DER BÜRGER IM STAAT

49. Jahrgang Heft 3 1999

Auf dem Wege zur Zivilgesellschaft

50 Jahre Bundesrepublik

Sonderteil Kommunalwahlen 1999

Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung DER BÜRGER Baden-Württemberg IM STAAT

Schriftleiter Prof. Dr. Hans-Georg Wehling Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart 49. Jahrgang Heft 3 19 99 Fax (07 11) 2 37 14 96

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 145 Paul Ackermann 170 Der interventionsfähige Bürger Martin und Sylvia Greiffenhagen 148 als zukunftsfähiges Leitbild Deutschland und die Zivilgesellschaft Hans-Joachim Mann/Hans-Georg Wehling 174 Ulrich Bausch 153 Kommunalwahl 1999: Wie wird gewählt? Der schwierige Abschied Wer wird gewählt? vom Obrigkeitsstaat Das politische Buch 185 Jürgen Appel 156 Massenmedien in der Zivilgesellschaft

Roland Haug 159 Der informierte Bürger Einzelbestellungen und Abonnements bei der Herbert Schneider 165 Landeszentrale (bitte schriftlich) Bürgerkultur und politische Bildung Impressum: Seite 195

Theodor Eschenburg zum Gedächtnis 169 Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel Politikwissenschaft mit dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte aus dem Geist der politischen Bildung Kunden-Nr. an Auf dem Wege zur Zivilgesellschaft

Eigentlich grenzt es an ein Wunder: der Aufbau sten Weltkriegs und dem Untergang des Kaiserrei- einer Demokratie in Deutschland nach 1945, die ches. Als Funktionseliten konnten sie nun ihr Wis- sich nun schon über 50 Jahre hinweg als außeror- sen und ihre Erfahrung in den materiellen Wieder- dentlich stabil erwiesen hat, mit gut funktionieren- aufbau einbringen. Der rasche Erfolg Deutschlands den Institutionen, die letztlich von gemeinsamen nach dem totalen Zusammenbruch nach 1945 be- Grundüberzeugungen und vom Vertrauen der Bür- ruhte gerade auch darauf, dass es außerhalb von gerinnen und Bürger in unserem Land getragen Politik und politischer Kultur keine Stunde Null werden. Von der Ausgangslage her war das nicht gab. Die spezifisch deutsche Situation bestand also unbedingt zu erwarten, angesichts der Trümmer, darin, dass auf dem Gebiet von Staat, Politik und die das „Dritte Reich“ in jeder Beziehung hinterlas- politischer Kultur ein umfassender Neubeginn sen hatte. Skeptisch waren nicht nur Beobachter stattfand, auf den anderen Gebieten wie Verwal- von außen, wenn sie die politischen Traditionen in tung, Bildung und vor allem Wirtschaft eben gera- Deutschland bedachten, die ihnen ganz und gar de nicht. Diskontinuität und Kontinuität in ge- nicht demokratieförderlich erscheinen konnten. schickter, ja in „richtiger“ Weise gekoppelt – das Dass Deutschland wirtschaftlich so schnell wieder war das Erfolgsrezept. Deutlich wird das auch in auf die Beine kam, ja ausgesprochen weltweit er- Hinblick auf den anderen Teil Deutschlands, der folgreich war, war eher zu erwarten, angesichts von einer solchen Entwicklung ausgeschlossen der viel gerühmten „deutschen Tugenden“. Trotz- blieb. dem wurde vom „Wirtschaftswunder“ gespro- An zweiter Stelle genannt zu werden verdient eine chen. Sehr viel angebrachter wäre es, von einem „geschickte Verfassungsgebung“, wie das Martin politischen Wunder zu reden, mehr noch von und Sylvia Greiffenhagen bezeichnet haben. Das einem politisch-kulturellen Wunder. Denn was sich Grundgesetz, das bewusst aus den Erfahrungen seit dem Ende von Nationalsozialismus und Zwei- von „Weimar“ zu lernen versucht hat, darf mit tem Weltkrieg in den Köpfen und im politischen guten Gründen als eine Meisterleistung bezeich- und sozialen Verhalten der Deutschen entwickelt net werden. Insbesondere das Arrangement funk- hat, war völlig unvorhersehbar, hat ein Deutsch- tionstüchtiger Institutionen war wichtig für den land geschaffen, das es so nie gab und das mit Erfolg des Grundgesetzes – so bedeutend es natür- allem vorher Gegebenen nichts zu tun hat – ein lich auch ist, dass in dieser Verfassung die Grund- durch und durch demokratisches Deutschland, ein rechte demonstrativ an erster Stelle stehen. Gerade Deutschland der guten Nachbarschaft, ein wegen dieser hohen Qualität der Verfassungsge- Deutschland, vor dem niemand in der Welt sich bung vor nunmehr 50 Jahren war es durchaus na- mehr zu fürchten braucht. Dieses „Wunder“ gilt es heliegend, es nach der deutschen Vereinigung bei zu konstatieren und – ein Stück weit wenigstens – diesem Grundgesetz zu belassen. auch zu erklären. Eine Verfassung, und sei sie noch so gut, lebt An erster Stelle, zumindest zeitlich, steht die Erfah- davon, dass sie verstanden und akzeptiert und dass rung von „Drittem Reich“ und Krieg. Das System nach ihr gehandelt wird, nicht nur dem Buchsta- des Nationalsozialismus hatte sich so gründlich dis- ben, sondern vor allem dem Geist nach. Das gilt kreditiert, dass nach 1945 ihm niemand mehr nach- nicht nur für die handelnden Politiker, das gilt für trauerte. Der Boden für einen völligen Neuanfang alle. Von daher ist es wichtig, dass die Menschen im war damit vorbereitet. Die politischen Eliten im en- Geist dieser Verfassung erzogen werden, dass sie geren Sinne des Wortes waren umfassend ausge- den Sinn ihrer Institutionen verstehen und dann tauscht: die des „Dritten Reiches“ hatten Selbst- die Politiker daran messen, inwieweit sie sich insti- mord begangen, saßen im Gefängnis, waren amts- tutionengerecht verhalten. Hier liegt eine zentrale enthoben oder waren untergetaucht. Die Eliten Aufgabe der politischen Bildung, in Form des Ge- der anderen Sektoren der deutschen Gesellschaft – meinschaftskundeunterrichts der Schulen, in Poli- in Verwaltung und Justiz, in Massenmedien und in zei und Bundeswehr, in der freien Jugend- und Er- den Hochschulen sowie in der Wirtschaft – hatten, wachsenenbildung. Wobei die Aufgabe von Bun- wenn sie allzu exponiert gewesen waren, ihre Stel- deszentrale und Landeszentralen für politische len verloren. Ansonsten hatten sich die deutschen Bildung darin besteht, die Qualität der politischen Eliten sehr schnell auf die neuen Verhältnisse ein- Bildungsarbeit in den verschiedenen Sektoren der gestellt, nicht nur aus Opportunismus, sondern ge- Gesellschaft zu gewährleisten – durch Publikatio- rade weil das alte System sich auch in ihren Augen nen und durch Veranstaltungen. Die Institutionali- diskreditiert hatte. Hier liegt ein bemerkenswerter sierung politischer Bildung verdient somit an drit- Unterschied zur Situation nach dem Ende des Er- ter Stelle genannt zu werden, wenn nach den

145 Gründen für das politische Wunder Deutschland Bürgerinnen und Bürger diese Verfassung stützen gefragt wird. und schließlich ob die ökonomischen und sozialen Demokratie setzt den informierten und engagier- Gegebenheiten so beschaffen sind, dass jeder seine ten Bürger voraus, der willens und in der Lage ist, Chance sieht und niemand befürchten muss, in der sich politisch einzumischen. Nicht nur wenn er aus- Not alleine gelassen zu werden. drücklich gefragt ist wie bei Wahlen und Abstim- Die Verfasstheit eines Landes weist also drei mungen, sondern immer dann, wenn es notwen- Dimensionen auf: Erstens geht es um die politisch- dig ist, aber selbstverständlich auch, wenn er seine institutionelle Verfassung, die Verfassung im Interessen berührt sieht. In einer Massendemokra- engeren Wortsinn, die wir bei uns in der Bundesre- tie bedarf es dafür der Massenmedien, die die In- publik als Grundgesetz kennen. Sie wird unter- formationen für den konkreten Fall liefern. Politi- stützt, ja getragen, zweitens von der geistig-see- sche Bildung und Massenmedien arbeiten letztlich lisch-moralischen Verfassung eines Landes, die wir dabei Hand in Hand. Eine freie Presse sicherzustel- mit dem Begriff der politischen Kultur benennen. len, gehört zu den Grunderfordernissen der Demo- Kurz gesagt liegt die Bedeutung der politischen kratie. Der regierungsunabhängige Rundfunk als Kultur darin, dass eine Demokratie ohne Demokra- Informationsmedium ist in Deutschland ein No- ten langfristig keinen Bestand haben kann. Das ist vum. Die Weimarer Republik kannte nur den Re- die Lehre von Weimar. Als Drittes schließlich gierungsrundfunk, die deutschen Nachkriegspoliti- kommt die gesellschaftlich-ökonomische Verfas- ker aus der Weimarer Zeit versuchten daran anzu- sung hinzu. Sie beinhaltet die Wirtschafts- und So- knüpfen, wurden aber von den alliierten Kulturof- zialordnung, die Eigentumsstruktur, die Arbeitsbe- fizieren daran gehindert, die auf der öffentlich- ziehungen, das System der sozialen Sicherheit. Alle rechtlichen Konstruktion mit der Kontrolle durch drei „Verfassungs“-Bereiche sind eng miteinander die gesellschaftlich relevanten Gruppen bestan- verwoben, müssen nicht nur in sich, sondern auch den. Die hohe Qualität einer freien, demokrati- untereinander „stimmen“, sich wechselseitig stüt- schen und unabhängigen Medienlandschaft lässt zen und machen insgesamt die Verfasstheit eines sich als vierte Voraussetzung anführen. Landes aus. Damit ist zugleich eine fünfte Voraussetzung ange- Die Bedeutung der politischen Kultur für das sprochen, die das demokratische Wunder Deutsch- Schicksal eines Landes ist am Beispiel Deutschland land ermöglicht hat: die Hilfestellung der Alliier- von der Wissenschaft entdeckt worden, die sich ten, die entscheidende Weichenstellungen im Me- für die Erfolgsbedingungen von politischer Stabi- dienbereich trafen, die im Bereich der Kulturpolitik lität und Demokratie interessiert. Die Ergebnisse deutsche Politiker aus der Weimarer Zeit dazu der Politischen-Kultur-Forschung sind für alle die brachten, autoritäre Staatsvorstellungen zu ver- Länder von Bedeutung, die sich nach dem Zusam- lassen und den mündigen Bürger ernst zu neh- menbruch der kommunistischen Systeme im Über- men. Ihre „re-education“-Politik wurde anfänglich gang zur westlichen Demokratie befinden. So sind gerne diffamiert, letztlich mündete sie aber doch die Beiträge des vorliegenden Heftes der Zeit- in der allgemein als unverzichtbar angesehenen schrift „Der Bürger im Staat“ nicht zufällig zum Teil politischen Bildung. aus einer Tagung hervorgegeangen, die die Natürlich konnte sich die junge Demokratie in den Landeszentrale für politische Bildung Baden-Würt- Augen der Bevölkerung langfristig dadurch legiti- temberg mit Partnern aus Russland veranstaltet mieren, dass sie erfolgreich war. Dabei steht der hatte. wirtschaftliche Erfolg zweifellos obenan. Politische Der Aufbau einer breitgefächerten, leistungsfähi- Systeme müssen sich messen lassen an dem, was sie gen Zivilgesellschaft sei als siebte Bedingung ge- für den Bürger leisten: für die persönliche und so- nannt, die in Deutschland den Aufbau einer dauer- ziale Entfaltung, für die Freiheit im Denken und haften Demokratie ermöglicht hat. Denn Demo- Handeln, aber eben auch für das wirtschaftliche kratie basiert nicht nur auf der individuellen Zu- Wohlergehen, in der Hilfe bei Notlagen wie Krank- stimmung, sondern benötigt die soziale Veranke- heit, Alter, Arbeitslosigkeit. Die neue Bundesrepu- rung, braucht einen Unterbau von Organisationen, blik konnte sich als demokratischer Rechtsstaat die, demokratisch ausgerichtet, ihr unterstützend und als Staat mit sozialer Marktwirtschaft gleicher- zu Hilfe kommen: ein breit gefächertes Geflecht maßen etablieren und legitimieren. Als sechste von Parteien, Verbänden und vor allem Vereinen Voraussetzung ist damit die Leistungsfähigkeit des sowie anderen Formen von Vereinigungen, in politischen Systems der Bundesrepublik Deutsch- denen Menschen sich zusammenfinden, um selbst land benannt. etwas zu tun, ihr Schicksal – ein Stück weit wenig- Ob ein Land in guter Verfassung ist, hängt mithin stens – in die eigenen Hände zu nehmen. Bürger- davon ab, ob die politischen Institutionen im Rah- initiativen jedweder Art gehören dazu. Ein demo- men der geschriebenen Verfassung funktionieren, kratisches politisches System kann auf Dauer auf ob die Wertvorstellungen und Einstellungen der einen solchen Unterbau von Verantwortlichkeit

146 und Freiwilligkeit nicht verzichten, den wir mit les Mandat beispielsweise. Die Parteien sind scharf dem Begriff der Zivilgesellschaft belegen. darauf, angesehene Vereinsmitglieder für ihre Li- Institutioneller Ausdruck der Zivilgesellschaft in sten zu gewinnen. Das gilt vor allem dann, wenn Deutschland mit großer Tradition ist die Kommu- die Wählerinnen und Wähler die Listen durch Stim- nale Selbstverwaltung, die eben dies meint: sich menhäufung (Kumulieren) und Listenwechsel nicht auf den Staat verlassen, sondern selbst die (Panaschieren) verändern können. Damit üben die Angelegenheiten vor Ort regeln. Von daher ist es Vereine auf der Ebene der Kommunalpolitik die nicht abwegig, im Kontext der Zivilgesellschaft von Selektions- und Orientierungsfunktion anstelle der Kommunalen Selbstverwaltung als der „Schule der Parteien aus, wie bereits die Sozialisationsfunk- der Demokratie“ zu sprechen. tion. Das Vereinsmitglied trägt die Muster von Aus- Zu den gesellschaftlichen Organisationen gehören gleich und Harmonie in den Gemeinderat und wird Parteien, Verbände, Vereine, Bürgerinitiativen. Al- dadurch der vorherrschenden Bürgererwartung an lerdings sind die Deutschen bis zum heutigen Tage die Kommunalpolitik sehr viel besser gerecht. Die nur schwer zu bewegen, in Parteien einzutreten. starke Stellung der Vereine ist auch inhaltlich nicht Der prozentuale Anteil der Bevölkerung, der Mit- ohne Folgen: „Bedürfnisse, die sich nicht in Ver- glied einer Partei ist, schwankt nach Bundeslän- einsform darstellen, werden nicht sichtbar und gel- dern zwischen 5,9 % im Saarland und 1,4 % in ten als unwichtig“, stellen Hiltrud und Karl-Heinz Sachsen. Wobei Baden-Württemberg mit 1,5 % auf Nassmacher zutreffend fest. der ausgesprochen niedrigen Linie der neuen Vereine sind historisch eine moderne Erscheinung, Bundesländer liegt – Ausdruck seiner eher indivi- ein Kind der Aufklärung, die das Individuum von dualistischen, stärker an Persönlichkeiten orientier- traditionellen Bindungen und Zwängen freisetzte. ten, organisationsfeindlichen, allen Ideologien ge- Es suchte sich neu zu gesellen, auf freiwilliger Basis, genüber abholden politischen Kultur. Von den ein- im Verein. Kein Wunder, dass der Verein von der geschriebenen Parteimitgliedern sind wiederum Stadt auf das Land kam. Neue Entwicklungen überall nur rund 10 % ständig aktiv. Die anderen scheinen sich abzuzeichnen, wenn heute der Ver- lassen sich allenfalls in politisch aufgeregten Zeiten ein eher als ein ländliches Merkmal erscheint. Denn wie Wahlkämpfen zur Mitarbeit bewegen. Städter beginnen, sich lockerer zu binden, neue Die Mitgliedschaft in überörtlich organisierten Ver- Formen der Gesellung zu finden und auszuprobie- bänden wird weitgehend instrumentell, unter ren. Dazu gehören auch die Bürgerinitiativen, die Nützlichkeitsgesichtspunkten gesehen: seien es keine formelle Mitgliedschaft kennen und zumeist Berufsverbände oder die Mitgliedschaft in einem auf ein Ziel ausgerichtet sind. Automobilklub. Verein und Emanzipation hängen nicht nur für das Um so wichtiger ist die Mitgliedschaft in Vereinen. Individuum zusammen. Ganze Gruppen wurden Im Schnitt ist jeder zweite Deutsche Mitglied in über das Vereinswesen erfolgreich in die Gesell- mindest einem Verein, in den alten Bundesländern schaft integriert, so Katholiken und Arbeiter, für deutlich häufiger als in den neuen. Vereine sind die sich im 19. Jahrhundert ein hochdifferenziertes freiwillige, auf Dauer angelegte Zusammenschlüs- Vereinswesen herausbildete, das alle Bedürfnisse se von Individuen zur Erreichung von Zielen, die des Lebens umfasste: zum Schutz, zur Förderung, gemeinsam besser verfolgt werden können. Das zur Wahrung gemeinsamer Ideale, allerdings auch deutsche Vereinswesen ist nach dem Zusammen- zur ideologischen Kontrolle. Kein Lebensbereich bruch des Nationalsozialismus – im doppelten und kein Interesse, das nicht vom milieueigenen Wortsinn – re-formiert worden, mit dem Zurück- Verein organisiert wurde. – Auch die Heimatver- drängen weltanschaulich ausgerichteter Vereine in triebenen nach dem Zweiten Weltkrieg schlossen Richtung auf solche Vereine, die allen offen stehen sich ganz selbstverständlich in eigenen Vereinen und sozial-ideologische Abschottung zu vermeiden zusammen – um ihre Identität zu wahren und um suchen. ihre Interessen in einer neuen Umgebung wirksam Vereine haben eine wichtige Sozialisationsfunk- durchsetzen zu können. tion: Hier lernt man Fertigkeiten, die das Berufs- Befürchtungen, die neue deutsche Demokratie sei leben vielfach versagt, wie freies Reden, Argumen- eine „Schönwetterdemokratie, die letztlich dem tieren, Organisieren, Versammlungen leiten, Tak- Ansturm schwerwiegender Probleme nicht stand- tieren, sich durchsetzen, Kompromisse finden. halten werde, haben sich als unbegründet erwie- Genau so wichtig ist selbstverständlich das Vermit- sen – man denke nur an die Herausforderungen teln von Werthaltungen, wobei es darauf an- von Terrorismus, wirtschaftlichen Krisen und kommt, dass diese demokratiekonform, ja demo- Arbeitslosigkeit. Die deutsche Demokratie ist fest kratieunterstützend sind – was in der Vergangen- verankert: in den sie tragenden Menschen und heit nicht immer der Fall war. Das Ansehen, das im sozialen Geflecht unseres politischen Systems. Vereinsmitgliedschaft und Vereinsfunktion verlei- Doch sie bedarf weiterhin der Pflege! hen, lässt sich politisch umsetzen, in ein kommuna- Hans-Georg Wehling

147 Die deutsche Vereinigung als Herausforderung an die politische Kultur-Forschung Deutschland und die Zivilgesellschaft

Das Ideal einer demokratischen, diskutierenden und partizipierenden Bürgergesellschaft

Von Martin und Sylvia Greiffenhagen

Prof. em. Dr. Martin Greiffenhagen lehrte Die deutsche Entwicklung hin zu scheinen (z.B. Schulformen oder Erzie- Politikwissenschaft an der Universität einer der stabilsten Demokratien hungsstile) der politischen Legitimität des Stuttgart, Prof. Dr. Sylvia Greiffenhagen Staates? lehrt Politikwissenschaft an der Ev. Fach- Von besonderem Interesse für die Poli- Politische Orientierungen einerseits, reale hochschule Nürnberg. Auch einer breite- tikwissenschaft wie für die politische Pra- Verfassung und Institutionen anderer- ren Öffentlichkeit bekannt geworden ist xis ist der Fall Deutschland. Deutschland seits, müssen nicht übereinstimmen. So das Ehepaar Martin und Sylvia Greiffen- gehört zu den Ländern, deren Entwick- gibt es bedeutende Beispiele für eine hagen durch ihr gemeinsames Buch: „Ein lung nach Nationalsozialismus und Zwei- Kluft zwischen politischen Institutionen schwieriges Vaterland. Zur politischen tem Weltkrieg von der Politikwissenschaft und politischem Bewußtsein der Bevölke- Kultur im vereinigten Deutschland“ (2. mit großem Interesse beobachtet und do- rung. Im einen Fall laufen „progressive“ Auflage, Paul List Verlag München 1993). kumentiert wurde. Eine sozialwissen- Institutionen buchstäblich davon. Sie wer- schaftliche Disziplin, die sich bei dieser den vom konservativen Bewußtsein der Worauf niemand nach dem Zusammen- Arbeit besonders bewährt hat, ist die poli- Bürger nicht eingeholt. Das war der Fall in bruch des Nationalsozialismus zu hoffen tische Kulturforschung. der Weimarer Republik: die Parteiende- gewagt hätte: Innerhalb weniger Jahr- Amerikanische Politikwissenschaftler hat- mokratie wurde verachtet. Im anderen zehnte ist Deutschland zu einer der sta- ten in den 50er Jahren prophezeit, es Fall trifft ein „fortgeschrittenes“ Bewußt- bilsten Demokratien der Welt gewor- werde mindestens hundert Jahre dauern, sein auf „rückständige“ Institutionen. Bei- den. Politische-Kultur-Forschung ver- bis Deutschland eine demokratische politi- spiele hierfür lieferten Kinder, die aus sucht, dieses scheinbare Wunder aufzu- sche Kultur entwickelt hätte, die der sei- antiautoritären Familien in Staatsschulen klären helfen, nicht zuletzt auch, um dar- ner westlichen Nachbarn entspräche. kamen, welche auf die Einstellungen und aus zu lernen für die demokratischen Schon dreißig Jahre später bezeichneten Werthaltungen dieser Kinder in keiner Transformationsprozesse in anderen Län- aber dieselben Politologen die Bundes- Weise vorbereitet waren. dern. Der Politischen-Kultur-Forschung republik Deutschland als eine der stabil- geht es dabei um die subjektive Dimen- sten Demokratien Europas. In diesem Heft Politische Kulturforschung als sion von Politik, um das Bewußtsein der werden die Bedingungen des raschen Transitions- und Krisenforschung Menschen, um ihre Einstellungen zur Poli- politischen Wandels in Deutschland erör- tik, zu den Institutionen und Repräsen- tert, und dabei wird gefragt, ob die deut- Politische Kulturforschung entsteht, wie tanten, aber auch um die Wahrnehmung schen Erfahrungen für andere junge De- die politische Theorie überhaupt, in Zei- der eigenen Rolle in Politik und Gesell- mokratien von Nutzen sein können. ten gesellschaftlicher Umbrüche. Die Stun- schaft. Ein mögliches Ideal dafür stellt das Zunächst geht es darum, in die Begrifflich- de des Kultur- und Systemvergleichs Modell der Zivilgesellschaft dar. Red. keit und das Konzept der politischen Kul- schlägt in Zeiten raschen sozialen Wan- turforschung einzuführen. Sie macht De- dels. Erst wenn die Verhältnisse sich än- Die Zivilgesellschaft als Ideal mokratisierungsprozesse zum Gegen- dern, bekommt man den Blick frei für den stand und erlaubt mit ihren Fragestellun- Vergleich von heute und gestern, von hier Mit Zivilgesellschaft bezeichnet die Poli- gen und ihren Methoden vergleichende und dort. Gesellschaftliche Krisen führen tikforschung eine spezifische Form politi- Aussagen zum Stande der Demokratie in zum Streit über die Verbindlichkeit reli- scher Kultur: Verschiedene Kräfte aus verschiedenen Staaten. giöser Inhalte, über die Fortgeltung ethi- Staat, Markt, bürgerlicher Öffentlichkeit scher Normen, überkommener Traditio- und bürgerlicher Privatheit agieren in Es geht um das Wechselspiel von nen, bisher unbefragter Erziehungsstile. einem ausgewogenen Verhältnis zueinan- Institutionen und ihrer Verarbeitung Politische Kulturforschung war und ist in der. Diese Balance entspricht der idealen im Bewußtsein diesem Sinne stets auch Transitions- und Vorstellung einer demokratischen, disku- Krisenforschung. tierenden und partizipierenden Bürger- Politische Kultur bezieht sich auf die sub- Einer der wichtigsten Impulse für den gesellschaft. Dabei kann man, wie Jürgen jektive Dimension der Politik und bezeich- Neueinsatz der politischen Kulturfor- Habermas, Zivilgesellschaft eher als ein net die Orientierungen einer Bevölkerung schung nach dem Zweiten Weltkrieg war normatives Leitbild auffassen, das heißt gegenüber dem politischen System mit all die Emanzipation junger Staaten von der als eine bisher nirgends erreichte, sondern seinen Institutionen. Das Regierungssy- Kolonialherrschaft. Die vielerlei Moderni- künftig erst herzustellende Ordnung; an- stem oder politische Institutionen interes- sierungsprozesse bedeuteten für die poli- dere Politologen erkennen dagegen sieren also nicht an sich; Gegenstand der tische Kulturforschung eine theoretische schon in gegenwärtigen Gesellschaften Forschung ist vielmehr die Weise der Be- und methodische Herausforderung hohen Züge einer zivilen Gesellschaft. troffenheit der Bevölkerung durch sie. Ranges. Die Geschichte selbst sorgte für Nationen, Regionen und Kommunen un- Politische „Realität“ ist somit beides: die Experimentierfelder. Wie in einem Zeitraf- terscheiden sich danach, wie weit sie die- vorfindbaren Institutionen und ihre Verar- fer liefen Prozesse ab, die früher Jahrhun- sem Ideal nahekommen. Die alten Demo- beitung im Bewußtsein der Bürger. Das ei- derte brauchten. kratien Europas (also Britannien, die Nie- gentlich Interessante ist das Wechselspiel derlande, die skandinavischen Staaten zwischen beiden: Wird das politische Die Erfahrung des NS-Regimes und Frankreich, außerdem die Vereinig- System von der Bevölkerung bejaht, und ten Staaten von Amerika) entsprechen wenn, aus welchen Gründen? Finden die Der zweite Impuls für die Etablierung der ihm eher als Staaten mit jüngerer demo- Herrschaftsträger als politische Klasse Un- politischen Kulturforschung als einer so- kratischer Geschichte wie Italien, Deutsch- terstützung und als Personen Vertrauen? zialwissenschaftlichen Disziplin lag in der land oder die meisten osteuropäischen Dienen auch gesellschaftliche Strukturen, politischen Erfahrung mit dem NS-Re- Staaten. die auf den ersten Blick als unpolitisch er- gime. Wie war es möglich, daß ein hoch-

