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Welzk, Stefan: 1968. Unser Pro- test gegen die Kirchensprengung und seine Folgen (= Schriftenreihe des Säch- sischen Landesbeauftragten für die Sta- si-Unterlagen, Bd. 11), Leipzig: Evange- lische Verlagsanstalt 2011, 232 Seiten, 9,80 €. Bis zum Juni 1968 hatte sich das Leben des Stefan Welzk in durchaus DDR- konformen Lebensbahnen entwickelt, so daß die berechtigte Hoffnung bestand, das Insistieren seiner Mutter, ihn doch an der Oberschule anzunehmen, sei nicht vergebens gewesen, und aus dem Dokto- randen für Physik könne sich ein passab- ler Kader für die wissenschaftliche Lauf- bahn entwickeln. Die Neigung Welzks, „Resistance [zu] spielen“, und die Orga- nisation einer Wette in seiner Klasse zum Ausgang der Volkskammerwahl im Jah- re 1958 konnten daher noch als Jugend- streiche eingeordnet werden. Seine Über- zeugung, für eine Reformierbarkeit der DDR zu kämpfen, indem Reformwillige in die SED eintreten und das Land mit Hilfe der Partei verändern, konnte mit seinem Enthusiasmus erklärt werden. Doch er selbst fing ab 1961 an zu zwei- feln. Für den Bau der Mauer im Som- mer 1961 hatte er zwar durchaus noch Verständnis, doch die Propaganda, die mit diesem Ereignis einherging, ließ ihn zum „Opponenten und Dauerprovoka- teur“ werden. In der Folgezeit baute er für seine Kommilitonen und Freunde ei- nen offenen Gesprächskreis auf, um sich nicht länger der „informativen Ödnis“ aussetzen zu müssen. Seine hoffnungs- volle Karriere bekam die ersten Risse. Einer Exmatrikulation konnte er nur ent- gehen, weil er sein Studium ein Semester früher beendete als vorgesehen. Die letzte Hoffnung, die DDR von innen zu refor- mieren, begrub Welzk unter den Trüm- mern der gesprengten Leipziger Universi- tätskirche, deren Sprengung die Stadtvä- ter nicht offen diskutierten, um Unruhen und Proteste zu vermeiden. In der Öffent- lichkeit wurde davon im Zusammenhang mit dem Umbau der Leipziger Innenstadt Rezensionen 205 nur von „Abtragung von Altbausubstanz“ fuhr Welzk erst Jahre später nach Ein- gesprochen. sicht in seine -Akten. In den nachfolgenden Tagen tüftelten Da zahlreiche Klarnamen sowie Deck- Welzk und zwei weitere Freunde einen namen und Spitznamen genannt werden, Mechanismus aus, mit dessen Hilfe wäh- kann der Leser leicht den Überblick ver- rend des Abschlußkonzertes des lieren – in Spitzenzeiten geht die Staats- III. Internationalen Bach-Wettbewerbes sicherheit im Umfeld von Welzk gegen in der Leipziger Kongreßhalle ein großes 146 Personen vor Viele kommen in Haft Transparent mit den Umrissen der ge- und werden später freigekauft. Welzk sprengten Kirche und den Worten „Wir unterstützte sie, so gut er konnte, von der fordern Wiederaufbau“ vom Schnürbo- Bundesrepublik aus, indem er sich bei den entrollt werden sollte. Mit dem er- verschiedenen Hilfsorganisationen für folgreichen Ablauf der Aktion war Welzk deren Freikauf einsetzte und seinen Ar- endgültig für die DDR verloren – er plan- beitgeber, Carl Friedrich von Weizsäcker, te mit seinem Freund Harald Fritzsch, um entsprechende Empfehlungsschreiben einem der Beteiligten an der Protestakti- bat. Weizsäcker hatte Welzk nach dessen on, die Flucht in einem Faltboot von Bul- Ankunft in der Bundesrepublik von ei- garien über das Meer an die türkische nem Philosophiestudium überzeugt und Küste. Sie glückte, und die beiden lande- ihn später am neugegründeten Max- ten unbeschadet in der Bundesrepublik, Planck-Institut zur Erforschung der Le- ohne zu ahnen, wie dicht die Staatssi- bensbedingungen