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Titel Sterben bis zum Schluss Die letzten Toten an der Grenze zwischen Ost und West

er Flüchtling hatte aufge- steuert das Paar eine Schrebergartenko- geben und stand mit dem lonie an. Dort betreibt das Energiekom- DRücken zum Grenzzaun, binat eine Gasversorgungsstation, als ihn die Kugel aus der Ka- an der die Freudenbergs ihren Ballon fül- laschnikow ins Herz traf. Der len. Unter dem Ballon ist mit rosa Gardi- Ost-Berliner , ge- nenstrippen und einem Kunststoffgürtel rade 20 Jahre alt, wurde am ein 40 Zentimeter langes Rundholz als 6. Februar 1989 an der Berliner Sitzstange befestigt. Mauer erschossen, als er ver- Ein Kellner, der auf dem Heimweg ist, suchte, von Berlin-Ost nach Ber- glaubt an eine Sinnestäuschung, als er lin-West zu fliehen. den am Boden schwankenden Ballon Der gelernte Kellner ging als sieht. Er ruft die Polizei – die beiden sind letzter Mauertoter in die deutsch- entdeckt. „Los, steig auf!“, habe sie Win- deutsche Geschichte ein. Doch fried zugerufen, schilderte Sabine Freu- dass mit Chris Gueffroys tragi- denberg Jahre später die dramatische Si- schem Tod das Sterben an der tuation der Berliner „B.Z.“. „Das Gas Mauer ein Ende hatte, ist eine reicht nicht für uns beide!“ „Nein, komm Legende. mit“, habe er zurückgebrüllt. Und sie: An , der „Nein, wir bleiben beide hier, wir stehen dem „Grenzregime“ der SED- das gemeinsam durch, Hauptsache, wir Diktatur noch einen Monat nach leben!“ Es knallt; sie glaubt an Schüsse – Chris Gueffroy zum Opfer fiel, beim Abheben hat der Ballon eine erinnerte bis vor kurzem nur ein Stromleitung touchiert. schlichtes Holzkreuz an einer Dann steigt Winfried Freudenberg, an Fußgängerbrücke im gutbürger- seine Konstruktion geklammert, allein in lichen Berliner Stadtteil Zehlen- den Nachthimmel. Sabine Freudenberg dorf, rund zwei Kilometer Luft- wird verhaftet; sie bekommt drei Jahre

linie von der ehemaligen „Sek- BILDERDIENST ULLSTEIN auf Bewährung. torengrenze“ entfernt. Bergung des Freudenberg-Gasballons Beim Flughafen Tegel, über den der Früh am Morgen des 8. März Plumpsendes Geräusch mäßige Nordostwind den fragilen Ballon 1989 gegen halb acht hatte ein treibt, wird später Freudenbergs Ge- Anwohner der Zehlendorfer Limastraße lins gelegene Blankenburg gemacht. Mit burtsurkunde gefunden. Gegen 7.30 Uhr draußen ein „plumpsendes Geräusch“ dabei: ein auffälliges, 38 Kilogramm wird der Flüchtende weiter südlich zum wahrgenommen, dem er keine Bedeu- schweres Paket – der Ballon, gefertigt aus letzten Mal lebend gesehen. Spazier- tung beimaß. Erst acht Stunden später Gartenfolie, wie sie zur Abdeckung von gänger erspähen den Ballon am Teufels- wurde im Garten der zerschmetterte Beeten verwendet wird: sieben Bahnen berg in etwa 500 Meter Höhe. Nur 20 Mi- Körper Freudenbergs gefunden. zu je 13 mal 2,50 Meter, in monatelanger nuten später weht seine Der 32-jährige Diplom-Ingenieur aus Nachtarbeit Zentimeter für Zentimeter leere Hülle in der Krone Lüttgenrode am Harz wurde nicht kalt- zusammengeklebt und tagsüber notdürf- einer Eiche auf dem Mit- blütig exekutiert wie Chris Gueffroy oder tig unter dem Bett versteckt. telstreifen der Potsdamer unter den Augen der Weltöffentlichkeit Anfang 1988 hatte Winfried Freuden- Chaussee/Ecke Spanische verblutend im Todesstreifen liegen gelas- berg zum ersten Mal seine verwegene Allee. sen wie – wohl der schockierendste Mau- Fluchtidee erwähnt. Einige spektakuläre Als Todesursache gibt ermord – der 18-jährige Peter Fechter am Ballonfluchten waren geglückt; die Ge- der West-Berliner Staats- 17. August 1962. Freudenberg hatte das schichte der Familien Wetzel und Strzel- schutz einen Sturz aus brutale Bauwerk in einem selbst gefertig- czyk, die es 1979 in einem Heißluftballon großer Höhe mit zahlrei- ten Gasballon schon heil überwunden und in den Westen geschafft hatten, wurde chen Knochenbrüchen