148 zivilisiertes Land des alten Europa in eine licht die Beschreibung der eigenen politi- zwischen 80 % und 90 % bei Bundestags- derartige Barbarei verfiel? Wie weit sollte schen Kultur: im Blick auf die eigene Ge- wahlen lange Zeit als normal galt. Seine man zurückgehen, um Quellen für diese schichte und die Entwicklung anderer na- Unterschreitung in den letzten Jahren fin- Fehlentwicklung zu finden? Bis zu Hitler, tionaler Kulturen. det ganz unterschiedliche politische Beur- zum Versailler Vertrag und der Weimarer Die Beschäftigung mit gesellschaftlichen teilungen als Krisensymptom oder als Weg Republik? Bis zum Ersten Weltkrieg und Entwicklungen und ihren Trends setzt die zur Normalität. zur Wilhelminischen Ära? Bis zu Bismarck, politische Kulturforschung in die Lage, der Diese Beispiele zwingen zu der Frage, Friedrich dem Großen? Spielen Luther und praktischen Politik mit Rat zu dienen. Sol- woher die politischen Kulturforscher ihre Nietzsche eine Rolle? Stimmt die These che Politikberatung wird von der Politik Maßstäbe beziehen. Als die politische Kul- von der „verspäteten Nation“ und vom selbst erwartet. Das ist ein Grund dafür, turforschung nach dem Zweiten Welt- „deutschen Sonderweg“? Von der Beant- daß die politische Kulturforschung häufig krieg sich als neue politikwissenschaftliche wortung dieser Fragen hängen Antwor- in die politische Arena gerät. Politiker be- und empirisch orientierte Disziplin eta- ten auf andere Fragen ab: Wie lange nutzen ihre Ergebnisse, um ihre Sicht der blierte, zeigte sie deutliche Spuren der würde es dauern, bis die deutsche Bevöl- Dinge wissenschaftlich abzustützen. nordamerikanischen politischen Kultur. kerung ähnlich stabile demokratische Das galt besonders für den Aspekt Partizi- Werthaltungen aufweisen würde wie die Die Verschiebung des Wortsinns von pation, der auf den Meßskalen für Demo- alten Demokratien Europas? Welche Le- politischer Kultur ist für Deutschland kratie (Demokratieskala) einen hohen bensgebiete, welche Sozialisationsmecha- bezeichnend Stellenwert einnahm. Die Gründe dafür nismen muß man dafür besonders ins liegen in der Geschichte der Vereinigten Auge fassen? Gibt es Verbindungen zwi- Leider hat sich dabei in Deutschland eine Staaten: Ihre politische Kultur hat sich schen ökonomischer Prosperität und De- Verschiebung des Wortsinnes von politi- unter starker Selbstbeteiligung der Bürger mokratisierung? Welchen Einfluß haben scher Kultur eingeschlichen, der ein völlig ausgebildet. Auf dem Treck nach Westen die sogenannten „sekundären Tugenden“ anderes Verständnis beinhaltet, in einer wurden alle politischen Funktionen von wie Gehorsam, Pflichterfüllung, Fleiß und für die deutsche politische Kultur selbst den Siedlern selber ausgeübt, da der Disziplin, für die der deutsche „National- bezeichnenden Veränderung des angel- „Staat“ erst im nachhinein folgte. Ein charakter“ und das deutsche Schulsystem sächsischen Wortsinnes von political cul- guter Amerikaner war somit einer, der in aller Welt bekannt waren? ture: als ob politische Kultur für sich schon sich für die öffentlichen Belange interes- etwas Positives sei, eben „Kultur“, die sierte und politische Verantwortung über- Osteuropa als neues man einander zubilligen oder absprechen nahm. Politische Partizipation hat ihren Experimentierfeld könne wie politische Moral oder politi- hohen Rang auf der Demokratieskala bis schen Stil. Das ist nicht der Sinn des wis- heute behalten. Seit 1989 gibt es in Osteuropa ein neues senschaftlichen Ausdrucks political cultu- Die Frage ist nun, ob Staaten mit einer Experimentierfeld für die politische Kul- re, der von amerikanischen Sozialwissen- ganz anderen Geschichte sich nach dem turforschung. Wieder ist es eine Krise, schaftlern nach dem Zweiten Weltkrieg politischen Maßstab der USA messen und wieder sind es Bedingungen raschen so- eingeführt und von der deutschen Poli- beurteilen lassen sollen. Die Demokratie- zialen Wandels, die zu Fragen zwingen: tikwissenschaft übernommen wurde. Wir theorie kennt eine Fülle unterschiedlicher Von welchen Erfahrungen wurden welche verwenden den Begriff strikt in dem wis- Modelle von Demokratie und trägt damit Altersgruppen und Schichten in der DDR senschaftlichen, wertfreien Sinne. Dieser auch unterschiedlichen politischen Tradi- nachhaltig geprägt? Stimmt es, daß ost- Gebrauch erlaubt also, unbefangen von tionen Rechnung. So geht das sogenannte deutsche Jugendliche im Blick auf ihr poli- einer politischen Kultur des Nationalsozia- Elitemodell der Demokratie von einem tisches Bewußtsein ihren westlichen Al- lismus oder des Stalinismus zu reden. Wie partizipativen Minimum aus, das sich tersgenossen näher sind als die älteren bei den Begriffen regionale Kultur, Unter- mehr oder weniger auf Wahlen be- Generationen? Und was wären die Grün- nehmenskultur, Verwaltungskultur, Schul- schränkt, in denen die Bevölkerung das de dafür? Wie steht es um das politische kultur ist jeder wertende Sinn ausge- Mandat der politischen Elite verlängert Bewußtsein von ostdeutschen Frauen? schlossen. oder beendet, die im übrigen die Ge- Wie wirkt sich Arbeitslosigkeit auf das Der wertfreie Umgang mit der Disziplin schicke des Landes unangefochten be- politische Bewußtsein der Ostdeutschen politische Kultur erlaubt einen entspre- stimmt. Andere Demokratiemodelle aus? Gibt es eine „nachgeholte Identität“, chend pragmatischen Umgang mit ihren sehen viel stärkere Einwirkungsmöglich- verbunden mit einer gewissen Nostalgie Ergebnissen durch die Politik. Politische keiten der Bevölkerung während der unter Ostdeutschen, die zu einer „Mauer Kulturforschung setzt etablierte Regime, Wahlperiode vor. in den Köpfen“ zwischen Ost- und West- amtierende Regierungen und herrschen- In dem Maße, in dem jedes Land seine deutschen führen könnte? Wird sich die de politische Klassen in den Stand, Strate- eigene Geschichte hat, hat es auch seine deutsche politische Kultur insgesamt gien der Legitimitätsbeschaffung zu ent- eigene politische Identität. Wohin kämen durch die Neuvereinigung ändern? Wird wickeln. Sie kann aber ebenso revolu- wir, wenn alle Nationen und Bevölkerun- es für längere Zeit zwei politische Kultu- tionären Gegeneliten dazu dienen, politi- gen sich zum Beispiel nach den Kriterien ren in Deutschland geben? sche Systeme zu stürzen. der Schweizerischen politischen Kultur beurteilen und also fragen lassen müßten, Der Vergleich von früher und heute, Die USA als Maßstab? ob sie bereit sind, mehrmals im Jahre über hier und dort Fragen des Benzinpreises oder des Tier- Obwohl die politische Kulturforschung schutzes abzustimmen? Wo bleibt hier die Der wichtigste Impuls für die politische wertfrei arbeiten will, gehört sie zur poli- Möglichkeit einer Vergleichung, mit der Kulturforschung, nämlich der Vergleich tischen Kultur eines Landes selbst hinzu man für die praktische Politik etwas an- von früher und heute, hier und dort, lie- und arbeitet keineswegs im politisch luft- fangen kann? fert gleichzeitig eine seiner wichtigsten leeren Raum. Wie stark zuweilen die poli- Methoden. Dabei wird in verschiedener tische Einschätzung derselben Daten Europa auf dem Weg zu einer Richtung verglichen. Man vergleicht ver- unter politischen Kulturforschern diffe- gemeinsamen politischen Sprache schiedene politikgeschichtliche Phasen riert, dafür gibt es ein sprechendes Bei- eines Volkes, um Einsichten in Wandlungs- spiel aus der Wahlforschung. In den Früher existierten in Europa sehr verschie- prozesse des politischen Bewußtseins zu Augen nordamerikanischer Politologen dene politische Kulturen nebeneinander. bekommen. Gleichzeitig vergleicht man gilt eine Wahlbeteiligung der amerikani- Man stellte sich nicht nur in der inter- verschiedene nationale Kulturen. Zwi- schen Bevölkerung von mehr als 70 % als nationalen Politik, sondern auch als Rei- schen beiden Vergleichen gibt es Querver- ein Warnzeichen und wird unter „Ano- sender auf verschiedene „Nationalcharak- bindungen, da auch nationale Vergleiche miefaktoren“ gebucht: Irgend etwas in tere“ und „Mentalitäten“ ein, rechnete nur möglich sind unter Berücksichtigung der Politik muß die Bevölkerung so irritie- mit unterschiedlichen Verwaltungs- und der politikgeschichtlichen Faktoren. Es ren, daß die traditionelle Wahlbeteiligung Rechtskulturen. Im übrigen verfuhr man kommt auf diese Weise zu einer doppel- dramatisch überschritten wird. Anders in strikt nach dem Grundsatz der Nichtein- ten Verschränkung, und erst diese ermög- Deutschland, wo ein hoher Prozentsatz mischung in die inneren Angelegenheiten

149 eines Landes. Militärbündnisse und Han- sich gleich im Anfang der empirischen Kul- solchermaßen als geschichtlich erarbeitete delsbeziehungen wurden von unter- turforschung, nämlich in der ersten gro- Identität, und Zukunft bekommt ihre schiedlichen politischen Kulturen nicht ßen vergleichenden Studie von Almond/ Richtung als Verlängerung erfolgreich betroffen. Verba. Die Forscher überraschten zwei Er- zurückgelegter Wegstrecken. Politische Das ist heute anders geworden. Die Mit- gebnisse ihrer Umfragen: Während die Kulturen sind nicht zu verstehen ohne den gliedstaaten der Europäischen Union, die Westdeutschen im ganzen eine autoritäre Rekurs auf Traditionen, die, (besonders in Bündnispartner der NATO müssen sich für und wenig partizipative politische Kultur symbolisch verdichteter Form) Verbindun- die politische Kultur ihrer Vertragspartner zeigten, lieferten sie auf zwei Feldern Er- gen von gestern, heute und morgen er- interessieren. Sie tun es in der Praxis auch. gebnisse, die aus dem Rahmen vordemo- lauben. So rechtfertigt sich etwa die poli- Wer sich allzu weit vom europäischen Mit- kratischer politischer Kultur herausfielen tische Legitimität von Institutionen nicht tel entfernt, stellt sich selbst ins politische und nur für den historisch Gebildeten Sinn nur im Hinweis auf ihre Brauchbarkeit, Abseits. Die europäischen Staaten werden geben konnten: Westdeutsche zeigten sondern im ausdrücklichen oder unaus- unter dem Zwang gemeinsamer politi- einen ungewöhnlich hohen politischen drücklichen Bezug auf ihre erzählbare Ge- scher Willensbildung künftig zu einer ge- Kenntnisstand, dazu eine ungewöhnlich schichte. meinsamen politischen Sprache finden hohe Wahlbeteiligung. Diese Resultate müssen. Grundwerte wie soziale Gerech- wiederholten sich in ähnlicher Ausprä- Staatskulturen und Gesellschafts- tigkeit gehören zu dieser politischen Kul- gung auch in zahlreichen späteren Unter- kulturen tur, und bürgerliche Freiheitsrechte sollen suchungen. Hoher Kenntnisstand und von keinem europäischen Land mehr ver- hohe Wahlbeteiligung standen im Wider- Versuche zur Typenbildung politischer letzt werden dürfen. spruch zu gleichzeitig in Deutschland ver- Kulturen sind so alt wie der Aspekt der Insofern ist das Bemühen um gemeinsame breiteten Meinungen wie den folgenden: subjektiven Seite der Politik selbst. Neben Kriterien für eine „demokratische politi- auf die Politik habe der einfache Mann einer vergleichenden Staatslehre, die un- sche Kultur“, die einen Vergleich der De- keinen Einfluß, solle auch keinen nehmen; terschiedliche politische Systeme und Re- mokratiefähigkeit von Bevölkerungen, über Politik zu sprechen, führe nur zu gime nach ihren Institutionen und Funkti- Schichten und Bildungsgruppen erlaubt, Nachteilen im Beruf und zu Streit in der onsweisen unterscheidet, wollte man nicht völlig unsinnig und unverbindlich. Familie; eine Partei im Staat sei besser als auch für die politischen Orientierungen Man kann erwarten, daß die Kriterien für mehrere; die Opposition habe die Regie- der Bevölkerung Typen entwickeln. Hier das, was man eine „demokratische Per- rung zu unterstützen und nicht zu kritisie- sind wir wieder beim Thema „Zivilgesell- sönlichkeit“ nennen mag, jedenfalls in Eu- ren; der starke Mann sei der wichtigste schaft“ als eines spezifischen Typs politi- ropa und in Nordamerika, generelle und Faktor in der Politik; Kompromisse seien scher Kultur. vergleichbare Bedeutung bekämen. Die schwächlich. Es gibt ganz verschiedene Gesichtspunkte, Festlegung auf solche allgemein aner- nach denen man politische Kulturen ein- kannten Kriterien (auf einer sogenannten Ohne Rückgriff auf politische teilen kann. Wir beginnen mit dem Bei- Demokratieskala) erlaubt schließlich auch Traditionen sind politische Kulturen spiel einer typologischen Zweiteilung, die eine Typologie verschiedener Kulturen: als nicht zu verstehen von Karl Rohe entwickelt worden ist und Staatskultur oder Gesellschaftskultur, als entscheidende Aspekte der politischen parochiale Kultur, als Untertanenkultur, Wie waren diese Widersprüche aufzu- Kulturforschung enthält: nämlich die von als Staatsbürgergesellschaft oder eben klären? Für den historisch Gebildeten sehr Staatskulturen und Gesellschaftskulturen: auch als Zivilgesellschaft. einfach: Eine gute Kenntnis des politi- Staatskulturen kennzeichnet ein hohes schen Regimes und der politischen Pro- Maß an Interventionsstaatlichkeit. Dem Mit quantitativen Methoden sind zesse hatte jedes autoritäre Regime in Staat kommt in der Arbeitsteilung zwi- Widersprüche nicht aufzulösen Deutschland stets von seinen Untertanen schen öffentlichem und privatem Sektor verlangt: damit sie den Willen von Regie- eine bedeutende Rolle zu. Der politische Unter dem Einfluß des Behaviourismus rung und Verwaltung kannten und aus- Prozeß ist bürokratisch-formalistisch ge- und einer sich in den Sozialwissenschaften führen konnten, denn „Unkenntnis prägt und setzt kaum auf partizipative durchsetzenden empirischen Forschungs- schützt vor Strafe nicht!“. Im Falle der Methoden. Gesellschaftskulturen dage- orientierung gewann der Begriff politi- hohen Wahlbeteiligung galt eine andere gen erwarten alle Initiativen von der Ge- sche Kultur die Bedeutung und den Rang historische Einsicht: Wie der Hitlergruß im sellschaft, nicht vom Staat. eines eigenen Forschungsfeldes mit dem nationalsozialistischen Deutschland und Das beste Beispiel für eine Gesellschafts- Anspruch theoriegeleiteter und metho- Strammstehen im kaiserlichen zu den kultur liefern die USA: Auf dem großen disch abgesicherter Erkenntnis. Dabei re- Pflichten des Bürgers gehörten, so war die Treck nach Westen mußten die Siedler alle duzierte sich die Thematik politischer Kul- neuerdings geforderte politische Aktivität politischen und administrativen Funktio- turforschung zwangsläufig auf solche in der Demokratie eben die Wahl. Ob- nen selber ausüben. Staatskulturen in Eu- Aspekte, die empirisch-quantitativen For- gleich es im verfassungsrechtlichen Sinne ropa haben die politikgeschichtliche Er- schungsmethoden zugänglich sind, d.h. keine Wahlpflicht gab und obgleich man fahrung des absoluten Staates hinter sich. vor allem auf Einstellungsforschung zu sich vom Wahlakt keinen wesentlichen Deutschland war bis zum Zweiten Welt- eng begrenzten Fragestellungen. Den Be- Einfluß auf die Politik versprach, dies auch krieg ein Prototyp dieser Kultur und zeigt ginn bezeichnete das bis heute als Stan- nicht wollte, nahm man an ihr teil, um der auch heute noch Spuren von ihr. dardwerk geltende Buch von Gabriel A. neuen Pflicht eines guten „Staatsbürgers“ Ein anschauliches Beispiel für den Unter- Almond und Sidney Verba: „The Civic Cul- zu genügen. schied zwischen Gesellschaftskulturen ture. Political Attitudes and Democracy in Wenn es richtig ist, daß gegenwärtige Ein- und Staatskulturen ist die Schulpolitik in Five Nations“ (1965). stellungen und Werthaltungen nur vor den USA und in Deutschland. In den USA Gegenüber der Almond/Verba-Tradition dem Hintergrund historischer Codes ver- haben gesellschaftliche Kräfte bis heute politischer Umfrageforschung als einziger ständlich sind, dann ist es sinnvoll, sich für hohen Einfluß auf die Schulpolitik. Das Untersuchungsmethode gibt es zuneh- die Politikgeschichte einer politischen Kul- gilt auch da, wo Schulen nicht privat orga- mend Kritik von Politikwissenschaftlern, tur zu interessieren. Nun hat aber kein nisiert sind. Einer der mächtigsten Verbän- die ein breiter angelegtes Verständnis von Volk der Erde seine ganze Vergangenheit de in den Vereinigten Staaten ist die politischer Kultur einfordern, dazu als Er- als politische Tradition präsent. Phasen Parents-Teachers-Association (PTA). Die gänzung des empirischen Forschungs- und Ereignisse, die nicht „geschichtsmäch- Kommune, aber auch Schulbuchverlage ansatzes hermeneutische, vor allem histo- tig“ waren, werden vergessen. Untersucht und Sponsoren haben großen Einfluß auf rische Forschungsmethoden. werden deshalb politische Traditionen die Schulorganisation, auf die Auswahl Ein Beispiel dafür, daß die Erforschung ge- und kollektives Gedächtnis. der Direktoren und Lehrer. Das gesell- genwärtiger Meinungen und Einstellun- Als Tradition werden vornehmlich diejeni- schaftliche Interesse am Niveau und Rang gen durch Methoden der Unfragefor- gen Inhalte im Kollektivbewußtsein be- der Schule, auf die man seine Kinder gibt, schung allein ohne Blick auf den ge- wahrt, die für die Gegenwart nachhaltige ist hoch: weil davon das berufliche Schick- schichtlichen Weg einer Gesellschaft, Bedeutung haben und für die Zukunft für sal und die Karrierechancen der Kinder unter Umständen in die Irre führt, ergab wegweisend gelten. Gegenwart erscheint abhängen. In Deutschland ist das Schulsy-

150 stem staatlich organisiert, und der Einfluß wendige Parteiidentifikation, so in der an- in den übrigen drei Ländern die Möglich- gesellschaftlicher Kräfte ist vergleichswei- deren das Vertrauen in die Mitbürger; lie- keit, daß sich Unzufriedenheit in Pro- se gering. Der Vergleich zeigt übrigens, fert die eine schlechte Werte im Blick auf testaktivitäten umsetzt. Die kulturellen daß die Frage, was „besser“ sei, zwischen die Beurteilung der eigenen politischen Voraussetzungen für den Bestand einer Gesellschafts- und Staatskulturen durch- Kompetenz, so läßt es die andere an Kri- stabilen Demokratie sind in den vier zu aus offen ist. Paradoxerweise zeigt sich tikbereitschaft gegenüber der politischen dieser Gruppe gehörigen Ländern ungün- das staatlich organisierte Schulsystem in Führung fehlen. Trotzdem ist das Modell stiger als in den übrigen EG-Staaten.“1 Deutschland für die Verwirklichung des der civic culture nützlich, nämlich für die amerikanischen Ideals von Chancengleich- Vergleichung von politischen Kulturen, Zwei politische Kulturen in heit als besser geeignet, so daß gegen- die sich erheblich voneinander unterschei- Deutschland wärtige Bestrebungen, den Schulen mehr den, obwohl sie nicht nur demselben poli- Autonomie, den Eltern mehr Einfluß und tischen System, nämlich der liberalen De- Was Deutschland angeht, so ist in diesen der Wirtschaft über Sponsorenschaften mokratie, angehören, sondern im großen Befunden Gesamtdeutschland nach der mehr Einfluß einzuräumen, auch die und ganzen auch eine ähnliche politische Wiedervereinigung nicht oder nur unzu- Schattenseiten eines Schulsystems in einer Kultur aufweisen, zusammen mit ihren reichend berücksichtigt. Aber man kann Gesellschaftskultur berücksichtigen muß. Idealen und Maßstäben. schon ermessen, wie schwierig die Auf- Die Zivilgesellschaft entspricht keinem der gabe sich gestalten wird, die völlig unter- Die Typologie von Almond und Verba hier gekennzeichneten Typen genau. Sie schiedliche politische Kultur der DDR zum kommt aber sowohl der beschriebenen Zeitpunkt der Wiedervereinigung und da- Die für die Entwicklung der politischen Gesellschaftskultur nach Karl Rohe sowie nach in immer wiederholten Untersu- Kulturforschung nach dem Zweiten Welt- der partizipativen Kultur und der civic cul- chungen von Wandlungsprozessen in ein krieg folgenreichste Typologie stammt ture nach Almond/Verba sehr nahe. Konzept hineinzunehmen, welches für die von Almond und Verba. Sie wurde zu Berücksichtigung und Neuaufnahme einer Art Kern der politischen Kulturfor- Die EU-Staaten im Vergleich eines ganz anderen Typus von politischer schung und unterscheidet drei reine Kultur nicht vorbereitet ist. Taugt das Typen: Zum Schluß geben wir aus dem gegen- Dreierschema der reinen Typen von Al- – Parochiale Kultur: Ihre politische Orien- wärtigen Forschungsstand großer Länder- mond/Verba überhaupt zur Diagnose tierung ist schwach ausgebildet, da das vergleiche aller EU-Staaten ein paar Bei- einst totalitärer politischer Kulturen? Und politische System wenig ins Bewußtsein spiele für unterschiedliche Ausprägungen wie steht es mit dem Mischtyp der civic- tritt. Die Familie, das Dorf, die Stam- politischer Kultur in den Industriegesell- culture: Gab es bereits in der Schlußphase mesgruppe und die religiöse Gemein- schaften westlichen Musters: der DDR Zeichen einer Annäherung, ver- schaft sind näher als der Staat, der al- Großbritannien galt in den 50er Jahren als mittelt vielleicht durch West-Fernsehen, lenfalls durch Steuerbeamte oder bei die politische Kultur, welche dem normati- sich ändernde Erziehungsstile, einen be- Soldatenaushebungen in Erscheinung ven Ideal von civic culture fast völlig ent- ginnenden Hedonismus, die ostdeutsche tritt. sprach, während Deutschland am anderen Jugend-Pop-Kultur oder andere Faktoren, – Untertanenkultur: Die politischen Ori- Ende der Meßskala rangierte, mit Werten, die freiheitliche Tendenzen stützten? Die entierungen richten sich auf ein poli- die eher den reinen Typus der Unterta- deutsche Vereinigung bedeutet in jedem tisch-administratives System, das voll nenkultur im Schema von Almond/Verba Falle eine große Herausforderung an die ausdifferenziert ist und in seinen Funk- abbildeten. Heute liefert Großbritannien politische Kulturforschung. tionen wahrgenommen wird, sofern sie kein Modell mehr für eine demokratische Der raschen und problemlosen Homoge- sich auf Leistungen und Ansprüche be- Staatsbürgerkultur. Seit den 70er und 80er nisierung politischer Institutionen in bei- ziehen. Der Bürger versteht sich als Jahren sind dagegen die für sie bezeich- den Teilen Deutschlands entsprach keine Objekt staatlichen Handelns. nenden Merkmale in der politischen Kul- ähnlich problemlose Angleichung des po- – Partizipative Kultur: Die politische tur Dänemarks überdurchschnittlich stark litischen Bewußtseins. So hatten sich nicht Orientierung ist voll ausdifferenziert ausgeprägt. Nur in zwei von insgesamt nur Politiker, sondern auch Politikwissen- und umfaßt auch eigene Partizipations- sehr vielen Punkten weichen die politi- schaftler geirrt, als sie bald nach dem Bei- möglichkeiten. schen Einstellungen der Dänen vom Ideal- tritt der neuen Länder verkündeten, die Diese Typologie dient vor allem zwei For- typ der civic culture im Sinne von Al- beiden deutschen Bevölkerungen seien schungsinteressen: Einmal kann man mit mond/Verba ab; aber selbst auf diesen dicht beieinander: nicht nur durch ihren ihnen kulturellen Wandel und in der Folge beiden Feldern liegen sie noch über dem Willen zu einer gemeinsamen Zukunft, politische Entwicklungen sichtbar machen Durchschnitt der übrigen untersuchten sondern auch durch bereits erkennbar und vergleichen. Zum anderen ist die ide- EU- Ländern. Diese hervorgehobene Posi- gleiche Einstellungen und Werthaltun- altypische Unterscheidung dreier reiner tion Dänemarks als fast idealer Staatsbür- gen. Nur wenige waren mißtrauisch: Typen weniger wichtig als ihre Verbin- gerkultur erklären die Forscher mit dem Konnte man im Blick auf die Tradition au- dung zu Mischtypen, mit denen man in hohen sozioökonomischen Entwicklungs- toritär-totalitärer Politikgeschichte Ost- der Wirklichkeit vorkommende politische niveau und einer kulturell homogenen deutschlands im Ernst erwarten, daß sich Kulturen beschreiben kann. Gesellschaft. ostdeutsche Orientierungen von west- Auf Dänemark folgt in diesen Länderver- deutschen nicht unterscheiden? Es dauer- Die Zivilkultur gleichen eine weitere Spitzengruppe aus te dann nur wenige Monate, bis erste Tie- Westdeutschland, den Niederlanden und fenbohrungen, die den oberflächlichen Ein Mischtyp verdient besonderes Interes- Luxemburg. Auch diese Gruppe ist durch Meinungsbereich verließen, gewichtige se, weil er gegenwärtige demokratische ein sehr hohes sozioökonomisches Ent- Differenzen zu Tage förderten. Je mehr Gesellschaften des europäisch-nordameri- wicklungniveau gekennzeichnet. Eine man forschte, desto unsicherer wurde kanischen Typs am ehesten zu beschrei- Schlußgruppe besteht aus Belgien, Italien, man im Blick auf den anfänglichen Opti- ben vermag, die sogenannte civic culture, Frankreich und Spanien „In allen vier mismus, desto mehr zeigte sich, daß es eine Bürgerkultur, die unterschiedliche Ländern ist die Beziehung der Bevölke- sich bei ostdeutschen Antworten auf Elemente aus allen drei reinen Typen ent- rung zu den sozio-politischen Eliten durch westdeutsche Fragen möglicherweise hält. Obgleich Almond/Verba und ihre Mißtrauen geprägt, die politische Invol- eher um die Reaktion von „Fragebogen- Nachfolger diese Kultur inhaltlich nie vierung, die Unterstützung des politischen demokraten“ handelte. genau beschrieben haben, gilt die civic Regimes und die Identifikation mit der po- culture als eine erfolgreiche Kombination litischen Gemeinschaft ist allenfalls durch- Die erwartete Angleichung von Modernität und Traditionalismus, Un- schnittlich entwickelt. In Italien verbindet terstützung administrativer Autorität und sich eine überaus kritische Einstellung der Für den hier in Rede stehenden Gesichts- kritischer Partizipation. Dabei entspricht Bürger zu ihrer politischen Umwelt mit punkt möglicher Vergleichung innerhalb keine der existierenden europäischen einem im europäischen Vergleich hoch eines für westlich-demokratische politi- politischen Kulturen präzis dem Ideal der entwickelten staatsbürgerlichen Kompe- sche Kulturen entwickelten Modells ist die civic culture. Fehlt in der einen die not- tenzbewußtsein. Dadurch besteht eher als Frage entscheidend, ob die Instrumente