der wissenschaftlich- cherheit ihnen in ihren Ermittlungen technischen Welt eingestellt , besser be- teilweise auf der Spur war. In seiner kannt als Friedensforschungsinstitut be- Leichtfertigkeit, derer er sich selbst an- schäftigt. klagt, hatte Welzk dem Ministerium für Das Buch von Stefan Welzk ähnelt teil- Staatssicherheit durchaus Hinweise auf weise einem Kriminalroman, etwa wenn die Beteiligten gegeben, die zum Glück er beschreibt, was die Staatssicherheit nicht entdeckt wurden: Zum einen brüste- alles an ihr zur Verfügung stehenden ge- te er sich vor dem Dichter Peter Huchel, heimpolizeilichen Mitteln aufbot: Es be- in dessen Garten er das Transparent aus- ginnt mit der Flucht, ausgelöst durch den breitete, zum anderen weihte er einen Protest, erstreckt sich über abgehörte Te- Freund in die Aktion ein, obwohl dazu lefonate, Verrat, Inoffizielle Mitarbeiter keine Notwendigkeit bestanden hätte. In aus der Bundesrepublik (so genannte der Bundesrepublik nicht nur physisch, Kundschafter des Friedens), Verhaftun- sondern auch beruflich angekommen, gen, Verhöre, Kassiber, Zelleninformato- lernt er jemanden kennen, der sich, nach ren bis hin zum Abhören von Anwaltsge- späterer Einsicht in die eigene Stasi-Akte, sprächen. Lesenswert ist das Buch auch als verhängnisvoller Kontakt entpuppen deshalb, weil der Autor sich nicht scheut, sollte. Er traf auf den West-Berliner Stu- zu beschreiben, wie eitel er als junger denten Bernard Langfermann vom Otto- Mann war. Auch seine oppositionelle Suhr-Institut der Freien Universität Ber- Haltung stellt Welz immer noch in Frage. lin. Der junge Mann war politisch links „Was war das für eine Leistung, in der engagiert und Redaktionsmitglied der DDR opponiert zu haben?“ fragt der Au- Sozialistische Politik (SoPo), einer ein- tor den Leser. Und ergänzt, ob „die Be- schlägigen Zeitschrift für Politik- und reitschaft, an einer Überdosis von Mut zu Sozialwissenschaft. Langfermann gab krepieren, wirklich so bewundernswert“ sich DDR-kritisch, tatsächlich aber hatte gewesen sei. er sich selbst der Stasi als Kontaktperson angeboten und die Fluchtpläne von Das Buch von Stefan Welzk ist ein auto- Welzks Freunden verraten Das alles er- biographisches Werk, das trotz aller Ent- täuschungen und der Bestätigung von 206 ZdF 33/2013

Vermutungen, die er nach Einsicht in geliefert wurden, sie Haftstrafen verbü- seine Stasi-Unterlagen erfahren hat, keine ßen mußten, Freundschaften daran zer- Abrechnung ist. Der Autor zeichnet die brachen. Ereignisse im Juni 1968 nach und korri- Es ist Stefan Welzk und den anderen Be- giert dabei einige Fehlannahmen, die sich teiligten zu wünschen, daß dieses Buch bis heute hartnäckig halten. Aus Welzks der vollständigen Geschichte des Protests Sicht waren diese Korrekturen nicht zu- gegen die Leipziger Kirchensprengung letzt deshalb nötig geworden, weil sich Geltung verschafft. seit Ende der 1990er-Jahre ein vermeint- Melanie List licher Freund, Dietrich Koch, mit der Vorbereitung und Ausführung der Pla- kataktion rühmt und im Laufe der Zeit auch noch seinen Bruder zum Protagonis- ten stilisierte. Beide werden seitdem von der Stadt Leipzig und den Medien als tapfere Widerständler gefeiert. Dietrich Koch hat seine Sicht der Dinge in mehre- ren Büchern dargelegt (zum Beispiel in dem dreibändigen Werk Das Verhör. Zerstörung und Widerstand oder in Nicht geständig. Der Plakatprotest im Stasi- Verhör. Mit Erfolg hat sich Koch in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit als Hauptprotagonist der Protestaktion etab- liert. Anläßlich