Brandenburg. geowiss. Beitr. Kleinmachnow 12 (2005), 1/2 S. 73-86 11 Abb., 35 Lit.

Die Oder greift ins Elbegebiet – Spannungsverhältnisse und Sollbruchstellen zwischen zwei Flussgebieten

River Odra grabs into the Elbe catchment – Tensions and potential sites of breakage between two catchments

CLAUS DALCHOW & JOACHIM KIESEL

1. Einführung kontinuierlicher Abflussweg möglich wurde. Dies führte wie- Eisrandbegleitende Entwässerungsbahnen, besonders die derholt zu einer jeweils länger anwachsenden Dehnung der Urstromtäler der jüngsten, weichselzeitlichen Vereisung, Distanz zwischen Eisrand und zugehörigem und haben der nordmitteleuropäischen Landschaft ein nachhal- zu einem südwärtigen Durchfließen älterer Endmoränengür- tiges Gepräge gegeben. Bereits BERGHAUS skizziert 1854, über tel unter Ausbildung von Schmelzwasserpforten (LIEDTKE 20 Jahre vor einer genetisch schlüssigen Deutung im Zuge 1956/57, LIEDTKE 2003, S. 50). der Inlandeistheorie, diesen Umstand treffend: „Und diese Thal-Niederungen sind es, welche nach ihrer Richtung und Die älteren, außer Funktion geratenen Urstromtäler dienten Ausdehnung bei uns das ersetzen, was in anderen Ländern aber weiterhin dem periglaziärfluvialen Abfluss (LIEDTKE 2001, die Bergketten thun; sie sind das Hauptmerkmal zur Erken- S. 123) bzw. den das eisferne Gletschervorland entwässern- nung der großen Züge in der geologischen Physiognomie den Flüssen (Vorlandflüsse) als Sammellinien. Da das Schmelz- der Boden-Plastik“ (BERGHAUS 1854, Bd. 1, S. 298). wasser den Urstromtälern unter Aufschüttung – wenn auch sehr gering – südlich geneigter Sanderflächen zufloss, er- Die glaziale Prägung des Fluss- und Talsystems Nordmittel- hielten sie regelhaft eine sedimentäre Nordbegrenzung: „Da- europas durch die Urstromtäler wurde bisher nur unvoll- mit enden die Sander der drei großen Stillstandsphasen mit ständig zu Gunsten einer nordgerichteten, fluvial dendriti- Stufenrändern und bilden an diesen Stellen die Nordbegren- schen Entwässerung überwunden. Im Folgenden wird un- zung des jeweils jüngeren Urstroms. Aus nördlicher Rich- tersucht, welche Prozesse für diese Umbildung des Gewäs- tung zum Tal geneigte Entwässerungsbahnen belegen, dass sernetzes in Frage kommen und welche Probleme dabei noch es sich um Schmelzwässer des Eises gehandelt haben muss“ offen sind. Für die erwartbare Fortsetzung der Gewässer- (MARCINEK 1961, S. 438). Nach Ablösung eines netzumbildung werden im Wasserscheidenbereich zwischen ist daher dessen zeitgleicher fluvialer Anschluss (über not- Oder/Odra und Elbe beispielhaft Sollbruchstellen nachge- wendig durchgehend nordwärtiges Gefälle) an das jüngere, wiesen und zugehörige Szenarien vorgestellt. gerade aktive, nicht zu erwarten.

Gravierende Umbildungen des Flussnetzes verlangen mor- Die Urstromtäler bekamen bzw. behielten folglich bei ihrer phodynamisch aktive Landschaftszustände, wie sie das sukzessiven Entstehung und Inaktivierung nicht zwangsläu- morphodynamisch stabile Holozän von Natur aus nicht bie- fig über nordwärtige Fließwege Kontakt untereinander. Da- tet. Eingriffe wie Rodung, Ackerbau, Entwässerung und her ist auch das unmittelbare Nachfolgen der Vorlandflüsse besonders Kanalbauten schaffen aber zumindest lokal eine in jeweils jüngere, nördlicher gelegene Urstromtäler nicht anthropogen induzierte geomorphodynamische Teilaktivi- zwingend erwartbar. Das Thema nordwärtiger Verbindungs- tät, welche bereits nennenswerte Vorarbeiten künftig mögli- fließwege betrifft, flächenhafte Sandersäume nördlich der cher Umbauschritte geleistet hat. Urstromtäler vorausgesetzt, die Umkehr der Fließrichtung gegenüber jener bei der Sanderschüttung.

2. Entwicklung des Flussnetzes Nordmitteleuropas im Der heutige Zustand (s. Pkt. 3) zeigt dagegen, dass eine Eis- ausgehenden Pleistozän – erste Umbildungsphase rand-Nachfolge der Vorlandflüsse eingetreten ist, aber Das kontinuierliche Durchfließen einzelner Urstromtäler von keineswegs umgehend und längst nicht überall: Lange Ur- Schmelzwässern folgte dem nach Norden zum Ostseebecken stromtalsegmente blieben bis heute genutzt, sie bieten dem unter Oszillationen rückschmelzenden weichselzeitlichen In- holozänen Abfluss ein zwar geringes, aber hinreichend durch- landeis verzögert und räumlich versetzt. Diese vollaktiven gehendes Gefälle. Den Wandel des zunächst eisrandparallel Phasen waren nur relativ kurz und galten immer nur für jeweils ausgebildeten Talsystems zum skizzierten heutigen Zustand ein Urstromtal (MARCINEK 1961, LIEDTKE 1996, S. 347). Nörd- partiell nordwärtiger, dem übergeordneten Gefälle zum Ost- licher gelegene Urstromtäler etablierten sich immer erst, so- seebecken folgender Entwässerung bezeichnen wir im Fol- bald in tiefer gelegener und eisrandnäherer Position ein neuer genden als erste Umbildungsphase.

