€ 2,40 9. Dezember 2017 · 182. Jahrgang · Heft 20 A 4342 LÜ B E C K I S C H E B L Ä T T E R

 Bürgerschaft im November 341

 Weihnachtswünsche 343

 Buch des Monats 343

 Meldungen 344

 Aus der Gemeinnützigen 345

 Stimmen zum Leben in und mit dem Weltkulturerbe 346

 Die UNESCO und das hanseatische Erbe 350

 „Denkmaltopographie Lübeck“ – Eine Kritik 362

 Kritiken: Musik • Literatur • Musical 366

 „Requiem“ – tröstlich viel Zeit für ein ungeliebtes Thema 371

 Denkmaltopographie und Bauforschung 372

ZEITSCHRIFT DER GESELLSCHAFT ZUR BEFÖRDERUNG GEMEINNÜTZIGER TÄTIGKEIT

#8048_US_HL-Bl._20_17.indd 1 05.12.17 14:52 L Ü B E C K I S C H E B L Ä T T E R

9. Dezember 2017 · Heft 20 · 182. Jahrgang · Zeitschrift der Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit

Die Bürgerschaft im November: Das vorläufige Ende als Hängepartie Haushaltsberatungen mit erheblichen Verzögerungen Von Burkhard Zarnack

Im Schachspiel bezeichnet man eine levante Tagesordnungspunkt aufgerufen die Einrichtung von Bürgerbüros auf seine Hängepartie als ein vorläufiges (Spiel-) wurde (allein die Tagesordnung hatte über Fahnen geschrieben hatte. Ende, wenn die Fortsetzung zu einem vier Seiten), zeigte die Uhr bereits 19.05 späteren Termin stattfindet. So geschah es Uhr (Sitzungsbeginn war 12.00 Uhr!) Senator Hinsens Vorschlag zum auch mit den Beratungen der Bürgerschaft Nicht nur dem Bürger brennt das Pro- Thema Bürgerbüro für den Haushalt 2018; in der November- blem Bürgerbüro auf den Nägeln; für die sitzung kam das Stadtparlament nicht zu scheinbare Untätigkeit der Verwaltung (so Gesucht wird eine kostengünstige und Potte: Fortsetzung am 12. Dezember. die Wahrnehmung) gibt es in der Öffent- zugleich bürgernahe Lösung dieses Pro- blems. Dazu mach- Stadtteilbüro- te der zuständige Diskussion und und federführend tätige Senator Hin- kein Ende sen den Vorschlag, Die Ursache die Bürgerschaft dieser Verzögerung möge sich auf die- war schon im ersten jenigen Punkte ei- haushaltsrelevan- nigen, die unstrittig ten Tagungspunkt seien. Dazu gehört zu finden, der sich z.B. die Weiter- mit der Einrichtung entwicklung des von Stadtteilbüros digitalen Service; beschäftigte. Haus- darüber hinaus haltsbeschlüsse aber auch die Ein- sind die Stunde der richtung bzw. der Wahrheit für die Ausbau stationä- Parteien: finden sie rer bzw. analoger keinen tragfähigen Stadtteilbüros mit Ansatz oder keine einer „dezentralen Einigung, kann die Rathaus, Treppenaufgang, Darstellung der öffentliche Bekanntmachung der Reichs- Komponente“, wie Verwaltung nicht tä- freiheit der Stadt Lübeck durch Kaiser Barbarossa im Jahre 1189; Wandmalerei im sich der Senator tig werden, weil die Weltkulturerbe, um 1900 (Foto: © Fotoarchiv Hansestadt Lübeck, St. Annen-Museum) etwas unbestimmt finanziellen Mittel ausdrückte. Hinsen fehlen; wird ein Konsens gefunden, könnte lichkeit wenig Verständnis. Desto drin- verband diese Ausführungen mit dem es eigentlich losgehen. Um es vorwegzu- gender erwartete der Bürger die haushalts- Wunsch, die Verwaltung nach den je- nehmen, eine Einigung unterblieb – trotz technische Umsetzung, also endlich die weils besten Lösungen selbstständig und vieler Unterbrechungen, Zusammentreten Bereitstellung der technischen und finan- alleinverantwortlich suchen zu lassen, des Ältestenrats und interner Beratungen ziellen Mittel – zumal auch deshalb, weil ohne sich von vornherein (z.B.) auf be- der Fraktionen. Als der erste haushaltsre- der Bürgermeisterkandidat, Jan Lindenau, stimmte Stadtteile festzulegen.

Foto auf der Titelseite: Pastor Lutz Jedeck bestaunt eine Malerei in der ehemaligen Musikerwohnung der Pastorenhäuser vom Anfang des 17. Jahrhunderts; lesen Sie auf den Seiten 346-349 Äußerungen zum Leben in und mit dem Weltkulturerbe. (Foto: Tim Jellonek)

Lübeckische Blätter 2017/20 341 Bürgerschaft im November

Dafür sei es allerdings erforderlich, der CDU, der sich hinsichtlich Ort und gung auf dem regulären Wohnungs- dass die Fraktionen ihre vorliegenden un- Ausstattung der Bürgerbüros nicht fest- markt, vor dem Hintergrund der Tat- terschiedlichen Anträge zurückzögen − ei- legt, erzielte der ablehnende Block eine sache, dass dieser so gut wie leerge- gentlich ein sehr vernünftiger Vorschlag, knappe Mehrheit. fegt ist; aber auch dieser erfordert in der Konse- Angenommen wurde schließlich auch • auf Straßenausbaubeiträge zu ver- quenz, wenn die Verwaltung ihr Konzept ein ergänzender Antrag der Liberalen, we- zichten, bis eine (Kompensations-) entwickelt hat, die Auseinandersetzung nigstens eine Einrichtung „nördlich der Regelung durch das Land erfolgt. um Sach- und Personal- Über die Gegenfinanzie- kosten. rung, falls diese Kompen- sation wegfällt, gibt es un- Bürgermeisterwahl terschiedliche Meinungen; − Nachlese und • die Einrichtung eines Umweltbildungszentrums zugleich Vorwahl- im Naturkundemuseum: kampf Der Antrag, auf Einrich- Die Stunde der Wahr- tung von 1 ½ Stellen (wis- heit kam, als SPD, GAL, senschaftlicher Mitarbeiter, Freie Wähler und Linke Geschäftsstelle) wurde ab- einen interfraktionellen gelehnt; Antrag vorlegten, der die • über die verschiedenen (Wieder-) Einrichtung Wirtschaftspläne für den bzw. Neueinrichtung von Kurbetrieb Travemünde, Stadtteilbüros in Kück- Senioreneinrichtungen, nitz, Moisling, St. Lorenz Schwimmbäder, Kulturein- und Travemünde vorsah, richtungen und Stiftungen einschließlich digitaler (Zustimmung); Terminabsprachen und • über die Straßenreini- persönlicher Vorsprachen gungsgebührensatzung: zu der Bürger. viel gezahltes Geld wird Aus der Sicht dieses zurückerstattet, und zwar Parlamentsteils hätte die unabhängig davon, ob je- Annahme des Antrags mand geklagt hat oder bedeutet, dass Jan Lin- nicht; denaus Wahlkampf-Hit • über eine Sonderver- Bürgerbüro (mit dem er kaufsaktion von Erbpacht- möglicherweise die Wahl grundstücken, die, angeregt gewonnen hat) der tech- durch die CDU, zu heftigen nischen und finanziellen Reaktionen bei der SPD Realisierung ein wichti- führte („Klientelpolitik“; ges Stück näher gekom- „Verkauf von Tafelsilber“). men wäre (Haushaltsre- Die Vorlage erzielte eine levanz). Das aber wollte knappe Mehrheit für die z.B. die CDU auf keinen Aktion; Fall. Allerdings fehlte • über Wünsche der ihr zunächst für eine Ab- Grünen, bestimmte Haus- lehnung die Mehrheit im haltsmaßnahmen auf 2019 Stadtparlament. Ein Coup zu verschieben, stießen während einer längeren überwiegend auf Ableh- Sitzungsunterbrechung Ehemalige Hörkammer im Weltkulturerbe Rathaus: Kämpfer bitten die Hei- nung; der Schwimmbad- – davon gab es ja genug lige Maria-Magdalena 1227 um Beistand vor der Schlacht von Bornhöwed. (St. Lorenz) und Radwe- – löste auch dieses Pro- (Foto: ©Fachbereich Denkmalpflege) gesanierung (Schwartau- blem: der erkrankte Ab- er Allee) wurde jedoch geordnete Thomas Thalau (CDU) wurde Trave“ (vorzugsweise Kücknitz) vorzuse- zugestimmt. in die Bürgerschaft zurückgeholt. Die hen; Wiedervorlage im Februar. Nach die- Als es sich nach 22.30 Uhr abzeich- dann eingeleitete Abstimmung brachte ser langen und schweren Geburt erfolgte nete, dass die weiteren Haushaltspunkte die Ablehnung des oben genannten inter- die weitere Beratung des Haushalts zügig, nicht mehr zeitgerecht beraten werden fraktionellen Antrags mit 24:23 Stimmen. allerdings mit einem erheblichen zeitli- konnten, verkündete das Präsidium eine Der Fraktionsvorsitzende der CDU, chen Rückstand. Unterbrechung der Sitzung bis zum 12. Christopher Lötsch, begründete die Ab- Dezember, 16:00 Uhr. lehnung seiner Fraktion mit der fehlenden Beraten wurde ferner: Kostenaufstellung und bezeichnete ihn als • die Wohnsituation der Flüchtlinge zu Damit ist der Haushalt für das Jahr „Satireantrag“. Für den eigenen Antrag verbessern. Problem: die Unterbrin- 2018 noch nicht beschlossen.

342 Lübeckische Blätter 2017/20 Buch des Monats Aktuelles aus der Stiftungsarbeit

Sonderausstellung „Weihnachts- Ausstellung etwas von dem Glanz der bür- regelmäßig mit bisher insgesamt rund wünsche“ gerlichen Weihnachtszeit früherer Tage. 200.000 Euro. In einem Begleitheft zur Ausstellung, Seit einigen Tagen locken die Weih- Das St. Annen-Museum zeigt bis zum einem interaktiven Kinderheft und im nachtsmärkte trotz des Regens zahlrei- 4. Februar 2018 die Ausstellung „Weih- abwechslungsreichen Rahmenprogramm che Lübecker vor ihre Haustüren. Ein nachtswünsche“, die ihre Besucher in die wird der Bogen zur heutigen Zeit geschla- ganz besonderes Highlight ist seit ei- Kinderstuben des frühen 19. Jahrhunderts gen. nigen Jahren das „Weihnachtswunder- blicken lässt. Unsere Stiftung fördert die Weitere Informationen finden Sie auf land“. Seinen bisherigen Standort an der Ausstellung mit 5.000 Euro. der Website: www.st-annen-museum.de Obertrave musste es wegen Hochwasser- In der Biedermeierzeit bekamen gefahr wechseln. In diesem Jahr ist die Kinder bürgerlicher Familien die Kindereisbahn inklusive Wich- erstmals eigene Spielzimmer und telwald und Gastronomie bis zum 1. wurden zu Weihnachten reich mit Januar 2018 auf dem Spielplatz vor Spielzeug beschenkt. dem Café Fräulein Brömse zu fin- Seit dem 19. November haben den. Der Wichtelwald lädt im Hof Groß und Klein im St.-Annen-Mu- des Burgklosters zum Spielen ein. seum die Möglichkeit, in die weih- Auf der Dachterrasse des Europä- nachtliche Stimmung dieser Jahre ischen Hansemuseums locken eine

einzutauchen. Das Museum selbst (Foto: © Europäisch es Hansemuseum) Weihnachtsbühne mit Programm, besitzt eine kleine, vielseitige Spiel- Glühwein, weihnachtlichen Lecke- zeugsammlung. Zusammen mit der reien und einem einmalig schönen hochwertigen Spielzeug- und Pup- Panoramablick über den Hafen. pensammlung von Sieglinde und Uwe „Weihnachtswunderland“ am Annalena Löw, Volontärin Müller-Albrecht versetzen die Exponate Hansemuseum den Besucher in eine romantische Weih- nachtswelt. Vom „Wünschen“ über das In diesem Jahr ist die beliebte Kin- Die Gemeinnützige Sparkassenstif- „Warten“ in der spannenden Adventszeit dereisbahn am Hansemuseum zu fin- tung zu Lübeck wünscht Ihnen eine be- bis zum „Wundern“ am Heiligen Abend den. Unsere Stiftung unterstützt das sinnliche Adventszeit und frohe Weih- unter dem Tannenbaum vermittelt diese „Weihnachtswunderland“ seit 2009 nachten!

Die Bücherei der Gemeinnützigen stellt vor: Unser Buch des Monats Dezember Robert Menasse: Die Hauptstadt

„Wildscheine wüten in Heide“ und Menasse ist ein Meister der Figurenzeich- rischen Anspielungen (z. B. auf Musils verletzen vier Menschen, melden die LN nung, des komödiantischen Tons, der „Der Mann ohne Eigenschaften“) auf Ein- am 20. Oktober 2017. Sogar der „Spiegel“ Ironie. Man kann den Roman als Farce zelheiten einzugehen. Aber Erwähnung berichtet. Holt die Realität die Literatur auf Brüsseler Verhältnisse lesen, auch verdienen doch der Mitarbeiter der EU- ein? „Da läuft ein Schwein!“ Das ist der als Kriminalroman und als Zeugnis einer Kultur-Kommission Martin Susmann und erste Satz Robert Menasses neuestem Ro- dezidiert politischen Haltung des Autors. sein Bruder, einer der größten Schwei- man, der im Oktober d.J. mit dem Deut- Den Ernst seines Plädoyers für ein nach- ne(!)produzenten Europas, der alte David schen Buchpreis ausgezeichnet wurde. nationales Europa kennt man aus seiner de Vriend, Überlebender von Auschwitz, „Es war ein verdrecktes, aber eindeutig Rede „Kritik der europäischen Vernunft“, Beamte zwischen Idealismus und Karrie- rosa Hausschwein, das etwas Irres hatte, die er im März 2017 im Europäischen Par- redenken, bilaterale Abkommen zwischen etwas Bedrohliches.“ Es läuft durch die lament gehalten hat und aus einem enga- Deutschland und China zum Schweine- Hauptstadt. Nicht Berlin ist gemeint, son- gierten Artikel in der „Zeit“ vom Septem- handel (China nimmt auch Schweineoh- dern Brüssel, der Sitz des Europäischen ber 2011. „Der Vernunftgrund der EU ist ren zu Filetpreisen), der Plan eines Big Rates. Auch hier stürzt sich die Presse auf also die Überwindung des Nationalismus Jubilee Projects zum 50jährigen Bestehen das Schwein. Selten las man in einem Ro- in einer nachnationalen Entwicklung, der Kommission in Auschwitz. „Nie wie- man, wie sinnfällig ein Tier, changierend vorangetrieben durch supranationale In- der Auschwitz, nie wieder Rassismus und zwischen Drecksau und Glücksschwein, stitutionen.“ Wie bedroht dieses Gefüge Nationalismus!“ War das nicht der Wahl- als Dingsymbol fungieren kann. Menasse ist, wissen wir mittlerweile. Dieser Ernst spruch bei der Gründung der EU? gelingt es, mit diesem Motiv verschiede- wird im Roman komödiantisch gebro- Jutta Kähler ne Personen in die Handlung einzuführen, chen - der Leser muss aufpassen. Blind deren Schicksale auf kunstvolle Weise ist Menasse dabei nicht für bürokratische miteinander verwoben werden. Hier deu- Auswüchse der EU. Öffnungszeiten der Bücherei der Gemeinnützi- gen: Di., Mi.: 9.30 – 12.30 Uhr; Mi., Do.: 13.30 tet sich bereits an, welche erzähltechni- Unmöglich ist es, angesichts der Fül- – 17.30 Uhr. Hier finden Sie auch weitere Romane schen Qualitäten dieser Roman aufweist. le der Personen und Motive, der litera- von Robert Menasse.

Lübeckische Blätter 2017/20 343 Meldungen

Geschichtsverein Musikhochschule

Neues aus der Bücherwelt Sa, 16. Dezember, 15 Uhr, Villa Brahms Während der Adventswochen Joyeux Noël – „Weihnachten mit wird im 3. Stockwerk des Ar- Brahms“ chivgebäudes (Mühlendamm Finissage der Ausstellung „Brahms und 1-3; Mo-Do, 8-16 Uhr und Frankreich“ u. a. mit Lisa Ziehm, Sopran, Fr. 8-12 Uhr) ein großer Tisch stehen, auf Julia Puls, Klarinette, und Viktor Soos, dem neben verlagsneuen Büchern auch Klavier. antiquarische Lübeck-Literatur zum Mit- Werke u. a. von Berlioz, Chaminade, De- nehmen ausgelegt wird. Wer ein Weih- bussy und Ravel sowie mit weihnachtli- nachtsgeschenk sucht, wird bestimmt Dramaturgie: Regina Marx cher Lesung. Rachel Behringer, Lesung, fündig werden! Um die Sache spannend Weitere Vorstellungen: Prof. Dr. Wolfgang Sandberger, Modera- zu machen, wird jede Woche nachgelegt. Vom 16.12.2017 bis zum 17.03.2018 je- tion. Es lohnt sich also, öfter zu kommen. Ma- den Freitag und Samstag, zusätzlich am 1. Eintritt 8/10 Euro (keine Ermäßigung), chen Sie auch Freunde und Bekannte dar- und 2. Weihnachtstag sowie an Silvester. Vorverkauf nur bei „Die Konzertkasse“ auf aufmerksam: Es wäre gut, wenn diese im Hause Hugendubel. Aktion uns auch neue Mitglieder zuführen Combinale Theater würde! Sa, 16. Dezember 19.30 Uhr, MHL/Gro- Hansemuseum 15., 16., 19., 20., 21., 22. Dezember, 20 ßer Saal Uhr, Hüxstraße 115 Mozart Di, 12. Dezember, 19 Uhr, Raum „Visby“, Stille Nacht mit Gans Ouvertüre zu „Die Zauberflöte“ KV Eintritt frei Die Kinder sind aus dem Haus. Das erste 620, Gran Partita KV 361 und Kla- Hansetage vor 500 Jahren: Weihnachtsfest zu zweit, die Vorberei- vierkonzert C-Dur KV 467 mit Hyelee Große Diplomatie und großes Spektakel tungen laufen, dann ein klassischer Fehl- Clara Chang, Klavier und dem MHL- Maria Seier, M.A., Lübeck start: „Die Gans, wo ist die Gans?“ Dann Ensemble für Alte Musik, Hans-Jürgen Die Ratssendeboten der Hansestädte trafen Schnoor, Leitung. sich an der Wende zum 16. Jahrhundert zu Eintritt 14/19 Euro (ermäßigt 8/12 Euro) allgemeinen Hansetagen fast ausnahms- los in Lübeck. Jede Tagfahrt dauerte meist So, 17. Dezember 10.40 Uhr/St. Jakobi zwischen drei und sechs Wochen und war Musikgottesdienst „Cantate 2017“ für Lübeck und die teilnehmenden Städte MHL-Studierende der Klasse Prof. Matt- mit erheblichem Aufwand verbunden. hias Janz mit Bachs Kantate „Bereitet die Wege, bereitet die Bahn“ BWV 132. So, 17. Dezember, 14 – 17 Uhr, An der Untertrave 1, Raum La Rochelle Natur und Heimat Lebkuchenhäuser dekorieren mit dem Café Fräulein Brömse kommen auch noch unangemeldet Gäste, Sa, 16. Dezember, Treffen: Bahnhofshalle Kosten: 5 Euro, Anmeldung erforderlich die Halbschwester der Gattin und eine ge- 08.45 Uhr, Zug 09.08 Uhr unter [email protected] heimnisvolle Unbekannte. Eine Obdach- lose? Ein Engel? Mehr sollte hier, wie bei Tagesausflug zum Auswan- Mi, 20. Dezember, 19.30 Uhr, An der einem guten Krimi, nicht verraten werden. derermuseum „Ballinstadt“ Untertrave 1, Beichthaus Von Ulli Haussmann (Eintritt 10 Euro), Einkehr in Lesung: Charles Dickens, „Eine Weih- Mit Dagmar Dreke, Alexandra Neelmey- dortige Kantine, Gruppenfahrschein. An- nachtsgeschichte“ er, Ulli Haussmann und Sigrid Dettlof meldung bis 12.12. bei Dieter Kahl, Elke Manfred Upnmoor Regie: Joachim Kappl Vogel, Tel. 289191 Außerdem: weihnachtlichen Leckereien Kosten: 7 Euro, ermäßigt 5 Euro, Anmel- Deutsch-Iberoamerikanische Mi, 20. Dezember, Treffen: 13.10 Uhr dung möglich unter 0451/80 90 99 0 oder Gesellschaft (DIAG) ZOB, Bus 40 um 13.20 Uhr [email protected] Brodten − Timmendorf So,17. Dezember, 15 Uhr, Haus der Kultu- Halbtagswanderung zum Theater Partout ren, Parade 12, Eintritt frei Weihnachtssingen, ca. 8 km, Bazar Navideño Latinoamericano Gruppenfahrschein Fr., 15. Dezember, 20 Uhr, Königstraße 17 Besuchen Sie uns, um mit uns ein bis- Kontakt: Hilde Veltman, Tel. 604700 Premiere: Anderthalb Stunden zu spät schen lateinamerikanische Weihnacht zu Liebeskomödie von Gérald Sibleyras u. erleben. Es wird typisches Essen und la- Do, 21. Dezember, Treffen: 13.15 Uhr Jean Dell teinamerikanisches Kunsthandwerk zum Gustav-Radbruch-Platz Eine Liebesgeschichte über den Versuch, Verkauf geben. In lateinamerikanischer Kurzwanderung nochmal richtig Gas zu geben, wenn die heiterer Weihnachtsstimmung werden wir Um die Altstadt, ca. 6 km, Kinder aus dem Haus sind! mit Musik, Gesang und Tanz viel Freude Kaffeeeinkehr am Schluss Mit Anita Gramser und Reiner Lorenz haben. bei „Café Fräulein Brömse“ Regie: Uli Sandau Kontakt: [email protected] Kontakt: Christa Neubeck, Tel. 495741

344 Lübeckische Blätter 2017/20 Aus der Gemeinnützigen Aus der Gemeinnützigen Aus der Gemeinnützigen Aus der Gemeinnützigen

Dienstagsvorträge Man hatte andere Sorgen. Zunächst Kaufhaus, diente das Objekt bis 1949 als Schauspielstätte den Städtischen Bühnen. Nachdem Di, 12. Dezember, 19.30 Uhr, Königstraße 5, Großer Saal, Ein- auch das Kino „Camera“ ausgezogen war, erfolgte die übernäch- tritt frei ste Renovierung 1973 durch den Architekten Müller-Scherz. Es VÖRWIEHNACHT gab nunmehr 650 Plätze. Gemeinsam mit der Plattdütschen Volksgill to Lübeck e. V. 2006/2007 entschloss sich die Vorsteherschaft der Gemeinnüt- zigen, das Kolosseum zu sanieren. Die Ansprüche und gesetz- Kolosseum lichen Regelungen hatten sich so verändert, dass es schließlich dazu kam, dass sich die Sanierungsmaßnahmen auf über 2,2 Dienstag, 21. November, 19 Uhr Mio. beliefen. Am 19. September 2008 konnte der Richtspruch Dank zur Übergabe der jährlichen Zuwendung der Gemein- vom Zimmerermeister in der Kronsforder Allee gehalten werden. nützigen Sparkassenstiftung Kaum ein Jahr später, nachdem ein Projekt „Stuhlpatenschaft“ Wie schön, endlich einmal wieder im Kolosseum zu sein, dem der Einrichtung etwas nachgeholfen hatte, wurde am 26. April großen Saal des früheren Gasthauses mit dem sprechenden Na- 2009 der Konzertsaal der Gemeinnützigen mit 500 Plätzen wie- men „Die Freundschaft“! Herzlich willkommen, sehr geehrte dereröffnet. Herren Pötschke und Heldt, sehr geehrte Damen und Herren der Seitdem leitet der erfahrene Toningenieur Ole Nissen erfolgreich Presse und liebe Vorsteher sowie lieber Ole Nissen, das 500-Plätze-Haus. Er schafft es, ein abwechslungsreiches wir kommen hier heute zusammen im Foyer unseres Konzertsaa- Programm zusammenzustellen, dem der Spagat zwischen U- und les, um die jährliche Zuwendung der Gemeinnützigen Sparkas- E-Kunst gelingt sowie zwischen kommerziellen Anbietern und senstiftung zu Lübeck zu feiern und uns dafür zu bedanken. Ich unterstützten eigenen bzw. Tochtervereins-Veranstaltungen. habe es stets so gehalten, zu der jährlichen Danksagung jeweils Die großzügige Unterstützung der Gemeinnützigen Sparkassen- eine Einrichtung in den Mittelpunkt zu rücken und etwas vorzu- stiftung für das Jahr 2017 in Höhe von 480.000.- Euro kommt stellen. In diesem Jahr ist es das Kolosseum. nicht nur der Erwachsenenbildung, dem Vortragswesen und der Im Jahr 1866 wurde das Gasthaus „Die Freundschaft“ ausgebaut Bücherei zugute, sondern auch den sozialen Einrichtungen der und vom Gastwirt Wilms um zwei Säle erweitert. Der Name „Co- GEMEINNÜTZIGEN sowie der Musik-, der Kunst-, der Schau- losseum“ kam 1875 mit einem weiteren Anbau zum Ballhaus für spielschule und der Knabenkantorei. 3.000 Personen ins Spiel. Und der Name zeigt die Ambitionen Wir haben für die Jugendhilfe 130.000,- Euro, für Kunst und Kul- auf. 1931 fällt die Lokalität in einem Zwangsversteigerungsver- tur 230.000,- Euro und für Erziehung, Volks- und Berufsbildung fahren an die Sparkasse. Es war 1937, als der Gemeinnützigen 120.000,- Euro erhalten. das Objekt übereignet wurde, um es als Konzertsaal zu erhal- Die Vorsteherschaft dankt herzlich für die Zuwendung in Höhe ten. Davon war nach 1945 dann zunächst nicht viel die Rede. von 480.000 Euro, ohne die die Erfüllung der Aufgaben der Ge- meinnützigen in diesem Umfang nicht möglich wäre.