des 40. Jahrestages der Sprengung der Kirche durfte er einen Beitrag in der Zeitschrift Der Stachel- draht (4/2008) veröffentlichen. Darin stellt er Welzks Flucht als Weggang in den Westen dar. Seinen Kontakt zu Ber- nard Langfermann, dem bundesdeutschen IM, legt Koch als Freundschaft aus, die zum Verrat der Freunde in der DDR ge- führt habe. (Dietrich Koch: „Situation Universitätskirche“. Der Widerstand ge- gen die Sprengung der Leipziger Univer- sitätskirche St. Pauli). Nach Ansicht Kochs hätte Stefan Welzk erkennen müs- sen, daß Bernard Langfermann keine ver- trauenswürdige Person war, da dieser mit der Sozialistischen Einheitspartei West- berlins (SEW) sympathisierte und später sogar deren Mitglied wurde. Welzk ver- traute Langfermann jedoch damals, weil dieser unter seinem Hemd Texte der „Frankfurter Schule“ in die DDR ge- schmuggelt hatte und keinerlei Sympa- thien für das SED-Regime erkennen ließ. Kochs Äußerungen wiegen besonders schwer, da durch diese Verbindung zahl- reiche Freunde der Staatssicherheit aus- 208 ZdF 33/2013

Lauter, Gerhard: Chefermittler. Der zeichnung mit dem Karl-Marx- oberste Fahnder der K in der DDR be- Stipendium, das er noch heute für seine richtet. Berlin: edition ost 2012, 288 Sei- wichtigste Anerkennung hält: „Es war ten, 14,95 €. wie ein kleiner Ritterschlag in der gesell- Er war der dritte Mann, der am Abend schaftlichen Hierarchie der DDR.“ des 9. November neben Günter Nach seinem Dienstantritt 1973 im De- Schabowski und Oberstleutnant Harald zernat II der , dem VP- Jäger im zufälligen Zusammenspiel für Untersuchungsorgan auf Bezirksebene, die Öffnung der Berliner Mauer sorgte. sollte Lauter bereits 1974 Leiter der neu Schabowski las ab, was Gerhard Lauter, gegründeten Antiterroreinheit der Volks- damals Leiter der Hauptabteilung (HA) polizei werden, obwohl er seine Schieß- Paß- und Meldewesen, auf einen Hand- resultate selbst als nur mäßig einstufte. zettel geschrieben hatte. Das veranlaßte Die Antiterroreinheit wurde der Hauptab- den BILD-Journalisten Brinkmann zur teilung K des Innenministeriums als Re- Frage, ab wann diese Regelungen in ferat IX zugeordnet, womit sie nur „zu- Kraft trete. Oberstleutnant Jäger öffnete fällig numerisch verwandt [war] mit der einige Stunden später in der Bornholmer entsprechenden Einheit des Bundes- Straße den ersten Schlagbaum. grenzschutzes (GSG 9)“, mit der sie laut Der 1950 in geborene Lauter Lauter auch gemeinsam hatte, daß beide begann nach dem Jurastudium am in Reaktion auf offenkundig mangelnde 1. Februar 1973 seine berufliche Karriere polizeiliche Spezialkräfte während der als Leutnant bei der Volkspolizei. Den Olympischen Spiele 1972 in München Parteiauftrag dazu erteilte ihm Walther eingerichtet wurden. Zunächst erwies Wittig, Leiter der Sicherheitsabteilung sich die ganze Angelegenheit als relativ der SED-Bezirksleitung Leipzig, mit fol- unausgegoren. Lauter sollte sich erst genden Worten: „Genosse, du wirst alles, einmal vier junge, sportliche und intelli- nur kein Anwalt! Morgen um 8 Uhr mel- gente Offiziere ohne Westverbindung aus dest du dich beim Chef der Kriminalpoli- den fast vierzig Volkspolizeikreisämtern zei.