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Diese erste Umbildungsphase muss nach Lage aller Befun- rung, obgleich auf parallele Urstromtalsegmente ausgebrei- de in das Spätpleistozän bis Frühholozän gestellt werden. tet, Kontakt zum Schmelzwasserfluss behält. Auch MARCI- Deren geomorphodynamische Aktivität wurde bestimmt vom NEK et al. (1996, S. 14) thematisieren den Zeitversatz der Periglazialklima sowie vom bis ins Boreal austauenden Tot- Flussnachfolge: „ Auf jeden Fall änderte sie [die Oder, d. eis (LIEDTKE 1996, S. 341; LIEDTKE 2003, S. 49). Ergänzend zu Verfasser] ihren Lauf nordwärts mit deutlicher Verzöge- dieser zeitlichen Einstufung ist die Umbildungsphase als rung zur Entwicklung des Eberswalder Urstromtals“. räumlich dem Eisrückschmelzen folgender Prozess aufzufas- sen. Zur ersten Umbildungsphase ergeben sich im Licht der Schließlich beschreibt auch CARLS (1995, S. 273) das Nach- skizzierten Rahmenbedingungen folgende Fragen: folgen des Vorlandflusses Spree nachdem „mit dem Rück- a) Durch welche Prozesse gelangte der periglaziärfluviale zug des Inlandeises tiefer gelegene Bereiche [...] eisfrei Abfluss in jeweils jüngere Urstromtäler und erhielt geworden waren“ knapp folgendermaßen: „In diese nach damit überleitende nordwärtige Fließabschnitte? Westen gerichteten Schmelzwasserströme mündete jeweils b) Mit welchem Zeitversatz folgte diese Nordverla- die Spree“. Der Oder wird dagegen auch von CARLS aktive- gerung des periglaziärfluvialen Abflusses dem – sich res Agieren (offensichtlich unter Bezug auf MARCINEK und seinerseits sprunghaft nach Norden verlagernden – LIEDTKE) zugeschrieben; mit Austauen des Beckentotei- Schmelzwasserabfluss, d. h. zu welchem Umfang sind ses im Oderbruch „brach die Oder nach Norden durch“ Vorlandflüsse und Schmelzwässer jeweils in einem (CARLS 1995, S. 275). Urstromtal gemeinsam abgeflossen? Damit liefert die regional bezogene Literatur zur Frage der zu a) Prozesse und dem räumlich-zeitlichen Voranschreiten der ers- In der regional bezogenen Literatur bleibt zumeist eine pro- ten Umbauphase keine scharfen Festlegungen, ein Umstand, zessbezogene Deutung der ersten Umbildungsphase im der die morphologisch und sedimentologisch schwierige Sinne der oben genannten Fragen recht vage. Nach MAR- Datenlage widerspiegelt. In der vorliegenden Arbeit wollen CINEK (1969) „erzwang“ der neue Urstrom „einen Durch- wir das Thema dennoch um eine weitergehende, stärker sys- bruch durch die Pommersche Eisrandlage“, „brach“ die tematisch auffächernde, morphogenetisch basierte Betrach- periglaziäre Oder zum Oderbruch durch (S. 93), oder die tung ergänzen. Hauptentwässerung „pendelte“ in die heutige Süd-Nord- Richtung ein“ (S. 96). MARCINEK et al. (1996, S. 14) schrei- Die erste Umbildungsphase des Gewässernetzes mit An- ben von einem „Einschwenken“ der Oder nach Norden. schluss nur noch periglazifluvial genutzter Urstromtalseg- Auch LIEDTKE (1975, S. 55) erwähnt „’Durchbrüche’ von mente an nordgerichtete Entwässerung ist grundsätzlich Flüssen, die ihren ursprünglich zur Ostsee gerichteten Lauf durch folgende Prozesse erklärbar, welche nachfolgend dis- wieder eingenommen haben“. kutiert werden: Das „Erzwingen“ von „Durchbrüchen“ oder das „Einpen- ƒ Rückschmelzen einer Gletscherstirn, die unmittel- deln“ auf die Nordrichtung sind plastische Beschreibun- bar den Nordrand des Urstromtalsegmentes bildete gen aus Sicht des heutigen Zustands, sie vermeiden aber ƒ Eröffung von Fließwegen durch austauendes Tot- eine klare Prozessbeschreibung. eis ƒ Rückschreitende Erosion mit Flussanzapfung zu b) ƒ Überborden eines Urstromtals infolge starken Ab- Zur Frage des zeitlichen und räumlichen Versatzes der Eis- flusses oder einer Blockade randnachfolge der Vorlandflüsse finden sich Hinweise in ƒ Seitenerosion Karten LIEDTKEs, wobei in frühen Darstellungen (1961, S. 25, Fig. 4) die Schmelzwässer sowohl der Angermünder als Rückschmelzen einer Gletscherstirn, die unmittelbar den auch der Velgaster Staffel im weiteren Umfeld des Oder- Nordrand des Urstromtalsegmentes bildete bruches getrennt vom weiter südlich nach Westen abflie- Wenngleich die regelhafte durch Sandersäume gebildete ßenden periglaziärfluvialen Abfluss dargestellt sind. LIEDT- Nordbegrenzung von Urstromtälern diesen Prozess höchs- KE (1975) skizziert in einer Phasenzeichnung der Eisrand- tens in Ausnahmesituationen möglich erscheinen lässt, wird entwässerungsverläufe (S. 30, Abb. 9) zwar eine relativ er in Übersichtsbetrachtungen wiederholt unterstellt. So fol- enge Nachfolge der Vorlandflüsse, betont aber dennoch gert LIEDTKE (1975, S. 30) in der Legende zu Abbildung 9, das einen erheblichen Zeitversatz in der Flussnachfolge: „die „Rückschmelzen bis zur Velgaster Staffel gab die Randowrinne Umlenkung insbesondere der Vorlandflüsse in neue Ab- und das ganz untere Odertal frei“. flusswege erfolgte oft erst mit erheblicher Verzögerung, Die „Freigabe“ des nordwärtigen Abflusses infolge des Fort- nachdem es zum Zerfall eines verlassenen und zur Heraus- tauens der blockierenden Eismasse ist großskalig sicher zu- bildung eines neuen Urstromtales gekommen war“ (LIEDT- treffend, bedarf aber auf der Betrachtungsebene der indivi- KE 1975, S. 52). Etwas später im Text (ebenfalls S. 52) wird duellen Stellen des Nordumschwenkens ergänzender Deu- verstärkend betont, dass die Ströme „irgendwann wieder tungen. ihre ursprüngliche Nordrichtung einschlugen. So hat sich das heutige Flußsystem erst allmählich herausgebildet“. Eröffung von Fließwegen durch austauendes Toteis Jüngste Karten (LIEDTKE 2001, 2003) zeigen Rekonstruktio- Zweifellos hat die Toteisdynamik zur Eröffnung zahlreicher nen von Abflussbahnen, in denen die Vorlandentwässe- neuer Fließwege verschiedener Länge und Richtung geführt.