Antje Peters-Hirt Knabenkantorei Mi, 13., Sa. 16., und So 17. Dezember, jeweils 17.00 Uhr sowie am Do. 14. Dezember 19.30 Uhr „Freu dich, Erd und Sternenzelt!“ – Weihnachtssingen

Der Vorverkauf für das Weihnachtssingen der Knabenkantorei hat begonnen. Antje Peters-Hirt, Ole Nissen, Wolfgang Pötschke und Titus Karten erhalten Sie zu 15 Euro (10 Euro ermäßigt) zzgl. Gebüh- Jochen Heldt zeigen eine Fotografie der Saaldekoration des Ko- ren an allen bekannten Vorverkaufsstellen sowie im Internet un- losseums; im Anschluß gab es ein Kammerkonzert (Foto: ME) ter www.knabenkantorei.de.

Lübeckische Blätter 2017/20 345 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 Stimmen zum Leben in und mit dem Weltkulturerbe In der Woche vom 2. bis zum 9. Dezember 1987 tagte die Unesco in Paris. In dieser Woche fiel die endgültige Entscheidung, Lübeck als Teil des Weltkulturerbes anzuerkennen. Am 9. Dezember wurde die Entscheidung verkündet. Erstmals stellte die Unesco eine gesamte Altstadt unter Schutz. Wir erinnern mit diesem Heft an dieses Ereignis mit einer Reihe von Beiträgen. Im Folgenden kommen Bewohner der Stadt zu Worte, eine französische Historikerin schreibt über die Bedeutung der Aufnahme Lübecks in die Welterbeliste, Manfred Finke rezensiert die vor wenigen Wochen publizierte Denkmaltopographie und Michael Scheftel kommentiert das Erscheinen dieses mächtigen Buches von 3,7 Kilogramm Gewicht mit mehr als 4.000 farbigen Fotos aus Sicht eines aktiven Bauforschers. Die Lektüre des Heftes verlangt von unseren Lesern einiges an Durchhaltevermögen, aber wir bitten um Verständnis, denn die Ge- meinnützige und die Lübeckischen Blätter haben den historischen Prozess vom Verfall der Altstadt bis zu ihrer Wiederauferstehung als schöner alter Stadt seit 1965 kritisch und kontinuierlich begleitet. (ME)

Ich gehe in ein Gymnasium in der schlimm, der Vorgängerbau (die Post) hat Gelungen dagegen ist für mich der Aus- Altstadt. Ich bin gern in der Altstadt und mich viel mehr gestört. Problematisch bau des nördlichen Stadtteils mit dem habe einen Heidenrespekt vor den alten sind für mich eher die finanziellen Fol- neuen Europäischen Hansemuseum. Sehr Gebäuden. Wenn ich mit meinen Freun- gen, die der Erhalt des Weltkulturerbes schade ist, die Neugestaltung des ganzen dinnen durch die Straßen schlendere, um von einer hochverschuldeten Kommune Untertrave-Areals bisher gescheitert ist. Geschäfte und Leute anzuschauen, dann erfordert. Lübeck verschläft so manche innovative habe ich so etwas wie ein familiäres Ge- Entwicklung von der Verkehrsberuhigung fühl, das mir sagt: „Hier bin ich zu Hau- Dirk Sommer (55 Jahre), Brufsschullehrer bis hin zur attraktiven Neugestaltung des se.“ Hafenstadt-Gebiets. Janna Kröger (12 Jahre), Schülerin Ich komme aus Lüneburg, das auch eine wunderschöne Altstadt besitzt, in der Vanessa Pieper (39 Jahre), Lehrerin Bin gern in der Altstadt unterwegs. aufgrund der Verkehrsberuhigung sehr viel Ich liebe die Altstadt als eine geschlos- Außenrestauration möglich ist und viel Lübeck ist eine Insel sene Einheit. Doch das Weltkulturerbe Wohlfühl-Atmosphäre herrscht. Lübeck In meinem inneren Erleben ist Lübeck macht auch Probleme. Für mich sind da könnte für sein Weltkulturerbe mehr tun, für mich auch im übertragenen Sinn eine nicht die Gegensätze in der Architektur so anderes unterlassen. Die Investoren-Ar- Insel. Die kulturelle Vielfalt wird hier mit ausschlaggebend, jede Zeit hat ihre Archi- chitektur vom Haerder-Zentrum und vom großem individuellem Einsatz gepflegt; tektur. Den Neubau am Lübecker Markt P&C-Gebäude ist schrecklich und passt das ist in dieser Konzentration einzig- (P&C-Geschäft) finde ich z. B. nicht so sich in das Welterbe-Ensemble nicht ein. artig. Die persönliche Begegnung mit

Wohnen zwischen Heiligendarstellungen des 14. Jahrhunderts: für Frau Dr. Holzinger im Aegidienhof eine tägliche Erfahrung (Foto: Britta Reimann, Forschungsprojekt Denkmalpflege)

346 Lübeckische Blätter 2017/20 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

damalige Amtsleiter darum bemüht. Der Welterbestatus bewirkte, dass die Wider- stände in der Politik und seitens verschie- dener Interessengruppen aufgegeben wur- den. Die Fortsetzung der archäologischen Aktivitäten gemäß der Empfehlung der UNESCO war nun problemlos möglich. Und obwohl sich der Titel nie finanziell auswirkte, gab es ab 2009 immerhin die große Summe von 10 Millionen Euro für die Ausgrabungen im Gründungsviertel vom Bundesbauministerium.

Alfred Falk M.A., stellvertretender Bereichsleiter Archäologie und Denkmalpflege von 1987 bis 2004, heute Vorsitzender der Archäologischen Gesellschaft Bemalter Deckenbalken an einer Hausfassade an der Obertrave; zu entdecken bei einem Spaziergang im Domviertel (Foto: Dietrich Neumann, PGL) Welterbe kostet etwas… Natürlich kostet die Sanierung und Menschen und der gemeinsam gelebte ke: Was für ein Geschenk, in dieser Stadt, Erhaltung von Denkmalen Geld, viel Austausch über Kunst ist eine Qualität, die Weltkulturerbe ist, leben zu dürfen. Geld. Wenn wir alle Sanierungskosten die uns vor anonymen und kalten Globali- zusammenrechnen, ergibt sich der enor- sierungen schützt. Die Vision, Leben und Thomas Schmittinger, Schulleiter me Betrag von fast 1 Milliarde Euro, der Kunst in ein spannungsreiches Verhältnis Katharineum von 1989 bis 2009 für die Sanierung und zu setzen, ist hier noch vorhanden. die Erhaltung der Lübecker Denkmale Zunächst änderte sich ausgegeben wurde, allerdings nicht nur Frank Siebert, Konzertplaner des nichts… von der Kommune, sondern von den SHMF und Galerist Nach Veröffentlichung der Eintragung Denkmaleignern, von Stiftungen, von in die Liste des Welterbes änderte sich für Fördervereinen, von der Kirche, vom Was für ein Geschenk, in die Archäologie in dieser Stadt leben zu dürfen Lübeck zunächst Ein besonderes Geschenk oder einer nichts. Es gab un- der schönsten Wege zu einer besonderen terschiedliche Re- Arbeitsstätte morgens gegen sieben, vor- aktionen, die einen bei an Burgklostermauern, in die Gro- hoben die Bedeu- ße Altefähre einbiegend. So beginnt der tung der archäolo- Weg zur Arbeit, auf der rechten Seite der gischen Forschung Kranenkonvent, einer der ältesten Back- in der Stadt hervor, steinbauten der Stadt und schon öffnet die anderen kri- sich der Blick beim Vorbeigehen an der tisierten, dass es Ernestinenschule auf den Koberg, im Vor- intern eine Forde- dergrund die Jakobikirche, das Bild wird rung geben solle, ergänzt mit ihren Pfarrhäusern und alten „die Vermarktung Lindenbäumen, auf der rechten Seite sind der UNESCO- Fassade und Eingang zur Schiffergesell- Entscheidung jetzt schaft zu sehen. Je nach Jahreszeit strahlt schnell anzuge- die aufgegangene oder aufgehende Son- hen“. Langfristig ne über den kleinen Türmen des Heilig- hat die Aufnah- Geist-Hospitals, schräg über den Platz me ins Welterbe gehend und die Straße wechselnd, schaut jedoch bewirkt, mich unser Geibel an. Aber ich richte dass die Innenstadt schon meinen Blick in die Königstraße, in Lübecks durch Er- der die unterschiedlichsten Fassaden, ob lass der Ministerin klassizistisch oder barock, die Straße be- 1992 zum Gra- grenzen, das Behnhaus mit seinen beson- bungsschutzgebiet deren Giebelstatuen sticht heraus und nach erklärt und alle einigen Schritten tut sich auch schon das Bodeneingriffe ge- Westportal der Katharinenkirche hervor. nehmigungspflich- Beim Eintreten in die Anstalt mit den Wor- tig wurden. 18 ten TU ES über dem Eingang, der Gedan- Jahre hatte sich der

Lübeckische Blätter 2017/20 347 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

Vom Petri-Ausguck die schiefen Dächer Ein Spaziergang, der die zeitgenössische bestaunen. Kunst (vor historischem Stadtbild) und Dann war es gut: für ein paar Jahre an- die aktuell Kunstschaffenden der Stadt derswo studierend, nur ab und an als Be- mit ihren Themen, Arbeitsräumen und sucherin heimkehren und einen Blick von Präsentationsmöglichkeiten in den Fokus außen auf die kleine Stadt nehmen. nimmt. Irgendwann jedoch fiel die Entschei- Einfach wunderbar, all die besonderen dung für Lübeck als Lebens- und Arbeits- Orte nicht nur als museale, sondern als mit ort leicht. Die künstlerische Arbeit lässt Leben gefüllte Räume zu erfahren und zu sich im vertrauten Umfeld weiter bringen, nutzen. Mit Kunst und mit Musik – als die Vernetzung mit Kolleginnen und Kol- Betrachter, als Zuhörer und selbst Kultur- legen scheint einfach und zumeist frucht- schaffender. Wer kann schon wie ich mit bar. Zeitgenössische Kunst in historischen der „Chorwerkstatt Lübeck” viele Jahre in Gemäuern zu präsentieren ist geboten und immer wieder einer anderen prächtigen, gebiert spannungsreiche Koexistenz. mittelalterlichen Altstadtkirche an Kon- „Die Burgstraße ist im Kommen” sa- zerten mitwirken. gen wir uns seit drei Jahren (schon 3!) in An einem Spätsommerabend auf der der Galerie Artler, der Produzenten-Gale- charmanten Obertraven-Flaniermeile auf rie der Gemeinschaft Lübecker Künstler einen Sundowner ;-) verweilend, blickt Spaziergang im Weltkulturerbe: seltener und tatsächlich entwickelt sich auf der man auf das Holstentor und staunt be- Blick auf St. Petri in einem Gang des Nordachse der Stadt zwischen Burgtor und glückt, dass man an einem Ort lebt, den Domviertels (Foto: Jürgen Reif, PGL) Koberg so etwas wie eine Kunstmeile. Von zu erreichen viele Menschen lange Reisen Künstlern zu kapern wäre noch die Nr. 11. auf sich nehmen. Land, vom Bund, von der EU. Auf das Zudem entsteht für mich gerade in Susanne Adler Jahr umgerechnet ergibt sich ein Betrag diesem Jahr wieder ein frischer Blick auf von etwa 28 Millionen. Stadt und Stadtbild. Inspiriert durch LTM „Was verbindest Du denn Andererseits wird Lübeck aber Jahr für und ihre Kampagne „Plötzlich 30”, habe persönlich mit dem Jahr von rd. 15 Millionen Tagestouristen ich mit einer Kollegin zusammen ein besucht, die vor allem wegen des Welt- Postkartenbuch mit 30 Lübeck-Motiven Weltkulturerbe?“ kulturerbes kommen und nach Experten- zum Ausmalen gestaltet. Aktuell dürfen ... ein wenig „Erleichterung + Ge- meinung für einen Umsatz von sage und Schüler pinseln und kolorieren und sich wissheiten“, weil der Welterbe-Status schreibe 380 Millionen Euro sorgen. Jahr mit den Ergebnissen an einem Malwettbe- ein Garant ist, dass die Verantwortlichen für Jahr weist die Statistik über 1 Million werb beteiligen. der Hansestadt eine kulturpolitische und Übernachtungsgäste in den Hotels auf, die Ein weiteres spannendes Aufgaben- fachliche Leitlinie zur Erhaltung bekom- etwa 90 Millionen Euro pro Jahr ausge- feld: Seit dem Spätsommer biete ich einen men haben − und diese bei Handlungsbe- ben. Hohe Beträge, die zu einem großen Rundgang durch die nördliche Stadt unter darf (und mit Nachdruck) auch fachlich Teil über Abgaben, Gebühren und Steuern dem Titel „Kunst spezial“ an. kompetent vertreten müssen (... obwohl auch dem städtischen Haushalt zufließen Mein Angebot unter dem Dach der der P+C-Sündenfall auch heute nicht zu und vielen Lübeckern den Arbeitsplatz „Lübecker Kultouren” richtet sich an Ein- übersehen und vergessen ist!). Aber ich sichern. heimische wie Touristen gleichermaßen. verbinde damit auch den Wunsch, eini- Und damit kann wohl zu Recht die Be- hauptung formuliert werden, dass es sich um außerordentlich gut angelegtes Geld handelt – Archäologie und Denkmalpfle- ge sind wichtige Wirtschaftsfaktoren, ge- rade in einem Welterbe wie Lübeck!

Prof. Dr. Manfred Gläser, Leiter des Bereichs Archäologie und Denkmalpflege von 1994-2016 Leben und Arbeiten im Weltkulturerbe Gebürtig in Lübeck hatte die Wahr- nehmung der altehrwürdigen Hansestadt für mich zu Jugendzeiten eine lässige Beiläufigkeit, es war eben alles da. Die Gänge, die Gassen, die Fassaden, die Kirchen. „Kinder, die sieben Türme!”, regelmäßiger Elternausruf, wenn wir uns mit dem Auto der Stadt näherten. Klassen- Schnitzereien auf einer Fachwerkfassade aus dem 16. Jahrhundert; eine Arbeit westfä- ausflug in die Kammern des Holstentors. lischer Wanderhandwerker (Foto: Jürgen Reif, PGL)

348 Lübeckische Blätter 2017/20 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

ge Hoffnung und die Aufforderung, dass rasanter entwickelt, sondern immer vehe- der („neue“) Bürgermeister von Lübeck menter unsere geschichtlichen Wurzeln dies internationale Welterbe und den „dt.“ ignoriert, wurde zu einem weltumspan- Denkmalschutz zu (s)einer persönlichen nenden Phänomen. Der Mensch ist dabei, Sache macht und alle Bürger − auch die der den Erdball mit einer sich immer wieder Vorstädte − durch geeignete umfassende modernisierenden globalen Stadtstruktur Informationen und Aktivitäten und durch zu überziehen. Dabei wird er sich kaum sein „engagiertes Tun“ überzeugen und bewusst, dass mit der Modernisierung und mitziehen kann. − Was aktuell zu bewei- Verstädterung der Welt ein enormer kul- sen wäre, z. B. am denkmalpflegerischen turgeschichtlicher Verlust verbunden ist, Erhalt der originalen Hubbrücken (gegen der sich auch auf das Befinden der Welt- den unsinnigen Elbe-Lübeck-Kanal-Aus- gesellschaft auswirkt. Daher beschloss bau), den Ausbau des Bereichs „Denkmal- die UNESCO ein Übereinkommen zum pflege“, an der behutsamen Entwicklung Schutze des Kultur- und Naturerbes der der Nördlichen Wallhalbinsel und bei der Welt, dem die Bundesrepublik Deutsch- Weiterentwicklung des Welterbe-Status: land 1976 beitrat. z. B durch Erweiterung und Arrondierun- Elf Jahre später, vor jetzt dreißig Jah- gen der Welterbe-Altstadtflächen, mutiges ren, wurde im Dezember 1987 mit Lübeck Angehen einer KFZ-Verkehr-Reduzie- das erste Deutsche Stadtdenkmal in die rung und Fußgänger-Emanzipierung in Liste des Welterbes aufgenommen. Damit der Altstadt, ein Welterbe-Informations- hat sich Lübeck auch vor der Weltöffent-

zentrum und qualifiziertes „neues Bauen“ lichkeit zur Erhaltung seines historischen (Foto: Riccarda Steenbock, PGL) im Welterbe. Erbes verpflichtet. Mit der Erhaltung unseres historischen dern auch die der beiden Staaten mit ihrer Klaus Brendle, Erbes, wie es uns in unseren Altbauten gemeinsamen Kulturgeschichte Rech- Stadtplaner und Architekt und historischen Stadtkernen überliefert nung getragen worden. ist, stärken wir unser Geschichtsbewusst- So lagen zum Beispiel die Anfänge Ich wünsche mir… sein und unsere Identität. Geschichte ist des deutschen Königtums, im Herzog- Ich bin stolz darauf in einer Stadt zu Entwicklung und Veränderung, die sich tum Sachsen, das sich ehemals über ein wohnen, die den Status Weltkulturerbe auch in unserem Kulturerbe ausdrückt. Gebiet erstreckte, das später sowohl Teile hat. Ich bin den Altvorderen dankbar, dass Sie bestimmt das Erinnern der Menschen, der Deutschen Demokratischen Republik sie eine Stadtstruktur geschaffen haben, wobei andererseits diese Erinnerung die wie auch der Bundesrepublik Deutschland die wir heute noch lebens- und liebens- Menschen prägt. umfasste. Luther lebte vor 500 Jahren auf wert finden. Sie haben uns vorgelebt, Lübeck erbt mit seiner historischen dem späteren Gebiet der DDR, wirkte wie durch tatkräftiges, visionäres und so- Altstadt eine Stadtgefüge, dass in seiner aber in ganz Deutschland. Die Hansestäd- lidarisches Handeln, das sich dem Woh- Gestaltqualität auch noch seinen heuti- te entwickelten sich seit dem 12. Jh. so- le des Gemeinwesen verpflichtet fühlt, gen Bewohnern entgegenkommt und das wohl an der Ost- wie an der Nordseeküste. Wohlstand und kulturelle Blüte erreicht sich über Jahrhunderte bewährt hat. Die- Lübeck, die einstige Königin der Hanse, und erhalten werden können. Die Häu- se Bewährung zeigt sich unter anderem aber auch befanden sich durch die ser, Kirchen, Gänge, Gruben und Straßen in seiner Fähigkeit, den verschiedenen deutsche Teilung nicht mehr im Zentrum sind heute noch lebendige Zeugen dieser Zeitepochen zu entsprechen, ohne seinen eines Handelsgeflechtes, sondern an der prägenden Epoche. Ich wünsche mir, dass Charakter zu verlieren. Grenze zweier Staaten in einer Randla- wir alle diese Tradition, im Großen und Die fortschreitende Industrialisierung ge. Das und vieles mehr ist ein kulturge- zukunftsorientiert zu denken, fortsetzen unserer Gesellschaft stellt diese Bewäh- schichtliches Erbe, dem sowohl die DDR und dank unseres planvollen, aber eben- rung der historischen Altstadt immer mehr wie auch die Bundesrepublik verbunden so innovativen und nachhaltigen Han- in Frage, da die heutigen wirtschaftlichen waren und dem die deutsche Teilung nach delns, Spuren hinterlassen, die auch in Strukturen immer weniger Rücksicht auf 1945 nicht entsprach. 100/200/300 Jahren unsere Nachfahren das historische Erbe nehmen. Mit der Das Vorhaben eines gemeinsamen An- beeindrucken. Konkret bedeutet das für Eintragung in die Welterbeliste möchte trages bei der UNESCO scheiterte an dem mich: 40 Linden zu retten ist kleinkarier- die UNESCO helfen dieser Gefahr zu be- entschiedenen Widerstand der DDR. Dem tes Denken, das die Zukunftsfähigkeit der gegnen. Die UNESCO ist aber nicht die ungeachtet hat diese kulturgeschichtliche Stadt verspielt. Aber ein „Kaufland“ brau- Lösung des Problems. Die Lösung muss Gemeinsamkeit Deutschland, trotz einer chen wir nicht, sondern ein Wohnquartier immer wieder am Ort direkt gefunden und fast ein halbes Jahrhundert währenden mit menschlichem Maß, das die Reste des errungen werden. Teilung im 20. Jh., über alle politischen alten Schlachthofes als historische Zeit- Als Lübeck noch vor der Wende mit Grenzen hinweg zusammengehalten und zeugen integriert. Wismar über die innerdeutsche Grenze war eine Voraussetzung für die Vereini- hinweg eine Partnerschaft vereinbarte, gung der beiden konträren „Staaten“ zu Eva Albota, Steuerberaterin tauchte der Gedanke auf, dass Lübeck einem neuen Deutschland. und Wismar bei der UNESCO gemein- Das Weltkulturerbe sam die Aufnahme in die Welterbeliste Dr. Horst Siewert, Leiter des Die Modernisierung des menschlichen beantragen sollten. Damit wäre nicht nur Fachbereichs Denkmalpflege Lebensraumes, die sich nicht nur immer die Verbundenheit der beiden Städte, son- von 1987 bis 2007

Lübeckische Blätter 2017/20 349 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 Die UNESCO und das hanseatische Erbe – das Gründungsbeispiel Lübeck Prof. Dr. Marie-Louise Kaplan, Paris, Universität Denis Diderot; Übersetzung: Bernd Möller Seit vielen Jahren publiziert die französische Hansehistorikerin auch zu Fragen der Welterbepolitik der UNESCO. Der folgende Beitrag (er erscheint 2018 in Frankreich) wendet sich an ein mit Lübeck wenig vertrautes, aber interessiertes Publikum.