“ Gesagt, getan. Parteidisziplin war der Bezirke Leipzig und Halle aussuchen. für den jungen Mann Familiensache. Sein Während in anderen Bezirken bereits Ka- Vater Hans Lauter, Jg. 1914, gehörte der und auch Räume zur Verfügung stan- 1950 als ZK-Sekretär für Kultur der den, konnte Lauter erst 1975 auf eine an- SED-Führung an. Vater Hans blieb der gemessene Logistik zurückgreifen. Die Partei trotz mehrerer Zurückstufungen Existenz der Sondertruppe sollte geheim und Konflikte immer treu. Auch nach bleiben. Die Ausbildung der Truppe lag dem Ende seiner geliebten DDR. Im Al- nun in Lauters Händen und er wandte ter von 90 Jahren nahm er 2004 für die dabei ungewöhnliche Methoden an: „Pis- PDS sogar noch an der Bundesversamm- tole ließ ich nur aus kurzen Entfernungen lung teil. Gerhard Lauter erfuhr bereits schießen, und ich stellte mich regelmäßig im zarten Alter von 17 Jahren, daß seine zwischen die Scheiben. Ich wollte, dass Zukunft in den Sicherheitsorganen liegen meine Jungs spüren: notfalls müssen wir würde. Er sollte sich auf eine Tätigkeit Menschen töten, und Schießen ist kein bei der Spionageabwehr des Ministeri- Spaß.“ ums für Staatssicherheit vorbereiten, Die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer wurde ihm eröffnet. Dieser Einsatzbe- Antiterroreinheit in der DDR, die – wie reich reizte ihn, da es „Ehre und Pflicht Lauter zwar selbst einräumt – weder von [sei], zu den Trägern von Schild und einheimischen noch ausländischen Ter- Schwert der Partei gerufen zu werden“. rorgruppen angegriffen wurde, wischt er Er war stolz darauf, „zu den Auserwähl- mit dem Hinweis auf eine potentielle Ge- ten zu gehören“. Hinzukam seine Aus- fahr vom Tisch, die immer bestanden Rezensionen 209 habe. In der Regel war der Einsatz seiner „Es war das erste und einzige Mal, dass Antiterrortruppe allerdings auf die Fest- ich mich verweigerte. Schließlich ging es nahme von Deserteuren der Sowjetarmee um das Leben von DDR-Bürgern. Unser beschränkt. Verfassungsauftrag forderte, diese zu 1976 bekam Lauter erneut die fürsorgli- schützen!“ Ein als Bauer verkleideter che Macht der SED zu spüren, diesmal Spezialkämpfer wurde in das Haus ge- ausgehend vom Leiter der Hauptabtei- sandt. Bei einem Schußwechsel verlor er lung Kripo des MdI, Generalmajor Hel- einen Finger, aber der Deserteur ergab mut Nedwig. Von ihm erhielt er die An- sich. In einem anderen Fall, der sich in weisung, als Einsatzgruppenleiter in der Eisenach ereignete, wurde ein Deserteur Zentrale IX nach Berlin zu wechseln. erschossen, nachdem dieser einen jungen Dort galt es bedeutsame Aufgaben zu Volkspolizisten tödlich verwundet hatte. bewältigen, wie etwa den Personenschutz Sehr unglaubwürdig mutet an, wenn Lau- für den Innenminister der UdSSR ter rückblickend behauptet, er habe sich Schtscholokow. Im Centrum-Warenhaus damals gefragt, warum immer wieder am Berliner Alexanderplatz durfte ihn sowjetische Soldaten desertierten. Lauter dann auf russisch beim Einkauf Lauters Autobiographie ist durchdrungen von Küchengardinen beraten. von Loyalität und Dankbarkeit gegenüber Im Sommer 1978 wurde Lauter, wie er es dem SED-Staat. Er findet kaum kritische selbst bissig umschreibt, vom Schützen Worte über seine dienstliche Vergangen- zur Schießbudenfigur – als persönlicher heit. Die Arbeit im Dezernat II der VP Mitarbeiter nämlich des 1. Stellvertreters mit der dort befindlichen Arbeitsgruppe des Innenministers, Generalleutnant Ru- „Grenzdelikte“, der er zuweilen aushelfen dolf Riss, dessen „Verwalter und Weiter- mußte, beschreibt Lauter folgenderma- reicher und Ausarbeiter von Papieren“ er ßen: „Dies gehört ehrlicherweise zu den nun war. Zunächst als Major der K, dann punktuellen auch mich belastenden Mo- als Major der VP verschwand Lauter zu- menten meiner Biographie. Die Bestra- nehmend in der ministerialen Bürokratie. fung von Grenzdelikten war mir suspekt Seinen geschriebenen Reden für Riss […].