151 solcher Komparatistik überhaupt taugen. listische Kollektiv nicht dem westeu- Conradt, D.P.: The German Polity. New York/London 1978. Sie tun dies nur bedingt und können nur ropäischnordamerikanischen Modell von Dalton, R. J.: Politics in West Germany. Glenview u.a. deshalb verwandt werden, weil es sich bei Team, das eine stärker individualistische 1989. der Vereinigung, was die politische Kultur und konfliktorientierte Vorstellung von Gabriel, O.W.: Politische Einstellungen und politische Kultur. In: Ders./ Brettschneider, F. (Hrsg.): Die EU- Staa- angeht, eben doch eher um eine Anglei- Kooperation darstellt. ten im Vergleich. Strukturen, Prozesse, Politikinhalte. chung von Ost an West handelt. Was man Man sieht, die Schwierigkeiten theoreti- Bonn 1994, S. 96 ff). Gabriel, O.W.: Politische Kultur aus der Sicht der empiri- mißt, sind somit „Fortschritte“ in der An- scher und methodischer Art sind groß. schen Sozialforschung. In: Niedermayer, O./ Beyme, K.v. passung an westliche Modelle politischer Dabei lassen wir die politischen Probleme (Hrsg.): Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland. Opladen 1994. Kultur, während die Forscher auf eine sen- hier noch außer acht, vor allem die Frage, Gabriel, O.W.: /Brettschneider, F. (Hrsg.): Die EU- Staaten sible Diagnose ostdeutscher Einstellungen ob die herrschende Annahme einer not- im Vergleich. Strukturen, Prozesse, Politikinhalte. Opla- und Werthaltungen vor der Vereinigung wendigen Anpassung ostdeutscher politi- den 1994. Greiffenhagen, M.: Politische Legitimität in Deutsch- und für die Dauer des Einigungsprozesses scher Kultur an westliche „Standards“ land. Gütersloh 1997; Lizenzausgabe der Bundeszentra- weniger vorbereitet sind. So versagt im eine allseits akzeptierte Richtschnur ab- le für Politische Bildung Bonn 1998. Ders./Greiffenhagen, S./Prälosius, R.: Ein schwieriges Va- Einstellungsfeld sozialer Gleichheit und gibt und es also nur darauf ankommt her- terland. Zur politischen Kultur Deutschlands. München Gerechtigkeit z.B. das westlich geprägte auszufinden, welche ostdeutschen Einstel- 1979 (völlige Neuausgabe für das vereinigte Deutsch- Analyse- und Interpretationsinstrumenta- lungen sich rasch ändern lassen, welche land München 1993). Ders./Greiffenhagen, S. (Hrsg.): Handwörterbuch zur rium. Ostdeutsche Einstellungen erschei- Werthaltungen vermutlich nachhaltiger politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Ein nen dem westdeutschen Forscher hier auf sind und welche Verhaltensweisen zu Lehr- und Nachschlagewerk. Opladen 1981 (völlige Neu- ausgabe im Erscheinen). den ersten Blick diffus, auch mit früheren ihrer Veränderung einen Generations- Habermas, J.: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frank- westdeutschen Phasen nicht vergleichbar. wechsel voraussetzen. Das Angleichungs- furt 1 990. Ders.: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheo- Die Politikgeschichte der DDR hat im Blick theorem, wennschon es in Theorie und rie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. auf das Feld des Sozialen offenbar eigene Praxis dominant ist, trifft bei vielen Ost- Frankfurt 1992. Profile hinterlassen, die man erforschen deutschen auf Kritik. Man wirft ihm Zynis- Rohe, K.: Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der Politischen Kulturforschung. In: Hi- müßte: im Blick auf unterschiedliche Ge- mus, ungerechtfertigte Dominanz oder storische Zeitschrift 250/1990, S. 321 ff. nerationen, Bildungsgruppen, Berufe und gar Kolonialmentalität vor, und es sieht so Ders.: Politische Kultur. Zum Verständnis eines theoreti- schen Konzeptes. In: Niedermayer, O./ Beyme, K.v. Schichten. Ähnliches gilt für das Maß an aus, als ob die Zahl derer steigt, welche (Hrsg.): Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland. sozialem Vertrauen, das innerhalb liberal- die politische Kultur der DDR in günsti- Berlin 1994, S. 1 ff. demokratischer Bevölkerungen zusam- gem Licht sehen. Hier wollten wir nur die Schmals, K.M./ Heinelt, H. (Hrsg.): Zivile Gesellschaft. Ent- wicklung, Defizite, Potentiale. Opladen 1997. men mit Ich-Stärke und Teamgeist eine theoretisch-methodischen Schwierigkei- Waschkuhn, A./ Thumfart, A. (Hrsg.): Politik in Ost- gut faßbare Kategorie abgibt, in Ost- ten des Kulturvergleichs zur Sprache brin- deutschland. Ein Lehrbuch zur Transformation und Inno- vation. München/Wien 1999. deutschland jedoch nicht ohne weiteres gen. Weidenfeld, W./Korte, K.-R.: Die Deutschen. Profil einer anwendbar ist. Soweit man sieht, zerfiel Nation Stuttgart 1991. soziales Vertrauen bei den Ostdeutschen Westle, B.: Politische Legitimität. Theorien, Konzepte, Literaturhinweise empirische Befunde. Baden-Baden 1989. in zwei nicht ohne weiteres vermittelte Dies.: Kollektive Identität im Vereinten Deutschland. Nation und Demokratie in der Wahrnehmung der Deut- Teile: auf der einen Seite eine große ge- Almond, G.A. /Verba, S.: The Civic Culture. Political Atti- schen. Opladen 1999. genseitige praktische Hilfsbereitschaft, tudes and Democracy in Five Nations. Princeton 1965. Dies.: The Ciciv Culture Revisited. Boston/Toronto 1980. auf der anderen Seite eine große Zurück- Baker, K. L.: Germany Transformed. Culture and the New haltung bei der Erörterung weltanschauli- Politics. London 1981. Anmerkung Barnes, S.H./ Kaase, M. u.a.: Political Action. Mass Partici- cher und politischer Fragen. Und was den pation in Five Western Democracies. Beverly Hills/Lon- 1 Oscar W. Gabriel in: Politische Einstellungen und poli- Teamgeist angeht, so entsprach das sozia- don 1979. tische Kultur, S. 128.

152 Wie Deutschland sich geändert hat Die Zeit drängte. Die Gründung der Bun- desrepublik Deutschland, geplant für den Herbst 1948, war in absehbare Nähe gerückt und damit auch das Ende der Der schwierige Abschied Pressekontrolle durch die Besatzungsre- gierung. Seit Dezember 1945 versuchte vom Obrigkeitsstaat die Militärregierung zu einem für sie ak- zeptablen Pressegesetz zu kommen, schei- Die helfende Hand der westlichen Besatzungsmächte terte aber immer wieder an unzulängli- chen Gesetzesvorlagen der Einheimi- Von Ulrich Bausch schen. In der französischen Besatzungszone wurde zunächst auf ein Pressegesetz ver- zichtet und die Entwicklung in anderen Zonen abgewartet. Die Pressepolitik der Dr. Ulrich Bausch, Geschäftsführer der einmal geführt, und zwar in den USA, in Franzosen war relativ liberal bei der Lizen- Volkshochschule Reutlingen, ist Autor der den frühen 40er Jahren. Als die USA sich zierung von Zeitungen, aber recht streng Studie: „Die Kulturpolitik der US-ame- auf die Besatzung Deutschlands vorberei- in der Vorzensur. Bis zum Beginn der fünf- rikanischen Information Control Division teten und für die zu besetzenden Regio- ziger Jahre saßen französische Presseoffi- in Württemberg-Baden 1945 bis 1949“, nen sehr detaillierte Handbücher schrie- ziere in den Redaktionen und achteten Stuttgart 1992 ben, wurde in der Regierung und in der darauf, daß sich die offizielle französische Öffentlichekeit (Readers Digest, Harpers Politik in den einheimischen Blättern wi- Eine entscheidende Rolle kam beim Auf- Magazin) die Frage gestellt, ob die Deut- derspiegelte. In Baden-Baden richteten bau der Demokratie in Deutschland nach schen überhaupt demokratisierbar seien. die Franzosen eine eigene Militärbehörde dem Ende des Nationalsozialismus den Die Deutschen seien Militaristen, chro- ein, um die Entwicklung kontrollieren zu westlichen Besatzungsmächten zu. Mit nisch aggressiv, der deutsche Staat müsse können. Wesentlichster Unterschied zur geschickten Weichenstellungen halfen sie zerschlagen, das Gebiet unter internatio- Politik der US-Amerikaner war die Zulas- den Deutschen, ihre Obrigkeitsfixierung nale Kontrolle gestellt werden, anderen- sung von Parteizeitungen, die aber von zu überwinden und eine Zivilgesellschaft falls würden die Deutschen nach kurzer der Bevölkerung nicht angenommen wur- aufzubauen. Besonders deutlich läßt sich Zeit wieder andere überfallen und einen den und schnell wieder verschwanden. das am Beispiel von Presse und Rundfunk weiteren noch schlimmeren Weltkrieg an- zeigen: Hier wurden – gegen den Wider- zetteln. Es sei gänzlich unmöglich, die Traditionell sollte ein Pressegesetz stand der deutschen Eliten aus der Zeit Deutschen zu ändern. den Staat schützen der Weimarer Republik – Strukturen ge- schaffen, die sich nachhaltig durchgesetzt Was wir heute unter Demokratie Auch die US-Amerikaner wollten eigent- haben: Freiheit der Presse vor staatlichen verstehen, war nun 1945 keineswegs lich kein Pressegesetz, das es in ihrer Hei- Eingriffen und vom Staat unabhängiger selbstverständlich mat selbst nicht gab. Aber sie argumen- öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Red. tierten, noch gelte in Deutschland das Deutschland aber hat sich geändert. Für Pressegesetz von 1874, und dieses könne den Bereich, den ich untersucht habe, sind nur durch ein neues Gesetz abgeschafft Die Zukunftsaussichten von klare Neuanfänge und echte Traditions- werden. Demokratie und Menschenrechten brüche nachweisbar. Hier prallten zwei unterschiedliche Dies ist Anlaß genug, Rückschau zu hal- Rechtstraditionen aufeinander. Dem Ver- Nicht alle Erwartungen, die viele Men- ten. Nicht aus nostalgischer Selbstgefällig- ständnis der Besatzer schwebte das US- schen mit dem Ende des Kalten Krieges keit heraus. Der Blick zurück ist sinnvoll, Modell vor, wonach die Verfassung Rede- verbunden hatten, gingen in Erfüllung. weil die Sicht auf die Strategien, mit und Pressefreiheit garantiert und weitere Freiheit und Demokratie, Wohlstand und denen damals Krisen überwunden wur- Bestimmungen nicht nötig sind. Die an- soziale Sicherheit gehören zu den großen den, heute lehrreich und ermutigend sein gelsächsische Rechtstradition steht ein- Sehnsüchten fast aller Menschen. Aber könnte. schränkenden Ausführungsbestimmun- nur sehr wenige Gesellschaften verfügen Nach 1945 stand im damals amerikanisch gen ablehnend gegenüber, gemäß der über ein ausgewogenes Verhältnis zwi- besetzten Württemberg-Baden das Be- Idee, daß man mit Einschränkung von schen Staat und Markt, bürgerlicher Öf- streben im Vordergrund, in Zukunft die Freiheit diese bereits verliere. fentlichkeit und Privatheit. Eine „Zivilge- Dinge „demokratisch“ zu regeln, aber Das deutsche Pressegesetz von 1874 orien- sellschaft“ zu verwirklichen, scheint un- was hierunter zu verstehen sei, war da- tierte sich dagegen weniger an dem Ziel, endlich schwierig. mals wie heute mehr als umstritten. Was die Presse vor dem Staat zu schützen, als Da selbst die Durchsetzung elementarer wir heute unter Demokratie verstehen – vielmehr an den ,Bedürfnissen‘ des Staa- Menschenrechte eine gewaltige Heraus- Wahlen plus demokratische Kontrolle von tes, sich vor der Presse zu schützen. Nega- forderung darstellt, gibt es seit einigen Macht, breite Verteilung von Verantwor- tiv für die Presse schlug vor allem zu Jahren in den westlichen Gesellschaften – tung, Machtkonkurrenz statt Machtkon- Buche, daß das Reichspressegesetz es der in den USA aber auch hier in Deutschland zentration, Meinungsvielfalt und unge- Polizei ermöglichte, Zeitungen ohne Ge- – ein Debatte unter dem Stichwort der hinderte, unzensierte Informationsflüsse, richtsbeschluß zu beschlagnahmen, wenn kulturellen Differenz. Menschenrechte die eine demokratische Meinungsbildung Verdacht auf Verstoß gegen gesetzliche seien eigentlich ein westliches Konzept, es garantieren sollen und vieles mehr, was Bestimmungen vorlag. Verbunden mit sei illusorisch zu glauben, man könne es uns heute oft selbstverständlich vor- dem „Ehrenschutz von Persönlichkeiten auf andere Kulturen, z.B. auf China, über- kommt – war damals keineswegs selbst- des öffentlichen Lebens“ sowie den Be- tragen. Die Menschen in China oder im verständlich. stimmungen über Verleumdung und Be- Iran seien eben anders. Die These von der leidigung war das Beschlagnahmerecht kulturellen Differenz klingt irgendwie Musterfall Pressefreiheit eine Schikanemöglichkeit des Staates ge- sogar respekt- und achtungsvoll, die je- genüber der Presse. weiligen Regime stimmen ihr zu und man- ln wie weit sich die Vorstellungen über Der Fortbestand des Reichspressegesetzes che Politiker scheinen erleichtert, denn Demokratie der damaligen einheimischen war deshalb für die Besatzungsmacht un- beide Seiten können dann unbehelligt Funktionsträger von unseren heutigen denkbar. Die meisten einheimischen Poli- von der – im Tagesgeschäft lästigen Men- Vorstellungen unterscheiden, läßt sich am tiker hingegen orientierten sich an Wert- schenrechtsfrage – der Pflege der gegen- deutlichsten in der Frage der Meinungs- haltungen aus der Weimarer Zeit, wozu seitigen Beziehungen nachgehen. freiheit zeigen. Fast fünf Jahre stritten auch – den Amerikanern fremde – Sonder- Die Debatte um kulturelle Differenz ist je- sich Einheimische und Besatzer um ein schutzrechte von Personen des öffentli- doch keineswegs neu. Sie wurde schon neues Pressegesetz. chen Lebens gehörten. Als Belege lassen

153 sich ein Gesetzentwurf der SPD anführen Stuttgarter Landtag beschwerte sich in vertrag über den Südwestfunk. Die Politi- oder die heftige Kontroverse „Maier den weiteren Beratungen über die Regle- ker „vergaßen“, die Staatsunabhängig- gegen Maier/Simpfendörfer“in Württem- mentierung durch die Besatzungsmacht. keit zu garantieren, so daß der erste Ent- berg-Baden. Nach einem Gesetzesvor- Hätte die Militärregierung den Landtag in wurf – nach heftiger Intervention der schlag der SPD im September 1947 sollte Ruhe gelassen, so die Kritik, wäre der Ent- Franzosen – überarbeitet werden mußte. mit mindestens sechs Monaten Gefängnis wurf anders ausgefallen. Darüber hinaus bestraft werden, wer falsche oder über- biete die Konzeption der Amerikaner Unterschiede zwischen „Normal- triebene (sic!) Anschuldigungen gegen keinerlei Schutz vor den „pornographi- bürgern“ und politischer Elite Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens schen Artikeln“ der Skandalpresse, die es erhob1. Franz Karl Maier, Rechtsanwalt zu bekämpfen gelte.6 Im Herbst 1946 erhob zum Thema Staats- und Mitherausgeber der Stuttgarter Zei- Die weiteren Verhandlungen gestalteten kontrolle des Rundfunks die US-Besat- tung, warf im Frühjahr 1947 Ministerpräsi- sich als ein Nervenkrieg zwischen Landtag zungsmacht in Stuttgart zahlreiche Inter- dent Reinhold Maier und Kultminister und Militärregierung. views mit Führungskräften aus Politik und Wilhelm Simpfendörfer ihr Abstimmungs- Das württemberg-badische Pressegesetz Gesellschaft sowie mit Einheimischen aus verhalten im Falle des Ermächtigungsge- trat am 1. April 1949 in Kraft, ohne die „allen Lebensbereichen“ (form all walks setzes des Jahres 1933 vor. Änderungswünsche der amerikanischen of life). Man kann davon ausgehen, daß Beide hatten für das sogenannte Ermäch- Information Control Division (ICD) zu Interviews in der französischen Besat- tigungsgesetz gestimmt. Darüber hinaus berücksichtigen. Am 1. Juni 1949 wurde in zungszone nicht anders ausgefallen bezichtigte Karl Maier Kultminister Simp- Württemberg-Baden die Lizenzpflicht wären. fendörfer, Werbung für Hitler gemacht zu aufgehoben. Württemberg-Baden war Die Umfrage hatte nicht den Anspruch haben, und druckte einen Artikel ab, den damit das erste Land in der amerikanisch einer Repräsentativerhebung. Sie sollte Simpfendörfer 1933 geschrieben hatte. besetzten Zone, in der publizistische vielmehr der Besatzungsmacht ein allge- Darin hieß es, Hitler habe in „revolu- Tätigkeit nicht mehr genehmigt werden meines Stimmungsbild vermitteln. Auffal- tionärem Elan das faule System von 1918 mußte. General Lucius D. Clay schrieb hier- lend ist zunächst, daß die Gruppe der beseitigt und sich nun als Führer (...) das zu in seinen Erinnerungen: „Normalbürger“ die „auf der Straße, in freiwillige Vertrauen aller erworben“. In „Die deutsche Unfähigkeit, demokrati- Zügen usw.“ angesprochen wurde, fast einem anderen Artikel soll Simpfendörfer sche Freiheit wirklich zu erfassen, hat sich ausnahmslos jede Art der staatlichen Me- geschrieben haben, jede Stimme für Adolf wohl auf keinem anderen Gebiet (...) so dienkontrolle ablehnte. Lediglich ein Hitler sei ein Bekenntnis zu echter Volks- deutlich gezeigt. Es schien unmöglich zu 28jähriger Medizinstudent forderte schar- und Schicksalsgemeinschaft.2 Simpfendör- sein, zu einer Gesetzgebung zu gelangen, fe staatliche Kontrollen sowie mehr klassi- fer mußte zurücktreten, Reinhold Maier in der die Presse der regierenden Macht sche Musik und keinen Jazz im Radio. Die konnte sich im Amt halten. Im Landtag nicht auf Gnade und Ungnade ausgelie- Zusammenfassung mutmaßt: „Die Leute entbrannte daraufhin eine heftige Debat- fert war.“ 7 glauben, wohl genug Kontrolle während te. Der Abgeordnete Konrad Theiss (CDU) der letzten 13 Jahre gehabt zu haben.“9 wertete die Vorgänge als einen „General- Staatsrundfunk oder gesellschaftlich Anders die Gruppe der Repräsentanten. angriff auf breiter Front“ gegen die De- kontrollierter Rundfunk? Hier befürwortete eine deutliche Mehr- mokratie, da die „führenden Männer des heit die staatliche Kontrolle der Medien. Staates“ angegriffen würden. Theiss wei- Nicht nur um Pressebereich forderten die Von 29 Befragten befürworteten lediglich ter: sog. Männer der ersten Stunde Staatskon- sieben unabhängige Systeme. Zu dieser „Während auf der einen Seite die Träger trolle, auch der Rundfunk sollte über- Gruppe gehörten geschlossen die drei be- des Angriffs gegen die jetzige Form des wacht werden. fragten Medienvertreter, Martin vom parlamentarischen Staates fast alle Mittel In einer Debatte des Länderrats Anfang Bruch (Programmberater bei Radio Stutt- in der Hand haben, vor allem dadurch, Januar 1946 formulierte Ministerpräsi- gart), Konsul Bernhard und dessen Nach- daß sie einen großen Teil der Presse be- dent Reinhold Maier seine Vorstellungen folger als Lizenzträger der Stuttgarter Zei- herrschen, sind die Träger dieses Staats (...) zur Neuorganisation des Rundfunks fol- tur, Dr. Schairer. Alle drei lehnten staatli- nicht in der Lage, diesen Angriffen (...) zu gendermaßen: che Kontrolle von Presse und Rundfunk begegnen. (...) Wir stehen doch alle vor „Ich habe mir gedacht, daß sich die Sache strikt ab, wobei Bernhard allerdings ein der Frage, ob wir diese junge Demokratie ungefähr so regeln müßte: Der rein tech- Kontrollgremium, bestehend aus Parla- noch einmal so abschlachten lassen wol- nische Betrieb des Radios ist Sache der mentariern und Experten, vorschlug, wel- len, wie es schon einmal geschehen ist.“3 Post. Die Sendestationen gehen in das Ei- ches die Lizenzträger für Presse und Rund- Theiss forderte eine parteieigene Tages- gentum des Reiches zurück, die politische funk auswählen sollte. Schairer sprach sich presse, um den Lizenzzeitungen etwas Verantwortung trägt das Staatsministeri- für unabhängige Medien aus, dachte aber entgegensetzen zu können. Die Kritik der um, und es wird je eine Intendantur oder an Verwaltungsorganisationen, die „ent- Stuttgarter Zeitung, die sich immerhin auf Direktion für die Programmgestaltung weder der deutschen oder der amerikani- unwiderlegbare Tatsachen stützte, werte- unter einer zentralen Überwachung ein- schen Militärregierung gegenüber „ver- te er also als den Versuch, die „Demokra- gerichtet (.. ), der Aufbau eines Propagan- antwortlich“ sind.10 Dr. Bruch schlug für tie abzuschlachten“, da sie die „Träger des daministeriums soll aber vermieden wer- Presse und Radio private Gesellschaften Staates“ angreife. den.“8 vor, deren Satzungen (policies) aber ent- Anfang September 1948 forderte die Mi- Reinhold Maier orientierte sich also an weder durch die deutsche Regierung oder litärregierung den Landtag auf, ein Ge- den alten verhängnisvollen Strukturen: durch die Militärregierung genehmigt setz zu schaffen, das die Freiheit der Pres- Politische Kontrolle durch den Staat mit werden müsse.11 se garantiere. Am 10. September disku- Hilfe einer zentralen Überwachungsein- Zu den Kontrollgegnern gehörten dar- tierte der Landtag den Entwurf. Weniger richtung. Das kleine Wörtchen ,aber’ über hinaus Kultminister Heuß, Ministe- als die Hälfte der Landtagsmitglieder macht jedoch deutlich, daß ihm dabei rialrat Ströhle, der Chef des Informations- waren anwesend, die Reden zum Thema selbst nicht ganz wohl war. Der einschrän- amts der Stadt Stuttgart Dr. Arntz und der erschienen den Presseoffizieren ober- kende Schlußsatz zeigt, daß ihm selbst Oberschulamtsleiter Leichtele. Arntz lehn- flächlich4. Der Entwurf des Landtages ent- klar war, welche Folgen die Umsetzung te jede Art von Kontrolle ab, unterbreite- hielt 39 Paragraphen, 33 davon lehnte die seines eigenen Vorschlags gehabt haben te aber keinen eigenen Organisationsvor- Militärregierung ab. Der Presseausschuß könnten. schlag. Heuß schlug ein unabhängiges des Landtages fragte sich deshalb, ob es Die Franzosen gründeten den Südwest- Kontrollgremium vor, bestehend aus Ver- überhaupt Sinn habe, weiterzuarbeiten, funk (SWF) durch besatzungsrechtliche tretern der Ministerien, Gewerkschaften und wandte sich Rat suchend an den Bre- Anordnungen, an deren Zustandekom- und Parteien. Ähnlich wie bei Heuß war mer Senat, dessen Pressegesetz von den men die Einheimischen nicht beteiligt der Vorschlag von Ströhle und Leichtele Amerikanern akzeptiert worden war. (Al- worden waren. Daher mußte 1950 der für Aufsichtsgremien mit Repräsentanten lerdings war es erst nach dem württem- SWF eine deutsche Rechtsgrundlage er- „aller Lebensbereiche“.12 berg-badischen Gesetz in Kraft getreten.5 halten. Baden und Württemberg-Hohen- In der Gruppe der Kommunal- und Lan- Der Vorsitzende des Presseausschusses im zollern unterzeichneten den sog. Staats- desvertreter dominierten demgegenüber