schwebte über sicherem West-Berliner sogar in Hollywood verfilmt. und inneren Verletzungen DER SPIEGEL (l.); PETER RONDHOLZ (r.) Gebiet, als er in wie Ikarus Freudenberg war Risiken noch nie aus an. Doch war es ein Un- Maueropfer Gueffroy, vom Himmel stürzte – fast auf den Tag ge- dem Weg gegangen; zweimal hatte der fall? Oder fürchtete Freu- nau acht Monate bevor die Mauer fiel. rasante Fahrer bei Motorrad- und Auto- denberg, über West-Berlin hinaus in die Bis heute sind die genauen Umstände unfällen nur knapp überlebt. Seiner Frau DDR zurückgetrieben zu werden – und seines Todesflugs nicht geklärt. Kurz nach Sabine dagegen hatte der Gedanke an sprang aus Verzweiflung aus mindestens Mitternacht am 8. März 1989 hatte sich eine Flucht, zumal durch die Luft, von 50 Meter Höhe ab? das Ehepaar Freudenberg aus seiner Hin- Anfang an Alpträume bereitet. Winfried Freudenberg war der Letzte, terhof-Wohnung im Stadtteil Prenzlauer Doch weil sie die Trennung fürchtet, der sein Leben bei der Überwindung der Berg auf den Weg in das im Norden Ber- macht sie schließlich mit. In Blankenburg Berliner Mauer ließ. Doch fast bis zum

74 der spiegel 32/2001 letzten Tag des Eisernen Vor- hangs kamen DDR-Bürger an den Grenzen des Ostblocks um, als sie sich in die Freiheit absetzen wollten: • Bei dem Versuch, mit sei- nem Lada den Schlagbaum an der tschechoslowakisch- österreichischen Grenze bei Petr¢alka zu durch- brechen, starb am 21. April 1989 der 21-jährige Ost- Berliner Ralph-Peter Sau- nen. • Am 15. Mai 1989 wurde ein achtjähriger Junge aus Ost- Berlin getötet, als seine

