Bayerische Landeszentrale 4 | 11 für politische Bildungsarbeit Einsichten und Perspektiven

Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte

Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Wie steht es mit der Integration? Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen NS-Gedenkstätten in Frankreich Bayerisch-israelische Absichtserklärung zur Bildungskooperation Neue Publikationen Jahresausblick 2012 Einsichten und Perspektiven

Autoren dieses HeftesImpressum

Dr. Christian Babka von Gostomski, Afra Gieloff, Martin Kohls, Dr. Harald Lederer und Einsichten Stefan Rühl sind Mitarbeiter der Gruppe 22 „Grundsatzfragen der Migration, Migrationsfor- und Perspektiven schung, Ausländerzentralregister, Statistik“ im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg. Verantwortlich: Eva Feldmann-Wojtachnia ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Jugend und Monika Franz, Europa am Centrum für angewandte Politikforschung der Ludwig-Maximilians-Universität Praterinsel 2, München. 80538 München Dr. Manuela Glaab ist Akademische Oberrätin am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissen- schaft der Ludwig-Maximilians-Universität München und Leiterin der Forschungsgruppe Deutsch- Redaktion: land am Centrum für angewandte Politikforschung. Monika Franz, Stephan Hildensperger und Christoph Huber sind Mitarbeiter der Landeszentrale für politische Dr. Christof Hangkofer, Bildungsarbeit. Christoph Huber, Dr. Guido Hitze ist Historiker mit den Schwerpunkten Landes- und Parteiengeschichte (Nord- Werner Karg rhein-Westfalen, Schlesien, politischer Katholizismus, CDU) und Referatsleiter („Gedenkstätten und Erinnerungskultur“) in der Landeszentrale für politische Bildung des Landes Nordrhein- Westfalen. Gestaltung: Werner Karg leitet das Veranstaltungsreferat in der Landeszentrale für politische griesbeckdesign Bildungsarbeit. www.griesbeckdesign.de

Veranstaltungshinweis Druck: creo Druck & Die Weiße Rose im Gedächtnis Münchens Medienservice GmbH, Wandel und Kontinuitäten Gutenbergstraße 1, 96050 Bamberg Montag, 12. Dezember 2011, 19.00 Uhr Literaturhaus München, Salvatorplatz 1, 4. Stock, Saal Titelbild: Globalisierungs- kritische Aktivisten beim Vortrag: Dr. Andreas Heusler, Historiker am Stadtarchiv München G8-Treffen in Heiligendamm Podiumsgäste: Dr. Ludwig Spaenle, Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus im Juni 2007 Prof. Dr. Margit Szöllosi-Janze, Lehrstuhl für Neueste Geschichte und Quelle: ullstein bild Zeitgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München Markus Schmorell, Familienangehöriger von Alexander Schmorell Die Landeszentrale konnte die Ur- heberrechte nicht bei allen Bildern Dr. Hans-Jochen Vogel, Altoberbürgermeister dieser Ausgabe ermitteln. Sie ist aber Moderation: Amelie Fried, Publizistin bereit, glaubhaft gemachte Ansprüche nachträglich zu honorieren. Die Erinnerung an die Weiße Rose ist in München seit der ersten Gedenkfeier am 4. November 1945 nicht verloschen, wenngleich im historischen Stadtgedächtnis unterschiedlich präsent. Bereits 1946 widmete die Ludwig-Maximilians-Universität den Opfern des studentischen Widerstands eine Gedenktafel, später folgten weitere Denkmäler in der Stadt sowie die Benennung von Straßen, Plätzen oder Schulen nach einzelnen Personen der Weißen Rose. Die Veranstaltung will mit Einfüh- rungsvortrag und Podiumsdiskussion eine prüfende Bestandsaufnahme vergangener und aktueller Formen dieses Erinnerns wagen. Sie will überdies beispielhaft aufzeigen, dass Erinnerungskultur kein statisches Phänomen ist, sondern einer permanenten Veränderung unterliegt. Jede Generation hat ihre Art und Weise, wie sie Vergangenes vergegenwärtigt, bewertet und Schlüsse für das jewei- lige Hier und Jetzt zieht. Erinnerungskultur ist somit immer auch eine Aussage über die Gegenwart des Gemeinwesens. Veranstalter: Weiße Rose Stiftung e.V. und Stiftung Literaturhaus. Mit freundlicher Unterstützung der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. Eintritt: Euro 9,-/7,-

230 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Einsichten und Perspektiven

Inhalt

Eva Feldmann-Wojtachnia und Manuela Glaab 232 Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutsch- land

Christian Babka von Gostomski, Afra Gieloff, Martin Kohls, Harald Lederer, Stefan Rühl 246 Wie steht es mit der Integration? Personen mit Migrationshintergrund in Bayern

Guido Hitze 260 „Es ist furchtbar, aber es geht!“ Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kultur und Identität

Christoph Huber 276 Mauern und Namen NS-Gedenkstätten in Frankreich

Stephan Hildensperger 284 zeit.raum@bayern Der Heimat ein Gesicht geben

Werner Karg 288 Bayerisch-israelische Absichtserklärung zur Bildungskooperation

292 Neue Publikationen der Landeszentrale

294 Jahresausblick 2012

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 231 Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland Bürgerengagement oder politischer Aktivismus?

Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland

Von Eva Feldmann-Wojtachnia und Manuela Glaab

Proteste beim Abriss des Nordflügels des Stuttgarter Hauptbahnhofs im August 2010 Quelle: Alle Fotos im Artikel von ullstein

232 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland

Demnächst könnte „Stuttgart 21“ im Duden als Fachbegriff nachzuschlagen sein: als selbstregulierte, direkte politische Artikulationsform unterschiedlichster Bevölke- rungsgruppen. Geeint werden die Teilnehmer an den Protestaktionen durch das Ziel, ihre Unzufriedenheit mit der Intransparenz und mangelnden Glaubwürdigkeit der Entscheidungsprozesse zum Verkehrs- und Städtebauprojekt auszudrücken und diese möglichst zu korrigieren. Handelt es sich bei einer solchen Mobilisierung auf der Straße um eine neue Qualität des politischen Aktivismus, welche die Frage nach einer Erneuerung der repräsentativen Demokratie durch direkte Partizipationsformen auf den Plan ruft? Oder verstärkt diese Form des konfrontativen Protests die Kluft zwischen Bürgern und Politik, zwingt letztere aber zu handeln?

Politischer Aktivismus ist mitnichten ein neues Phänomen sierte Beteiligungsformen, die zwischen Aktionen im Netz und kennt die vielfältigsten Ausdrucksformen. Seit der und an realen Orten switchen. Auch sind die Grenzen zwi- Begriff in den zwanziger Jahren geprägt wurde, haben sich schen Generationen oder sozialen Gruppen ganz offenkun- zahlreiche Varianten von Aktionsformen, beispielweise De- dig durchlässiger geworden. monstrationen, Boykottaktionen, Mahnwachen oder Un- Aber es gibt auch Initiativen seitens der Politik, die terschriftensammlungen, entwickelt. Gegenwärtig scheint eine Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenhalts der politische Aktivismus jedoch eine neue Qualität zu und die aktive Mitwirkung an der Politik zum Ziel haben. gewinnen. Es lässt sich beobachten, wie die Politik in Zeiten So rief Bundespräsident Christian Wulff mit der Schaffung der globalen Finanzkrise auf eine Vermittlungskrise zusteu- des BürgerForum 2011 (www.bund.buergerforum2011.de) ert, die angesichts der niederschwelligen Vernetzungsmög- die Bürgerinnen und Bürger dazu auf, in Eigenregie in loka- lichkeiten von alarmierten Bürgerinnen und Bürgern eine len BürgerForen zu diskutieren, wie der gesellschaftliche Tiefendimension mit unüberschaubaren, schwer steuerba- Zusammenhalt in Deutschland verbessert werden kann. ren Konsequenzen erlangt. Neu an der aktuellen Protest- Ziel dieser online-basierten Konsultationsofferte ist es, bewegung sind jedoch nicht die Aktionsformen an sich, Menschen mit ihren eigenen Themen am politischen Wil- sondern ihre Intensität und das Tempo, die durch die Inter- lensbildungsprozess zu beteiligen und für politisches Enga- netvernetzung erreicht werden. Deutlich sichtbarer und gement zu motivieren. Noch ist es jedoch zu früh einzu- direkter sind auch die politischen Konsequenzen, die sogar schätzen, was aus einer solchen Konsultation längerfristig so weit reichen können, dass sie wie im „Fall Guttenberg“ resultiert. Wenngleich im Ergebnis ein bundesweites Bür- einen Spitzenpolitiker zum Rückzug zwingen oder eine gerprogramm mit konkreten Vorschlägen für Politik und Kehrtwende in der Energiepolitik mit herbeiführen. Die Gesellschaft entwickelt wurde, so stellt sich die Frage, ob sogenannten „Wutbürger“ (Wort des Jahres 2010) und und welche politischen Konsequenzen letztlich gezogen „Occupy“-Aktivisten bevorzugen flexible, nicht formali- werden.

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 233 Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland

„Flashmob“-Aktion zum 60-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes im Mai 2009 in

Politische Partizipation und Demokratie maximiert werden soll. Enthalten sich relevante Teile der Bevölkerung, so wird dies als Zeichen mangelnder System- Für das Funktionieren der Demokratie ist politische unterstützung und einer möglichen Gefährdung der Sys- Partizipation, verstanden als Handlungen, „die Bürger temstabilität gewertet. Neue, unkonventionelle Formen des freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Entscheidungen politischen Aktivismus wie „Flashmob“ oder „YES MAN“ auf den verschiedensten Ebenen des politischen Systems könnten hier als kreativer Inputgeber für politische Ent- zu beeinflussen“,1 unverzichtbar. Dies äußert sich in scheidungsprozesse betrachtet werden.3 In der Perspektive unterschiedlichsten Formen aktiver Bürgerbeteiligung. output-orientierter Demokratietheorien kommt es dagegen Je nach demokratietheoretischer Perspektive bestehen auf die Systemperformanz an. Die Bürgerbeteiligung erfolgt hinsichtlich des notwendigen Beteiligungsniveaus wie vorwiegend durch die Teilnahme an Wahlen, um demokra- auch der adäquaten Partizipationsformen jedoch unter- tische Herrschaft zu legitimieren und zu kontrollieren. schiedliche Auffassungen.2 Aber auch die Nichtteilnahme an Wahlen erscheint solange unproblematisch, soweit hierdurch Zufriedenheit mit dem Partizipatorische Demokratietheorien betonen die Input- Output, also den Leistungen des politischen Systems, zum Dimension, also die politische Beteiligung der Bürgerinnen Ausdruck gebracht wird. und Bürger, die sich nicht auf die Teilnahme an Wahlen und Offensichtlich ist den Protestierenden eine solche Abstimmungen beschränken, sondern in allen Bereichen Grundzustimmung nicht mehr möglich.

1Max Kaase: Vergleichende Partizipationsforschung, in: Dirk Bergschlosser, Ferdinand Müller-Rommel (Hg.): Vergleichende Politikwissen- schaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1997, S. 160. 2Vgl. Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2010. 3Vgl. Felix Ludwig, Jana Trumann, Tim Zosel: Flashmob und Co. Politische Partizipation und Bildung oder nur Aktion?, in: kursiv. Praxis politische Bildung „Politische Partizipation“ (2011), H. 4, S. 25.

234 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland

Die aktuell zu beobachtenden, vielfältigen Erschei- Wirkkraft der Social Media oft auch eine globale Dimen- nungsformen des politischen Aktivismus bringen zwei- sion. felsohne eine weitreichende Unzufriedenheit mit der etablierten Politik zum Ausdruck. Sie zeigen aber auch, Allerdings ist kritisch zu hinterfragen, ob politischer dass beachtliche Teile der Bevölkerung bereit sind, sich Aktivismus bei der Lösung der artikulierten Probleme aktiv und teilweise unter hohem persönlichem Einsatz tatsächlich helfen kann. Denn unabhängig von der an der politischen Willensbildung zu beteiligen. Klassifizierung von verfassten und nicht-verfassten Partizipationsformen und ihrer Bewertung im Hinblick Ein deutlich anderes Bild ergibt sich im Bereich der kon- auf Funktion, Reichweite und Legalität stellt sich hier ventionell verfassten politischen Partizipation, die in den die Frage nach der normativen Grundlegung des institutionalisierten Bahnen der repräsentativen Demo- Politikbegriffs. Partizipation im Sinne von politischer kratie verläuft, rechtlich geregelt ist und dementsprechend Teilhabe und demokratischen Mitwirkung in möglichst eine hohe Legitimitätsgeltung besitzt. So ist die Beteiligung vielen unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft ist an Wahlen in der Gesamttendenz auf allen Ebenen rückläu- dabei als Schlüsselbegriff zu verstehen, wenngleich fig. Bei der Bundestagswahl 2009 wurde mit 72,2 Prozent Politik sicherlich allein über das Partizipationsprinzip Wahlbeteiligung das niedrigste Niveau seit Bestehen der nicht neu definiert werden kann. Als Protestverhalten Bundesrepublik erreicht. Noch deutlich geringer fällt die entziehen sich die neuen Formen des politischen Akti- Wahlbeteiligung auf der Europa-, Landes- und kommuna- vismus dieser Auseinandersetzung, wenn sie nicht auf len Ebene aus. Und auch die Parteien, denen eine tragende Interessenausgleich und Diskurs ausgelegt sind, son- Funktion in der politischen Meinungs- und Willensbildung dern als Aktionismus in erster Linie auf Einzelaktionen zukommt, beklagen seit langem einen Mitgliederschwund. und deren öffentliche Sichtbarkeit abzielen bzw. die Besonders betroffen hiervon sind die Volksparteien CDU Identifikation mit der eigenen Gruppe zum Ziel haben und SPD, die jeweils nur noch um die 500.000 Mitglieder und die Politik letztlich als Adressat fehlt. zählen. Die Forderung nach „mehr Demokratie“ deutet Normalisierung des Unkonventionellen darauf hin, dass es bei den Protesten vor Ort – dafür steht „Stuttgart 21“ nur als ein Beispiel – nicht allein um den kom- Politischer Aktivismus und Protestbewegungen in munalen Konflikt geht, sondern „um eine scharfe Ausei- Deutschland sind keine Momentaufnahmen, sondern ein- nandersetzung um nicht mehr akzeptierte Formen und zuordnen in eine längerfristige Entwicklung. Rückblickend Verfahren bisheriger Bürgerbeteiligung“.4 Nicht die Ab- auf die Geschichte der politischen Kultur in Deutschland schaffung der repräsentativen, parlamentarischen Demo- gab es bereits einige Hochzeiten des außerparlamentari- kratie an sich steht zur Debatte, jedoch ein deutlich recht- schen Bürgerprotestes. Hierzu zählen zweifelsohne die zeitiger Einbezug der Bürgerinnen und Bürger im Prozess „Montagsdemonstrationen“ in der DDR, die die politische der politischen Entscheidungsfindung mit ernsthaften Wende mit dem Fall der Mauer 1989 einläuteten. In der Konsequenzen seitens der Politik. Bundesrepublik ist die Achtundsechziger-Bewegung her- Insbesondere junge Menschen wollen ihre Stimme vorzuheben, mit Studentenrevolten, Aktionen des zivilen nicht mehr (oder nicht nur) am Wahltag oder innerhalb der Ungehorsams und Ostermärschen, außerdem Massende- bestehenden Strukturen abgeben. Direktere Beteiligungs- monstrationen und kilometerlange Menschen- und Lich- formen, auf der Straße oder im Netz, ohne aufwändigen terketten gegen den NATO-Doppelbeschluss und gegen zeitintensiven Vorlauf oder längerfristige, bindende Mit- das Wettrüsten. Schon in den siebziger Jahren war von einer gliedschaften und ein handlungsbezogener Erlebnischarak- „partizipatorischen Revolution“ (Max Kaase) die Rede. ter stehen hier im Vordergrund. Kennzeichnend für den Damit wurden unverfasste Beteiligungsformen, die sich neuen politischen Aktivismus ist zudem eine eher punktu- außerhalb institutionalisierter Bahnen, in spontanen oder elle, situative Beteiligung ressourcenstarker, gut vernetzter geplanten Mobilisierungsprozessen vollziehen, auf eine Bevölkerungsteile, die nicht mehr eindeutig nur einer Gene- griffige Formel gebracht. Sie nehmen seither neben den ver- ration oder sozialen Herkunft zugeordnet werden können. fassten, elektoralen und parteibezogenen Aktivitäten einen Das teils lokal begrenzte Engagement erhält durch die nicht mehr wegzudenkenden Platz im politischen Gesche-

4Rita Süssmuth: Mangelt es an Offenheit und Bürgerbeteiligung?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 61 [„Demokratie und Beteiligung“] (2011), H. 44-45, S. 4.

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 235 Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland

Montagsdemonstration mit ca. 120.000 Teilnehmern im Oktober 1989 in hen ein. Momentan erleben wir daher zwar einen enormen viel stärker von institutionenorientierten, „konventio- Aufschwung an politisch lebhaftem Aktivismus, im Kern nellen“ Gelegenheitsaktivitäten bestimmt, als es die jedoch kein neues Phänomen der Bürgerbeteiligung. Diese Medienberichterstattung über spektakuläre Protest- in Anlehnung an die Political-Action-Studie5 auch als „un- aktionen vermitteln mag. Hinzu kommt, dass Parteien konventionell“ bezeichnete Partizipation umfasst sowohl und andere Großorganisationen vielfach selbst als legale als auch nicht-legale Varianten. Das Spektrum reicht Initiatoren von Protestkampagnen auftreten. von der Teilnahme an Unterschriftensammlungen über ge- nehmigte Demonstrationen bis hin zu Boykotts, Straßen- Die „Normalisierung des Unkonventionellen“ (Dieter blockaden oder Gebäudebesetzungen. Fuchs) manifestiert sich in der gestiegenen Akzeptanz un- verfasster Beteiligungsformen. Sowohl die Bereitschaft, bei Inzwischen gilt die begriffliche Unterscheidung zwi- den zumeist themenbezogenen und zeitlich begrenzten Ak- schen konventionellen und unkonventionellen Beteili- tionsformen mitzumachen, als auch die tatsächliche Betei- gungsformen als überholt, weil sie kaum mehr den ligung hieran sind längerfristig gestiegen. Hatte sich Mitte vorherrschenden Partizipationsmustern entspricht. der siebziger Jahre erst ein Drittel der Bundesbürger über- Zum einen finden die legalen Varianten dieser Betei- haupt einmal an einer solchen Aktion beteiligt, so avancier- ligungsformen breite Akzeptanz in der Bevölkerung ten diese im Verlauf der achtziger Jahre zu einer Aus- und beschränken sich längst nicht mehr auf postmate- drucksform der Mehrheit.6 Hervorzuheben ist jedoch, dass rialistische Protestmilieus. Zum anderen wird die Praxis Aktionen des zivilen Ungehorsams – wozu beispielsweise

5Samuel Barnes/Max Kaase u.a.: Political Action. Mass Participation in Five Western Democracies, Beverly Hills (CA) 1979. 6Vgl. Bernhard Weßels: Politisierung entlang neuer Konfliktlinien?, in: Ansgar Klein, Rainer Schmalz-Bruns (Hg.): Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen, Bonn 1997, S. 205–230.

236 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland

Proteste an der Freien Universität Berlin gegen die Notstandsgesetze im Mai 1968

wilde Streiks, Sit-ins und Verkehrsblockaden zu rechnen Ablesbar ist dies vor allem daran, dass Bürger mit hoher for- sind – von der großen Mehrheit der Bürger als nicht legitim maler Schulbildung unkonventioneller Partizipation beson- betrachtet werden. Dementsprechend spielen sie auch nur ders aufgeschlossen gegenüber stehen.8 eine untergeordnete Rolle in deren Aktionsspektrum. Von einer Umkehr dieses Trends kann auch in den Eine wichtige Determinante stellt außerdem das Alter darauffolgenden Jahrzehnten nicht die Rede sein.7 Immer dar. Demnach ist die aktive Beteiligung, vor allem aber mehr Bürger bevorzugen offenbar ein punktuelles, zeitlich eine positive Einstellung gegenüber unkonventionellen begrenztes politisches Engagement. Dies korrespondiert Partizipationsformen in der jungen Generation beson- mit einem gewandelten Politikverständnis, das als eher situ- ders stark ausgeprägt. Partizipation ist dabei untrenn- ativ, kontextabhängig, erlebnis- und betroffenheitsorien- bar mit der Identitätsbildung von Jugendlichen verbun- tiert zu beschreiben ist. Zudem ist die potentielle Beteili- den und bewegt sich zunächst im gesellschaftlichen, gungsbereitschaft im Allgemeinen höher einzuschätzen als vorpolitischen Raum. Sich für die eigene Umwelt zu die tatsächliche Beteiligung an politischen Aktionen. Dazu interessieren und sich mit den Interessen anderer über bietet die Forschung mehrere, sich ergänzende Erklärungs- den privaten Nutzen hinaus kritisch auseinanderzuset- ansätze an: Die Mobilisierung wird von der individuellen zen, sind soziale Grundbedürfnisse und elementare sozioökonomischen Ressourcenausstattung beeinflusst. Identitätserfahrungen, die bereits Kinder machen.9

7Vgl. ausführlicher Manuela Glaab: Politische Partizipation versus Enthaltung, in: Manuela Glaab/Werner Weidenfeld/Michael Weigl (Hg.): Deutsche Kontraste 1990-2010. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Frankfurt am Main 2010, S. 101-137. 8Vgl. Andreas Hadjar, Rolf Becker: Bildungsexpansion und politisches Engagement – Unkonventionelle politische Partizipation im Zeitverlauf, in: Ingo Bode/Albert Evers/Ansgar Klein (Hg.), Bürgergesellschaft als Projekt. Eine Bestandsaufnahme zu Entwicklung und Förderung zivilgesellschaftlicher Potenziale in Deutschland, Wiesbaden 2009, S. 101–124. 9Ausführlicher siehe: Eva Feldmann-Wojtachnia: Identität und Partizipation. Bedingungen für die politische Jugendbildung im Europa der Bürger und Bürgerinnen, C·A·P Analyse (2007), Nr. 6, S. 6-10.

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 237 Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland

Globalisierungskritische Aktivisten beim G8-Treffen in Heiligendamm im Juni 2007

Weniger eindeutig ist der Zusammenhang zwischen ver- spielsweise im Zuge der Reformpolitik der rot-grünen Bun- schiedenen Sozialisationsfaktoren sowie Motiven politi- desregierung zu Protesten von Erwerbslosen und weiteren scher Unzufriedenheit und der Protestneigung. Die Einbin- Bevölkerungsteilen, die sich von Arbeitslosigkeit bedroht dung in soziale Netzwerke spielt vor allem bezüglich des sahen. Vor allem in den Jahren 1998 sowie 2003/04 wurde parteibezogenen Engagements eine Rolle, fördert aber auch ein hoher Aktivitätsgrad ermittelt; schwerpunktmäßig in die unkonventionelle Partizipation. Im Bereich der nicht- Ostdeutschland, aber auch bundesweit kam es zu Protesten. institutionalisierten Partizipation, die sehr stark an konkre- Mit den wiederum so genannten „Montagsdemonstratio- te Anlässe gebunden ist, ist somit von einer hohen Varianz nen“ gegen den Sozialabbau durch die Hartz-IV-Gesetz- der Erklärungsfaktoren auszugehen.10 gebung im Sommer 2004, bei denen über eine Million Men- Darüber hinaus ist zu betonen, dass die Datenlage schen auf die Straße gingen, erreichte die Mobilisierung im Bereich der unkonventionell-unverfassten Aktivitäten ihren Höhepunkt. Die Protestkonjunktur wurde außerdem insgesamt betrachtet eine recht diskontinuierliche Ent- durch globalisierungskritische Bewegungen belebt, die im wicklung abbildet. Dies hat zum einen methodische Ursa- vergangenen Jahrzehnt wachsenden Zulauf auch in chen (variierende Frageinstrumente und Indikatoren sowie Deutschland erhielten. Die „alten“ postmaterialistischen Datenlücken), verweist zum anderen aber auch auf die star- Bewegungskerne der siebziger und achtziger Jahre werden ke Kontextabhängigkeit dieser Partizipationsformen. Eine dabei zusehends abgelöst durch Nichtregierungsorgani- Längsschnittanalyse von Protestereignisdaten ergibt daher sationen (NGOs), die ein globalisierungskritisches, inter- stark schwankende Protestkonjunkturen.11 So kam es bei- national vernetztes Bewegungsumfeld auf den Plan rufen

10 Vgl. Oscar W. Gabriel: Politische Partizipation, in: Jan W. van Deth (Hg.): Deutschland in Europa. Ergebnisse des European Social Survey 2002–2003, Wiesbaden 2011, H. 4, S. 317–338. 11 Umfassend dazu Dieter Rucht (Hg.): Protest in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt am Main 2001.