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Zudem ist möglich, dass große alte Stromtäler (wie die der terer Prozesse wie Hangrutschungen, Quellenerosion oder Oder oder Weichsel/Wisla) nach Abbau einer Plombierung Regentropfenerosion (rain splash). BISHOP (1995), der diese durch Toteis wiedererwachten. LIEDTKE (1961, S. 274) pointiert Bedingungen für Flussanzapfungen systematisch heraus- dies verallgemeinernd: „Es ist also nur dem Toteis zu verdan- gearbeitet hat, nennt als morphographische Erkennungs- ken, dass die alten zur Ostsee gerichteten Entwässerungsbah- merkmale vollzogener Anzapfungen: nen der Oder, der Weichsel und der Memel immer wieder be- ƒ einen ellenbogenförmigen Verlauf am Anzapfungspunkt, nutzt wurden“, während MARCINEK et al. (1996, S. 9) warnen: ƒ ein stacheliges Flussnetz; d. h. abrupte Richtungswech- „Bis heute ist hier selbst der Verlauf von Elbe und Oder vor der sel, weichselkaltzeitlichen Inlandvergletscherung unbekannt“. In ƒ ein verlassenes, „totes“, trockenes Tal mit Talwasser- jedem Fall konnte Toteis für die Flusslaufentwicklung nur be- scheide (in stärker reliefierten Gebieten als wind gap) und deutsam werden, „wenn zusammenhängende Austauhohlfor- eine men bis unter das Eintiefungsniveau der periglaziären Zerta- ƒ Eintiefungsstufe im Längsprofil des angezapften Flusses lung absanken und gleichzeitig noch Anschluß an die Vorflut (rejuvenation head), die von der neuen, tiefer liegenden besaßen“ (MARCINEK & NITZ 1973, S. 228). Vorflut kündet. Zur bedeutendsten spätpleistozänen Einzugsgebiets-Um- Jüngere Arbeiten (CALVACHE & VISERAS 1997, CLARK et al. stellung im nordmitteleuropäischen Raum, der Abtrennung 2004) betonen, ausgehend von Felduntersuchungen, die des heutigen Odersystems vom Elbeeinzugsgebiet durch markante Bootshaken-Form der Anzapfungsstelle, die Un- die Ausbildung des Randow-Welse-Urstromtals und schließ- terproportionierung heutiger Flüsse (underfit streams) in al- lich durch den heutigen Lauf der unteren Oder mutmaßen ten, vom angezapften Fluss verlassenen Talfortsetzungen MARCINEK et al. (1996, S. 13): „Noch vor Ende der Kaltzeit und die Aussagekraft flusssedimentologischer Befunde. Die wurde die Oder nach Norden umgelenkt und trennte sich deutsche Literatur hebt beispielhaft zumeist das Anzapfen nach dem Durchfluss durch das Randow-Recknitz-Urstrom- des oberen Donaueinzugsgebietes durch den Rheinneben- tal vom Elbesystem. Erst danach führten sie austauendes fluss Wutach hervor (MACHATSCHEK 1973, S. 68, WILHELMY Toteis und rückschreitende Erosion in ihren Unterlauf“. 2002, S. 84). Im nordostdeutschen Jungmoränengebiet gilt Hiermit, wie auch in der Äußerung LIEDTKEs (1975, S. 55) die Anzapfung des heutigen Roten Landes durch das von zum „ [...] ‚Durchbruch’ des Frankfurter Odertales infolge Süden nach Bad Freienwalde hinab ziehende Brunnental, Tieftauens von Toteis“ wird die hohe Einstufung der Erklä- ausgelöst durch austauendes Toteis, als Paradebeispiel (u. a. rungsvariante Toteis unterstrichen. MARCINEK 1994, S. 142). Dieses Anzapfungsgeschehen in einem Stauchmoränenkomplex bietet aber keine Analogi- Rückschreitende Erosion mit Flussanzapfung en zum hier diskutierten größerskaligen Flussnetzumbau. Das Konzept Flußanzapfung (stream piracy) wurde 1890 von W. M. DAVIS (s. BISHOP 1995) aufgebracht. Vorausset- Die Ausbildung des holozänen Verlaufs der unteren Oder zung sind erhebliche Unterschiede in der Höhenlage be- lässt sich plausibel als Ergebnis einer Anzapfung (vom Ost- nachbarter Flusssysteme bei einer niedrigen Wasserschei- seebecken rückschreitend mit Anzapfungspunkt des Ebers- de. Durch rückschreitende Erosion, getrieben allein aus walder Urstromtals im Raum Neuenhagen) deuten. Die Prin- Oberflächenabfluss im Sinne von HORTON (1945) kann sich zipskizze in Abbildung 1 illustriert die anzapfungsrelevanten ein Tal lediglich bis dicht an die Wasserscheide heran ein- Rahmenbedingungen, die sich auch auf den Unterlauf der tiefen. Um die Wasserscheide zu überwinden und anzap- Weichsel übertragen lassen. Als begleitende typische Merk- fend zum benachbarten Fluss vorzudringen, bedarf es wei- male einer Flussanzapfung sind zudem gegeben:

Abb. 1 Erste Umbildungsphase des Entwässerungssystems Nord- mitteleuropas: Anzapfung ei- nes Urstromtals infolge rück- schreitender Erosion eines nordwärts fließenden Gewäs- sers; Prinzipskizze Fig. 1 First rearrangement phase of the central European draina- ge network: River piracy of an outwash channel due to headward erosion of north- ward flowing river; princip- le sketch

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ƒ Anzapfungsknie (bei Neuenhagen), eis. Je später (und damit eisrandferner) eine Anzapfung ƒ rechtwinklig angeordnetes (wenn auch nicht unbedingt stattgefunden hat, etwa kleine Flüsse wie die heutige Spree stacheliges) Flussnetz (u. a. Finow, Ragöse, Miezel/ und das Baruther Urstromtal betreffend, desto mehr dürfte Mysla), der Gewässernetzumbau auf fluviale Prozesse beschränkt ƒ verlassenes Talstück mit Talwasserscheide (Urstromtal- geblieben sein. segment bei Eberswalde) und ƒ Eintiefung um rezent ca. 35 m gegenüber dem Urstromtal- Überborden eines Urstromtales infolge starken Abflusses niveau, welche sich weit in das Warthebruch fortsetzt oder einer Blockade und als Randzertalung in benachbarte Moränenplatten Wenn die Sediment-Barriere zwischen einem auf hohem Ni- auftritt sowie in Gestalt der Finow in das verlassene Tal- veau verlaufenden und einem tiefer liegenden Nachbarfluss stück hingreift. geringe Höhe aufweist, kann ein Überborden des höher ge- MARCINEK et al. (1996, S. 13) nennen in diesem Sinne im oben legenen Flusses bei Hochwasser durch Einschneiden der bereits ausgeführten Zitat das Schlüsselwort: “... führten Barriere den Flussnetzumbau herbeiführen. Eine solche Hoch- sie [die Oder] austauendes Toteis und rückschreitende Ero- wassersituation kann durch hohe Abflüsse (verstärkt infol- sion [Hervorhebung v. Verfasser] in ihren Unterlauf“. ge von Permafrost und Vegetationsarmut) aber auch durch Die rückschreitende Eintiefung hat im Spätpleistozän durch eine mechanische Blockade im Flusstal hervorgerufen wer- den tiefen Meeresspiegel im eisfrei werdenden Ostseebe- den. Blockierend oder behindernd können erneute Eisvor- cken vorübergehend eine starke vorflutinduzierte Intensi- stöße, ihnen vorausgehende Sandschüttungen, Schwemm- vierung erfahren. Während des Böllings reichte nach BROSE fächer stark Sediment führender Nebenflüsse des Urstrom- (1994, S. 153; 1995, S. 1302) das Erosionsniveau des Oder- tals oder auch Dünen wirken. CARLS (1995, S. 275) betont in tals bei Neuenhagen bis -40 m NN hinab und im zentralen diesem Sinne z. B. „Dünenfelder bedrängten die Spree in ih- Bereich des Oderbruchs bis -30 m NN. rem Lauf nach NW“. LIEDTKE (2001, S. 129) nennt weiter die Oder aufwärts bei Frankfurt (Oder) unter Berufung auf BROSE noch -21m NN Seitenerosion als Tiefenmaximum der böllingzeitlichen Oder und am west- Schließlich ist eine starke Seitenerosion (bei mäandrieren- lichen Rand des Odertals bei Wüste Kunersdorf [6 km nörd- den Flüssen bevorzugt am Prallhang) als weitere Ursache lich Frankfurt (Oder)] wies BROSE (1995, S. 1307) noch -4 m der Durchbrechung einer schmalen natürlichen Barriere zwi- als tiefstes Erosionsniveau nach. schen Flussläufen verschiedenen Höhenniveaus denkbar. Solch tiefes und weit in das Inland greifendes Einschneiden Die in Nordmitteleuropa vorliegenden Talbreiten und Prall- macht auch ein Anzapfen der periglaziärfluvialen Abflüsse hangradien machen diese Ursache aber als allein auslösen- des Berliner Urstromtals wahrscheinlich. Gegenüber einer den Faktor der skizzierten Flussnetzumbildung unwahr- Flussanzapfung in rein fluvialem Milieu tritt hier allerdings scheinlich. Folgendes modifizierend hinzu: Das sukzessive Abschmel- zen des zunächst die Nordentwässerung völlig unterbin- Für die Erklärung des Flussnetzumbaus Nordmitteleuropas denden Inlandeises, der Wechsel der Hauptwasserquelle sollte weniger nach der Wahrscheinlichkeit der skizzierten (Schmelz- zu Niederschlagswasser) und austauendes Tot- Prozesse als nach der Art ihres Zusammenwirkens gefragt