Einführung wicklung der Politik zum Schutz des Er- Ausgang des Mittelalters freiwillig aus bes auf globaler Ebene betroffen ist2. dieser Organisation ausschied, da sie ihr Die UNESCO (United Nations Edu- Die Aufnahme von Denkmalen oder zu weit entfernt und von geringem Nut- cational, Scientific and Cultural Organi- Stätten, die historisch zum Bereich der zen war. 1985 weist die Aufnahme meh- zation), 1946 als Bildungs- und Kultur- Hanse als mittelalterlicher und moderner rerer Kirchen – darunter des Doms – in abteilung der UNO gegründet, hat mit der (vom 12. bis zum 17. Jahrhundert) Or- in Niedersachsen erneut auf Unterzeichnung der Pariser Konvention ganisation von Kaufleuten und Städten das Interesse hin, das die UNESCO am zum Schutz des Weltkultur- und Weltna- zum Schutz ihrer Interessen im Ausland historischen Bereich der Hanse zeigt; der turerbes 1972 weitgehend den Weg berei- zählen3, in die Welterbe-Liste (im Weite- entscheidende Schritt erfolgte tatsächlich tet für ein – auf globaler Ebene – gleich- ren bezeichnet als WHL: World Heritage jedoch erst zwei Jahre später mit der Un- zeitig allgemeines und fortschrittliches List) hat recht früh begonnen, da ab 1979 terschutzstellung der Altstadt von Lübeck: Bewusstsein der Notwendigkeit, die kul- das Bryggen-Quartier in Bergen, dem mehr als einige bemerkenswerte Denkma- turellen und natürlichen Gü- le und mehr als ein altes Quar- ter von außergewöhnlichem tier war es diesmal eine alte universalem Wert zu be- Stadt nahezu in ihrer Gesamt- wahren, also solcher Güter, heit, die als „Stadtdenkmal“5 die über das nationale Inter- den Rang des „Welterbes“ er- esse hinaus für die gesamte hielt. Dies geschah mit einer Menschheit von Bedeutung Begründung, die ganz explizit sein können1. Die Anfänge Bezug auf die Geschichte der dieser Internationalisierung Hanse nimmt, deren Haupt- des Bewusstseins über das stadt de facto wenn nicht Erbe gehen jedoch bis in die de jure Lübeck war, das so- Zeit des Völkerbunds zu- wohl wirtschaftlich als auch rück, der 1931 in Athen den politisch eine international ersten Internationalen Kon- anerkannte Vorrangstellung gress von Architekten und genoss. Diese Entscheidung anderen Denkmalexperten von 1987, auf die wir ausführ- organisiert hatte, die die lich zurückkommen werden, Charta von Athen als die zeitlich erste der großen Hafen in Norwegen, wo die Han- öffnete das Tor für eine Reihe von neu- großen Chartas zum Schutz von Denkma- seaten ab dem 13. Jahrhundert eines ihrer en Unterschutzstellungen im Verlauf der len verfassten. 1964 dehnt die Charta von ersten Kontore4 im Ausland eingerichtet beiden folgenden Jahrzehnte, wenn auch Venedig den Begriff des „Denkmals“ auf hatten, von der UNESCO unter ausdrück- im Fall der 1992 unter Schutz gestellten den Begriff der „Stätte“ aus und im sel- lichem Bezug auf die Präsenz der Hanse Stadt und der benachbarten Sil- ben Jahr wird unter der Schirmherrschaft unter Schutz gestellt wurde. Dieser Bezug bermine (Rammelsberg) der Bezug zur der UNESCO der ICOMOS (Internatio- erschien dagegen nicht 1978 bei der Un- Hanse, zu der die Stadt gehörte, hintan- naler Rat für Denkmalpflege) gegründet terschutzstellung des historischen Zen- gestellt wurde zugunsten des kaiserlichen (HEINICH, 2009, 22-23). Seit 1972 ent- trums von Krakau, der historisch ersten Charakters der Stadt und ihrer Pfalz, und wickeln sich der Begriff des „Welterbes“ Hauptstadt Polens, einer Stadt, die zwar auch wenn im selben Jahr die alten Denk- und seine Erweiterung und Anreicherung Teil der Hanse gewesen war, jedoch am male der russischen Stadt Nowgorod glei- ununterbrochen fort, insbesondere mit der chermaßen Einzug in die WHL hielten Aufstellung der Liste des „immateriellen“ ohne Hinweis auf die Hanse, die dort im- 2 Siehe insbesondere CHAUDRON (2008), HEI- Erbes zu Beginn der 2000er Jahre, gefolgt NICH (2009). 15-39, POULOT (2006), 1-24. merhin ein Handelskontor ersten Ranges von der Unterzeichnung einer Konventi- besaß6, so wurden doch im Gegenzug im 3 Wir treten hier nicht in die Diskussionen um die on zur Wahrung des immateriellen kultu- Definition der Hanse ein. Dazu verweisen wir Verlauf der 1990er Jahre mehrere Städte rellen Erbes. Daran ist zu erinnern, auch auf einige besonders bedeutende Werke: DOL- nacheinander von der UNESCO mit sehr wenn das hanseatische Erbe nur sehr in- LINGER (1964 und 1988), BRACKER, HENN, deutlichen Hanse-Bezügen unter Schutz POSTEL (1998), HAMMEL-KIESOW (2000), direkt von dieser bemerkenswerten Ent- GRAICHEN, HAMMEL-KIESOW, HESSE (2011). 5 SIEWERT (1998 b), 34-35. 1 Dieser Begriff des „außergewöhnlichen univer- 4 In der französischen Übersetzung verwendet der sellen Werts“ und die Kriterien, anhand derer UNESCO-Text den Ausdruck „bureau hanséati- 6 Die Begründung der UNESCO erwähnt nicht das bestimmt wird, ob ein Denkmal oder eine Stätte que“ (Hanse-Büro oder Geschäftsstelle); diesem Hansekontor, dagegen stellt der Nowgorod ge- diesen entspricht, sind nicht frei von Fragen und ungeeigneten Ausdruck ist der des „Kontors“ vor- widmete Wikipedia-Artikel fälschlich Nowgorod Kritiken. S. FALGUIERES (1997) zuziehen. als Hansestadt dar.

350 Lübeckische Blätter 2017/20 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + Anzeige_Trauerfall_187x55_dasAmtliche_Firmen+ + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + Leistungen_final_0314 + + + 1987 21.03.14 + + 14:48+ LUEBECK Seite 1 WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 Abschiednehmen mit Liebe, Würde und Respekt ● Erd-, Feuer- und Seebestattungen, Friedwald ● Kostenlose Beratung zur Bestattungsvorsorge und anonyme Beisetzungen ● Abwicklung aller Formalitäten und Behördengänge ● Individuelle Trauerfeiern und Trauerbegleitung ● Gezeiten.Haus als eigenes Trauerhaus

Immer in Ihrer Nähe: Kaufhof: Marlistraße 105 Telefon 0451- Wir sind Tag Balauerfohr 9 Kücknitz: Solmitzstraße 13 Vorwerk: Friedhofsallee 112/114 und Nacht für 23552 Lübeck Moisling: Niendorfer Straße 50–56 79 8100 Sie erreichbar. www.schaefer-co.de Travemünde: Kurgartenstraße 1–3

gestellt. Dies gilt 1995 im Fall der Stadt in der WHL aufgeführt, allerdings mit ei- andere Beispiele „identischer“ Rekon- Visby, einer der Wiegen der hanseatischen nem jüngeren Teil ihres Erbes, der auf das struktion von vollständig zerstörten Orten Organisation, gelegen auf der schwedi- 19. und 20. Jahrhundert zurückgeht: die und Denkmalen, darunter insbesondere schen Insel Gotland, von der ab Mitte des mit dem Chilehaus9. Insge- der Fall des zentralen Platzes der Altstadt 12. Jahrhunderts die deutschen Schiffe samt sind zum Zeitpunkt des Verfassens von Warschau, eine Möglichkeit der Auf- nach Russland aufbrachen7; 1997 stellte dieser Schrift 7 Städte in Deutschland, 3 nahme Danzigs in das Welterbe eröffnen12. die UNESCO die historischen Zentren polnische Städte, eine schwedische Stadt Möglicherweise werden noch weitere Un- von Riga und Tallinn (früher Reval) unter und zwei baltische Hauptstädte von nicht terschutzstellungen anderer hanseatischer Schutz, zwei sehr bedeutende Hafenstädte geringer Bedeutung für die Geschichte Stätten angestrebt. der Hanse in der damals als Livland be- der Hanse, in die WHL eingetragen; hinzu Hier ist darauf hinzuweisen, dass die zeichneten Region (entsprechend heute kommen drei der vier europäischen Städ- meisten der in die WHL eingetragenen in etwa den Republiken Lettland und Est- te, die im Mittelalter auf nicht deutschem alten Hansestädte sich der 1993 in Fès land); und ebenfalls im Jahr 1997 wurden Gebiet große Hansekontore beherbergten gegründeten internationalen Organisation die alte polnische Stadt Toruń (Thorn) und, (Bergen, Nowgorod und Brügge)10. der Welterbestädte angeschlossen haben. ganz in der Nähe von Gdansk (Danzig), Weiter und über diese neue internationale die Burg von Malbork (Marienburg) un- Organisation hinaus kann man behaup- ter Schutz gestellt, jene berühmte Festung ten, dass der Geist der alten Hanse, die des Deutschen Ordens, der seinerseits ein zur Verteidigung gemeinsamer Interessen herausragendes Mitglied der Hanse war Städte vereinigte, die unter der Autorität und sich aktiv am Handelsaustausch mit verschiedener Herrscher standen, noch und den Niederlanden beteiligte. immer lebendig ist. Auch wenn sich die Das 21. Jahrhundert erlebt dann im Jahr Hoffnung einiger Intellektueller, Ge- 2000 die Unterschutzstellung der Altstadt schäftsleute und Politiker, in Europa eine von Brügge in Belgien, wo die Hanseaten „Neue Hanse“ zu schaffen, im 20. Jahr- ebenfalls ein Kontor besaßen, mit dem hundert wegen des fehlenden politischen sie bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts Willens zerschlagen hat (BOHMBACH, stetig verkehrten8. 2002 erfahren die deut- in GRASSMANN, 2001, S. 89-100), so schen Häfen und Wismar, zwei finden doch seit mehreren Jahrzehnten hanseatische Ostseestädte in der Nachbar- Eine große Abwesende auf dieser Lis- in den alten Hansestädten mit einer an schaft Lübecks, ebenfalls die Aufnahme te ist die Stadt Danzig (Gdansk, der große die früheren Hansetage erinnernden Re- ihrer historischen Zentren in die WHL, Hafen Polens), deren Eintragung in die gelmäßigkeit zahlreiche Veranstaltungen und 2004 ist die Innenstadt von Bremen WHL-Liste zwar wiederholt zur Diskus- kommerzieller und kultureller Art statt. an der Reihe, der große hanseatische Ha- sion stand11, jedoch Probleme bereitet auf- Manche dieser Veranstaltungen werden fen an der Nordsee mit seinem berühmten grund des Charakters der Altstadt als na- übrigens Hansetage der Neuzeit genannt. Marktplatz, seinem Rathaus und seiner hezu vollständig „identisch rekonstruiert“, In Verbindung mit dem touristischen Rolandstatue. Erst seit kurzem (2015) da sie 1945 zu 80% durch die sowjetische Boom, der seit den letzten Jahrzehnten wiederum ist die Stadt Hamburg, deren Artillerie zerstört worden war (CIESLAK des 20. Jahrhunderts die Städte Nordeuro- alte Bausubstanz im und nach dem Zwei- & BIERNAT, 1995). Allerdings könnten pas erfasst, bleibt die Hanse als kulturel- ten Weltkrieg praktisch verschwunden ist, les und kommerzielles Motiv daher weiter

9 Zum Erbe Hamburgs siehe unter anderem PE- 7 Obwohl alte Hansestadt, erscheint Schwedens LUS-KAPLAN und PELISSIER (2008). 12 Zu den polnischen Beispielen siehe zukünftig Hauptstadt Stockholm nicht wegen dieser Eigen- Tomasz TORBUS, „Auf der Suche nach der pol- schaft auf der WHL, sondern wegen dreier Kultur- 10 Die Stadt London, wo sich das viertgrößte Hanse- nischen Vergangenheit. Die Rückkehr zu den Epo- stätten an der Peripherie der Stadt: das königliche kontor befand, zählt vier in die WHL eingetragene chen der Piasten und Jagellonen in den Projekten Schloss von Drottningholm (eingetragen 1991), Stätten; der steelyard (Stalhof, Hansekontor) lag zur Rekonstruktion der durch Polen nach dem die alte Wikingersiedlung Birka auf der Insel jedoch außerhalb der 4 von der UNESCO unter Zweiten Weltkrieg ‚wiedergewonnenen Gebie- Björkö (eingetragen 1993), und ein Friedhof vom Schutz gestellten Bereiche. te‘ “. Der Aufsatz befindet sich derzeit im Druck Anfang des 20. Jahrhunderts (eingetragen 1994). 11 Danzig steht seit 2005 auf der „Tentative list” (Li- einer von Pelus-Kaplan in Paris konzipierten Pu- 8 In der UNESCO-Begründung findet sich keine ste der Vorschläge zur Eintragung in die WHL) blikation, die auch den hier abgedruckten Beitrag Erwähnung des Hansekontors. Polens. enthalten wird.

Lübeckische Blätter 2017/20 351 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

Antwort des Welterbe-Komitees trifft im März 1987 ein, ist diesmal zustimmend und im Dezember 1987 wird Lübeck of- fiziell in die WHL aufgenommen. Die Lübecker Altstadt entspricht zwei der von der UNESCO gesetzten offiziellen Aus- wahlkriterien. Mehrere ihrer Denkmale hätten ihr die Eintragung in die WHL ge- mäß Kriterium II erlaubt („über Denkmale von exemplarischem Charakter verfügen, die andere Denkmale beeinflusst haben“): dies gilt besonders im Fall der Marien- kirche, des bekanntesten Sakralbaus der „Backsteingotik“, die sich im 14. und 15. Jahrhundert in allen Städten Nordeuropas verbreitete; auch im Fall des Rathauses trifft dies zu, von dem direkt die Rathäu- Häuserzeile am Marktplatz „Koberg“ mit Fassadenformen des 16., 18. Und 19. Jahr- ser der Nachbarstädte (Wismar, Rostock, hunderts (Foto. Joachim Bauer, Lübeck, 2005) Stralsund) inspiriert wurden. Gleichwohl verdankt Lübeck seine Eintragung einzig einträglich. Unzweifelhaft spielt der be- 1987: Lübeck, die Gründe eines dem Kriterium IV („ein hervorragendes gehrte Titel „UNESCO-Weltkulturerbe“ Erfolgs Beispiel eines baulichen Ensembles ver- bei diesen Bekundungen eine wichtige körpern, das einen bedeutsamen Abschnitt Rolle, ebenso wie beim Erfolg der Wie- Die Bundesrepublik Deutschland, Un- der Menschheitsgeschichte versinnbild- derbelebungsversuche hanseatischer Kul- terzeichnerin der Konvention von 1972, licht“) als Inbegriff der Macht der Hanse tur im Europa unserer Tage (KNÜPPEL schlägt der UNESCO die Bewerbung und des Reichtums der hanseatischen Zi- 2007). Lübecks um die Aufnahme in die WHL vilisation. Schließlich haben nicht nur sei- Es wäre natürlich sehr interessant, bereits 1980 vor; die Stadt wird daher ge- ne Architektur und sein Stadtbild, sondern sowohl die Vorgeschichte jeder der auf- beten, einen vorläufigen Antrag zu stellen; auch seine Sprache, seine Institutionen, einanderfolgenden Eintragungen dieser dieser wird im November 1982 offiziell sein Recht, seine Gewichte und Maße, früher hanseatischen Städte oder Stätten verfasst. Im darauf folgenden Jahr wird seine soziale und politische Struktur die in die WHL einschließlich der erfolgrei- dieser erste Antrag nach einem ableh- meisten Städte geprägt, die im Verlauf des chen Verhandlungen zu untersuchen, als nenden Bericht des ICOMOS zurückge- 13. Jahrhunderts entlang der Küsten der auch die Konsequenzen dieser Eintra- wiesen, der sich insbesondere gegen die Ostsee gegründet wurden. gungen für die jeweiligen unter Schutz Eintragung von nach den Zerstörungen Die 1987 erfolgte Eintragung in die gestellten Städte. Dies könnte ein schö- des Zweiten Weltkriegs wiederaufge- WHL gilt prinzipiell für die Gesamtheit nes Thema für eine Doktorarbeit über die bauten Gebieten wendet. Im November der „Altstadt“ mit Ausnahme der während Geschichte des Erbes sein. Wir werden 1986 wird ein neuer Antrag gestellt; die des Zweiten Weltkriegs zerstörten und uns hier darauf beschränken, das bekann- teste Beispiel zu untersuchen, weil es grundlegend war, die Verhandlungen für die nachfolgenden Eintragungen inspi- rierte13, und vor allem, weil es durch eine sehr umfangreiche Literatur ausgiebig dokumentiert ist: Lübeck. Im ersten Teil legen wir die Vorge- schichte der Eintragung in die WHL dar, indem wir die Faktoren des Erfolgs von 1987 untersuchen. In einem zweiten Teil befassen wir uns mit dem kulturellen Erbe Lübecks und legen die Schwerpunkte da- bei auf die Entwicklung des Erbe-Begriffs und auf die Konsequenzen der WHL-Ein- tragung für die Stadt.

13 Im Jahr 2015 hatte ich Gelegenheit, in den Räu- men des Amts für Denkmalpflege die umfangrei- chen Verzeichnisse der Korrespondenz zwischen der UNESCO und den Verantwortlichen des Welt- erbe-Schutzes zu durchblättern; jedoch hatte ich nicht die Zeit zur Auswertung dieser Dokumente, sodass sich mein Beitrag lediglich auf die veröf- Entdeckung von Wandmalereien bei Bauarbeiten 1958/59 fentlichte Literatur stützt. (Foto: © Fotoarchiv Hansestadt Lübeck, St. Annen-Museum)

352 Lübeckische Blätter 2017/20 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

wiederaufgebauten Areale: bei diesen han- delt es sich um einige Viertel im Stadtzent- rum, vor allem das als „Gründungsviertel“ bezeichnete und auch als „Kaufleutevier- tel“ bekannte zentrale Gebiet von der Ma- rienkirche und dem Rathaus bis zum Fluss Trave, der den Lübecker Hafen einschließt und weiter abwärts in die Ostsee mündet. Der Schutz umfasst ebenso die Gewässer, die die Stadt umgeben (die Trave und ihr Zufluss die Wakenitz) sowie die sie um- schließenden Befestigungen, darunter insbesondere die beiden noch sichtbaren mittelalterlichen Tore, von denen das sehr berühmte „Holstentor“ das markanteste Symbol der Stadt geworden ist. Die nicht in die WHL eingetragenen Viertel nahe der Altstadt werden als „Puf- ferzonen“ erwähnt und verdienen einen bestimmten Schutz (BOUTEILLER, 1993, 8-9; RUPP, 2008). Die im Sinne des Krite- riums der Authentizität von der UNESCO geschaffene unabdingbare Voraussetzung dieser Eintragung sind der Respekt der historischen Bausubstanz der eingetra- genen Gebäude und die Fortsetzung der 1987 noch unvollendeten Arbeit der Erfor- schung und Inventarisierung des alten Bau- bestands. Die UNESCO beließ es jedoch nicht bei der Unterschutzstellung des sicht- baren Stadtbilds, sondern nahm auch den Untergrund der gesamten Besiedlung in das Welterbe auf – einschließlich des Un- tergrunds unter den zerstörten und in den 50er Jahren wiederaufgebauten Arealen. Dies geschah mit der ausdrücklichen Er- wartung, dass die archäologischen Grabun- gen fortgesetzt werden, um den Vorteil der besonderen örtlichen Situation zu nutzen, der in der Stärke der Schichten (von 4 bis Einzeichnung der Kriegszerstörungen vom März 1942 (Foto: ©Hansestadt Lübeck) zu 12 m) und in den optimalen Bedingun- gen der Konservierung organischen Mate- Lübeck, ehemals freie Stadt des Heiligen Bundes, bewahrte es eine tatsächliche rials in dem feuchten, mehr oder weniger Römischen Reiches Deutscher Nation politische Unabhängigkeit, da es mit den sumpfigen Boden liegt. Der glänzende Er- (und übrigens zu Napoleons Zeiten eben- beiden Nachbarinnen Bremen und Ham- folg von 1987 erklärt sich aus einer ganzen so wie ihre Nachbarstädte Bremen und burg sowie Frankfurt am Main zu den 4 Reihe von günstigen Faktoren, die sowohl Hamburg kurzzeitig dem französischen Städten gehörte, die nach 1806 noch den auf die ältere wie auf die jüngere Vergan- Kaiserreich eingegliedert), durch seine Status freier Städte genossen. Ab 1817 genheit der Geschichte der Stadt Lübeck Entschlossenheit hervor, sein geschicht- fand auf nahegelegenen Hügeln, die his- zurückgehen (GRASSMANN, 198814). liches und künstlerisches Erbe zu schüt- torische Gräber bargen, die erste archäo- zen15. Seit 1814 Mitglied des Deutschen logische Grabung auf städtischem Gebiet 1. Ein bereits lange bestehendes statt. Im folgenden Jahr (1818) bezog sich Interesse am Schutz des 15 Hier stellt sich die Frage, ob die Maßnahmen zum ein Vortrag von Carl-Ludwig Roeck, Mit- Schutz des Erbes, die vom revolutionären und na- glied der 1789 gegründeten Gesellschaft Stadterbes poleonischen Frankreich getroffen worden waren, zur Beförderung Gemeinnütziger Tätig- Literatur: (MÜHRENBERG, 2012 a, 4-10; KOM- nicht auch die Politik der Stadt Lübeck beein- 16 MER, 1993; BRIX, 1981) flusst haben. Die Einsichtnahme des Gesetzblatts keit , auf „die in Lübeck befindlichen des Französischen Kaiserreichs, 4. Serie (Bulletin Denkmäler des Althertums und ihre Erhal- Nur wenig später als das revolutionäre des Lois de l’Empire français, 4e série), zweispra- chige Veröffentlichung für die Jahre 1811-1813 und napoleonische Frankreich hebt sich (AHL, LII, 143, Bd. XIV, XV, XVI, XVII, XVIII, 1818 getroffenen Maßnahmen angeregt. S. BRIX XIX) im Lübecker Archiv führt nicht zu diesem (1981, 202). 14 An dieser Stelle möchte ich ganz besonders der Schluss: kein Dekret dieser Jahre betrifft die Po- früheren Leiterin des Archivs der Stadt Lübeck litik zum Erbe. Dennoch war die französische 16 Zur wesentlichen Rolle dieser Gesellschaft hin- Frau Prof. Antjekathrin GRASSMANN für ihre Politik des Denkmalschutzes in Lübeck bereits sichtlich des Denkmalschutzes s. besonders klugen Ratschläge danken. bekannt und hat möglicherweise in Teilen die ab HAMMEL (1988).

