher. Ihre Feindschaft richtete sich dann gegen spezifische Ausprägungen und Formen der Demokratie, in der Regel aber nicht gegen den je eigen definierten Grundgedanken der Demokratie an sich.67

fassungsstaat in Deutschland. 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 50 Jahre Grund­ gesetz, 10 Jahre Fall der Mauer, Baden-Baden 2001, S. 11-26; Peter Cornelius Mayer- Tasch, Politische Theorie des Verfassungsstaates. Eine Einführung, München 1991; Wolfgang Seibel, Normen und Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates, in: Ulrich von Alemann/Kay Loss/Gerhard Vowe (Hrsg.), Politik. Eine Einführung, Opladen 1994, S. 73-151; Christian Starck, Der demokratische Verfassungsstaat. Ge- stalt, Grundlagen, Gefährdungen, Tübingen 1995. 65 Christoph Gusy, Fragen an das »demokratische Denken« in der Weimarer Republik, in: Ders. (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, S. 660. 66 Vgl. Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien. Eine Einführung, 5. Aufl., Bonn 2010, S. 210-224. 67 Auf diese Unterscheidung weist auch hin: Norbert Schürgers, Politische Philosophie in der Weimarer Republik. Staatsverständnis zwischen Führerdemokratie und bürokrati- schem Sozialismus, Stuttgart 1989. Freilich konnte auch die gleichsam »demokratische«

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Es gilt herauszufinden, welchen Demokratietypen und Staatsformen die aus- gewählten Weltbühne-Leute anhingen. Wie stark wichen diese von der Weima- rer/Bonner Verfassungsordnung/-wirklichkeit und allgemein vom demokrati- schen Verfassungsstaat pluralistischer Prägung ab? Welche Demokratiemodelle favorisierten sie stattdessen – eine identitäre, plebiszitäre, partizipatorische, Räte- oder gar eine Führer-Demokratie? Welche Haltung nahmen sie zu auto- kratischen Regimes kommunistischer, faschistischer oder sonstiger Provenienz ein? Wie fiel die Einschätzung von Staatsformen in anderen Ländern aus? Der kommunistische Literaturtheoretiker und Philosoph Georg Lukács warf in sei- nem Buch Die Zerstörung der Vernunft 1954 dem Kreis von Intellektuellen um die Weltbühne beispielsweise einmal »Begeisterung für die westliche Demokra- tie« vor, die mit »Antideutschtum« einhergegangen sei.68 Daran anknüpfen lässt sich die Frage, wie sich spätere Exil-Erfahrungen, die unter den hier untersuch- ten Protagonisten Hiller und Schlamm machten, auf die intellektuellen Biogra- fien und das politische Denken auswirkten, welche Verschmelzungen oder Transfers zwischen dem »Eigenen« und dem »Fremden« durch den Kulturkon- takt stattfanden. Überhaupt ist es erörternswert, welche Dynamik das im 20. Jahrhundert besonders ausgeprägte Spannungsverhältnis von »Erfahrungs- raum« und »Erwartungshorizont« – um zwei berühmte Formeln Reinhart Ko- sellecks zu verwenden69 – mit Blick auf das Staats- und Demokratiedenken von Intellektuellen entfaltete.

Welcher Standort, welcher Status (strukturelle Dimension)?

Die Bilanzierung und Vermessung des Staats- und Demokratieverständnisses des Weltbühne-Kreises ist um eine weitere Perspektive zu ergänzen: Wie ist es in- nerhalb der Ideenlandschaft der Weimarer Zeit und später im geteilten Deutsch- land einzuordnen – allgemein: Wie ist es zu kontextualisieren? Wie gestalteten sich die geistigen Umorientierungen angesichts politisch-gesellschaftlicher Zäsu- ren? Auch soll wenigstens am Rande folgender Problemkreis berührt werden: Wie verhielten sich die Linksintellektuellen zu rechtsintellektuellen Interven- tionen, waren die geistigen Gräben unüberwindlich oder gab es partiell sogar Übereinstimmungen und Austauschdiskurse?70