Abb. 2 Flussnetze und Einzugsgebiete von Elbe und Oder/Odra nördlich der Mittelgebirgsschwelle mit Urstromtälern (gepunktet) Fig. 2 River networks and catchments of the rivers Elbe and Odra north of the low mountain barrier with outwash channels (dotted)

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werden. Das eisfrei werden potenzieller Fliessbereiche ist wo heute undurchflossene Urstromtalabschnitte an stark ein- unstrittig eine primäre Randbedingung. Toteis bedingte getiefte, noch Norden führende Talsegmente grenzen. Da- Senkung regionaler Vorflutniveaus oder das Einsinken to- neben fällt eine ausgeprägte Dominanz östlicher Zuflüsse teisunterlagerter Sediment-Barrieren ist immer in Erwägung und damit eine Ostlastigkeit der Haupteinzugsgebiete auf, zu ziehen. Die rückschreitende Erosion beschreibt die je was MARCINEK (1991, S. 241) von der Elbe ausgehend tref- nach Rahmenbedingungen verschieden effektiv wirkende fend verallgemeinert: „Trotzdem behielt das Elbe-System in- rein fluviale Prozesskomponente des Flussnetzumbaus. folge der zu ihm westwärts geneigten Urstromtalböden – wie das Weser-System im Westen und das Oder-System im Os- Das Überborden kann seinerseits oft der letzte Auslöser sein, ten – in diesem Bereich ein weit ostwärts, bis in die Nähe des bedarf aber einer Schwächung der sedimentären Barriere und nächsten östlichen Stromes ausgeweitetes Einzugsgebiet“. eines Höhenunterschieds. Beides dürfte meistens erst durch So liegen beispielsweise nur 4,7% des Odereinzugsgebiets rückschreitende Erosion des tieferliegenden Flusses und/ [entspr. 5 550 km2] westlich von Oder und Neiße (MARCINEK oder Toteiswirkungen hervorgerufen worden sein. Auch die 1991, S. 221). Seitenerosion kann nur bei vorbereitend geschwächter Bar- riere zur auslösenden Prozesskomponente werden. Neben Im Jungmoränengebiet Nordmitteleuropas bestehen damit Erwägungen zum Zusammenwirken der geschilderten Pro- in ihrer Fließrichtung vorzugsweise rechtwinklig springende zesse bzw. Prozesskomponenten ist auch deren Einteilung asymmetrische Flussbäume mit Hauptflüssen, die jeweils am nach aufwärts und abwärts gerichteter Wirkungsweise (BIS- Westrand ihrer Einzugsgebiete positioniert sind. Zudem exis- HOP 1995) erhellend: Aufwärts wirken rückschreitende Ero- tiert ein Talungsgitter, welches die Moränenplatten als flä- sion (die klassische Flussanzapfung) sowie das eisfrei Wer- chendominante morphologische Einheiten ausgliedert und den tieferliegender Regionen. Abwärts gerichtet wirken das damit das wesentliche morphologische Gliederungsgerüst Überborden und die Seitenerosion. Toteiswirkungen kön- der Landschaft bildet. BERGHAUS (1854, Bd. 1, S. 298) war von nen je nach Situation zu beidem beitragen. dieser „eigenthümliche[n] Verkettung und Verschlingung der Niederungen unter sich und zwischen den beiden Haupt- In der regionalen glazialmorphologischen Forschung ist der Stromgebieten“ so fasziniert, dass er vor der Verfügbarkeit Flussnetzumbau hinsichtlich des Wandels des Gerinnemus- glazialmorphologischer Erklärungen sogar zu einer tektoni- ters und dessen zeitlich-logischer Abfolge sehr plastisch schen Deutung („Bewegungen im Erdinneren“) neigte. beschrieben. Die generell durchklingende Deutung: „Das Eis gibt Raum, folglich kann der Gebietsabfluss wieder nach Das Holozän kann bis zum Beginn menschlichen Einflusses Norden verlaufen“ ist dabei im übergeordneten zeitlichen „infolge der warmzeitlichen Walddecke als Phase gehemmter und räumlichen Betrachtungsmaßstab zweifellos zutreffend, und schwacher Erosion“ (MARCINEK et al. 1996, S. 16), d. h. es fehlt aber oft eine Festlegung auf Prozesse bzw. die Pro- als geomorphodynamisch stabil angesehen werden. Diese zesskombination einzelner Umbauschritte. Überwiegend fin- Stabilität wurde noch begünstigt durch die frühholozäne den sich vom Resultat her aufgezäumte, gewissermaßen te- Transgression mit Abschwächung der Haupterosionsbasis, leologisch strukturierte Deutungen, die bestimmte Prozesse wodurch sich u. a. „das Gefälle im unteren Odertal stark ver- lediglich implizieren (s. o.). Verf. hoffen, mit den obigen Aus- ringerte und es zu einer erheblichen Aufschüttung im Oder- führungen künftigen Erörterungen der Prozesse, welche den lauf kam“ (LIEDTKE 1996, S. 341). Flussnetzumbau vorbereitet und ausgelöst haben, eine Struk- Sobald aber der Mensch durch wasserbauliche Maßnahmen turierungshilfe zu geben. sowie durch Rodungen mit nachfolgend erosionsfördern- dem Ackerbau als ein die Landschaft verändernder Faktor auftrat, ging Nordmiteleuropa zumindest lokal in einen Zu- 3. Konservierung und anthropogene Nutzung des stand anthropogen erzeugter bzw. initiierter geomorphody- Flussnetzes im Holozän namischer Teilaktivität (ROHDENBURG 1989, S. 121) über. Die Mit der Ablösung glazialer und periglazialer Formungsakti- Wasser- und Winderosion infolge von Ackerbau und ggf. vität durch die geomorphodynamische Stabilitätsphase des auch Überweidung steigerte flächenhaft die Morphodyna- Holozäns (im Sinne von ROHDENBURG 1989, S. 121) mit zu- mik. In Agrargebieten nahmen Oberflächenabfluss und flu- nehmend geschlossener Vegetationsdecke ergab sich die viale Materialverlagerung zu bzw. traten überhaupt erst wieder Fixierung des hergeleiteten Übergangszustands: Einerseits auf. Damit wurden bis heute die Hangformen sukzessive werden die Urstromtäler von den warmzeitlichen Wasser- verändert (BORK et al. 1998) und die Vorfluter je nach Stand- läufen nur noch abschnittsweise durchflossen, andererseits ort und Charakteristik eines Abflussereignisses akkumulativ ist trotz zahlreicher nordwärts gerichteter Flusssegmente oder erosiv beeinflusst. noch kein dendritisch strukturiertes, dem generellen Nord- gefälle eingeordnetes Flussnetz ausgebildet (Abb. 2). Abflusslose Hohlformen, ein Charakteristikum der Jungmo- ränenlandschaft, wurden seit Jahrhunderten zu meliorativen Dieser Übergangszustand äußert sich neben dem Hervor- Zwecken, aber auch zur Gewinnung von Aufschlagswasser treten der beiden Vorzugsrichtungen in auffälligen Diskonti- für Mühlen, an die zum Meer gerichtete (exorheische) Ent- nuitäten und Asymmetrien: Die Flüsse ändern nicht nur oft wässerung angeschlossen: „Hier hat der Mensch dem na- sprunghaft ihre Laufrichtung, sondern das System der Ta- türlichen Reifungsprozess, der Angliederung von Binnen- lungen zeigt auch ausgeprägte Stufen an den Positionen, entwässerungsgebieten an benachbarte Flussgebiete, nach-