Lübeckische Blätter 2017/20 353 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

Publikationen, die bewegten: „Rettet Lübeck“ (1972) forderte den Erhalt der gesamten Altstadt, „Häuser und Höfe“, Band 4, (1993), dokumentierte erstmals mehr als 500 Malereien in Bürgerhäusern. (Fotos: ME)

tung“. Dieser Vortrag legt zum ersten Mal Allerdings hatte man damals noch eine zum Handeln auf19: zum Beispiel anläss- die großen Linien einer Stadtpolitik zum sehr eingeschränkte Auffassung über das lich des Abrisses alter Häuser zugunsten Schutzes und der Pflege des historischen Erbe: es war beschränkt auf sakrale und neuer Bauten, wie etwa eines neuen Ge- Erbes dar, in deren Interesse sich auch der städtische Gebäude, die Vorstellung der richtsgebäudes im neugotischen Stil oder Kunsthistoriker Carl Friedrich von Ru- Einbeziehung von Bauwerken mit Ge- eines Theaters (1906) mohr schon seit 1813 einsetzte. Das Jahr brauchscharakter ließ man gemeinhin nicht 1818 hatte aus Anlass des Einsturzes ei- gelten. So stimmte die Bürgerschaft mit 2. Nach 1945 eine neue Lage: nes Pfeilers der Kirche des Maria-Magda- nur einer Stimme Mehrheit 1863 den Plä- Gefahren des Wiederaufbaus lenen-Klosters gerade eine erste Anwen- nen des Senats zu, das Holstentor als eines dung dieser Prinzipien erlebt: Zwar wurde der letzten Zeugnisse der früheren Befesti- und Fallen der Sanierung der Abriss der Kirche beschlossen, jedoch gungen zu restaurieren, statt es abzureißen. Die gravierendste Zäsur der Lübe- die dort beherbergten Kunstwerke und die Ein neuer Erlass des Senats dehnte cker Geschichte geschieht im Verlauf des Glasfenster bewahrt. Noch beim Abriss 1897 den Schutz auf prähistorische Denk- Zweiten Weltkriegs im März 1942: Im der Kirche des Johannesklosters 1806 war male aus. Hier ist darauf hinzuweisen, dass Laufe der Nacht vor dem Palmsonntag nichts Derartiges unternommen worden. im 19. Jahrhundert die archäologischen wird Lübeck bombardiert und 1/5 der Alt- In der Folge verkündete der Senat bereits Grabungen praktisch gar nicht die Altstadt stadt wird vernichtet. Allerdings hatte Lü- 1818 einen Erlass, kraft dessen jede Zer- betrafen (deren Stadt- und Bodenrecht auf beck danach das Glück, das Rote Kreuz zu störung oder Veräußerung alter Kunstwer- die Mitte des 12. Jahrhunderts zurück- beherbergen; dies ermöglichte dem Rest ke die Genehmigung des Senats und der geht), mit Ausnahme einiger in den Mu- der Stadt, vergleichsweise verschont zu Bürgerschaft erforderte, allerdings wurde seen eingelagerter Funde (Wachstafeln, bleiben und dem dunklen Schicksal ihrer dies nur auf bewegliche Güter angewandt. Tonwaren, Reste eines Ofens zur Herstel- Nachbarinnen – insbesondere Hamburgs Die gesicherten Kunstwerke mussten in lung von Kacheln / Fliesen). 1915 wurde – zu entgehen20. der Kirche St. Katharinen gesammelt und schließlich das erste wirkliche Denkmal- Der Wiederaufbau der Stadt Lübeck, inventarisiert werden. schutzgesetz verkündet und es blieb bis und hier vor allem in den stark betroffe- Im Jahr 1821 bildet sich auf Anstoß 1958 in Kraft. Es schützte lediglich die nen zentralen Vierteln, wird in den Jahren von Heinrich Nikolaus Börm, Autor eines schon in die Denkmalliste eingetragenen 1945-1950 zügig vorangetrieben; dabei Vortrags über die Kunst der Gotik in Lü- Objekte, wurde jedoch 1921 auch um die steht der Bedarf am Bau dringend benö- beck, und des Archivars Johann Friedrich Beiträge der Archäologie erweitert. tigter Wohnungen im Vordergrund. Da- Hach17, innerhalb der Gesellschaft zur Obwohl diese Schutzmaßnahmen mals kamen daher weder eine identische Beförderung Gemeinnütziger Tätigkeit ihrer Zeit voraus waren, hat jedoch die Rekonstruktion der Häuser noch die Be- ein Ausschuss zur Sammlung und Pflege Stadt Lübeck im Lauf dieser ersten Epo- achtung des früheren Stadtbilds in Frage. der Quellen und Denkmale der Geschichte che schwere „Sünden“ am baulichen Erbe Es fehlte jedenfalls bis zur Mitte der 70er Lübecks, der sich ebenso mit der Weiter- (Bausünden)18. begangen. Einige Zeitge- führung der archäologischen Grabungen nossen warfen ihr diese „Sünden“ übri- 19 Diese Reaktionen werden erwähnt in: KOMMER in der Umgebung der Stadt befasst. Die- gens auch vor und forderten die Lübecker (19993, 77-78). Die Wiederherstellung der Lö- wenapotheke 1901 rief ihrerseits auch Kritiken ser Ausschuss wird 1844 unter dem Na- hervor, obwohl in diesem konkreten Fall mit ei- men „Verein für Lübeckische Geschichte nem noch unvergleichlichen Respekt für die ori- und Altertums-kunde“ selbstständig und ginale Bausubstanz vorgegangen wurde. S. BRIX (1981, 279-281). ist bis heute eine sehr aktive Institution. 18 Im 19. Jahrhundert verschwanden mehrere Kir- chen aus dem Lübecker Stadtbild: (Burgkirche, 20 Diese Präsenz des Roten Kreuzes hat ebenso die St Johannis, St Clemens). S. SCHNEIDER (2012, Bewahrung der alten hanseatischen Stadt Goslar 17 BRIX (1981, 203-204). 14). ermöglicht (1992 in die WHL eingetragen).

354 Lübeckische Blätter 2017/20 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

Jahre nicht an Plänen zum Wiederaufbau des 1970er Jahre hat als vollständig moderne Stadt, aufgelo- dennoch bedeutende

ckert und günstiger für den Kraftfahrzeug- Fortschritte bei der CONFURIUSSchalt- und Steuerungsanlagen verkehr. Kenntnis und Ret- Antriebs- und Pumpenservice Elektrotechnik Im Kontext des vorteilhaften Wachs- tung des alten Erbes tums der Bevölkerung und der Wirtschaft ermöglicht: Ab den Seit 1918 gut beraten gedieh die neue Stadt Lübeck, die die alte 50er Jahren werden Elektrotechnik Automatisierungstechnik Elektromaschinenbau Stadt umgibt und die sich im 19. und 20. die ersten archäolo- • • SPS-Steuerung • Schranken - und Toranlagen • Schaltschrankbau Jahrhundert bereits gut entwickelt hatte. gischen Forschun- Pumpen • MSR-Technik • Stiebel Eltron Service • Lagerverkauf In dem von den Bomben verschonten Teil gen über die mit- der Altstadt hingegen waren die sanitären telalterliche Stadt Am Neuhof 3-5 23558 Lübeck www.confurius.de Tel.: 0451 - 4 44 44 und sozialen Verhältnisse bis in die 1970er in den Gründungen • • • Jahre beklagenswert. In diesen mehr und und Fundamenten mehr von den Bewohnern aufgegebenen sowie den Kloaken der bombardierten Zeit die Sanierung in der Hundestraße Vierteln hatten zahlreiche Häuser weder Häuser des Gründungsviertels durchge- einsetzt, eine der nach 1942 intakt geblie- WC noch Badezimmer oder moderne führt. Die Leitung hatte Werner Neuge- benen Straßen. Heizanlagen. Die Bewohner waren über- bauer, ein Professor aus der Stadt Elbing Dennoch schwebte zu dieser Zeit eine wiegend älter, arm, vielfach immigriert, (Elblag) in Polen, der 1949 mit den Gra- Gefahr über der Altstadt, die man sanieren und die Zahl der abgerissenen oder zu Ru- bungen beauftragt wurde. will, indem man sie modernisiert; dies gilt inen zerfallenden Häuser war unüberseh- Die außergewöhnliche Bedeutung umso mehr, als innerhalb der städtischen bar21. Angesichts dieses Notstands richtet des verbliebenen Erbes und die seit 1821 Einrichtungen das „Amt für Denkmal- die Bauverwaltung 1961 die Abteilung durchgeführten Arbeiten (Bildung des ers- pflege“ bis 1977 der Bauverwaltung zu- zur „Sanierung“ ein (auch als „Stadter- ten Ausschusses zur Bewahrung des Er- geordnet war, deren Leiter eine radikale neuerung“ zu verstehen) und 1965 erklärt bes) trugen der Stadt seit dieser Zeit eine Erneuerung befürwortete. Zu Beginn der Foto: © Ulrich Büning

die Stadt die gesamte Altstadtinsel22 zum Ausnahme-Behandlung ein. Die Stadt 1970er Jahre erleidet das alte Erbe erneu- Sanierungsgebiet. Ohne Zögern wurde Lübeck ist dem Land Schleswig-Holstein te Verheerungen, besonders durch den Ab- in dieser Zeit der Städtebau im Sinne der eingegliedert und hat ihre Eigenschaft ei- riss alter Häuser in der Fleischhauerstra- Modernität überformt, wurden alte Häu- ner freien Stadt verloren, die ihre Nach- ße mitten im Stadtzentrum, um dort eine ser abgerissen, um Platz für Einrichtungen barinnen Hamburg und Bremen innerhalb Erweiterung des Kaufhauses Karstadt zu des Gemeinwohls zu schaffen, wie etwa der Bundesrepublik aufrechterhalten. Das ermöglichen (KOMMER, 1993, 74). ein Schwimmbad, Kaufhäuser, ein gro- neue Denkmalschutzgesetz für Schles- ßes Parkhaus… Noch mehr jedoch als die wig-Holstein gewährt Lübeck 1958 aber 3. Das Bewusstsein der Öffent- Mauern und äußeren Ansichten der alten eine besondere Position, indem es ihm die lichkeit und die nachfolgenden Häuser erlitt deren innere Ausstattung un- völlige Selbstständigkeit in Angelegen- wiederbringliche Verluste. heiten der Archäologie und des Schutzes Verhandlungen zur Rettung der Diese gegenüber der Vergangenheit und der Pflege des denkmalpflegerischen alten Bausubstanz. zerstörerische Zeit von 1945 bis Mitte Erbes zuerkennt23. Die Bevölkerung der Stadt hat eine 1963 wird übrigens insbesondere für große Rolle gespielt beim zunehmenden die Archäologie das Amt für Vor- und Bewusstsein, dass man der Zerstörung 21 ZAHN (2008 a, 41-49). Frankreich kannte zur Frühgeschichte unter der Leitung von alter Gebäude dringend ein Ende setzen gleichen Zeit analoge Probleme seiner alten Städte und die in Frankreich und Deutschland ge- Professor Fehring geschaffen. Neue Gra- müsste. Im Laufe der 1970er Jahre bilden wählten Lösungen können verglichen werden. S. bungen beginnen, während zur gleichen sich Vereinigungen aus der einfachen Be- BOURDIN (1984, 123-181). völkerung, unterstützt von einem Teil der 22 Die Altstadt war zunächst eine Siedlung auf einer Eliten der Stadt, aber auch aus der gesam- Halbinsel und wurde erst 1900 mit dem Bau eines 23 Die immense Bedeutung dieser Selbstständigkeit Kanals zur Insel, der seither Trave und Wakenitz wird unterstrichen von SCHNEIDER (2010, 120- ten Bundesrepublik. 1972 wird das „Lü- künstlich verbindet. 123). beck Forum“ gegründet und 1975 entsteht

Lübeckische Blätter 2017/20 355 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

nach den durch die Karstadt-Erweiterung seine Nachfolger spielen eine maßgebli- fentlichte Band 1 war dann vor allem den verursachten Zerstörungen, die Bürgerin- che Rolle in den Verhandlungen mit der Methoden der in Lübeck durchgeführten itiative Rettet Lübeck, abgekürzt BIRL. UNESCO. multidisziplinären Forschung gewidmet. Diese Vereinigung widmete vor allem Die wesentlichen Aktivitäten für die Diese hoch bedeutenden wissenschaft- dem Stadtbild ihre Aufmerksamkeit (unter zukünftige Eintragung Lübecks in die lichen Erkenntnisse, gewonnen in einer anderem ging es um die Bewahrung der WHL sind mit der Unterstützung des Stadt ohne Voll-Universität, mussten in berühmten „7-Türme“ – Silhouette) und neuen städtischen Teams erfolgt. Mit den Verhandlungen mit der UNESCO na- hat damit erheblich zur Vorbereitung der Beteiligung der Universität Kiel wurden türlich erhebliches Gewicht haben. WHL-Eintragung beigetragen24. Als Kon- zunächst Verhandlungen mit der Bevölke- sequenz werden im Verlauf der folgenden rung geführt, vor allem mit den Bewoh- 4. Nach 1987: neue Vorausset- Jahre (1979 und 1982) Satzungen verab- nern der Altstadt, um die Sanierungs- und zungen, neue Maßnahmen schiedet, die gerade die Erhaltung und Ge- Wiederherstellungsarbeiten mit deren Zu- staltung des Stadtbilds zum Gegenstand stimmung durchzuführen, ohne Zwangs- Nach dem Fall der Berliner Mau- haben. Diese Maßnahmen führten er- enteignungen und unter akzeptablen Be- er 1989 verlor Lübeck den Status einer folgreich zur Einrichtung des Amts eines dingungen und unter größtmöglicher Be- Grenzstadt zwischen zwei kurz darauf Stadtbildpflegers, der eigens beauftragt achtung der „historischen Bausubstanz“26. wiedervereinigten deutschen Staaten und wurde, die Wahrung der architektonischen Unter Federführung des Amts für bekam in vollem Ausmaß den Zustrom Qualität des Ensembles sicherzustellen Denkmalpflege, mit Unterstützung der neuer Bewohner aus dem Osten zu spü- und dabei auch Neubauten zu integrieren. Universität Hannover und der finanzi- ren, während die Touristen immer zahl- Auf das entscheidende Jahr 1975 (Eu- ellen Unterstützung privater Förderer, reicher diese Stadt im Norden besuchten, ropäisches Denkmalschutzjahr) geht auch darunter in vorderster Reihe das Unter- die nun den ruhmreichen Titel „Welterbe“ die Gründung der Althaus-Sanierungs- nehmen Volkswagen, werden gegen Ende tragen durfte. Im Gegenzug gingen die Gemeinschaft/ASG zurück. Man nimmt der 1970er und ab 1980 mehrere wissen- Kredite zurück, weil die Stadterneuerung Kontakt mit anderen deutschen Städten schaftliche Vorhaben (namentlich das in der ehemaligen DDR ab 1990 den we- auf, in denen das Erbe gleichermaßen be- Projekt „Der Profanbau der Innenstadt sentlichen Teil der Gelder verzehrt, die droht ist: In der Presse wird von den „drei Lübeck“) von multidisziplinären Teams für den Schutz des Erbes in Deutschland Beispielstädten“ , Lübeck und durchgeführt, die Architekten, Historiker, bestimmt sind (ZAHN, 2008, b, 101 ff.). gesprochen, deren alte Bau- Restauratoren und andere Fachleute verei- Die Stadt muss sich den neuen Voraus- substanz dringend gerettet werden muss. nen und unter anderen von Rolf Hammel- setzungen anpassen und gleichzeitig den (Arbeitsgemeinschaft Bamberg-Lübeck- Kiesow geleitet werden.27. Diese Projekte Auflagen der UNESCO Folge leisten, Regensburg 1973). führten zu neuen Veröffentlichungen28 was vor allem die Fortsetzung der wis- Aufgrund des Gegensatzes zwischen auf hohem Niveau wie den „Lübecker senschaftlichen Untersuchungen der al- Verfechtern der Modernisierung und Ver- Schriften zur Archäologie und Kultur- ten Bauten wie auch der archäologischen fechtern der Rettung des Alten kam es geschichte“ oder der sehr schönen Sam- Grabungen betrifft. Aber selbst nach 1987 jedoch zu weiteren Verzögerungen und melpublikation des Wachholtz-Verlags wagt man es in Lübeck noch, mitten im Halbheiten. So wurde noch zu Beginn der „Häuser und Höfe in Lübeck“, deren erste Stadtzentrum alte Gebäude niederzurei- 1980er Jahre in der Großen Petersgrube, Veröffentlichung (tatsächlich Band 2 der ßen, wie die in der Königstraße für den einer der zum Hafen an der Obertrave hi- Serie)29 1988 erschien, also ein Jahr nach Bau der „Königspassage“ in den 1990er nab führenden Straßen, entschieden, die der WHL-Eintragung. Dieser Band war Jahren abgebrochenen Häuser30. Fassaden abgerissener Häuser zu erhalten, jedoch wie die anderen auch bereits seit Jedenfalls kam aber die Inventari- um die neue Musikhochschule zu errich- mehreren Jahren in Vorbereitung (HAM- sierung des Lübecker Erbes ab 1987 be- ten… (KOMMER 1993, 74). MEL-KIESOW, 1993); der 1993 veröf- merkenswert voran. In den 1990er Jahren Als anderer Wendepunkt gilt, dass wurde eine Art Denkmalkataster (Denk- 1977 endlich die Denkmalpflege von der malplan) in zwei Teilen eingerichtet: der 26 Siehe besonders den Sammelband Hansestadt Gebäudeverwaltung getrennt und direkt Lübeck (Hrsg.), Sanierung und Entwicklung der erste enthält eine detaillierte Analyse der dem nuen Bürgermeister unterstellt wird. Lübecker Altstadt. Konzepte – Strategien – Per- stadträumlichen Struktur und registriert Der 1976 an die Spitze der Stadtverwal- spektiven, Neumünster, Wachholtz, 2008. die äußere Erscheinung der Gebäude, ihre tung gewählte Dr. Robert Knüppel25 und 27 Das Vorhaben Der Profanbau der Innenstadt Anordnung zueinander sowie ihr räum- Lübeck. Geschichtliche Zusammenhänge von Baustruktur und Nutzung wurde zwischen 1980 liches und stilistisches Verhältnis zur und 1984 unter Leitung von Günther Kokkelink gegenwärtig gebauten Architektur; der 24 Das betonen der Bürgermeister Michael BOU- durchgeführt. Günther P. Fehring führte von 1978 TEILLER (1993, 8-9), und HAMMEL (1988, zweite Teil ist ein Verzeichnis der inne- bis 1984 parallel ein anderes Projekt zu den histo- 47-48). KOMMER (1993, 74-75) hebt seiner- rischen und archäologischen Quellen der Lübec- seits ebenfalls den traditionellen Patriotismus der ker Geschichte im Mittelalter und in der Neuzeit; Lübecker hervor, der seit dem 19. Jahrhundert beide Projekte sollten in die Veröffentlichung erheblich zur Bewahrung der Altstadt vor der Zer- der von Rolf Hammel-Kiesow herausgegebenen 30 Dies hat umgehend die Missbilligung des Welt- störung beigetragen hat. Siehe auch SIEWERT Sammelpublikation „Häuser und Höfe in Lübeck“ erbe-Komitees hervorgerufen. Die Eintragung (1998 a, 15): die städtischen Behörden entschei- einfließen. Lübecks wurde jedoch nicht gelöscht – im Ge- den sich 1975 dafür, der städtischen Sanierungs- gensatz zum Umgang mit der Stadt Dresden im gesellschaft als erstes Ziel die Erhaltung des Be- 28 Jüngere Veröffentlichungen wie diejenigen von Jahr 2009, die für den Bau einer Brücke bestraft stands der Altstadt aufzutragen. Max Hasse über die mittelalterliche Architektur wurde, die das berühmte Panorama der über dem Lübecks fanden ebenfalls Aufnahme in die der 25 Robert Knüppel, Jurist und Wirtschaftswis- Elbtal thronenden Stadt entstellt. Die Nachsicht UNESCO präsentierte Bibliographie (KOMMER, senschaftler, Mitglied der CDU, war bis 1988 der UNESCO mit Lübeck ist sehr wahrscheinlich 1993, 82). Lübecker Bürgermeister. Anschließend wurde er mit der Rettung einiger Wandgemälde aus dem Generalsekretär der Deutschen Stiftung Denkmal- 29 Michael SCHEFTEL, Gänge, Buden und Wohn- 13. Jahrhundert während dieses Eingriffs zu er- schutz. keller in Lübeck, Neumünster, Wachholtz, 1988. klären (SIEWERT, 1998, a, 16-17).

356 Lübeckische Blätter 2017/20 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

ren Konstruktion und Ausstattung31. Fast Lübeck, ist das wesentliche Element, dass man als Denkmale bezeichnete und zu 2000 „Kulturdenkmale“ und mindestens es „einen Zeugnischarakter für vergan- denen man die Kunstwerke hinzufügte, 1000 andere Gebäude mit „Denkmalei- gene Zustände in einer aktuell veränder- also mit dem künstlerischen und archi- genschaften“, besonders im Untergrund ten Gegenwart aufweist“ (SCHNEIDER, tektonischen Erbe. Davon legen auch die oder unter den jüngeren Putzschichten der 2012,11-17). Manfred Finke dagegen be- ersten Maßnahmen zur Restaurierung der Innenwände, sind auf diese Weise identi- steht auf der schrittweisen Ausdehnung im Zweiten Weltkrieg zerstörten Gebäu- fiziert und zugeordnet worden. Dies ge- des Begriffs „Denkmal“ von den mittel- de Zeugnis ab: Nach 1945 bemühte man schah unter Zusammenarbeit zahlreicher alterlichen Kirchen bis zu Bürogebäuden sich vorrangig und soweit möglich um Fachleute verschiedener Disziplinen und der Gegenwart (FINKE, 2006, 9-10). die identische Rekonstruktion der go- mit der Hilfe von Historikern, die Doku- Für beide Autoren sowie für Doris tischen Kirchenbauten; als deren letzte mente aus den Beständen der Archive aus- Mührenberg sind die „Kulturdenkmale“ wurde St. Petri erst in jüngerer Zeit wie- werteten (Untersuchung der Nachlassver- Lübecks keineswegs beschränkt auf mo- der für das Publikum geöffnet (FINKE, zeichnisse, der Register der Brandschutz- bile oder immobile Güter der vorindus- 2006, 130-132). Das „Holstentor“ und versicherung etc.). triellen Zeit, die allein als Welterbe der das Rathaus als weitere wohlbekannte Das Land Schleswig-Holstein leiste- UNESCO anerkannt wurden (MÜHREN- Zeugen aus der Gründungszeit der be- te wirkungsvolle Unterstützung für diese BERG, 2012 b, 18-21): zur Kategorie rühmten hanseatischen Backsteingotik Inventarisierung, die so weit wie möglich der „Kulturdenkmale“ wird zum Beispiel (FINKE, 2006, 136-151, 204-210) sind von wissenschaftlich gestützter Wieder- auch der Hafenkran der Altstadt gezählt, ebenfalls Teil der ersten Welle der iden- herstellung begleitet wird. 1992 erklärte der noch vor 40 Jahren Dienst tat, also ein tisch rekonstruierten Bauwerke, ebenso die neue Landesverordnung über die Gra- Gebrauchsobjekt einer relativ jungen Ver- der Dom, dieser mächtige romanische bungsschutzgebiete die Gemarkung Innere gangenheit. Bau mit seinen gotischen Erweiterungen Stadt der Lübecker Altstadt zum eng ge- Das Beispiel Lübeck macht bewusst, (FINKE, 2006, 100-113). Auch in den schützten Bezirk: In diesem Umkreis ist dass Kulturdenkmale seit ihren Ursprün- nicht von den Kriegsbombardierungen künftig kein Eingriff über der Erde oder im gen aufeinanderfolgen, sich überlagern, betroffenen Stadtteilen versuchte man Boden sowie innerhalb und außerhalb der sich ersetzen, und dass sie einen Schutz vorrangig die Kirchen zu schützen, wie Gebäude mehr möglich ohne Zustimmung als Zeugen der fortlaufenden Epochen der die gotische Katharinenkirche, deren der städtischen Archäologen und Denk- Stadtgeschichte verdienen. Außer dem Fassadennischen man in der ersten Hälf- mal-Fachleute. Dieses neue Gesetz änder- Kran aus dem 20. Jahrhundert schützt die te des 20. Jahrhunderts sehr gelungen mit te im Übrigen nichts an der bestehenden Stadt daher auch, am zentralen „Markt- Figuren des Bildhauers Ernst Barlach Situation und lässt der Stadt ihre völlige platz“ und neben berühmten gotischen versehen hatte (FINKE, 2006, 176-190. Eigenständigkeit in der Denkmalpflege. Bauwerken wie der Marienkirche und Einige Häuser wurden ebenfalls recht Am Übergang zum 21. Jahrhundert dem Rathaus, ein banales Gebäude der schnell wiederhergestellt oder in Museen befand sich Lübeck daher in einer – jeden- 1950er Jahre, den Rathaushof, der als umgewandelt33. falls für Deutschland – ziemlich außerge- Zeuge der Zeit des Wiederaufbaus nach In den bedeutendsten Museen dieser wöhnlichen Situation: Innerhalb einer mit- dem Zweiten Weltkrieg erhalten wird Wiederaufbauphase, wie dem Holstentor telgroßen deutschen Stadt (etwa 215.000 (SCHNEIDER, 2012 a, 17, Abb. 7). oder dem St. Annen-Museum, wird ein Einwohner) genoss die alte „Hansestadt“ Die Archäologie hat viel zur Weiter- großer Teil der Kunstwerke aufbewahrt, Sonderrechte, weil von den etwa 4000 entwicklung des Begriffs des Kulturdenk- die früher die Kirchen oder andere Denk- zu ihr zählenden Gebäuden im Stadtkern mals beigetragen: die Gebrauchsgegen- male schmückten, so die gewaltigen Wer- mindestens drei viertel die Eigenschaft stände aus Zeiten mit geringen oder gar ke des Bildhauers und Malers Bernt Notke von „Kulturdenkmalen“ beanspruchen keinen schriftlichen Zeugnissen (Vorge- (Ende des 15. Jahrhunderts), dessen Tri- können32. Daher soll hier der Begriff des schichte, Beginn des Mittelalters), wie umphkreuz erst spät seinen Platz im Dom „Kulturdenkmals“ in seiner Entwicklung, zum Beispiel Küchenutensilien, Ausstat- wieder einnahm. Dort finden sich auch seinem Verständnis und seiner heutigen tungsreste einschließlich der mittelalterli- Objekte aus den archäologischen Grabun- Praxis näher erläutert werden. chen Kloaken (SCHNEIDER, 2012 a, 13, gen oder auch Möbel und andere häusli- Abb.3), werden in Lübeck als kulturelles che Gebrauchsgegenstände als Zeugnisse Das kulturelle Erbe und sein Erbe wertgeschätzt. Man misst ihnen so- des täglichen Lebens in der Hansestadt im Management gar die gleiche oder mehr Bedeutung zu Mittelalter oder der Neuzeit. als den „klassischen“ schriftlichen oder Jedenfalls wurde bis in die Jahre 1970 1. Wie ist ein „Kulturdenkmal“ zu bildlichen Quellen, da diese Zeugnisse – 1980 die Altstadt noch nicht als ein in definieren? aus dem Untergrund, aus Abfällen oder ihrer Gesamtheit zu bewahrendes Erbe Für Manfred Schneider, den derzei- Hinterlassenschaften, die von ihrer Be- verstanden. Erst allmählich wuchs das tigen Leiter des Bereichs Archäologie in schaffenheit her nicht dazu bestimmt Bewusstsein, dass die Stadt ein Ganzes waren, von einer Öffentlichkeit gesehen, ist und dass es nicht genügt, einige wert- gelesen oder bewundert zu werden, umso volle Denkmale und typische Häuser oder 31 Der erste Teil dieses „Denkmalplans Altstadt“ aussagekräftiger über das tägliche Leben wurde unter der Leitung von Horst H. SIEWERT 33 Unter diesen Häusern befindet sich auch das der veröffentlicht in der Reihe Denkmalpflege in vergangener Epochen sind. Familie Mann, das 1942 zerstört wurde, dessen Lübeck, Band 3, Schmidt Römhild, Lübeck, 2000. Fassade aber gerettet werden konnte. Bekannt als 32 Manfred SCHNEIDER (2010, 121) spricht vom 2. Die Schätze des Lübecker Erbes: von Buddenbrookhaus nach dem Titel des berühm- Lübecker Sonderweg im Hinblick sowohl auf den Denkmalen zu Knochen testen Romans Thomas Manns, beherbergte es außergewöhnlichen Reichtum des Erbes als auch zunächst eine Bank, wurde aber 1993 eine For- auf die Besonderheit seines Managements / seiner Lange Zeit wurde das kulturelle Erbe schungs- und Gedenkstätte für die Brüder Hein- Verwaltung. der Stadt gleichgesetzt mit dem, was rich und Thomas Mann.