“ Mit seinem Schwager will er be- fehlten jedoch die „politischen Normtei- reits zu Beginn der 80er Jahre über das le“. Dringlich wünschte sich Lauter zu- Ende der DDR gesprochen haben. Wäh- rück zur Kriminalpolizei: „Denn bei al- rend einer Politschulung im Volkspoli- lem Engagement: Meine Erfüllung fand zeikreisamt Gadebusch im Bezirk Schwe- ich in dieser Tätigkeit nicht.“ Doch erst rin habe er die Kursanten zu Äußerungen 1985 kehrte Lauter nach dem Tod von über die Mangelwirtschaft in der DDR Riss zur Kripo zurück und wurde – zu provoziert. Die Frage einer jungen „meiner eigenen Verblüffung“ – Offizier Volkspolizistin, ob man denn so diskutie- für Fahndung in Abteilung V; bald sogar ren dürfe, habe ihn angeblich erschlagen. Fahndungschef. In dieser Funktion erleb- Es sei aber dann doch zu einer lebhaften te er brisante Situationen bei der Verfol- Debatte gekommen, die alle mit dem Ziel gung von desertierten sowjetischen Sol- einer besseren DDR geführt hätten. Die daten. So hatte ein sowjetischer Soldat im Kritik der Bürgerrechtler, die seiner Mei- Kreis Parchim im Bezirk Schwerin die nung nach keine Ahnung gehabt haben Familie eines LPG-Bauern als Geiseln und „hinter jeder Ziffer die Staatssicher- genommen. Die sowjetische Garnison heit [witterten]“ hält er hingegen für völ- wollte Artillerie auffahren lassen, und der lig überzogen. Geradezu dreist versichert Innenminister befahl Lauter, seine Leute er, die von ihm zuletzt geleitete Abtei- hätten ausschließlich zu sichern, „die lung HA Paß- und Meldewesen habe kei- Freunde handeln“. Es war ihm jedoch nerlei Daten zweckentfremdet. unmöglich, diesen Befehl auszuführen: 210 ZdF 33/2013

Lauter findet immer noch, die Mehrheit sich inzwischen dreist als Die Linke be- der Ausreisewilligen seien Wirtschafts- zeichnet, hat es für ihn erledigt. Neun flüchtlinge gewesen, politische Gründe Abgeordnete und Dr. für die spricht er ihnen ab. Die Fälschung der gesamte Fraktion richteten mehrere Fra- Zahlen genehmigter Ausreiseanträge gen zu Kowalczuks Buch an die Bundes- durch die Honecker-Führung verteidigt regierung. Vor allem ging es den links- Lauter wie folgt: „Die Korrektur [Her- parteilichen SED-Nachfolgern dabei um vorhebung durch die Verfasserin] erfolg- die eine Frage, ob die Abgeordneten des te einzig zu dem Zweck, die DDR beim Klassenfeind besser erscheinen zu lassen, deutschen Bundestages in der Vergan- es war mithin eine Finte im Klassen- genheit über die Zahl der 1989 in der kampf.“ Keine Finte fiel dem SED- DDR registrierten Inoffiziellen Stasi- Regime mehr ein, als die Änderung des Spitzel regierungsamtlich durch die bis- Reisegesetzes Anfang November 1989 herigen Bundesbeauftragten für die Stasi- unausweichlich wurde. Lauter, der das Unterlagen „falsch unterrichtet“ wurden. Reisegesetz zu überarbeiten hatte, fand es In Kowalczuks Buch werde – und dies in dieser Situation unlogisch, daß „‚jeder, habe der Bundesbeauftragte „durch sei- der unser Land für immer verlassen will, nen Abteilungsleiter Forschung hoheit- das ab morgen früh kann – aber derjeni- lich feststellen und bestätigen“ lassen – ge, der seine Tante in Hamburg besuchen von nur 109 000 IM-Spitzeln im Jahr oder den Eiffelturm aus der Nähe sehen 1989 ausgegangen. Da der Bundesbeauf- will […] das noch immer nicht darf!