238 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland

können.12 Im Zentrum der Protestaktivitäten steht die ben im fließenden Übergang von virtuellen Netzen und Kritik an Kapitalismus und Neoliberalismus. Große öffent- der Realität „vor Ort“, dabei geht es meist um weit liche Aufmerksamkeit erregten auch die gegen IWF, Welt- mehr als um Spaßaktionismus. Ziel ist es, die eigene, oft bank und WTO sowie gegen internationale Gipfeltreffen gesellschaftskritische oder konträre Position gesell- gerichteten Demonstrationen. Die Mobilisierungsbasis der schaftlich sichtbar zu machen, aber auch globalisierungskritischen Bewegungen in Deutschland Aufmerksamkeit für neue Themen zu generieren. wurde hier durch die Einbeziehung benachbarter, vor allem friedens- und sozialpolitischer Themenfelder noch erwei- Man wird dem Begriff der Jugendpartizipation nicht ge- tert. recht, verkürzt man ihn nur auf eine rein politische Sicht- weise; ein umfassendes Verständnis schließt immer auch Politischer Aktivismus in der jungen Bildungs- und Sozialisationsprozesse ein. Entwicklungs- Generation psychologisch betrachtet sind Jugendliche etwa ab 14 Jah- ren zu strukturellem Denken und dem Abstrahieren der Junge Menschen stehen heute mehr als je zuvor unter einem subjektiven Lebenswelt in sozialen und politischen Zusam- enormen Mobilitäts- und Flexibilitätsdruck, besonders menhängen in der Lage. Etwa zeitgleich setzt eine – wie dann, wenn sie auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen möchten. auch immer geartete – politische Identitätsentwicklung ein. Daher wägen sie sehr kritisch ab, wofür und mit welcher Jugendliche prägen hier erste eigene Einstellungen und Intensität sie ihre persönlichen Ressourcen einsetzen. Be- Verhaltensweisen aus, die sie relativ stabil über die Jugend- vorzugt werden Gelegenheitsstrukturen und Handlungs- phase hinweg beibehalten.14 Dies allein bringt allerdings kontexte zur Beteiligung, die sie nicht längerfristig binden nicht unmittelbar eine nachhaltige, strukturelle Jugendbe- und einengen. Die 13. Shell-Jugendstudie (Jugend 2010) be- teiligung hervor, hierzu sind neben einer gezielten gesell- zeichnet die junge Generation als großteils „pragmatisch schaftspolitischen Bildungsstrategie zur Förderung und und illusionslos“, aber nicht automatisch als passiv und teil- Verankerung der nötigen Kompetenzen auch gute Gelegen- nahmslos gegenüber ihrem politischen und gesellschaftli- heiten und Erfahrungsräume wie letztlich auch verbindliche chen Umfeld. Im Gegenteil: Wie soziologische Unter- Rahmensetzungen in Politik und Gesellschaft gefragt. Oft- suchungen zeigen, hat sich das politische Interesse, so wie mals fehlen hier die (jugendgerechten) Zugänge oder es ste- die Mitgliedschaft in Organisationen, Vereinen und Verbän- hen zu große bürokratische Hürden im Weg. den, inzwischen sogar verstärkt.13 Als ein attraktiver, interaktiver Ort der Beteiligung erscheint daher vielen Jugendlichen gerade das Internet, wo Doch die Attraktivität politischer Partizipationsmög- eigener Input sowie die eigene Meinung unkompliziert und lichkeiten wird von jungen Menschen unterschiedlich direkt eingebracht werden können. Regelmäßig untersu- bewertet, wenn auch die Abkehr von konventionellen chen die KIM- und JIM-Studie15 das Medienverhalten von parteigebundenen Formen und Wahlen nicht vorschnell Kindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutsch- als allgemeine Politikverdrossenheit gewertet werden land. Demzufolge haben nahezu 100 Prozent der 12- bis 19- sollten. Denn dem steht die zunehmende Bereitschaft Jährigen Internetzugang, zumeist über ihre Eltern, jedoch zur aktiven Mitwirkung in Initiativen oder Vereinen verfügt die Hälfte der älteren Jugendlichen bereits über gegenüber. Nicht ein Desinteresse an Politik als solcher, einen persönlichen Anschluss im eigenen Zimmer. Die JIM- sondern ihre zunehmende Kritik an den herkömmli- Studie weist zudem einen Zusammenhang zwischen der chen Beteiligungsformaten ist entscheidend. Dies führt Häufigkeit und Dauer der Internetnutzung und dem Bil- zu einem Zulauf zu interaktiven und innovativen dungsgrad der Jugendlichen nach. Zwar nutzen Jugendliche Aktionsformen, die in ihrer überschaubaren Kurzfris- mit höherem Bildungsgrad das Internet öfter, aber kürzer tigkeit und lokalen Anbindung niederschwellig und als Jugendliche mit niedrigerem Bildungsgrad. Mädchen dadurch enorm attraktiv sind – besonders für die junge nutzen das Internet ebenfalls etwas weniger als Jungen. Am Generation. Den öffentlichen Raum neu zu „erobern“ – beliebtesten bei Jugendlichen sind die verschiedenen Kom- wie Piraten im übertragenen und wörtlichen Sinne – munikations- und Austauschmöglichkeiten unter Gleich- oder im „Flashmob“ „Gemeinschaft auf Zeit“ zu erle- altrigen und somit Suchmaschinen und Provider im Netz,

12 Vgl. Dieter Rucht, Roland Roth: Globalisierungskritische Netzwerke, Kampagnen und Bewegungen, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Frankfurt am Main/New York 2008, S. 493-512. 13 Vgl. Wolfgang Gaiser, Martina Gille, Johann de Rijke: Zur Lage der Jugend. Lebenssituation und Engagement in Gewerkschaften und Jugendverbänden, in: kursiv. Praxis politische Bildung (2011), H. 4, S. 8-18. 14 Vgl. Monika Buhl: Politische Identitätsbildung im Jugendalter, in: kursiv. Praxis politische Bildung (2006), H. 1, S.20. 15 Siehe: http://www.mpfs.de (Stand: 28. 11. 2011).

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 239 Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland

Startseite von „schülerVZ“

wobei Google deutlich an der Spitze liegt. Hoch beliebt sind schaft sind die vielfältigen „neuen“ elektronischen Partizi- Social-Web-Angebote oder Seiten mit user generated con- pationsformen (unter den Stichworten „E-Partizipation“, tent, wo eigene Inhalte eingearbeitet werden können. Hier „digitale Demokratie“, „fluid oder real-time democracy“) erwähnen die Jugendlichen „YouTube“, „schülerVZ“ und überwiegend als technische Adaptionen herkömmlicher „Wikipedia“. Daher hätte unter Umständen ein Jugendkon- Formen der Bürgerbeteiligung zu betrachten. Das Spek- sultationsportal eine gute Akzeptanzchance; zumal bei etwa trum reicht von einfachen Informationstools bis hin zu der Hälfte der Jugendlichen ein Interesse an aktueller Bun- anspruchsvollen, auf Deliberation zielende Anwendungen des- und Lokalpolitik verzeichnet werden kann und es wie Online-Konsultationen. Diese unter dem Begriff der Jugendliche durchaus für wichtig halten, über neue Ent- „E-Demokratie“ subsumierten Formen der E-Partizipation wicklungen schnell Bescheid zu wissen. lassen sich in einen staatlichen sowie einen nicht-staatlichen, zivilgesellschaftlichen Bereich systematisieren, wenngleich E-Partizipation und Netzaktivismus diese in der Nutzungspraxis häufig miteinander verknüpft sind.16 Mit der rasanten Entwicklung der digitalen Medien stellt So hat sich die Bundesregierung dazu verpflichtet, sich immer drängender die Frage, inwieweit das Internet als für die derzeitige Legislaturperiode (2009–2012) eine E- ein zentraler Ort für Partizipation und Bürgerbeteiligung Government Strategie 2.0 vorzulegen, um die E-Partizipa- betrachtet werden muss. Die Mobilisierungserfolge von tion in Deutschland zu fördern.17 Diese setzt sich zum Ziel, Netzaktivisten haben eindrucksvoll vor Augen geführt, moderne Kommunikationswege für alle öffentlichen Ein- dass durch die neuen Informations- und Kommunikations- richtungen zu etablieren, um damit das Interesse an gesell- technologien (IuK) ganz neue Dimensionen politischer schaftspolitischen Themen und eine direkte Teilhabe der Beteiligung eröffnet werden. Aus Sicht der Politikwissen- Bürgerinnen und Bürger an der Politik zu fördern. Unter

16 Vgl. Glaab (wie Anm. 7). 17 Aktueller Diskussionstand des BMI-Strategiepapiers siehe: http://www.CIO.bund.de/cln_164/DE/E-Government/Nat_%20E- Government/nat_eGovernment_node.html (Stand: 28. 11. 2011).

240 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland anderem soll mit dieser Initiative, die vom Bundesinnenmi- dien belegen, dass es trotz einiger Nutzungsbarrieren eine nisterium (BMI) ausgeht, auch die Internetnutzung durch immer größere Reichweite erlangt. Aktuellen Internet- bislang unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen gefördert Strukturdaten der Forschungsgruppe Wahlen aus 2011 zu- werden. folge nutzen etwa drei Viertel der Bevölkerung in Deutsch- Hierzu wurde 2008 die Internetplattform „e-kon- land das Internet. In Westdeutschland sind 75 Prozent on- sultation.de“ im Auftrag des BMI als neues Konsultations- line, in Ostdeutschland hingegen nur 69 Prozent. Eine Kluft instrument eingerichtet, auch mit dem Ziel, dieses Verfahren besteht weiterhin zwischen der Internetnutzung durch für andere politische Ressorts verfügbar zu machen. Of- Männer (80 Prozent) und Frauen (67 Prozent). Vor allem fensichtlich bevorzugen jedoch die Bürgerinnen und Bürger aber stellt die formale Bildung einen wichtigen Faktor der andere, selbstgesteuerte Foren im Netz und ziehen hier kei- Internetaffinität dar. Während nahezu alle Deutschen mit ne Rückschleife zu Angeboten der offiziellen Politik. Auch Hochschulreife (94 Prozent) und auch 85 Prozent mit versucht das Bundesjugendministerium mit weiteren Ak- Mittlerer Reife das Internet nutzen, tun dies nur 57 Prozent teuren der Jugendpolitik und der Jugendarbeit, im Rahmen derjenigen mit Hauptschulabschluss und Lehre. In der der Umsetzung der EU-Jugendstrategie (2010–2018)18 in Gruppe derjenigen mit Hauptschulabschluss ohne Lehre Deutschland und mittels des „Strukturierten Dialogs“ neue, liegt die Nutzung sogar nur bei 34 Prozent.20 zum Teil online-gestützte Kommunikationsformen mit jugendlichen Zielgruppen zu finden und flankierend über Anwendungen des Web 2.0 und Social Media wie Face- das institutionalisierte, offene EU-Konsultationsverfahren book oder Twitter entfalten eine zusätzliche Dynamik Jugendpartizipation voranzubringen. und haben das Potenzial, auch politikferne Teile der IuK-Technologien werden aber auch und vor allem Bevölkerung zu erreichen. Neue Formen der Versamm- unabhängig von staatlichen Initiativen genutzt. Von beson- lungsöffentlichkeit entwickeln sich in diesen Foren, die derem Interesse ist die Tatsache, dass zivilgesellschaftliche jedoch von jüngeren, „well-informed citizens“ über- Organisationen diese mit wachsendem Erfolg zur internen durchschnittlich genutzt werden. Einige Autoren spre- Organisation sowie zur Mobilisierung und Koordination chen daher davon, dass vor allem eine Informationselite von Protesten nutzen. Schlagworte wie „Cyberaktivismus“, und weniger der „einfache Bürger“ gestärkt werden.21 „E-Aktivismus“ oder „Onlineaktivismus“ verweisen auf Auch eine jüngst veröffentlichte Studie des IfD Allens- diesen Trend. Eine vom Bundesministerium des Innern in bach kommt zu der Feststellung, dass insbesondere die Auftrag gegebene Studie entdeckt im Bereich von Aktivis- Gruppe der politischen Netzaktivisten das Internet als mus, Kampagnen und Lobbying auch die technisch fort- Chance für mehr demokratische Teilhabe begreift.22 schrittlichsten Angebote der E-Partizipation.19 Zu den neueren, rein internetbasierten Aktionsformen zählen zum Nach der Datenlage sind dazu etwa zehn Prozent der Bür- Beispiel die Einrichtung von E-Petitionsplattformen, das ger zu rechnen. Sie werden charakterisiert als eine selbstbe- Lahmlegen von Websites durch gezielte Überlastung oder wusste Minderheit, die meist aus höheren Bildungs- und das Fluten ausgesuchter Adressaten mit E-Mails. Das On- Einkommensschichten stammt, überwiegend männlich ist lineportal „abgeordnetenwatch.de“ steht beispielhaft für und vor allem in der jüngeren Generation der unter 30- Formate, die auf mehr Transparenz im politischen Prozess Jährigen zu finden ist. Die Protestneigung verbindet sich in abzielen. dieser Gruppe mit der Überzeugung, politisch etwas bewir- Das Partizipationspotenzial des Internet resultiert ken zu können. So meinen 60 Prozent, durch das Internet aus der Tatsache, dass es die Interessenartikulation zu gerin- würde der Druck auf die Politik steigen, „bei wichtigen gen Kosten, ortsunabhängig, mit hoher Geschwindigkeit Entscheidungen stärker auf die Meinung der Bevölkerung und prinzipiell unbegrenzter Reichweite ermöglicht. Stu- Rücksicht zu nehmen“.23

18 Siehe: Entschließung des Rats vom 27. November 2009 über einen erneuerten Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa (2010–2018) (2009/C 311/01). 19 Vgl. Hilmar Westhom (u.a.): E-Partizipation – Elektronische Beteiligung von Bevölkerung und Wirtschaft am E-Government. Studie im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, Ref. IT 1., Berlin 2008, S. 7. 20 Vgl. http://www.forschungsgruppe.de/Aktuelles/Internet-Strukturdaten/web_III_11.pdf. (Stand 23.11.2011). 21 So z.B. Matthew Scott Hindman: The Myth of Digital Democracy. Princeton, NJ u.a. 2009. 22 Vgl. Renate Köcher, Oliver Bruttel: Social Media, IT & Society (1. Infosys-Studie), Allensbach 2011. Dabei handelt es sich um eine reprä- sentative Studie, die das Institut für Demoskopie Allensbach (IfD) im Auftrag der IT-Beratung Infosys Limited durchgeführt hat. Diese stützt sich auf 1.906 im Mai 2011 durchgeführte Interviews (Bevölkerung ab 16 Jahre); abrufbar unter: http://www.infosys.com/german/newsroom/press-releases/documents/social-media-it-society2011.pdf; alle in diesem und den folgenden Abschnitten zitierten Daten sind dort zu entnehmen. 23 Vgl. Köcher, Bruttel (wie Anm. 20), hier S. 13.

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 241 Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland

Mark Zuckerberg (geb. 1984), Gründer von Facebook, im April 2010

Es gibt gute Gründe dafür anzunehmen, dass das Potenzial ist. Aber auch die breite Bevölkerung erkennt zuneh- der E-Partizipation noch nicht ausgeschöpft ist. Dafür mend die Beteiligungschancen, die das Internet eröffnet. spricht nicht nur die Tatsache, dass das Internet mit seinen Die große Mehrheit der Befragten erhofft sich hier- vielfältigen Anwendungen es ermöglicht, sich schnell und durch mehr politische Transparenz und Informationen. ohne größeren Aufwand zu engagieren. Dessen sind sich 56 So würden es 68 Prozent befürworten, wenn die Kom- Prozent der Bevölkerung und 88 Prozent der Netzakti- munalpolitik im Vorfeld von Großprojekten generell visten bewusst. Tatsächlich handelt es sich bei den jungen Internetforen einrichten würde, damit die Bürger die Netzaktivisten um eine Bevölkerungsgruppe, die politisch Möglichkeit der Stellungnahme erhalten. 63 Prozent überdurchschnittlich aktiv ist. Während sich nur 17 Prozent befürworten dasselbe Verfahren bei allgemeinen politi- der Gesamtbevölkerung in den traditionelleren Formen der schen Diskussionen und Gesetzesvorhaben. konventionellen wie auch unkonventionellen politischen Partizipation stark engagieren, sind es der Allensbach-Stu- Die empirischen Forschungen zu diesen Fragen stehen erst die zufolge in der Gruppe der Netzaktivisten 46 Prozent. am Anfang, sodass dieser digitale Zugang als Push-Faktor Sie planen Unterschriftenaktionen ebenso wie Demons- (und im Falle der jungen Generation sicherlich zugleich trationen, sie sind Mitglieder in Parteien und Aktive in auch Pull-Faktor) sowie die zu erwartenden Effekte der E- NGOs. Es zeichnen sich hier Konturen eines Milieus ab, zu Partizipation noch schwer einschätzbar sind. Dennoch hat dem die etablierten Parteien nur schwer Zugang finden –am es den Anschein, dass in Deutschland etwas in Bewegung ehesten gelingt dies noch den Grünen. gekommen ist. Spätestens seit dem Wahlerfolg der Piraten in Berlin haben alle Parteien erkannt, dass sie sich dem The- Der Erfolg der Piratenpartei zeigt hingegen, welches menfeld der E-Partizipation widmen müssen und es auch Partizipationspotenzial in diesem Bereich vorhanden nicht versäumen dürfen, die IuK-Technologien selbst kon-

242 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland

Wahlparty der Piratenpartei in Berlin-Kreuzberg am Abend der Senatswahl im September 2011

sequenter zu nutzen. Auch bei der Planung von Großpro- Fazit jekten könnten diese hilfreich sein, z.B. in Form von On- Formen des politischen Aktivismus stehen derzeit im Fokus line-Konsultationen oder zur Unterstützung von Bürgerfo- der öffentlichen Aufmerksamkeit. Tatsächlich nutzen die ren. Dabei gilt es zu beachten: E-Partizipation soll Bürger- Bürgerinnen und Bürger die ihnen zur Verfügung stehen- nähe herstellen, erreicht aber nicht zwangsläufig einen den Partizipationsmöglichkeiten – seien es konventionell- Querschnitt der Bevölkerung. Auch die Allensbach-Studie verfasste oder auch unkonventionell-unverfasste Formen – gelangt zu der Feststellung, dass es in hohem Maße von der je nach Bedarf und Betroffenheit ganz selbstverständlich. persönlichen Betroffenheit sowie dem generellen politi- Allerdings hat die Erweiterung des Partizipationsreper- schen Interesse und Engagement abhängig ist, inwieweit die toires nicht zu einer generellen Zunahme des politischen Bürger von den neuen Möglichkeiten der Information und Engagements geführt. Vor allem im Bereich der elektoralen Mitwirkung Gebrauch machen.24 Vorhandene Partizipati- und parteibezogenen Beteiligung sind in den vergangenen onslücken werden sich also durch E-Partizipation kaum beiden Jahrzehnten rückläufige Tendenzen zu beobachten von selbst schließen. Zudem sollten Legitimationsprobleme gewesen. Nur ein kleiner Teil der politisch Interessierten nicht übersehen werden, die aus den ungleichen Beteili- entscheidet sich für längerfristige Beteiligungsformen, wie gungschancen ressourcenstarker und -schwacher Bevölke- beispielsweise für eine Parteimitgliedschaft. Aber auch bei rungsteile –hier vor allem aufgrund der Nutzungsbarrieren den mehr spontanen, unverfassten Partizipationsformen im Bereich der IuK-Technologien – resultieren. weist der Trend nicht durchweg nach oben. Relevante Teile

24 Vgl. Köcher, Bruttel (wie Anm. 22), hier S. 14.

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 243 Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland

der Bevölkerung haben sich von der Politik zurückgezogen Der Begriff der „Partizipationseliten“25 mag eine Zuspit- und sind kaum noch zum Wählen oder gar zum zung darstellen, macht aber deutlich, dass sich die besser „Mitmachen“ zu motivieren. Andere engagieren sich direkt gebildeten und beruflich besser gestellten Teile der Bevölke- und mehr oder minder spontan, sind dann aber nicht bereit, rung im traditionellen wie virtuellen Bereich überdurch- die Konsequenzen vor Ort zu tragen, wie manche schnittlich engagieren – und damit auch bessere Chancen Bürgerinitiative, die gegen den Aus- und Aufbau von haben, ihre Anliegen durchzusetzen. In Zeiten der Krise Großanlagen für erneuerbare Energien protestiert. sollte es eher das Ziel aller sein, Lösungsperspektiven zu erarbeiten, um die Energie der „Wutbürger“ in konstruk- Wozu führt also ein solcher politischer Aktivismus? tive Mitwirkung zu leiten und den Dialog zwischen Bürger Dabei geht es um viel grundlegendere Fragen als nur und Politik neu zu denken und weiterzuentwickeln. Protest um die neuesten Erscheinungsformen des Bürgerpro- allein können wir uns nicht leisten. ❚ testes. Zur Debatte gestellt werden muss die Frage, wie das beobachtbare Engagement nachhaltig in der Gesell- Literatur: schaft zu verankern und mit entsprechender politischer Relevanz und Rahmensetzung zu versehen ist. Eine Samuel Barnes u.a.: Schlüsselrolle kommt hier letztlich der politischen Bil- Political Action. Mass Participation in Five Western dung zu, wenn sie im Sinne einer nachhaltigen Stär- Democracies, Beverly Hills (CA) 1979. kung von Partizipation und Förderung von Demokra- tiekompetenz über eine reine Informationsfunktion Jutta Bergmann-Gries: hinaus reicht. Auch in Zeiten eines basisdemokratischen Wutbürger, Parteigänger, Nichtwähler. Was bedeuten sie Aktivismus wäre es falsch, eine solche (notwendige) für die politische Bildung?, in: kursiv. Praxis politische Rückschleife zum Diskurs über bürgergesellschaftliches Bildung („Politische Partizipation“) 2011, H. 4, S. 27–36. Engagement, Selbstregulierungsprozesse und Selbst- verantwortung in der Demokratie zu überspringen. Feldmann-Wojtachnia, Eva et. al. (Hg.): Allerdings muss sich die politische Bildungsarbeit zeit- Youth participation in and . Status gemäß auf ihre neue Aufgabe einrichten, will sie ein dif- Analysis and data based recommendations. Helsinki/ ferenziertes, politisches und soziales Bewusstsein schaf- München 2010. fen und somit die politische Reflexion und konstruktive Neubestimmung von Bürgerengagement anregen. Dieter Fuchs: The Normalization of the Unconventional. Forms of Konkret heißt das auch, in dem Dialog mit den politischen Political Action and New Social Movements, in: Gerd Akteuren zu treten und gemeinsam längerfristige, attrakti- Meyer, Franciszek Ryszka (Hg.): Political Participation ve Partizipationsstrukturen besonders für Jugendliche aus- and Democracy in Poland and West Germany, Warschau zuhandeln. Die sich überstürzenden Nachrichten der 2011, H. 4, S. 148–169. Finanz- und Eurokrise erfordern eine tiefer gehende Diskussion zur gesellschaftlichen Dimension politischer Oscar W. Gabriel: Entscheidungen in Deutschland und Europa. Politisches Politische Partizipation, in: Jan W. van Deth (Hg.): Engagement entsteht nicht von selbst, sondern im Deutschland in Europa. Ergebnisse des European Social Austausch und in der breiten Auseinandersetzung über Survey 2002/2003, Wiesbaden 2011, H. 4, S. 317–338. Identität und Werte in Gesellschaft und Politik. Schließlich kontrastiert eine in vielen Umfragen ermittelte hohe Manuela Glaab: Partizipationsbereitschaft mit einem nur begrenzten tat- Mehr Partizipation wagen? Der Wandel der politischen sächlichen Engagement. Hier tun sich eine Partizipations- Beteiligung und seine Konsequenzen für die deutschen lücke und die Frage nach sozialer Beteiligungsgerechtigkeit Parteien, in: dies. (Hg.): Impulse für eine neue Parteien- auf, die auch durch Formen der E-Partizipation bisher nicht demokratie. Analysen zu Krise und Reform, in: Schriften- geschlossen und beantwortet werden kann.