Lübeckische Blätter 2017/20 357 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

für das allgemeine Publikum zugänglich tatsächlich wichtigste Zuwendungsge- sind dagegen die verschiedenen bei den ber ist außer der Stadt Lübeck selbst zu- Grabungen ans Tageslicht gekommenen nächst der sogenannte Bund: nach Ber- Überreste, darunter besonders die organi- lin belegt Lübeck die zweitgrößte Posi- schen Materialien, Holzstücke oder Kno- tion bei den Ausgaben der Bundesregie- chen; diese werden sorgfältig in dem der- rung für das Erbe. Das Land Schleswig- zeit wichtigsten archäologischen Depot Holstein spielt ebenfalls eine führende Nordeuropas konserviert35. Diese Fund- Rolle, besonders mit der Universität stücke gelten als extrem wertvoll, denn sie Kiel (RUPP, 2008, 209-215). Die DFG ermöglichen – dank der Dendrochronolo- (Deutsche Forschungsgemeinschaft), gie oder der C-14-Methode – eine genaue das deutsche Gegenstück zum CNRS Datierung der archäologischen Schichten (Centre national de la recherche scienti- mit den darin gefundenen Objekten und fique, deutsch: Nationales Zentrum für selbst die Erforschung von Ernährung wissenschaftliche Forschung) hat ihrer- und Krankheiten der ersten Bewohner der seits ab den 1970er Jahren die multidis- Stadt (SCHALIES, 2012, 37). ziplinären Forschungsarbeiten zum Lü- becker Profanbau stark unterstützt. Zu- 3. Das Management des Lübecker dem haben die DFG und die Universität Erbes: ein beispielhaftes Modell Kiel das von Annegret Möhlenkamp Wie wir gesehen haben, hat die lang- (MÖHLENKAMP & alii, 2002) geleite- jährige Entwicklung – und besonders te Forschungsprojekt über die Innenaus- Ein Wettbewerb der Photographischen im Jahrzehnt vor 1987 – des Lübecker stattung Lübecker Häuser (Wand- und Gesellschaft lud ein, Motive im Domvier- Erbes in seiner ganzen Bedeutung zu Deckenmalereien in Lübecker Häusern tel zu suchen. Eine Serie prämierter Auf- einem wirklichen Forschungsgegen- 1300 bis 1800) von 2005 bis 2008 finan- nahmen findet man in der Publikation: stand erheblich zur Aufnahme der Stadt ziert. Sehr wichtig ist auch die private „Der Wagen“. Lübecker Beiträge zur Kul- in die WHL beigetragen. Dennoch sind Förderung: Die Volkswagenstiftung hat tur und Gesellschaft, 2016 (Foto: J. Reif) die von der UNESCO gewährten Kredi- in den Jahren 1970-1990 die ersten gro- te bis heute eine zu vernachlässigende ßen Untersuchungen über Wohnbau und Objekte zu retten, sondern dass es wichtig Finanzgröße gemessen an den hohen Profanarchitektur in Lübeck finanziert; ist, das alte Erbe vollständig zu erhalten Summen, die von der wissenschaftli- aber auch einzelne andere Förderer – vorausgesetzt, es hat seine Authentizi- chen Erforschung dieses außergewöhn- und private Stiftungen wie die Possehl- tät bewahrt. Dieses Bewusstsein hat das lichen Erbes abgeschöpft wurden36. Der Stiftung haben gleichermaßen in die Welterbe-Komitee 1987 fördern und be- Erhaltung und Erforschung des künstle- lohnen wollen. einem kürzlich wiederbebauten Areal des Grün- rischen und archäologischen Erbes der Die herausragende Bedeutung, die dungsviertels die alten Fundamente des ursprüng- Stadt investiert. die UNESCO den archäologischen Gra- lichen Gebäudes gezeigt hat. Im Jahr 2009 begannen auf einer Bau- bungen beimisst, hat zum Ergebnis, dass 35 Diese waren zwar teilweise ab 2003 im archäolo- stelle von ca. 9000 m² im „Gründungs- Lübeck nicht nur wegen der wunderbaren gischen Museen zu sehen, sind aber nach Schlie- ßung des Museums gegenwärtig nicht der Öffent- den Forschern (vor allem Archäologen) von den Bauten, wegen seiner Zeilen aus Giebel- lichkeit zugänglich. Behörden der Stadt, des Landes und der Bundes- und Traufenhäusern mit ihrer Stilabfolge 36 Siehe die Beiträge von SCHNEIDER (2010) und republik (Bundesinnenministerium) Hilfspersonal von der Romanik über Gotik, Renais- GLÄSER (2009). Beide bestehen darauf, dass zur Verfügung gestellt wird. sance, Barock und Rokoko bis hin zum Klassizismus als Weltkulturerbe aner- kannt wird (BEYER, 2012, 76-93), son- dern genauso als „Bodendenkmal“ – auch wenn dies den die Altstadt bewundernden Touristen nicht unbedingt bewusst ist. Die schon lange anerkannte Bedeu- tung der sichtbaren Denkmale verdoppelt sich tatsächlich durch diejenige, die in jüngerer Zeit den Reichtümern aus dem Untergrund zukommt: die romanischen oder gotischen Fundamente und Keller von Häusern des späten Mittelalters, der Renaissance oder des Barock werden heu- te im Zuge der Grabungen nach und nach freigelegt und die Archäologen versuchen von nun an, diese auch den Augen der Touristen zugänglich zu machen34. Nicht

34 Siehe insbesondere FINKE (2006, 43-72); ich danke Herrn Dr. Manfred Schneider, der mir in Ganganlage in der Wahmstraße (Foto: Helgard Quandt, PGL)

358 Lübeckische Blätter 2017/20 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

Fischergrube 20: Szene aus der ersten und ältesten Darstellung des Bilderzyklus „Verlorener Sohn“ in einem Bürgerhaus, um 1330: Der verlorene Sohn wird aus dem Bordell vertrieben (Foto: © Fachbereich Denkmalpflege)

viertel“ die umfangreichsten jemals in Eine der von der UNESCO gestellten zu; das erste Heft erschien unter dem Lübeck vorgenommenen archäologischen Bedingungen für die Aufnahme Lübecks bewusst gewählten Titel „Lübeck. Alt- Grabungen. Zunächst für eine Dauer bis in die WHL war die Verpflichtung, die stadt. Weltkulturerbe.“, und das zweite Ende 2013 vorgesehen, kommen sie erst Forschungsergebnisse zu veröffentli- von 1998 heißt „Zehn Jahre Weltkul- jetzt zum Abschluss. chen und auszustellen. turerbe“. Das dritte Heft (2000) ist dem Für diese beiden sowohl verbun- Tatsächlich legte man in der Stadt oben erwähnten Denkmalplan Altstadt denen wie komplementären Aufgaben schon seit langem Wert auf Veröffentli- gewidmet, und das vierte von 2002 („Ge- waren lange Zeit zwei parallel arbei- chungen. Seit den 1970er Jahren veröf- schichte in Schichten“) erstattet Bericht tende Behörden zuständig: die eine für fentlicht die Zeitschrift für Lübeckische über die innere Ausstattung alter Häuser den Schutz des gebauten Erbes (Amt Geschichte und Altertumskunde am Ende in Lübeck und anderen Städten (insbe- für Denkmalpflege), die andere für die jedes Jahreshefts einen Tätigkeitsbericht sondere in den Hansestädten Stralsund, Archäologie (Amt für Vor- und Frühge- zum Erhalt des (Denkmal-) Erbes. Hinzu Riga und Tallinn)39. Die Themen der schichte). 2007 wurden die beiden Ein- kam seit 1985 ein gleichartiger Bericht Hefte beziehen sich teilweise auf Kol- richtungen zusammengefasst zum „Be- über die Ergebnisse der archäologischen loquien, die 1991 in Bad Segeberg und reich Archäologie und Denkmalpflege“ Grabungen; alle diese Berichte sind her- 2000 in Lübeck abgehalten wurden und unter der Leitung von Prof. Manfred vorragend illustriert und dokumentiert. sich speziell mit den Auswirkungen der Gläser. Als dieser 2016 in den Ruhe- Zu den Publikationen, etwa des Ver- Eintragung Lübecks in die WHL be- stand ging, spaltete sich der bis dahin an lags Charles Coleman38, und den oben fassten. Seit 1995 wird alle zwei Jahre einem Standort vereinte „Bereich“ wie- erwähnten Sammelreihen „Lübecker in Lübeck ein internationales Kolloqui- derum in zwei Teile unter zwei verschie- Schriften zur Archäologie und Kultur- um zur Stadtarchäologie durchgeführt denen Leitungen37, und mit getrennten geschichte“ sowie „Häuser und Höfe in (SCHNEIDER, 2010, 122). Derzeit wer- Anschriften auf; beide Abteilungen ar- Lübeck“, trat ab 1993 die Broschüren- den die Dokumente des 10. dieser Kollo- beiten jedoch weiterhin einvernehmlich Reihe „Denkmalpflege in Lübeck“ hin- quien veröffentlicht. und in Abstimmung zusammen. 38 In dieser Sammlung sind hervorzuheben das Ge- 37 Für das Denkmalerbe Dr. Irmgard HUNECKE, meinschaftswerk von Manfred FINKE, Robert 39 Denkmalpflege in Lübeck, 4: Geschichte in für die Archäologie Dr. Manfred SCHNEIDER. KNÜPPEL, Klaus MAI, Ulrich BÜNNIG (1989), Schichten. Wand-und Deckenmalerei im städ- Ich danke den beiden und ebenso ihren Mitarbei- Historische Häuser in Lübeck, Lübeck, Coleman, tischen Wohnbau des Mittelalters und der frü- tern für ihren warmherzigen Empfang und die mir oder auch Russalka NIKOLOV, Das Burgkloster hen Neuzeit, (MÖHLENKAMP/KUDER/AL- gewährte großzügige Unterstützung. zu Lübeck, Lübeck, Coleman, (1992). BRECHT, 2002)

Lübeckische Blätter 2017/20 359 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

Eine andere Reihe von fachlich fun- Stadt anfertigte (KOMMER, 1993; BRIX, Bausubstanz haben es ermöglicht, zu ei- dierten Beiträgen, erschienen zwischen 1981, 207-222). ner erheblich genaueren Geschichte dieser 1997 und 2005 in den „Bürgernachrich- Um 1900 entstanden Museen, die der Architektur und ihrer Nutzung in frühe- ten“ der schon erwähnten Initiative „Ret- Geschichte des Wohnens und des tägli- ren Zeiten der Hanse zu kommen. Neu- tet Lübeck“ (BIRL), wurde 2006 von chen Lebens in der Hansestadt gewidmet ere Forschungsarbeiten über die innere Manfred Finke in einem wunderschön sind: das „Schabbelhaus“ wurde 1906 Ausstattung alter Häuser haben ca. 1600 illustrierten Band versammelt, in dem die eingerichtet (zerstört 1942) und 1915 er- bemalte Holzdecken, Wände und Trep- jüngsten Entdeckungen zum baulichen öffnete das „St. Annen-Museum“ in ehe- penanlagen in mehr als 600 untersuchten Erbe Lübecks detailgenau analysiert und maligen Kloster- und Armenhausräum- Häusern hervorgebracht. Die Ergebnisse fotografisch wiedergegeben werden (FIN- lichkeiten. Dieses Museum für Kunst und dieser Entdeckungen mit dazugehörigen KE, 2006). Kultur dient seither auch der Erforschung kunst- und kulturgeschichtlichen Unter- Außer diesen Kolloquien oder parallel der Kunstgeschichte (KOMMER, 1993, suchungen sind dank der finanziellen Un- dazu wurden zahlreiche wissenschaftli- 78-79). terstützung der Possehl-Stiftung40 online che Ausstellungen durchgeführt, die hier Zu Beginn der 1920er Jahre gelang veröffentlicht worden (www.wandmale- nicht aufgeführt werden können. Auch es, ein 1770-1780 im klassizistischen Stil rei-luebeck.de). die Geschichte der Museen in der alten errichtetes Kaufmannshaus zu dem spe- Den größten Ertrag der neueren Ar- Hauptstadt der Hanse können wir hier nur ziell der „modernen“ Kunst gewidmeten beiten haben aber die Geschichte des sehr kurz darlegen. Wie die schon gezeig- Museum Behnhaus umzugestalten. Erst- Ursprungs der Stadt – also die „vorhan- te Politik des Denkmalschutzes in Lü- mals zeigte sich damit in Lübeck ein In- seatische“ Geschichte – und diejenige beck geht auch diese Geschichte auf den teresse an einer jüngeren Epoche als dem der Frühphase der Hanse (12. und 13. Anfang des 19. Jahrhunderts zurück, als Mittelalter und der Renaissance. Im Jahr Jahrhundert) gehabt, wobei die archäo- die Pflicht eingeführt wurde, Kunstwerke 1950 wurde schließlich das Holstentor als logischen Grabungen eine Art „Revolu- aus Kirchen unter dem Schutz des Senats stadtgeschichtliches Museum eingeweiht. tion der Geschichtsschreibung“ ausgelöst in der Katharinenkirche aufzubewahren; haben. Denn im Gegensatz zur früheren dieses Depot bildet den Grundstock des Schlussfolgerung: Geschichte These, die die Gründung der Stadt Mit- heutigen Museums für Kunst und Kultur. des Erbes, Erbe und Geschichte te des 12. Jahrhunderts auf unbesiedel- Dieser Fundus wurde bereichert um die tem Gebiet hauptsächlich dem Handeln Sammlungen an Zeichnungen, Radierun- Die seit langem und ganz besonders im gen und Lithografien, die Carl Julius Mil- letzten halben Jahrhundert durchgeführten 40 Zu Emil Possehl und seiner Stiftung (1919) siehe de von Häusern, Kirchen und Mauern der wissenschaftlichen Arbeiten zur Lübecker KOMMER (1993, 80).

Ein freigelegter Holzkeller im Gründungsviertel: Man sieht zwei abgeteilte Räume, Verfüllung teilweise schon entfernt, man sieht die Deckenbalken, ein Rähm; im Vordergrund verbliebene Bodenbohlen. (Foto: © Fachbereich Archäologie)

360 Lübeckische Blätter 2017/20 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

zweier Herrscher (zunächst Adolf von Das machte auch eine neue Aufklärung KNÜPPEL Robert (2007), „Die Hanse – Ausdruck europäischen Denkens“, in: Magazin für Denk- Holstein, dann Heinrich der Löwe, Her- über die Zivilisation der Städte der Ost- malkultur in Deutschland, www.monumente-on- zog von Sachsen) und einer Gruppe von see – dieses Mittelmeers des Nordens – line.de/de/ausgaben/2007/1/ (Interview). Kaufleuten zuschrieb, ist entdeckt wor- möglich, eine Zivilisation, die lange vor KOMMER Björn R. (1993), „Lübeck: Stadtver- ständnis und Stadtdenkmal“, in: Lübeck Altstadt den, dass an der Stelle Lübecks bereits der Zeit aufkam, da Lübeck „Königin der Weltkulturerbe. Ansprüche an ein Denkmal, eine slawische Siedlung im Zentrum der Hanse“ war, und die diese Zeit noch lange Denkmalpflege in Lübeck 1, S. 74-86. Halbinsel bestanden hatte, die auf ihrer danach überlebte. MÖHLENKAMP Annegret, KUDER Ulrich, ALBRECHT Uwe (2002) (Hrsg.), Geschich- Nordseite eine erste Befestigung aufwies, te in Schichten. Wand-und Deckenmalereien von der einige Reste gefunden worden Bibliographie im städtischen Wohnbau des Mittelalters und der Neuzeit. Internationales Symposium 2000, sind. Ab der Mitte des 12. Jahrhunderts ARNDT Hans-Jochen (1993), „ Das Weltkulturerbe Denkmalpflege in Lübeck, 4, Lübeck, Schmidt- Lübeck als Herausforderung für die Wirtschaft „ erfolgte die schrittweise Ausdehnung des Römhild. in: Lübeck Altstadt Weltkulturerbe, Ansprüche an bebauten Gebiets, vor allem durch Tro- MÜHRENBERG Doris (2012 a), „Archäologie und ein Denkmal, Denkmalpflege in Lübeck 1, S. 40-41. Denkmalpflege. Von der ersten Verordnung 1818 ckenlegung der sumpfigen Bereiche zum BEYER Wolfgang (2012), „ Kleine Stilkunde - Vom bis heute“, in: GLÄSER Manfred (Hg), Denkma- Mittelalter bis heute“, in: GLÄSER Manfred Fluss hinunter. le in Lübeck. Ein Leitfaden für Sanierung, Pflege (Hrsg.), Denkmale in Lübeck. Ein Leitfaden für Die weiteren wissenschaftlichen Ar- und Nutzung, Lübeck, S. 4-10. Sanierung, Pflege und Nutzung, Lübeck, S. 76-93. MÜHRENBERG Doris (2012 b), „Nicht nur Altstadt beiten aller Art seit 1987 haben daher das BOURDIN Alain (1984), Le patrimoine réinventé, und Weltkulturerbe – Vom Grabhügel zum Was- Paris, PUF. alte Erbe und die Geschichte der Hanse- serturm“ in GLÄSER Manfred (Hrsg.), Denkmale BOUTEILLER Michael (1993), „Weltkulturerbe stadt, insbesondere deren Anfänge, weit- in Lübeck. Ein Leitfaden für Sanierung, Pflege ‚Lübecker Altstadt‘, Konvention und Konse- und Nutzung, Lübeck, S. 18-21. aus besser bekannt gemacht und zur Gel- quenz“, in: Lübeck Altstadt Weltkulturerbe. An- PELUS-KAPLAN Marie-Louise, PELISSIER Alain sprüche an ein Denkmal, Denkmalpflege in Lü- tung gebracht. Diese neuen Erkenntnisse (2008), „De la ville hanséatique de Hambourg à beck, 1, S. 8-20. lassen nun aber die Aufmerksamkeit nicht Harbourpolis. Choix anciens et projets actuels BRACKER Jürgen, HENN Volker, POSTEL Rainer d’une grande ville cosmopolite“, in: VALLAT über der hanseatischen Vergangenheit ‚er- (1998) (Hrsg.), Die Hanse. Lebenswirklichkeit Jean-Pierre (Hrsg.), Mémoires de patrimoines, und Mythos, Lübeck, Schmidt-Römhild. starren‘, sondern wirken sich auf die Ge- Paris, L’Harmattan, S. 273-291. CHAUDRON Martine (2008), „Le patrimoine samtheit der Stadtvergangenheit aus: die POULOT Dominique (2006), Une histoire du patri- mondial de l’Humanité. Un état des lieux (1972- moine en Occident (XVIIIe-XXIe siècle). Du mo- Stadt begnügt sich nun nicht mehr damit, 2006)“ , in: VALLAT Jean-Pierre (Hrsg.), Mé- nument aux valeurs, Paris, PUF. moires de patrimoines, Paris, L’Harmattan, S. die Stadtinsel zu schützen, sondern stellt, RUPP Peter (2008), „La gestion du patrimoine 171-190. wie schon gezeigt, verschiedene „Denk- architectural en Allemagne : aspects instituti- CIESLAK Edmund, BIERNAT Czeslaw (1995), onnels“ , in: VALLAT Jean-Pierre (Hrsg.), Mé- male“ der neuen Stadt unter Schutz, die History of Gdansk (2nd ed.), Gdansk moires de Patrimoines, Paris, L’Harmattan, S. DOLLINGER Philippe (1964) (rééd. 1988), La nicht in der WHL aufgeführt sind. Bei- 201-215. Hanse (XIIe-XVIIe siècles), Paris, Aubier spiele sind der Bahnhof (Gebäude des SCHALIES Ingrid (2012), „Vom richtigen Umgang FALGUIERES Patricia (1997): „Casuistique et en- mit archäologischen Funden und Befunden“, in: Jugendstils), die neogotische Wasserkunst cyclopédie : la convention du patrimoine mondial GLÄSER Manfred (Hrsg.), Denkmale in Lübeck. et son évolution“, in: NORA Pierre (Hrsg.), Sci- und die Friedhöfe (insbesondere der jü- Ein Leitfaden für Sanierung, Pflege und Nutzung, ence et conscience du patrimoine, Paris, Fayard, dische Friedhof mit seinen seit 1724 er- Lübeck, Schmidt-Römhild, S. 34-37. S. 297-304. SCHNEIDER Manfred (2010), „Auf eigenen Wegen haltenen Grabsteinen). Auf dem Lübecker FINKE Manfred, KNÜPPEL Robert, MAI Klaus, – Archäologie und Bodendenkmalpflege in der Stadtgebiet sind auch prähistorische Grä- BÜNING Ulrich (1989), Historische Häuser in Hansestadt Lübeck“, in: Archäologische Nach- Lübeck, Lübeck, Coleman. ber (Megalithgräber) denkmalgeschützt. richten aus Schleswig-Holstein, S. 120-123. FINKE Manfred (2006), UNESCO Weltkulturerbe. In der Umgebung der Stadt stehen beson- Altstadt von Lübeck. Stadtdenkmal der Hansezeit, SCHNEIDER Manfred (2012 a), „Was ist ein Kul- ders unter Schutz: das Fischerdorf Goth- Neumünster, Wachholtz. turdenkmal?“, in: GLÄSER Manfred (Hrsg.), Denkmale in Lübeck. Ein Leitfaden für Sanie- mund mit seinen reetgedeckten Häusern GLÄSER Manfred (2009), „Archäologie und Denk- malpflege als Wirtschaftsfaktoren“, in Lübecki- rung, Pflege und Nutzung, Lübeck, S. 11-17. aus dem 18. und 19. Jahrhundert, das Se- sche Blätter, 20, S. 321-330. SCHNEIDER Manfred (2012 b), „Ausgrabung und gelschiff „Passat“ in Travemünde (gebaut GRAICHEN Gisela, HAMMEL-KIESOW Rolf, Bauforschung – notwendig oder überflüssig?“ in: GLÄSER Manfred (Hrsg.), Denkmale in Lübeck. 1911), sowie nahe Schwartau die slawi- HESSE Alexander (2011), Die Deutsche Hanse. Eine heimliche Supermacht, Reinbeck bei Ham- Ein Leitfaden für Sanierung, Pflege und Nutzung, sche Siedlungsstätte Alt-Lübeck (Liubi- burg, Rowohlt. Lübeck, S. 30-33. ce) (MÜHRENBERG, 2012,19-21, Abb. GRASSMANN Antjekathrin (1988) (Hrsg.), Lü- SIEWERT Horst H.(1998 a), „Eine Bilanz: 10 Jah- 2, 4 ,5). beckische Geschichte, Lübeck, Schmidt-Römhild. re Weltkulturerbe Lübeck“, in: Denkmalpflege in GRASSMANN Antjekathrin (2001) (Hrsg.), Aus- Lübeck, 2, S. 14-20. Die Eintragung in die WHL beflügelte klang und Nachklang der Hanse im 19. und 20. SIEWERT Horst H. (1998 b), „Weltkulturerbe in also eine wissenschaftliche und kulturelle Jahrhundert, (Hansische Studien, Bd. 12). Deutschland“, in: Denkmalpflege in Lübeck, 2, S. Dynamik, von der die gesamte Vergan- HAMMEL Rolf (1988), „Denkmalpflege und Stadt- 32-38. bilderhaltung. Ein Beitrag über das Wirken der SIEWERT Horst H. (2000) (Hrsg.), Denkmalplan genheit der Stadt und ihrer Umgebung Gesellschaft zur Beförderung Gemeinnütziger Altstadt, in: Denkmalpflege in Lübeck 3, Lübeck. profitiert. Die von Lübeck ausgehenden Tätigkeit und ihrer Tochtergesellschaften seit TORBUS Tomasz (2017) „A la recherche du passé Impulse in der Erbe-Politik erreichen in ihrer Gründung“, in: 200 Jahre Gesellschaft zur polonais. Le retour aux époques des Piast et des Beförderung Gemeinnütziger Tätigkeit in Lübeck, Jagellon dans les projets de reconstruction des ganz Nordeuropa eine breite Wirkung. 1789-1989, Lübeck, Schmidt-Römhild, S. 45-67. ‚territoires regagnés’ par la Pologne après la se- Sicher ist der Aufschwung des Tou- HAMMEL-KIESOW Rolf (1993) (Hrsg.), Wege zur conde guerre mondiale“, in: PELUS-KAPLAN rismussektors der sichtbarste aller wirt- Erforschung städtischer Häuser und Höfe. Bei- Marie-Louise, RIVIERE Dominique (Hrsg.), träge zur fächerübergreifenden Zusammenarbeit Visions urbaines de la patrimonialisation, Paris, schaftlichen und sonstigen Vorteile aus am Beispiel Lübecks im Spätmittelalter und in der Presses de l’INALCO, im Erscheinen. der WHL-Eintragung (GLÄSER, 2009; frühen Neuzeit, Neumünster, Wachholtz. ZAHN Volker (2008 a), „Am Vorabend der Altstadt- ARNDT, 1993, 40-41). Aber die Anstren- HAMMEL-KIESOW Rolf (2000), Die Hanse, Mün- sanierung“, in Hansestadt Lübeck (Hrsg.) Sa- chen, Beck. nierung und Entwicklung der Lübecker Altstadt, gungen Lübecks auf wissenschaftlichem HASSE Max (1975), Denkmalpflege in Lübeck. Das Neumünster, Wachholtz, S. 41-58. Gebiet, unterstützt und unter Beistand 19. Jahrhundert. Begleitheft für die Ausstellung ZAHN Volker (2008 b), „Aus Leitbildern werden der UNESCO, haben aus ihr die am be- im Sankt Annen- Museum, Lübeck. Pläne. Vom ‚Programmplan Altstadt‘ zum ‚Rah- HEINICH Nathalie (2009), La fabrique du patri- menplan Innenstadt‘“, in: Hansestadt Lübeck sten erforschte mittelalterliche Stadt im moine, „de la cathédrale à la petite cuillère“, (Hrsg.). Sanierung und Entwicklung der Lübecker deutschsprachigen Kulturraum gemacht. Paris, MSH. Altstadt, Neumünster, Wachholtz, S. 71-112.