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geholfen“ (DRIESCHER 1969, S. 115). Die Einordnung der 4. Potenzielle Entwicklung des Flussnetzes – zweite anthropogenen Anzapfung von Binneneinzugsgebieten als Umbildungsphase Beschleunigung eines natürlichen Reifungsprozesses ist Mit der im Holozän fixierten Verschränkung der beiden reizvoll, da sie impliziert, dass der Mensch an ohnehin be- Hauptfließrichtungen bei östlich ausgreifenden Hauptein- stehenden Sollbruchstellen beschleunigend, und weniger zugsgebieten ist Nordmitteleuropa noch weit von einem naturfern verändernd, gewirkt hat. warmzeitlichen Gleichgewichtszustand entfernt. Das Poten- zial für die Weiterentwicklung zeigt sich am deutlichsten Vergleichbares gilt für den über Jahrhunderte vollzogenen im engräumigen Anstieg zum Zehnermeter höher liegenden Kanalbau. Hier wurde von Beginn an die Eignung der Ta- Rand des jeweils westlich anschließenden Einzugsgebie- lungs-Vergitterung für den Wasserstraßenbau erkannt und tes. Die zugehörige generelle Asymmetrie des Wasserschei- genutzt. Die Prosperität und seines Umlands wird in denprofils zeigt sich am augenfälligsten an den Talwasser- zahlreichen Landesbeschreibungen mit dieser Gunstsituati- scheiden im Bereich der heute undurchflossenen Urstrom- on in Verbindung gebracht: BERGHAUS (1854, S. 299) betont: talabschnitte (Abb. 5, 7 u. 9). „Keine Provinz des großen, weiten deutschen Vaterlandes ist in Beziehung auf natürliche Wasserstraßen so begüns- MARCINEK (1969, S. 93) beschreibt die Weiterentwicklung im tigt, als die Mark Brandenburg“, und für FECHNER (1900, S. Wasserscheidenbereich nach der ersten Umbildungsphase 41) gilt diese Gunst sogar über den Kanalverkehr hinaus: unter Nennung der auslösenden Rahmenbedingung (tiefere „Die Vorzüge der geographischen Lage, die dem Ausbau Erosionsbasis) sowie des Schlüsselprozesses zunächst am weitausgreifender Wasserwege so günstig waren, haben Beispiel der Finoweintiefung: „Dadurch vermochte die rück- auch die Anlage künstlicher Verkehrsstraßen auf dem Lande schreitende Erosion über das Finowgebiet einen größeren gefördert. Von gehen vierzehn Chausseen und 13 Ei- Einzugsraum, der heute zum Odersystem gehört, nach Wes- senbahnen aus; ein großer Teil derselben verläuft in den ten vorzuschieben“, und erweitert diese Aussage wenig spä- großen Thälern und den gleichzeitig mit ihnen entstande- ter auf den gesamten Wasserscheidenbereich einschließlich nen Querverbindungen“. der in dieser Arbeit behandelten Talwasserscheiden (S. 93f): „Das periglaziäre Odersystem [...] schob über das Berliner MARCINEK (1969, S. 96) schließlich hebt den morphogeneti- und Eberswalder Urstromtal sowie die kräftige, periglaziäre schen Aspekt der Situation explizit hervor: „Die Kreuzung Randzertalung westlich von Neiße und Oder, bedingt durch der beiden nacheinander entstandenen Hauptentwässe- die günstigere Erosionsbasis, seine Wasserscheide langsam rungsrichtungen erlaubte tiefgreifende, anthropogene Um- westwärts“. gestaltungen. Die Gunst der glaziären, zum Elbeverlauf ge- neigten Entwässerungssysteme konnte für den wirtschaft- Sobald unter veränderten Rahmenbedingungen seitens Land- lich überaus wichtigen Wasserstraßenbau genutzt werden. nutzung bzw. Vegetationsbedeckung, Klima oder auch Vor- Ein ausgedehntes, weitverzweigtes Kanalnetz verbindet die flut Nordmitteleuropa wieder in einen Landschaftszustand heutigen, südnordgerichteten Hauptentwässerungsadern morphogenetischer Aktivität wechselt, muss sich die rück- über alte Schmelzwasserwege des Inlandeises“. schreitende Talausweitung nach Westen als zweite Umbil-

Abb. 3 Zweite Umbildungsphase des Entwässerungssystems Nordmitteleuropas: Rück- schreitende Erosion in un- durchflossenes Urstrom- talsegment mit potenziel- ler Anzapfung abwärtiger Zuflüsse; Prinzipskizze Fig. 3 Second rearrangement phase of the central Euro- pean drainage network: Headward erosion into abandoned outwash chan- nel segments with poten- tial river piracy of downs- lope tributaries; principle sketch

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zess besondere Wirkung in den westwärtigen undurchflos- senen Fortsetzungen der Urstromtäler, den quasi geköpften Hängetälern entfalten, weil diese formbedingt Sammelbah- nen für den Oberflächenabfluss sowie bevorzugte Bereiche von Quellaustritten sind.

Unter wiedererwachender geomorphodynamischer Aktivität ist dort eine rückschreitende Verlängerung und Vertiefung der periglazial gebildeten Kerbtäler (wie man sie in Relation zu den anderen Talform-Ausprägungen Nordmitteleuropas wohl nennen darf) zu erwarten. Die unter gegenläufigem Ge- fälle bereits erheblich in die trockengefallenen Urstromtal- segmente hineinreichenden Täler wachsen weiter in diese hinein, bis sie eine Anzapfung erster Zuläufe des betreffen- den Urstromtalsegments vollziehen (Abb. 3).

In diesem Sinne wollen wir den Taleinschnitt der Finow im Eberswalder Urstromtal, den der Schlaube im Berliner Ur- stromtal sowie (trotz einiger Abweichungen) den Einschnitt der in der Buckower Rinne als (potenzielle) „Anzap- Abb. 4 fungsklingen“ bezeichnen, die sich durch die Eberswalder, Pforten potenzieller Flussanzapfungen von Elbzuflüssen durch Müllroser sowie Buckower „Anzapfungspforten“ zu ihren Nebenflüsse der Oder „Anzapfungsopfern“, im beschriebenen Gebiet zunächst Fig. 4 Havel bzw. Spree, hin ausdehnen (Abb. 4). Gates of potential river piracy of River Elbe tributaries by tributa- ries of River Odra Die Analyse der drei Pforten ergibt, gestützt auf generalisier- te Längsprofile, folgende Ergebnisse:

dungsphase des Gewässernetzes fortsetzen. Neben der Bei der Eberswalder Pforte (Abb. 5 u. 6) bestehen ca. 39 km durchgehend auflebenden Randzertalung wird dieser Pro- Distanz von Anzapfungsvorflut (Niveau Alte Oder bei Nie-

