Die Oder Greift Ins Elbegebiet – Spannungsverhältnisse Und Sollbruchstellen Zwischen Zwei Flussgebieten
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Brandenburg. geowiss. Beitr. Kleinmachnow 12 (2005), 1/2 S. 73-86 11 Abb., 35 Lit. Die Oder greift ins Elbegebiet – Spannungsverhältnisse und Sollbruchstellen zwischen zwei Flussgebieten River Odra grabs into the Elbe catchment – Tensions and potential sites of breakage between two catchments CLAUS DALCHOW & JOACHIM KIESEL 1. Einführung kontinuierlicher Abflussweg möglich wurde. Dies führte wie- Eisrandbegleitende Entwässerungsbahnen, besonders die derholt zu einer jeweils länger anwachsenden Dehnung der Urstromtäler der jüngsten, weichselzeitlichen Vereisung, Distanz zwischen Eisrand und zugehörigem Urstromtal und haben der nordmitteleuropäischen Landschaft ein nachhal- zu einem südwärtigen Durchfließen älterer Endmoränengür- tiges Gepräge gegeben. Bereits BERGHAUS skizziert 1854, über tel unter Ausbildung von Schmelzwasserpforten (LIEDTKE 20 Jahre vor einer genetisch schlüssigen Deutung im Zuge 1956/57, LIEDTKE 2003, S. 50). der Inlandeistheorie, diesen Umstand treffend: „Und diese Thal-Niederungen sind es, welche nach ihrer Richtung und Die älteren, außer Funktion geratenen Urstromtäler dienten Ausdehnung bei uns das ersetzen, was in anderen Ländern aber weiterhin dem periglaziärfluvialen Abfluss (LIEDTKE 2001, die Bergketten thun; sie sind das Hauptmerkmal zur Erken- S. 123) bzw. den das eisferne Gletschervorland entwässern- nung der großen Züge in der geologischen Physiognomie den Flüssen (Vorlandflüsse) als Sammellinien. Da das Schmelz- der Boden-Plastik“ (BERGHAUS 1854, Bd. 1, S. 298). wasser den Urstromtälern unter Aufschüttung – wenn auch sehr gering – südlich geneigter Sanderflächen zufloss, er- Die glaziale Prägung des Fluss- und Talsystems Nordmittel- hielten sie regelhaft eine sedimentäre Nordbegrenzung: „Da- europas durch die Urstromtäler wurde bisher nur unvoll- mit enden die Sander der drei großen Stillstandsphasen mit ständig zu Gunsten einer nordgerichteten, fluvial dendriti- Stufenrändern und bilden an diesen Stellen die Nordbegren- schen Entwässerung überwunden. Im Folgenden wird un- zung des jeweils jüngeren Urstroms. Aus nördlicher Rich- tersucht, welche Prozesse für diese Umbildung des Gewäs- tung zum Tal geneigte Entwässerungsbahnen belegen, dass sernetzes in Frage kommen und welche Probleme dabei noch es sich um Schmelzwässer des Eises gehandelt haben muss“ offen sind. Für die erwartbare Fortsetzung der Gewässer- (MARCINEK 1961, S. 438). Nach Ablösung eines Urstromtals netzumbildung werden im Wasserscheidenbereich zwischen ist daher dessen zeitgleicher fluvialer Anschluss (über not- Oder/Odra und Elbe beispielhaft Sollbruchstellen nachge- wendig durchgehend nordwärtiges Gefälle) an das jüngere, wiesen und zugehörige Szenarien vorgestellt. gerade aktive, nicht zu erwarten. Gravierende Umbildungen des Flussnetzes verlangen mor- Die Urstromtäler bekamen bzw. behielten folglich bei ihrer phodynamisch aktive Landschaftszustände, wie sie das sukzessiven Entstehung und Inaktivierung nicht zwangsläu- morphodynamisch stabile Holozän von Natur aus nicht bie- fig über nordwärtige Fließwege Kontakt untereinander. Da- tet. Eingriffe