Mutter mit Freunden im BILDERDIENST ULLSTEIN Auto die Grenzsperren Mauer in Berlin-Neukölln (1961): Bierflaschen gegen Grenzer nach Bayern bei der tschechoslowa- kischen Ortschaft Strá¢n⁄ durch- ter den Meldungen verbirgt sich das Dra- Wer aufbegehrte, wurde in Schnellverfah- brach. ma der Millionenmetropole: ren abgeurteilt. • Der 19-jährige Michael Weber aus • 9.20 Uhr: „In der Kremmener Straße In West-Berlin hatten sich schon in den Mölkau bei Leipzig wurde am 7. Juli versuchen Bürger, die Haustüren einzu- ersten Stunden Nachtschwärmer an der 1989 auf der Flucht erschossen, als er schlagen, um in die Bernauer Straße zu Sektorengrenze versammelt und die „be- in der Nähe der bulgarischen Ort- gelangen.“ waffneten Organe“ (SED-Jargon) be- schaft Nowo-Chodshowo die Gren- • 10.45 Uhr: „Information Mitte: Am schimpft. Am Brandenburger Tor riefen sie ze nach Griechenland überwinden Übergang Köpenicker Str. haben sich „Pfui“ und sangen „Brüder, zur Sonne, wollte. auf beiden Seiten ca. je 100 Personen zur Freiheit“; am Bethaniendamm pras- • Am 23. September 1989 ertrank der angesammelt, die unsere Posten provo- selten Bierflaschen auf die DDR-Unifor- ebenfalls 19-jährige Mario Poetsch zieren. Sie versuchen die Sperre zu mierten nieder, in der Friedrich-Ebert- bei dem Versuch, von der —SSR in durchbrechen.“ Straße griffen einige Dutzend Passanten die Bundesrepublik zu gelangen. • 11.20 Uhr: „Information Treptow: Am die Genossen an und versuchten, die Sper- Die allerletzten Toten, die sich Flutgraben, Nähe Lohmühlenstr., hat ren zu zerstören. Honecker schickte eine Honeckers Diktatur zurechnen lassen sich ein junges Mädchen gegen 10.00 Uhr Hundertschaft Kampfgruppen. muss, starben jedoch – Ironie der Ge- bis auf die Unterwäsche entkleidet, ist in Am Brandenburger Tor versammelten schichte – bei der Flucht in Richtung den Flutgraben gesprungen und nach sich in der Mittagszeit Hunderte Berliner Osten: Als in Polen Anfang Juni 1989 WB geschwommen. Sie wurde von der und versuchten, „die Grenzbefestigungen die Kommunisten die Macht an die dortigen Menschenmenge ,empfangen‘.“ zu zerstören“, wie es das „Journal der Gewerkschaft Solidarno£ƒ verloren, • 11.30 Uhr: „Kontrollpunkt : Handlung“ der Volkspolizei vermerkt. Die strebten immer mehr DDR-Bürger il- Ca. 1500 Personen, die erkennen lassen, Vopos ließen fünf Wasserwerfer und vier legal in das östliche Nachbarland. Nicht dass sie nach West-Berlin wollen … Zwei Schützenpanzer auffahren. Später melde- wenige versuchten, die Oder zu durch- Hundertschaften der Kampfgruppen te der Kontrollposten 34, dass West-Berli- schwimmen. eingesetzt.“ ner Polizisten „ca. 3000 Jugendliche … un- • 16.05 Uhr: „Ca. 300 Jugendliche haben ter Einsatz von Polizeiknüppeln auseinan- die Drahtsperren in der Wolliner Straße dertrieben“. Die Jugendlichen riefen: „Ihr durchbrochen. 7. Bataillon der Kampf- schlagt gegen die falsche Seite.“ gruppen wurde … in Marsch gesetzt.“ Ein Mitarbeiter weckte Willy Brandt in • 17.50 Uhr: „Information Treptow: Vom der Nacht der Grenzabriegelung im Schlaf- demokr. Berlin aus schwimmen Jugend- wagen auf dem Weg von Nürnberg nach liche im Landwehrkanal von einer Seite Kiel. Brandt möge sofort nach Berlin kom- zur anderen und benutzen teilweise men. Stunden später stand er am Bran- Luftmatratzen.“ denburger Tor. • 18.10 Uhr: „Transportpolizei Berlin: Müde schaute er durch die dunkle Son- Durch den Stellwerker auf dem Bahn- nenbrille auf die Kampfgruppen mit den gelände Eberswalder Str. wurde be- Maschinenpistolen. „Schrecklich“, mur- Grabstätte: Kugel ins Herz kannt, dass Bürger aus dem demokr. melte Brandt. Ein West-Berliner Passant Berlin die Trennmauer zwischen Ebers- zog den Regierenden am Arm: „Wann Allein im Oktober 1989 ertranken walder Str. und Bahngelände überstie- kommen die Amerikaner und machen die- dabei vier junge Ostdeutsche – als gen und damit illegal das demokr. Ber- sem Spuk ein Ende?“ Letzter Frank M., der am 27. Oktober lin verließen.“ Am späten Vormittag fuhr Brandt in die in Bad Freienwalde aufgebrochen war. Die meisten Ost-Berliner wurden von Alliierte Kommandantur in die Kaisers- Seine Leiche wurde Anfang Novem- der Grenzschließung überrascht, wie die werther Straße. Er erzählte später, er habe ber aus dem Fluss gezogen. Vopos stolz vermerkten. Zwar registrier- die drei Stadtkommandanten General Al- Hans Michael Kloth ten die Polizisten in fast allen Stadtbezirken bert Watson (USA), General Rohan Dela- große Unzufriedenheit, doch ein Aufstand, combe (Großbritannien) und General Jean wie ihn die SED befürchtet hatte, blieb aus. Lacomme (Frankreich) angeherrscht: „Sie

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