Abb. 5 Die Eberswalder Pforte im Ebers- walder Urstrom- tal; generalisier- tes Längsprofil Fig. 5 The Eberswalde gate within the Eberswalde out- wash channel; ge- neralized section

Abb. 6 Die Eberswalder Pforte; 3d-Darstellung mit Kerbtal des potenziellen Anzapfers Finow; Blick vom nördlichen Oderbruch nach Westen zum Haveltal (im Bildhintergrund von rechts nach links verlaufend); Dar- stellung 25fach überhöht, basierend auf Daten des DGM 25, freigegeben durch die LGB Brandenburg Fig. 6 The Eberswalde gate; 3d-display with gul- ly of the potential piracy river Finow; View from northern Oderbruch to the west towards Havel valley (in the background from right to left); display exaggerated 25fold, based on data of DGM 25; cour- tesy of LGB Brandenburg

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derfinow, 1 m NN) bis zum potenziellen Anzapfungspunkt Bei der Müllroser Pforte (Abb. 7 u. 8) bestehen 21 km Dis- (Havel westlich Liebenwalde, 37 m NN). Die Rahmenbe- tanz von Anzapfungsvorflut (Niveau Ziltendorfer Niede- dingung für das Anzapfungspotenzial besteht damit in 36 m rung, 22 m NN) bis zum potenziellen Anzapfungspunkt Höhenunterschied über 39 km Distanz. (Spree bei Neuhaus, 39 m NN). Die Rahmenbedingung für Die potenzielle Anzapfungsklinge (Finow) hat davon ca. das Anzapfungspotenzial besteht damit in 17 m Höhenun- 25 km weit (bis Ruhlsdorf) bereits das Havelniveau unter- terschied über 21 km Distanz. schnitten. Als sedimentäre Barriere verbleiben 14 km von Der potenzielle Anzapfer (Schlaube) hat davon ca. 8 km weit maximal 3 m Barrierehöhe (an der Wasserscheide bei Zer- (bis Schlaubehammer) bereits das Spreeniveau unterschnit- penschleuse mit 40 m NN). ten. Als sedimentäre Barriere verbleiben 13 km von maximal

Abb. 7 Die Müllroser Pforte im Berliner Urstrom- tal; generalisiertes Querprofil Fig. 7 The Müllrose gate within the Berlin out- wash channel; gene- ralized section

Abb. 8 Die Müllroser Pforte, 3d-Darstellung mit Kerbtal des potenziellen Anzapfers Schlaube; Blick von der Ziltendorfer Niederung nach Westen bis zum Spreetal (im Bildhintergrund von links einbiegend) Darstel- lung 25fach überhöht, basierend auf Daten des DGM 25, freigegeben durch die LGB Brandenburg Fig. 8 The Müllrose gate; 3d-display with gully of the potential piracy river Schlaube; View from the Ziltendorfer Niederung to the west until Spree valley (in the background incoming from the left); display exaggerated 25fold, based on data of DGM 25; courtesy of LGB Brandenburg

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4 m Barrierehöhe (an der Wasserscheide westlich Müllrose sich die Stobber etwa 3 km durch rückschreitende Erosion mit 43 m NN). in südwestliche Richtung ein“.

Die Buckower Pforte ist Teil der Buckower Rinne, einer vom Dieser Eintiefungskraft der Stobber steht allerdings eine Mohriner Sander der Pommerschen Eisrandlage nach Süd- mächtigere sedimentäre Barriere (47 m NN Wasserscheiden- westen über das von Toteis erfüllte Oderbruch zum Berliner höhe) als bei den zuvor genannten Pforten entgegen. Aber Urstromtal angelegten Abflussrinne (LIEDTKE 1996, S. 338; gerade infolge der großen Höhendifferenzen hat die Stobber LIEDTKE 2003, S. 50). Als zum Urstromtal entwässerndes Kas- ein besonders ausgeprägtes, rückschreitend erodierendes tental entwickelte sie sich weit stärker geneigt (Ansatz bei Kerbtal hervorgebracht, welches seinen aktuellen oberen Siekierki/Zäckerick und Gozdowice/Güstebiese am östlichen Endpunkt morphographisch und landschaftsökologisch gut Oderbruchrand bei 58 m NN) und mit ca. 2 km Breite weit erkennen lässt (Abb. 10). schmaler als die bisher erörterten Urstromtalsegmente. Durch die vom Oderbruch gegenläufig einschneidende Anzap- Setzt man die künftig mögliche weitere Ausdehnung der An- fungsklinge der Stobber sowie durch umfangreiche Toteis- zapfungsklingen mit der bisher vollzogenen rückschreiten- hohlformen (HAMEISTER 1955, MARCINEK & ZAUMSEIL 2003, den Erosion in Beziehung, muss die Begünstigung der bis- DALCHOW 2004) ist die ursprüngliche Kastentalgestalt nur herigen Eintiefung durch die um Zehnermeter tiefere Haupt- noch vom Wasserscheidenbereich (der eigentlichen Pforte) erosionsbasis im Spätpleistozän (s. Pkt. 2) berücksichtigt wer- an nach Südwesten erhalten. den.

Bei der Buckower Pforte (Abb. 9) bestehen 31 km Distanz Damit eignet sich das bisherige Wachstum der Anzapfungs- von Anzapfungsvorflut (Friedländer Strom im Oderbruch, klingen nicht als Grundlage linearer Hochrechnungen künf-

Abb. 9 Die Buckower Pforte in der Buckower Rinne, generalisiertes Querprofil Fig. 9 The gate within the Buckow trench; generalized section

5 m NN) bis zum potenziellen Anzapfungspunkt (Spree bei tiger Entwicklung. Eine lineare Fortschreibung verbietet sich Hangelsberg, 35 m NN), wobei zuvor bereits die auf dem darüber hinaus, weil die rückwandernde Stufe einerseits suk- Wege befindliche kleine Löcknitz angezapft würde. Die Rah- zessive an Höhe verliert, andererseits die Anzapfungsklinge menbedingung für das Anzapfungspotenzial besteht damit durch erste Anzapfungen kleinster Wasserläufe bereits über- in 30 m Höhenunterschied über 31 km Distanz. Der potenzi- proportional an Abfluss und damit Kraft gewinnt. elle Anzapfer (Stobber) hat davon ca. 12 km weit (bis Wald- sieversdorf) bereits das Spreeniveau unterschnitten. Als Mit Anzapfung von oberer Havel (ca. 2 500 km2) und oberer Gelände-Barriere verbleiben 16 km von maximal 12 m Barrie- Spree (ca. 6 800 km2) an den skizzierten Punkten würden dem rehöhe (an der Wasserscheide im Roten Luch mit 47 m NN). Odereinzugsgebiet von aktuell 119 000 km2 (IKSE 1995) ca. 9 300 km2 zuwachsen. Damit nähme das Odereinzugsgebiet STEIDL & KALETTKA (1993, S. 13) beobachten rezent eine „enor- westlich von Oder und Neiße (5 550 km2; MARCINEK 1991) me Eintiefung des Baches [Stobber] seit 1972 oberhalb des von bisherigen 4,7% auf über 11% des (dann auf 128 300 km2 Mühlenfließes“ mit rückschreitenden „Sohleneintiefungen angewachsenen) Einzugsgebiets zu. um bis zu 1 m“ infolge regelmäßiger Beräumung der Sohle besonders im Staubereich der Eichendorfer Mühle. CARLS Ein nennenswertes Wachstum der Anzapfungsklingen ist (1995, S. 281) stellt darüber hinaus fest: „Im Holozän schnitt unter dem aktuellen geomorphodynamisch weitgehend sta-