25 Manuela Glaab: Mehr Partizipation wagen? Der Wandel der politischen Beteiligung und seine Konsequenzen für die deutschen Parteien, in: dies. (Hg.): Impulse für eine neue Parteiendemokratie. Analysen zu Krise und Reform, in: Schriftenreihe der Forschungsgruppe Deutsch- land, Bd. 15, München 2003, S. 126.

244 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland reihe der Forschungsgruppe Deutschland, Bd. 15, Mün- Dirk Jörke: chen 2003, S. 117–140. Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 1–2, 2011, S. 13–18. Manuela Glaab: Politische Partizipation versus Enthaltung, in: Manuela Dieter Rucht (Hg.): Glaab/Werner Weidenfeld/Michael Weigl (Hg.): Deutsche Protest in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen Kontraste 1990–2010. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – und Entwicklungen, Frankfurt am Main 2001 Kultur, Frankfurt am Main 2010, S. 101–137. Dieter Rucht, Roland Roth: Globalisierungskritische Netzwerke, Kampagnen und Andreas Hadjar, Rolf Becker: Bewegungen, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.): Die Bildungsexpansion und politisches Engagement – Unkon- sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Hand- ventionelle politische Partizipation im Zeitverlauf, in: buch. Frankfurt am Main/New York 2008, S. 493–512. Ingo Bode/Adalbert Evers/Ansgar Klein (Hg.), Bürgergesellschaft als Projekt. Eine Bestandsaufnahme zu Manfred G. Schmidt: Entwicklung und Förderung zivilgesellschaftlicher Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2010. Potenziale in Deutschland, Wiesbaden 2009, S. 101–124. Bernhard Weßels: Matthew Scott Hindman: Politisierung entlang neuer Konfliktlinien?, in: Ansgar The Myth of Digital Democracy. Princeton, NJ u.a. 2009. Klein, Rainer Schmalz-Bruns (Hg.): Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland. Möglichkeiten Max Kaase: und Grenzen, Bonn 1997, S. 205–230. Partizipatorische Revolution – Ende der Parteien?, in: Joachim Raschke (Hg.), Bürger und Parteien. Ansichten Hilmar Westholm u.a.: und Analysen einer schwierigen Beziehung, Bonn 1982, E-Partizipation – Elektronische Beteiligung von Bevölke- S. 173–189. rung und Wirtschaft am E-Government. Studie im Auf- trag des Bundesministeriums des Innern, Ref. IT 1. Berlin Max Kaase: 2008. Vergleichende politische Partizipationsforschung, in: Dirk Berg-Schlosser, Ferdinand Müller-Rommel (Hg.): Verglei- chende Politikwissenschaft 1997, S. 159–174.

Renate Köcher, Oliver Bruttel: Social Media, IT & Society (1. Infosys-Studie), Allensbach 2011.

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 245 Wie steht es mit der Integration? Wie steht es mit der Integration?

Personen mit Migrationshintergrund in Bayern1

Von Christian Babka von Gostomski, Afra Gieloff, Martin Kohls, Harald Lederer und Stefan Rühl

Karte 1 verdeutlicht den Anteil der Menschen mit Migra- ius-soli-Regelung2 verliert die Unterscheidung nach der tionshintergrund auf Basis des Mikrozensus 2009 an der Nationalität jedoch zunehmend an Aussagekraft. Bevölkerung der Länder, wobei die neuen Länder im Mi- krozensus aus statistischen Gründen als eine Gebietseinheit Der Integrationsstand der Migrantinnen und Migranten ausgewiesen werden. In Hamburg (27,0%), Bremen und ihrer Nachkommen lässt sich so nur noch unzurei- (26,3%), Baden-Württemberg (26,2%), Hessen (24,6%), chend abbilden. Zum einen werden durch die alleinige Ver- Berlin (24,3%) und Nordrhein-Westfalen (24,0%) haben je- wendung der Staatsangehörigkeit eventuell mögliche In- weils rund ein Viertel aller Einwohner einen Migrations- tegrationsprobleme unterschätzt, da Ausländer nur eine hintergrund. Etwa im Bundesdurchschnitt liegen Bayern Teilgruppe der durch internationale Wanderungen gepräg- (19,2%), Rheinland-Pfalz (18,5%) und das Saarland ten Bevölkerung darstellen. Zum anderen werden aber auch (17,3%). Unterdurchschnittliche Anteile von unter 17% Integrationserfolge von Migrantinnen und Migranten un- sind in Niedersachsen (16,6%), Schleswig-Holstein terschätzt, wenn erfolgreiche Personen mit Migrationshin- (12,6%) und vor allem in den neuen Ländern (4,7%) zu tergrund in den Statistiken nicht der Gruppe der Ausländer, verzeichnen. sondern der Gruppe der Deutschen zugeordnet werden.3 Als Folge dieser Defizite der amtlichen Statistiken hat das Die amtlichen Statistiken in Deutschland zu soziode- Statistische Bundesamt im Jahr 2005 mit einem entspre- mographischen und sozialstrukturellen Themenberei- chenden Fragenprogramm das Konzept der „Bevölkerung chen (z.B. Bevölkerungs-, Bildungs-, Arbeitsmarkt- mit Migrationshintergrund“ in den Mikrozensus einge- statistik) unterschieden bis vor wenigen Jahren in aller führt. Regel nur zwischen Deutschen und Ausländern. Der Beitrag wendet sich im Folgenden zunächst Aufgrund von Einbürgerungen, der Vielfalt des Migra- kurz dem Begriff der Integration zu. Anschließend folgen tionsgeschehens und der seit dem Jahr 2000 geltenden Ausführungen zur Bevölkerung mit und ohne Migrations-

1Der Artikel gibt die persönliche Ansicht der Autoren wieder. 2 ius soli meint das Prinzip, nach dem ein Staat seine Staatsbürgerschaft an alle Kinder verleiht, die auf seinem Staatsgebiet geboren werden. Mit der Staatsangehörigkeitsreform 2000 wurden mit dem sogenannten „Optionsmodell“ Elemente des ius soli für die zweite Einwanderer- generation eingeführt, bei dem bis zur Volljährigkeit eine doppelte Staatsbürgerschaft besteht und sich die Person dann in der Regel bis zum 23. Lebensjahr für eine Staatsbürgerschaft entscheiden muss. 3Kurt Salentin, Frank Wilkening: Ausländer, Eingebürgerte und das Problem einer realistischen Zuwanderer-Integrationsbilanz, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 55 (2003), H. 2, S. 278-298, hier S. 294.

246 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Wie steht es mit der Integration?

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 247 Wie steht es mit der Integration? hintergrund in Deutschland. Mit diesemWissen ausgerüstet, schluss, Erwerbslosigkeit, Bezug von Transferleistun- erfolgt ein vertiefter Blick auf Bayern:Wie stellt sich die gen). Verteilung des Anteils der Personen mit Migrationshin- • „Kulturelle Integration“ umfasst die Aneignung von tergrund ohne allgemeinen Schulabschluss, derer mit (Fach-) kulturellem Wissen der Aufnahmegesellschaft (z.B. deut- Hochschulabschluss, der Erwerbslosen sowie der Personen sche Sprachkenntnisse). mit Migrationshintergrund, die Transferleistungen bezie- • „Soziale Integration“ zielt unter anderem auf die Ein- hen, in den sieben Regierungsbezirken Bayerns und bezo- gebundenheit in die Aufnahmegesellschaft (z.B. soziale gen auf die größten bayerischen Städte dar? Aus Mangel an Kontakte zu Personen deutscher Herkunft, Mitglied- Auswertungsmöglichkeiten mit Mikrozensusdaten wird schaften in deutschen Vereinen und Verbänden). zudem die Repräsentativbefragung „Ausgewählte Migran- • „Identifikative Integration“ schließlich weist auf den tengruppen in Deutschland 2006/2007 (RAM)“ des Stand der Verbundenheit mit der Aufnahmegesellschaft Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge herangezogen, hin (z.B. Bleibe- oder Einbürgerungsabsichten). um Anhaltspunkte über den Stand der Integration von Ausländern in diversen anderen Bereichen (Sprachkennt- Definitionen und Strukturdaten für nisse, soziale Kontakte, gesellschaftliche Partizipation, Deutschland identifikative Aspekte) zu erhalten. Zudem erfolgt ein Blick in die Zukunft: Welche Perspektiven ergeben sich bei einer Wie bereits einführend angesprochen, bildet seit dem Jahr Vorausberechnung der Bevölkerung mit Migrationshinter- 2005 der Mikrozensus die Basis für vielerlei Auswertungen grund bis 2020 für Bayern? nach dem Merkmal „Migrationshintergrund“. Der Mikro- zensus ist eine jährliche repräsentative Befragung von etwa Eine Annäherung an den Begriff einem Prozent der Haushalte in Deutschland. Er gibt einen der Integration umfassenden Überblick über die Lage der Bevölkerung dif- erenziert nach ihrem Migrationsstatus mit Blick auf (sozio)- Von gelungener Integration ist für Personen mit Mi- demographische Merkmale, Herkunft, Lebensformen in grationshintergrund dann zu sprechen, wenn sich die Privathaushalten, Erwerbsbeteiligung, Bildung und räumli- Verteilungen der Bevölkerung mit Migrationshinter- cher Verteilung. grund den Verteilungen der Bevölkerung ohne Migra- tionshintergrund hinsichtlich wichtiger integrations Mit dem Mikrozensus 2005 wurden erstmals nicht nur relevanter Sachverhalte angeglichen haben. Dabei sind Informationen zur Staatsangehörigkeit, sondern auch allerdings auch soziodemographische Sachverhalte, wie zum Geburtsort, zur Zuwanderung und zu einer even- etwa die unterschiedliche Altersstruktur oder spezifi- tuellen Einbürgerung der befragten Personen und ihren sche Aspekte der Einwanderungsgeschichte bestimmter Eltern erhoben. Zuwanderergruppen, zu berücksichtigen. Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist wie folgt In der Wissenschaft herrscht heute die Vorstellung vor, dass definiert: Integration niemals nur an einem Indikator festgemacht „Alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bun- werden kann, sondern als Zusammenspiel mehrerer Dimen- desrepublik Deutschland Zugewanderten sowie alle in sionen gedacht werden muss. So werden oft vier Dimensi- Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland onen der Integration analytisch voneinander getrennt:4 als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewander- ten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Eltern- • „Strukturelle Integration“ meint die Positionierung auf teil.“5 dem Arbeitsmarkt und im Bildungssystem der Aufnah- Im Folgenden werden zunächst einige Kerndaten megesellschaft (beispielhafte Indikatoren: Schulab- des Mikrozensus 2009 dargestellt. Dabei geht es zunächst

4Dabei wird anlehnend an Hartmut Esser argumentiert: Hartmut Esser: Aspekte der Wanderungssoziologie – Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse, Darmstadt und Neuwied 1980; ders.: Inte- gration und ethnische Schichtung, Mannheim 2001. Ähnlich auch bei Anna Lutz, Friedrich Heckmann: Die Bevölkerung mit Migrations- hintergrund in Bayern. Stand der Integration und integrationspolitische Maßnahmen, Bamberg 2010, http://www.stmas.bayern.de/ migration/material/bevoelkerung-mhg.pdf (Stand: 6. September 2011), S. 22. 5Statistisches Bundesamt: Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2009, Wiesbaden 2010, http://www. destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Publikationen/Fachveroeffentlichungen/Bevoelkerung/ MigrationIntegration/Migrationshintergrund2010220097004,property=file.pdf (Stand: 6. September 2011), S. 6.

248 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Wie steht es mit der Integration?

Tabelle 1: Bevölkerungsstruktur in Deutschland anhand des Mikrozensus 2009

Bevölkerung mit Migrationshintergrund Bevölkerung ohne Migrationshintergrund

Männer- und Frauenanteil 50,3% Männer und 49,7% Frauen 48,7% Männer und 51,3% Frauen

Durchschnittsalter 34,7 Jahre 45,6 Jahre

Durchschnittliche Haushaltsgröße 2,4 Personen 2,0 Personen

Anteil der Ledigen 45,8% 38,3% Quelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2009

Tabelle 2: Weitere Merkmale der Menschen mit Migrationshintergrund im Jahr 2009

Bevölkerung mit Migrationshintergrund gesamt 15,703 Millionen davon: Ausländer 7,224 Millionen* deutsche Staatsangehörige 8,479 Millionen

zugewanderte Personen 10,601 Millionen in Deutschland geborene Personen 5,102 Millionen

zugewanderte Ausländer 5,594 Millionen in Deutschland geborene Ausländer 1,630 Millionen

zugewanderte Deutsche 5,007 Millionen in Deutschland geborene deutsche Staatsangehörige 3,472 Millionen Quelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2009 * Die Ausländerzahlen des Mikrozensus orientieren sich an der Bevölkerungsfortschreibung und weichen daher von den Aus- länderzahlen des Ausländerzentralregisters (AZR) ab.

um den Umfang und die räumliche Verteilung der Bevöl- • einen höheren Männer- und Ledigenanteil aufweist; kerung mit Migrationshintergrund im Bundesgebiet. Die • deutlich jünger ist; Vergleichsgruppe ist dabei jeweils die Bevölkerung ohne • im Durchschnitt (trotz des höheren Anteils von Ledi- Migrationshintergrund. gen) in größeren Haushalten lebt und Laut Mikrozensus gab es im Bundesgebiet im Jahr • sich deutlich stärker in den westlichen Ländern und in 2009 insgesamt 15,7 Millionen Menschen mit Migrations- Berlin konzentriert. hintergrund, was 19,2% der insgesamt 81,9 Millionen Ein- wohner Deutschlands entspricht. Von 2005 bis 2009 ist die Während es sich bei der Bevölkerung ohne Migrationshin- Bevölkerung mit Migrationshintergrund um 715.000 ange- tergrund ausschließlich um deutsche Staatsangehörige han- wachsen und die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund delt, können Menschen mit Migrationshintergrund sowohl um 1,3 Millionen zurückgegangen. Ausländer als auch Deutsche (z.B. durch Einbürgerung) sein. Zudem kann diese Gruppe noch danach differenziert Tabelle 1 macht deutlich, dass die Zuwandererbevölkerung werden, ob es sich um selbst zugewanderte Menschen han- in Deutschland im Vergleich zu der einheimischen Bevölke- delt (als „Personen mit eigener Migrationserfahrung“ oder rung als „foreign born“ bezeichnet) oder um deren Nachkom-

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 249 Wie steht es mit der Integration? men, die schon in Deutschland geboren wurden („Personen Bayern jeweils sehr unterschiedliche demographische, mit Migrationshintergrund ohne eigene Migrationserfah- sozioökonomische und historische Profile aufweisen, wel- rung“). che in einem komplexen Wechselverhältnis zum Integra- tionsprozess stehen. Auf diese regionalen und wirtschafts- Bei der überwiegenden Zahl der Menschen mit Migra- strukturellen Unterschiede kann hier nicht weiter einge- tionshintergrund, nämlich knapp 8,5 Millionen (54,0%), gangen werden. handelt es sich um deutsche Staatsangehörige, darunter Als Basis für die Analyse dient der regionalisierte fast 3,3 Millionen (Spät-)Aussiedler und etwa 2,1 Mil- Mikrozensus, der gemeinsam von den Statistischen Ämtern lionen Eingebürgerte. Besonders stark wächst seit des Bundes und der Länder im Jahr 2010 herausgegeben Beginn der statistischen Erfassung im Jahr 2005 jedoch wurde.6 Die Daten beziehen sich hierbei auf die Aus- die Gruppe der in Deutschland geborenen Deutschen wertungen des Mikrozensus 2008. Vor einem Vergleich der an, die nur aufgrund der Eigenschaften ihrer Eltern Integrationsindikatoren der Gebietskörperschaften steht einen Migrationshintergrund haben (von 2,9 auf ein kurzer Überblick über die relativen Größenordnungen inzwischen fast 3,5 Millionen). der Personengruppe mit Migrationshintergrund in den jeweiligen Regierungsbezirken sowie eine Einordnung der Hierbei handelt es sich u.a. um Kinder und Jugendliche, die drei bayerischen Städte in eine Rangfolge anderer deutscher z.B. im Rahmen der ius-soli-Regelung die deutsche Staats- Großstädte. angehörigkeit bei der Geburt erhalten, auch wenn ihre El- tern Ausländer sind, oder um Kinder mit einem einseitigen Wie bereits oben festgestellt, weist der Freistaat Bayern Migrationshintergrund (d.h. nur ein Elternteil hat einen Mi- mit etwas über 19% einen ähnlich hohen Anteil an grationshintergrund). Ausländische Staatsangehörige stel- Menschen mit Migrationshintergrund auf wie Deutsch- len 46,0% der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. land insgesamt. Vor allem in den Regierungsbezirken Die Mehrheit aller Menschen mit Migrationshin- Oberbayern (23,4%), Mittelfranken (22,3%) und tergrund (10,6 von insgesamt 15,7 Millionen) ist jedoch nach Schwaben (20,2%) mit den drei großen bayerischen wie vor selbst zugewandert (67,5%). Insbesondere bei den Ballungsgebieten leben überdurchschnittlich häufig ausländischen Staatsangehörigen sind viele auch im Ausland Personen, die entweder selbst Migranten sind oder ge- geboren, während bei den Deutschen – wie oben beschrie- mäß obiger Definition mit solchen verwandt sind (siehe ben – die nicht selbst gewanderten Nachkommen von Mi- Abbildung 1). In den eher ländlich geprägten Regionen granten schon einen deutlich höheren Anteil ausmachen. hingegen sind relativ selten Personen mit Migrations- hintergrund anzutreffen, wobei punktuell jedoch auch Strukturelle Integration auf regionaler hier an bestimmten lokalen Standorten hohe Anteils- und städtischer Ebene in Bayern werte auftreten können. Im Regierungsbezirk Ober- pfalz hat z.B. nur etwa jede achte Person einen Migra- Im Folgenden wird ein Überblick über einige wichtige tionshintergrund (12,3%). Eckdaten der strukturellen Integration von Personen mit Migrationshintergrund in den bayerischen Regierungsbe- Die drei größten bayerischen Städte weisen – gegenüber zirken und in den drei größten Städten Bayerns, München, dem bayerischen Durchschnitt von 19,3% – einen circa Nürnberg und Augsburg, gegeben. Die Betrachtung greift doppelt so hohen Anteil an Personen mit Migrations- auf vier bedeutsame, statistisch generierbare Integrationsin- hintergrund auf (siehe Abbildung 2). In Augsburg (39,2%) dikatoren aus den Bereichen der Bildung, der Erwerbslosig- und Nürnberg (37,6%) besitzen fast vier von zehn Personen keit und des Transferleistungsbezugs zurück. Diese Kenn- einen Migrationshintergrund. In München ist der Anteil mit zahlen für die Bevölkerung mit Migrationshintergrund wer- 35,1% etwas geringer. den einerseits in Relation zu der jeweiligen Personengruppe ohne Migrationshintergrund vor Ort betrachtet. Anderer- In allen drei Städten leben damit anteilig betrachtet seits ist auch ein Vergleich zwischen den bayerischen Regio- mehr Personen mit Migrationshintergrund als bei- nen sowie zwischen Augsburg, München und Nürnberg spielsweise in Berlin (24,0%), Hamburg (26,3%), Köln sehr aufschlussreich. Bei letzterem Vorgehen muss natürlich (31,9%), Essen (21,2%) oder Duisburg (29,8%). Von den in Rechnung gestellt werden, dass die Bezirke und Städte in größeren Städten in Deutschland sticht vor allem die

6Statistische Ämter des Bundes und der Länder: Bevölkerung nach Migrationsstatus regional. Ergebnisse des Mikrozensus 2008, Wiesbaden 2010, http://www.statistikportal.de/Statistik-Portal/migration_regional_2008.pdf (Stand: 6. September 2011).

250 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Wie steht es mit der Integration?

Abbildung 1: Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland, Bayern und in den bayerischen Regierungsbezirken im Jahr 2008

25,0% 23,4% 22,3%

20,2% 20,0% 19,0% 19,3%

16,1%

15,0% 14,1% 13,4% 12,3%

10,0%

5,0%

0,0%

Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2010 (Mikrozensus 2008)

Abbildung 2: Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in ausgewählten Städten im Jahr 2008

45,0% 42,1% 39,2% 40,0% 37,5% 37,6% 35,1% 35,0% 31,9% 32,5% 29,8% 30,0% 28,3% 28,8% 26,3% 26,3% 25,0% 24,0% 21,2% 20,0%

15,0%

10,0%

5,0%

0,0%

Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2010 (Mikrozensus 2008)

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 251 Wie steht es mit der Integration?