154 deutlich die Befürworter staatlicher Kon- Obhut des Staates. Allerdings müsse sich eine zunächst völlig fremde Vorstellung. trolle. Charakteristisch für diese Gruppe die staatliche Radiokontrolle auf die „Eli- Ähnlich fremd waren offene Veranstal- war die Stellungnahme des stellvertreten- minierung reaktionärer Einflüsse auf die tungen der Erwachsenenbildung. Das den Landrats Dr. Benke: Sendungen“ beschränken, so KPD-Se- erste lecture discussion meeting, d.h. Vor- „Radiosendungen müssen überwacht kretär Willi Bechtle.16 Mit der gleichen trag mit anschließender Diskussion, fand werden, damit sie nicht mißbraucht wer- Argumentation verfochten seine Partei- bereits im November 1946 im Heidelber- den können, wie in den letzten 12 Jahren. genossen Aschinger, Klausmann und Rie- ger USIC (United States Information Cent- Die Mitarbeiter und das Programm sollten dinger die Kontrolle des Radioprogramms re) statt. Stuttgart zog im Dezember nach, beaufsichtigt werden (supervised). (...) Po- durch das Kultministerium und die Rück- und im Februar 1947 bot jedes Zentrum litische Sendungen sollten scharf kontrol- gabe des Senders an die Post.17 im Schnitt pro Woche zwei lecture discus- liert werden.“13 So dominant in diesen Interviews die Vor- sions an, wie die Diskussionsabende auch Ähnlich wie Benke argumentierten auch stellung des eingreifenden, lenkenden genannt wurden.18 alle befragten Bürgermeister. Der Ettlin- Staates durchscheint – schließlich sind die Der Aufbau unserer demokratischen Ord- ger Oberbürgermeister Kauffmann for- ihn tragenden Abgeordneten ja demokra- nung hat Jahre gedauert. Sie kam nicht derte etwa die Wiederherstellung des tisch legitimiert –, so einhellig ist in der über Nacht, denn demokratische Ordnun- alten Reichsrundfunks, und sein Karlsru- Frage nach der Neugestaltung des Rund- gen sind überaus kompliziert und wollen her Kollege Heurich verfocht den staatli- funkwesens auch die Ablehnung der pri- wohl durchdacht sein. Wahlen zur Legiti- chen Besitz und die Kontrolle des Rund- vatwirtschaftlichen Organisationsform mation von Macht sind wichtig. Noch funks.14 der Sender. Die Herren orientierten sich wichtiger aber ist die ständige demokrati- Auch die Vertreter der Parteien unter- überwiegend an Vorstellungen aus der sche Kontrolle von Macht. Viele in Würt- schiedlichster Couleur votierten nahezu Weimarer Zeit. temberg-Baden hatten damals Jahre ge- einhellig für die Staatsaufsicht des Rund- braucht, um dies zu begreifen. funks. Der Parteisekretär der CDU, Überwunden werden mußte die Schwan, dachte an den Staat als Kontrol- Vorstellung, der Staat habe den leur und Eigentümer des Rundfunks, öffentlichen Sektor zu kontrollieren wobei die wichtigsten Organisationen aus Anmerkungen den Bereichen Religion, Politik und Kultur Um deutlich zu machen, wie dominant die bei der Programmgestaltung mitwirken Vorstellungen vormundschaftlichen, len- 1 Vgl. Harold Hurwitz: Die Stunde Null der deutschen Presse. Die amerikanische Pressepolitik in Deutsch- sollten. Der Heilbronner Kreispräsident kenden Staates unter den Einheimischen land 1945–1949, Köln 1972, S. 174. der DVP, Dürr, schlug eine überparteiliche damals waren, könnten noch viele Bei- 2 Stuttgarter Zeitung vom 6.8.1947, in der rückblickend über die Kontroverse berichtet wird. Kontrollkommission vor, die von der Re- spiele angeführt werden. Etwa der 3 Verhandlungen des W{iltt. Bad. Landtags. 15. Sit- gierung bestellt werden sollte. Er hatte Wunsch der Regierung unter Reinhold zung. Stuttgart, Dienstag den 1. April 1947. S. 292. die Vorstellung, damit sei am ehesten das Maier, eine eigene Spielfilmproduktion in 4 Press History through 31. Dec. 1948. NARA RG 260. OMGWB.ICD. In: OMGUS,HistoricalBranch,General- künstlerische Niveau der Sendungen ge- Württemberg aufzubauen, um unter Records, HistoricalRecords. 3/408-1/45. währleistet. Der SPD-Sekretär Dr. Gross- staatlicher Kontrolle der katholischen Pro- 5 Hans Schmidt-Osten, der damalige joumalistische Be- rater des Presseausschusses und spätere Justitiar des hans forderte die Wiedereinführung des paganda aus Bayern etwas entgegenzu- Deutschen Journalisten-Verbandes, im Gespräch mit einheitlichen „Reichsrundfunksystems“, setzen. Vergleichbares dachte man über dem Verf. 14.4.1990. das allerdings durch ein parlamentarisches den Bücher und Zeitschriftenmarkt, über 6 Subjekt: Press Law vom 24.3.49. NARA RG 260. OMGWB. ISD 12/96-2/7. Gremium beaufsichtigt werden sollte. das Musik- und Theaterleben, kurz: über 7 Clay 1950. Zit. nach Pfau 1986, 72. Sein Parteigenosse und Stuttgarter Ge- alles, was wir heute den öffentlichen Be- 8 ebd.71. 9 „Subjekt: Weekly Brief – 15-22 October 1946. Opinion meinderat Hermann Walter befürwortete reich nennen. Der Staat sollte ihn kontrol- on Question of Govennent Control of Radio and in bezug aufs Radio die „strikte Kontrolle lieren. Press.“ S.2 . NARA RG 260. ISD Wü-Ba. 12/85-2/5. 10 ebd.4. durch ein Ministerium“. Seine Begrün- Unvorstellbar war für die einheimischen 11 ebd.6. dung: „Die Öffentlichkeit hält das Radio Funktionsträger nach 1945 ein freies Bi- 12 ebd.8. für ein offizielles Organ, daher müssen die bliothekswesen. Gegen den Willen der 13 ebd.4 14 ebd. Sendungen konsequenterweise kontrol- Verantwortlichen setzten die Amerikaner 15 ebd.5. liert werden.“15 das – Open shelf-concept durch, die Frei- 16 ebd. 17 ebd.3. Auch die Vertreter der KPD befürworte- handbibliothek. Daß die Bürgerschaft 18 E&IC Branch, ICD, OMG W/B, Quaterly History. 1 April ten geschlossen Programme unter der selbst entscheidet, was sie lesen will, war bis 30 Jun 1947. S. 5. Wie Anm. Nr. 157.

155 Die verordnete Pressefreiheit haben sich die Deutschen Die von den Alliierten verordnete längst zu eigen gemacht Pressefreiheit hatten sich die Deutschen zueigen gemacht.

Kein Zweifel: Im Kern war die Spiegel- Massenmedien Affäre ein „Anschlag auf die Pressefrei- heit“. Sie zeigte aber auch, daß die junge in der Zivilgesellschaft Demokratie und mit ihr das Grundrecht der Pressefreiheit ins Bewußtsein der Bür- Das Beispiel Deutschland ger gedrungen war. Selbstverständlich war das zu dieser Zeit – Von Jürgen Appel Anfang der 60er Jahre – noch nicht. Denn man darf nicht vergessen, daß Demokra- tie und Umgang mit einer unabhängigen Presse den Deutschen von den Sieger- Jürgen Appel ist Abteilungsleiter im Fern- Wirtschaft und Gesellschaft gehört, der ist mächten zunächst einmal verordnet wur- sehen des Südwest-Rundfunks (SWR). automatisch im Visier der Spiegel-Redak- den und zu lernen waren. „Umerziehung“ teure. hieß das nach dem Krieg. Ein Zitat aus Bedingung und Ausdruck einerZivilgesell- Viele große Skandale sind so aufgedeckt jener Zeit: schaft zuglelch ist die Dlskussion der poli- worden: Man erinnere sich nur an die „Es ist die grundlegende Politik der US- tischen Fragen auf breiter Basis. Presse- Affäre Barschel oder an die Machenschaf- Militärregierung, daß die Kontrolle über freiheit und die Existenz unabhängiger ten des Flick-Konzerns, der durch dubiose die Mittel der öffentlichen Meinung, wie Medien sind dafür die Voraussetzungen. Parteispenden Einfluß auf die Bonner Presse und Rundfunk, verteilt und von der Die Aliierten haben hier nach dem Ende Politik nahm. Beherrschung durch die Regierung freige- des Nationalsozialismus die richtigen Beide Skandale sind mehr als nur Fußno- halten werden müssen“, so Lucius D. Clay, Weichen gestellt. Spätestens die „Spiegel- ten in der Geschichte der Bundesrepublik, der amerikanische Militär-Gouverneur Affäre“ von 1962 zeigte, wie wichtig den nicht zuletzt deshalb, weil sie bei der Be- 1947. Das war für viele aufrechte Demo- Deutschen selbst Pressefreiheit und Un- völkerung die Empfindung schärften, wel- kraten der ersten Stunde in Deutschland abhängigkeit der Medien geworden che Bedeutung einer unabhängigen Pres- eine harte Nuß. waren. Der Versuch eines Regierungsfern- se als Wächter in einer Demokratie zu- Natürlich wollte keiner von ihnen nach sehens scheiterte am Bundesverfassungs- kommt. den schrecklichen Erfahrungen der Dikta- gericht. Bei aller Selbstverständlichkeit Konrad Adenauer, der erste Kanzler, tur wieder eine staatlich gelenkte Ein- bleiben Unabhängigkeit und Informa- pflegte, anders als Kohl, den Kontakt zum heitspresse, aber ein bißchen Einfluß neh- tionsniveau der Medien auch in Deutsch- Spiegel und seinem Herausgeber Rudolf men auf das, was in Zeitungen oder übers land ein prinzipiell gefährdetes Gut. Augstein auch in Zeiten heftigster gegen- Radio über die Regierenden geschrieben Neben den Printmedien sind die elektro- seitiger Attacken. bzw. gesagt wurde, wollte man schon. nischen Medien immer bedeutsamer ge- Von Anfang an bekämpfte Der Spiegel Die Sieger machten es zunächst sogar vor: worden. Pluralität sorgt für Ausgewogen- nämlich wesentliche Eckpunkte Adenau- Bis 1949 durfte in der von ihnen kontrol- heit der Berichterstattung, der Föderalis- scher Politik wie die Westbindung und vor lierten Lizenzpresse keine Kritik an den mus garantiert auch auf diesem Gebiet allem die Wiederbewaffnung. Natürlich Maßnahmen der Besatzungsmächte ge- zusätzlich Pluralität. Das Auftreten der war für den ersten Kanzler, der die Presse- übt werden. Privaten, an den Werbeeinnahmen orien- freiheit zwar respektierte, aber vielleicht tiert, hat an der herausragenden Stellung nie wirklich verinnerlicht hat, das Ham- Die wirtschaftlichen Bedingungen der Öffentlich-Rechtlichen im Bereich der burger Nachrichtenmagazin im wahrsten von Pressefreiheit politischen Information nichts ändern Wortsinn ein rotes Tuch. Eine Gelegen- können. Eine andere Frage von erhebli- heit, das unbequeme Blatt mundtot zu Nach der Gründung der Bundesrepublik chem Belang für elne Zivilgesellschaft ist machen, bot sich anläßlich eines Artikels Deutschland kam das Ende der Lizenz- die Verflachung der Programme und die über ein Nato-Manöver im Oktober 1962. presse. Jeder Deutsche, sofern er wegen Propagierung von Gewalt als Mittel zur Ein „Abgrund von Landesverrat“ habe der Nazi-Zeit persönlich nicht schwer bela- Konfliktlösung. Red. sich mit dieser Veröffentlichung aufgetan, stet war, durfte fortan eine Zeitung her- wetterte Adenauer im Parlament. Spiegel- ausgeben, wenn er wollte. Konkurrenz Die „Spiegel-Affäre“ als Bewährungs- Chef Augstein wurde zusammen mit vier belebt ja bekanntlich das Geschäft. Es probe leitenden Redakteuren in einer Nacht- führt aber auch – nicht zuletzt wegen und Nebelaktion verhaftet. wirtschaftlicher Faktoren – zu Konzentra- An Gegnern hat es dem Nachrichtenma- Die Öffentlichkeit reagierte empört. tionsprozessen. Denn das Anzeigenge- gazin Der Spiegel nie gefehlt. Helmut Spontan gingen Bürger damals auf die schäft als größte Einnahmequelle der Zei- Kohl zum Beispiel hat für das Hamburger Straße, um gegen die Aktion zu demon- tungen ist nicht beliebig vermehrbar und Blatt wegen vieler auch persönlicher An- strieren. Ein Novum in der Bundesrepublik die Zahl der Abonennten auch nicht. griffe nur Verachtung übrig. Dennoch und ein deutliches Zeichen dafür, daß ob- Zeitungmachen ist teuer. Um Kosten zu wird auch der Alt-Kanzler nicht bestrei- rigkeitsstaatliches Denken, das in Deutsch- sparen, haben sich deshalb schon bald vor ten, daß Der Spiegel eine Bastion der land jeher seinen Platz hatte, ins Wanken allem Regionalzeitungen zu redaktionel- Presse- und Meinungsfreiheit in Deutsch- geraten war. len Einheiten zusammengeschlossen. Die land ist. Diese Meinungs- und Pressefrei- Von da bis zu den Studentenprotesten Politik, das Feuilleton, die Wirtschaft, sie heit ist im Grundgesetz Artikel 5 garan- 1968 und dem endgültigen Überbordwer- werden von einer Redaktion zentral für tiert – und damit eigentlich unantastbar. fen überkommener Werte war es nur viele Partnerzeitungen gemeinsam herge- Daß dennoch seit Bestehen des demo- noch ein kurzer Weg. stellt, nur die Lokalausgaben sind unter- kratischen Rechtsstaats Bundesrepublik Doch zurück zur Spiegel-Affäre: Von den schiedlich. immer wieder darum gerungen wurde, Vorwürfen ist nichts übriggeblieben. Das Der Meinungsvielfalt, denkt man an den dafür ist die über 50jährige Geschichte des Ende vom Lied: Das vierte Kabinett Ade- politischen Teil, ist das natürlich nicht un- Spiegels in Teilen geradezu exemplarisch. nauer kippte in der Folge, und Verteidi- bedingt förderlich. Dennoch ist bis heute Und deshalb soll zu Beginn ausführlicher gungsminister Strauß flog aus der Re- das breite Angebot an Regionalzeitungen darauf eingegangen werden. „Politische gierung. Der Spiegel hingegen profitierte. in der Bundesrepublik Deutschland im lllusionen zum Platzen zu bringen“, so Sein Ruf als „Sturmgeschütz der Demokra- internationalen Vergleich immer noch be- formulierte Spiegel-Herausgeber Rudolf tie“ war endgültig gefestigt, was neben- merkenswert. Augstein einmal den journalistischen An- bei bemerkt zu weiterer Auflagensteige- Ähnlich sieht es bei den großen über- spruch seines Blattes. Nicht nur das: Wer rung führte und damit zu noch größerer, regionalen Tageszeitungen aus. Süddeut- hierzulande zu den Mächtigen in Politik, auch wirtschaftlicher Unabhängigkeit. sche Zeitung und Frankfurter Allgemeine

156 Zeitung (FAZ), die eine ist eher linksliberal, Weise Stimmung gemacht, die mit öffentlich-rechtlichen Anstalt, die heute die andere konservativ, sind wirtschaftlich Grundsätzen eines fairen Journalismus Europas größter Fernsehsender ist. Und gesund. Anders sieht es da schon bei der nichts mehr gemein hatte. Als kurz vor obwohl das ZDF von Anfang an als natio- „Welt“ aus, die dem Springer-Verlag dem Osterfest 1968 Dutschke von einem naler Sender konzipiert war, ist es recht- gehört und seit Bestehen am finanziellen Hilfsarbeiter auf offener Straße ange- lich ein Produkt der Länder. Denn Rund- Tropf des Konzerns hängt. Ohne diese Zu- schossen wurde, machten die Studenten, funk ist – wie z.B. der Schul- bzw. Hoch- schüsse, die mit anderen Blättern aus dem aber auch weite Teile der Öffentlichkeit schulbereich – in der Bundesrepublik Konzern erwirtschaftet werden, wäre die Springer und die Bild-Zeitung für das Deutschland grundsätzlich Sache der Bun- Welt längst vom Markt verschwunden. Attentat verantwortlich. Es kam zu Unru- desländer, also föderal aufgebaut. Auch die renommierte Wochenzeitung hen, und der Ruf „Enteignet Springer“ Die entsprechenden Gesetze werden in Die Zeit braucht eine starke Verlagsgrup- hallte durch die Straßen. den Landesparlamenten verabschiedet pe, um bestehen zu können. Ein Jahr später begann in Bonn mit der und dann per Staatsvertrag bundesweit Ein paar Zahlen: Wahl von zum Kanzler eine verbindlich gemacht. Der Föderalismus ist Jeden Tag werden in Deutschland mehr als neue politische Ära – trotz Springer. Sprin- auch hier ein Garant für Pluralismus. 29 Millionen Tageszeitungen verkauft. 135 gers Presse bekämpfte in der Folge auch Da der öffentlich-rechtliche Rundfunk der Zeitungen produzieren alle redaktionellen die neue Ostpolitik. Aber auch das letzt- ganzen Gesellschaft und nicht irgendwel- Teile selbst. Hinter diesen „Mantelblät- lich ohne Erfolg. Wieder ein Zeichen für chen kommerziellen Interessen verpflich- tern“ stehen bundesweit 371 Verlage. Ins- die Mündigkeit der Bürger in der Bundes- tet ist, zahlen die Zuschauer und Zuhörer gesamt geben sie mit allen Lokalausgaben republik Deutschland. Rundfunkgebühren, das garantiert zum täglich 1582 Blätter heraus.1 Doch in Springers Schatten sind inzwi- einen Unabhängigkeit, aber sehen man- schen etliche andere Verlagskonzerne che Politiker in den Gebühren den Hebel, Nach der deutschen Vereinigung entstanden, die noch mehr publizistische sich die öffentlich-rechtlichen Sender ge- hat sich die Zahl der Tageszeitungen Macht auf sich vereinigen wie Springer – fügig zu machen. So wird in schöner Re- kaum verändert bis weit in die elektronischen Medien hin- gelmäßigkeit offen damit gedroht, die ein. Diesen wenden wir uns jetzt zu. Gebühr nicht mehr zu erhöhen bzw. ganz Interessanterweise hat die deutsche Wie- abzuschaffen, was durchaus – je länger dervereinigung die Zahl der Tageszeitun- Ausgewogenheit durch Pluralität: desto mehr – Wirkung zeigt. gen kaum verändert. Im Osten gingen die Öffentlich-Rechtlichen Noch heute glaubt so mancher ältere nach der Wende die Parteizeitungen in Unionsanhänger, daß die 13 Jahre Opposi- den Besitz der Treuhand über und wurden Ohne die Macht der Print-Medien klein tion der CDU (1969 bis 1982) auch der ein- dann oft von westdeutschen Verlagen reden zu wollen: die eigentliche Schlacht seitigen linken Berichterstattung des öf- aufgekauft. So stehen heute im Osten fast um Einfluß und Kontrolle spielt sich bei fentlich-rechtlichen Fernsehens zu ver- alle Regionalzeitungen, redaktionell ge- den elektronischen Medien ab – und da danken waren. Eine These, die sogar von wendet, unter westdeutscher Verlags- zwangsläufig am meisten beim Fernse- der bekannten und hoch angesehenen regie. Die im Wendejahr entstandenen hen. Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neu- Konkurrenzblätter der Bürgerbewegung Von Anfang an war der öffentlich-rechtli- mann wissenschaftlich untermauert hatten keine Chance und sind weitgehend che Rundfunk ein heißes Objekt der Be- wurde. Ob damit auch zu erklären ist, wieder verschwunden. gierde für Politiker und Parteien. Und ist warum später dann insge- Auffallend ist, daß sich die großen über- es bis heute geblieben. samt 16 Jahre regierte? Kohl jedenfalls regionalen Tageszeitungen sowie die In den Aufsichtsgremien des der Allge- war in der Medienpolitik erfolgreicher als Wochenzeitungen aus dem Westen auch meinheit verpflichteten öffentlich-recht- sein politisches Vorbild Adenauer. zehn Jahre nach der Wende in den neuen lichen Systems sind Politiker in der Min- Ländern immer noch schlecht verkaufen. derheit. Auch ein Erbe der angelsächsi- Der Auftritt der Kommerziellen Und noch eine Besonderheit: Eine domi- schen Gründerväter. Die Zusammenset- nierende Hauptstadtpresse wie in ande- zung des Rundrunkrats soll möglichst alle Kurz nach Beginn seiner Amtszeit 1984 ren Ländern gab und gibt es nicht. Der gesellschaftlich relevanten Gruppierun- wurde privater, besser: kommerzieller Umzug nach Berlin wird da nichts ändern. gen repräsentieren: Ausgewogenheit Rundfunk zugelassen. Seitdem gibt es das Der föderale Aufbau der Bundesrepublik durch Pluralität. duale System – also das Nebeneinander Deutschland, ein Garant staatlicher Stabi- Doch damit gaben und geben sich Poli- von öffentlich-rechtlichen und kommer- lität, spiegelt sich auch auf dem Zeitungs- tiker nicht zufrieden. So bildeten sich in ziellen Anbietern. Im Fernsehen teilen sich markt. den Aufsichtsgremien sogenannte Freun- die öffentlich-rechtlichen Sender ARD und deskreise der großen Parteien. Dort wird ZDF und die zwei großen kommerziellen Das Phänomen „Bild“ streng nach Proporz über die Chefposten RTL und SAT1 den Markt zu Zweidritteln in den Anstalten verhandelt. Strickmuster: auf. Eine Ausnahmestellung hat bei alledem Eins links, zwei rechts oder umgekehrt – je Natürlich hat die Zulassung kommerzieller die Bild-Zeitung, eine Erfindung des Ham- nach Anstalt. Sender zu einem dramatischen Einbruch burger Großverlegers Axel Springer. Warum auch immer: die öffentlich-rechtli- bei den Werbeeinnahmen bei ARD und Wenn hierzulande über Meinungsmono- chen Sender standen schon früh bei Kon- ZDF geführt. pole im Pressewesen diskutiert wird, dann servativen Politikern im Ruf, links unter- Um die Unabhängigkeit zu erhalten, rück- fällt der Name Bild und Springer. Mit vier wandert zu sein. Adenauer wollte deshalb te die Gebührenfrage stärker in den Vor- Millionen Gesamtauflage ist die Bild-Zei- 1961 am Parlament vorbei ein regierungs- dergrund. Hier beißt sich die Katze me- tung Europas meistverkauftes Boulevard- abhängiges Fernsehen als Gegengewicht dienpolitisch wieder in den Schwanz. Blatt. Sein Erfolgsrezept ist nach dem Mu- zur ARD, also den Zusammenschluß der ster der englischen Massenblätter wie Sun öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, Die Stärke der Öffentlich-Rechtlichen oder Mirror ausgerichtet: Wenig Inhalt, aus der Taufe heben. Doch das Bundesver- liegt im Infomationsbereich viele Bilder und fette Schlagzeilen. Keine fassungsgericht machte Adenauer einen andere Tageszeitung vermag die Leser all- Strich durch die Rechnung. Das Vorhaben Wenn freilich die Befürworter des kom- morgendlich emotional so zu packen wie war nicht verfassungskonform. Die Verfas- merziellen Fernsehens geglaubt haben, Bild. Darüber kann dann schon mal der sungsrichter haben übrigens auch in spä- jetzt endlich eine geeignete Bühne zur Fußball-Nationaltrainer stolpern, und das teren Urteilen das öffentlich-rechtliche politischen Selbstdarstellung zu haben, heißt etwas hierzulande. System in seiner Unabhängigkeit gestärkt. dann ist zumindest diese Rechnung nicht 1967/68 sah sich die konservativ ausge- aufgegangen. Die Kommerziellen müssen richtete Bild-Redaktion aufgefordert, die Garantiert wird der Pluralismus auf Teufel komm raus Quote machen, Bundesrepublik vor dem „Ansturm“ der durch Föderalismus denn nur hohe Einschaltzahlen bringen linken Studentenrevolte zu retten. Gegen Werbekunden. Aber Informationspro- die Anführer des Protests, vor allem Statt eines Regierungsfernsehens kam es gramm – anders als seichte Unterhaltung Rudi Dutschke, wurde in einer Art und 1963 zur Gründung des ZDF – einer neuen – ist nun einmal nur bedingt ein Quoten-