wie Rodung, Ackerbau, Entwässerung und her ist auch das unmittelbare Nachfolgen der Vorlandflüsse besonders Kanalbauten schaffen aber zumindest lokal eine in jeweils jüngere, nördlicher gelegene Urstromtäler nicht anthropogen induzierte geomorphodynamische Teilaktivi- zwingend erwartbar. Das Thema nordwärtiger Verbindungs- tät, welche bereits nennenswerte Vorarbeiten künftig mögli- fließwege betrifft, flächenhafte Sandersäume nördlich der cher Umbauschritte geleistet hat. Urstromtäler vorausgesetzt, die Umkehr der Fließrichtung gegenüber jener bei der Sanderschüttung. 2. Entwicklung des Flussnetzes Nordmitteleuropas im Der heutige Zustand (s. Pkt. 3) zeigt dagegen, dass eine Eis- ausgehenden Pleistozän – erste Umbildungsphase rand-Nachfolge der Vorlandflüsse eingetreten ist, aber Das kontinuierliche Durchfließen einzelner Urstromtäler von keineswegs umgehend und längst nicht überall: Lange Ur- Schmelzwässern folgte dem nach Norden zum Ostseebecken stromtalsegmente blieben bis heute genutzt, sie bieten dem unter Oszillationen rückschmelzenden weichselzeitlichen In- holozänen Abfluss ein zwar geringes, aber hinreichend durch- landeis verzögert und räumlich versetzt. Diese vollaktiven gehendes Gefälle. Den Wandel des zunächst eisrandparallel Phasen waren nur relativ kurz und galten immer nur für jeweils ausgebildeten Talsystems zum skizzierten heutigen Zustand ein Urstromtal (MARCINEK 1961, LIEDTKE 1996, S. 347). Nörd- partiell nordwärtiger, dem übergeordneten Gefälle zum Ost- licher gelegene Urstromtäler etablierten sich immer erst, so- seebecken folgender Entwässerung bezeichnen wir im Fol- bald in tiefer gelegener und eisrandnäherer Position ein neuer genden als erste Umbildungsphase. Brandenburgische Geowissenschaftliche Beiträge 1/2-2005 73 Dalchow_073-086.P65 73 02.12.2005, 11:47 C. DALCHOW & J. KIESEL Diese erste Umbildungsphase muss nach Lage aller Befun- rung, obgleich auf parallele Urstromtalsegmente ausgebrei- de in das Spätpleistozän bis Frühholozän gestellt werden. tet, Kontakt zum Schmelzwasserfluss behält. Auch MARCI- Deren geomorphodynamische Aktivität wurde bestimmt vom NEK et al. (1996, S. 14) thematisieren den Zeitversatz der Periglazialklima sowie vom bis ins Boreal austauenden Tot- Flussnachfolge: „ Auf jeden Fall änderte sie [die Oder, d. eis (LIEDTKE 1996, S. 341; LIEDTKE 2003, S. 49). Ergänzend zu Verfasser] ihren Lauf nordwärts mit deutlicher Verzöge- dieser zeitlichen Einstufung ist die Umbildungsphase als rung zur Entwicklung des Eberswalder Urstromtals“. räumlich dem Eisrückschmelzen folgender Prozess aufzufas- sen. Zur ersten Umbildungsphase ergeben sich im Licht der Schließlich beschreibt auch CARLS (1995, S. 273) das Nach- skizzierten Rahmenbedingungen folgende Fragen: folgen des Vorlandflusses Spree nachdem „mit dem Rück- a) Durch welche Prozesse gelangte der periglaziärfluviale zug des Inlandeises tiefer gelegene Bereiche [...] eisfrei Abfluss in jeweils jüngere Urstromtäler und erhielt geworden waren“ knapp folgendermaßen: „In diese nach damit überleitende nordwärtige Fließabschnitte? Westen gerichteten Schmelzwasserströme mündete jeweils b) Mit welchem Zeitversatz folgte diese Nordverla- die Spree“. Der Oder wird dagegen auch von CARLS aktive- gerung des