Karte 2: Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund ohne Schulabschluss in Deutsch- land, Bayern und in den bayerischen Regierungsbezirken im Jahr 2008

Stadt Frankfurt am Main mit einem Prozentsatz von Niederbayern, wo sich die allgemeine Bildungssituation der 42,1% heraus. Bevölkerung mit Migrationshintergrund etwas besser dar- stellt. Werden nun die einzelnen Regierungsbezirke und auch die Zu dem Blick auf „problematische“ Bildungslagen drei bayerischen Großstädte nach den oben angesproche- muss eine Sichtweise auf die hochqualifizierten Migranten nen Integrationskennzahlen betrachtet, so ergibt sich hin- treten, denn diese Gruppe kann als Vorbild für andere Mi- sichtlich der Bildungssituation folgendes Bild (siehe Kar- granten gesehen werden. Hierzu wird im Folgenden die te 2). Bevölkerung in Bezug auf Hochschul- oder Fachhoch- Der Freistaat Bayern weist einen niedrigeren Anteil schulabschlüsse analysiert, wobei aus dem statistischen an Personen mit Migrationshintergrund ohne Schulab- Material nicht hervorgeht, ob der jeweilige Bildungsab- schluss (8,8%) als der Bundesdurchschnitt (13,4%) auf. Bei schluss im In- oder Ausland erworben wurde (siehe Kar- einem Vergleich der beiden Bevölkerungsgruppen – Men- te 3). schen mit und ohne Migrationshintergrund – zeigt sich bzgl. dieses Merkmals jedoch auf allen räumlichen Ebenen Auffällig ist, dass in Bayern Personen mit Migrations- eine sehr große Diskrepanz; d.h. Menschen mit Migrations- hintergrund häufiger einen Hochschul- oder Fachhoch- hintergrund haben deutlich häufiger keinen Schulabschluss schulabschluss vorweisen können (14,0%) als die als die einheimische Bevölkerung. Bei vergleichender Be- Menschen, die keinen Migrationsbezug haben (12,2%). trachtung der Regierungsbezirke sticht ins Auge, dass in Dies ist verursacht durch zahlenmäßig große Migran- Unterfranken und Schwaben Personen mit Migrationshin- tengruppen mit hohem Bildungsniveau in den bevölke- tergrund in überdurchschnittlichem Maße ohne Schulab- rungsreichen Regierungsbezirken Oberbayern und schluss leben. Am anderen Ende der Skala stehen Ober- und Mittelfranken.

252 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Wie steht es mit der Integration?

Karte 3: Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund mit Hochschul- oder Fachhoch- schulabschluss in Deutschland, Bayern und in den bayerischen Regierungsbezirken im Jahr 2008

Bei Betrachtung des Integrationsindikators „Erwerbslosen- Hohe Erwerbslosenquoten schlagen sich häufig in hohen quote“ fällt einerseits beim Vergleich Bayerns mit dem deut- Anteilen beim Empfang sozialpolitischer Leistungen nie- schen Durchschnitt auf, dass Bayern bei beiden Bevölke- der. Karte 5 stellt die Bevölkerungsgruppen dar, welche rungsgruppen deutlich bessere Werte aufweist als die mei- ihren überwiegenden Lebensunterhalt durch Transferleis- sten anderen Länder (siehe Karte 4).7 Jedoch gibt es ande- tungen bestreiten.8 rerseits innerhalb Bayerns erhebliche räumliche Disparitä- Hier zeigt sich ein ganz ähnliches Muster wie bei ten. So sind vor allem in Oberfranken Personen mit der Betrachtung zur Erwerbslosigkeit. Zum einen weist die Migrationshintergrund deutlich überdurchschnittlich – bayerische Gesamtbevölkerung bessere Werte als der Bun- auch in Bezug auf den Bundesdurchschnitt – erwerbslos; desdurchschnitt auf, wobei bei Menschen mit Migrations- jede siebte Erwerbsperson mit einem Migrationsbezug hat hintergrund eine deutlich höhere Inanspruchnahme an dort keine Arbeit. Gänzlich anders stellt sich die Situation Leistungen zu konstatieren ist. Zum anderen treten die oben diesbezüglich in Oberbayern dar. In dieser ökonomischen festgestellten Ungleichgewichte innerhalb Bayerns auch Boomregion sind nur sehr wenige Menschen erwerbslos hier zu Tage. (2,5% der Personen ohne Migrationshintergrund und 6,4% In Abbildung 3 wird nur die Bevölkerung mit Mi- derjenigen mit Migrationshintergrund). grationshintergrund in den Städten Augsburg, München

7Die Erwerbslosenquote bezeichnet den Anteil der Erwerbslosen an den Erwerbspersonen in Prozent. Diese Quote darf nicht mit der Arbeitslosenquote verwechselt werden, die sich nur auf die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bezieht. 8Dies sind staatliche Transfer- und Versicherungsleistungen wie Laufende Hilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und andere Hilfen in besonderen Lebenslagen (z.B. Eingliederungshilfe, Hilfe zur Pflege), Leistungen nach Hartz IV (ALG II, Sozialgeld), Arbeitslosengeld I, Sonstige Unterstützungen (z.B. BAföG, Vorruhestandsgeld, Stipendium, Pflegeversicherung, Asylbewerberleistungen) und Elterngeld, Erziehungsgeld.

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 253 Wie steht es mit der Integration?

Karte 4: Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund nach Erwerbslosigkeit in Deutsch- land, Bayern und in den bayerischen Regierungsbezirken im Jahr 2008

Karte 5: Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund nach Transferleistungsbezug in Deutschland, Bayern und in den bayerischen Regierungsbezirken im Jahr 2008

254 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Wie steht es mit der Integration?

Abbildung 3: Anteil der Personen mit Migrationshintergrund ohne allgemeinen Schulab- schluss, mit Hochschul- oder Fachhochschulabschluss, nach Erwerbslosigkeit und nach Transferleistungsbezug in Augsburg, München, Nürnberg im Jahr 2008

0,0%5,0%10,0%15,0% 20,0% 25,0%

Personen ohne Augsburg 11,0% allgemeinen Schulabschluss im Verhältnis zur jeweiligen München 8,3% Bevölkerungsgruppe im Alter 15 Jahre und älter in % Nürnberg 11,2%

Personen mit Augsburg k.A. Hochschul- oder Fachhochschulabschluss im Verhältnis München zu den jeweiligen 23,4% Bevölkerungsgruppen im Alter 15 Jahre und älter in % Nürnberg 12,5%

Augsburg 12,7% Erwerbslosenquote (Anteil der Erwerbslosen an den München 6,5% Erwerbspersonen in %)

Nürnberg 11,8%

Anteil der Personen, die Augsburg 11,7% ihren Lebensunterhalt überwiegend durch Transferleistungen München 8,0% bestreiten, im Verhältnis zur jeweiligen Bevölkerung in % Nürnberg 16,9%

Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2010 (Mikrozensus 2008)

und Nürnberg hinsichtlich der vier betrachteten Integra- (RAM)“ herangezogen.9 RAM 2006/2007 ist eine Befra- tionsindikatoren verglichen. Es zeigt sich, dass die Landes- gung nach dem sogenannten „Ausländerkonzept“. Die bei hauptstadt bezüglich der vier betrachteten strukturellen RAM 2006/2007 befragten Personen waren Ausländer im Integrationsindikatoren für Personen mit Migrationshin- staatsrechtlichen Sinne. Es wurden 15- bis 79-Jährige mit tergrund jeweils die besten Werte aufweist. Herausragend einer Mindestaufenthaltsdauer von zwölf Monaten in ist dabei der sehr hohe Akademikeranteil Münchens von Deutschland interviewt. Von Dezember 2006 bis April 2007 23,4% für Personen mit Migrationshintergrund. Zudem ist wurden insgesamt 4.576 türkische, italienische, griechische der hohe Transferleistungsbezug von Personen mit Migra- und polnische Personen sowie Personen aus dem ehemali- tionshintergrund in Nürnberg auffällig; jede sechste Person gen Jugoslawien befragt, davon 836 Personen in Bayern. Im lebt von derartigen Sozialleistungen. Folgenden wird ein Überblick der Ergebnisse zu Sprach- kenntnissen, sozialen Kontakten zu Personen deutscher Aspekte der Integration ausländischer Herkunft, Mitgliedschaften in deutschen Vereinen und Ver- Personen in Bayern bänden sowie zu Bleibe- und Einbürgerungsabsichten gege- ben. Diese Indikatoren kultureller, sozialer und identifika- Um Anhaltspunkte für weitere Bereiche der Integration lie- tiver Integration können mithilfe des Mikrozensus nicht fern zu können, wird die Repräsentativbefragung „Aus- analysiert werden, da sie dort nicht berücksichtigt werden. gewählte Migrantengruppen in Deutschland 2006/2007

9Christian Babka von Gostomski: Basisbericht: Berichtsband. Repräsentativbefragung „Ausgewählte Migrantengruppen in Deutschland 2006/2007“ (RAM). Zur Situation der fünf größten in Deutschland lebenden Ausländergruppen. Vertiefende Ergebnisse zum Forschungs- bericht 8, Nürnberg 2010a, http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Sonstige/forschungsbericht-008-basisbe- richt-berichtsband.pdf?__blob=publicationFile (Stand: 6. September 2011); Christian Babka von Gostomski: Basisbericht: Tabellenband. Repräsentativbefragung „Ausgewählte Migrantengruppen in Deutschland 2006/2007“ (RAM). Zur Situation der fünf größten in Deutschland lebenden Ausländergruppen, Nürnberg 2010b, http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/ Sonstige/forschungsbericht-008-basisbericht-tabellenband.pdf?__blob=publicationFile (Stand: 6. September 2011); Christian Babka von Gostomski: Fortschritte der Integration. Zur Situation der fünf größten in Deutschland lebenden Ausländergruppen. Forschungsbericht 8, Nürnberg 2010c.

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 255 Wie steht es mit der Integration?

Betrachtet man zunächst die Verteilung der bei RAM gruppen in Bayern einerseits, in Deutschland andererseits 2006/2007 befragten ausländischen Personen zwischen hindeuten, sind bei den folgenden Aussagen zu berücksich- Deutschland insgesamt und Bayern vergleichend, dann tigen. sind türkische (Deutschland 45,0%, Bayern 37,5%), pol- nische (Deutschland 7,9%, Bayern 6,6%) und italieni- Während sich bei den deutschen Sprachkenntnissen sche Staatsbürger (Deutschland 14,8%, Bayern 13,8%) geringfügig erhöhte Anteile der vergleichsweise gut unterproportional in Bayern vertreten. Personen mit sprechenden ausländischen Personen in Bayern zeigen, einer Staatsangehörigkeit aus dem ehemaligen Jugos- deuten die anderen Indikatoren darauf hin, dass aus- lawien (Deutschland 23,7%, Bayern 31,9%) und griechi- ländische Personen in Deutschland bezüglich der so- sche Personen (Deutschland 8,5%, Bayern 10,2%) sind zialen und identifikativen Integration sich etwas wohler häufiger in Bayern als im Bundesdurchschnitt anzu- hierzulande zu fühlen scheinen (siehe Tabelle 3).11 treffen. So ist der Anteil der Personen mit häufigeren Kontakten zu Hinsichtlich des Durchschnittsalters der RAM-Befragten Personen deutscher Herkunft im Freundeskreis, derjeni- (Deutschland 40,6 Jahre, Bayern 40,3 Jahre) und der Ge- gen, die zivilgesellschaftlich in deutschen Vereinen, schlechterrelation (Deutschland 53,2% Männeranteil, Verbänden oder Organisationen eingebunden sind, und der Bayern 53,7% Männeranteil) ergeben sich kaum Unter- Anteil der Personen, die das Land nicht verlassen möchten, schiede. Auch beim Anteil der Personen, die im Ausland jeweils in Bayern gegenüber dem Bundesdurchschnitt geboren wurden, sind die Differenzen marginal (Deutsch- geringer. 12 land 18,9%, Bayern 19,1%). Werden bei der Teilgruppe der Bei einer Frage nach Einbürgerungsabsichten wa- Zugewanderten die Gründe für die Zuwanderung vergli- ren mehrere Antwortkategorien möglich.13 Die bayerischen chen, dann kamen die in Bayern lebenden Zuwanderer häu- Befragten sagten seltener, dass sie sich nur dann einbürgern figer aus Gründen der Arbeitsmigration (Deutschland lassen wollen, wenn neben der deutschen auch die auslän- 27,2%, Bayern 30,1%) und wegen einer Ausbildung bzw. dische Staatsangehörigkeit behalten werden kann (Deutsch- eines Studiums (Deutschland 2,0%, Bayern 2,5%) und land 14,3%, Bayern 12,7%). Zudem gab ein größerer Anteil weniger häufig im Zuge der Familienzusammenführung als der Befragten in Bayern an, noch nicht zu wissen, ob sie eine Ehepartner (Deutschland 21,9%, Bayern 19,6%), als Kind Einbürgerung anstreben (Deutschland 12,6%, Bayern (Deutschland 16,8%, Bayern 16,5%) oder als anderer 16,0%). Entsprechend wollen sich weniger Personen in Familienangehöriger (Deutschland 4,6%, Bayern 3,9%) Bayern unter Aufgabe des ausländischen Passes (Deutsch- sowie um Asyl zu beantragen (Deutschland 5,5%, Bayern land 23,5%, Bayern 22,3%) einbürgern lassen oder schlie- 4,0%).10 Solche Unterschiede, die auf spezifische Aspekte ßen eine Einbürgerung generell aus (Deutschland 48,1%, der Einwanderungsgeschichte bestimmter Zuwanderer- Bayern 45,6%).

10 Zu den Antwortkategorien und zur Möglichkeit von Mehrfachnennungen: Babka von Gostomski 2011b (wie Anm. 9), S. 160. 11 Zur Fragestellung: ebd., S. 91. 12 Zu den Fragestellungen: ebd., S. 147, S. 145 und S. 167. 13 Zur Fragestellung: ebd., S. 167.

256 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Wie steht es mit der Integration?

Tabelle 4: Entwicklung der Bevölkerung Bayerns mit und ohne Migrationshintergrund bis 2020

Jahr Personen ohne Anteil Personen mit Anteil Gesamt Migrations- Migrations- hintergrund hintergrund

2008 10.108.000 80,7% 2.418.000 19,3% 12.526.000

2020 Untere Variante 9.680.000 77,2% 2.854.000 22,8% 12.534.000

2020 Mittlere Variante 9.717.000 76,6% 2.963.000 23,4% 12.680.000

2020 Hohe Variante 9.744.000 76,4% 3.017.000 23,6% 12.761.000

Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2010 und Acker 2010, S. 17

Und in den nächsten Jahren? portional. So wird bei den 6- bis 18-Jährigen im Jahr 2020 mit einem Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Migra- Im Jahr 2009 lebten etwa 2,4 Millionen Personen mit tionshintergrund von 33% gerechnet (2007: 25%).16 Migrationshintergrund in Bayern (vgl. Karte 1). Für bevor- stehende Herausforderungen der Integrationspolitik ist die Bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund wird zukünftige Zahl und Struktur der Bevölkerung mit Migra- für die Gruppe der in Deutschland geborenen, nicht tionshintergrund von wesentlicher Bedeutung. Daher wer- selbst zugewanderten Personen aufgrund hoher Ge- den im Folgenden auf der Grundlage von Acker (2010)14 burtenüberschüsse das stärkste Wachstum erwartet. voraussichtliche Verläufe skizziert. Im Jahr 2020 werden diese etwa 8% der bayerischen Bevölkerung stellen. Auch die Zahl der Ausländer mit In der als wahrscheinlich erachteten mittleren Variante eigener Migrationserfahrung wird infolge weiterer der Vorausberechnung zeigt sich, dass die Bevölkerung Wanderungsgewinne zunehmen und 2020 etwa 9% Bayerns bis 2020 weiter wachsen wird. So wird die ausmachen. bayerische Bevölkerung von derzeit 12,5 auf etwa 12,7 Millionen im Jahr 2020 zunehmen (Tabelle 4). Der Für zugewanderte Deutsche (Spätaussiedler und Einge- Anstieg der Gesamtbevölkerung wird dabei weitgehend bürgerte) ist nur mit einem moderaten Anstieg zu rechnen, durch die Personen mit Migrationshintergrund getra- der Anteil an der gesamten bayerischen Bevölkerung wird gen.15 sich im Jahr 2020 auf etwa 6% belaufen.17 In der aktuellen räumlichen Verteilung der Per- Deren Zahl wird bis 2020 voraussichtlich um rund 23% auf sonen mit Migrationshintergrund zeigen sich auffällige 3,0 Millionen steigen, während die Zahl der Personen ohne Differenzen zwischen den Regierungsbezirken (vgl. Abbil- Migrationshintergrund um etwa 400.000 auf ca. 9,7 Millio- dung 1). Angesichts dieser Unterschiede sind die auf nen sinken wird (–4%). Der Anteil der Personen mit Migra- Landesebene durchgeführten Vorausberechnungen zusätz- tionshintergrund steigt dabei von 19,3% im Jahr 2008 auf lich regionalisiert worden.18 rund 23,6% im Jahr 2020 (Tabelle 4). Es zeigt sich, dass die Entwicklung der Bevölkerung Eine altersbezogene Analyse verdeutlicht, dass bis 2020 in sowie der Anteile von Personen mit Migrationshinter- annähernd sämtlichen Altersgruppen ein Anstieg des An- grund regional unterschiedlich verläuft. So wird teils der Personen mit Migrationshintergrund erwartet voraussichtlich lediglich in Oberbayern die Bevölke- wird. In jüngeren Altersgruppen ist die Zunahme überpro- rungszahl bis 2020 deutlich zunehmen (+7%). In allen

14 Acker: Vorausberechnung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Bayern bis 2020, in: Beiträge zur Statistik Bayerns, Heft 540. Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung, München 2010. 15 Aufgrund des jüngeren Durchschnittsalters und der höheren Geburtenzahlen verzeichnet die Gruppe der Personen mit Migrationshinter- grund – anders als die Personen ohne Migrationshintergrund – neben Wanderungsgewinnen auch Geburtenüberschüsse. 16 Acker (wie Anm. 14), S. 19. 17 Ebd., S. 22. 18 Ebd., S. 25f.

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 257 Wie steht es mit der Integration?

Abbildung 4: Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in den Regierungsbezirken Bayerns, 2008 und 2020

weiteren Regierungsbezirken wird dagegen die Bevöl- Fazit kerungszahl stagnieren oder abnehmen. Der vorliegende Beitrag stellte ausgewählte Aspekte über Den relativ stärksten Rückgang wird Oberfranken erfahren den Stand der Integration von Personen mit Migrations- (–6%).19 Demgegenüber wird in sämtlichen Regierungsbe- hintergrund in Bayern dar. Der Prozess der Integration ist zirken der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund allerdings komplexer, als dass er sich mittels der dargestell- zunehmen (Abbildung 4). Der höchste Anstieg wird in ten Indikatoren umfassend beschreiben ließe.20 An mehre- Oberbayern (+5 Prozentpunkte), die geringste Zunahme in ren Stellen wurde zudem bereits angemerkt, dass die Oberfranken und Schwaben (+3 Prozentpunkte) vorausbe- Kategorie „Personen mit Migrationshintergrund“ eine sta- rechnet. Oberbayern ist zu Beginn und zum Ende des Vo- tistische Größe darstellt, welche – auch regionsspezifisch – rausberechnungshorizontes der Regierungsbezirk mit dem in sozialer und ethnischer Hinsicht sehr heterogen zusam- höchsten Anteil von Personen mit Migrationshintergrund mengesetzt ist. (2020: 28,3%), während die Oberpfalz jeweils den gering- Aus der Analyse können folgende Ergebnisse zu- sten Anteil aufweist (2020: 15,7%). sammengefasst werden:

19 Ebd., S. 26. 20 Einen breiten Überblick über weitere mögliche Indikatoren, aber auch auf die vielen Datenlücken auf Länderebene hinsichtlich der mögli- chen Indikatoren geben Lutz und Heckmann (wie Anm. 4), S. 44-220.

258 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Wie steht es mit der Integration?

• Bayern weist mit knapp über 19% einen in etwa im in geringerem Maße von Transferleistungen als Personen Bundesdurchschnitt liegenden Anteil an Menschen mit mit Migrationshintergrund insgesamt in Deutschland. Migrationshintergrund auf. Damit haben etwa 2,4 • Innerhalb Bayerns schneiden dabei die Personen mit Millionen der rund 12,5 Millionen Einwohner Bayerns Migrationshintergrund in Oberbayern am besten ab. einen Migrationshintergrund. • Werden nur die fünf größten Ausländergruppen in den • Der erwartete Anstieg der bayerischen Bevölkerung bis Blick genommen, dann schneiden diese anhand von 2020 lässt sich ausschließlich auf das Wachstum der Indikatoren der sozialen und identifikativen Integration Personengruppe mit Migrationshintergrund zurückfüh- etwas weniger gut ab als im Bundesdurchschnitt. ren. Deren Anteil an der Gesamtbevölkerung wird von 19,3% im Jahr 2008 auf 23,6% steigen. Auch wenn die Daten zeigen, dass anhand der Indikatoren • Personen mit Migrationshintergrund leben überpropor- Schulabschluss, Erwerbslosigkeit und Transferleistungs- tional häufig in den Regierungsbezirken Oberbayern bezug im Vergleich mit dem Bundesdurchschnitt die in (23,4%), Mittelfranken (22,3%) und Schwaben (20,2%). Bayern lebenden Personen mit Migrationshintergrund ver- Zukünftig werden diese Anteile weiter zunehmen. gleichsweise gut strukturell integriert sind, so ist doch dar- • Korrespondierend dazu zeigt sich, dass dies insbeson- auf hinzuweisen, dass von gelungener Integration auch für dere den drei großen bayerischen Ballungsgebieten Personen mit Migrationshintergrund in Bayern insgesamt geschuldet ist. So ist der Anteil der Personen mit Migra- noch nicht gesprochen werden kann. Denn bei den meisten tionshintergrund in Augsburg (39,2%), Nürnberg angeführten Indikatoren der strukturellen Integration wei- (37,6%) und München (35,1%) deutlich gegenüber dem sen Personen ohne Migrationshintergrund deutlich bessere Landesdurchschnitt erhöht. Werte auf. Dies zeigt, dass die vielfältigen Maßnahmen, die • Im Vergleich mit dem Bundesdurchschnitt sind die in in Bayern bereits zur Verbesserung der Integration von Bayern lebenden Personen mit Migrationshintergrund Personen mit Migrationshintergrund ergriffen wurden, als besser strukturell integriert zu bezeichnen. Bayeri- auch in absehbarer Zukunft nötig sein werden, um die Kluft sche Personen mit Migrationshintergrund sind schulisch zwischen Personen mit Migrationshintergrund und solchen besser qualifiziert, weniger häufig erwerbslos und leben ohne Migrationshintergrund weiter zu verringern.21 ❚

21 Zu integrationspolitischen Maßnahmen in Bayern: Lutz, Heckmann (wie Anm. 4), S. 62-76, S. 91-113, S. 125-137, S. 151-165, S. 187-196, S. 203-206, S. 231-241.

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 259 Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kultur und Identität „Es ist furchtbar, aber es geht!“

Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kultur und Identität*

Von Guido Hitze

Ein neues Land –der Landtag von Nordrhein- Westfalen kurz nach 1946 Quelle: alle Bilder im Artikel von ullstein

* Der Artikel basiert auf einem Vortrag des Autors am 9. Dezember 2010 im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus München.

260 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kultur und Identität

Ein Kollege aus Bayern nannte vor einiger Zeit Nordrhein-Westfalen eines der „neuen Bundesländer“. Natürlich hat der Mann Recht, selbst wenn das Land, aus dem ich stamme, eindeutig im tiefen Westen unserer Republik liegt und nicht im Osten. Verglichen mit Bayern ist wohl jedes andere heute existierende deutsche Land „jung“. Aber Nordrhein-Westfalen ist genauso wie Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz oder Niedersachsen in seiner Eigenschaft als deutscher Gliedstaat auch jünger als bei- spielsweise Sachsen oder Thüringen. Denn bei Nordrhein-Westfalen handelt es sich 1946 um eine eindeutige Neugründung und nicht um eine Wiedergründung als eigen- ständiges Land. Und was die Tradition angeht: Bayern in seiner heutigen Gestalt besteht – zieht man die Pfalz ab – auch erst seit dem Wiener Kongress, also seit 195 Jahren. Nordrhein-Westfalen bringt es immerhin schon auf deren 65. Aber um was für ein Land handelt es sich bei „NRW“ eigentlich, welche Geschichte und vor allem welche Identität besitzt es, wenn letztere überhaupt vorhanden ist?