Lübeckische Blätter 2017/20 361 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

Denkmaltopographie Schleswig-Holstein Band 5.1: Lübeck, Innenstadt Geschafft! Die Altstadt ist da Von Manfred Finke

1981 (!) wurden von der Vereinigung den „Denkmalplan“-Dateien und traf die stand haben, dass wir ihn sehen und damit der Landesdenkmalpfleger Programm Auswahl für die Verwendung im Buch. leben dürfen, ist Menschen zu verdanken, und Leitlinien für eine „Denkmaltopo- Von ihr stammt auch die Kartierung der die Geld und guten Willen aufbrachten graphie Deutschland“ festgelegt. Die Idee Altstadt-Bebauung. Vor dieser Leistung – ebenso aber auch der Stadt Lübeck als dazu, so ist zu lesen, entstand aus der darf, ja: muss man den Hut ziehen. zum Unterhalt verpflichteter Eigentümer Einsicht, dass die Erarbeitung verlässli- Ein Fachbuch sollte man von hinten vieler historischer Gebäude und natürlich cher, ins Einzelne gehender Inventare des lesen. Also zuerst die Benutzbarkeit: Un- auch der Amtskirche. – Im Vorwort wird Denkmalbestands heutzutage nicht mehr ter Register werden Bildnachweis, ein dazu erwähnt, dass man Monumentalbau- leistbar ist. In Lübeck hat es jedoch unter Künstler-, Architekten-, Baumeister- so- ten, beispielsweise Kirchen, „bewusst“ in dem vormaligen Denkmalamtschef Horst wie ein Orts- und Straßenverzeichnis auf- die Abfolge der Hausnummern eingebun- Siewert dazu ein Versuchs-Projekt gege- geführt, es gibt ein Glossar und natürlich den habe (Marienkirche: „Marienkirchhof ben, an dem eine Reihe von Forschern auch ein Literatur-Verzeichnis. Mit dem ohne Nummer“). Begründbar ist dieser und Architekten beteiligt war und dessen Zusatz „Auswahl“ wird signalisiert, dass Unfug nicht, denn wie in anderen kolo- Grundgedanken und Zielvorstellungen nur Publikationen aufgeführt sind, die für nialen Planstädten zeichnen sich auch 2000 unter dem Titel „Denkmalplan“ die Topographie für wichtig gehalten wer- Lübecks Kirchen durch ihre Positionie- auch publiziert wurden (1). Das Projekt den. Wenn allerdings entscheidende Lite- rung außerhalb der Fassaden-Abwicklun- wurde nachfolgend durch weitere Erhe- ratur von verdienstvollen Forschern wie gen aus. Übrigens kommen die beigege- bungen und Begehungen fortgesetzt. Die Björn R. Kommer, Wolfgang Erdmann benen Grundrisse von Kirchen, Klöstern so gesammelten Daten und Erkenntnisse und Jens Christian Holst unerwähnt bleibt und anderen Großbauten meist zu klein sind ein Grundstock für die nun vorlie- – auch wenn deren Beiträge „nur“ in und unkommentiert. Wozu sind sie da? gende Denkmaltopographie „Lübeck 1: Fachzeitschriften erschienen sind – fragt Bei der gewaltigen Fotostrecke mit Altstadt“. Als Herausgeber zeichnet der man nach der Grundlage dessen, was im kleinen und kleinsten Bildern wird man Bereich Denkmalpflege der Hansestadt Buch verhandelt wird (2). Hingegen wer- fotografisch-handwerkliche Maßstäbe Lübeck. Die Possehl-Stiftung finanzierte den auffallend viele Titel genannt, die mit nicht anlegen wollen. Man darf aber fra- „in bewährter Weise“ die umfangreiche dem Programm wenig zu tun haben. gen, ob die Bilder in dieser Form und redaktionelle Arbeit und die Drucklegung. Größe immer „Dokument“ sein können. Das Werk hat zwischen den festen Der Katalog Bei einigen Farb-Übertreibungen (rot Deckeln 800 Seiten und wiegt 3,7 Kilo. Die Präsentation des Bestands im Ka- kommt oft recht heftig) begreift man auch, Es ist zuallererst ein Dokument der Ar- talog-Teil der Topographie umfasst exakt weshalb das klassisch-neutrale Schwarz- beit. Die Autoren: Lutz Wilde verfasste 690 DIN-A4-Seiten. Bis auf wenige Aus- Weiß-Foto in der Fachschaft immer noch die Objekt-Beschreibungen, von Margrit nahmen haben wir links die Texte, rechts geschätzt wird. „Stürzende Linien“ sind Christensen stammt der allergrößte Teil Bilder. Das Layout der Bildseite sieht 4 x der Fotos. Sie sichtete auch die Bilder aus 4 (also 16) Abbildungen pro Seite vor, auf 345 Seiten wären das etwa 6.320 Bilder. Wer andere Denkmaltopographie-Bände vergleichend zur Hand nimmt, stellt fest, dass Lübeck mit dem 4 x 4 Bildraster einmalig da steht. Zwecks Auflockerung, auch um den Querformaten gerecht zu werden, sind sehr oft 2, auch 4 Bildfelder zu einem größeren Bild zusammengefasst, 6 x gibt es sogar ein Bild, das acht Raster- felder besetzt. – Die Format-Unterschiede signalisieren keine Bedeutungs-Abstufun- gen, denn viele große Hochformate zeigen oft auch Beiläufiges. Umgekehrt findet man wichtigste Objekte sehr oft im Kle- informat 53 x 48 Millimeter. Dennoch macht das Durchblättern der Bildseiten großen Eindruck: Ganz wun- derbar die vielen Einsichten in historische Innenräume und rückwärtige Höfe mit Blick auf Rückfassaden und Flügelhäuser, „Untergegangene Bauten“. Keine Er- begeisternd die vielen Bilder von norma- „Untergegangene Bauten“. Keine Er- wähnung: Früher Hausbau in Lübeck. lerweise unzugänglichen gotischen Ge- wähnung: Früher Hausbau in Lübeck. Beispielsweise Schüsselbuden 10 wölbekellern. Dass wir diesen reichen Be- Beispielsweise Hundestraße 92

362 Lübeckische Blätter 2017/20 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

in beengten Situationen kaum vermeid- werden. Dann steht nicht nur C&A in ja nicht darum, beispielsweise die wo- bar, dennoch täte vielen Bildern ein we- der Mühlenstraße unter Denkmalschutz möglich als zukünftige Denkmal-Knaller nig Korrektur gut, siehe etwa Hüxstraße (die Denkmalbehörde scharrt bereits mit vorgeführten wilhelminischen Prachtbau- 105, um bei nur einer Seite zu bleiben. den Hufen), sondern auch der P&C-Bau ten in der mittleren König-, der Breite- Noch problematischer wird es, wenn auf dem Markt. In den Anweisungen zur und der unten Mühlenstraße wegzustrei- die Proportionen dargestellter Fassaden Abfassung der Denkmaltopographie lesen chen. Im Gegenteil: Ich erwarte Hilfe im durch „Skalieren“ in die Breite verzogen wir aber: „Auf einer vollständigen Wie- Umgang damit. Sie sind vielfach immens werden. Das geschieht leider sehr oft. dergabe der topografischen Situation wer- störend, galten jedenfalls bis dato als Stör- Einige verquetschte Darstellungen seien den Einzeldenkmale wie Flächendenk- faktoren, zumindest in den von vorindu- genannt: besonders auffällig Wahmstraße male, aber auch Ensembles grundrissge- striellem Bestand bestimmten Altstadt- 54/56, 33/37, 31/33, auch Königstraße 93 treu dargestellt“. Von einer prospektiven straßen (mit wichtigen Großbauten wie u. a. m. Extrem „krass“ die Front der Ka- (vorausschauenden) Ausweisung ist nicht das Burggericht). Weshalb stehen Häuser tharinenkirche (s. Königstraße): Das tut die Rede, und Flächendenkmale sowie wie z. B. Königstraße 1-3, Schildstraße weh, weil es sich hier um Architektur von Ensembles sind derzeit nicht eingetragen, 22/30 (Loge) oder Große Burgstraße 28, „nationaler Bedeutung“ handelt. Ist doch es sei denn, man hält sich an das unscharf- 39, 47 viel besser im Straßenbild als etwa egal? Nein, ist es nicht: Das Foto soll den „flockig“ definierte UNESCO-Nomina- Mühlenstraße 68/70? Antworten dazu bit- Bauwerken dienen, nicht umgekehrt. tionsgebiet, um „alles“ mit „allen“ Be- te nicht am Objekt wie 1936/37 unter Otto standteilen als irgendwie-auch-Denkmal Hespeler, sondern auf dem Papier, also Die Qualitätsfrage vorzustellen. auch in der Topographie. Nur für das sich Die linksseitig angeordneten Texte Gewiss wird Neues auch mal alt und qualitativ Heraushebende (das auch wil- sind nahezu 1.200 oft sehr komplexe Ob- über Erhaltung muss befunden werden. In helminisch sein kann) ist Denkmalschutz jekt-Beschreibungen, inbegriffen die vie- der Vergangenheit geschah das stets unter vertretbar. Gebäude, die Denkmalschutz len Bau-Ensembles wie Gänge und Höfe, Abwägung von gegebener oder eben nicht nicht verdienen, lassen sich auch in einem die unter einer einzigen Nennung zusam- gegebener Qualität. Im erwähnten Denk- Topographie-Text unmissverständlich mengefasst sind. Man wüsste nur gern: malplan von 2000 waren noch die Rubri- klassifizieren bzw. evaluieren. Für Ge- Worüber wird hier geschrieben? Ich hätte ken Bewertung und Würdigung vorgese- wogenes und zu leicht Befundenes gibt es begrüßt, wenn bei jedem angeführten hen. In unserer Topographie scheint dage- es andere Schutzmöglichkeiten, etwa die Objekt vermerkt wäre: Rechtskräftig ein- gen „Masse statt Klasse“ zu gelten. Laut Stadtbildpflege und ihre Satzung. Und getragenes Denkmal: ja/nein. Im Vorwort Denkmalschutzgesetz gibt es fünf Konsti- wie steht‘s im Einzelfall mal mit ange- lesen wir, dass mit Absicht auf diesen tuierende von „Denkmalfähigkeit“, näm- messenem Neubau als „Zeitspur“ unserer „D-Stempel“ verzichtet wurde. Das Kar- lich der besondere geschichtliche, wissen- Gegenwart“? tenbild – Seiten 80-88 – zeigt, dass die schaftliche, künstlerische, städtebauliche Doch „erwächst ein wenig Trost „Ver-Denkmalung“ der Innenstadt ernst oder die Kulturlandschaft prägende Wert auch“ (und Vergnügen) aus der Feststel- gemeint ist. Nahezu alles Gebaute ist ein- einer von Menschen gemachten Sache. lung, dass die Texter offenkundig doch heitlich rot unterlegt, ausgenommen nur Von diesen fünf ist mindestens eine im- eine Vorstellung von Qualität besitzen. Abschnitte der zentralen Geschäftsstra- mer anführbar. Selbstverständlich gibt’s Die Bild-Erläuterungen halten sich nicht ßen. Diese Kartierung prophezeit, dass geschichtliche und wissenschaftliche durchgängig an eine wertfreie Neutrali- in 20 Jahren auch die noch verbliebenen Argumente für alles. Für künstlerische, tät: Vokabeln wie „erheblich entstellt“, grauen Signaturen durch rote ersetzt sein städtebauliche oder die Kulturlandschaft „stark beeinträchtigt“, „modernistisch“, prägende Werte wäre allerdings soetwas „erheblich gestört“, „herbe Substanzver- wie ein „wissendes Auge“ vonnöten, um luste“, „eklektizistische Ausuferungen“ sehen zu können was überhaupt „wert“ ist, „erheblicher Substanzverlust durch radi- aufgenommen zu werden. Auch die No- minierungen für die UNESCO-Welterbe- Liste fordern den Nachweis des Außerge- wöhnlichen, der Einmaligkeit (das meint „exceptionel“ im französischen Urtext). Wer das Wort besonders beiseiteschiebt, ignoriert die künstlerische, handwerkli- che, technische Leistung derer, die das Herausragende vor dem Mittelmäßigen und Beiläufigen geschaffen haben. Eine Denkmalbehörde, die nur überwacht und anweist, ohne Unterschutzstellungen im Sinne der im Gesetz verankerten „beson- deren Bedeutung“ überzeugend zu be- gründen, sägt an dem Stuhl, auf dem sie sitzt. Was dies mit unserer Denkmaltopo- „Untergegangene Bauten“. Keine Er- grafie zu tun hat? Mit der Bitte, deutliche „Untergegangene Bauten“. Keine Er- wähnung: Hausbau der Renaissance in Unterschiede zu machen, anstatt orientie- wähnung: Hausbau der Renaissance in Lübeck: Beispielsweise Kohlmarkt 13 rungslose Egalität zu postulieren. Es geht Lübeck. Beispielsweise Braunstraße 4

Lübeckische Blätter 2017/20 363 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

fertigen. Dass die Fassade Hundestraße 74 „nach steingerechtem Aufmaß“ (meint: originalgetreu) wiedererrichtet sein soll, widerlegt ein schlichter Vorher-nach- her-Vergleich. Und mehrmals kommen Nostalgie-Sanierungen der 1980er Jahre als Rückführungen auf einen ursprüng- lichen Zustand daher, obwohl dafür ein typischer, historisch gewachsener Zustand zerstört wurde, siehe Eckhaus Untertrave 39 oder Haus 5 im Torweg Dankwarts- grube 70. Darüber lesen wir: Durch „Be- seitigung der im frühen 19. Jahrhundert vorgenommenen Veränderungen dem alten backsteinsichtigen Zustand wieder angenähert“. Aus heutiger Sicht war das eine massive Vernichtung von Denkmal- Aussagen: Originale Biedermeier-Fenster mit alten Beschlägen weg, Fensterläden weg, zugehöriger Putz weg – der „origi- nale“ Backstein-Zustand ist dagegen reine Fiktion. Wer fleißig liest, wird manche Vorher: Ein Reihenhaus aus dem 16.Jahr- derartige Urteile aus grauer Vorzeit finden. Nachher: Die Denkmalpflege will Back- hundert im biedermeierlichen Gewand In einer angeblich den „aktuellen Stand“ stein – und bekommt ihn. Muss man 35 – Stadtbild-prägend in Lübeck, Beispiel referierenden Denkmaltopographie von Jahre später nicht mehr befürworten. Torweg, Dankwartsgrube 2017 sind solche Sachen „absolut obsolet“ Endlich korrigiert gehören auch die Und zum guten Schluss kale Sanierung“ wirken im Kontext des Zeilen über das Bocholt-Grabdenkmal Bleiben noch die 82 Seiten füllen- Katalogs wie Signale aus einem fremden im Dom: „Von flandrischen Vorbildern den Einführungstexte des Werkes. Zum Universum. Ebenso exotisch die wenigen beeinflusstes Hauptwerk des lübischen Grundsatzartikel Stadtanlage und Stadt- auf Hervorhebung zielenden Hinweise wie Bronzegusses, möglicherweise aus der gestalt einige Korrekturen bzw. Fragen: „bedeutendes Beispiel“, „Hauptbeispiel“, Werkstatt Johann Apengeters“. Das ist Die Kirchspiele haben sich nicht von „eines der bedeutendsten Kaufmannshäu- kein zeitgebundenes Urteil, sondern nur Süden nach Norden entwickelt, sondern ser“, „qualitätvolle Ausstattung“. – Gut so, „richtig“ falsch. Bei einem Besuch in von Westen nach Osten. – Nicht die Bebau- bitte weitermachen, möchte man da sagen. Brügge wurde uns vom Archivar das Do- ungsdichte des Kaufmannsviertels hat die kument über die Ausfuhr des bronzenen Anlage von Gängen verhindert, sondern Was früher richtig war, kann Bischofs nach Lübeck präsentiert: Dem das ambitionierte Verwertungsinteresse heute nicht falsch sein Lübecker Amt wurde dies mehrfach innerhalb des von Heinrich dem Löwen „kommuniziert“, offenbar vergeblich. privilegierten Lokatoren-Bereichs. Die Eine Denkmaltopographie darf nicht Oder eine Kleinigkeit wie diese: Der an Anlage von Gängen, die es als Bauform ganz ausblenden – sei es im Vor- oder im Engelsgrube 38/40 „anschließende Flü- anfangs wohl kaum gegeben hat, war hier Nachwort – dass die amtliche Denkmal- gel von 1911“ ist ein Neubau von 1983. auch später nie wirtschaftlich. – Weshalb pflege weniger von bunten Plänen „unserer Doch diese Kleinigkeit ist kein Einzelfall. bleibt das „Lübische Recht“, hervorgegan- Welt als Denkmal“ geleitet wird, sondern Auch Auslassungen fallen auf: Weshalb gen aus den Privilegien Heinrichs des Lö- vom jeweils waltenden Zeitgeist, von po- wird nicht erwähnt, dass der „Saal der wen, bis auf eine winzige kursorische No- litischer Marschrichtung und den Regeln Hitlerjugend“ in Salzspeicher II vollstän- tiz unerwähnt, obwohl es die wesentlichste des Verwaltungshandelns. In der Behörde dig erhalten ist? Ebenso erstaunlich, mit Rechtsgrundlage der sich im 13. Jahrhun- sitzen Menschen mit eigenen Vorstellun- welchem Stoizismus die auf Verbrechen dert verfestigenden Aufsiedlung war? – gen und Vorlieben. Wozu auch Fehler und aufgebaute „Ritterhoffassade“ der Syn- Ebenso unverständlich, dass im Abschnitt Irrtümer gehören. Für deren sprachliche agoge als „Heimatschutz“-Architektur „Untergegangene Bauten“ (worunter „Entsorgung“ liefern die Katalogtexte in weggebügelt wird. Damit entsteht eine die Denkmalpfleger die abgebrochenen, der Topographie schöne Beispiele. So der verharmlosende Wertung, die heftigen weggebombten Bauten verstehen, nicht Fall Ernestinen-Turnhalle, wo das gesamte Widerspruch hervorruft. Auch die miss- die „ertrunkenen“) die frühen Bürgerhäu- Innere der Wilcken’schen Brauhäuser En- bräuchliche Reste-Verwertung der Ruine ser insgesamt fehlen. Nichts über die gut gelswisch 17-21 durch die jahrhunderte- Fischstraße 19 am Neubau Mengstraße dokumentierten und bildlich überlieferten lange Brauerei-Nutzung praktischerweise 6 wird ungerührt als „eine Vorstellung romanisch-frühgotischen Fronten des 13. „völlig verändert“ gewesen sein soll (alle gotischer Kaufmannshäuser vermitteln- Jahrhunderts, die Lübecks Rang in der Dachwerke und Balkenlagen habe ich da- de Kopie“ hingestellt. Das Ding ist ein nordeuropäischen Hausbaugeschichte be- mals intakt über vorhandenen Brandmau- Dokument der Fortdauer von NS-Bau- gründen, ein Halbsatz nur über die heute ern angetroffen), um damit einen Totalab- „Kultur“ nach dem Kriege, darin mögen fast völlig von der Bildfläche verschwun- bruch (bis auf die nachfolgend nostalgisch Historiker gern einen Wert sehen. Was dene Lübecker Terrakotta-Renaissance. aufgebrezelten Straßenfassaden) zu recht- war noch mal eine „Kopie“? Noch weniger als nichts über die vielen