157 hit. Hinzu kommt, daß die Zuschauer se- fenster der Bundesrepublik und ihre wich- Mal in der Geschichte“, so Postman, „ge- riöse Information nach wie vor in erster tigste Informationsquelle. wöhnen sich die Menschen daran, statt Linie von den öffentlich-rechtlichen Sen- der Welt ausschließlich Bilder von ihr ernst dern erwarten. Hier ist die Kompetenz für Die Gefahren des Fernsehens zu nehmen. An die Stelle der Erkenntnis- ARD und ZDF unbestritten. Die ARD-Ta- und Wahrnehmungsanstrengung tritt das gesschau um 20.00 Uhr als erfolgreichste Trotz alledem: Mehr denn je muß vor den Zerstreuungsgeschäft. Die Folge davon ist und qualitativ beste Nachrichtensendung Gefahren des Fernsehens gewarnt wer- ein rapider Verfall der menschlichen Ur- in Deutschland hat jeden Abend immer den. Die kommerziellen Sender sind in der teilskraft, der das gesellschaftliche Funda- noch zwischen sechs und acht Millionen Hand weniger immer mächtiger werden- ment der Demokratie antastet“. Zuschauer. der Medienkonzerne, die oft genug auch Postman hat diese Prognose nicht speziell Auch die wöchentlichen politischen Ma- international verflochten sind. Der Kampf auf die Bundesrepublik Deutschland gazine im Ersten Programm, sechs an der um die Quote führt zu einer Verflachung gemünzt. Ihre Bürger sollten sich aber Zahl, haben immerhin eine durchschnittli- des Programms, die beängstigende Aus- davon angesprochen fühlen – gerade im che Quote von fast drei Millionen Zu- maße annimmt. Wenn am Mittag bereits 50. Jahr ihres Bestehens. schauern. Daß von den sechs Magazinen im TV über sexuelle Perversionen offen sich drei eher nach links, drei eher nach geredet wird, dann hat das nichts mit In- Literaturhinweise rechts ausrichten, ist Ergebnis des gewoll- formationsfreiheit zu tun, sondern es ist Hans Bohrmann: Zeitzeugen-Zeitungen. In: Dortmunder ten Pluralismus in öffentlich-rechtlichen einfach geschmacklos. Oder wenn ständig Medien-Almanach, Dortmund 1995. Manfred Buchwald: Mediendemokratie, Berlin 1997. Sendern. Ausgewogenheit muß kein in Filmen Gewalt als offenbar normales Peter Kehm: Öffentlich-rechtlich – Ein Konzept für den Schimpfwort sein. Insgesamt ist der Infor- Mittel zur Lösung von Meinungsverschie- deutschen Rundfunk nach dem Krieg. In: Das Radio hat viele Geschichten (Hrsg.: ZFP von ARD und ZDF), Wies- mationsanteil der kommerziellen Sender denheiten gezeigt wird, dann muß das ir- baden 1995. in den Programmen nicht mal halb so gendwann Auswirkungen auf die Gesell- Hartwig Kelm: Stelbstverständnis und Auftrag der öf- groß wie der von ARD und ZDF. Unterm schaft haben. fentlich-rechtlichen Medien. In: Medien und Gesell- schaft (Hrsg.: Wilfried von Bredow). Stuttgart 1990. Strich können die Gründerväter des öf- Um es mit den Worten des bisherigen Hermann Meyn: Massenmedien in der Bundesrepublik fentlich-rechtlichen Rundfunksystems Bundespräsidenten Roman Herzog zu Deutschland, Berlin 1966. Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale, Mün- auch heute noch zufrieden mit ihrem Kind sagen: Wenn die Bürger wegen der Glotze chen 1980. sein: Der Anteil von ARD- und ZDF an der zentrale gesellschaftliche Fragen nicht Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode (Deutsche kontroversen politischen und gesellschaft- mehr wahrnehmen, dann erliegen sie Ausgabe), Frankfurt 1985. Dieter Prokop: Medienmacht und Massenwirkung, Frei- lichen Meinungsbildung, für eine leben- einer „flächendeckenden Volksverdum- burg/Brsg.1995. dige und stabile Demokratie unerläßlich, mung“. Siegfried Weischenberg: Der Untergang des Abendlan- des? In: Medien und Gesellschaft a.a.O. kann nicht hoch genug eingeschätzt wer- Und noch ein Zitat, diesmal von Neil Post- Gerhard Wisnewski: Die Fernsehdiktatur, München den. man. Der amerikanische Wissenschaftler 1995. Nicht zu vergessen schließlich die Rolle des stellte Mitte der 80er Jahre in einem auf- West-Fernsehens in den Jahren der Tei- seherregenden Buch fest, daß sich die Anmerkung lung. Für die Menschen in der DDR waren Menschen im Zeitalter der Unterhaltungs- 1 Walter J. Schütz: Deutsche Tagespresse 1997. In: ARD und ZDF jahrzehntelang das Schau- industrie zu Tode amüsieren. „Zum ersten Media-Perspektiven 12/97

158 Nicht alles, was als Nachricht daherkommt, hat Nachrichtenwert Der informierte Bürger Das Problem der „Objektivität“ in den Hörfunknachrichten

Von Roland Haug

Roland Haug ist Nachrichtenchef im Hör- vatheit in einem ausbalancierten Verhält- sen unser Verständnis von Wirklichkeit an funk des Südwestrundfunks (SWR) in nis zueinander. Dadurch unterscheidet den tagesaktuellen Informationen der Stuttgart. Zuvor war er Korrespondent für sich die Zivilgesellschaft von der alten Medien. Nachrichten liefern die aktuelle den ARD-Hörfunk in Johannesburg und Staats- und Untertanen-Kultur. politische Grundinformation. Moskau. Nach der deutschen Katastrophe des Jah- res 1945 wollten deutsche Nachkriegspoli- Nachrichten: Wie das Wichtige vom Eine funktionierende Demokratie, eine tiker im Rundfunk eine Einrichtung des Unwichtigen scheiden? wohletablierte Zivilgesellschaft als ihre Staates sehen. Man stand noch immer in Grundlage, setzen den informierten Bür- der Tradition der Weimarer Republik. Zwi- Die Hörer wollen wissen, ob die Welt noch ger voraus, auch wenn die Informiertheit schen den beiden Weltkriegen war der in Ordnung ist, ob „Alarm“ oder „Entwar- allein nicht ausreicht, eine Demokratie er- Rundfunk (mit einigen Einschränkungen) nung“ gegeben werden kann. Und sie folgreich zu erhalten und zu gestalten. noch ein offizielles Organ der Reichs-Re- wollen auch erfahren, ob sie ihre Uhr vor- Von daher kommt den Nachrichten ein gierung. oder nachzustellen haben oder ob es besonders hoher Stellenwert zu: in der heute regnen wird. Schließlich wollen sie Presse, im Fernsehen und vor allem – das Vorgabe war ein dezentral organi- noch erfahren: Was kommt auf mich Ausmaß der Nutzung belegt es – im Hör- sierter Rundfunk, der unabhängig heute noch zu? funk. Den Bürgerinnen und Bürgern von Regierungseinfluß ist Der Rundfunk ist schneller, beweglicher, Nachrichten zu liefern, setzt eine hohe flotter, technisch aufwendiger geworden. Auswahlleistung voraus, angesichts der Auf Initiative der westlichen Besat- Es setzt eine Informations-Explosion ein – Überfülle von Nachrichten, die bei den zungsmächte war in der Bundesrepublik was wegen begrenzter Aufnahme- und Medien eingehen. Damit sind zugleich Deutschland ein Rundfunksystem entstan- Einordnungsfähigkeit des Hörers die Ge- hohe ethische Anforderungen an diejeni- den, das zwei wesentliche Voraussetzun- fahr einer Über- und damit Desinforma- gen gestellt, die Nachrichtensendungen gen zu erfüllen hatte: Staatsferne und fö- tion heraufbeschwört. Es ist die wachsen- produzieren und verantworten. Sie müs- deralistische Struktur. Vorgabe in allen Be- de Nachrichtenflut, die uns schier um den sen ständig Rechenschaft darüber able- satzungszonen war ein dezentral organi- Verstand bringt. Sie macht Politikvermitt- gen, unter welchen Gesichtspunkten sie sierter Rundfunk, der unabhängig von jeg- lung immer unübersichtlicher. Die enorme die wenigen Nachrichten auswählen, die lichem Regierungseinfluß zu sein hatte. Entwicklung der Übermittlungswege hat dann auch tatsächlich gebracht werden Man schuf ein öffentlich-rechtliches Sy- keineswegs dazu geführt, daß das Senden können; anhand welcher Kriterien sie ver- stem nach dem Vorbild der BBC. Entschei- von Nachrichten schneller und aktueller suchen, so etwas wie Objektivität herzu- dend war die öffentliche, die gesellschaft- wird. Schrankenlose Markt-Mechanismen stellen; in welcher Form sie Nachrichten liche Kontrolle. Man befand sich auf dem und krudes Konkurrenzdenken produzie- präsentieren, damit sie auch ankommen. Weg zur Staatsbürgergesellschaft oder ren eine Überinformation. Die meisten Sie müssen ständig darauf achten, von in- eben auch zur Zivil-Gesellschaft als eines Hörer haben nur das subjektive Gefühl, teressierter Seite nicht überrumpelt zu spezifischen Typs der politischen Kultur. „bestens informiert“ zu sein. Der gewalti- werden, sei es von Politikern oder von Politische Kultur bezieht sich auf die „sub- ge Wissens-Overload macht es aber immer Verbandsvertretern, die nur allzu gerne jektive Dimension der Politik“. Man ver- schwieriger, die wichtige Information mit auch Medienereignisse inszenieren, um in steht darunter die Orientierung einer Hö- den sinnvollen und behaltenswerten In- die Nachrichten zu kommen. Formal droht rerschaft gegenüber den Bekundungen halten zu finden. Außer den Profis, den mit dem Hang zum „Infotainment“ eine der Handlungsträger eines politischen Sy- gatekeepern, den Schleusenwärtern der gewisse „Boulevardisierung“ von Nach- stems. Bis jetzt ist nicht allzuviel über die Information oder aber den wissenschaft- richten, der es gegenzusteuern gilt. Denn Wirkung von Medienprodukten aus dem lich Gebildeten, sieht sich niemand in der Nachrichten haben ihre eigene Würde. politischen Bereich bekannt. Sicher ist Lage, den ausufernden Nachrichtenstoff Red. aber, daß die Wirkungen der Massenmedi- quellenkritisch zu durchdringen und an- en immer im Zusammenhang mit anderen gemessen zu gewichten. Ohne Frage be- Der Rundfunk ist längst Bestandteil Sozialbindungen und Gesellschaftsfakto- steht deshalb auch in der Zukunft ein Be- der politischen Kultur ren gesehen werden müssen. darf an Fachleuten, die Informationen Die meisten Hörer äußern sich zufrieden sichten und bewerten, das Wichtige vom Nachrichten im Rundfunk nehmen in der über die Nachrichten in den von ihnen Unwichtigen, PR-Meldungen von der har- Bürgergesellschaft eine ganz besondere gehörten Programmen. Nachrichten wer- ten Information unterscheiden. Stellung ein. Sie gelten als etwas Selbst- den zumeist aufmerksam genutzt. Bei so verständliches. Radio-Nachrichten sind gut wie allen Befragungen über Begleit- Ein Impuls zur politischen stets präsent und damit zu einem wichti- programme bezeichnen die Hörer die Beteiligung? gen Bestandteil unserer Alltags-Kultur ge- Nachrichten als den (oder einen der) wich- worden. Man schaltet den Empfänger ein tigsten Programmbestandteile. Unter den Der amerikanische Kommunikationswis- und stellt fest, daß zu jeder Tages- und am wenigsten verzichtbaren Angeboten senschaftler Paul Lazarsfeld weist darauf Nachtzeit Programm angeboten wird. Die des Radios stehen Nachrichten deutlich an hin, daß eine übermäßige Nachrichtenver- öffentlich-rechtlichen Programme sind erster Stelle. sorgung zu einer oberflächlichen Beschäf- nämlich zu Teilen der Infrastruktur des Radio-Nachrichten strukturieren den Ta- tigung mit den Problemen der Gesell- täglichen Lebens geworden. ges- und auch den Nachtverlauf. Sie ver- schaft führt. Es sei deshalb durchaus denk- Das Rundfunkwesen hat sich aber auch zu mitteln das Gefühl, daß das Leben seinen bar, daß der Medien-Konsument von der einem wichtigen Bestandteil unserer poli- Gang geht. Der Hörer kann in der Ge- Flut der Informationen, der er sich aus- tischen Kultur entwickelt. Im Rahmen des wißheit leben, von jedem unvorhersehba- setzt, eher betäubt als zur Aktivität ange- öffentlich-rechtlichen und des privaten ren oder wichtigen Ereignis umgehend in- regt werde. So können Hörer durchaus zu Rundfunks operieren (im Idealfall) ver- formiert zu werden. der persönlichen Ansicht gelangen, sie schiedene Kräfte aus Staat, Markt, bürger- Die Nachricht ist sozusagen die Urmaterie seien nicht nur interessierte Zeitgenossen, licher Öffentlichkeit und bürgerlicher Pri- der journalistischen Arbeit. Wir alle mes- sondern auch rundum bestens informiert.

159 Unter dem Aspekt „Partizipation“ der auf der Objektivität verpflichtet sind. Von walten das Medium treuhänderisch für den Meß-Skalen der Demokratie einen Nachrichten erwartet der Adressat nichts die Allgemeinheit. hohen Wert einnimmt, ergibt sich aber ein anderes als Fakten und das in kompromiß- In einer leicht entzündlichen Mediensze- völlig anderes Bild. Nur ganz wenigen loser Sachlichkeit. Bei den Orientierungs- ne soll der Nachrichten-Redakteur die Bürgern ist wirklich bewußt, daß sie sich versuchen der Offentlichkeit gegenüber Welt nüchtern, ohne Schwärmereien und vor politischen Entscheidungen und dem politischen System mit allen seinen Ideologien betrachten. Gerade in Zeiten Handlungen gedrückt haben. Ihr Kontakt politischen Institutionen erweist sich der einer zunehmenden Boulevardisierung, mit der politischen Wirklichkeit, ihr Hören im Radio übliche Zwang zur Kürze mitun- Dramatisierung, Skandalisierung und Ka- in einem Nebenbei-Medium wie dem ter als besonders verhängnisvoll. Eine tastrophisierung der Politik hat er ein Ob- modernen Radio und ein eventuelles Nachrichtensendung, die nur noch aus jektivitäts-Fanatiker zu sein. Sachlichkeit, Nachdenken über das Gehörte sind bloße Ortsangaben, Namen und Schlagzeilen Nüchternheit und Gelassenheit, aber auch Ersatzhandlungen. Es sind von dem Me- besteht, ist einfach nicht mehr informativ. Veranwortungsbewußtsein und Vertrau- dienprodukt keine Signale ausgegangen, Journalisten werfen Politikern häufig vor, enswürdigkeit sind gefragte Tugenden. die sie dazu veranlaßt, politische Verant- sie seien „zu oberflächlich“ und argumen- Eine liberale Haltung, Toleranz und Re- wortung zu übernehmen. In einer wenig tierten „zu grobschlächtig“. Doch dieser spekt vor der anderen, der fremden Mei- partizipativen politischen Kultur verliert Vorwurf ist unfair, wenn man bedenkt, nung, gehören zum unentbehrlichen dann auch die Nachricht den Charakter daß die Politiker zur Erläuterung eines Rüstzeug des Nachrichten-Journalisten. einer „Mittheilung zum Darnach-Rich- komplexen Sachverhaltes in der Regel nur Aufgrund seines nüchternen Men- ten“, wie die Brüder Grimm in ihrem 30, 40 oder im Höchstfall 60 Sekunden be- schenbildes hält er sich bei der Bericht- Deutschen Wörterbuch so treffend formu- anspruchen dürfen. Jede Information und erstattung strikt an den Satz: liert haben. die Auseinandersetzung über politische l never believe in a high motive if there is Themen benötigen eben ein Mindestmaß a low motive beside. Wie objektiv können Nachrichten an Zeit. Wenn das nicht gewährleistet ist, Früher hatte man den Schriftsteller Fon- sein? werden Vorurteile weitertransportiert tane bemüht, der formuliert hatte: oder im besten Falle eben anders akzentu- „Sie reden vom lieben Gott und meinen Wer in einer Nachrichtenzentrale arbeitet, iert. Kattun.“ tut gut daran, immer wieder einmal inne- Will der Nachrichten-Redakteur Politik Auf der anderen Seite ist permanente zuhalten und sich zu fragen: Wo stehe vermitteln, so muß er wertneutrale sachli- Politikerberschimpfung längst zum Topos ich? Was sind meine journalistischen An- che Wörter benutzen. Er soll Distanz hal- der „maulenden Mehrheit“ (Enzensber- sprüche? Wo liegt meine publizistische ten zum Mitgeteilten, sich nicht identifi- ger) geworden. Journalisten tragen des- Zielsetzung? Fair, unparteiisch, distan- zieren mit dem, was er zu berichten hat. halb gegenüber der Bürgergesellschaft ziert, sachkompetent – so wünschen wir Wer zum Beispiel Arbeitsplätze „freisetzt“ ein hohes Maß an Verantwortung. Das uns den Nachrichtenredakteur. Er soll oder einen „Entsorgungspark“ plant, politische System kann von der Bevölke- wachsam sein gegen jede Form des Mei- steht unter Ideologie-Verdacht. Denn in rung nicht bejaht werden, wenn (außer- nungs-und Tendenz-Journalismus. Wirklichkeit entiäßt er arbeitende Men- halb von Nachrichtensendungen) nur Ein Nachrichten-Journalist ist gehalten, schen oder er plant eine Anlage zur Müll- noch mit permanenter Häme über Politik Nachrichten und Kommentar strikt von- verbrennung. Das hört sich freilich sehr berichtet wird. Herrschaftsträger können einander zu trennen. Das verlangen unse- viel weniger gut an. kein Vertrauen finden, wenn sie zu re Rundfunkgesetze aufgrund leidvoller Niemand soll aber den Verdacht hegen bloßen Clowns und Witzfiguren stilisiert historischer Erfahrungen. Hinter der For- können, ein Nachrichten-Redakteur er- werden. derung, beschreibende und wertende greife Partei für eine bestimmte Sache. Aussagen zu trennen, steht die Vorstel- Unzulässig sind deshalb auch Euphemis- Richtigkeit vor Schnelligkeit lung vom mündigen Staatsbürger. Der men, also schönfärberische und verbrä- Radio-Hörer soll sich sein Urteil selber bil- mende Ausdrücke. Zum Bemühen um Objektivität gehört den können. Die Nachrichtensendungen auch, daß der Nachrichten-Redakteur die dürfen nicht von einem Journalisten be- Hilfestellung für die eigene Hörer mit der jeweiligen Gegenposition vormundet werden. Meinungsbildung vertraut macht. Im Zweifel muß nachre- Vergleicht man verschiedene politikge- cherchiert werden. Richtigkeit geht schichtliche Phasen unseres Volkes, so Wie verläuft nun im öffentlich-rechtlichen immer vor Schnelligkeit. Eine eilig über wird man feststellen, daß in Deutschland Rundfunk die Politikvermittlung? Der den Äther verbreitete Falschmeldung hat die Medien Nachricht und Kommentar Rundfunk als solcher vertritt keine be- man immer exklusiv. Bei widersprüchlicher nicht immer auseinandergehalten haben. stimmte Meinung. Er stellt vielmehr einen Nachrichtenlage müssen aber die unter- So gab es in der deutschen Presse des 19. ganzen Chor, ein ganzes Forum von Mei- schiedlichen Informationen (mit Quellen- Jahrhunderts Phasen, in denen – wie nungen dar. Dieser Forums-Charakter angabe) offengelegt werden. „Jede heute in der russischen Presse – mehr das muß gerade in der Nachrichtengebung Nachricht ist falsch“, befand schon der Räsonnement, also das Argumentieren, deutlich werden. Die Politiker sollen aus- Preußen-General Carl von Clausewitz. gepflegt worden ist. Dann gab es wieder reichend zu Wort kommen. Das geschieht Eine durchaus bedenkenswerte Sentenz, Zeitabschnitte, in denen das Referat, der nicht in politischen Verkündigungssen- wenn man bedenkt, daß eine Nachricht kommentarfreie Bericht, im Vordergrund dungen, sondern in einer die unterschied- immer irgendwie unvollständig ist. Aus stand. Schlimme Erfahrungen mit einge- lichen Positionen darstellenden und des- Zeit-, Raum- oder anderen Gründen kann färbten, kommentierten Nachrichten halb auch abwechslungsreichen politi- sie niemals sämtliche Fakten und Ver- machte man in der Zeit der Diktatur. Die schen Berichterstattung. Der Nachrichten- knüpfungen vermitteln. Eine Nachricht Nationalsozialisten und im Anschluß Redakteur ist gehalten, alle relevanten kann nur so umfassend sein wie Journali- daran die kommunistische Einheitspartei Meinungen zu einem politischen oder ge- sten in der Lage sind, ungehindert zu re- mißbrauchten den Rundfunk als Propa- sellschaftlichen Vorgang wiederzugeben. cherchieren. Länder, in denen strenge ganda- Instrument. Seit 1945 gelten in Das hat überhaupt nichts mit Proporz- Zensurbestimmungen bestehen, verhin- Westdeutschland liberale Nachrichten- Denken zu tun, sondern mit einer Grund- dern eine umfassende Nachrichtenge- Prinzipien. Diese gehen auf englische und regel, die typisch ist für den öffentlich- bung. Aber auch in demokratisch-struktu- amerikanische Traditionen zurück. Ihr rechtlichen Rundfunk. Die Anstalten der rierten Gesellschaften sind die Nachrich- wichtigstes Leitmotiv: Comments are free, ARD und des ZDF werden gesellschaftlich tenbeschaffer in der Regel auf offizielle but facts are sacred. kontrolliert; sie gehören damit allen. Die Informationen oder auf kurze, nicht sehr Darbietung von Politiker- und Experten- tiefgegehende Recherchegespräche ange- Der verhängsnisvolle Zwang Meinungen in den Nachrichten soll eine wiesen. Allenfalls punktuell können sie zur Kürze Hilfestellung für die eigene Meinungsbil- eigene Beobachtungen machen. Auch dung der Hörer sein. Sie vermitteln gesell- wenn man im Hinterkopf behält, daß sub- Nachrichten sind journalistische Texte, die schaftliche Vielfalt, dienen aber auch der jektive Elemente in jede journalistische mehr als andere Darstellungen dem Ziel Integration. Nachrichten-Redakteure ver- Arbeit einfließen, muß man als Nachrich-