Nordrhein-Westfalen ist nicht das einzige „Bindestrich- Land“ der Bundesrepublik und auch nicht das einzige aus Überresten früherer Territorien neu zusammengefügte. Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen- Anhalt stehen für eine ganz ähnliche Geschichte. Dagegen verblasste sogar der rheinisch-westfälische Gegensatz, zumal seit 1815 das Rheinland und Westfalen zwar nicht autonome, aber doch (wenn auch in anderen geographi- schen Grenzen) in Gestalt von Provinzen beides integrale Bestandteile des gemeinsamen preußischen Staates gewesen waren und sich daher zahlreiche institutionelle Verbindun- gen und Übergänge ergeben hatten. Die „Künstlichkeit“ des neuen Landes war also evident, doch weder singulär noch extrem problematisch. Vielleicht mag diese Erkenntnis den damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss Anfang der fünfziger Jahre zu der Bemerkung veranlasst haben, die gewisse „Traditionslosigkeit“ Nordrhein-Westfalens könne für das Land und seine Bewohner auch als „eine Chance“ begriffen werden.

Nun steht Nordrhein-Westfalen anderen Ländern in puncto Tradition und historisches Erbe in nichts nach. Die alten Römerstädte Köln, Neuss und Xanten, Ost- westfalen-Lippe als legendärer Raum der berühmten und folgenreichen „Varus-Schlacht“ 9 n. Chr., die Han- sestädte Dortmund und Soest an der einst wichtigsten west-östlichen Handelsstraße, dem Hellweg, die Bene- diktinerabtei Corvey, das Stift Werden, Kaiserswerth Das 1875 errichtete Hermannsdenkmal bei Detmold erinnert an mit der Barbarossa-Pfalz oder die bedeutenden Bi- die „Varus-Schlacht“ im Jahr 9 n. Chr.

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 261 Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kultur und Identität

Ruine der Barbarossa-Pfalz in Düsseldorf-Kaiserswerth

schofsstädte Münster und Paderborn sind ebenso große land und Warburger Börde, Wiehengebirge und Teutobur- Zeugen der Geschichte wie Aachen mit Dom und ger Wald, das Sauer-, Sieger- und Bergische Land charakte- Kaiserpfalz als Residenz und Begräbnisstätte Karls des ristische Kulturlandschaften von hoher touristischer Quali- Großen und damit als eine der Keimzellen der deut- tät, aber welche davon könnte man ehrlich und überzeu- schen Nation und des heutigen Europa. Doch diese gend mit dem Attribut „typisch nordrhein-westfälisch“ Traditionen stehen bis heute mehr oder weniger unver- versehen? Ganz anders etwa Bayern mit Donau und Alt- bunden nebeneinander, bleiben separiert, verdichten mühl, dem Bayerischen Wald und natürlich dem Alpenvor- sich nicht zu einer sinnstiftenden Einheit. land. Oder nehmen wir die Städte: Die Türme der Münch- ener Frauenkirche unter weiß-blauem Himmel und vor Folgerichtig tut sich Nordrhein-Westfalen auch schwer mit dem großartigen Alpenpanorama oder König Ludwigs identitätsstiftenden Symbolen. Gemeint sind in diesem Zu- Märchenschlösser werden außerhalb des Freistaates als Sy- sammenhang keine künstlichen, künstlerischen oder heral- nonyme für „Bayern“ schlechthin wahrgenommen. Dage- dischen, sondern „natürliche“ Symbole: NRW ist polyzen- gen NRW mit seinen architektonischen Besonderheiten: trisch, nicht nur von der Zahl und Bedeutung seiner Städte der Kölner Dom, die Düsseldorfer Brückenfamilie (neuer- her, sondern auch bezüglich seiner Landschaften. Von dings vielleicht auch die „Gerry-Bauten“ im Hafen), der einem früheren Landesminister stammt der Ausspruch, Förderturm der Zeche „Zollverein“, die Wuppertaler Nordrhein-Westfalen verfüge über sämtliche Landschafts- Schwebebahn, das Hermannsdenkmal bei Detmold, das formen mit Ausnahme einer Meeresküste und dem Hoch- Schloss Augustusburg – gewiss, alles charakteristische gebirge. Tatsächlich sind Eifel und Niederrhein, Münster- Zeugnisse von hohem regionalem bzw. lokalem Rang, aber

262 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kultur und Identität

Der Förderturm der Zeche „Zollverein“ steht heute unter Denkmalschutz.

Symbole für ganz Nordrhein-Westfalen? Ein solches war che Rheinland noch Westfalen auf eine längere, unge- lange Zeit eventuell noch das Ruhrgebiet, das „Revier“, der brochene Tradition der Eigenstaatlichkeit zurück „Kohlenpott“, mit der Industrialisierung als einziger, die bli-cken. beiden großen Landesteile seit 150 Jahren wirklich mitein- ander verbindenden Traditionslinie. Aber das damit ver- Seit dem Mittelalter hatten sich hier die Herrschaften stän- bundene Image von rauchenden Schloten, Malochertum, dig geändert, standen sich geistliche und ständische Ansprü- von Staub und Ruß konnte kaum als besonders positiv oder che gegenüber, pochten Bürger und Städte auf ihre Freihei- attraktiv bezeichnet werden, ganz abgesehen davon, dass es ten. Größere zusammenhängende, die Rheinlande und Teile falsch war. Westfalens umfassende Gebilde wie das Herzogtum Kleve- Jülich-Berg oder das geistliche Kurköln blieben die Aus- Die süddeutschen Länder haben Nordrhein-Westfalen nahme bzw. zu schwach, um sich über längere Zeit hinweg sehr schnell bei der Herausbildung eines Staats-, aber behaupten zu können. Die einzelnen Lande wurden viel- auch eines Landesbewusstseins hinter sich gelassen. mehr zunehmend fremdbestimmt. Die bayerischen Wittels- Dies gilt vor allem für Bayern. Bayern wurde nach der bacher aus dem Hause Pfalz-Neuburg etablierten sich am Kapitulation von 1945 eben nicht neu „gegründet“, Rhein, das Haus Brandenburg in Westfalen, und immer wie- sondern als Staatswesen „wiederhergestellt“, sogar als der griff der große Nachbar im Westen, Frankreich, auf die ein Staatswesen, das in seinem Kernland älter war als Gebiete am Rhein und jenseits des Stromes zu. das mittelalterliche und neuzeitliche Reich. Bayern ver- Das Rheinland und auch Westfalen kannten also fügte also über eine lang zurückreichende Staatstradi- keine eigene staatliche Verfasstheit, und wenn ja, wie im tion und ein lebendiges Staatsbewusstsein. Anders in Großherzogtum Berg und dem Königreich Westfalen von Nordrhein-Westfalen: Außer dem kleinen Lippe mit Napoleons Gnaden, war diese ebenso künstlich wie kurzle- seiner Residenzstadt Detmold, das sich erst 1947 per big. Der oftmals schroffe Gegensatz von geistlicher und Volksentscheid dem bereits existierenden Nordrhein- weltlicher Macht, der Reichtum der Städte mit ihrer selbst- Westfalen angeschlossen hat, konnten weder das nördli- bewussten Bürgerschaft, schließlich die mit der Französi-

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rium“ ausgegangen wurde, das bei einer „Neuordnung“ Deutschlands irgendwann wieder zur Disposition stehen würde, genügte Nordrhein-Westfalen sich selbst.

In einer Zeit, in welcher Kohle und Stahl, die Großin- dustrie insgesamt als Indikatoren für die Bedeutung, Stärke und Prosperität eines Staatswesens angesehen wurden, erfüllte NRW diese Voraussetzungen in her- vorragender Weise, vor allem in der Phase des Wieder- aufbaus der Republik und des „Wirtschaftswunders“. Das einwohner- und wirtschaftsstärkste Land, zugleich größter Zahler im Länderfinanzausgleich, war nicht ein, sondern der Machtfaktor in der jungen Bundes- republik, ihr Zentrum und ihr ökonomischer Antriebs- motor. Hinzu trat der Umstand, dass Nordrhein-West- falen zusätzlich auch Sitz der (provisorischen) Bundes- hauptstadt und damit der wichtigsten Verfassungsor- gane war. All das reichte dafür aus, sich in dem „Land aus der Retorte“ einigermaßen komfortabel einzurich- ten, seinen Wohlstand zu genießen und ansonsten seine kleinen, regionalen, ja lokalen Identitäten und Rivali- täten zu pflegen.

Für die Herausbildung eines ausgeprägten Landesbewusst- seins keineswegs unbedeutend ist das Vorhandensein poli- tischer Kontinuität. Nach seiner erfolgreichen Gründung Jerome Bonaparte wurde von seinem Bruder Napoleon im Jahr im Jahre 1952 per Volksabstimmung (bei Widerstand Ba- 1807 zum König von Westfalen ernannt. dens) wurde Baden-Württemberg bis zum Machtwechsel in diesem Jahr von CDU-Ministerpräsidenten regiert (in Hes- sen amtierten übrigens von 1946 bis 1987 ununterbrochen schen Revolution auf das heutige Landesterritorium aus- SPD-Ministerpräsidenten; in Rheinland-Pfalz wiederum und übergreifende Modernisierung der Lebensverhältnisse von 1946 bis 1991 ausschließlich CDU-Regierungschefs). förderten – mehr noch im Rheinland als in Westfalen – die In Bayern bestimmte seit 1957 die CSU die Landespolitik, Herausbildung horizontaler Machtstrukturen unter meist von 1962 bis 2008 sogar mit absoluter Mehrheit. nur widerwillig ertragenem Fortbestand vertikal organisier- In Nordrhein-Westfalen verlief die Geschichte an- ter Herrschaftssysteme. Diese horizontale politische Ver- ders. Entgegen anderslautender Behauptungen hat das Land fasstheit, Urform und historische Bedingung des berühm- niemals eine „parteipolitische Identität“ besessen. Es war ten „rheinischen Klüngels“, beförderte den Interessenaus- zwanzig Jahre geprägt von der CDU und beinahe doppelt gleich und die produktive Lebendigkeit unterschiedlicher so lange von der SPD und wurde doch nie zum „Stamm- Meinungen untereinander, aber auch Eigensinn, Kirch- land“ einer der beiden Volksparteien. Dazu waren beide turmdenken und Lokalpatriotismus. Die latente innere jeweils kommunalpolitisch zu stark verankert und auch bei Auflehnung gegen Untertanentum und Uniformismus ver- Bundestagswahlen fielen die Ergebnisse in aller Regel an- hinderte jedoch zugleich die Entstehung eines „Staatsvolk- ders aus als auf Landesebene. Die unzureichende parteipo- bewusstseins“, das – zunächst verbunden mit meist dyna- litische Homogenität – letztere birgt unabweisbar neben stischen Herrschaftsformen – auch in späteren Zeiten repu- einigen Vorteilen auch viele eklatante Nachteile und Ge- blikanischer Freiheit zu einer eigenen, umfassenden Identi- fahren – trug also lange Zeit dazu bei, die Herausbildung tät hätte ausgebaut werden können. eines nachhaltigen Landesbewusstseins oder wenigstens In den ersten beiden Jahrzehnten seines Bestehens einer Art unbestimmten „Landesgefühls“ zu verhindern. bedurfte Nordrhein-Westfalen allerdings kaum so etwas Andererseits haben mit Ausnahme der Linken alle heute im wie einer eigenen Landesidentität. Während in anderen Landtag vertretenen Parteien auf ihre Weise das Land ge- Ländern wie Rheinland-Pfalz zunächst von einem durch prägt und für das Land politische Verantwortung über- den Willen der Besatzungsmächte geschaffenen „Proviso- nommen. Nordrhein-Westfalen mit seinen Stärken und

264 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kultur und Identität

Vor dem Sitz des Bundespräsidenten in Bonn, dem Palais Schaumburg, wird im Dezember 1985 der rote Teppich für einen Staatsbesuch ausgerollt.

Schwächen, Vorzügen, Eigenheiten und Defiziten ist und die Ministerpräsidenten und ihre zentralen Botschaften er- bleibt somit Erbe und Auftrag aller demokratischen Partei- halten. Um hier nur die wichtigsten Beiträge zum Komplex en in diesem Land. Keine steht außen vor, keine vermag sich „Landesbewusstsein“ und „Landesidentität“ zu nennen: aber auch auf eine bloße Zuschauerrolle zurückzuziehen. Karl Arnold formulierte das Selbstverständnis Nordrhein- Darin liegt vielleicht ein Stück weit auch die spezifische Westfalens als dem „sozialen Gewissen der Bundes- „politische Kultur“ begründet, die man gerne Nordrhein- republik“. Franz Meyers erkannte nicht nur die Notwen- Westfalen zuschreibt. Gemeint ist damit die sogenannte digkeit eines langfristigen und durchgreifenden ökonomi- „Konkordanzdemokratie“ und die Tradition der „Akko- schen Strukturwandels, sondern auch das Desiderat eines modierung“, also das Erzielen eines grundsätzlichen politi- selbst durch Rückschläge und Krisen tragenden Identifika- schen Konsenses bzw. die Einbeziehung möglichst vieler tions- und Zusammengehörigkeitsgefühls der Bevölkerung. Akteure in bestimmte Entscheidungsprozesse, durchaus Seine Versuche, dieses Desiderat durch landesbezogene gerne auch Vertreter der Opposition und Gruppierungen Symbole (Großes Landeswappen, Landeshymne, Landes- bzw. Institutionen jenseits des Parteienstaates. Aber Vor- museum, Landesverdienstorden, Landeskulturpreis) zu be- sicht: Ähnlich dem Mythos vom „sozialdemokratischen seitigen, schlugen jedoch mehr oder weniger fehl. Heinz Stammland“ haben wir es bei dieser oft beschworenen „ty- Kühn wiederum trug zu Beginn der von ihm geführten so- pisch nordrhein-westfälischen“ politischen Kultur nicht zialliberalen Koalition eine regelrechte „Reformeuphorie“ durchweg mit der Abbildung historischer oder politischer in das Land, die mithalf, aus dem „Trennungsstrichland“ Realität zu tun, mindestens aber mit einer Übertreibung. zumindest ein „Bindestrichland“ zu machen. Außerdem Doch nicht nur die Parteien als anonyme Insti- weitete er den Blick über die Landesgrenzen hinweg auf die tutionen haben das Land und seine Geschichte gestaltet. Ein Nord-Süd-Dimension moderner Politik, insbesondere die Gesicht hat die Landespolitik vor allem durch die Mitglie- Entwicklungsproblematik und die Beziehungen Nord- der der jeweiligen Kabinette, in erster Linie jedoch durch rhein-Westfalens zu Israel und den Palästinensern. Ging auf

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 265 Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kultur und Identität

delte in die Vorzüge einer sich in Vitalität und Opti- mismus ausdrückenden, positiven, weil aus Vielfalt und produktivem Gegensatz herrührenden inneren Span- nung. „Wir in Nordrhein-Westfalen“ klang schließlich auch sprachlich eleganter, ungekünstelter als etwa „Wir Nordrhein-Westfalen“.

Aber die Erfolgsstory des Slogans, der bald zu einer Art „corporate identity“ von Land und Landesregierung avan- cieren sollte, vermochte nicht zu verdecken, dass „Wir in Nordrhein-Westfalen“ zuallererst eine negative Abgren- zung zum Ausdruck brachte und erst danach die eigenen, positiv-schöpferischen Eigenschaften betonte. Als neben Hessen einziges SPD-regiertes Flächenland der Bundesre- publik ging man seitens der Landesregierung von Nord- rhein-Westfalen nach dem Bonner Machtwechsel im Herbst 1982 offiziell auf strikten Abgrenzungs- und Oppositions- kurs zur neuen christlich-liberalen Bundesregierung. Man kultivierte das „Anderssein“ im Kontrast zur angeblich spießig-konservativ-nationalen Ausrichtung der Bundes- politik. Mit dem „Wir in Nordrhein-Westfalen“ versuchte die Regierung Rau gleichzeitig, zum einen das Gefühl der Solidarität gegen eine äußere, übelwollende „Macht“ zu befördern, zum anderen aber auch das Unterlegenheits- gefühl zu kompensieren, das daher rührte, von eben dieser „Macht“ existentiell abhängig zu sein und auf sie weiterhin Karl Arnold im August 1956 – einige Monate nach dem Ende sei- in sogar steigendem Maße angewiesen zu bleiben, wollte ner Amtszeit als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. man die Trendwende zum Besseren schaffen. „Wir in Nord- rhein-Westfalen“ versuchte schließlich, in einer Art Trotz- reaktion den Eindruck zu revidieren, das Land falle in prak- Kühn also die „politische Öffnung NRWs zur Welt“ zu- tisch allen Feldern im Kreis der großen Länder immer wei- rück, führte sein Nachfolger Johannes Rau diese Tradition ter zurück, bleibe hoffnungslos in einem unvollendeten bewusst fort, legte andererseits aber einen zusätzlichen Strukturwandel stecken und entspräche doch noch immer Schwerpunkt auf Heimatverwurzelung und Bodenständig- dem Zerrbild der verschmutzten, monotonen Industrie- keit. Sein „Wir in Nordrhein-Westfalen“ wurde zum unver- einöde. Das dem Slogan inhärente Aufbegehren gegen die wechselbaren Markenzeichen seiner Ministerpräsident- Rolle des „ewigen Verlierers“ bzw. des „Schmuddelkindes“ schaft und eines ganz spezifischen Politikstils: „Nah bei den der Republik mag mitentscheidend dafür gewesen sein, ihn Menschen“. weit über die Klientel der Regierungspartei hinaus zu popu- larisieren. Die Image-Kampagne „Wir in NRW“ war ohne Zweifel Wer das Motto „Wir in Nordrhein-Westfalen“ in- erfolgreich. Sie war es, weil ihre einfache Aussage die in des einseitig parteipolitisch interpretierte bzw. instrumen- einem „Bindestrich-Land“ unvermeidlichen Gegensätze talisierte, musste letztlich die Vergeblichkeit dieses An- nicht aussparte oder gar übertünchte, sondern der un- satzes zur Kenntnis nehmen. Die SPD hat es ungeachtet ent- terschiedlichen Herkunft und Geschichte seiner Bewoh- sprechender Anstrengungen nicht vermocht, eine Synthese ner bewusst Raum ließ, regionale Besonder- und lands- von „Land“ und „Partei“ herzustellen. Sie ist nie zur „CSU mannschaftliche Eigenheiten implizierte, keinen unver- Nordrhein-Westfalens“ geworden. Nichts unterstreicht änderlichen Status quo beschwor, sich vielmehr in jeder diesen Sachverhalt mehr als die nachlassende Strahlkraft des Hinsicht offen und flexibel zeigte für neue Entwicklun- Ministerpräsidenten Rau, mit dessen Popularität und Cha- gen und dabei niemanden ausschloss, ein „Land für alle risma der Erfolg von „Wir in NRW“ engstens verbunden Bürger“ beschrieb und insgesamt die offensichtlichen war, sowie der allmähliche Niedergang der nordrhein-west- Probleme eines landsmannschaftlichen, kulturellen und fälischen Sozialdemokraten bzw. die schleichende Erosion regionalen „Gemischtwarenladens“ geschickt umwan- ihrer Milieus. Gegen Ende des Jahrhunderts verblasste die

266 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kultur und Identität

Johannes Rau (Mitte) bei seiner Vereidigung zum Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen im September 1978 vor Landtags- präsident Wilhelm Lenz

Binde- und Integrationswirkung des „Wir in Nordrhein- Das war allzu selektiv und durchsichtig und stand überdies Westfalen“ zusehends, zusätzlich befördert durch den Re- in eklatantem Widerspruch zur polyzentrischen, multiper- gierungswechsel auf Bundesebene, welcher bei zwei paral- spektivischen und vielfältigen Grundidee des Mottos „Wir lel amtierenden rot-grünen Koalitionen der Düsseldorfer in Nordrhein-Westfalen“. Es blieb jedenfalls bei dem Desi- Variante weitgehend die Möglichkeit des politischen Kon- derat einer tatsächlichen nordrhein-westfälischen Kern- trastprogramms nahm. „Wir in Nordrhein-Westfalen“ hatte identität. sich schlicht selbst überlebt; Ministerpräsident Clement Gewiss kann man Mannigfaltigkeit als Stärke de- stellte die gesamte Kampagne dann auch kurz nach seinem finieren und den ausgeprägten nordrhein-westfälischen Amtsantritt ersatzlos ein. Polyzentrismus als Vorzug. Aber doch sicher nur dann, „Wir in Nordrhein-Westfalen“ war ein Anfang. wenn diese bunte Mannigfaltigkeit und dieser Polyzentris- Aber er reichte nicht aus, war auf Dauer nicht tragfähig mus sinnvoll mit- und untereinander verbunden werden, genug. Die von diesem Motto ausgehende Botschaft erwies wenn sie eingebettet sind in eine harmonische Ordnung und sich im Langzeittest als merkwürdig substanzlos. Das lag nach dem Prinzip kommunizierender Röhren funktionie- nicht zuletzt daran, dass die mit diesem Erfolgsslogan ver- ren. Ansonsten bleiben es bloße Versatzstücke, hübsche bundene „Geschichtspolitik“ der sozialdemokratischen Leerformeln. Ganz ähnlich wie die übrigen nordrhein- Landesregierung erstaunlich inkonsequent war. Die Über- westfälischen Alleinstellungsmerkmale und Superlative: tragung der „Sozialdemokratisierung des Ruhrgebiets“ auf Kein anderes Land verfügt über eine derart üppige dezen- das gesamte Land misslang. Sie misslang auch deshalb, weil trale kulturelle Buntheit, keines hat mehr Einwohner, kei- der aus parteipolitischen Motiven heraus erfolgte Versuch nes erwirtschaftet ein in absoluten Zahlen vergleichbar der Kreierung eines „Volkes von Nordrhein-Westfalen“ auf hohes BIP, nirgends in Europa gibt es eine dichtere Hoch- das Revier und das dortige sozialistisch geprägte Arbei- schullandschaft und eine bessere Infrastruktur, aus keinem termilieu bei weitgehender Unterschlagung der starken anderen Land kommen ähnlich viele aktuelle wie ehemalige katholischen und bürgerlichen Milieus beschränkt blieb. Fußball-Bundesligisten, nirgendwo sonst werden mehr

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Derzeit mehr als Durchschnitt – Spieler des BVB jubeln mit ihrem Trainer Jürgen Klopp beim Sieg über den FC Bayern.

hochkarätige kulturelle Events angeboten. Und das Er- Umstrukturierungen durchgemacht oder sind mit gebnis? Es steht in keinem Verhältnis zu Aufwand und solchen im Zeichen der Globalisierung konfrontiert. Ausgangsbedingungen. NRW ist beinahe überall bestenfalls Darüber hinaus ist der Strukturwandel in NRW weder Durchschnitt: Im Fußball, wenn der BVB nicht gerade ein- abgeschlossen noch ausschließlich positiv verlaufen, mal Deutscher Meister ist, beim PISA-Test, in der wissen- trotz aller durchaus beachtlichen Einzelleistungen schaftlichen Leistungskraft, beim Wirtschaftswachstum, bei und Zwischenergebnisse. der Geburtenrate usw. usw. Zu selten kommt es zu Verzahnungen und der Erzielung von möglichen Syner- So bleibt das Ruhrgebiet eine „Minus-Region“: Überdurch- gieeffekten, manches wirkt sogar aufreizend unverbunden, schnittliche Arbeitslosigkeit korrespondiert mit Überalte- und oft genug wurde – wie im Hochschulbereich – Quan- rung und Bevölkerungsschwund. Das „Revier“ franst an tität mit Qualität verwechselt. Die beliebig erweiterbare seinen Rändern aus, verliert an innerer Homogenität und Liste von Rekorden und Spitzenwerten erscheint ohne öffnet sich in wachsendem Maße den angrenzenden Nach- überwölbende, sinnstiftende, zentrale Botschaft irgendwie barregionen. Noch gibt es eine spezielle „Reviermentalität“, seelenlos, abstrakt, künstlich. eine eigene „Ruhrkultur“, gewachsen und geprägt durch Kohle und Stahl, ethnische Vielfalt, Fußball und Zechen- Gerne wird für Nordrhein-Westfalen als typisches siedlungen sowie eine eigene typische „Mundart“. Aber die Charakteristikum auch der Strukturwandel angeführt. Präge- und Bindekraft dieser Traditionen und Merkmale Sicher ist NRW vom Strukturwandel in besonderem lässt nach, der „Mythos“ verblasst, der „Kult“ gerät zur Ka- Maße betroffen, vor allem im Ruhrgebiet. Aber dieser rikatur. Der multikulturelle „Schmelztiegel“ löst sich auf, Wandlungsprozess kann für sich genommen keinen die Klammerfunktion des historisch gewachsenen „rhei- Exklusivitätsanspruch reklamieren: Andere Regionen, nisch-westfälischen Industriegebietes“ für das ganze Land andere Länder haben ähnliche soziale und ökonomische erodiert zusehends. Längst machen sich zentrifugale Ten-

268 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kultur und Identität

einem dichten Netz gewachsener, hervorragend ver- netzter Verkehrsinfrastruktur, mit hohem Freizeitwert und zahlreichen Bildungseinrichtungen. Es bleibt das industrielle Herz Nordrhein-Westfalens ebenso wie das Gravitationszentrum seiner Bevölkerung und der geo- graphische Mittelpunkt des Landes. Dennoch sollten die Anstrengungen für eine Identitätsfindung des Landes nicht auf das Ruhrgebiet konzentriert oder gar be- schränkt werden, unabhängig davon, ob und wie die Verantwortlichen die Region durch wirtschaftliche und administrative Maßnahmen eher als Einheit stärken oder die Dezentralisierungstendenzen fördern wollen. Denn NRW ist mehr als das traditionelle „Revier“ – und anders.