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Abb. 10 Luftbild der Buckower Pforte; nordöstlicher Teil des Roten Luchs, Blickrichtung NE; oberer Ansatzpunkt der Einschnei- dung der Stobber. Der über die Talwasserscheide (unterhalb des Fotostandorts) verlaufende Graben geht am oberen Bildrand in ein natürlich eingetieftes und gewunden verlaufendes Gerinne über. Höhere Ufervegetation zeigt an, dass dort infolge stärkerer Strömung kein regelmäßiges Ausbaggern mehr nötig ist. Parallel zur Änderung der Flussmorpho- logie wechselt (infolge der natürlichen Drainung durch das sich einschneidende Stobbertal) die Landnutzung auf gleich bleibendem Höhenniveau von Grünland über kleinteiliges Ackerland zu Kiefernforst. Fig. 10 Aerial view of the Buckow gate; northeastern section of the Rotes Luch; view to NE; upward starting point of incision of the Stobber. The trench which crosses the divide right below the viewpoint transforms to a naturally incised and winding rivulet at the upper edge of the picture. Elevated bank vegetation indicates that no maintenance excavation is necessary due to stronger current. Parallel to the transition of the river morphology the land use changes from grass land to arable land and finally to pine forest. This change materializes on constant elevation due to natural drainage by the incised valley of the Stobber.

bilen Landschaftszustand nicht denkbar. Die administrativ ves Talwachstum dennoch nicht geläufig. Weniger organi- festgeschriebene anthropogene Kontrolle der betreffenden sierte Landnutzungsformen unter stärkerem Nutzungsdruck Gewässer von der Pflege der Mühlenstaue und Schleusen haben dagegen in Nordmitteleuropa erhebliches Tal- und über Uferbefestigungen bis zu Sohlstabilisierungen wirkt Kerbenwachstum hervorgebracht und tun dies in weiten zudem möglichen Eintiefungen aktiv entgegen. Regionen auch heute noch.

Die geomorphodynamische Stabilität würde aber durch jede Umweltkatastrophen mit zerstörender Wirkung auf das Pflan- Veränderung weiter eingeschränkt bzw. beendet, welche be- zenkleid haben ebenfalls das Potenzial, die für den Vollzug stehende Vegetationsbedeckung weiter unterbricht, aus- der skizzierten Anzapfungen erforderlichen Aktivitätsbedin- dünnt oder beseitigt. Sowohl erneut sich einstellendes Peri- gungen hervor zu bringen. Schließlich schaffen Kanalbau- glazialklima im Zuge einer weiteren Kaltzeit als auch eine ten mit Durchschneidung oder Erniedrigung der flachen Bar- starke Erwärmung oder Niederschlagsarmut bzw. ungünsti- rieren innerhalb der Anzapfungspforten das aktuell wirksams- ge Niederschlagsverteilung im Ergebnis anthropogen initi- te Anzapfungspotenzial. ierter oder sonstiger Klimaänderungen (global change) könn- te eine geomorphodynamische Aktivitäts- oder zumindest 5. Kanalbauten als Schwächung potenzieller Anzap- Teilaktivitätsphase hervorrufen. Die agrarische Landnutzung fungsstellen schafft durch ständige Unterbrechung der Vegetationsbe- deckung lokal Bedingungen geomorphodynamischer Teil- Die skizzierten Pforten potenzieller Flussanzapfung bilden aktivität (BORK et al. 1998, S. 18). Da Landnutzung in Mitte- gemäß ihrer genetisch-strukturellen Eigenart die Bereiche leuropa derzeit mit einer Kontrolle der Gewässer- und Tal- regional geringster Wasserscheidenhöhen zwischen den dynamik einhergeht, ist ungebremst rückschreitend erosi- Hauptflussgebieten. Entsprechend ihrer Lage in Urstromta-

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lungen ist auch die Strecke von einem Hauptfluss bis zur Überschlägig schneidet der Oder-Havel-Kanal um bis zu Wasserscheide und anschließend weiter zum jenseitigen 6,5 m in die sedimentäre Barriere ein (Wasserscheide bei Hauptfluss frei von wiederholtem Auf und Ab (Abb. 11). 40 m NN nahe Ruhlsdorf; Kanalpegel 37 m NN abzüglich

Abb. 11 Lage der Pforten potenzieller Flussanzapfungen von Elbzu- flüssen durch Nebenflüsse der Oder im Reliefkontext; basierend auf Daten des DGM 25, freigege- ben durch die Landesvermes- sung und Geobasisinformation Brandenburg (LGB) Fig. 11 Position of the gates of potential river piracy of River Elbe tribu- taries by tributaries of River Odra in context of the relief; based on data of DGM 25; courtesy of Lan- desvermessung und Geobasisin- formation Brandenburg (LGB)

Der an den Eberswalder und Müllroser sowie den meisten Ausbautiefe von 3,5 m). Mit 33,5 m NN Sohlenniveau ist strukturgleichen Pforten aufgrund der natürlichen Prädesti- die Barriere damit für den Durchfluss von Havel, Vosskanal, nierung realisierte Kanalbau schafft einen Einschnitt im Was- Langem Trödel etc. nördlich Liebenwaldes (Pegelhöhen von serscheidenbereich und schwächt bzw. beseitigt damit die 37 m NN und höher) hinreichend geöffnet und wird nur durch ohnehin schon geringmächtige geländeseitige Anzapfungs- Ingenieurbauwerke verschlossen gehalten. barriere meist auf ganzer Länge. Müllroser Pforte Eberswalder Pforte An der Müllroser Pforte ließ Kaiser Ferdinand I. 1558-1563 Pläne für einen künstlichen Wasserweg durch die Eberswal- einen Kanal-Abschnitt vom Werchensee bis zur Schlaube der Pforte reichen zurück bis ins Jahr 1540, der erste Finow- ausführen, welcher wieder verfiel, weil die bauliche Fortset- kanal entstand unter Nutzung des Finowbetts von 1605-1620. zung unterblieb (DRIESCHER 1969, S. 122). 1662-1668 entstand Bei einer Speisung über die Faule Havel besaß er 11 Schleu- unter Kurfürst Friedrich Wilhelm bei Nutzung des unteren sen (DRIESCHER 1969, S. 120f). Ein zweiter Finowkanal, der Schlaubetals der Friedrich-Wilhelm-Kanal mit zunächst 11, über zunächst 16 Schleusen (heute 12) den Abstieg vom ab 1858 neun Schleusen. Ein dritter, großzügig bemessener Havel- zum Oderniveau vermittelte, folgte 1743-1746. Seine Oder-Spree-Kanal entstand 1886-1890 mit 40,7 m NN Höhe Speisung verlief über den Alten Vossgraben (z. T. der ver- und einer Wegführung südlich des Schlaubetals. Seine Schei- sandeten oberen Faulen Havel folgend) und ab 1780 über telhöhe wird über ein Pumpwerk und den Speisekanal Neu- den Neuen Vossgraben. Der dritte, auf 37 m NN Höhe (Pegel- haus gewährleistet. Zum Oderniveau hinab vermittelt die höhen nach UHLEMANN 1995 sowie topographischen Kar- Schleuse Eisenhüttenstadt mit einer Hubhöhe von 12,5 m. ten) durch die Eberswalder Pforte gelegte Wasserweg, der 1906-1914 erbaute Oder-Havel-Kanal (bis 1918 Hohenzoll- Überschlägig schneidet der Oder-Spree-Kanal um reichlich ern-Kanal, dann Großschifffahrtsweg Berlin-Stettin) erleich- 5 m in die Gelände-Barriere ein. (Wasserscheide bei 43 m NN terte die Ostseeanbindung der Metropole Berlin erheblich. westlich Müllrose; Kanalpegel 40,7 m NN abzüglich Aus- Neben größerer Breite und Tiefe bündelte er den Abstieg um bautiefe von 3 m). Mit 37,7 m NN Sohlenniveau hat die Bar- 36 m zum Oderniveau in einer Schleusentreppe, die 1934 riere damit für den Durchfluss der Spree (Pegelhöhe Kersdor- durch das Schiffshebewerk Niederfinow abgelöst wurde. fer Schleuse bei 38 m NN) gerade die Schwelltiefe unterschrit-