160 tenmann dennoch strikt an der Objekti- zu Fehlern und Pannen. Es gehört zu den einmal 150 Meldungen laufen im Pro- vitätsforderung im Sinne einer „gnaden- berufsspezifischen Gefährdungen, daß gramm eines 24-Stunden-Senders. Was losen Versachlichung“ (Peter Voß) festhal- Journalisten auch einmal Unvollendetes, nach scharfer Selektion aussieht, ist aber ten. Beliebig ist die Wahrheit aber keines- Halbgares, veröffentlichen. Auch verspürt nur zum Teil das Ergebnis einer wirklich wegs; man kann sie durchaus treffen. Da so mancher Agentur-Journalist und Korre- journalistischen Auswahl. Schaut man eine Rundfunkanstalt mehrere Agenturen spondent in sich den Hang zum Dramati- dann etwas genauer hin, dann bleiben abonniert hat und auch eigene Korre- schen. Unterdrückte Nachrichten sind nur zwei bis drei Dutzend tatsächlicher spondenten beschäftigt, kann ein Ouel- aber zumeist gefährlicher als voreilige. Kernmeldungen übrig. lenvergleich und auch Ouellenkritik statt- Nicht ganz stimmende Meldungen kann Wie kommt es zu dieser Nachrichtenflut? finden. So gesehen stehen die Chancen man korrigieren, nicht veröffentlichte Sie ist das Ergebnis von Doubletten. Über für eine umfassende Berichterstattung aber sind verloren. Der Nachrichten-Jour- die meisten Themen wird von mehreren gar nicht so schlecht. Politische Eunuchen nalist muß sich um eine möglichst wert- Agenturen berichtet. Das heißt: Zu ein zählen im politischen Tagesgeschäft aller- freie Diagnose bemühen. Sein wichtigster und demselben Ereignis liegen mehrere dings zu den journalistischen Ausnahmen. Leitspruch lautet: „Achte auf Präzision im Meldungen vor. Es gibt Mehrfachmeldun- Rahmen der Zeit, die dir zur Verfügung gen. Große Themen schlagen sich in einer „Objektivität“ kann nur die steht“. Konflikte müssen so genau und so Vielzahl von Einzelmeldungen nieder. Es Zielrichtung angeben wirklichkeitsgetreu wie möglich geschil- gibt dert werden. Objektivität im demokrati- – Vorausmeldungen Wer jemals Nachrichten-Redakteur gewe- schen Rundfunk besteht aber auch im – Auftakt- oder Anlaufmeldungen – sen ist, wird nicht behaupten, die „Objek- Streben nach größtmöglicher Vollständig- Einzelmeldungen über den Gang des tivität“ gepachtet zu haben. Diese Be- keit, Vorurteilslosigkeit und Neutralität. Geschehens zeichnung ist ohnehin einer der mißver- Auch muß die Nachricht jederzeit über- – Überblicke und Zusammenfassungen ständlichsten und am häufigsten miß- prüfbar sein. Zwar haben Oberflächlich- – Gesamtzusammenfassung brauchten Begriffe im aktuellen Journalis- keit und Schlampigkeit bei Journalisten Bei jeder Meldung, die on air geht, mus. Man sollte deshalb besser nicht von nicht die verhängnisvollen Konsequenzen müssen folgende Fragen beantwortet „Objektivität“ sondern von handwerk- wie sie etwa bei Ärzten, Piloten, Lokfüh- werden: licher Redlichkeit sprechen. Dasselbe gilt rern oder Omnibusfahrern eintreten – Betrifft das die Hörer? auch für die Erwartungen an eine „ausge- könnten. Aber gerade beim Transport von – Macht es sie betroffen? wogene Berichterstattung“. Gemeint ist geistigem Gut sind äußerste Zuverlässig- – Nützt ihnen das? häufig das Gegenteil. Es sind mehr Erwar- keit und Sorgfalt unabdingbar. Jeder Bür- – Interessiert sie das? tungen in die „Gewogenheit“ der Sach- ger hat Anspruch auf verläßliche und qua- beiträge. Ein besonders eklatantes und litativ hochwertige Informationen. Ideal Auswahlkriterien entlarvendes Beispiel hat gegen Ende der und Wirklichkeit: Die Kontrolle des gesell- Weimarer Republik die Reichsleitung der schaftlichen Lebens durch die Medien ist Ohne Zweifel gibt es ein professionelles NSDAP geliefert. Ihre „Rundfunk- notwendig. Doch der Adler sollte auch Grundverständnis über Nachrichtenwerte. abteilung“ untersuchte die Vormittags- nicht zu hoch fliegen, sonst könnte er in So muß der Nachrichten-Redakteur Aus- programme der preußischen Rundfunk- dünner Luft die Orientierung verlieren. wahlkriterien wie Personalisierung von Er- Gesellschaften. Dabei kam sie zu dem fol- „Wo immer etwas faul ist“ so der Presse- eignissen, Eindeutigkeit des Geschehens genden Ergebnis: 22 Prozent der Pro- rechtler Martin Löffler, „soll die Presse (das heißt einfache Sachverhalte werden gramme seien kommunistisch und 40 Pro- Laut geben und so nach dem Willen der bei der Auswahl komplexen Sachverhal- zent sozialdemokratisch. 25 Prozent aller Verfassung das Amt eines öffentlichen ten vorgezogen oder aber komplexe Sach- Programme enthielten sonstige „gefärb- Wächters ausüben“. Ich habe den Ein- verhalte werden vereinfacht). Doch wie te“ Stoffe. 12,5 Prozent der Programme druck, daß der Einfluß der Schleusenwär- soll man Politik verständlich machen, vermittelten nach dieser Darstellung ter des Informationsstroms schwindet. wenn auf der einen Seite Sachverhalte deutsch-nationale Anliegen und lediglich Rollenverständnisse wie: „Der Journalist immer komplexer werden. Auf der ande- 0,5 Prozent national-sozialistische Positio- hat Hüter gesellschaftlicher Werte zu ren Seite wird die Zeit immer kürzer, in der nen. Die Folgerung aus diesem „Befund“ sein“ oder: „Der Publizist ist auch Erzie- man über diese Sachverhalte informieren lautete: Die endgültige Reform des Rund- her“ sind längst überholt. Wenn es um Po- soll. In der Demokratie ist Kompliziertheit funks müsse Sache einer kommenden Hit- litikvermittlung in den Nachrichten geht, oft ein Herrschaftsmittel. Doch keine ler-Regierung sein. sind Schmalspur-ldeologen, fanatische Sy- Angst: Eine intelligent vermittelte Kom- stem-Kritiker, Polit-Missionare und poli- plexität stößt bei den Hörern sehr wohl Jede Art von Nachrichten-Weitergabe und tisch genormte Gesinnungsseilschaften auf Interesse – und das nicht nur im Kul- damit von Politik-Vermittlung ist eine nicht gefragt. Betroffen sein sollen die turprogramm. Wer vor der Kompliziert- Kette von subjektiven Entscheidungen. Hörer und nicht die Redakteure. Er- heit der Dinge zurückschreckt, spielt einer Auswahlentscheidungen – die Nachrich- wünscht ist der sachlich vorgehende, sorg- bloß noch „symbolischen Politik“ in die tenauswahl, die Gewichtung und die For- fältig selektierende Vermittler. Aus der Hände. Er schafft erst die Politik-Verdros- mulierung von Nachrichten – werden nie- Fülle der in der Redaktion einlaufenden senheit, die er in seinem Vorurteil selbst mals „objektiv“ sein können. Lediglich die Informationen wählt er für die Sendung voraussetzt. Zielrichtung ist „Objektivität“. Jede Er- aus, was nach seiner Einschätzung für die Eine weitere Nachrichtenkategorie sind kenntnis ist abhängig von den Bedingun- Hörer neu, wichtig und interessant ist, was Überraschung und Sensationalismus (das gen des erkennenden Subjekts. Abgese- die Hörer betrifft oder betroffen macht heißt das Extra-Ordinäre, nicht aber die hen davon, daß der Nachrichten-Jour- (emotionales Publikumsinteresse). Seine Normalität ist spannend). Es geht auch um nalist die Uhr stets antreibend im Genick ideologische Fixierung, seine persönlichen das Regelwidrige, das Thema, das Ge- hat und auch menschliche Konzentra- Überzeugungen, muß er dabei vernach- sprächswert hat. So gesehen ist der soge- tionsschwächen auftreten können, spie- lässigen. nannte Negativismus eine wichtige Nach- len natürlich die persönliche Herkunft, richtenkategorie. Dieser Negativismus Schichtzugehörigkeit, der Bildungsstand, Täglich 2000 Agenturmeldungen, wird den Journalisten oft vorgehalten. das Alter, die Nationalität und persönliche doch nur 150 gehen ins Programm Mich erinnert dieser Vorwurf an den alten Interesse eine gewisse Rolle. jiddischen Witz, der in der Frage gipfelt: Nachrichten konstruieren Realität. Es han- Wie werden nun die Themen gemanagt? Wovon wird denn nun der Kaffee süß? delt sich allenfalls um Wirklichkeitsent- Wie verlaufen die Entscheidungsstränge Vom Zucker, oder vom Umrühren? Den würfe, die das Sein nicht getreu wider- auf dem Weg ins Programm? Zucker werfen andere hinein. Journalisten spiegeln können. So gesehen ist ein ge- Zunächst einmal muß die Spreu vom Wei- „rühren nur um“. Auf jeden Fall interes- wisses Mißtrauen gegenüber veröffent- zen getrennt werden. Die Nachrichten- sieren Ereignisse, die dramatisch verlaufen lichten Meinungen Bürgerpflicht. Wo agenturen überschwemmen Tag für Tag und mit offenem Ausgang sind. Das kön- unter Konkurrenz und Zeitdruck gearbei- mit etwa 2000 Meldungen den Schreib- nen Verbrechen sein, Entführungen, Gei- tet werden muß, kommt es natürlich auch tisch des Chefs vom Dienst. Doch gerade selnahmen, Unglücksfälle. Was interes-

161 siert, das sind Ereignisse, die mit Konflik- Milieus – allen voran bei der SPD – ist der Mechanismus ist bekannt: Pressestellen ten zu tun haben. Daß es eine mediale Widerstand gegen parteifremde Journali- und PR-Agenturen produzieren Nachrich- Neigung gibt, Konflikte überzubetonen, sten groß. Wer zum Beispiel zu Hinter- ten, die eigentlich gar keine sind, weil sie sei an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt. grundgesprächen im kleinen Kreis ein- interessengebunden argumentieren. Sie Was bewegt? Es sind Schicksale von Men- geladen werden möchte, sollte ein SPD- provozieren aber wiederum Reaktionen, schen, auch von Völkern (z.B. Kurden), Er- Parteibuch haben, zumindest aber der Dementis und Bestätigungen. folge, Mißerfolge. Ein Unglück und die Partei nahestehen. Man könnte daraus Auch die BILD-Zeitung , der SPIEGEL und möglicherweise glückliche Rettung. schließen, daß der eine oder andere Politi- das Fernsehen können hier eine Art Mei- Was nützt dem Bürger? Trägt eine Mel- ker journalistische Arbeit nur dann für ge- nungsführerschaft übernehmen. Sie spie- dung dazu bei, daß er den Alltag besser lungen hält, wenn sie den eigenen Ansich- len dann beim Thematisierungsprozeß meistert? Hat die Nachricht einen Ge- ten entspricht. Auf der anderen Seite gibt eine entscheidende Rolle. In Bonn spricht brauchswert? Setzt Dich eine Meldung in es direkte Einfluß-Versuche der Parteien man bereits von einer „medialen In- die Lage, politisch verantwortungsbe- oder einzelner Politiker immer seltener. zucht“. Es findet nämlich eine Selbstver- wußt zu handeln? Es handelt sich also um Jene Politiker, die bei jedem kritischen Bei- vielfältigung, eine wundersame Vermeh- news to use. Etwa: Wissenschaftliche Ent- trag am liebsten die „eigenen Truppen“ in rung von Schein-Nachrichten statt, der deckungen (Krebsbekämpfung, Mittel den Rundfunkgremien in Marsch setzen man eigentlich Einhalt gebieten sollte, gegen Aids, Rückrufaktionen bei Autos). wollen, werden weniger. Immer mehr weil sie zur Nachrichtenverdrossenheit des Von Bedeutung auch: Sozialpolitisches werden aber jene, die für ein relativ un- Publikums beiträgt. Das Werk der Journa- (Rentenentwicklung), Verbrauchernach- verkrampftes Verhältnis zu den Medien listen besteht oft nur noch darin, Übertrei- richten, Wettermeldungen, Verkehr. eintreten. Das mag einmal damit zu- bungen und Euphemismen des PR-Materi- Nachrichtenkategorien, welche die Aus- sammenhängen, daß bei der Vielzahl als abzumildern oder auszumerzen. Die wahl durch die Redakteure bestimmen, der Rundfunk-Programme die Politiker beiden amerikanischen Medienforscher sind außerdem: schlicht die Übersicht verloren haben. Auf Jeff und Marie Blyskal haben bereits 1985 Die Nähe – geographisch, sozial, auch kul- der anderen Seite stärkt das (im Vergleich herausgefunden, daß in den Vereinigten turell. zu früheren Jahren) höhere Maß an Pro- Staaten vierzig bis fünfzig Prozent aller Die Tragweite – z. B. schrumpfende Ozon- fessionalität die Position der Nachrichten- News auf PR-Aktivitäten zurückgehen. Bei schicht. redaktion. lokalen Radio- und Fernseh-Stationen ist Die Reichweite – folgenschwere Wichtig- dieser Anteil sogar noch höher. Nach An- keit. Je größer die Zahl der Betroffenen, Bei der Wirtschaft wird schon sicht des Schweizer Medienwissenschaft- desto größer der Nachrichtenwert. (z.B. Anstoß erregt, wenn Öffentlichkeit lers René Grossenbacher haben im alle Autofahrer). hergestellt wird deutschsprachigen Raum zwei Drittel aller Das Agenturmaterial hat Prioritäten von 1 Beiträge in PR-Maßnahmen ihren Ur- bis 4, unterscheiden kann man aber auch Zwischen Wirtschaftsführern und Politi- sprung. Und so kommt es denn, daß die zwischen kern auf der einen und Journalisten auf Grenzen zwischen PR und Journalismus A-Themen (Was muß unbedingt mit): Das der anderen Seite besteht seit jeher ein immer mehr verwischen. sind etwa Katastrophen, Gewaltverbre- natürliches Spannungsverhältnis. Am mei- Der Vorwurf ist hart: Die International chen, wichtige Parlamentsdebatten, Bun- sten erregen Journalisten damit Anstoß, Herald Tribune hat vor Jahren den deut- destagswahlen, Tod eines Präsidenten. daß sie Öffentlichkeit herstellen, die so schen Journalisten vorgeworfen, daß sie – Diese Themen müssen den ganzen Tag nicht erwünscht ist. Sie lassen ihre Zu- im Verhältnis zu den politischen und wirt- über fortgeschrieben werden. schauer oder Hörer an Vorgängen teilha- schaftlichen Eliten – die Rolle des natürli- B-Themen (Was sollte mit?): Der monatli- ben, die diesen sonst verborgen bleiben, chen Verbündeten spielten. Man ermuti- che Arbeitsmarktbericht. B-Themen soll- die für eine Meinungsbildung aber wich- ge nicht zum investigativen Journalismus, ten mehrfach vor allem zu den Schwer- tig sind. Inzwischen sind freilich auch PR- sondern begnüge sich damit, die vorberei- punktzeiten gesendet werden. Durchgän- Leute professionell geschult. Daraus er- teten Erklärungen von Politikern und PR- gig ist das aber nicht notwendig. wächst auch eine ganze andere Gefahr. Abteilungen wiederzugeben. So gesehen C-Themen: Was kann mit? (Womit ist die Unzählig sind die Versuche, durch rührige wird der Anspruch mancher Journalisten, Sendung rund zu machen?): Es kann der PR-Aktivitäten in die Medien zu kommen. im Staate die „vierte Gewalt“ zu verkör- Start einer Raumfähre sein oder irgendei- (Außensteuerung von Informationen) pern, immerfragwürdiger. Die Öffentlich- ne Prominentenmeldung. Solche Themen Hier zeigt sich die schiere Ohnmacht jour- keit möglichst objektiv zu informieren können, müssen aber nicht in den Nach- nalistischer Arbeit gegenüber einer gene- und die Mächtigen zu kontrollieren – das richten laufen. Sie runden aber den Mel- ralstabsmäßig geplanten PR. Auf einen ist ein hehres Ziel. In der Realität ist es dungsblock ab. Es liegt auf der Hand, daß journalistisch Tätigen kommen im Schnitt kaum noch einzuhalten. Es wird immer ein Thema, das schon lange in den Nach- schon vier Öffentlichkeitsarbeiter. So resi- seltener, daß Journalisten als Filter und Er- richten vorkommt, größere Chancen hat, dierten in Bonn mehr als 17 000 Vertreter klärer gegenüber der Öffentlichkeit auf- in den News zu erscheinen, als kurzfristige von Interessenverbänden, die die Korre- treten und auf die Politik einen kompe- Ereignisse. Auch dramatische Entwicklun- spondenten der Sender und der Tageszei- tenten Begründungsdruck aufrechterhal- gen sollten so objektiv und emotionslos tungen mit Informationen und Stellung- ten. Sicher tragen einige Journalisten wie möglich nachgezeichnet werden. nahmen regelmäßig zuschüttten. Hinzu selbst zur Verwirrung und zum Medien- kommt eine Flut von Meldungen aus den verdruß bei. Die Gier nach Schlagzeilen PR-Agenten versuchen, den Parteizentralen und den Ministerien. Sie und Exklusivität verführt zur Sensations- Journalisten die Nachrichten alle bemühen sich, den zumeist überbe- lust. Reporter werden zu Voyeuren (zum „pfannenfertig“ zu liefern schäftigten Journalisten Informationen Beispiel bei der Flugzeugkatastrophe in sozusagen „pfannenfertig“ zu präsentie- Ramstein). Nervenkitzel geht über Pietät. Nachrichten-Redakteure müssen Pressio- ren. Sie brechen bisweilen auch hemmungslos nen widerstehen, unabhängig davon, ob Tabus (Geiselgangster-lnterview in Bre- sie von politischen Kommandohöhen oder Produzierte Nachrichten, men). Eines steht freilich fest: Journalisten von öffentlichen bzw. privaten Institutio- die keine sind sind mitnichten Repräsentanten jener dä- nen ausgehen. Zum Glück lassen sich Re- monischen Kraft, zu der sie von Politikern dakteure heute kaum noch parteipolitisch Wir leben in einer vermittelten Welt. Sie oft gemacht werden. Ganz im Gegenteil. vereinnahmen. In unserem alten Bonner wird nicht real und unmittelbar wahrge- Büro hat man vor Jahren versucht, die der nommen, sondern indirekt über Informa- Die Beziehungen von Politikern und Regierung nahestehenden Korresponden- tionen, Chiffren zum Geschehen. Und so Journalisten ten mit der Berichterstattung über eine kommt es, daß mediengerecht aufbereite- Oppositionspartei zu betreuen und umge- tes Material sehr viel mehr Resonanz fin- Politiker und Journalisten unterhalten Be- kehrt. Man wollte damit die Berichterstat- det als das nackte Ereignis. Journalismus ziehungen der ganz besonderen Art. Der tung versachlichen, objektivieren. Gelun- ist ein soziales System, das selbst-organi- berühmte BBC-Mann Hugh Green hat sich gen ist das nur zum Teil. In manchen sierend und selbst-bezogen arbeitet. Der wie folgt dazu geäußert:

162 „Nennen sie mir ein Land, in dem Politiker sagen, hat Nachrichtenwert. Eine ganze salopp und auch kein Slang. In der Alltags- und Journalisten sich vertragen, und ich Industrie ist auf dem Felde der Ereignis- sprache kann vielleicht jemand aus einem sage ihnen, da ist keine Demokratie.“ lnszenierung für Wirtschaft und Politik Lokal „rausgeschmissen“ werden. Im Ra- Aber bei aller Unterschiedlichkeit der Auf- tätig. Man spricht mitunter bereits von diotext würde er „hinausgeworfen“. Ver- gaben und interessen gibt es auch ein eine symbolischen Politik; sie tritt als Er- werflich ist auch der allgemeine Hang zur paar Gemeinsamkeiten. Eine besteht satz für politische Problem-Lösungen auf. geschwollenen Rede. Das Politiker- darin, daß beide höchst komplizierte Aber auch nicht alles, was Firmen mitzu- Deutsch und natürlich auch das Manager- Dinge, für die sie selbst keineswegs Spe- teilen haben, kann man als simple Pro- Englisch besteht häufig aus Stereotypen zialisten sind, möglichst verständlich er- duktwerbung abtun. und Musterphrasen. Es handelt sich um klären. Wie macht man das? Wie gelangt In seinem 1932 erschienenen Roman Schö- austauschbare Allzweckwörter, die mehr man an diese Informationen? Manche ne neue Welt beschreibt der britische verschleiern als enthüllen. Ihr Sinn ist dun- sind stolz darauf, zum „Kanzler-Tee“ ein- Schriftsteller Aldous Huxley die Gesell- kel und nebulös. Jede Form der Stereoty- geladen zu werden. Andere tun so, als schaft einer fernen Zukunft. In dieser er- pie steht im Gegensatz zur verlangten berühre sie das alles nicht. Die Nähe zu trinkt die Wahrheit in einem Meer von Be- Fakten-Genauigkeit. Deshalb muß sich der den Politikern ist sicher nötig. Stimmun- langlosigkeiten. Huxley warnt vor jenen, Redakteur bei der Politikvermittlung gen und Entwicklungen im Bonner Regie- die uns mit einem Wust von Einzelinfor- bemühen, die Dinge konkret und sachlich rungsbetrieb kann man nämlich nur dann mationen vollstopfen wollen. Die Men- zu benennen. erfahren, wenn man an Hintergrundge- schen, mit Nachrichten überfüttert, schal- sprächen teilnimmt und auch Abendver- teten sich aus den öffentlichen Angele- Authentische Wortaufnahmen anstaltungen besucht. Dennoch sind die genheiten aus, so meint der Autor. In der als Salz in der Suppe besten Korrespondenten nicht jene, die Folge flüchteten sie sich in die totale Passi- im innersten Zirkel einer Partei verkehren. vität. Längst hat uns die Wirklichkeit ein- Bei der Suche nach nicht unbedingt Es sind nicht jene, die mit den Politikern geholt. Es gibt eine Inflation von eher neuen, aber anderen Präsentations-For- ein „Bierchen“ trinken. Am seriösesten belanglosen Politiker-Äußerungen. Das men ist die Vorläuferin der heutigen SWR- sind die kontinuierlich-gründlichen Beob- kommt daher, daß die meisten Berufspoli- Nachrichtenzentrale innerhalb der ARD achter und klugen Analytiker. Sie machen tiker eine Art Dauerwahlkampf führen einmal zum Pionier geworden. Bereits die beste Figur. Die Nähe zu den Politikern oder aber bei inszenierten PR-Auftritten 1977 hatte man in Stuttgart damit ange- kann sehr wohl auch korrumpieren. Ver- Fensterreden halten. So wird die Flut der fangen, der formalen Eintönigkeit von trauensvolle Kontakte sind für den Infor- Information größer und größer. Leider Nachrichtensendungen durch flexible, mationsfluß zwar unabdingbar. Doch die steigt die Zahl der wirklich wichtigen und auflockernde Sendeformen vorzubeu- Grenze zur Kumpanei darf niemals über- nützlichen News nicht in gleichem Maße. gen. Im Lauf der Jahre hat sich die Zahl schritten werden. Ein Journalist darf sich Es fällt auf, daß die Ereignis- Berichterstat- der O-Ton-Nachrichten auf acht erhöht. nicht instrumentalisieren, nicht benutzen tung immer geringer wird. Anders als in Eckpunkte sind 6.00, 7.00 und 8.00 Uhr, lassen. Er muß Distanz wahren, getreu den englisch-sprachigen Ländern wird 13.00, 16.00 und 18.00 Uhr in SWR 1 und dem Berufsmotto des Fernseh-Journali- immer weniger über das berichtet, was 12.00 und 16.00 Uhr auf SWR 4. Seit dem sten Hajo Friedrichs: wirklich stattfindet. Ein großer Anteil der Golfkrieg sieht unser Nachrichtenkonzept „Ein Journalist muß immer dabei sein. Er medialen Informationen bezieht sich auf vor, daß wir darüber hinaus zu jeder Zeit, darf aber nicht dazugehören“. verbale Berichte und Meinungen. Die wenn immer es die aktuelle Situation er- Politiker empfehlen und gewähren Inter- Nachrichten entfernen sich zunehmend fordert, O-Töne einspielen. Es gibt zwei views, auch wenn sie gar nichts Neues zu von den facts; es entsteht eine verselb- Arten von Nachrichten-O-Tönen: den sagen haben. Sie laden ein zu inszenierten ständigte Medienrealität. Dafür nehmen „echten“ und den „unechten“-O-Ton. Der Ereignissen, zu Pressekonferenzen oder Meinungsäußerungen, die manchmal „echte“ O-Ton ist die Äußerung eines Sonderparteitagen. Diese gleichen dann doch nur „Meinungs-Rülpser“ sind, zu. Akteurs des gesellschaftlichen Lebens Feldgottesdiensten. Man veranstaltet sie Eher positiv zu bewerten ist eine gewisse (eines Politikers, Managers, Wirtschafts- eigentlich nur deshalb, weil man als Partei Abkehr vom Primat der Politik. Daß immer führers, eines Künstlers oder Sportlers). im Fernsehen präsent sein will. Ihre Sub- mehr Nachrichten mit Gebrauchswert pro- „Unechte“ O-Töne sind journalistische stanzlosigkeit ist offensichtlich. Weit we- duziert werden, hat dem Radio und sei- O-Töne, Statements von Reportern oder niger wichtig ist, daß man auch im Radio nem Publikum sicher gut getan. Korrespondenten. Agenturen liefern oft gehört oder in den Zeitungen erwähnt den Hinweis auf Themen, die dann weiter wird. Auch Journalisten sind schwache Einfache Botschaften: recherchiert, weiter gedreht werden. Das Menschen. Soll heißen: Sie sind sehr wohl Anforderungen an Sprache und völlig neue, eigenständige Thema, bei korrumpierbar. Die Palette der Anfech- Struktur von Nachrichten dem sich aufgrund gründlicher Recherche tungen ist variantenreich. Die Nähe zu Po- „Neues“ ergibt, ist dann eher die Aus- litikern kann durchaus zu einer unkriti- Politikvermittlung im Hörfunk: Über das nahme. schen Haltung verführen. Radio lassen sich nur einfache Botschaften Authentische Wortaufnahmen können vermitteln. Die Leistungsfähigkeit des das Salz in der Suppe einer Nachrichten- Die Inszenierung von Kurzzeitgedächtnisses ist – wie man weiß sendung sein. Die Einblendung kurzer O- Pseudo-Ereignissen beschränkt. Es verträgt keine Informa- Töne macht eine Sendung „schnell“. Der tions-Ballung. Das heißt: Eine Einzelbot- Ablauf erfolgt in einem anderen Rhyth- Politiker sind besessen von der Vorstel- schaft sollte in zwei bis drei Sekunden mus. Die News werden dadurch lebendi- lung, Themen zu besetzen. Sie werden ge- übermittelt sein. Mit der gängigen Politi- ger. Sie können die Aufmerksamkeit der trieben von einer PR, die in der Kommuni- kersprache dürfen wir unsere Adressaten Hörerschaft erhöhen. Auf jeden Fall sind kationswissenschaft unter dem Begriff des also nicht überfordern. Größtmögliche O-Töne eine Art Gegengift zum schalen spin-doctoring diskutiert wird. To spin be- Verständlichkeit und Objektivität sind Verkündigungsstil alten Typs. Sie machen deutet im Englischen soviel wie „See- deshalb die wichtigsten Grundsätze der politische Berichterstattung ein Stück far- mannsgarn spinnen.“ To doctor some- Nachrichtensprache. Voraussetzung für biger, interessanter, verständlicher. thing hat nichts, aber auch gar nichts mit eine hohe Akzeptanz sind eine überschau- ärztlicher Kunst zu tun. Im amerikani- bare Struktur der Nachrichten und eine Nachrichten haben ihre eigene Würde schen Sprachgebrauch versteht man dar- verständliche Sprache mit klaren Sinn-Ein- unter das Fälschen eines Dokuments. Was heiten. Der Radiohörer muß einen Satz so- Es gibt – wohl aufgrund der Informations- einem in den Machtzentralen dieser Welt fort verstehen, denn in diesem Medium überflutung – ein wachsendes Bedürfnis immer wieder auffällt, das ist eine gewisse kann man bekanntlich „nicht nachhören“. nach Unterhaltung. Journalisten gehen Ratlosigkeit, eine irritierende Konzepti- Die Satzstrukturen müssen aus logischen diesem Bedürfnis häufig nach. Sie bewer- onslosigkeit der politisch Handelnden. Der durchhörbaren Einheiten bestehen. Wir ten Informationen dann nur noch nach tagesaktuelle Terminjournalismus ist häu- müssen in allen Programmen/Wellen die ihrem Unterhaltungswert. Dazu schreibt fig von Pseudo-Ereignissen geprägt. An- gleiche Sprache sprechen. Das Deutsch der der Intendant des SWR, Peter Voß, in ders ausgedrückt: Nicht alles, was Politiker Radionachrichten ist einfach, aber nicht einem medien-politischen Aufsatz:

163 „Herauskommen … Hörfunk- und Fern- hensverlust der politischen Klasse klagen, nicht abzugewöhnen. Er muß ihnen zu- seh-Magazine, die nicht das Neue, das Un- wenn man durch albernen Umgang mit muten, dem informierenden und auch bekannte und das Wichtige zeigen, son- ihr die Seriosität der politisch Handelnden dem analysierenden, kommentierenden dern die immer gleichen Themen neu auf- aushöhlt. Ob wir in einem jugendspezifi- Wort zuzuhören. Studien belegen übri- bereiten, sie neu verpacken und dabei schen Programm mit einem Pop-Konzert gens, daß Attraktivität und Konkurrenz- doch nur auf den Erfolg des Wiedererken- aufmachen und die Pflegeversicherung fähigkeit der Nachrichtensendungen weit nens setzen.“ dafür hintanstellen oder ganz weglassen, weniger von der akustischen Verpackung Dieser Fehlentwicklung in Richtung Info- wäre bei dem einen oder anderen Sender abhängen als von der Themenauswahl tainment und Boulevardisierung gilt es dleser Republik schon möglich. Bei uns in und einer verständlichen Präsentatlon. Es gegenzusteuern. Es wäre absurd, vom den beiden Landesprogrammen wäre ist die ganz persönliche Ansprache, die öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu ver- eine derartige Gewichtung aber doch das Verhältnis zwischen Sprecher und langen, er müsse eine puritanische Ver- recht fragwürdig. Hörer ausmacht. Boulevardisierungen anstaltung sein. Unterhaltung gehört Wenn Entertaiment zunehmend als ein- ohne gesellschaftlichen Hintergrund pro- nun einmal zum menschlichen Leben. ziger Maßstab des Erfolgs gilt, dann duzieren politische Leere. Sie entpolitisie- Doch hat sie einen Platz in den Nachrich- verwandelt sich auch das Bild vom Men- ren und reduzieren die Welt auf Anekdo- ten? schen. Es wandelt sich unter der Hand ten und Klatsch. Mit Blick auf die wach- Im ewigen Spannungsfeld zwischen Qua- zum Bild des Affen, der seinen Zucker sende Dominanz des Seichten, der Bana- lität und Quote haben vvir nicht die Ab- kriegt. litäten aber auch des Bizarren, und ange- sicht uns als ernstzunehmende Anbieter Das amerikanische Vorbild des Infotain- sichts der Realitäts- und Nährstoffmängel von Informationen zu verabschieden. ment, also jene vielbeschworene Mi- eines plappernden und dudelnden Enter- Nachrichten haben ihre eigene Würde. Sie schung aus Information und Unterhal- tainments könnte vielleicht ein Wort Ar- sind keine Unterhaltungsware. Sie dürfen tung, kommt für uns nicht in Frage. Was nold Schönbergs von Nutzen sein: „Man nicht vertingelt werden, also keine Halli- allzu schnell und allzu locker zubereitet muß auch die notwendigen Dinge ver- Galli-News, keine müden Mätzchen, keine worden ist, das wird auch schnell verges- breiten können, nicht nur die überflüssi- Holzattrappen, keine Geisterbahn, kein sen. Das Radio trägt eine Verantmvortung gen.“ Firlefanz. Man kann nicht über den Anse- dafür, seinen Konsumenten das Hören

164 Abschied vom Untertanen Bürgerkultur und politische Bildung

Siegfried Schiele zum 60. Geburtstag

Von Herbert Schneider

Prof. Dr. Herbert Schneider lehrt Poli- Die angelsächsische Bürgerkultur sens und der Vielfalt, des Wandels und der tikwissenschaft und Didaktik der politi- als Leitbild? Mäßigung entstanden.5 Diesen geschicht- schen Bildung an der Pädagogischen lichen Vorgang verknüpften die beiden Hochschule Heidelberg und am Institut In seinem satirischen Roman Der Untertan Autoren mit dem Modell einer input- für politische Wissenschaften der Univer- porträtiert Heinrich Mann mit der Haupt- orientierten, rational motivierten politi- sität Heidelberg. Er war von 1966 bis 1973 person Dieterich Heszling einen staats- schen Partizipation. In ihren Augen stellt Hauptgeschäftsführer der Arbeitsgemein- vergötzenden, kaiserbesessenen und die Civic Culture eine geglückte Mischung schaft „Der Bürger im Staat“ bzw. Leiter katzbuckelnden Zeitgenossen.1 Hat er von Beteiligung, Apathie und Vertrauen der Landeszentrale für politische Bildung damit nur eine überzogene Preußenkari- dar.6 Auf diesem Nährboden kann, aber Baden-Württemberg. katur geliefert oder tatsächlich Elemente muß nicht eine Bürgergesellschaft heran- einer über Vorbild, Sozialisation und Er- wachsen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fahrung bis in die Anfangsjahre der Bun- Inzwischen hat sich eine durch den Sozial- hat sich ein erheblicher Wandel der politi- desrepublik hineinwirkenden Unterta- staat und die Partizipation transformierte schen Kultur in der Bundesrepublik erge- nenkultur beschrieben? Der Begriff „Un- deutsche politische Kultur in manchen ben, den man als Weg vom Untertanen tertanenkultur“ sollte sogar noch nach Aspekten einer Bürgerkultur genähert. zum partizipationsbereiten Bürger cha- dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, Darauf weisen die Ergebnisse verschiede- rakterisieren könnte. Einen erheblichen dem Scheitern der Weimarer Republik ner Befragungen hin. Danach haben un- Anteil daran hatte die intentionale politi- und dem Untergang des Dritten Reiches konventionelle Protestformen ebenso zu- sche Bildung, wie sie nicht zuletzt in den zur Charakterisierung der in Deutschland genommen wie die Zahl der Selbsthilfeor- Schulen, und da wiederum im Fach „Ge- vorherrschenden politischen Kultur die- ganisationen.7 Diese Umfragen bestätigen meinschaftskunde“, stattfindet. Eine nen. In einer Ende der 50er Jahre vorge- auch, daß im Unterschied zu dem die An- wichtige Rolle haben von Anbeginn an nommenen empirischen Untersuchung fangsjahre der Bundesrepublik bestim- auch die Zentralen für politische Bildung kamen die amerikanischen Sozialwissen- menden universellen Legitimationsnor- gespielt, auf Bundes- wie auf Landes- schaftler Gabriel Almond und Sidney men heutzutage eine die politische Kultur ebene. Gescheitert ist allerding der ty- Verba zu dem Schluß, daß die deutsche, und die politischen Strukturen miteinan- pisch baden-württembergische Versuch, politische Kultur im Vergleich zu der der der verbindende „empirische Legitimität“ hier bürgerschaftliches Engagement und USA, Großbritanniens, Italiens und Mexi- getreten ist. Politische Kulturen besitzen staatliche Finanzierung miteinander zu kos folgende Auffälligkeiten aufweise:2 in der Regel eine Mischform. Dies gilt auch koppeln. Doch das Erbe dieser „Arbeitsge- Gute politische Kenntnisse, erhebliches für die heute Deutschland kennzeichnen- meinschaft DER BÜRGER IM STAAT e.V.“ Vertrauen in die Verwaltung, hohe Wahl- de politische Kultur, die neben den Zügen kann sich bis heute sehen lassen. Ange- beteiligung, keine aktive Teilnahme an einer Civic Culture und Ansätzen einer sichts der deutschen Traditionen ist auch der Politik, geringe Kooperationsbereit- Bürgergesellschaft nach wie vor einen vor in Zukunft auf die Rolle des Staates in der schaft der Bürger untereinander, emotio- allem in den neuen Bundesländern zum politischen Bildung nicht zu verzichten. nale Distanz zum Gemeinwesen. Die bei- Ausdruck kommenden Etatismus und Red. den Autoren gelangten daher zu dem Ur- damit auch regionale Sonderformen auf- teil, daß die Bundesdeutschen weniger weist. Diese sind aber nicht nur in Ost- die Einstellungen von Bürgern als viel- deutschland, sondern auch – aus davon Dem Anforderungsprofil mehr die von Untertanen an den Tag abweichenden Gründen – mehr oder min- gerecht werdend legen. der deutlich ausgeprägt u.a. in Bayern, Baden-Württemberg oder den Hansestäd- Zum Anforderungsprofil eines hauptamt- Keine geradlinige Entwicklung von ten zu finden.8 Der Hinweis auf die neuen lich in der politischen Bildung Tätigen der Untertanenkultur zur Bürgerkultur Bundesländer ist insofern nicht ganz wi- gehören politisch-wirtschaftliche Kennt- derspruchsfrei, als hier neben einer nach nisse, Einfallsreichtum, Organisationsta- Dieser in der Tradition des Etatismus, der wie vor spürbaren Wirkungskraft der lent, pädagogisches Geschick und Zivilität. Innerlichkeit, der Konfliktscheue und des Staatskultur die Erinnerung an eine von Das alles besitzt der Jubilar in einem rei- Formalismus stehenden „Untertanenkul- bürgerschaftlichen Kräften 1989 in Gang chen Maße. Vor allem sollte, wer in der tur“3 – in der deutschen politischen Kultur- gebrachte „friedliche Revolution“ leben- politischen Bildung tätig ist, von der Not- forschung wird seitdem der weniger emo- dig ist und zur Selbstachtung ihrer Bürger wendigkeit und Wirksamkeit seiner Auf- tional besetzte Begriff „Staatskultur“ be- beiträgt. gabe überzeugt sein. Obwohl Siegfried vorzugt4 – stellen sie das aus einer etwas Schiele an Lebensjahren älter geworden einäugigen, die politische Stabilität über- „Aus Zuschauern wurden Teilnehmer“ ist, hat er sich trotz aller sich im Berufs- bewertenden Analyse der politischen Kul- leben einstellenden unvermeidlichen Ent- tur der angelsächsischen Demokratien, vor Die Entwicklung von einer „Untertanen- täuschungen nicht nur die Freude am allem aber Großbritanniens, gewonnene kultur“ zu einer „Bürgerkultur“ verlief Spielerischen, sondern auch den Glauben Leitbild einer Bürgerkultur (Civic Culture) nicht geradlinig.9 Die eben noch einmal an den Stellenwert der politischen Bil- gegenüber. In diesem nach dem Zweiten davongekommenen Deutschen akzeptier- dung bewahrt. Er hält diese nach wie vor Weltkrieg ob seiner Stabilität und Anpas- ten mit der Gründung der Bundesrepublik für unsere Demokratie und ihre politische sungsfähigkeit vielgerühmten Land ist eine etatistisch-pluralistische Demokratie, Kultur für unverzichtbar. Deshalb soll sein durch die Verbindung der von den aristo- die nicht nach einer lebendigen individu- Geburtstag zum Anlaß genommen wer- kratischen Whigs vertretenen Werte mit ellen Partizipation, sondern nach gemein- den, um auf die Zusammenhänge zwi- der Civic Culture des aufstrebenden Bür- samen Spielregeln verlangte. Was sich schen Bürgerkultur und politische Bildung gertums eine politische Kultur der Kom- daher zunächst entwickelte, war nicht einzugehen. munikation und Überzeugung, des Kon- eine Bürgerkultur, sondern eine Überwin-

165 dung der noch die Weimarer Republik Sozial-, Kultur- und Rechtsstaat zu errin- Fairplay, Initiative und Dialogbereit- kennzeichnenden Elitenfragmentierung gen.13 schaft;15 zum zweiten kam es zur Grün- durch eine Kooperationskultur der Funk- dung von Zentralen für politische Bildung tionseliten.10 Die breiten Bevölkerungs- Mit dem Generationenwechsel in Bund und Ländern, deren Aufgabe schichten stimmten mit der neuen Demo- erfolgte der Ruf nach darin gesehen wurde, die in Schulen, bei kratie zunächst vor allem deshalb überein, mehr Mitbestimmung der Polizei (später in der Bundeswehr) und weil diese nicht nur Schutz gegenüber in den gesellschaftlichen Organisationen einem drohenden sowjetischen Kommu- Der von Heinrich Mann in den Mittel- vorhandenen Ansätze politischer Bildung nismus, sondern vor allem wirtschaftli- punkt seines Romans gestellte Heszling durch Modellversuche, Publikationen, chen Wohlstand versprach. So geriet die tat sich u.a. dadurch hervor, daß er die Eigenveranstaltungen und Zuschüsse zu Bundesrepublik damals in den Ruf einer Liberalen in seiner Heimatstadt zugrunde unterstützen. „Schönwetterdemokratie“. Mit nachlas- richtete. Der Hinweis auf diese erinnert senden Wirtschaftsleistungen wurde daran, daß im vergangenen Jahrhundert Was heißt „Wirksamkeit“? daher ein Wiederaufleben des National- die deutsche politische Kultur auch schon sozialismus befürchtet. Doch die „Gefahr beachtliche Elemente der Bürgerkultur Das Vorhandensein von Schulfächern und von rechts“ erwies sich für die noch nicht kannte. Sie äußerten sich u.a. in einer Bildungseinrichtungen sagt aber noch festgefügte deutsche Demokratie als ge- überaus leistungsfähigen kommunalen wenig über deren pädagogische Wirksam- ringer als die Gefährdung durch linksex- Selbstverwaltung. Daran knüpften die keit aus. Eine der seltenen Wirkungsunter- treme, die Grenzen zum Terrorismus über- Bürgervereine nach dem Zweiten Welt- suchungen zur politischen Bildung schreitenden Kräfte. Ein davor nicht krieg an, die, von der damaligen Arbeits- stammt noch aus den 60er Jahren und hat zurückschreckender Staat, die Kanalisie- gemeinschaft „Bürger im Staat“ unter- damals unter dem Titel „Erziehung zur rung von Protest und der Ausbau des Par- stützt, deren Wiederbelebung zum Ziele Anpassung“ gleichermaßen Bestürzung tizipationsangebots stellten eine auch in hatten. Zwar verloren sie als Folge des sich und Aufmerksamkeit erregt. Deren Auto- die politische Kultur eingegangene Ant- auch in den Gemeinden durchsetzenden ren schlußfolgern aufgrund von einer in wort auf diese Herausforderung dar. Sie Parteiensystems an Bedeutung, doch verschiedenen Schulen und Ländern fiel zeitlich gesehen mit einer „Kultur- haben sie und andere ähnliche Initiativen durchgeführten Erhebung, daß der Sozial- revolution“ in Form des auch andere den Boden für eine sich langsam ent- kundeunterricht eher zu einer Entpoliti- westliche Länder verändernden Werte- wickelnde Bürgerkultur vorbereiten hel- sierung und blinden Anpassung an die be- wandels zusammen. Dieser bereitete in fen. Diese erhielt einen kräftigen Wachs- stehenden Verhältnisse geführt habe.16 Sie einer widerspruchsvollen Weise nicht nur tumsschub in Richtung auf die Bürgerge- gaben damit all jenen Munition in die einem hedonistischen Individualismus den sellschaft mit einem Generationenwech- Hand, die unter dem Einfluß der Frankfur- Weg, sondern kräftigte auch die schon sel. Die bereits in der Bundesrepublik ter Schule der politischen Bildung die Auf- bestehenden Ansätze einer weniger vom Geborenen, schon gewöhnt an die Stabi- gabe zudachten, die überkommenen Vertrauen und der Apathie als vielmehr lität demokratischer Institutionen, aber Herrschaftsstrukturen nicht nur in Frage von der Partizipation bestimmten Bürger- auch empfindlich für deren Schwächen, zu stellen, sondern darüber hinausgehend kultur in Form von Bürgerinitiativen, Um- riefen nicht zuletzt aufgrund ihres im Ver- auch zu bekämpfen. weltaktionen und Selbsthilfegruppen.11 gleich zu ihren Eltern erhöhten Ausbil- Die öffentliche Schule als Speerspitze Ein amerikanischer Beobachter der deut- dungsniveaus nach mehr Mitbestimmung. einer radikaldemokratischen Emanzipa- schen politischen Kultur stellte daher fest: Ihr Partizipationsverlangen wurde vor tion? Über diese Zielvorstellungen kam es „Aus Zuschauern wurden Teilnehmer.“12 allem in den 70er Jahren lautstark artiku- zum Streit unter Politikern und Didakti- liert und führte zu nicht immer praktika- kern. Diese konfliktorientierte Phase in Der Wirtschafts-Patriotismus blen Mitbestimmungsformen in verschie- der politischen Bildung wurde in den fol- der frühen Jahre denen Bereichen. genden Jahren abgelöst durch eine Viel- zahl unterschiedlicher, vor allem sich mit Bis in die 60er Jahre hinein diente vor Politische Kultur als Ergebnis der subjektiven Lebenswelt der Schüler allem die Leistungsfähigkeit der deut- organisierter Lernprozesse befassender Schwerpunkte wie Kultivie- schen Wirtschaft zur Legitimation der rung des eigenen Ichs und handlungs- Demokratie in der Bundesrepublik. Es Die politische Kultur kann auch das Ergeb- bezogene Thematik. Deren praktische herrschte anstelle eines schwarz-rot-gol- nis von Lernprozessen sein. Es stellt sich Reichweite läßt sich allerdings schwer ab- denen Verfassungspatriotismus ein out- daher die Frage, welchen Einfluß die in- schätzen. Wer jedoch Jugenduntersu- put-orientierter Wirtschaftspatriotismus tentionale politische Bildung auf die Her- chungen zu Rate zieht,17 könnte daraus vor. Das Streben nach Wohlstand absor- ausbildung der deutschen Bürgerkultur in den Schluß ziehen, daß die schulische poli- bierte damals die Kräfte der Bundesdeut- den letzten fünfzig Jahren hatte. tische Bildung nach wie vor in erster Linie schen und ließ ihnen wenig Zeit für bür- Das Erziehungs- und Bildungssystem Wissen zum Verständnis des Funktionie- gerschaftliche Aktivitäten. Statt dessen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vor rens des Gemeinwesens mit seinen Institu- begünstigte er Eigenschaften, die sich in allem von der US-Besatzungsmacht als ein tionen und Spielregeln vermittelt, ohne der Person des Wirtschaftsbürgers, des Hebel zur Demokratisierung der politi- daß dies, wie oft unterstellt wird, schon zu Bourgeois, vereinen: Leistungswillen, schen Kultur betrachtet: Re-education einem bürgerschaftlichen Engagement Konkurrenzverhalten, Gewinnstreben. Bei war angesagt. Zwar gelang es damals den führt. Eine nicht allein auf dieses Fach be- einem drastischen Rückgang der Selbstän- Amerikanern nicht, das traditionelle deut- grenzte, den lehrerzentrierten Unterricht digen und einer beachtlichen Zunahme sche Bildungssystem umzumodeln, doch ablösende Vielfalt von Unterrichtsformen der Arbeitnehmer verbanden sich diese ihre Unterstützung der politischen Bil- könnte aber durch die Förderung von auf die unternehmerische Marktwirt- dung trug Früchte. Das zeigte sich in zwei- Eigenarbeit und Zusammenarbeit dazu schaft abgestimmten Eigenschaften mit erlei Hinsicht: Zum ersten wurde die politi- beigetragen haben, über die Schule hin- einem vergleichsweise hohen sozialen sche Bildung unter wechselnden Bezeich- auswirkende Impulse für bürgerschaft- Sicherheitsdenken und Anspruchsniveau. nungen als Schulfach etabliert. In Baden- liches Verhalten zu geben. Das Ergebnis war eine schrittweise Trans- Württemberg heißt dieses noch immer formation der überkommenen deutschen etwas mißverständlich Gemeinschaftskun- Das Erbe der „Arbeitsgemeinschaft Staatskultur, die die traditionellen Ideen de, was an den Einfluß der durch den DER BÜRGER IM STAAT“ vom Wohlfahrts- und Rechtsstaat durch amerikanischen Pädagogen John Dewey Verschmelzung mit Elementen einer vor inspirierten Partnerschaftspädagogik erin- Die schulische politische Bildung wird allem sozialpolitisch bestimmten Partizi- nert;14 als „Wendepunkt der politischen durch die Landeszentralen für politische pation zu einer demokratischen Variante Erziehung“ wollte diese „elementare Ver- Bildung unterstützt.18 Diese wenden sich der Staatskultur führte. Die Westdeut- haltensweisen als feste Gewohnheiten in in der Erwachsenenbildung aus finanziel- schen beteiligten sich außerhalb von möglichst viele Bürger einpflanzen“, die len und pädagogischen Gründen vor Wahlen vorrangig deshalb am politischen das friedliche Miteinanderleben fördern, allem den Multiplikatoren (u.a. Lehrern, Prozeß, um einen „gerechten“ Anteil am so u.a. Kompromißbereitschaft, Toleranz, Beamten, Funktionären) zu, wobei die

166 baden-württembergische Landeszentrale aufgrund ihrer von der „Arbeitsgemein- Siegfried Schiele 60 schaft Der Bürger im Staat“ ererbten de- zentralen Gliederung und der eigenen Ta- Am 1. Oktober 1999 wird der Leiter der freilich die für unser Land so typische gungsarbeit unter ihnen noch die größte Landeszentrale 60 Jahre alt. Seit nun- Liberalität zugute. Daß einem Pro- Breitenwirkung mit einer umfänglichen mehr 23 Jahren steht Siegfried Schiele an gramm oder einer Publikation nicht an- Themenpalette erzielt.19 Diese Landeszen- der Spitze der Landeszentrale für politi- gemerkt werden darf, ob der jeweils Zu- trale ging aus der „Arbeitsgemeinschaft sche Bildung Baden-Württemberg. Wenn ständige dieser oder jener Partei an- Der Bürger im Staat“ hervor, die Elemente man bedenkt, daß die Landeszentrale im gehört, ist freilich nicht nur bei der Lan- der Bürgerbeteiligung mit staatlicher Voll- Jahr 2000 – ihre Vorgängerorganisation, deszentrale Baden-Württemberg eine finanzierung zu verbinden versuchte.20 die „Arbeitsgemeinschaft DER BÜRGER Selbstverständlichkeit. Doch das begrenzte Engagement der Bür- IM STAAT“ eingerechnet – 50 Jahre be- In den Zeiten politischer Polarisierung ger reichte in diesem Falle nicht aus, um steht, dann ist das nahezu die Hälfte der drohte auch der politische Bildung die auf Dauer gesehen eine wirkungsvolle Zeit. Er hat diese Einrichtung, die älteste Gefahr, instrumentalisiert zu werden. und beständige Arbeit zu gewährleisten.21 in der Bundesrepublik, nachhaltig ge- Damit hätte sie sich letztlich aufgege- Von der 1972 von der Landeszentrale ab- prägt. Der Aufgabenzuwachs, verbun- ben. Diese Gefahr hatte Siegfried Schiele gelösten Arbeitsgemeinschaft ist aber den mit einer weitgehenden Spezialisie- erkannt, als er dazu aufrief, einen über- mehr zurückgeblieben als nur der Name rung, und dem Personalzuwachs in des- parteilichen Konsens der politischen Bil- der renommierten Zeitschrift „Der Bürger sen Gefolge, ist enorm. Man kann sagen, dung zu finden. Didaktiker der unter- im Staat“. Zwar gelang es ihr nicht, indivi- daß die Landeszentrale in seiner Amts- schiedlichsten Richtungen wurden ein- duellen Bürgern Sitz und Stimme im Kura- zeit zu einer Form herangewachsen ist, geladen, ihre Positionen zu artikulieren torium der Landeszentrale zu sichern, die der Bedeutung des Landes Baden- und dann anschließend einen Konsens doch sind in diesem neben den Landtags- Württemberg gerecht wird. Ihm gelang zu finden. Das gelang in der Abgeschie- fraktionen auch gesellschaftliche Organi- es zudem, das alte Versprechen einer ei- denheit des Landhauses Burg nahe dem sationen vertreten. genen Tagungsstätte eingelöst zu be- Weinort Beutelsbach im Remstal, im kommen. 1992 weihte es Ministerpräsi- Herbst 1976. Der danach benannte Die Kernaufgabe von Bundeszentrale dent Erwin Teufel ein: das Haus auf der „Beutelsbacher Konsens“ wirkte epo- und Landeszentralen Alb, das alte Kaufmannserholungsheim chemachend, ist längst selbstverständli- in wunderschöner Lage, das größte Bau- che Grundlage politischer Bildung in Ob Baden-Württemberg oder Thüringen, denkmal des Bauhausstils in Baden- Schule, außerschulischer Jugend- und Er- die Zentralen stehen vor einer Kernauf- Württemberg. Vor genau 70 Jahren, wachsenenbildung, Bundeswehr. gabe: die Erziehung zur Demokratie in 1929, wurde es erstellt, zehn Jahre nach Nichts verabscheut Siegfried Schiele einer sich wandelnden Welt. Das schlägt Gründung des legendären Bauhauses mehr als Schubladendenken und Erstar- sich auch in ihrem Programmangebot mit 1919 in Weimar: auch hier also ein Ju- rung – Gefahren, vor der auch politische Themen wie „Festigung und Verbreitung biläum für uns. Tatkräftig hat Siegfried Bildung nicht gefeit ist, zumal wenn sie des Gedankens der freiheitlich-demokrati- Schiele Anteil daran genommen, daß das in institutionalisierter Form betrieben schen Ordnung“ oder „Auseinanderset- Haus auf der Alb so einfühlsam wieder- wird. Vor diesem Hintergrund sind zung mit extremistischen Bestrebungen“ hergestellt und für die Zwecke der Ta- Großaktionen zu verstehen, zu denen er nieder. Zu ihrem Angebot zählen aber gungsarbeit hergerichtet wurde. Es ist immer wieder aufrief, wie: „Politik auf auch die Bürgerkultur unmittelbar an- wohl sein Liebingskind, für das er sich dem Markt“, „Fest der Demokratie“, sprechenden Themen wie „Erziehung fortdauernd auch ganz persönlich zu- „Unser Grundgesetz hat Geburtstag“, zum mündigen Bürger“, „Ermutigung des ständig fühlt. die Kongresse zur Festigung der Partner- Partizipationswillens des Bürgers“ oder Politische Bildung im öffentlichen Auf- schaft zwischen Baden-Württemberg „Förderung des Verhältnisses des Bürgers trag steht zwischen Politik, Verwaltung und Sachsen nach der Wiedervereini- zum föderalen System“. Dabei muß je- und Pädagogik. Allzu leicht besteht die gung in Fellbach und in Meißen. Ständig doch aufgrund der begrenzten Zeitdauer Gefahr, daß eine so sensible Einrichtung wurde Neues geplant, neue Ideen aus dieser Veranstaltungen vermutet werden, zwischen diesen Mühlsteinen zerrieben dem eigenen Haus nachhaltig unter- daß ihre Wirkung auf die Bürgerkultur wird. Verwaltung hat einen dienenden stützt, die Gefahr eines Mißerfolgs mehr im Kognitiven und weniger im Be- Zweck, schon gar nicht kann es Aufgabe immer auch in Kauf nehmend: Wo kein reich der Einstellungen und Verhaltens- einer Landeszentrale sein, sich mit büro- Risiko eingegangen wird, kann auch weisen zu suchen ist. Das gilt vor allem kratischer Zuschußbewilligung zu be- nichts Neues entstehen. Nicht überall ist auch für die bereits von Almond und gnügen. Die eigene Produktivität ist ge- das verstanden worden. Verba in den 50er Jahren festgestellte fordert. Politische Zumutungen und Ab- Siegfried Schiele hat sich nie auf die emotionale Distanz der Deutschen zum hängigkeiten hat Schiele, ohne seine ei- Rolle des Bewegers beschränken wollen, Gemeinwesen. Selbst eine kognitive Bear- gene politische Herkunft zu verleugnen, der über allem schwebt. Er hat eine beitung derselben ließ in den Bundeslän- immer abgewehrt, so daß sie letztlich Liebe zum Detail – was vielleicht nicht dern auf sich warten.22 Der Landeszentrale ausblieben. In keiner anderen Landes- immer im Sinne seiner Gesundheit war. Baden-Württemberg ist jedoch zu be- zentrale beispielsweise ist es so selbstver- Er wird auch in den nächsten Jahren scheinigen, daß sie fern von einer paro- ständlich, daß auch parteilpolitisch Un- noch viel bewegen. chialen Mythenbildung mit ihren „Schrif- gebundene dazugehören. Hier kam ihm Hans-Georg Wehling ten zur politischen Landeskunde Baden- Württembergs“ wissenschaftlich überzeu- gende Beiträge zur Klärung und Verstär- kung der Landesidentität geleistet hat. Siegfried Schiele setzte mit dem von ihm initiierten Beutelsbacher Gespräch: „Ver- fassungspatriotismus als Ziel politischer Bildung?“ eine Diskussion und einen Denkprozeß unter Didaktikern und Bild- nern in Gang.23 Dabei stand u.a. die Frage Einen Höhepunkt stellte für Siegfried zur Diskussion, inwieweit die universellen Schiele zweifellos die Einweihung des Werte der Demokratie und ihre nationa- Hauses auf der Alb in Bad Urach dar: am len Besonderheiten eine identitätsstiften- 6. Februar 1992, in Gegenwart von Mi- de Verbindung eingehen können und nisterpräsident Erwin Teufel. Die Lan- sollen. Welche Auswirkungen diese Dis- deszentrale erhielt damit eine stilvolle kussion auf die Bürgerkultur haben wird, leistungsfähige Tagungsstätte. bleibt jedoch nicht nur angesichts des