364 Lübeckische Blätter 2017/20 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987

Haus-Denkmale, die nach dem Kriege einem schlimmen bis in die späten 1970er-Jahre „unterge- Neubau der 1930er gangen“ sind. Zum „Untergang“ war in und 50er Jahre, der Regel die Zustimmung der Denkmal- hätte also grau mit pflege erforderlich. – Dass nicht-Kauf- roter Front-Linie mannshäuser, also „Kleinhäuser“ (eine sein müssen. Dage- fragwürdige Kategorie) eine „schlichtere gen ist das per Grau Ausstattung“ aufweisen, ist ein schlichtes abgewertete Haus Märchen, mit dem schon Björn Kommer Engelsgrube 50 ein aufgeräumt hat. Die Aufdeckungen der spätgotisches Gie- letzten Jahrzehnte bestätigen dies reich- belhaus mit steilem lich. – Schließlich der UNESCO-Status: Kehlbalkendach Man darf ihn ja gern als Anerkennung (eine Skizze des denkmalpflegerischer Einsichten verste- kurzzeitig freilie- hen. Aber die „Bewährungen“ kamen erst genden Hochblen- nach 1987, siehe Abbruch bzw. Ausker- dengiebels liegt im nung von 14 mittelalterlichen Häusern für Amt), das gotische eine LN-Passage mit Aussicht auf „Rote Eckhaus Engels- Karte“, siehe P&C-auf-dem-Markt, um grube 56 ist hell- nur die dicksten Brocken zu nennen. Ver- rosa als Leerfläche ständlich, dass diese Vorgänge im Text nur angegeben und En- sehr „behutsam“ angetippt werden. gelswisch 48 (voll Der Parforce-Ritt durch den bürger- rot) ist ebenfalls nur lichen Wohnbau ist völlig zu Recht der eine entstellte Fassade vor einem Neu- gewichtigen Beitrag zur gesetzlich aufer- längste Abschnitt des Baugeschichts-Ka- bau. Gut, dass dieses Kartenwerk inter- legten Öffentlichkeitsarbeit. Außerdem: pitels – und er ist für mich der überzeu- aktiv angelegt ist, so sind Änderungen Die Lübecker Denkmalpflege ist endlich gendste Teil des ganzen Unternehmens. jederzeit möglich – beispielsweise auch ihrer seit 1981 bestehenden Pflichtauf- Da merke ich, dass ich wieder in Lübeck die Eintragung der gelisteten Denkmale gabe einer amtlichen Auflistung nachge- bin: Vom überreichen Denkmalbestand in schwarz. Schließlich: Wenn in dieser kommen. Zumindest zum größeren Teil: unserer „Denkmallandschaft Altstadt“ ist Besprechung nicht explizit auf die Kir- Der 2. Band (Vorstädte, Umland und Tra- schon aus Platzgründen nicht alles an- und chen und die großen Profanbauten (Rat- vemünde) steht noch aus. vorführbar, insbesondere, was die Aus- haus z.B.; das HGH) eingegangen wur- stattung der Häuser betrifft. Also erfolgte de, bedeutet das nicht, dass dazu nichts (1) Vgl. Literaturauswahl S. 796: Hansestadt Lübeck (Hg.): Denkmalplan Altstadt (= Denkmalpflege in eine Auswahl nach offenbar doch verfüg- zu sagen wäre – es galt eine bestimmte Lübeck 3). Lübeck 2000. baren Qualitätskriterien und dem Nutzer Textmenge einzuhalten. (2) Literatur, die weiterhelfen würde: wird damit eine Orientierung geboten. Als Schlusswort sei das Vorwort wört- Björn R. Kommer: Lübeck, Nordeuropas mittelal- terliche Metropole (Broschüre zur Ausstellung im Dafür sei extra Dank gesagt. lich zitiert: „Der vorgelegte Topographie- St. Annen-Museum 1977). Es wird dem aufmerksamen Leser band soll einer breiten Öffentlichkeit den Björn R. Kommer: Das Buddenbrookhaus in Lü- aber auch bewusst, dass auf dem Gebiet aktuellen Kenntnisstand der Denkmal- beck. Lübeck 1993. Björn R. Kommer: Wenn sich alte Türen öffnen … „Ausstattung“ noch große Desiderate auf pflege vom mittelalterlichen Baubestand Lübeck 1985. die Forschung warten: Zum einen das bis zur Gegenwart vermitteln.“ Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Thema Haustür- und Oberlicht-Kunde Die „breite Öffentlichkeit“ kann die- Hansestadt Lübeck (Hg.): Kunst und Kultur Lübecks im 19. Jahrhundert. Erschienen zur Er- plus „Fenster im Laufe der Jahrhunderte“ sem Anspruch gerecht werden, indem sie öffnung des Drägerhauses 1981 (die meisten Bei- samt Verweis auf die letzten erhaltenen dieses Buch fleißig kauft: Trotz aller An- träge verfasste B. R. Kommer). Originale im Straßenbild und zweitens merkungen, die nun mal zu einer Rezen- Jens Christian Holst: Lübisches Baurecht im Mit- telalter. U. a. in: Jahrbuch für Hausforschung Bd. der überragende Bestand an historischen sion gehören, ist dieses Buch ein „Muss“, 49, Marburg 2002, S. 115 – 181. Innentreppen, insbesondere an Stabwerk- trotz der weitgefassten Auslegung von Jens Christian Holst: Steinhäuser südlich der Ost- geländern aus der Zeit um und nach 1800. Aktualität. Es leistet einen im Wortsinne see bis um 1300. In: Jahrbuch für Hausforschung Bd. 56, Marburg 2016. Man sehe sich einmal Leistungen an wie Jens Christian Holst: Ein Überblick zur mittelalter- Wakenitzmauer 14. Völlig unberührt auch lichen Baugeschichte des Lübecker Rathauses. In: das Feld Außen-Farbigkeit (Vorsicht mit Rathäuser und andere kommunale Bauten, Jahr- buch für Hausforschung, Bd. 60, Marburg 2010. der angeblich ursprünglichen „Backstein- S. 175-189. sichtigkeit“). Wolfgang Erdmann: Aspekte der Baugeschich- Die bereits angesprochene Kartie- te des Lübecker Rathauses. In ZVLGA 1988. S. 113-137. rung des Denkmalbereichs Altstadt be- Wolfgang Erdmann: Zur Diskussion um die Lübe- hauptet mit ihrem Grundton rot, den cker Marienkirche im 13. Jahrhundert. In: Zeit- Gebäudebestand exakt wiederzugeben. schrift des Deutschen Vereins für Kunstwissen- schaft 44, Berlin 1990. S. 92-111. Daran dürften auch diese Stichproben Rolf Hammel-Kiesow: Die Entstehung des sozial- aus meiner Umgebung nichts ändern: Der bronzene Bischof in seinem Domchor. räumlichen Gefüges der mittelalterlichen Groß- Große Burgstraße 24 erscheint zwar Ein Importstück aus Brügge. Kann man stadt Lübeck. In: M. Meinhardt/ A. Ranft (Hg.), Die Sozialstruktur und Sozialtopographie vorin- ganz in rot, besteht aber nur aus einer sich doch mal merken. dustrieller Städte, Berlin 2005 (Akademie-Verl.), böse misshandelten Straßenfassade vor (Foto: Dietrich Neumann, PGL) S. 139-203.

Lübeckische Blätter 2017/20 365 Musikkritiken/Meldung

Peter Wolff seit 25 Jahren in zarts geheimnisumwittertes Requiem als gehören zu den beliebtesten Werken über- Lübeck – eine Entdeckung Hauptwerk, davor Felix Mendelssohns haupt. Roberto Paternostro eröffnete das Kantate „Wie der Hirsch schreit nach dritte Saisonkonzert druckvoll mit Griegs zum Jubiläum frischem Wasser“ bildeten das passende Konzertouvertüre „Im Herbst“. Düster und Bestimmte Werke gehören gegen Programm. Die Kantorin „schaffte“ beide dräuend fächerten Dirigent und Orchester Ende des Jahres zum Repertoire der Kir- Werke in 80 Minuten, also in frischen, zü- das zerklüftete Werk auf, mit differenzier- chenmusiker. Ein seit „Ewigkeiten“ bei gigen Tempi. Einem mitreißenden Chor- ten Tempostufungen, die in der MuK auch uns nicht gehörtes Oratorium holte Peter klang kam das sehr zugute. Die Kantorei das Klavierkonzert a-Moll prägten. Wolff in St. Gertrud aus der Versenkung, bot eine überzeugende Leistung, Die In- Häufig verbreitet das Stück ein Salon- Louis Spohrs einstigen Erfolg „Die letzten tonation der einzelnen Stimmgruppen war parfüm nicht der feinsten Art, wenn die Dinge“. Der Volkstrauertag bot den pas- sauber, und auch das Orchester ging en- Pianisten offen nach Publikumswirksam- senden Rahmen für eine Besinnung über gagiert mit. keit schielen. Bei der lettischen Pianistin Tod, Vergehen und die Hoffnung auf eine Gleich sechs Namen standen auf der Lauma Skride war das ganz anders. Sie neue Welt. Wolff vereinte seine Chöre aus Liste der Gesangssolisten, weil Mendels- gab im Montagskonzert Griegs Konzert der Region, die von ihm betreuten Sänge- sohn in seiner Kantate op. 42 und nach Tiefe und Beseeltheit, spürte im ersten rinnen und Sänger der Auferstehungsge- Psalm 42 ein Quintett in der Besetzung Satz sensibel dem musikalischen Fluss meinde, von St. Philippus und St. Gertrud. für Sopran, zwei Tenöre und zwei Bässe nach, in gemäßigtem Tempo, wodurch Hinzu kamen sein Kammerchor Vocapella verlangt, die Männerstimmen also dop- der lyrisch schweifende Charakter umso und die Sinfonietta Lübeck als Orchester. pelt besetzt sind. Das „normale“ Quartett nachdrücklicher sich erschloss. Die Ka- Als Gesangssolisten hatte er Zsuzsa Be- der Solostimmen bei Mozart bestand aus denz rauschte nuanciert auf, und das Ada- reznai (Sopran), Lidwina Wurth (Alt), Hanna Zumsande (Sopran), Nicole Pieper gio entfaltete sich als kostbar zartes Stim- Hussain Atfah (Bariton) und Jan Westen- (Alt), Mirko Ludwig (Tenor) und Klaus mungsgespinst. Zündend schwirrte das Fi- dorff (Bass) verpflichtet. Ein großes Auf- Mertens (Bass). Für das Mendelssohn- nale vorüber, klaviertechnisch perfekt in gebot also für die erfreulicherweise voll Quintett kamen Svjatoslav Martynchuk den Kaskaden, schön im Zusammenspiel besetzte Kirche am Stadtpark. (Tenor) und Yannick Debus (Bass) hinzu. mit dem animierten Lübecker Orchester, Mit energischen Gesten und vorwärts- Die Hauptaufgabe unter den Solisten das der Dirigent bedachtsam führte. Sehr drängend dirigierte Wolff die Ouvertüre hatte Hanna Zumsande zu bewältigen. schön wirkte die klassisch aufgefächerte und später die Sinfonia als Einleitung Klar, in der Höhe aufblühend, stand ihr Klaviermelodik in Lauma Skrides atmo- zum zweiten Teil. In den großen Chorsät- Sopran im Kirchenraum. Auch Nicole sphärischer Zugabe. zen überzeugten die Chöre vor allem in Pieper konnte sich mit kräftigem Alt be- Drei Episoden aus Smetanas National- schwungvollen Tutti-Passagen. Die Soli- haupten. Ebenso überzeugten der höhensi- epos „Mein Vaterland“ malte Roberto Pa- sten sind bei diesem Werk immer wieder chere Mirko Ludwig und Klaus Mertens, ternostro in überaus pastosen Klangfarben mit dem Chor verzahnt. Sie haben zwar der die Erfahrung vieler Jahre gestalte- aus. Die Bergfestung „Vyšehrad“ mit den häufig Rezitative zu gestalten; längere risch einbrachte. Ulrike Gast betonte in beiden raunenden Harfen und den hym- Arien fehlen. Das Quartett der Solosänger den Chorpartien Durchschlagskraft und nischen Steigerungen, das prall emotio- stellte sich überzeugend in den Dienst des Geschlossenheit, verzahnte bei den ent- nale Naturbild „Aus Böhmens Hain und großen Ganzen. sprechenden Sätzen die Stimmen von Flur“ zwischen Polka und Verlorenheit Nach dem Schlussbeifall trat Pröp- Chor und Solisten bestens. Zum Schluss (Wagners Vorbild ist nicht zu überhören) stin Petra Kallies ans Mikrofon, um Pe- brauste trotz des eher stillen Feiertages rahmten „Die Moldau“, das unverwüstli- ter Wolff für 25 Jahre Dienst in Lübeck nach längerer Pause langanhaltender Bei- che Kabinettstück. Da raunten die Holz- zu danken. Er verstehe es immer wieder, fall auf. Konrad Dittrich bläser, strahlte das Blech und schwärm- Menschen zum Mittun zu motivieren. Ei- ten die Streicher, spukten Elfen umher, nige Chormitglieder seien seit einem Vier- Geschichten von Fjord, Fluss wurde gefeiert und getanzt. Viel Beifall teljahrhundert dabei. Über Anstellungen und Wald bei den Philharmo- für das Orchester und seinen Dirigenten. in Buntekuh und auf Marli führte ihn der Wolfgang Pardey Weg nach St. Gertrud, wo er inzwischen nikern für drei Gemeinden zuständig ist. Eine Begründer einer spezifischen Natio- Musikhochschule Sprecherin der St.-Philippus-Gemeinde nalmusik waren sie beide – Edvard Grieg betonte, dass der dreigeteilte Kirchenmu- in Norwegen, Bedřich Smetana für die Di, 19. Dezember 19.30 Uhr / Budden- siker trotz der schwierigen Koordinierung tschechische Volksgruppe im österreichi- brookhaus Lübeck keine Gemeinde vernachlässige. Gemein- schen Böhmen. In der Spätromantik bilde- Aufbrüche XIV same Aufgaben wie dieses Konzert seien ten künstlerische und nationale Interessen „Tomato is a fruit: what is a human being, dann auch gemeinsame Erfolge. häufig ein Amalgam. Doch wurzelte beider if not water“ mit Jana De Troyer und San- Konrad Dittrich Kompositionsschaffen in der deutschen ta Bukovska, Saxophon sowie Irini Aravi- und österreichischen Tradition, durch Stu- dou und Luca Musy, Schlagzeug. Bewährte Werke zum Toten- dium, Vorbilder, Förderung und bewusste Eintritt 4 Euro, Karten nur an der Abend- sonntag Orientierung. Die inhaltlich relativ leichte kasse. Fasslichkeit der Kompositionen mit folk- Ein stimmiges Konzert zum Kirchen- loristischen Einsprengseln sowie die er- jahresende bot Ulrike Gast mit der Kanto- zählende Programmatik haben der Musik Sie finden uns auch im Internet: rei und ihrer Camerata am Totensonntag eine breite Popularität beschert. Smetanas www.luebeckische-blaetter.info in St. Jakobi. Wolfgang Amadeus Mo- „Die Moldau“ und Griegs Klavierkonzert

366 Lübeckische Blätter 2017/20 Theaterkritik

Kammerspiele: „Medea oder Das goldene Vlies“ Die Zivilisation ist eine hauchdünne Schicht. Die Gier nach ersetzt sie nicht.

Die Werke des Österreichers Franz Seraphicus Grillparzer gehören nicht mehr zum Bildungsbodensatz. Der Name des 1791 in Wien geborenen und 1872 in Wien gestorben Schriftstellers ist heu- te auf Straßenschildern eher präsent als in Spielplänen. In den Kammerspielen taucht er jetzt auf. Die junge Lucia Bih- ler, Jahrgang 1988, inszeniert dort „Me- dea oder Das goldene Vlies“. Obschon verschlankt, bleibt das Drama ein mäch- tiger, 160-minütiger Kulturbrocken, dem man eine noch schlankere Form wünscht. Sehenswert ist er allemal. Das goldene Vlies und die Argonau- ten, die mit Jason an der Spitze hinter ihm her sind, das geheimnisvoll archa- ische Kolchis, in dem die zauberkundige Prinzessin Medea lebt und wo das Vlies verwahrt wird, sind dabei, im Bildungs- kanon das Zeitliche zu segnen. Es geht Sophie Pfennigstorf (Medea), Johann David Talinski (Jason) um zerstörerische Gier, mit dem das (Foto: Kerstin Schomburg) goldglänzende Widderfell die Männer infiziert, es geht um die verratene Lie- ten aus dem Publikum murrt, oder ob ge- Ulf Brauner). „Kolchis. Wilde Gegend“ be Medeas zu Jason. Und es geht um nau das ein Weg ist, den Bogen über das setzte Grillparzer an den Anfang seiner Fremdsein in anderen Kulturen. Ein 19. Jahrhundert bis in die Antike zu schla- Trilogie. In den Kammerspielen bewegen brennend aktuelles Problem also, auf gen, ist eine weitere Frage des Abends. sich die Darsteller maskenhaft geschminkt das Bihler fokussiert. Die ersten beiden Zwar ist in der Lübecker „Medea“ der und wie an Fäden gezogen durch dunkle Dramenteile, „Der Gastfreund“ und „Die Jolkos-Aufenthalt gestrichen, doch be- Urwaldkulissen. Deren Blätter und Blüten Argonauten“, lässt sie flott in einer knap- sonders zum Ende hin wünscht man sich zeigen sich auch auf den Kostümen nach pen Stunde verhandeln, um sich nach ei- mit schnellerem Morden weitere Kürzun- den eintreffenden Vlies-Jägern und später ner Pause der „Medea“ ausführlich zu gen. Langweilig allerdings ist die Insze- auf der Kleidung der Korinther: Die Zivi- widmen. Über Jolkos (das man wegen nierung nicht. Da sind allein schon die lisation ist eine hauchdünne Schicht. Die eines ungeklärten Todesfalles eilends Darsteller eine Bank, Sophie Pfennigstorf Gier nach Gold ersetzt sie nicht. verlassen musste) ist das Ehepaar Jason und Johann David Talinski, beide neu im Das Premierenpublikum dankt mit und Medea (mit dem Goldenen Vlies im Ensemble, überzeugen als verzweifelnde herzlichem Applaus. Gepäck) aus dem vermeintlich barbari- Medea und wetterwendischer Jason, Ra- Karin Lubowski schen Kolchis ins vermeintlich zivili- hel Behringer gibt sowohl in Kolchis als sierte Korinth geflüchtet. Hier tut Me- auch in Griechenland gehorsame Königs- dea alles, um sich den Gepflogenheiten töchter, hier am Rand zum Kadavergehor- anzupassen. Vergebens. Sie, die fremde sam, dort am Rand zur Durchtriebenheit. Barbarin, ist den Einheimischen suspekt. Susanne Höhne begleitet Medea als mah- Deren Misstrauen und Verachtung tref- nende Amme Gora ins Verderben. Patrick fen auch ihren Mann und die beiden Kin- Berg zelebriert als König in Korinth die der. Die Ehe wird zum Kriegsschauplatz Abwesenheit von Empathie, wenn es um und zerbröckelt. Jason hat sich in die Staatsraison geht. Und dann ist da noch griechische Prinzessin Kreusa verliebt, Robert Brandt, der zwei hässliche Eigen- Medea soll ohne Mann und Kinder das schaften brutal komisch ins Rampenlicht Testament Land verlassen, aber zuvor verraten, wo setzt: Als König von Kolchis springt ihm Pflichtteil sie das goldene Vlies versteckt hat. Sie die Goldgier aus jeder Pore, als korinthi- KANZLEI FÜR Schenkung wird zur Rivalinnen- und schließlich zur scher Herold die kalte Gleichgültigkeit ERBRECHT Testaments- Kindesmörderin. der Bürokratie. vollstreckung Ein Grillparzer als Stück der politi- Eine besondere Würdigung verdient Eschenburgstraße 7 · 23568 Lübeck schen Gegenwart? Ob man das „so nicht das Zusammenspiel von Bühne (Jana Tel. 04 51/7 50 56 Fax 04 51/7 10 31 [email protected] · www.ra-winter.de machen“ kann, wie es einsam und verhal- Wassong) und Kostümen (Josa Marx und

Lübeckische Blätter 2017/20 367 Kritiken: Musik/Literatur Kammermusik vom Feinsten Texte & Töne in der St.-Jürgen-Kapelle: „Herbst“ Das Amaryllis Quartett hat eine treue Am Anfang stand das ausdrucks- und stischen Elementen Thorsten Jessen, der Zuhörerschaft in Lübeck, auch wenn gehaltvolle und bilderreiche Sonett Herbst die Textauswahl getroffen hatte, zu Gehör beim jüngsten Konzert längst nicht alle von Antonio Vivaldi, in dem er herbstliche gebracht. Plätze im Kolosseum besetzt waren. Wahrnehmungen zu einem kunstvollen „Tanz und Gesang der Landleute“, Wer sich vom kühlen Novemberwetter Mosaik formt. Es folgte das Gedicht Es „Die schlafenden Zecher“ und „Die Jagd“, abhalten ließ, hat etwas verpasst. Gustav knospt von Hilde Domin. In seinem Poem alle aus Antonio Vivaldis berühmtem Frielinghaus (1. Geige), Lena Sandoz Herbst dekonstruiert Theodor Storm ein- Opus „Der Herbst“, wurden als musikali- (2. Geige), Tomoko Akasaka (Viola) drucksvoll die scheinbare Idylle und die sche Ergänzung eindrucksvoll präsentiert. und Yves Sandoz (Cello) hatten sich heile Welt dieser brüchigen Jahreszeit. Schließlich erklangen das triste und me- diesmal Verstärkung mitgebracht. Für Die berühmten Gedichte Welkes Blatt, lancholische Stück „Von der Melancholie zwei der reifsten Quintette von Mozart September und Im Nebel Hermann Hes- des Zweiflers“ von Tilo Medek mit dunk- und Brahms war die erfahrene Japanerin ses, des „letzten Ritters der Romantik“ , len und schwermütigen Tönen und das Nobuko Imai als weitere Bratscherin mit sind weise, tief- und hintergründig. Der meditativ-besinnliche Werk „Nun ruhen dabei; ins Spiel integriert, als wäre sie Literaturnobelpreisträger gestaltet dabei alle Wälder“ von August Gottfried Ritter. schon jahrelang Mitglied der Formation. mit treffsicheren Reimen das Vergänglich- Thorsten Jessen, rezitierte einfühlsam Mozarts c-Moll-Quintett (KV 406) keitsbewusstsein im Herbst. Das Gedicht und akzentuiert. Johannes Lenz spielte an stand am Anfang, eines von zwei Wer- Ich sah den Wald sich färben von Emanuel der Orgel. Viel Beifall. Lutz Gallinat ken für diese Besetzung, die bei Mozart Geibel ist naturreligiös inspiriert: in einer Moll-Tonart stehen. Aber nicht Geschichten von Fjord, lastende Schwermut kennzeichnete Fluss und Wald bei den die Wiedergabe, sondern Kraft und be- Ich sah den Wald sich färben Philharmonikern herztes Zupacken, im Schlussteil sogar sprühende Lebendigkeit. In der gleichen Ich sah den Wald sich färben, Begründer einer spezifischen Natio- Besetzung erlebten die Zuhörer das F- die Luft war grau und stumm; nalmusik waren sie beide – Edvard Grieg Dur-Quintett von Johannes Brahms (op. mir war betrübt zum Sterben, in Norwegen, Bedrich Smetana für die 88). Auch hierbei gestalteten die Musi- und wusst‘ es kaum, warum. tschechische Volksgruppe im österreichi- ker und Musikerinnen auf dem Podium schen Böhmen. In der Spätromantik bil- die Sätze in fast unglaublicher Homoge- Durchs Feld vom Herbstgestäude deten künstlerische und nationale Inte- nität. Übereinstimmung herrschte nicht her trieb das dürre Laub; ressen häufig ein Amalgam. Doch wur- nur bei der Umsetzung des Notenma- da dacht‘ ich: deine Freude zelte beider Kompositionsschaffen in der terials, sondern selbst beim Atmen und ward so des Windes Raub. deutschen und österreichischen Tradition, Phrasieren. Überaus stürmisch und doch durch Studium, Vorbilder, Förderung und blitzsauber klang das Werk mit dem Al- Dein Lenz, der blütenvolle, bewusste Orientierung. Die inhaltlich re- legro energico aus. dein reicher Sommer schwand; lativ leichte Fasslichkeit der Kompositio- Zwischen diesen beiden Perlen der an die gefrorne Scholle nen mit folkloristischen Einsprengseln so- Literatur stand ein neues Werk des 1955 bist du nun festgebannt. wie die erzählende Programmatik haben geborenen Japaners Toshio Hosokawa. der Musik eine breite Popularität beschert. Der Titel des Stückes gab dem ganzen Da plötzlich floss ein klares Smetanas „Die Moldau“ und Griegs Kla- Abend die Überschrift, nämlich Blos- Getön in Lüften hoch; vierkonzert gehören zu den beliebtesten soming – Blühen. Bei Hosokawa, so ein Wandervogel war es, Werken überhaupt. Roberto Paternostro legt es eine Satzbezeichnung nahe, liegt der nach dem Süden zog. eröffnete das dritte Saisonkonzert druck- Mondlicht über einem Lotusteich. Aus voll mit Griegs Konzertouvertüre „Im leisen Tönen des Anfangs steigen sphä- Ach, wie der Schlag der Schwingen, Herbst“. Düster und dräuend fächerten Di- risch dichte Klänge auf, kleine Melodie- das Lied ins Ohr mir kam, rigent und Orchester das zerklüftete Werk teile fächern sich zu größeren Flächen fühlt‘ ich‘s wie Trost mir dringen auf, mit differenzierten Tempostufungen, auf, überfluten die Landschaft wie mit zum Herzen wundersam. die in der MuK auch das Klavierkonzert sanftem Licht. Das war eine spannende a-Moll prägten. Reise in eine andere musikalische Welt. Es mahnt aus heller Kehle Häufig verbreitet das Stück ein Salon- Als Zugabe spielten die Musiker das mich ja der flücht‘ge Gast: parfüm nicht der feinsten Art, wenn die Menuett aus dem C-Dur-Quintett von Vergiss, o Menschenseele, Pianisten offen nach Publikumswirksam- Wolfgang Amadeus Mozart (KV 515). nicht, dass du Flügel hast! keit schielen. Bei der lettischen Pianistin Das Amaryllis-Quartett hat vor eini- Lauma Skride war das ganz anders. Sie ger Zeit eine Reihe für Norddeutschland gab im Montagskonzert Griegs Konzert aufgelegt, die die Hansestädte Bremen, Es folgte eine satirische Betrachtung Tiefe und Beseeltheit, spürte im ersten Hamburg und Lübeck verbindet. Sie von Kurt Tucholsky zum philosophisch Satz sensibel dem musikalischen Fluss wird im kommenden Jahr fortgesetzt. inspirierten Thema „Wo kommen die Lö- nach, in gemäßigtem Tempo, wodurch Kammermusikfreunde sollten sich die cher im Käse her?“ Außerdem wurde ein der lyrisch schweifende Charakter umso Lübecker Termine für 2018 notieren: 19. stimmungsvolles und philosophisch in- nachdrücklicher sich erschloss. Die Ka- April und 6. Juni im Kolosseum. spiriertes Herbstgedicht von Rainer Maria denz rauschte nuanciert auf, und das Ada- Konrad Dittrich Rilke mit surrealistischen und symboli- gio entfaltete sich als kostbar zartes Stim-