‘“ So tragte das Werk habe „hoheitlich“ durch habe er den Entwurf nicht nur um Regu- seinen Abteilungsleiter Forschung abseg- larien zur ständigen Ausreise, sondern auch um die Passage über Privatreisen nen lassen, „sind die darin enthaltenen ergänzt. Weder Honeckers Nachfolger Ausführungen dem Bundesbeauftragten Krenz noch das Politbüro erkannten die zuzurechnen – er macht sich diese somit Tragweite dieser Ergänzung. ZK-Sekretär zu Eigen“. Günter Schabowski verkündete die Bot- Die SED-Nachfolgevereinigung wollte schaft am 9. November um 18.54 Uhr vor nun aber genau wissen und fragte die der internationalen Presse. Wir wissen Bundesregierung allen Ernstes, wie viele nun, daß Gerhard Lauter als dritter Mann Inoffizielle Mitarbeiter es denn 1988/89 im Hintergrund das Schicksal „seiner“ in der DDR nun tatsächlich nach Er- DDR besiegelt haben will. Es kommt kenntnis des Bundesbeauftragten für die selten vor, daß ein Mißerfolg so viele Stasiunterlagen gegeben habe. Interessant Väter hat. ist an dieser Anfrage zweierlei. Zum ei- Mathilde Schäfer nen halten die neoSEDler ganz so wie früher ihre Altvorderen im roten Osten Kowalczuk, Ilko-Sascha: Stasi konk- die Regierung dafür zuständig, was wohl ret. Überwachung und Repression in gerade so als Geschichte der Arbeiterbe- der DDR. München: Verlag C.H. Beck wegung und ihrer Kampftruppen Gültig- 2013, 428 Seiten, 17,95 €. keit beanspruchen darf und zum anderen Es kommt selten vor, daß ein historisches trauen sie dem Bundesbeauftragten Sachbuch sofort nach seinem Erscheinen wahrhaftige Aussagen zu. Im Falle ihres den Deutschen Bundestag beschäftigt. obersten Schönredners, galt ihnen vor Ilko-Sascha Kowalczuk hat das mit sei- einigen Jahren das Gutachten aus dem ner MfS-Geschichte „Stasi-konkret“ ge- Behördenhaus noch als glatte Lüge. Für schafft. Das heißt nicht er selbst hat das den scheinheiligen Fraktionsvorsitzenden geschafft, die SED-Nachfolgepartei, die steht ja unabhängig vom Ausgang der Rezensionen 211

Antwort ohnehin fest, daß es weder dann wußte er, was er tat und zu wessen 189 000 IM noch 109 000 IM gab, son- Nutzen es geschah. Nein, der gute Mann dern entweder 188 999 oder 108 999. Er hatte es wirklich nicht nötig bei der Stasi jedenfalls war nicht dabei und schon herum zu poussieren, er trieb sich nicht deswegen ist die Zahl falsch, weil er ja beim kleinen, sondern gleich beim gro- von der Stasiunterlagenbehörde statis- ßen Erich in den allerwertesten Hinter- tisch immer mitgezählt worden ist. zimmern herum. Ebenso erstaunlich wie die Anfrage der In Kowalczuks Buch spielt die Zahlen- linksparteilichen SED-Nachfolger ist die frage eine nachgeordnete Rolle. Viel Antwort der Bundesregierung. Sie teilte wichtiger ist seine zentrale These, daß nun ihrerseits allen Ernstes mit, bei „der durch die öffentliche Fixierung auf die Betrachtung des Themas Inoffizielle Mit- Stasi-Spitzel das ganze restliche Denun- arbeiter des MfS insgesamt“ sei „zu be- ziantentum im SED-Staat aus dem Blick rücksichtigen, dass sich die Herange- geraten ist. Nur deshalb konnte sich Gre- hensweise an den Begriff des Inoffiziel- gor Gysi vor einigen Jahren im Deut- len Mitarbeiters aus wissenschaftlicher schen Bundestag damit herausreden, er Sicht und die gesetzmäßige Verwaltung habe es gar nicht nötig gehabt, mit der und Herausgabe von Informationen aus Stasi zu konspirieren; er habe doch seine den MfS-Unterlagen durch den Bundes- direkten Kontakte ins Zentralkomitee der beauftragten nach der IM-Definition des SED gehabt. Wäre in der öffentlichen Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) grund- Rezeption das Unterdrückungs- und sätzlich voneinander unterscheiden“. Überwachungssystem des SED-Staates Demnach gibt es also eine „IM- nicht so sehr auf die Stasi-Spitzeleien Definition“ nach StUG und eine „Heran- reduziert gewesen, dann wäre diese Aus- gehensweise an den Begriff des Inoffizi- rede Gysis keine gewesen, sondern ein ellen Mitarbeiters aus wissenschaftlicher Eingeständnis seiner Rolle als juristischer Sicht“, die sich grundsätzlich unterschei- Funktionär der SED-Hierarchie. den und es gibt sogar eine regierungsamt- Aus der Sackgasse des Stasi-Tunnel- lich verkündete Gesamtzahl der IM, die blicks führt Kowalczuks Perspektivwech- sich nicht die „Herangehensweise an den sel heraus. Ihm gelingt so die Reintegra- Begriff […] aus wissenschaftlicher Sicht“ tion des Staatssicherheitsdienstes in das zu eigen macht, sondern einen vom Gesamtsystem der SED-Diktatur. Das Stasiunterlagenbehördenwissenschafts- Institutionensystem der DDR läßt sich apparat „hoheitlich“ festgestellten angeb- eben gerade nicht in das für die schmut- lichen „Forschungsstand“. Die Bundesre- zigen Geschäfte zuständiges Ministerium gierung antwortete jedenfalls in diesem für Staatssicherheit und auf der anderen Sinne am 16. Mai 2013 der SED- Seite in ansonsten zwar repressive aber Erbenverwaltung: „Die Zahl von 189 000 doch nicht ganz so schlimme Regierungs- Inoffiziellen Mitarbeitern, auf die in den und Parteieinrichtungen auseinander di- Tätigkeitsberichten des BStU Bezug ge- vidieren. Auch der brave SED- nommen wird, entspricht dem bisherigen Funktionär und spätere Nachfolgepartei- Forschungsstand. Mit Stand 31. Dezem- führer Gregor Gysi gehörte in den achtzi- ber 1988 ging das MfS selbst davon aus, ger Jahren als „Vorsitzender des Rats der dass der Gesamtbestand an Inoffiziellen Kollegien der Rechtsanwälte in der Mitarbeitern (IM) – ohne GMS (Gesell- DDR“ zur Herrschaftselite. Wenn er der schaftliche Mitarbeiter für Sicherheit) Berliner SED-Bezirksleitung oder der und IMK (Inoffizieller Mitarbeiter zur Abteilung für Staat und Recht im Zent- Sicherung der Konspiration und des Ver- ralkomitee der SED mit Informationen bindungswesens) – 109 281 umfasste. über seine Mandanten zur Hand ging, IMK umfassten etwa 30 000 und GMS 212 ZdF 33/2013 etwa 33 000 Vorgänge zum selben Zeit- nicht regimekonformen Akteure erklärt punkt. In den Berechnungen werden au- die Reichweite der Herrschaftsmecha- ßerdem die IM der HV A (Hauptverwal- nismen im SED-Staat. tung Aufklärung) – 1988 etwa 15 000 – Wie der Buchtitel schon ankündigt, geht einbezogen, wobei nicht ausgeschlossen es dem Autor um die „Überwachung und werden kann, dass diese in den Zahlen Repression in der DDR“. Die Westarbeit des MfS bereits enthalten sind.“ Oh Du des MfS bleibt dabei eher kursorisch. schöner Mai 2013, da schlug es Dreizehn Warum der Autor Mielkes Polizisten- und die Regierung verkündet den „For- mord auf dem Bülowplatz im August schungsstand“ der BStU-Erbsenzählerei. 1931 damit erklären möchte, daß Tage Das haben die Linklinge vom SED- zuvor „Polizisten wieder einmal einen Rettungskomitee nun von ihrem schlau- Arbeiter erschossen“ hätten, ist schwer meierischen Rumgefrage. Die Regierung nachvollziehbar. Die damaligen Strategen hat es ihnen voll besorgt! der Bürgerkriegsvorbereitung aus dem Für all das kann Kowalczuks Buch nun M-Apparat der KPD hatten die „Sache wirklich nichts. Es beschreibt nämlich in am Bülowplatz“ aus ganz anderen Grün- weiten Teilen sehr plausibel, wie das den ausgeheckt und organisiert. Der spä- MfS in das kommunistische Herrschafts- tere Propagandachef der SED, Albert system eingebunden war und welche In- Norden, schrieb nach dem Bülowplatz- teraktionen zwischen den verschiedenen mord in der militärpolitischen KPD- Ordnungs- und