Demokratiekritik extremistische Züge annehmen oder diejenigen einer »totalitären Demokratie« (Jacob Talmon) ausbilden. 68 Georg Lukács, zitiert nach Gunther Nickel, Die Schaubühne – Die Weltbühne. Sieg- fried Jacobsohns Wochenschrift und ihr ästhetisches Programm, Opladen 1996, S. 13. 69 Reinhart Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Ka- tegorien, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1992, S. 349-375. 70 Zur gedanklichen Gemengelage der Weimarer Intellektuellendiskurse, auch über Links-Rechts-Grenzen hinaus, vgl. Manfred Gangl, Interdiskursivität und chassés-croi- sés. Zur Problematik der Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, in: Sven

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Wer diese Fragen aufwirft und zu beantworten sucht, befindet sich bereits am Übergang von der Darstellung intellektueller Vorstellungswelten hin zur Er- örterung der Vernetzung und Anschlussfähigkeit dieser Ideen, ihrer Produzen- ten und Protagonisten. Um die Intellektuellengeschichte der ausgewählten Welt- bühne-Repräsentanten einigermaßen adäquat zu erfassen, genügt es nicht, eine reine Denkgeschichte von einem Buch, Manifest, Redebeitrag oder Artikel zum nächsten zu schreiben.71 Es gilt vielmehr, neben den vorgebrachten Ideologe- men, politischen Überzeugungen und Stellungnahmen die Positionierung ihrer Vertreter im sozialen Raum und in spezifischen Feldern näher zu bestimmen. In einem sozialen Kräftefeld buhlen die daran Beteiligten um Macht und versu- chen, die von ihnen entwickelten Leitbilder durchzusetzen. Es gilt, den Zusam- menhängen von mentalen Werthaltungen und sozialen Strukturen, dem »Wech- selspiel von Dispositionen und Positionierungen«,72 dem Verhältnis von »Ideen, Medium und Biographie«73 Aufmerksamkeit zu schenken. Standort und Status eines intellektuellen Gesellschaftskritikers dürften min- destens ebenso wichtig für den Erfolg seiner Einmischungen sein wie seine poli- tischen Ideen selbst. Dem liegt ein Verständnis des Intellektuellen als Ideenstif- ter und vor allem als Ideenverbreiter, als Schöpfer wie Multiplikator und Missionar politischer Ideen zugrunde.74 Es ließe sich auch von Medien-Intellek- tuellen, den »professional secondhand dealers in ideas« (Friedrich A. Hayek) oder politischen Publizisten sprechen. Deren gewachsene Bedeutung strich Erich Dombrowski einmal in der Schaubühne mit den Worten heraus: »Die mo- derne Zeitgeschichte hat einen ganz neuen Typ solcher Helden herausgearbeitet,

Hanuschek u. a. (Hrsg.), Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kal- ten Krieg, Tübingen 2000, S. 29-48; Manfred Gangl/Gérard Raulet (Hrsg.), Intellek- tuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frankfurt a. M./New York 1994; Gilbert Merlio (Hrsg.), Ni gauche ni droite: Les chas- sés-croisés idéologiques des intellectuels français et allemands dans l’entre-deux-guer- res, Talence 1995; für die Zeit nach 1945 fehlen vergleichbare Studien. 71 Als frühe Kritik an einer solchermaßen betriebenen Geistesgeschichte vgl. Karl Mann- heim, Wissenssoziologie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 57 (1927), S. 68-142, 470-495, hier nach: Ders., Das konservative Denken. Soziologische Beiträge zum Werden des politisch-historischen Denkens in Deutschland, in: Hans-Gerd Schu- mann (Hrsg.), Konservativismus, 2. Aufl., Königstein/Ts. 1984, S. 25. 72 Christian Klein, Grundfragen biographischen Schreibens, in: Ders. (Hrsg.), Hand- buch Biographie (wie Anm. 59), S. 428, der sich auf Bourdieus Habitus-Konzept be- zieht; vgl. u. a. Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 1997, insbesondere S. 75-85; ders., Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg 1991. 73 Kemper, Das »Gewissen« 1919-1925 (wie Anm. 13), S. 22. 74 Dazu Harald Bluhm/Walter Reese-Schäfer (Hrsg.), Die Intellektuellen und der Welt- lauf. Schöpfer und Missionare politischer Ideen in den USA, Asien und Europa nach 1945, Baden-Baden 2006.