368 Lübeckische Blätter 2017/20 Ausstellungskritik mungsgespinst. Zündend schwirrte das Fi- nale vorüber, klaviertechnisch perfekt in den Kaskaden, schön im Zusammenspiel mit dem animierten Lübecker Orchester, das der Dirigent bedachtsam führte. Sehr schön wirkte die klassisch aufgefächerte Klaviermelodik in Lauma Skrides atmo- sphärischer Zugabe. Drei Episoden aus Smetanas National- epos „Mein Vaterland“ malte Roberto Pa- ternostro in überaus pastosen Klangfarben aus. Die Bergfestung „Vyšehrad“ mit den beiden raunenden Harfen und den hym- nischen Steigerungen, das prall emotio- nale Naturbild „Aus Böhmens Hain und Flur“ zwischen Polka und Verlorenheit (Wagners Vorbild ist nicht zu überhören) rahmten „Die Moldau“, das unverwüstli- che Kabinettstück. Da raunten die Holz- bläser, strahlte das Blech und schwärmten die Streicher, spukten Elfen umher, wurde gefeiert und getanzt. Viel Beifall für das Orchester und seinen Dirigenten. Wolfgang Pardey „Gezeichnete Landschaft“ – Rainer Erhard Teubert zum 85. Geburtstag Teuberts Landschaften entsprechen ei- ner Definition des Aphorismus: „Sprach- kürze gibt Denkweite.“ Ähnlich ist es bei Teuberts Landschaften, eingefangen mit der Rohrfeder, farbigen Kreiden, Gra- fit oder Kohle. Kurz, lakonisch sind die Bezeichnungen: Grinau, dörflich, Wul- menau, Stade, Rosenhagen. Von der Ost- Rainer Erhard Teubert, Wulmenau, Farbige Kreiden, 2005 (Foto: JK) see bis zum Alentejo. Der Betrachter sei gewarnt. Teubert kommt es nicht darauf er sich ein Bild. Er könne das bereits vor Verlassen der DDR, Besuch der Kunst- an, Landschaft so zu gestalten, dass Ver- der Wirklichkeit gestalten, aber in seiner hochschule Düsseldorf. 1958 kommt er trautes, Bekanntes wiederentdeckt wer- Arbeitsweise müsse er zuerst ein inne- nach Lübeck, unterrichtet u. a. an der den kann. Skizzen einer Landschaft? res Bild finden, in dem die wesentlichen Oberschule zum Dom. Nein. Teuberts Credo zur Landschaft ist Merkmale einer Situation enthalten sind, Dass Teubert auch ein beeindruc- seit Jahrzehnten ein anderes. Er nimmt um dieses dann in wenigen Chiffren und kender Lyriker ist, darf hier nicht unter- Landschaft wahr, nimmt sie auf, aus- Zeichen zu reduzieren und zur Zeichnung schlagen werden. So stellen wir neben schnittsweise, gestaltet sie auf seine Art, werden zu lassen“, so Ingaburgh Klatt die Zeichnung aus dem Jahre 2008 „kein verdichtet sie. Wir, die Betrachter, entfal- auf der Vernissage der Ausstellung in der Raps mehr da“ sein Gedicht ten dann wieder mit unseren Erfahrungen, Galerie Artler. Reduktion: Rot, Orange, mit dem, was wir an das Bild herantragen. Blau, Schwarz, und das Weiß des Grun- Angekommen Aus diesem Rezeptionsvorgang wird der des als wesentlicher Bedeutungsträger Betrachter nicht entlassen. Verdichtung − Schwere und Leichtigkeit. „Lehnen“: Als ich wird zur Erweiterung. Der Kürze muss der ein erdfarbener Klumpen voll innerer in mein neues Land Betrachter die Weite zurückgeben. Was Dynamik, Häuser schweben auf ihm, der kam nehmen wir wahr? Landschaften ohne Schwerkraft trotzend. Und immer wieder blühte Menschen. Nur ihre Spuren sind sichtbar: Grinau, wo er, der 1932 in Hartmannsdorf der Raps Boote an der Ostsee, Häuser, die kulti- im Erzgebirge Geborene, seit 1994 lebt. Sein Gelb gefiel mir vierte Landschaft, auch wenn „kein Raps Ingaburgh Klatt zeichnete den Werdegang mehr“ da ist. Teuberts nach: Studium in Greifswald, Das neue Land ist ihm inzwischen ver- „Wenn er etwas gestalten wolle, müsse Ermunterung zur Individualität (zu seiner traute Heimat. Wir wünschen ihm, dass er zunächst etwas vorgefunden haben, das Eigenwilligkeit steht Teubert immer aufs ihm dieses Gelb noch viele Jahre gefallen ein Bild in ihm provoziere. Das fände er Neue) und Non-Konformismus durch den möge. Ad multos annos, Rainer Erhard immer in der Wirklichkeit, davon mache geschätzten Lehrer Prof. Schmidt-Walter, Teubert. Jutta Kähler

Lübeckische Blätter 2017/20 369 Musicalkritik

Musical im Großen Haus: „Oliver!“: Ein Sozialdrama als Märchen aus dem alten England

Kinder und Jugendliche spielen, neben stattung, die durchaus erwartete Klischees eindrucksvollen Chöre (Theater, Schule St. den Profis, eine Hauptrolle im Musical „Oli- bedient – etwa Londoner Nebel und Regen, Jürgen, Katharineum) einstudiert. Die musi- ver!“, das im Großen Haus eine rasante Neu- Häuserfluchten des East Ends, Krimiat- kalische Leitung liegt bei Adrian Pavlov, der einstudierung erlebte. Der Welterfolg der mosphäre an der London Bridge. Manche das Orchester zu lustvollem Spiel anregt und 1960er Jahre samt Verfilmung durch Carol Straßenszene, auch das Intermezzo im Haus das Bühnengeschehen dazu überzeugend Reed basiert auf Charles Dickens‘ sozialkri- des Großvaters Brownlow, den Peter Grünig synchronisiert. Es gab großen Jubel. tischem Roman „Oliver Twist“. Wie üblich English style gibt, wirken wie Paraphrasen Wolfgang Pardey setzt das Musical Weltliteratur ins populäre von „My Fair Lady“. Genre um. Komponist und Autor Lionel Bart Dreifach sind die beiden jugendlichen prägte als eine Zentralfigur die „Swinging Hauptrollen besetzt. Wir sahen Matti Rau- Sixties“ der Londoner Szene. Ursprünglich pers als Oliver und Maximilien Thiele als stammte er aus dem East End, als jüngstes Dodger, die stimmlich und darstellerisch Kind armer jüdischer Einwanderer. Und dort glänzten. Herausragend auch Chris Mur- spielt auch „Oliver!“, das nun als Revival ray als alter Chef (Fagin) der jungen Diebe, ein Bühnenplätzchen gewinnt. Der hungrige, von hintergründiger Moral und lakonischer aufmüpfige Protagonist muss das Waisen- Einsicht in den Lauf der Dinge aus Sicht haus verlassen, wird einem Leichenbestatter der kleinen Leute; ein Alter Ego des Kom- Ehepaar verkauft, gerät in eine Clique von ponisten Lionel Bart. Daneben beeindruckt Kleinkriminellen und findet schließlich – Femke Soetenga (Nancy) durch spielwütige wie das Leben so spielt oder eventuell nicht Bühnenpräsenz und stimmliche Bravour – – seinen betuchten Großvater. eine ehrbare Halbweltlady. Bösewicht Bill Tempo, Leidenschaft und Emotionalität (Thomas Christ) und die schrille Bet (Ida- prägen die Inszenierung von Wolf Widder Marie Brandt) setzen dagegen kräftige Kon- in den Massenszenen, Situationskomik so- traste. Außerdem sind alle anderen Rollen im wie Slapstick auch in den Unterweltszenen. Riesenensemble überzeugend besetzt: etwa Reflektierende Episoden vertiefen gefühls- das schräge Leichenbestatter Ehepaar mit betont den Spielfluss. Harald Kratochwil ist Mark McConnell sowie Imke Looft, dazu für die stürmische Choreographie verant- Steffen Kubach und Andrea Stadel als herbe wortlich, Katja Lebelt für die sparsame Aus- Sozialagenten. Jan-Michael Krüger hat die Leander Härtel (Oliver), Chor, Company

Leander Härtel (Oliver), Chris Murray (Fagin), Paul Schiffner (Artful Dodger), Taschendiebe (Foto: Olaf Malzahn)

370 Lübeckische Blätter 2017/20 Gesellschaft heute

St. Petri: „Requiem – Ein Abend über das Sterben“ Tröstlich viel Raum für ein ungeliebtes Thema Von Karin Lubowski

Der Beginn des Lebens ist ein Wunder. Das Ende ist meist mit Angst und Schrecken verbunden. In der Petri-Kirche wurde ihm mit „Requiem – Ein Abend über das Ster- ben“ tröstlich viel Raum gegeben. Es geht viel um Wolfgang Herrndorf an diesem Abend, aber bei Weitem nicht nur. Der Schriftsteller setzte seinem Leben 2013 per Kopfschuss ein Ende, er hatte seit 2010 mit einem bösartigen Hirntumor gelebt – viel länger als Ärzte prognostiziert hatten. Dann bestimmte er den Schlusspunkt. Er hat ein Sterbe-Tagebuch verfasst, „Arbeit und Struktur“, aus dem der Schauspieler Florian Hacke liest. Das Leben und Sterben des Verfassers von „Tschick“ und „Sand“ habe ihn tief berührt, sagt Pastor Bernd Schwarze, der beim Requiem für Liturgie und geistliche Worte zuständig ist. Eine Ge- denkveranstaltung für den Schriftsteller soll Mitwirkende beim „Requiem“ (von links): Dr. Imke Weyers, der Medizinstudent Maximi- der Abend jedoch nicht werden, sondern lian Wanker (beide sitzend), Pastor Bernd Schwarze, Prof. Franz Danksagmüller, Almut eine „aufgeklärte Andacht über ein Phäno- Buchholz, Giulia Corvaglia, Fabio Paiano und Maria Skandalidou (Foto: Lubowski) men, dem niemand entgeht“. Das St.-Petri- Kuratorium, das Institut für Anatomie der in ärztliche Obhut zu geraten, wenn das Le- den Leser mit der Nase in die Tatsache der Universität zu Lübeck und die Musikhoch- ben in Gefahr ist. Ein Segen, wenn Betroffe- Endlichkeit. schule Lübeck haben sich zu einer Koopera- ne und Angehörige dann auf Empathie und „Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn tion zusammengefunden, man merkt, es ist Nachdenklichkeit hoffen können. niemand mehr an ihn denkt.“ Das Brecht- den Beteiligten Herzensangelegenheit. Ein Am Ende haben sich die Gedanken Zitat gehört ins Trost-Repertoire für Hinter- Klangteppich empfängt die Besucher, es der Besucher auf eigene Wege gemacht. bliebene und fällt auch in der Petri-Kirche. kommen viele: alte, mittelalte, junge, trau- Ganz anders als sonst, wenn wir den Um- Wenn es stimmt, ist Herrndorf ebenso le- ernde, interessierte. Professor Franz Dank- gang mit Tod und Sterben hinpacken, wo bendig wie die anderen Verstorbenen, deren sagmüller, verantwortlich für Komposition wir ihn am liebsten haben: weg aus dem Namen an diesem Abend vorgelesen wer- und Live-Elektronik, hat die musikalische Alltag. Dabei führen ihn die Medien uns den. Aber was heißt das und was bedeutet Leitung inne; es wirken mit die Studenten täglich vor Augen. „Die Wahrscheinlich- das für die Finstermänner der Geschichte? Sarah Proske (Synthesizer), Fabio Paiano keit des eigenen Todes liegt bei 100 Pro- Gibt es ein Leben nach dem Tod? Ist (Orgel), Giulia Corvaglia (Klavier), Almut zent“, erinnert Schwarze, aber glauben mit dem Tod alles vorbei? Gläubige oder Buchholz (Cembalo), Joscha Hartmann mag keiner daran. Atheisten − es sind die Hinterbliebenen, (Kontrabass), Maria Skandalidou (Gesang). Am Ende eines erfüllten Lebens. Mit- die nach dem Tod eines Menschen leiden. Es werden Kerzen entzündet im Geden- ten aus dem Leben gerissen. Gekämpft und Für Sterbende ist das meist kein Trost.Am ken an Verstorbene und Namen verlesen. doch verloren. Erlöst. Das Vokabular der liebsten möchte man sowieso nicht an den Günter Harig ist darunter, dessen Familie Familienanzeigen gibt eine leise Ahnung Tod denken. Sterben, das tun die anderen. und Freunde das „Requiem“ mit Spenden von der Erschütterung, die Tod und Sterben Überhaupt ist Sterben ein Vorgang und Tod ermöglicht haben. Der schöne Abend für auslösen. „Ewig“ gehört dazu. Was für ein ein Zustand, der nicht einmal medizinisch ein großes Thema wird mit dem Dialog zwi- Wort! Beim Versuch, es zu fassen, gerät der klar umrissen ist. Beginnt das Sterben mit schen Dr. Imke Weyers vom Anatomischen Verstand ins Trudeln. Glauben kann helfen. der Abnabelung? Wann ist der Tod eingetre- Institut und dem Medizinstudenten Maximi- Aber was ist mit denen, die nicht glauben? ten? Wohin geht der letzte Gedanke? lian Wanker zu etwas sehr Besonderem. Der „Der Tod ist schließlich nichts ande- Wenn nicht ewiges irdisches Leben, so Tod sei für sie nie zur Routine geworden, res als die Mitteilung des Universums an doch ein deutlich längeres, als das derzeit sagt die Medizinerin. Es sind die Gedanken das Individuum, nicht geliebt zu werden, mögliche gilt als Menschheitstraum. Die ihres 24 Jahre alten Studenten – Gehört der die Mitteilung, nicht gebraucht zu wer- Wissenschaft tut einiges dafür. Die Fran- Tod zum Alltag? Ist er ein Gegner? Wie weit den, dieser Welt egal zu sein“, heißt es bei zösin Jeanne Calment gilt mit 122 Jahren darf die Medizin gehen? – und ihre Aussa- Herrndorf (www.wolfgang-herrndorf.de). und 16 Tagen als Lebenszeit-Rekordhalte- ge, dass sie die Anwesenheit eines Verstor- Das Blog ist ein Werk für die Ewigkeit. rin. Als sie 1995 starb, hatte sie nicht nur benen spüre („Ich denke, dass es sich um die Präzise, akribisch. Und befremdend in sei- ihren Mann um Jahrzehnte überlebt, son- Seele handelt“), die handfesten Trost geben. ner Präzision und Akribie. Da holt einer dern auch ihre Tochter und ihren Enkel. Immerhin ist die Wahrscheinlichkeit groß, das Sterben mitten ins Leben und stößt Ein Trost?

Lübeckische Blätter 2017/20 371 + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 198 Eine Stimme zu: Denkmaltopographie und Bauforschung Von Dr. Michael Scheftel, Lübeck

Nun liegt sie vor, die Denkmalto- genwärtig. Das Forschungsprojekt Be- und Erforschung der Wandmalerei und pografie für die Stadt Lübeck. Dr. Lutz reich Bauforschung hatte die Aufgabe, Innenausstattung der Bürgerhäuser (Ge- Wilde hat über einen Zeitraum von fünf an Beispielen von einzelnen Objekten schichte in Schichten) sowie Arbeiten im Jahren ein großes Werk geschaffen mit die Besonderheit der Lübecker Bausub- Zusammenhang mit der Fachhochschule Unterstützung von Dr. Margret Chri- stanz detailliert mit den Methoden der Lübeck. Hier war das Ziel, Studenten der stensen. Auf 800 Seiten, reich bebildert historischen Bauforschung zu untersu- Architektur mit der historischen Baufor- und mit einer Literaturauswahl versehen, chen. Diese Forschungsarbeiten waren schung anhand von ausgewählten Objek- liegt der Schatz dieses Werkes darin, die die Grundlage für die frühe Aufnahme ten der Altstadt vertraut zu machen.

Ein verwahrlostes Haus, wie es sie um 170 in der Hundestraße noch zu Hunderten gab; zwischen 2006 und 2009 fand es einen neuen Eigentümer und Liebhaber (Foto: © Fachbereich Denkmalpflege)

Vielfalt und den Reichtum der sakralen der Stadt Lübeck als städtisches En- Die soeben erschienene Denkmaltopo- und profanen Bebauung der Lübecker semble in das UNESCO Weltkulturerbe. graphie hatte die Möglichkeit, auf einen Altstadt im Innern und Äußeren zusam- Später, seit der frühen 90er Jahren, großen Schatz an Vorarbeiten zurückgrei- menzufassen. wurde der flächendeckende „Denk- fen zu können. Dem Leser werden die Vorab lagen zwei Forschungsprojek- malplan für die Hansestadt Lübeck“ bedeutenden Gebäude in Text und reich- te mit sich ergänzenden Schwerpunkten: vom Lübecker Amt für Denkmalpflege lichen Bildern vorgestellt, die sichtbaren archäologisch-historisches und bauhisto- beauftragt. Ziel war die Erfassung der Teile der Gebäude werden anschaulich risches Thema, „Häuser und Höfe“ der gesamten profanen Bebauung auf der beschrieben. Die auf den ersten Blick un- Universität Hannover in einem Zeitraum Altstadtinsel. Dokumentiert werden sichtbaren Elemente der Gebäude können von 1978 bis 1984. sollte das Äußere und Innere der Ge- hier nicht berücksichtigt werden. Dies Ende der 1970er Jahre war die Bau- bäude unter Einbeziehung der zugäng- substanz in vielen Bereichen der Altstadt lichen historischen Quellen aus dem Redaktionsschluss baufällig und die Zeit der großen Abrisse Stadtarchiv. für das am 23. Dezember erscheinende seit kurzem vorüber. Die Entkernung der Hinzu kamen weitere Projekte, wie Heft 21 der Lübeckischen Blätter ist am Höfe und Gänge war jedoch noch allge- das mit der Universität Kiel zur Erfassung Donnerstag, 14. Dezember 2017.

372 Lübeckische Blätter 2017/20 + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 1987 + + + LUEBECK WIRD WELTKULTURERBE + + + 198

bleibt das Gebiet der historischen Bau- forschung. Es bleibt wichtig, vor geplanten Baumaßnahmen eine umfassende Bau- forschung durchzuführen, um den hi- storischen, kunsthistorischen und denk- malpflegerischen Wert eines Gebäudes umfassend darstellen zu können. Wir haben jetzt die Chance, die umfassen- Weihnachtsbaum ktion den Vorarbeiten nutzen zu können und so zu der nötigen Zusammenarbeit von Bauforschung und Kunstgeschichte zu vom 03.12. - 23.12.2017 gelangen. Dies bleibt die Aufgabe für die Zukunft. Der Bürgermeister freut sich über den bisherigen Abschluss einer intensi- ven wissenschaftlichen Auseinanderset- zung mit der reichen Baugeschichte der Stadt. Dass solche wissenschaftlichen 10,- Cashback beim Kauf Untersuchungen für die Stadt Lübeck Nach Bauforschung und denkmalgerechter Sanierung: Dauerhafte Heimstatt für eine noch nicht beendet sind, zeigen jedoch Berufsmusikerin (Foto: © privat) Euro Ihres Weihnachtsbaumes Ergebnisse laufender oder anderer exter- ner Untersuchungen. Nicht zuletzt geben die Grundsätze zur Denkmaltopographie Holen Sie sich Weihnachten in Ihre vier Wände. Mit dem Girokonto erhalten Sie „den bei der Herausgabe des Buches er- bei dem Kauf eines Weihnachtsbaumes bei unseren teilnehmenden Partnern 10,- Euro reichten Erkenntnisstand wieder, und zurück auf das Belastungskonto. Die Gutschrift erfolgt automatisch im Januar 2018. es ist nicht auszuschließen, dass hier er- folgteBewertungen auf Grund neuer Ent- deckungen oder Forschungsergebnisse zu ändern sein werden.“ (Paarmann und Hunecke, Vorwort Denkmaltopographie). Wir brauchen dringend den interdiszi- plinär ausgebildeten studentischen Nach- Und so geht´s: wuchs, der dieses Erbe in die Zukunft tra- Zahlen Sie bei diesen Partnern mit Ihrer Sparkassen-Card: gen kann und die Institutionen, die diese Arbeit finanziell und ideell unterstützen. hagebaumarkt Lübeck Bei der Lohmühle 11a, 23554 Lübeck Gärtnerei Köhler „In solchen Löchern hausen doch nur Moislinger Allee 155, 23558 Lübeck Kanaken. Investieren? Nein: abreißen!“ Stimme aus der Bürgerschaft um 1970. Gärtnerei Hinze (Foto: ©Fachbereich Denkmalpflege) Friedhofsallee 134, 23554 Lübeck Blumenhaus Piel Im Gleisdreieck 2, 23566 Lübeck Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit Direktor: Titus Jochen Heldt Stellvertretende Direktorin: Antje Peters-Hirt Königstraße 5, 23552 Lübeck, Tel.: 7 54 54, Telefax 79 63 54, Büro montags bis freitags ab 9 Uhr geöffnet E-Mail: [email protected] Legen Sie bei diesem Partner den Bankkonto: Sparkasse zu Lübeck IBAN DE85 2305 0101 0001 0000 17 Internetadresse: www.die-gemeinnuetzige.de Aktionsgutschein vor: (erhältlich in den Sparkassen in Travemünde und Kücknitz und beim Hof Thorn direkt) Impressum: LÜBECKISCHE BLÄTTER www.luebeckische-blaetter.info Herausgeberin: Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit, Königstraße 5, 23552 Lübeck, Telefon: 7 54 54, Telefax: 79 63 54. Verantwortlich: Doris Mührenberg. Hof Thorn Verantwortlicher Redakteur (V.i.S.d.P): Dr. Manfred Eickhölter, Telefon: (04 51) 5 80 83 24, E-Mail: [email protected] Ovendorfer Straße 25, 23570 Lübeck Die Zeitschrift erscheint 14-täglich außer in den Monaten Juli/August. Die Artikel stellen keine offiziellen Meinungsäußerungen der Gesellschaft dar, sofern sie nicht aus- drücklich als solche gekennzeichnet sind. Für den Abdruck von Artikeln und Fotos wird eine Vergütung nicht gewährt. Die Kürzung eingesandter Artikel bleibt vorbehalten. Einzelpreis: € 2,40. Für Mitglieder der Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit ist der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag enthalten. Verlag und Druck: Max Schmidt-Römhild KG, Mengstraße 16, 23552 Lübeck, Telefon: 70 31-2 07, Telefax: 70 31-2 42. E-Mail: [email protected]. DEUTSCHLANDS Anzeigenredaktion (V.i.S.d.P): C. Kermel, E-Mail: [email protected], Telefon: (04 51) 70 31-2 79, Fax: (04 51) 70 31-2 80. ÄLTESTES VERLAGS- UND ISSN 0344-5216 · © 2017 DRUCKHAUS

Das Angebot gilt für alle Girokontoinhaber und nur solange der Vorrat bei unseren Partnern reicht.

#8048_US_HL-Bl._20_17.indd 3 05.12.17 14:52 831003109207 Sparkasse.indd 1 04.12.17 08:26 Impressum klein.indd 1 23.01.17 09:59