Wie auch immer: Trotz aller historischen Hypotheken und aktuellen Probleme kommt Nordrhein-Westfalen im deut- schen wie im europäischen Maßstab durchaus eine Spitzen- stellung zu. Kaum ein anderes Land (keine Region) zählt mehr Einwohner, ist ökonomisch bedeutender, weist einen derart hohen Urbanisierungsgrad auf. Und nirgends ist die Integration verschiedener Kulturen und Mentalitäten derart augenfällig und kennzeichnend geworden wie hier. Heinz Kühn sprach daher bereits 1971 zu Recht vom nordrhein-westfälischen „Integrationsmagnetismus“. Der „Rheinländer an sich“ ist eine spezielle Mischung aus ange- stammten Germanen, römischen Legionären, angelsächsi- Fahnen mit dem Kulturhauptstadt-Logo vor dem Bahnhof in schen Missionaren, verfolgten religiösen Minderheiten und Essen im Jahr 2010 französischen Besatzungssoldaten. Im Ruhrgebiet prägten traditionell landfremde Zuwanderer Arbeitswelt und kultu- denzen bemerkbar: Der Kreis Wesel orientiert sich zum rellen Charakter der Region und nicht zuletzt ermöglichten Niederrhein, Duisburg zur „Rheinschiene“ mit Düsseldorf, sie ihren wirtschaftlichen Aufstieg. Wie sähe das „typische Köln und Bonn; der Kreis Recklinghausen sucht den Schul- Gesicht“ des Reviers aus, was wären seine Fußballclubs in terschluss mit dem Münsterland, Dortmund gewinnt an der Vergangenheit gewesen ohne die vielen Polen und Attraktivität für das Sauerland und Hagen mit Ennepe- Oberschlesier, die hier vor hundert Jahren eine neue Heimat Ruhr lehnt sich an ans Bergische Land. Das alte Revier fä- gefunden haben? Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm chert sich immer mehr auf in einige „Gewinner“-Städte Nordrhein-Westfalen zusammen mit Niedersachsen und bzw. -Kreise und viele „Verlierer“-Zonen. Die „Ruhr- Bayern die meisten vertriebenen Landsleute und Flücht- Stadt“ ist eine rein quantitative Größe und bleibt bloße linge aus dem historischen deutschen Osten auf; Millionen Fiktion, wenn es nicht gelingt, die „Metropole Ruhr“ mit von Schlesier, Ostpreußen, Pommern und Ostbran- einer kreativen, innovativen und damit identitätsstiftenden denburger fanden zwischen Rhein und Weser eine neue Idee auszustatten, welche die unterschiedlichen Städte und Heimat, ohne ihre alte zu vergessen. Und NRW verkörper- Menschen von neuem miteinander verbindet. Der Essen te für ca. ein Drittel all derjenigen, die in den sechziger und zuerkannte Status einer „Kulturhauptstadt Europas“ im siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als „Gast- Jahre 2010 bestätigt und honoriert die Ausnahmestellung arbeiter“ den Weg nach Deutschland fanden, das Ziel ihrer dieser Region, er eröffnet aber auch die große historische Sehnsüchte. Chance zu einem perspektivischen Neuanfang im eben Doch keiner der genannten Vorzüge des Landes, beschriebenen Sinn. auch sein Charakter als „Integrationsmagnet“ nicht, kommt einem Naturgesetz gleich oder ist auf ewig gesichert. Jeder Das Ruhrgebiet ist ohne Frage eine Kulturlandschaft Wettbewerbsvorteil des Landes muss immer wieder aufs von einzigartigem Facettenreichtum (Festspiele, The- Neue erarbeitet und bestätigt werden. Beispiel Integration: ater, Museen, Ausstellungen, Musicals); eine Region mit Die Zuwanderer aus Ostmitteleuropa konnten erfolgreich

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 269 Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kultur und Identität

Türkische Gastarbeiter in der Zeche „Zollverein“ in den siebziger Jahren

integriert werden, weil sie sich assimilieren ließen, ohne ihre ständig von Bayern umfasst wird, ist Nordrhein-Westfalen spezifischen Traditionen und Prägungen vollständig aufzu- mehr als nur ein Ballungsraum mit hohem ökonomischem geben. Anders ist es heute mit den Menschen, die einen Potential, es ist auch und vor allem ein Transitland von außereuropäischen Hintergrund haben. Anstelle von größter Bedeutung. Seine wichtigsten Verkehrsachsen ver- Integration sind vielerorts religiös-kulturelle, aber auch laufen nicht nur von Nord nach Süd, sondern vorzugswei- mentale und vor allem sprachliche Parallelgesellschaften se in West-Ost-Richtung, verbinden Kerneuropa mit den getreten. Der vermeintliche Vorteil multikultureller Beitrittsstaaten sowie Osteuropa. NRW verfügt zusätzlich Verschiedenartigkeit droht sich mitunter in einen hand- über den Rhein und zwei internationale Großflughäfen und festen Standortnachteil, in ein gesellschaftliches Risiko zu wird daher als Standort transnational agierender Unter- wandeln. nehmen immer interessant sein. Gleichzeitig übernimmt es Einer der größten Pluspunkte Nordrhein-West- gerade in einer Zeit zunehmender Übertragung nationaler falens ist zweifellos seine günstige geographische Lage. Die Kompetenzen auf die EU-Instanzen und der (Wieder-) direkte Nachbarschaft zu den Benelux-Staaten und die Entdeckung eines konstruktiven Föderalismus die Funk- zahlreichen vorhandenen Verflechtungen in diesen Raum tion eines „Katalysatoren“ der europäischen Integration, bei gleichzeitigem Ausgreifen bis praktisch vor die Tore nicht zuletzt auch eingedenk der Tatsache, dass es schon Hannovers prädestinieren NRW für den Status einer zum Zeitpunkt seiner Entstehung aufs Engste mit der euro- „Brückenregion“ nicht nur im nationalen, sondern auch im päischen Idee verbunden gewesen ist (Karl Arnold und der europäischen Maßstab. Düsseldorf liegt von Paris ungefähr „Schuman-Plan“; Montan-Union). Die Einwanderer aus so weit entfernt wie von Berlin. Anders als etwa Baden- diesem Raum, die vielen Heimatvertriebenen, die zahlrei- Württemberg, das zwar über eine lange gemeinsame Grenze chen kulturellen Verbindungen und die vielfältigen Paralle- mit dem Partner Frankreich verfügt, im Osten aber voll- len in Struktur und Problemen der beiden Montanreviere

270 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kultur und Identität haben überdies eine intensive Beziehung zwischen Nord- hat jedoch zu einer fatalen Wahrnehmungsstörung und rhein-Westfalen und Oberschlesien entstehen lassen, die damit zu einer handfesten Identitätskrise geführt. Ob- ihren markantesten Ausdruck im Partnerschaftsvertrag wohl Nordrhein-Westfalen längst ein Zentrum der zwischen Nordrhein-Westfalen und der Woiwodschaft Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft geworden ist, Sla¸sk (Kattowitz) aus dem Jahr 2000 gefunden hat. Welches bestehen bei vielen Menschen die Selbsteinschätzung als andere Land der Bundesrepublik verfügt über ähnlich gute Industriebeschäftigte und starke Bindungen an Groß- und im Wortsinn „weitreichende“ Kooperationsvorausset- unternehmen ungebrochen fort, zusätzlich ergänzt zungen mit einer konkreten mittelosteuropäischen Partner- durch die Erwartung, ein „betreuender“, „fürsorgen- region? In Nordrhein-Westfalen treffen sich Westen und der“ Staat werde das Schlimmste schon verhüten und Osten. Und dies ist durchaus wörtlich zu nehmen. den sozialen Ausgleich garantieren. Eigeninitiative, Auf lange Sicht kann Nordrhein-Westfalen jedoch unternehmerisches Engagement und gesunde mittel- weder sich selbst genügen noch von einer „negativen Pro- ständische Strukturen hatten es unter diesen Bedingun- filierung“ profitieren, welche sich zwangsläufig aus seiner gen in NRW lange Zeit schwerer als anderswo. Umge- Randlage im größer gewordenen Deutschland sowie aus kehrt bleiben regional bzw. lokal durchaus zu verzeich- dem Kontrast zur Bundeshauptstadt Berlin ergibt. Auf- nende Erfolge merkwürdig unbeachtet, werden sie viel grund seiner Größe und ökonomischen Bedeutung ist zu selten als eine Angelegenheit aller empfunden, ja NRW mehr als jedes andere Land dazu berufen, unabhän- wecken schlimmstenfalls sogar noch Neidgefühle. gig von den jeweils vorherrschenden parteipolitischen Kon- stellationen ein Korrektiv zum „Berliner Zentralismus“ zu Eng mit dem eben Gesagten korrespondiert die Frage der bilden; nicht als sture Opposition, aber als gesundes „Metropolregion NRW“ und des hier allenthalben spürba- Gegengewicht. Vor allem jedoch muss es eine eigene, zeit- ren spannungsreichen Verhältnisses von Stadt und Land wie gemäße politische Botschaft formulieren. Johannes Rau hat auch der einzelnen Regionen untereinander. Nordrhein- in seiner Regierungserklärung vom 10. Juni 1985 gesagt: Westfalen ist wie bereits erwähnt traditionell polyzentrisch „Wir in Nordrhein-Westfalen wissen: Wir leben in einem und kulturell dezentral. Dies festzustellen, genügt jedoch schönen und starken Land. Unsere Herkunft ist unter- nicht mehr. Lokalpatriotismus ist menschlich verständlich schiedlich, unsere Zukunft ist gemeinsam. Wir leben gerne und mag auch über einen gewissen folkloristischen Wert hier. Vielfalt ist unsere Stärke. Wir sind stolz auf unsere verfügen. Aber er hat da zurückzutreten, wo er Wohlstand Heimat.“ Das ist ohne Zweifel auch heute noch alles rich- und Fortschritt behindert. Mancher ausländische Beobach- tig. Aber es ist eben nicht mehr hinreichend. Solche Aussa- ter reibt sich verwundert die Augen, wenn er die Rivalität gen müssen heute konkreter, präziser, selbstbewusster for- nicht nur zwischen dem westfälischen und dem rheinischen muliert werden. So vermag das Kriterium „Vielfalt“ nur Landesteil beobachtet, sondern auch diejenige innerhalb des dann etwas Positives auszudrücken, wenn aus einem unver- Rheinlandes zwischen Düsseldorf und Köln. Oder die In- bundenen, durchaus duldsamen Nebeneinander ein pro- ferioritätsgefühle des Ruhrgebietes gegenüber der prospe- duktives Miteinander wird; wenn Reibungen zugelassen, rierenden Rheinschiene. Oder den Neid anderer Regionen die dabei entstehenden Energien aber bewusst auf ein auf die vermeintliche finanzielle Bevorzugung des alten gemeinsames Ziel hin ausgerichtet werden. Nicht Harmo- „Reviers“. In der interkontinentalen Perspektive ver- nie lautet das Zauberwort, sondern Aufbruch, Bewegung schmelzen Köln und Düsseldorf mit zwei renommierten und eine in diesem Sinne verstandene produktive Unruhe. Messen, zwei Universitäten, zwei Großflughäfen und als Deutlich wird dieser Sachverhalt am Beispiel Sitz internationaler Medien- und Werbeunternehmen sowie Strukturwandel: Die notwendige ökonomische Anpassung als Banken- und Versicherungsplatz, ergänzt um den Frei- an veränderte Gegebenheiten ist nicht nur aufgrund objek- hafen Duisburg und die Bundes- bzw. Uno-Stadt Bonn zu tiv schwieriger Umstände zu spät und zu zögerlich erfolgt, einem Wirtschaftsstandort erster internationaler Qualität. immer wieder ins Stocken geraten und bis heute unvollen- Weshalb soll sich da nicht auch in Nordrhein-Westfalen det geblieben, sondern insbesondere auch deshalb, weil Par- selbst die Erkenntnis Bahn brechen, dass die eigenen Stär- teien und Politiker die betroffenen Menschen auf den vor ken auf Vielgestaltigkeit und Ergänzung beruhen, dass das ihnen liegenden beschwerlichen Weg psychologisch nur Ruhrgebiet von einer blühenden Rheinschiene ebenso pro- unzureichend vorbereitet haben. fitiert wie das nördliche Westfalen oder das Sauerland von einer aufstrebenden „Metropole Ruhr“? Gleiches gilt für Die Konservierung überkommener mentaler und ge- die Großstädte und ihr Umland. Erfolgreiche Städte und die sellschaftlicher Strukturen mag das Land vor sozialen Fläche bedingen einander mehr denn je. Die Städte sind die Erschütterungen bewahrt haben, die darin enthaltene wirtschaftlichen Motoren und die kulturellen Dienstleister, Botschaft „eigentlich könnt ihr bleiben, wie ihr seid“, ihr ländliches Umfeld liefert die für alle notwendige „Luft

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Exklusiver Standort: das Hotel Hyatt Regency am sogenannten Medienhafen in Düsseldorf im Jahr 2011

zum Atmen“ und einen weit über die eigentliche Einwoh- erst jüngst unter Beweis gestellt, welche Leistungen nerschaft hinaus reichenden Kreis von Kunden und Besu- möglich sind, wenn alle Beteiligten an einem Strang zie- chern. Der symbiotische Zusammenhang von Stadt und hen und um der gemeinsamen Sache willen altes Kirch- Fläche ist quasi natürlich gegeben, seine Vorteile zu vermit- turmdenken überwinden. Diese Erfahrung müsste teln, ist Aufgabe der Politik. Kooperation genießt in diesem eigentlich zum leuchtenden Beispiel, ja zum Fanal für Fall Vorrang vor Konkurrenz. das Zusammengehörigkeitsgefühl im gesamten Lande werden. Wie kaum ein anderes Land verkörpert Nord- Das Beispiel der Wahl Essens zur Kulturhauptstadt Eu- rhein-Westfalen die Metropol-Region in Deutschland. ropa, stellvertretend für das gesamte Ruhrgebiet, hat Richtig verstanden ist der Charakter der Metropol-

272 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kultur und Identität

Das „Stadttor“ in Düsseldorf ist Sitz der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalens.

Region der größte Vorzug, den NRW im Vergleich etwa einmal nicht aus. Es hat den Anschein, als ob die politische mit den süddeutschen Ländern besitzt. Klasse dieses Landes in der Vergangenheit selbst alles daran gesetzt hat, eine allzu enge Verbindung von Staats- und Lan- Ist die Kampagne „Wir in Nordrhein-Westfalen“ trotz aller desbewusstsein zu verhindern. Während der „Staat“ sich unbestreitbaren kurz-, ja mittelfristigen Durchschlagskraft kühl, nüchtern, technokratisch inszenierte und damit un- auch insofern gescheitert, als sich mit ihr keineswegs die freiwillig dem gängigen Klischee vom künstlichen, seelen- Etablierung eines tief verwurzelten und dauerhaft tragen- losen „Konstrukt NRW“ entsprach, wurden die Menschen den Landesbewusstseins verbunden hat, so bleibt es ihr Ver- dieses Landes mittels vermeintlich „weicher“, staatsferner, dienst, indirekt das nordrhein-westfälische Staatsbewusst- beinahe unpolitischer, auf jeden Fall gefühlsbetonter Kate- sein gefördert zu haben. Niemand stellt mehr – wie noch in gorien angesprochen. So als ob das einzige, die unterschied- den achtziger Jahren zeitweise in Westfalen – ernsthaft die lichen regionalen und kulturellen Identitäten Nordrhein- Existenz des „Bindestrich-Landes“ zur Disposition oder Westfalens wirklich einigende Band in einer Art Gegenent- propagiert die offene Separation, und das Wort vom „Pro- wurf zu seiner staatlichen Verfasstheit bestünde. Zugleich visorium“ ist auch schon längst aus dem politischen Sprach- dokumentiert das Land selbst sein gebrochenes Selbstbe- gebrauch verschwunden. Es bleibt allenfalls der selbstironi- wusstsein: Die Staatskanzlei, die Lenkungszentrale einer sche Spott. Vom Spruch „Was Gott getrennt hat, darf der Körperschaft mit immerhin 18 Millionen Einwohnern, resi- Mensch nicht verbinden“ bis hin zum Fazit, welches der diert unscheinbar als einer von mehreren Mietern in einem Kölner Kabarettist Jürgen Becker und sein westfälisches Geschäftshochhaus; die Erweiterung der renommierten Pendant Rüdiger Hoffmann aus Anlass des 60-jährigen „Kunstsammlung NRW“ firmiert, ausgerechnet im traditi- Landesbestehens gezogen haben: „Es ist furchtbar, aber es onsreichen Ständehaus am Düsseldorfer Schwanenspiegel, geht.“ seltsam anonym als „K 21“ – unter Verzicht auf die Erwäh- Ein einigermaßen gefestigtes „Staatsbewusstsein“ nung des Landesnamens. Die Liste ließe sich beliebig fort- zu haben, reicht als identitätsstiftendes Merkmal aber nun setzen, so etwa mit dem bemerkenswerten Phänomen, dass

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 273 Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kultur und Identität

Nordrhein-Westfalen bis heute ein kompliziertes Verhältnis Transport einer überzeugenden Synthese aus Anforderung zu seiner Landeshauptstadt pflegt und nach Kräften auch und Ermunterung zur Solidarität. Folglich wurde Nord- nur vorsichtige Ansätze zur Herausbildung bzw. Betonung rhein-Westfalen von der christlich-liberalen Koalition in zentraler Strukturen vermeidet, die wenn nicht für die Do- Düsseldorf kurzerhand zum „Land der neuen Chancen“ minanz einer Stadt oder Region, aber doch für so etwas wie deklariert und eine Politik der „kreativen Ökonomie“ und ein Ordnungsschema und einen Orientierungspunkt im „neuen Sicherheit“ ausgerufen. Die Regierung Rüttgers er- chronischen dezentralen Durcheinander des Landes sorgen kannte die zahlreichen, ihr von den Vorgängerkabinetten könnten. hinterlassenen Leer- und Baustellen auf dem Gebiet der Landesidentität und der Förderung eines Landesbewusst- Es muss ja nicht unbedingt eine „Landeshymne“ sein, seins. Sie inszenierte einen großen Festakt zum 60-jährigen aber etwas mehr Symbolik täte dem Land und seiner Landesjubiläum, sie ersetzte das Kürzel „NRW“ durch den Identitätsgewinnung sicher gut. Das Landeswappen, vollen Landesnamen und wertete letzteren dadurch auf, sie heraldisch korrekt als „gespaltenes Schild“ bezeichnet, realisierte die Idee eines jährlich alternierenden „Nord- darf nicht länger sinnbildlich für das bloße Nebeneinan- rhein-Westfalen-Tages“, sie förderte als ersten ihrer Art in der von Rhein, Westfalenross und lippischer Rose ste- Deutschland an der Universität Duisburg-Essen einen eige- hen, sondern muss das schicksalhafte Miteinanderver- nen Lehrstuhl für Landespolitik, sie vergab mit großem wobensein von Rheinländern, Westfalen und Lippern Aufwand den nordrhein-westfälischen Verdienstorden und verkörpern – bei gleichzeitiger Betonung ihrer jeweili- überreichte in jedem Jahr feierlich auf dem Petersberg den gen Eigenart. Schon Johannes Rau wünschte sich mit nordrhein-westfälischen Staatspreis; sie berief eigens eine dem ihm eigenen Schalk, in der Sache selbst aber sehr „Zukunftskommission“ ein und erklärte Nordrhein-West- ernsthaft, eine glückliche „Kombination aus rheinischer falen entsprechend zum „Innovationsland Nummer eins“, Zuverlässigkeit, westfälischer Leichtfüßigkeit und lip- zum „Land der Zukunft“, zu einem „starken Land“ mit pischer Großzügigkeit“. Der seit 2006 alljährlich durch- dem wieder begründbaren Anspruch, „Kernland“, aber geführte „Nordrhein-Westfalen-Tag“ ist ein wichtiger auch das „soziale Gewissen“ der ganzen Bundesrepublik zu und auch sichtlich erfolgreicher Schritt in die richtige sein. Vor allem aber definierte sie Identität und Zusammen- Richtung; ein „Haus der Landesgeschichte“ wäre ein gehörigkeitsgefühl unzweideutig über den gemeinsamen weiterer. wirtschaftlichen Erfolg des ganzen Landes; Erfolg als Indi- kator und Maßstab für Integration und Identität. Über 60 Jahre sind ein Zeitraum, der mittlerweile lang ge- nug ist, sich seiner selbst zu vergewissern und die Ergeb- Die von Finanzkrise, wirtschaftlicher Depression und nisse einer solchen Reflexion didaktisch ansprechend in die staatlicher Überschuldung ausgehenden Zwänge torpe- Bevölkerung hinein zu vermitteln. Ohne Mithilfe der Me- dierten indes sämtliche Ansätze einer Proklamation des dien bleiben derlei Anstrengungen freilich vergeblich. Es ökonomischen (Wieder-)Aufstiegs und verhindern bis wäre wünschenswert, wenn die Landespolitik in den nord- auf weiteres die Realisierung nahezu sämtlicher optio- rhein-westfälischen Tageszeitungen und Sendern (wieder) naler Weiterentwicklungen von Landesidentität. Nord- über den Stellenwert verfügte, wie er andernorts noch im- rhein-westfälische Traditionen und Selbstbilder wurden mer durchaus Standard ist. vielmehr zunehmend zur Absicherung der eigenen Nicht zufällig spielte die neue CDU/FDP-Landes- Positionen im innerparteilichen Flügelkampf herange- regierung nach dem Machtwechsel von 2005 die Karte Lan- zogen, und indem Ministerpräsident Rüttgers immer desbewusstsein und Landesidentität. Bereits im Landtags- öfter Anleihen bei seinem populären Vorgänger wahlkampf hatte die CDU mit dem Slogan „NRW kommt Johannes Rau nahm, wuchs zugleich die Gefahr, nicht wieder“ auf die Weckung eines etwas diffusen Landespa- völlig grundlos der Revitalisierung des alten „sozialde- triotismus gesetzt und versucht, die Erinnerung, ja die Sehn- mokratischen NRW“ geziehen zu werden. Im Land sucht nach lange verflossenen Zeiten nordrhein-westfäli- selbst beförderte derweil die krisenhafte Zuspitzung der scher Spitzenstellungen im Wettbewerb der deutschen Situation die Tendenz, aus Gründen der Gerechtigkeit Länder wiederzubeleben. Nach dem Wahlsieg kam es dar- und des Gleichbehandlungsgrundsatzes wieder ver- auf an, ein zuletzt zwar nicht von der SPD domestiziertes, stärkt Partikularinteressen zu bedienen und den ausge- aber doch eindeutig sozialdemokratisch geprägtes Land rufenen „Wettbewerb“ der Regionen untereinander gedanklich umzupolen und mit einer entsprechend neuen zugunsten alter nordrhein-westfälischer Verhaltens- politischen Botschaft auszustatten. Die Kunst erfolgreicher muster, eben der berühmten „Konkordanz- und politischer Kommunikation bestand in diesem Kontext im Akkomodierungsstrategie“, zurückzufahren.