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ten. Spätestens bei Hochwasser der Spree würde ohne Ingeni- Die überwiegend historisch-analytische Glazialmorpholo- eurbauwerke der Abfluss zur Oder umgehend möglich sein. gie wird durch eine prognostische Sichtweise ergänzt. De- taillierte Erwägungen bezüglich klimatischer oder gesell- Buckower Pforte schaftlicher Rahmenbedingungen, unter denen eine geolo- Auch die Buckower Pforte war, trotz ihrer genetisch bedingt gisch schnelle Weiterentwicklung des Gewässernetzes statt- höheren Lage der Wasserscheide, Gegenstand von Kanal- finden dürfte, bleiben weiterer Forschung vorbehalten. planungen. Als Alternative zum später realisierten Oder-Ha- vel-Kanal wurde eine Kanalvariante über Kagel-Buckow-Alt Zusammenfassung Friedland (Ostlinie) zu Ende des 19. Jh. anhaltend diskutiert Die Fluss- und Talsysteme des nördlichen Mitteleuropas (DRIESCHER 1969, S. 122; 1996, S. 20). Zur Überwindung des befinden sich, besonders im Jungmoränengebiet, in einem 31,5 m tiefen Abstiegs zum Odertal waren zwei hintereinander Zwischenstadium von periglaziärfluvialer zu rein fluvialer angeordnete Hebewerke geplant. Prägung. In einer ersten Umbildungsphase verließ der peri- Nach überschlägiger Rechnung hätte dieses Kanalprojekt glaziärfluviale Abfluss nach dem Rückschmelzen des weich- die 12 m mächtige Gelände-Barriere um 10 m (plus Kanaltie- selzeitlichen Inlandeises Teile der eisrandparallel gebildeten, fe) geschwächt, also ebenfalls durchörtert. westgerichteten Urstromtäler zugunsten nordgerichteter Abflusswege. Dass die Schwächung bzw. Durchörterung der sedimentä- ren Barriere im Wasserscheidenbereich der Pforten kein abs- Die resultierende Verschränkung der beiden Hauptfließrich- traktes Zahlenspiel ist, wird unterstrichen durch ein bereits tungen West (periglaziärfluvial) und Nord (Gefälle zum Ost- im 17. Jh. unwillentlich ermöglichtes einmaliges Übertreten seebecken) wurde im geomorphodynamisch weitgehend sta- der oberen Havel ins Odergebiet: Während des Dreißigjähri- bilen Holozän in Gestalt östlich ausgreifender Einzugsgebie- gen Krieges verfiel der 1. Finowkanal völlig. „Das Havelwas- te von Elbe, Oder und Weichsel zunächst fixiert. Die Haupt- ser floss über die Finow zur Oder ab, Überschwemmungen flusstäler mit ihren geringen Meereshöhen reichen dabei re- traten ein, die Finow versandete und der Wasserstand der gelhaft dicht an die um Zehnermeter höherliegende Grenze Havel nahm ab, so dass es den Mühlen bei Bötzow (Orani- zum westlich anschließenden Haupteinzugsgebiet. Das enburg) und Spandau an Betriebswasser fehlte. Man muss- daraus resultierende westgerichtete Anzapfungspotenzial der te den Kanal bei Zerpenschleuse mit einem starken Damm Hauptflusstäler kann bei zunehmender geomorphodynami- verschließen und die Schleuse bei Eberswalde zuschütten“ scher Aktivität in einer zweiten Umbildungsphase des Fluss- (DRIESCHER 1969, S. 120). In gleichem Sinne äußern sich MAR- netzes zu Ausweitungen der Einzugsgebiete der Hauptflüs- CINEK & SCHULZ (1995, S. 210), S. „... floss die obere Havel se nach Westen infolge von Anzapfung durch rückschrei- einige Zeit über die Finow zur Oder und war somit Neben- tende Erosion führen. fluss der Oder“, sowie MARCINEK et al. (1996, S. 17) und GRÄ- NITZ & GRUNDMANN (2002, S. 195). Allem Anschein nach liegt Morphographische Untersuchungen identifizieren potenzi- sämtlichen zitierten Erwähnungen dieses Havelwasserüber- elle Anzapfungspforten im Bereich heute undurchflossener tritts die ausführliche Beschreibung von BERGHAUS (1855, Urstromtalsegmente im Wasserscheidenbereich von Oder Bd. 2, S. 190f ) zugrunde. und Elbe. Kanalbauten haben dort die ohnehin schwachen sedimentären Barrieren erheblich geschwächt. 6. Ausblick Das Gewässernetz Nordostmitteleuropas hat einen wesent- Summary lichen Teil seiner glazialen Prägung bereits abgebaut, die The river and valley systems of northern central Europe are, Hauptflüsse folgen nach einer ersten Umbildungsphase des especially within the young moraine area, in a transition sta- Gewässernetzes nur noch eingeschränkt den Urstromtalver- ge between periglacial-fluvial and pure fluvial character. Du- läufen. Aber die Landschaft ist noch keineswegs in geomor- ring a first reorganisation phase the periglacial-fluvial runoff phodynamischem Gleichgewicht von Form und Prozess. Das left sections of the westward oriented, ice margin parallel Potenzial zu weiterer Umgestaltung drückt sich in extremer outwash channels in favour of northward oriented runoff Asymmetrie der Haupteinzugsgebiete sowie in Geländestu- channels. fen aus, die im Falle des Schiffshebewerks Niederfinow und anderer Abstiegswerke auch baulich unterstrichen werden. The resulting interfingering of both main runoff the west (periglacial-fluvial) and north orientation (decline to the bal- Die Sollbruchstellen künftiger Flussnetzumgestaltung (An- tic basin) became fixed during the geomorphodynamic stab- zapfungspforten) werden beispielhaft identifiziert. Die Fluss- le Holocene by ways of eastward extending catchments of anzapfung wird als ein wesentlicher Prozess thematisiert und the rivers Elbe, Odra and Vistula. Subsequently, the valleys gezeigt, wie das Kanalbauwesen die Sollbruchstellen von of the major rivers regularly reach close to the divide of the Beginn an als Pässe zwischen Flussgebieten genutzt und westward neighbouring catchment, which is situated at an dabei notwendigerweise geschwächt hat. altitude of tens of meters above.

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86 Brandenburgische Geowissenschaftliche Beiträge 1/2-2005

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