periglaziärfluvialen Abflusses dem – sich res Agieren (offensichtlich unter Bezug auf MARCINEK und seinerseits sprunghaft nach Norden verlagernden – LIEDTKE) zugeschrieben; mit Austauen des Beckentotei- Schmelzwasserabfluss, d. h. zu welchem Umfang sind ses im Oderbruch „brach die Oder nach Norden durch“ Vorlandflüsse und Schmelzwässer jeweils in einem (CARLS 1995, S. 275). Urstromtal gemeinsam abgeflossen? Damit liefert die regional bezogene Literatur zur Frage der zu a) Prozesse und dem räumlich-zeitlichen Voranschreiten der ers- In der regional bezogenen Literatur bleibt zumeist eine pro- ten Umbauphase keine scharfen Festlegungen, ein Umstand, zessbezogene Deutung der ersten Umbildungsphase im der die morphologisch und sedimentologisch schwierige Sinne der oben genannten Fragen recht vage. Nach MAR- Datenlage widerspiegelt. In der vorliegenden Arbeit wollen CINEK (1969) „erzwang“ der neue Urstrom „einen Durch- wir das Thema dennoch um eine weitergehende, stärker sys- bruch durch die Pommersche Eisrandlage“, „brach“ die tematisch auffächernde, morphogenetisch basierte Betrach- periglaziäre Oder zum Oderbruch durch (S. 93), oder die tung ergänzen. Hauptentwässerung „pendelte“ in die heutige Süd-Nord- Richtung ein“ (S. 96). MARCINEK et al. (1996, S. 14) schrei- Die erste Umbildungsphase des Gewässernetzes mit An- ben von einem „Einschwenken“ der Oder nach Norden. schluss nur noch periglazifluvial genutzter Urstromtalseg- Auch LIEDTKE (1975, S. 55) erwähnt „’Durchbrüche’ von mente an nordgerichtete Entwässerung ist grundsätzlich Flüssen, die ihren ursprünglich zur Ostsee gerichteten Lauf durch folgende Prozesse erklärbar, welche nachfolgend dis- wieder eingenommen haben“. kutiert werden: Das „Erzwingen“ von „Durchbrüchen“ oder das „Einpen- Rückschmelzen einer Gletscherstirn, die unmittel- deln“ auf die Nordrichtung sind plastische Beschreibun- bar den Nordrand des Urstromtalsegmentes bildete gen aus Sicht des heutigen Zustands, sie vermeiden aber Eröffung von Fließwegen durch austauendes Tot- eine klare Prozessbeschreibung. eis Rückschreitende Erosion mit Flussanzapfung zu b) Überborden eines Urstromtals infolge starken Ab- Zur Frage des zeitlichen und räumlichen Versatzes der Eis- flusses oder einer Blockade randnachfolge der Vorlandflüsse finden sich Hinweise in Seitenerosion Karten LIEDTKEs, wobei in frühen Darstellungen (1961, S. 25, Fig. 4) die Schmelzwässer sowohl der Angermünder als Rückschmelzen einer Gletscherstirn, die unmittelbar den auch der Velgaster Staffel im weiteren Umfeld des Oder- Nordrand des Urstromtalsegmentes bildete bruches getrennt vom weiter südlich nach Westen abflie- Wenngleich die regelhafte durch Sandersäume gebildete ßenden periglaziärfluvialen Abfluss dargestellt sind. LIEDT- Nordbegrenzung von Urstromtälern diesen Prozess höchs- KE (1975) skizziert in einer Phasenzeichnung der Eisrand- tens in Ausnahmesituationen möglich erscheinen lässt, wird entwässerungsverläufe (S. 30, Abb. 9) zwar eine relativ er in Übersichtsbetrachtungen wiederholt unterstellt. So fol- enge Nachfolge der Vorlandflüsse, betont aber dennoch gert LIEDTKE (1975, S. 30) in der Legende zu Abbildung 9, das einen erheblichen Zeitversatz in der Flussnachfolge: „die „Rückschmelzen bis zur Velgaster