274 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kultur und Identität

„Nordrhein-Westfalen-Tag“ in Hamm im Jahr 2009

Wie wir heute wissen, ist die politische Gesamtstrategie der Landesidentität, weil er in jeder Beziehung die aktuelle Regierung Rüttgers gescheitert. Jedenfalls hat sie nicht zum Botschaft eines Landes verkörpert. Verbinden sich ökono- Machterhalt geführt. Jenseits aller tagesaktuellen und par- mische Spitzenstellung, sozialer Friede und spezifische teispezifischen Ursachen für den Wahlausgang bleibt fest- nordrhein-westfälische Traditionen und Prägungen endlich zuhalten, dass für jede Landesregierung am Ende der wirt- zu einer zeitgemäßen, glücklichen und vor allem dauerhaf- schaftliche Erfolg von entscheidender Bedeutung sein wird, ten Kombination, dann erübrigen sich auch alle Fragen und ohne den alle noch so gut gemeinten und auch notwendigen Zweifel hinsichtlich der Größe und inneren Bindekraft die- Anstrengungen Stückwerk bleiben müssen. Der ökonomi- ses nach wie vor politisch wie ökonomisch bedeutendsten sche (Wieder-)Aufstieg Nordrhein-Westfalens ist und bleibt aller sechzehn Länder. Vielleicht heißt es ja dann wirklich zusammen mit der damit verbundenen sozialen Stabilität einmal in Nordrhein-Westfalen selbstbewusst, aber auch der größte und wichtigste Integrationsfaktor des Landes. mit einem verschmitzten Augenzwinkern: „Wir können Eben ein solcher Erfolg ist daher zugleich sowohl Bedin- alles, sogar Hochdeutsch!“ ❚ gung als auch Katalysator einer wie auch immer gearteten

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 275 NS-Gedenkstätten in Frankreich Mauern und Namen

NS-Gedenkstätten in Frankreich

Von Christoph Huber

Der „Saal der Kinder“ im „Mémorial de la Shoah“ in Paris Foto: Hans-Christian Täubrich

276 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 NS-Gedenkstätten in Frankreich

Die verheerenden Auswirkungen des Nationalsozialismus betrafen nicht nur Europa als Ganzes, sie betrafen als crimes against humanity die gesamte menschliche Zivilisa- tion. Geschichtsvermittlung und Erinnerungskultur stehen in verschiedenen Ländern vor ähnlichen Herausforderungen: dem Verstummen der Zeitzeugen einerseits und einer jungen Generation andererseits, die sich nach wie vor an der Thematik ausge- sprochen interessiert zeigt, die aber nicht mehr durchgehend einen familienbiographi- schen Erfahrungszusammenhang aufweist. Gründe für länderübergreifenden Aus- tausch und internationale Vernetzung im Bereich der Gedenkstättenarbeit gibt es also genug. Vor diesem Hintergrund besuchten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von zeit- historischen Einrichtungen in Bayern bei einer Studienreise, die das Dokumentations- zentrum Reichsparteitagsgelände gemeinsam mit dem Bezirk Mittelfranken und der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit veranstaltete, Gedenkstätten in Frankreich: das „Europäische Zentrum des deportierten Widerstandskämpfers“ beim ehemaligen Konzentrationslager Struthof-Natzweiler, das „Zentrum der Erinne- rung“ beim „Märtyrerdorf“ Oradour sur Glâne, das „Mémorial de Caen“ sowie das „Mémorial de la Shoah“ in Paris.

Struthof-Natzweiler Dieser Aspekt spielte eine wichtige Rolle dafür, dass im Jahr 2005 dort das „Europäische Zentrum des deportierten In den nördlichen Vogesen erkundete im September 1940, Widerstandskämpfers“ eingerichtet wurde. Über dem soge- wenige Monate nachdem das Elsass von Deutschland fak- nannten Kartoffelkeller, einer von den „Nacht-und-Ne- tisch annektiert worden war, SS-Standartenführer Karl bel“-Häftlingen unter menschenunwürdigen Bedingungen Blumberg im Auftrag der Deutschen Erd- und Steinwerke errichteten unterirdischen Stahlbeton-Anlage mit unklarer GmbH (DESt), einem SS-eigenen Unternehmen, das Ge- Bestimmung, entstand ein Gebäude aus schlichten, dunklen lände in der Nähe von Natzweiler. Auf dem Gebiet der Materialien, das 2.000 m2 Ausstellungsfläche bietet. Gemeinde war roter Granit entdeckt worden, den Albert Speer für seine gigantomanen Bauprojekte benötigte. Dies Technisch besonders aufwändig ist der Ausstellungsteil war der Anfang des Konzentrationslagers Struthof-Natz- in der großen Empfangshalle gestaltet, in dem über die weiler, dessen erste Häftlinge, überstellt vom KZ Sachsen- vierzehn größten Konzentrationslager in einer jeweils hausen, im Mai 1941 eintrafen. einheitlichen Form informiert wird: Neben einer auf In dem „kleinen Lager“, wie es der Lagerkomman- eine Glasplatte gezogenen Fotografie steht eine Vitrine dant Josef Kramer ausdrückte, fanden ca. 20.000 Menschen mit einem Objekt, das die betreffenden Gedenkstätten den Tod, etwa 40 Prozent der Gesamtzahl der Inhaftierten. in den meisten Fällen selbst ausgewählt haben. Die Vor allem „Politische“ kamen nach Natzweiler; eine beson- bayerische KZ-Gedenkstätte Flossenbürg zum Beispiel dere Kategorie bildeten dabei die „Nacht-und-Nebel“- stellte einen Schuh zur Verfügung, der nach der Be- Häftlinge. Auf einen Befehl Hitlers erging von Wilhelm freiung des Lagers auf dem Appellplatz gefunden wor- Keitel, dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, der den war. Die Vergegenwärtigung durch die authenti- Erlass, Widerstandskämpfer „bei Nacht und Nebel“, d.h. schen Exponate wird ergänzt durch umfangreiche ohne dass ihre Angehörigen von ihrem Verbleib etwas Informationen und digitalisierte Materialien, die die erfuhren, nach Deutschland zu deportieren, um sie entwe- Besucher auf interaktiven Touchscreens abrufen kön- der vor Sondergerichte zu stellen oder in Konzentrations- nen. So wird ein sowohl emotionaler als auch kogni- lager zu inhaftieren. Das Reichssicherheitshauptamt be- tiver Zugang zur Thematik des nationalsozialistischen stimmte das KZ Natzweiler dazu, diese Häftlinge aufzu- Konzentrationslagersystems ermöglicht, der dem in- nehmen. Bis zur Abschaffung der Häftlingskategorie im dividuellen Besucher viel Freiheit bei der eigenen Ausei- Sommer 1944 kamen rund 2.500 nord- und westeuropäische nandersetzung und der selbstständigen Recherche lässt. Widerstandskämpfer, mehr als die Hälfte davon Franzosen, in das Konzentrationslager im Elsass.

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 277 NS-Gedenkstätten in Frankreich

Die Gaskammer des Konzentrationslagers Struthof-Natzweiler Foto: Dr. Alexander Schmidt

Um die Betonanlage des unterirdischen Kartoffelkellers die Ausstellung auch gar nicht verneint. Beim Thema des herum sind die Tafeln der Dauerausstellung mit dem Titel Widerstands wiederum wird die Konzeption, jeweils ein „Gegen die Unmenschlichkeit – sich engagieren, widerste- Ausstellungskapitel Frankreich und dem sonstigen besetz- hen, kämpfen“ angeordnet. Das Thema ist in einen größe- ten Europa zu widmen, einem „Europäischen Zentrum des ren Kontext eingebettet, der mit der Darstellung des Auf- deportierten Widerstandskämpfers“ vielleicht nicht ganz stiegs von italienischem Faschismus und deutschem Natio- gerecht. Als ergänzendes Angebot zur Ausstellung auf dem nalsozialismus in der Zwischenkriegszeit beginnt. Die KZ-Gelände selbst ist das Zentrum jedoch auf jeden Fall gesamteuropäische Perspektive wird hier bereits betont: wertvoll und bietet auch Möglichkeiten für temporäre Auch faschistische und antisemitische Parteien in demokra- Ausstellungen und pädagogische Arbeit. tischen Ländern wie Großbritannien oder Frankreich fin- den Erwähnung. Bei der Darstellung des Widerstands wird Oradour sur Glâne diese Perspektive beibehalten, wobei die französische résis- tance den größten Raum einnimmt. Die Ausstellung endet Am 10. Juni 1944 zerstörte eine Einheit der SS-Division mit einem Ausblick auf deutsch-französische Freundschaft „Das Reich“ den kleinen Ort Oradour sur Glâne im Limou- und europäische Einigung. sin vollständig und ermordete fast alle seine Einwohner. Die Das Bemühen um eine länderübergreifende Sicht- Tat war eines von mehreren Massakern, die kurz nach der weise erscheint sinnvoll, an einigen Stellen stößt dieser Zu- Landung der Alliierten in der Normandie zur Ab- gang jedoch an Grenzen. Der Nationalsozialismus als schreckung des französischen Widerstands begangen wur- Massenbewegung und schließlich Staatsdoktrin hebt sich den. Bei den Morden in Oradour gingen die Soldaten mit von dem gesamteuropäischen Feld von teilweise sektiereri- besonderer Brutalität vor: Die Männer wurden gruppen- schen faschistischen Bewegungen doch sehr stark ab, was weise erschossen, Frauen und Kinder in die Dorfkirche

278 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 NS-Gedenkstätten in Frankreich

Die Dokumentation des nationalsozialistischen Konzentrationslagersystems in der Empfangshalle des „Europäischen Zentrums des deportierten Widerstandskämpfers“ Foto: Hans-Christian Täubrich gebracht, die anschließend gesprengt wurde. Danach brann- die Gruppe aus Bayern, von Robert Hébras, einem der te die Einheit sämtliche Gebäude nieder. 642 Menschen star- beiden letzten lebenden Zeitzeugen des Massakers, ben, nur sechs Einwohner, die an diesem Tag im Ort waren, durch das Märtyrerdorf geführt wird, erfährt die Ruine überlebten. jedenfalls als ausgesprochen anschauliches und auch ergreifendes Zeugnis menschenverachtenden Vernich- Schon bei seinem Besuch am 5. März 1945 legte Charles tungswillens. Ob nach dem Verstummen der letzten de Gaulle fest, dass der Ort in seinem Zustand als Überlebenden neue bzw. ergänzende Formen der Erinnerungsstätte erhalten werden solle. Eine neue Dokumentation gefunden werden müssen, stellt sich Siedlung für die wenigen Überlebenden und die Ange- damit aber umso mehr. hörigen der Toten entstand in der Nähe des „Märtyrer- dorfes“, wie der ursprüngliche Ort nun genannt wurde. Im Jahr 1999 eröffnete Präsident Jacques Chirac das „Zen- Damit begann die denkmalpflegerische Herausforde- trum der Erinnerung“, das in unmittelbarer Nähe des Mär- rung, die Ruine in ihrem authentischen Zustand der tyrerdorfes errichtet wurde. Eine Dauerausstellung mit dem Zerstörung zu erhalten. Dieses Vorgehen ist heute Titel „Oradour verstehen“ nähert sich dem Thema in fünf nicht unumstritten. Schafft man dadurch, dass man die Kapiteln: zunächst in einem chronologischen Abriss vom natürliche Verwitterung aufwändig zurückhält, nicht Aufstieg des Nationalsozialismus bis zur Besetzung Frank- allmählich eine artifizielle Kulisse? Sollte man den reichs, dann – ein sehr sinnvoller Zugang – in einer Darstel- Erhalt auf ausgewählte Bauten wie die Kirche be- lung des Terrors der nationalsozialistischen Besatzung, die schränken? Die Leitung der Gedenkstätte unter Direk- erst auf die Gebiete im Osten eingeht, bevor sie sich den tor Richard Jezierski stellt sich der Diskussion um Verbrechen in Frankreich widmet und die damit auch den solche Fragen auf bemerkenswert offene Weise. Wer, wie Weg der SS-Division „Das Reich“ nachvollzieht. Erst dann

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 279 NS-Gedenkstätten in Frankreich

Das „Märtyrerdorf“ in seinem heutigen Zustand Foto: Hans-Christian Täubrich

Der Eingangsbereich des „Zentrums der Erinnerung“ mit einer zeitgenössischen Aufnahme des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg im Hintergrund Foto: Hans-Christian Täubrich

280 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 NS-Gedenkstätten in Frankreich

Die Außenansicht macht die Dimension des „Mémorial de Caen“ deutlich. Foto: Hans-Christian Täubrich

wird konkret auf Oradour eingegangen, sowohl auf das fe sowie die verschiedenen Denkmäler und Museen in der beschauliche Leben in dem abgelegenen Dorf bis unmittel- Region. bar vor dem Massaker als auch auf die Ereignisse des 10. Juni Das „Mémorial de Caen“, das 1988 eröffnet wurde, 1944. Ein letzter Raum dient der individuellen Reflexion. In trat damit neben eine Reihe bestehender Angebote. Heute dem dunkel gehaltenen Rundsaal sind leuchtende Platten zeigt es sich als ein ausgedehntes und modernes Museum mit Zitaten – beispielsweise der Satz „Der Mensch ist das, zur Zeitgeschichte, in dem die Dokumentation der Landung was er tut.“ von André Malraux – in den Boden eingelassen. in der Normandie nur ein Thema neben vielen anderen ist. Direktor Richard Jezierski sieht in dem Zentrum Das Herzstück bildet eine zweigeteilte Dauerausstellung, eine dem Frieden gewidmete Einrichtung, die Opfern eine deren beide Titel „Die Welt vor 1945“ sowie „Die Welt nach Stimme verleiht. In diesem Sinn erweitert er das Angebot 1945“ ein ambitioniert breit angelegtes Spektrum andeuten. des Zentrums um zeitgenössische Themen: Temporäre Der erste Teil widmet sich, doch etwas fokussierter Ausstellungen widmen sich etwa der Belagerung Sarajewos als der Titel vermuten lässt, vor allem der Vorgeschichte und in den neunziger Jahren oder den Terrorangriffen des 11. dem Verlauf des Zweiten Weltkriegs, wobei die militärische September. Gerade in letzteren sieht er – aus Sicht der Opfer Geschichte klar im Hintergrund steht. Ein wichtiges Thema – Parallelen zu dem Massaker in Oradour. ist die Erfahrung der Massengewalt, insbesondere bei dem Schwerpunkt des Vernichtungskriegs. Dass die Shoah im Caen Kontext des Krieges behandelt wird, erscheint inhaltlich sehr stimmig: So werden die Massenerschießungen im Os- Schon aufgrund der Dimension der militärischen Auseinan- ten als Auftakt der sogenannten „Endlösung“ dargestellt. dersetzung in der Normandie im Sommer 1944 – insgesamt Die Gestaltung und Ausstellungsarchitektur ist aufwändig waren an den Kämpfen weit über eine Million Soldaten und meist auch überzeugend. Ein Raum mit gewölbter beteiligt, allein in den Kriegsgräberstätten in der Region lie- Decke empfindet beispielsweise den Eisenbahnwaggon gen über 100.000 Gefallene, ca. 20.000 französische Zivilis- nach, in dem am 22. Juni 1940 der Waffenstillstand zwischen ten kamen ums Leben – spielt sie erinnerungspolitisch eine Frankreich und Deutschland unterzeichnet wurde. In die- besondere Rolle. Viele internationale Besuchergruppen sem Raum sind die Originalaufnahmen der Rede anlässlich kommen wegen familienbiographischer Bezüge in die Re- des Waffenstillstands von Marschall Pétain sowie des Auf- gion, besichtigen sowohl Landungsstrände und Befesti- rufs zum Widerstand von Charles de Gaulle zu hören, deren gungsanlagen als auch die angesprochenen Soldatenfriedhö- Transkription und Übersetzungen gleichzeitig auf einer

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 281 NS-Gedenkstätten in Frankreich

Der Eingangsbereich des „Mémorial de Caen“ – die Aufnahme des Brandenburger Tors verweist auf den zweiten Ausstellungsteil „Die Welt nach 1945“ Foto: Hans-Christian Täubrich

Videotafel zu lesen sind. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt zweiten Teils steht eine Ausstellung, die aktuelle Themen auf der europäischen bzw. französisch-deutschen Ge- wie Menschenrechtssituation, Klimawandel oder Antisemi- schichte, wenn auch ein Ausstellungskapitel unter der tismus im Spiegel von Karikaturen zeigt. Die Behandlung Überschrift „Vom europäischen Krieg zum Weltkrieg“ von Themen der Gegenwart steht ein wenig unvermittelt diese Perspektive nach außen öffnet. Zur Landung in der neben den historischen Kapiteln. Der Ansatz, die histori- Normandie selbst wird ein Film gezeigt, der nicht wirklich sche Perspektive durch Gegenwartsbezug zu ergänzen, ist überzeugen kann. In ihm stehen Dokumentaraufnahmen aber gerade im Veranstaltungsangebot und den temporären für den Zuschauer nicht klar abgegrenzt neben fiktionalem Ausstellungen des Mémorial programmatisch verankert Material, das vor allem aus dem Film „Der längste Tag“ von und durchaus zu begrüßen. 1962 stammt. Der zweite Teil – „Die Welt nach 1945“ – setzt sich Paris in eher knapper Form mit der unmittelbaren Nachkriegszeit auseinander, um sich dann vor allem dem Kalten Krieg zu Auch das „Mémorial de la Shoah“ in Paris geht zunehmend widmen. Der ideologische Gegensatz und die nukleare diesen Weg. Im Jahr 2005 wurde es unter dem heutigen Bedrohung sind dabei die profilierten Themen. Ein eigenes Namen und in seiner jetzigen Gestalt eröffnet, die Institu- Kapitel widmet sich dem geteilten Berlin – Trabi und Mau- tion hat aber eine längere Geschichte, die bis auf die Zeit des erstück als Ausstellungsstücke wirken auf manchen deut- Nationalsozialismus zurückreicht. Im April 1943 gründete schen Besucher vielleicht wenig originell, inhaltlich ist das Isaac Schneersohn in Grenoble eine Einrichtung, die Bewei- Grenzregime der DDR jedoch gut dargestellt. Am Ende des se für die Verfolgung der Juden dokumentieren sollte, und

282 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 NS-Gedenkstätten in Frankreich

Namen der ermordeten französischen Juden möglichst vollständig verzeichnet sind und die als gelungene Verbindung von Dokumentation und Gedenkort erscheint.

Das Museum im Mémorial nähert sich der Shoah anders als die anderen besuchten Gedenkstätten, in denen der Dar- stellung der nationalsozialistischen Verbrechen meistens ein Rückblick auf den Aufstieg der Bewegung in der Zwischen- kriegszeit vorangeht. Die Ausstellung im Mémorial setzt dagegen mit einer Beschreibung des jüdischen Lebens in Europa ein, das zeitlich mehrere Jahrhunderte weit zurück- greift, und thematisiert parallel dazu auch die Geschichte des europäischen Antisemitismus seit dem Mittelalter. Sie setzt sich mit der Frage auseinander, was Jude-Sein eigent- lich ausmacht: Ist es die Religion, ist es die kulturelle Tradition? Gerade in einer laizistischen Nation wie Frank- reich, die sich in das religiöse Selbstverständnis ihrer Bür- gerinnen und Bürger nicht einmischt und deshalb beispiels- weise keine genauen Statistiken über ihre jüdische Be- völkerung angeben kann, spielen solche Identitätsfragen eine besondere Rolle. Die Ausstellung versucht in dem der Shoah gewidmeten Teil den individuellen Schicksalen ge- recht zu werden. Ein Raum zeigt ausschließlich mit Namen und Lebensdaten versehene Bilder von ermordeten jüdi- schen Kindern. Direktor Jacques Fredj liegt besonders an einer Erweiterung des Themenspektrums des Mémorial. Die Beschäftigung mit der Shoah ist für ihn kein Selbstzweck, Die Dauerausstellung im „Mémorial de la Shoah“ vor allem aber auch kein Allheilmittel für alle möglichen Foto: Hans-Christian Täubrich gesellschaftlichen Probleme. Manche Erwartungen, die in dieser Hinsicht an die Erinnerungsarbeit herangetragen werden, können nur zu Enttäuschungen führen. Jacques schuf damit den Grundstock des Archivs, das heute noch im Fredj plädiert für Aufgeschlossenheit, was Kontextualisie- Mémorial der Forschung dient und inzwischen mehrere rungen und Aktualisierungen angeht. Ein neuer themati- Millionen Dokumentenseiten umfasst. Isaac Schneersohn scher Schwerpunkt des Mémorial liegt in Fortbildungsver- engagierte sich nach dem Krieg dann für die Schaffung einer anstaltungen zu vergleichender Genozidforschung, bei der zentralen Gedenkstätte für den Völkermord an den Juden beispielsweise sowohl die Shoah als auch der Völkermord in Frankreich. Die „Gedenkstätte des unbekannten jüdi- in Ruanda in den neunziger Jahren behandelt werden. Bei schen Märtyrers“ wurde im Jahr 1956 eingeweiht und inspi- einem Verständnis des Vergleichs als heuristischer Methode, rierte die Gestaltung der „Halle der Erinnerung“ in Yad die gerade nicht Gleichsetzung, sondern erkenntnisfördern- Vashem. de Gegenüberstellung von Gemeinsamkeiten und Unter- schieden bedeutet, erscheint eine solche Erweiterung des Das heutige Mémorial hat einen vielfältigen Charakter. Blickwinkels als sehr vielversprechend. Es dient der Forschung und der Recherche – am Als Fazit bleibt festzuhalten: Die Erinnerungsar- Schwarzen Brett in der Einrichtung suchen noch heute beit in Frankreich ist in Bewegung. Sie ist aufgeschlossen, Überlebende nach Leidensgenossen oder auch Helfern – international ausgerichtet und vor allem bereit, die Heraus- es bietet Fortbildungen und Tagungen an, insbesondere forderung einer zeitgemäßen Form der Vermittlung der für Lehrerinnen und Lehrer, es umfasst Orte des Ge- Vergangenheit anzunehmen und mit der Frage nach der denkens und eine umfangreiche Ausstellung. Manche Bedeutung für die Gegenwart zu verbinden. ❚ Bestandteile verknüpfen auch mehrere Aspekte, so etwa die „Mauer der Namen“ im Außenbereich, auf der die

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 283 zeit.raum@bayern zeit.raum@bayern Der Heimat ein Gesicht geben

Von Stephan Hildensperger

Staatsminister Dr. Ludwig Spaenle ruft eine neue Initiative ins Leben, die sich in den Schuljahren 2011 bis 2013 mit der bayerischen Identität auseinandersetzt. Was ist Bayern? Was macht Bayern zu Bayern? Wie hat sich Bayern in einer von Glo- balisierung und Migration geprägten Welt verändert – und ist dabei dennoch Bayern geblieben? Und: Bietet Bayern Identifikationsmuster, die Identität und Kohärenz stif- ten können?