Sicherheitsbereichen in Zeitschrift Oktober : „Wir haben noch Staat und Gesellschaft für das gesamte nicht die Atmosphäre, noch nicht alle SED-System charakteristisch waren. Die objektiven und subjektiven Vorausset- unterdessen erschienenen zahlreichen zungen des offenen Bürgerkrieges, es Rezensionen haben das auch mit wenigen wäre aber ein Fehler, nicht jene wenn Ausnahmen als das Kernanliegen des auch noch sporadischen Massenkämpfe Autors erkannt. Neben der Darstellung mit der bewaffneten Staatsmaschine zu der allgemeinen MfS-Geschichte geht sehen, die teilweise eine höhere Stufe Kowalzcuk in mehreren Tiefenschnitten erreichen, bürgerkriegsmässige Formen, dem MfS-Wesen auf den Grund. Warum mithin auch auf Seiten des Proletariats es so wurde, wie es am Ende war, wie Elemente des Massenterrors entwickeln.“ seine Gründer aus der Bürgerkriegsgene- Die Erschießung der beiden sozialdemo- ration der zwanziger und dreißiger Jahre kratischen Polizeibeamten war kalt ge- von ihren Traumata der Niederlagen im plant, sie sollte ein Signal zum Aufruhr Land und der Niedertracht im Exil ge- setzen. Als dieser ausblieb, mußten die prägt wurden, wie niedrig bis zuletzt das Verantwortlichen in der KPD Selbstkritik Bildungsniveau der MfS-Offiziere blieb üben. Ihren Kampf gegen die demokrati- und zu welch traurigen Gestalten sie in sche Republik und die sie tragende Sozi- ihren Geistes- und Wohngettos der schö- aldemokratie setzen sie mit unverminder- nen neuen SED-Welt herunterkamen. tem Haß jedoch fort. Diese Gesinnung Besonders überzeugend gerät Kowalczuk gehört zu den Prägungen, die fast allen die Analyse der asozialen MfS- MfS-Gründern eigen war. Gleich nach Verheerungen da, wo er sich den Kontex- der Niederschlagung des NS-Regimes ten bewußt nicht aus der Perspektive des standen sie wieder ihrem Hauptfeind von bürokratischen Apparats und seiner Ak- 1931 gegenüber, den „Klassenversöhn- tensprache nähert, sondern den analyti- lern“ und „Reformisten“ der SPD, die ein schen Blick aus der gesellschaftlichen anderes als das Arbeiter-und-Bauern- DDR-Realität auf die Repressionsmacht Deutschland anstrebten und überall, wo richtet. Die Wirkung des Überwachungs- sie frei waren, auch die Stimmen der systems auf die widerständigen oder Werktätigen mehrheitlich für sich gewin- Rezensionen 213 nen konnten. Nicht aus Zufall gehörte der sozialdemokratische Kommandant der Berliner Schutzpolizei, Karl Heinrich, bereits im Herbst 1945 zu den ersten Op- fern der neuen kommunistischen Ord- nungsmacht in Berlin. Doch das ist die andere Vorgeschichte des Hauses Mielke im SED-Regime. Westlich der SBZ und später der DDR blieb den DDR-Sicherheitsfanatikern der Zugriff auf die Normalbürger verwehrt. Dort wuchs eine andere Welt heran als die ihre. Die Verbindungen in das andere Deutschland konnten sie nie ganz unter ihre Kontrolle bringen, weder vor noch nach dem 13. August 1961. Zum Ver- ständnis der Binnenlogik des SED- Regimes aber hat Kowalczuk mit „Stasi konkret“ ein wirklich gutes Stück vorge- legt. Die Bundesregierung hat ihm in ih- rer Antwort auf das linksparteiliche Ge- frage bescheinigt, daß er das ohne dienst- lichen Auftrag in genehmigter Nebentä- tigkeit als freier und unabhängiger Wis- senschaftler geleistet hat. Dazu kann man ihm nur gratulieren. Die Leserei in sei- nem Buch „Stasi konkret“- ist denkbar anregend und weiterführend. Für die Be- hördenforscher im BStU-Dienst aber hängt die Latte angesichts dieser erfolg- reichen Nebentätigkeit ihres Kollegen Kowalczuk jetzt ziemlich hoch. Jochen Staadt