28 gedankenwelten und wirkungskontexte die auf die Gestaltung der Zeitgeschichte den allergrößten Einfluss ausüben. Das sind: die politischen Publizisten.«75 Je besser dieser öffentliche Intellektuelle oder politische Publizist dabei die Mechanismen und Anforderungen eines spezifischen Feldes wie des massenme- dialen beherrscht, desto größer dürften sein Handlungsspielraum und seine Wirkung sein. Das gilt insbesondere für das 20. Jahrhundert, das als Jahrhundert der Intellektuellen und als »Jahrhundert der Massenmedien« bezeichnet worden ist.76 In einer solchen Konstellation definiert sich der Intellektuelle als Typus erst über die Möglichkeit, die Öffentlichkeit zu erreichen und öffentliche Debatten über Grundfragen der Politik und des Gemeinwesens zu führen.77 Will er nicht zum Partei- oder politikberatenden Experten-Intellektuellen mutieren, ein Man- dat übernehmen oder gar den Versuchungen der Unfreiheit erliegen78 und trotz- dem Macht oder wenigstens Einfluss ausüben, so wird er dies mittels der antei- ligen, freilich schwer messbaren Formung der öffentlichen Meinung versuchen. Intellektuelle beteiligen sich an den Verteilungskämpfen um die politische Deutungskultur, »kulturelle Hegemonie«, symbolische Macht und Meinungs- führerschaft in der Öffentlichkeit. Politik ist für sie ganz wesentlich der Kampf um Interpretation der politisch-sozialen Welt und um gesellschaftliche Auf- merksamkeit. Das intellektuelle Feld, das mit dem öffentlich-massenmedialen große Schnittflächen aufweist, folgt spezifischen Handlungs- und Spielregeln, regulativen Prinzipien und Eigenlogiken. Je besser die Intellektuellen als Deu- tungs- und Reflexionseliten die geltenden Funktionsgesetze und Kommunika­ tionsformen beherrschen, desto erfolgreicher wird ihre Vermittlung von Deu-

75 Johannes Fischart [Erich Dombrowski], Theodor Wolff, in: Die Schaubühne vom 31. Januar 1918, abgedruckt in: Greis/Oswalt (Hrsg.), Aus Teutschland Deutschland machen (wie Anm. 38), S. 353. 76 Michel Winock, Das Jahrhundert der Intellektuellen, 2. Aufl., Konstanz 2007; Schildt, Das Jahrhundert der Massenmedien (wie Anm. 17). 77 Vgl. die grundlegenden Ausführungen von Stefan Collini, Absent Minds. Intellectuals in Britain, Oxford 2006, S. 45-65; Gangolf Hübinger, Gelehrten-Intellektuelle im Strukturwandel der Öffentlichkeit, in: Ders., Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006, S. 227-247; siehe auch Andreas Franz- mann, Der Intellektuelle als Protagonist der Öffentlichkeit. Krise und Räsonnement in der Affäre Dreyfus, Frankfurt a. M. 2004. 78 So Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit. Intellektuelle in Zeiten der Prü- fung. München 2006; vgl. Alexander Gallus, Intellektuelle im Zeitalter der Extreme, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Band 20 (2008), Baden-Baden 2009, S. 274-287; siehe grundsätzlich auch: Gangolf Hübinger/ Thomas Hertfelder (Hrsg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000; sowie zur Ideengeschichte des Kalten Krieges: Tim B. Müller, Die ge- lehrten Krieger und die Rockefeller-Revolution. Intellektuelle zwischen Geheimdienst, Neuer Linken und dem Entwurf einer neuen Ideengeschichte, in: Geschichte und Ge- sellschaft, 33 (2007), S. 198-227; ders., Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg, Hamburg 2010.

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