„Die Initiative zeit.raum@bayern möchte diesen Fragen in ihrer historischen, poli- tischen, gesellschaftlichen und kulturellen Dimension und Vielfalt begegnen.“

(Dr. Ludwig Spaenle – Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus)

284 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 zeit.raum@bayern

Die Initiative im Überblick

Das 65-jährige Bestehen der bayerischen Verfassung war für Kultusminister Dr. Spaenle der Anlass, in Schulen, außer- schulischen Bildungseinrichtungen, öffentlichen und zivil- gesellschaftlichen Institutionen den Prozess der Identität – vielleicht einer bayerischen Identität – im Kommunika- tionsraum Bayern zu hinterfragen und zu unterstützen. In diesem Zusammenhang kann es freilich nicht nur um die Abfrage eines Ist-Zustandes gehen, vorausgesetzt, es soll sich um einen Kommunikationsraum Bayern handeln – die Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit und auch das aktive Angehen der Zukunft sind notwendige Bestandteile dieses Prozesses. So wurde zeit.raum@bayern in vier Berei- Logo der Initiative che unterteilt, um den Betrachtungen der Heranwachsenden und ihren Initiativepartnern Zeit und Raum zu geben: Unter „Geschichte“ werden die historischen Zugänge gefasst, Unter www.zeitraum.bayern.de wird diese ab Mitte Januar unter „Natur“ Fragen der spezifischen bayerischen 2012 abrufbar sein und schafft neben einem thematischen Landschaften, Pflanzen- und Tierwelt, ökologische Frage- Zugang über die bereits genannten Bereiche auch mithilfe stellungen. Unter „Mensch“ fallen Fragen der Inklusion, der eines topographischen Zugangs eine Einordnung des eige- Integration, der Migration, des sozialen Miteinanders in nen Standpunktes und des eigenen Kommunikations- Bayern, unter „Kultur“ vor allem die klassischen Bereiche raumes innerhalb des großen Kommunikationsbereichs der kulturellen Bildung–Musik, Film, Theater, Architektur, Bayern. Kunst. Die auf zwei Jahre angelegte Initiative (Schuljahre 2011 bis 2013) arbeitet im ersten Jahr eher reflexiv und kom- Identitätssuche als Basis munikativ und im zweiten Jahr eher handlungsorientiert. Geht es also im ersten Jahr darum, das eigene schu- Die Basis aller Gedanken zur Initiative stellt die fortwäh- lische Umfeld intensiv daraufhin zu überprüfen, welche rende Suche nach der eigenen Identität dar. So wird Identität Problemlagen, Prägungen und Chancen kennzeichnend nicht als ein Zustand oder gar als etwas Statisches verstan- sind, soll im zweiten Jahr ein daraus motivierter aktiver den, es geht vielmehr darum, Identität als etwas Dynami- Umgang mit den gewonnenen Erkenntnissen erfolgen. sches, als einen Prozess zu betrachten, der sich je nach Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer (Schule, Lebensumständen und Lebenssituation unterschiedlich ge- Gruppe, …) beginnen im ersten Jahr einen aktiven Dialog stalten und auswirken kann. Identitätssuche findet nun in mit ihrem Umfeld und entwickeln in der Folge individuel- einem Umfeld statt, das unaufhörlich Veränderungen unter- le Betrachtungsschwerpunkte, die den Inhalt des zweiten liegt (Globalisierung, Migration ...). In diesem Prozess wer- Jahres steuern werden. den immer wieder Konstanten gesucht, die einem sowohl Sie treten aktiv in Beziehung zu dem sie umgeben- Regeneration als auch Sicherheit bieten können, die für den den Raum und entdecken so ein Umfeld, das die eigene Einzelnen als Boden für die Verwurzelung der eigenen Identität prägen kann oder in der Vergangenheit prägte. Der Identität dienen können. dann entdeckten „Heimat“ wächst eine besondere Wertig- Insgesamt ist der Einzelne und auch sein Umfeld von so viel keit zu, die Heimat erhält ein eigenes Gesicht, sie wird wahr- Dynamik geprägt, dass die Suche nach der eigenen Identität genommen und kommunikativ gestaltet. eine große Herausforderung darstellt, sicherlich in einigen Fällen als Belastung empfunden wird. Die Internetpräsenz der Initiative Konsistenz und Kohärenz Alle Aktivitäten der Initiative werden neben der Zusam- menarbeit mit Kooperationspartnern wie dem Bayerischen Sich widersprechende Gewissheiten und Grundsätze füh- Fernsehen, Bayern 2 Hörfunk oder der Stiftung Zuhören ren in diesem Zusammenhang zu einer anspruchsvollen durch eine für die Initiative erstellte Webseite medial beglei- Auseinandersetzung mit der eigenen Verwurzelung. Kon- tet. sistenz stellt daher eine wichtige Komponente beim Identi-

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 285 zeit.raum@bayern

www.zeitraum.bayern.de (Artikel Migrationsprojekt „Komm, wir lernen Deutsch im Museum“)

tätsprozess dar, wird immer wieder neu entdeckt und erfor- de für die eigenen Bedürfnisse zu gestalten und gestalten zu dert eine aktive Auseinandersetzung. Selbstverständlich lassen. An dieser Stelle kommt der aktive, gestalterische können hier Frustrationen erlebt werden. Aspekt des Strebens nach Konsistenz zum Tragen, der auch Nichtsdestoweniger müssen hier auch Gleichgül- den Blick in die Zukunft richtet. Dies kann naturgemäß nur tigkeit und Tatenlosigkeit erwähnt werden, die das eigene in einem Dialog stattfinden, sofern es einer Identitätssuche Leben nur scheinbar stark vereinfachen und als Ersparnis dienen soll, die die Lebenswirklichkeit – also die eigene unnötiger Lebensenergie getarnt werden. Identität in die umgebende Realität eingebettet – einbezieht. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der eige- nen Identität bedeutet demgemäß auch das Erkennen und Wir laden alle Interessierten herzlich dazu ein, einen Beitrag die Herstellung von Konsistenz, die sodann in größere zur Initiative beizusteuern, um den Kommunikationsraum Zusammenhänge eingebettet werden kann. Erst durch ein Bayern nicht nur für eine alleinige Auseinandersetzung des sinnreiches und verstehbares Umfeld werden größere Teilnehmers erfahrbar zu machen, sondern vielfältige Mög- Verknüpfungen erkennbar und verständlich gemacht und lichkeiten einer Zusammenschau anzubieten. ein harmonischer Einklang ermöglicht – dadurch kann Auf der Webseite werden sich alle notwendigen Kohärenz entstehen, mithilfe derer der Mensch sich in Hinweise, Möglichkeiten und Materialien befinden und einem großen Systemzusammenhang gänzlich zurechtfin- entsprechende Kontakte eröffnet. ❚ den kann.

Formen und gestalten

Daraus erwächst der konkrete Wunsch oder auch eine Forderung, die den Menschen umgebenden Lebensumstän-

286 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 zeit.raum@bayern

So könnte ein Beitrag entstehen und aussehen Kontakt treten mit dem lokalen Umfeld / kritische (Bitte nur als Beispiel zu betrachten, alle Daten dieses Auseinandersetzung mit dem eigenen Umfeld) zum Beispiels wurden frei erfunden): Thema Umweltbildung.

Eine im Stadtzentrum gelegene Schule stellt fest, dass • Präsentation der Ergebnisse aus diesem Dialog. der Umgang der Schüler mit ihrer eigenen Umgebung „Schule“ mit immer weniger Sorgfalt bedacht wird – die • Ergebnisse des Schuljahres werden (öffentlichkeits- Reinigungsdienste beschweren sich immer häufiger über wirksam) auf der schuleigenen Webseite, in Printme- fatale Zustände in den Klassenzimmern und im Schul- dien, auf der Internetpräsenz von zeit.raum@bayern gebäude. Auch die Grünfläche vor der Schule mit ausge- präsentiert oder werden von Kooperationspartnern in wählten Pflanzen wird nur noch als Fußballplatz und ein TV-, Audio- oder Printformat eingebettet. Trampelpfad strapaziert. Die Schulfamilie beschließt dies zu thematisie- Ende der Reflexionsphase – Beginn der Handlungsphase ren und dabei nicht nur Strafen für wiederholtes Verge- hen einzuführen, sondern alle Beteiligten für das Thema Schuljahr 2012/13: Umweltbildung zu sensibilisieren. Zusammen mit der SMV (Schüler-Mit-Verantwortung), den Eltern, dem • Alle Ergebnisse aus dem Schuljahr 2011/12 münden im Förderverein und dem Kollegium wird eine Schulaus- folgenden Schuljahr in eine entsprechend angepasste, richtung für die beiden Schuljahre 2011/12 und 2012/13 intrinsisch motivierte Handlungsphase. besprochen und festgelegt: > aktives Angehen von Problemfeldern, Betonung bestehender Aktivitäten, Einrichtung von Arbeits- Schuljahr 2011/12: gemeinschaften, … > Entstehung des Handlungsplans für dieses Schuljahr. • Kritische Erfassung des Ist-Zustandes: Was geschieht bereits in der Schule und deren Umfeld bzgl. Umwelt- • Evaluation der Ergebnisse dieses Schuljahres innerhalb bildung und was sollte ergänzt oder erweitert werden? einer entsprechend gestalteten Präsentationswoche, die > Konzeptentwurf entsteht, der auch in evtl. vom Ministerium oder einem Kooperationspartner zeit. raum@bayern einen Platz erhalten soll – vor begleitet wird; mediale Begleitung auf der Webseite der Ostern wird dieses Konzept bei zeit.raum@bayern Initiative. eingereicht. Ein Kuratorium beschließt eine speziel- le Betreuung des Vorhabens von Seiten des Minis- Ende des Initiativenzeitraumes. Gesamtüberblick über teriums (evtl. entscheidet sich der Kooperations- alle Aktivitäten in Bayern wird auf der Initiativenweb- partner für eine mediale seite dargestellt. Begleitung im kompletten Initiativenzeitraum). Schuljahr 2013/14: • In Absprache z.B. mit der Arbeitsgemeinschaft für Natur- und Umweltbildung Bayern e.V. werden Die zweite Phase der Initiative zeit.raum@bayern ist mit inhaltliche und organisatorische Maßnahmen weiter Ende des Schuljahres 2012/13 abgeschlossen. Eine be- entwickelt. sondere Bedeutung erhält der zweijährige Zeitraum, wenn durch Reflexions- und Handlungsphase eine so • Einrichtung und Ausbildung von Energiebeauftragten vertiefte Verankerung im eigenen Umfeld stattfindet, (Schüler und Lehrer) in Zusammenarbeit mit der dass sich hinzugewonnene Eindrücke und Gedanken Deutschen Gesellschaft für Umwelterziehung. nachhaltig verstärken, weiter entwickeln und in der ei- genen Identität verwurzeln – gleichermaßen lernen die • Planung einer Projektwoche am Ende des Schuljahres Schüler, in einen überlegten, aber auch aktiven Dialog (Erkundung des lokalen Umfeldes / in einen aktiven mit dem sie umgebenden Raum zu treten.

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 287 Bayerisch-israelische Absichtserklärung zur Bildungskooperation Bayerisch-israelische Absichtserklärung zur Bildungskooperation

Von Werner Karg

Am historisch bedeutsamen Datum des 9. November 2011 Israel- und Nahost-Studien: Das Thema „Naher Osten unterzeichneten der israelische Erziehungsminister Sa’ar, und Israel“ nimmt im Geschichtslehrplan der Oberstufe der Direktor von Yad Vashem, Avner Shalev, sowie Staats- des Gymnasiums breiten Raum ein. Um hier die notwen- minister Dr. Spaenle eine Absichtserklärung zur Vertiefung digen Inhalte ausreichend und qualitativ höchstwertig der bayerisch-israelischen Bildungszusammenarbeit. Der zur Verfügung zu stellen, kooperiert die Landeszentrale Tag der Unterzeichnung verweist auf den Kontext der his- mit dem Harry-S.-Truman–Institut der Hebrew Univer- torischen Verantwortung, in dem für Bayern und Israel das sity Jerusalem. Ein erstes Seminar wird als „Summer Zustandekommen, die Ausarbeitung und die Ausgestaltung School“ im Herbst 2012 stattfinden. Die Ergebnisse wer- dieses Memorandums stehen. den interessierten Lehrkräften in Bayern auf einer Die Vereinbarung basiert auf Gesprächen, die Webseite zur Verfügung gestellt. Staatsminister Dr. Spaenle im letzten Jahr in Israel mit Er- ziehungsminister Sa’ar begonnen hat und die im Juli 2011in Studierenden-Stipendium: Die Landeszentrale bietet München mit dem israelischen Generalkonsul Shalev- gemeinsam mit der Hebrew University Jerusalem und der Schlosser fortgesetzt wurden. Im Gefolge dieser Gespräche LMU ein Studierendenstipendium an, bei dem sich jähr- wurden Text und Gehalt der Vereinbarung in engster Ko- lich ein bayerischer und ein israelischer Studierender operation zwischen der Landeszentrale und Herrn Gene- jeweils im anderen Land aufhalten. Die hier gewonnenen ralkonsul Shalev-Schlosser ausgearbeitet. Erkenntnisse werden vom israelischen wie vom bayeri- Die Vereinbarung begründet eine intensive Bil- schen Studierenden bei von der Landeszentrale organisier- dungszusammenarbeit, die in folgenden Projektbereichen ten Gesprächen an Schulen kommuniziert und von der konkretisiert und ausgestaltet wird: Landeszentrale über Internet einem breiteren Interessen- tenkreis zur Verfügung gestellt (Ergänzung der Angebote Gedenkstättenpädagogik: Die Landeszentrale und Yad zur Holocaust Education und zu den Nahost-Studien). Vashem werden mit bayerischen Lehramtsstudierenden, Referendaren und Lehrkräften sowie Mitarbeitern an zeit- Kooperation der Jugendherbergswerke: Das bayerische historischen Einrichtungen gemeinsame Seminare in Yad und das israelische Jugendherbergswerk werden vor allem Vashem durchführen. Im Jahr 2012 wird –nach einer ers- bei der Konzeption der neu zu gestaltenden Jugendher- ten Veranstaltung mit Lehrkräften und Museumsmitar- berge in Nürnberg kooperieren, um so an diesem zeit- beitern schon im September 2011 –ein Seminar mit Lehr- historisch bedeutsamen Ort ein inhaltlich, pädagogisch- amtsstudierenden (auch in Kooperation mit der LMU) didaktisch und technisch innovatives Bildungsangebot zu stattfinden. entwickeln.

Partnerschaften zwischen und mit Schulen: Die Landes- Wortlaut der Absichtserklärung: zentrale wird 2012 ein Seminar für Schulleiterinnen und Schulleiter von am Austausch interessierten bayerischen Gymnasien anbieten, um die Austauschvorhaben auf diese Weise zu unterstützen; auch hier ist Yad Vashem Partner.

288 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Bayerisch-israelische Absichtserklärung zur Bildungskooperation

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 289 Bayerisch-israelische Absichtserklärung zur Bildungskooperation

290 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Bayerisch-israelische Absichtserklärung zur Bildungskooperation

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 291 Neue Publikationen

Neue Publikationen der Landeszentrale

Beno Salamander

Kinderjahre im Displaced- Beno Salamander Persons-Lager Föhrenwald Kinderjahre im Displaced-Persons-Lager (A 135 ) Föhrenwald

BAYERISCHE LANDESZENTRALE A FÜR POLITISCHE BILDUNGSARBEIT 135

„Ein Provisorium mit einer ungewissen Zukunft“; auf die- Das in diesem Text nur Angedeutete, hinter heiteren Epi- sen Begriff bringt der Autor dieser Memoiren die Umstände soden Verborgene und nur an wenigen Stellen explizit des Neuanfangs seiner Familie im DP-Lager Föhrenwald Benannte ist jedoch das, was der heutigen Leserin, dem heu- von 1951 bis 1956. Das Beschriebene mag dem ersten Lese- tigen Leser bei der Lektüre erschüttern kann: der Umstand, eindruck nach in seinem lakonischen Ton an typische Nach- dass eine jüdische Familie, die den Holocaust überlebt hat, kriegsbiographien in Deutschland erinnern: Erfahrungen nun ungewollt in der Gesellschaft der Täter – wenn auch im von Schmerz und Abschied, die mehr oder weniger gelun- separierten Raum des DP-Lagers, das Michael Brenner als gene Verarbeitung von Kriegstraumata, Schicksalsschläge „letztes Schtetl in Europa“ bezeichnet hat – lebt und letzt- wie dem Verlust geliebter Menschen in der Not der Nach- lich dort eine neue Existenz begründet. kriegsjahre und dem Aufbruch in eine noch im Dunklen lie- gende, aber auch zur Hoffnung Anlass gebende Zukunft.

292 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Neue Publikationen

PolitischeTheorie und Politische Philosophie

hg. v. Martin Hartmann und Claus Offe

Der 348 Seiten umfassende Band stellt handbuchartig knapp, aber auch für Nicht-Fachleute verständlich Ideen, Ideologien und Theorien, Regierungs- und Herrschafts- formen, politische Theorien und die Philosophie der Reli- gionen sowie einzelne Themen und Begriffe vor. Ideal für Schülerinnen und Schüler, Studierende, Multiplikatoren.

Geschichte Polens im 20. Jahrhundert

von Wlodzimierz Borodziej

Die 490 Seiten umfassende Publikation gilt derzeit als eine der besten Darstellungen der Geschichte Polens, was in- haltliche Präzision und Ausführlichkeit sowie Expertise des Autors betrifft.

Die politische Ordnung in Deutschland

Ab voraussichtlich Ende dieses Jahres wird in Neuauflage der „Publikationsklassiker“ der LZ-Grundwissensreihe zur politischen Ordnung in neuer Auflage erhältlich sein. In komprimierter Form werden darin die Fundamente der Bundesrepublik (Land und Symbole, Wesensprinzipien der grundgesetzlichen Ordnung, Politische Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland u.v.m.) erklärt, mit vielen Illustrationen und aktuellen Daten.

Umweltpolitik

von Hartmut Aden

Das Überblickswerk informiert inhaltlich klar und aktuell wie parteipolitisch neutral über die komplexen Zusam- menhänge der Umweltpolitik, insbesondere auch über politische Netzwerke und Strukturen, bzw. das Bund- Länder-Verhältnis in diesem Bereich, und ist demnächst in der Landeszentrale erhältlich.

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 293 Neuigkeiten aus der Landeszentrale

Neuigkeiten aus der Landeszentrale

Vorschau 2012

Geplante Veranstaltungen

Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass es sich um Planungen (Stand Nov. 2011) handelt. Weitere Veranstaltungen und Publikationen werden im Jahr 2012 hinzukommen, auf die zu gegebener Zeit hingewiesen werden wird. (online einsehbar unter http://192.68.214.70/blz/veranstaltungen/index.asp)

Titel Veranstaltungsdatum

Die DDR in der deutschen Geschichte des 08.02.-11.02.2012 20. Jahrhunderts – Aspekte und Wirkung eines kommunistischen Staatswesens

3 Parlamentsseminare: 115. Parlamentsseminar 1/12 28.02.-01.03.2012 116. Parlamentsseminar 2/12 22.05.-24.05.2012 117. Parlamentsseminar 3/12 13.11.-15.11.2012 Hierzu erhalten Sie Informationen im Internetauf- tritt der Landeszentrale unter http://192.68.214.70/ blz/veranstaltungen/parlamentsseminare/index.asp

Dt.-Amerikanisches Jugendseminar 26.03.-29.03.2012

Schüler-Seminar 22.04.-25.04.2012 Vom Umgang mit der Freiheit – Das Ministerium für Staatssicherheit der ehem. DDR

Sinti und Roma 26.04.-28.04.2012

Außenpolitik der EU voraussichtlich Juni 2012

Zeitmaschine 2012 in Nürnberg 06.07.-07.07.2012

Bayern und Böhmen Anfang Oktober 2012

Bundesrat, Bundestag und Föderalismus im 08.10.-12.10.2012 Parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland (Lehrerfortbildung)

Schüler-Seminar 20.11.-23.11.2012 Die deutscheTe ilung und ihre Überwindung

Dt. Amerikanisches Jugendseminar 26.11.-29.11.2012

Sicherheitspolitisches Seminar Termin steht noch nicht fest

294 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 Neuigkeiten aus der Landeszentrale

Titel Veranstaltungsdatum

Präsentation der Publikation Termin steht noch nicht fest Weltprobleme

Israel Termin steht noch nicht fest

München 1972 Termin steht noch nicht fest

Lernort Staatsregierung Hierzu erhalten Sie Informationen im Internetauf- tritt der Landeszentrale unter http://192.68.214.70/ blz/veranstaltungen/lernort/index.asp

Bayern in der deutschen Geschichte Termin steht noch nicht fest

Geplante Publikationen Titel, Autor voraussichtliches Erscheinungsdatum

Grundgesetz/Bayerische Verfassung (Nachdruck) Januar 2012

Weltprobleme Frühjahr 2012 div. Autoren

Der Nationalsozialismus (DVD) Frühjahr 2012

Geschichte der politischen Bildung Herbst/Winter 2012 Rainer A. Roth

Medienlandschaft Deutschland Herbst/Winter 2012 Wolfram Schrag

Nach dem Gründungsjahr 1949: Bundesrepublik Herbst/Winter 2012 und DDR in den Anfängen des Kalten Krieges div. Autoren

Preußen in der deutschen Geschichte Herbst/Winter 2012 div. Autoren

Bevölkerungswissenschaft Winter 2012 Henriette Engelhardt-Wölfler

Geschichte des Linksextremismus Winter 2012 div. Autoren

Öffnungszeiten der Publikationsausgabe zum Jahreswechsel 2011/2012 Am 24. Dezember 2011 mit 1. Januar 2012 bleibt die Buchausgabe geschlossen. Von 2. bis 4. Januar 2012 ist jeweils von 12:30 –16:00 Uhr geöffnet. Am Dienstag, den 10. Januar 2012, ist bis 19:00 Uhr geöffnet!

Einsichten und Perspektiven 4 | 11 295 Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit

Publikationen der Landeszentrale zu den Schwerpunktthemen dieser Ausgabe

Das föderale System Themenheft der Bundesrepublik Holocaust Education Deutschland

489 SEITEN,MÜNCHEN 2010 MÜNCHEN 2008

Diese und andere Publikationen können Sie bei der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit beziehen. Praterinsel 2, 80538 München, Fax: 089 - 21 86 - 21 80, [email protected], www.politische-bildung-bayern.de