167 schwierigen Zusammenwachsens der bei- – Menschen unterschiedlicher Begabung deshalb auch ideologisch anfälligen Dis- den Deutschlands, sondern auch wegen und Interessenrichtung nicht länger an kussion über die Bürgergesellschaft sollte einer alle Lebensbereiche durchdringen- der Hürde des homo politicus scheitern, man sich daher nicht allein am US-Beispiel den und den deutschen Nationalstaat aus- sondern ihnen gemäße Zugänge zum orientieren, sondern auch die davon höhlenden europäischen Integration ab- Gemeinwesen finden können; unterschiedlichen deutschen Ausgangs- zuwarten. – die von den Kommunitaristen in den bedingungen sehen und eher einen Aus- USA beklagten, aber auch in Deutsch- gleich zwischen einem verschlankten Der Einfluß des Kommunitarismus land Besorgnis erregenden Mängelzu- Staat und einer gekräftigten Bürgergesell- stände wie Egoismus, Vereinzelung und schaft suchen. Dieser könnte bei den öf- Eine besondere Ausprägung der Bürger- Ellbogenmentalität durch Vermittlung fentlich-rechtlichen Zentralen für politi- kultur stellt die Bürgergesellschaft dar, auf und Erprobung von republikanischen sche Bildung dadurch gefunden werden, die sich gegenwärtig das wissenschaftliche, und sozialen Tugenden wie Gemeinsinn daß sich ihre nach wie vor von den Par- politische und pädagogische Interesse rich- und Selbsthilfe eingedämmt werden teien beherrschten Kuratorien stärker den tet.24 Dabei ist zweierlei bemerkenswert: können. Kräften und Anliegen der Bürgergesell- Zum einen, daß der Begriff Bürgergesell- Das Problem bei diesem erweiterten Bür- schaft öffnen. schaft heute kaum mehr wie noch vor we- gerbegriff besteht m.E. für die politische nigen Jahren in Verbindung gebracht wird Bildung darin, daß er die Flucht aus einem Literaturhinweise mit der von der Frankfurter Schule vertre- immer komplexer werdenden politischen 1 Heinrich Mann: Der Untertan, Frankfurt 1914 2 Gabriel A. Almond/Sidney Verba: The Civic Culture, tenen Vorstellung von einer Überwindung Geschehen in einigermaßen noch über- Princeton 1963 des „starren Staatsapparates“ durch aufge- schaubare Räume fördern kann. Damit ist 3 Kurt Sontheimer: Deutschlands politische Kultur, München 1990, S. 36-40 klärte Kräfte der sozialen Selbstorganisa- die Gefahr verbunden, daß der bereits im 4 Martin und Sylvia Greiffenhagen sehen als deren tion; er wird vielmehr ausgefüllt von den vergangenen Jahrhundert bestehende Merkmale u.a.: die Trennung von Staat und Gesell- Ideen des aus den USA stammenden und Dualismus zwischen dem Staat und der schaft, eine Metaphysik des Staates, die Propagie- rung von Untertanentugenden, in dies.: Ein schwieri- hierzulande auf eine beachtliche Resonanz Gesellschaft, einschließlich der kommuna- ges Vaterland. Zur politischen Kultur im vereinigten stoßenden Kommunitarismus. Dieser will – len Selbstverwaltung, in etwas veränder- Deutschland, München 1993 5 Peter Reichel: Politische Kultur in der Bundesrepublik trotz aller Unterschiede im einzelnen – eine ter Form zurückkehrt: Auf der einen Seite Deutschland, Opladen 1981, S. 31 von Egoismus, Vereinzelung und Gewalt- ein von Experten, Bossen und Lobbyisten 6 Gabriel, A. Almond: The Intellectual History of the bereitschaft heimgesuchte amerikanische beherrschtes Regelungs- und Zuteilungs- Civic Culture Concept, in G. A. Almond/S. Verba (ed.): the civic culture revisited, Boston 1980, p. 16 Gegenwartsgesellschaft durch die Bele- system; auf der anderen ein der Bürger- 7 Siehe auch: David P. Conradt: Changing German Poli- bung der republikanischen Tugendideale gesellschaft überlassenes Feld zur Bestel- tical Culture, in G. A. Almond/S. Verba (ed.): the civic culture revisited, Boston 1980, p. 212-273. Russel J. und die Pflege der bürgergesellschaftli- lung der unmittelbaren sozialen Hilfe und Dalton: Politics in Germany, in G. A. Almond/G. B. chen Gemeinschaftsbeziehungen korrigie- alltagskulturellen Geselligkeit. Power Jr. (ed.): Comparative Politics Today, New York 25 1996. Dirk Berg-Schlosser/Ralf Rytlewski (ed.): Poli- ren. Dies stellt insofern einen Rückgriff tical culture in Germany, London 1993 dar, als bereits Alexis de Toqueville Dem muß auch die Schule 8 Hans-Georg Wehling (Red.): Schwerpunktnummer (1805–1859) beobachtet hatte: Rechnung tragen „Regionale politische Kultur“ des „Der Bürger im Staat“, 3/1984 „In den Vereinigten Staaten vereinigt 9 Dirk Berg-Schlosser: Entwicklung der Politischen Kul- man sich zu Zwecken der öffentlichen Um die gegebene Chance zu wahren und tur in der Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitge- schichte, B 7/90, S. 30-46 Sicherheit, des Handels und des Gewer- gleichzeitig auch das aufgezeigte Problem 10 Karl Rohe: The State Tradition in Germany: Continui- bes, der Sittlichkeit und der Religion. Es zu verringern, kommt die politische Bil- ties and Changes, in D. Berg-Schlosser/R. Rytlewski gibt nichts, das der menschliche Wille dung nicht umhin, Kenntnisse und Hilfen (ed.): Political Culture in Germany, London 1993, p. 226 11 Gerd Hepp: Wertewandel. Politikwissenschaftliche nicht durch freies Handeln der vereinigten für Problemlösung in den Mittelpunkt Grundfragen, München 1994, S. 106-144 Macht einzelner zu erreichen hoffte.“26 ihrer Bemühungen zu stellen. Im stofflich 12 Russel L. Dalton: Politics in Germany, in G. A. Al- mond/G. B. Powell Jr. (ed.): Comparative Politics Zum anderen fällt auf, daß die deutschen bereits überladenen und durch den Stun- Today, New York, 1996, p. 293 Parteien (SPD, Grüne, F.D.P., CDU und CSU) dentakt zerrissenen Unterricht der Schu- 13 wie Anm. 10, S. 230 14 John Dewey: Democracy and Education, 1916, dtsch. in einer ungewohnten Einmütigkeit auf len z.B. bleibt daher kaum Zeit für die Ausgabe: Demokratie und Erziehung, Weinheim/ die Segnungen der Bürgergesellschaft Einübung von bürgerschaftlichen Verhal- Basel 1993 bauen, ohne allzu viel nach deren unter- tensweisen. Dazu bedarf es des um Ganz- 15 Friedrich Oetinger: Wendepunkt der politischen Er- ziehung – Partnerschaft als pädagogische Aufgabe, schiedlichen Ausgangsbedingungen in tagesprogramme erweiterten Raumes der Stuttgart 1951, S. 248 den USA zu fragen. Glauben sie damit rei- Schule, die sich auch für ihr Umfeld im 16 Egon Becker/Sebastian Herkommer/Joachim Berg- mann: Erziehung zur Anpassung? Politische Bildung nen Gewissens finanzielle Lasten vom Sinne der Community Education öffnen in den Schulen – eine soziologische Untersuchung, überschuldeten Staat auf freiwillige Bür- sollte. Das bedeutet: Der erweiterte Bür- Schwalbach 1968 gervereinigungen abwälzen zu können? gerbegriff setzt eine andere Schule voraus. 17 s.u.a.: Ursula Hoffmann-Lange (Hrsg.): Jugend und Demokratie in Deutschland, DJI-Survey 1, Opladen Oder geht es ihnen vielmehr als heute Und die politische Bildung sollte sich wie- 1995. Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): Ju- dem Staat zugerechnete Organisationen der der ganzen Schule als Vermittlungs- gend 97: Zukunftsperspektiven, gesellschaftliches En- gagement, politische Orientierungen, Opladen 1997; darum, wieder Terrain in der (Bürger-) agentur von politisch relevantem Wissen 18 s. Will Cremer (Hrsg.): Zur Theorie und Praxis der poli- Gesellschaft zurückzugewinnen? und Erprobungsstätte bürgerschaftlichen tischen Bildung, Bonn 1990, S. 133-136 19 Aus Anlaß des 25jährigen Bestehens dieser Landes- Verhaltens zuwenden. Damit kann sie zentrale haben deren Mitarbeiter ihre Arbeit in fol- Ein erweiterte Bürgerrolle auch einen ihr gemäßen Beitrag zu einer gendem Sammelband dargestellt: Landeszentrale für lebendigen Bürgergesellschaft leisten. politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Prak- tische politische Bildung, Schwalbach 1997 Wie auch immer die Antworten ausfallen 20 Fritz H. Betz: Die Anfänge von „Der Bürger im Staat“, werden, eines ist sicher: Die Bürgergesell- Nach wie vor wird der Staat in S. Schiele (Red.): Politische Bildung im öffentlichen Auftrag, Stuttgart 1982, S. 273-279 schaft setzt eine erweiterte Bürgerrolle in der politischen Bildung gebraucht 21 Theodor Pfizer: Von der Arbeitsgemeinschaft „Der voraus. Dabei geht es nicht um den die Bürger im Staat“ zur Landeszentrale für politische Bil- Didaktik gelegentlich beschäftigenden Braucht die politische Bildung auch den dung, s. Anm. 20, S. 279-293 22 Arno Mohr: Landeszentralen für politische Bildung Gegensatz zwischen dem Passiv- und Staat? Diese Frage stellt sich deshalb, weil und Landesidentität, in: Westfälische Forschungen, Aktivbürger oder den als Kompromiß an- in der zum Vorbild erkorenen US-Bürger- 46/1996, S. 383-405 23 Günter C. Behrmann/Siegfried Schiele (Hrsg.): Verfas- gebotenen interventionsfähigen Bürger, gesellschaft kein Platz für staatliche Zen- sungspatriotismus als Ziel politischer Bildung?, sondern um den die Grenzen zwischen Po- tralen für politische Bildung vorhanden Schwalbach 1993 24 s.u.a.: Walter Reese-Schäfer: Was ist Kommunitaris- litik und Sozialem überschreitenden Bür- ist; deren Aufgaben sind neben den Schu- mus?, Frankfurt/Main 1994, Politische Studien – ger. Von diesem werden u.a. folgende len, Hochschulen und Großorganisationen Schwerpunktthema: Neue Bürger- und Sozialkultur, Verhaltensweisen erwartet: Fähigkeit zur freiwilligen Vereinigungen wie dem Cen- Jan./Febr. 1999. Gerd Hepp/Herbert Schneider (Hrsg.) Schule in der Bürgergesellschaft, Schwalbach 1999 sozialen Selbstorganisation, bürgerschaft- ter for Civic Education überlassen. Sollten 25 Siehe das von amerikanischen Sozialwissenschaftlern liche Kompetenz, Gemeinsinn, Dialogkul- daher die Zentralen in Deutschland „pri- 1991 vorgelegte Thesenpapier: „The Responsive Com- munitarian Platform-Rights and Responsibilities.“ tur, Staatsfreundschaft. Dieser erweiterte vatisiert“ werden? Im Unterschied zu den 26 Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Ameri- Bürgerbegriff bedeutet für die politische USA blicken wir hierzulande auf andere ka, Stuttgart 1959, Bd. 1, S. 216 Bildung Chance und Problem zugleich: Erfahrungen, Gewohnheiten und Bedin- 27 Herbert Schneider: Konturen des Bürgerbegriff, in W. W. Mickel (Hrsg.): Handbuch der politischen Bil- 27 Ihre Chance sehe ich darin, daß gungen. Bei der oft erfahrungsarmen und dung, Schwalbach 1999, S. 41/42

168 Politikwissenschaft aus dem Geist der politischen Bildung

Zum Tode von Theodor Eschenburg

Die Situation war typisch: Kurz vor seinem Tod, bei meinem letzten Besuch bei ihm Theodor Eschenburg, 1904–1999 im Krankenhaus, saß er, körperlich längst ein Schatten seiner selbst, umgeben von Hier bei seinem letzten Auftritt in der Zeitungen, eine angebrochene Rotwein- Öffentlichkeit: Bei einer Gedächtnisausstel- flasche vor sich, und diskutierte mit mir lung für Carlo Schmid 1997, gemeinsam ver- über die Sparpläne von Bundesfinanzmi- anstaltet von der Landeszentrale, dem nister Eichel, ganz so, als ob nichts wäre. Hauptstaatsarchiv und der Volkshochschule Zur Politikwissenschaft war Theodor Tübingen, hielt er den Eröffnungsvortrag. Eschenburg von der politischen Praxis- und von der politischen Bildung herge- kommen. Beides hat seine Art, Politikwis- senschaft zu betreiben, bestimmt. Eschenburg, ein Hanseat aus großbürger- Foto: Ulrich Metz, Tübingen lichem Hause – der Großvater Bürgermei- ster von Lübeck und als solcher im Kaiser- reich „Landsherr“, der Vater Admiral der Politiker mit den Institutionen zu verste- Von ihm stammt der Aufsatz in Heft 3, kaiserlichen Kriegsmarine – wies, zumal hen, die er jahrzehntelang insbesondere 1986 der Zeitschrift „Der Bürger im Staat“: angesichts seiner Begabung, allerbeste für die Wochenzeitung DIE ZEIT geschrie- „Der mündige Bürger fällt nicht vom Him- Voraussetzungen für eine Spitzenposition ben hat. Vor allem aber wußte er, daß mel. Die Anfänge der Politikwissenschaft in der deutschen Gesellschaft auf. Nach eine Demokratie von ihren Bürgern getra- und des Faches Gemeinschaftskunde in seiner Promotion zur Zeitgeschichte war gen sein muß, um auf Dauer bestehen zu Deutschland nach 1945.“ Und sein Name er Mitarbeiter von Gustav Stresemann, können. Dazu müssen sie aber die Institu- ziert den ersten Band der Schriften zur po- hat dann, kurz vor dem Zusammenbruch tionen kennen und ihren Sinn begreifen. litischen Landeskunde Baden-Württem- der Weimarer Republik, selbst auch ein- Mit diesem Ziel hat Eschenburg sehr früh bergs, der als „Bausinger/Eschenburg mal zum Deutschen Reichstag kandidiert, schon an der Universität Tübingen Politik u.a.“ 1975 erstmalig erschien und inzwi- für die Deutsche Staatspartei, dem letzten gelehrt, längst bevor es dieses Fach gab, schen seine vierte Auflage erlebt hat; eine Aufgebot der verfassungstreuen Libera- quasi für Hörer aller Fakultäten. Sein englischsprachige Ausgabe kam hinzu. len, ohne Erfolg. Ansonsten hielt sich Standardwerk „Staat und Gesellschaft in Eschenburg hat stets lebendigen Anteil Eschenburg eher im Hintergrund, als Vor- Deutschland“ (1955 erstmals erschienen) am Politikunterricht in unseren Schulen denker, Planer, Ratgeber, Beobachter. Von ist die Frucht dieser Lehrtätigkeit, die von genommen. Der erste Lehrplan für da zur Wissenschaft ist es eigentlich nur Eschenburg bewußt als politische Bildung Gymnasien ist von ihm gemeinsam mit ein Schritt. begriffen worden ist. 1949 wurde er Arnold Bergstraesser, dem anderen Grün- Das Dritte Reich überstand er als Ver- Honorarprofessor an der Universität Tü- dervater von Politikwissenschaft und poli- bandsgeschäftsführer. Bei seinem Buch bingen, nach der Gründung des Südwest- tischer Bildung, die Landeszentrale einge- Die Herrschaft der Verbände (1957) wußte staates dann erster Ordinarius für Poli- schlossen, in unserem Land, entworfen er, worüber er schrieb – wie sonst auch tikwissenschaft dort – dank (das Wort ist worden. immer. Aus dem zerbombten Berlin war er bewußt gewählt) der Unverträglichkeit Einfluß auf die politische Bildung hat in die schwäbische Heimat seiner Frau ge- mit Reinhold Maier, dem ersten Minister- Eschenburg nicht zuletzt dadurch gehabt, zogen. In Tübingen hatte er zudem stu- präsidenten von Baden-Württemberg, daß Generationen von Gemeinschafts- diert. Carlo Schmid holte ihn nach Kriegs- der ihn nicht als Spitzenbeamten haben kundelehrern bei ihm studiert haben. ende in seine Regierung, zunächst als wollte. In der Landeszentrale für politische Bil- Flüchtlingskommissar, dann als Stellvertre- Daß politische Bildung unverzichtbar ist dung Baden-Württemberg gehören der ter des Innenministers im neu entstande- für eine Demokratie, kann man als den Direktor und zwei der Abteilungsleiter zu nen Land Württemberg-Hohenzollern, eigentlichen Antrieb seiner Lehre und seinen Schülern: Siegfried Schiele, Hans- mit der Hauptstadt Tübingen und dem schriftstellerischen Tätigkeit ansehen. Wer Joachim Mann und Hans-Georg Wehling. Parlamentssitz im Kloster Bebenhausen. ihm den Ehrentitel Praeceptor Germaniae Was man bei ihm gelernt hat: Politik- Carlo Schmid war neben Gustav Strese- gab, hatte das verstanden. Aber auch im wissenschaft und politische Bildung ha- mann die Persönlichkeit, die ihn am stärk- engeren Sinne war er für die politische ben das aufzugreifen, was die Menschen sten beeindruckt und geprägt hat. In Tü- Bildung tätig. Als oberster Beamter des bewegt und was politisch strittig ist: bingen war Eschenburg mit der Bildung Tübinger Innenministeriums gründete er Informiertheit, Urteilsfähigkeit, Hand- des Südweststaates Baden-Württemberg den Heimatdienst Württemberg-Hohen- lungsorientierung als Leitlinie. Hermann befaßt. Artikel 118 des Grundgesetzes, zollern als staatliche Einrichtung der poli- Gieseckes aktualitäts-, konflikt- und fall- der die Gründung von Baden-Württem- tischen Bildung. Sie ging nach der Grün- bezogener didaktischer Ansatz ist eigent- berg unter erleichterten Bedingungen dung des Südweststaats als Außenstelle lich bereits bei Eschenburg angelegt. möglich machte, ist von ihm formuliert. für den Regierungsbezirk Tübingen in Schließlich sind ein möglichst hohes Maß Eschenburg wußte sehr wohl: Eine Demo- der „Arbeitsgemeinschaft Der Bürger im an Anschaulichkeit und Verständlichkeit kratie lebt davon, daß sie gut funktionie- Staat“ auf, der Vorläuferorganisation der kennzeichnend dafür, wie Eschenburg rende Institutionen aufweist, daß die poli- heutigen Landeszentrale für politische Bil- Politikwissenschaft aus dem Geist der poli- tisch Handelnden sich institutionenge- dung. Mit Vorträgen und Aufsätzen blieb tischen Bildung heraus betrieben hat. Das recht verhalten: Von daher sind seine kriti- er ständig der Landeszentrale verbunden. wird uns über seinen Tod hinaus Verpflich- schen Kommentare über den Umgang der Wenn man ihn brauchte, war er zur Stelle. tung sein. Hans-Georg Wehling

169 Wie sollen die Bürger sein – und wie sind sie? Der interventionsfähige Bürger als zukunftsfähiges Leitbild Politische Leitbilder und Partizipationsmöglichkeiten

Von Paul Ackermann

Prof. Dr. Paul Ackermann lehrt Politikwis- mative Fragestellungen mit Hinweisen auf „Die Aufgabe des Lehrers in der Schule ist senschaft und politische Bildung an der empirische Ergebnisse verbinden. nicht unmittelbar die Erziehung zur rech- Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. ten Aktion, sondern zur rechten Reak- Zu seinen vielfältigen Publikationen Die Bürgerrolle ist auch eine Frage tion“ (Hennis 1957:333). gehört auch das „Bürgerhandbuch. Ba- der politischen Identität Hinter diesem Bild steht das Modell der re- sisinformationen und 57 Tips zum Tun“ präsentativen Demokratie. (Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts. Diese Fragen hängen eng zusammen mit 1998). dem Begriff der politischen Identität. Handlungsmöglichkeiten Damit bezeichnet man den Ort des Einzel- Daß in Deutschland nach dem Zusammen- nen als „politisches Lebewesen“, als poli- Drei Handlungsmöglichkeiten sind für bruch des Nationalsozialismus erfolgreich tisch denkendes und handelndes Wesen. den wohl auch heute noch am häufigsten eine Zivilgesellschaft installiert werden Politische Identität bestimmt sich u.a. vorkommenden Normalbürger wichtig: konnte, ist zu einem Gutteil auch den durch spezifische Wahrnehmungsweisen Bemühungen politischer Bildungsarbeit und Weltdefinitionen (politisches Welt- 1. Informationsbeschaffung, Kenntnis und den institutionellen Möglichkeiten bild oder Weltentwurf), Handlungsnor- der Entscheidungsregeln politischer Beteiligung zu verdanken. Zu- men und Rollensets, Wert- und Sinnkon- Die Fähigkeit, sich selbständig und frei In- grunde liegen Leitbilder von der Bürger- strukte, Zugehörigkeit zu Nation, Klasse, formationen zu beschaffen, ist die Grund- rolle, die wiederum jeweils an unter- gesellschaftlich-politische Milieus (Dörner voraussetzung für das politische Urteilen schiedlichen Demokratiemodellen orien- 1998:5f.). Bei meinem Versuch, die Bürger- und Handeln in unserer multimedialen In- tiert sind. Wer Leitbilder aufstellt, muß sie rolle in der Demokratie der Bundesrepu- formationsgesellschaft. (Zur Bedeutung jedoch ständig an der Wirklichkeit über- blik zu beschreiben, beschränke ich mich der Massenmedien für die freiheitliche De- prüfen, muß fragen – und sich fragen las- auf wenige Typen, wobei ich die politisch mokratie vgl. Beiträge von Jürgen Appel sen –, wie realistisch sle sind. Desinteressierten nicht berücksichtige. und Roland Haug in diesem Heft). Für den Dem Bild des „Normalbürgers“ als urteils- Hinter den Typen stehen unterschiedliche Fernsehzuschauer und den Zeitungsleser fähigem Zuschauer, der das Spiel der Po- Demokratiemodelle. Sie waren in be- wird es jedoch durch die steigende Infor- litprofis interessiert, engagiert und infor- stimmten Phasen der Geschichte beson- mationsflut, durch die Tatsache, daß die miert verfolgt und außer durch Beifalls- ders aktuell und kommen heute in ver- Massenmedien eine eigene Wirklichkeit und Mißfallensbekundungen nur durch schiedenen Variationen und Kombinatio- konstruieren, und durch die sogenannte Wahlen entscheidend eingreift, folgte im nen vor. Ich werde die verschiedenen Bür- symbolische Politik immer schwieriger, die Anschluß an die 1968er Bewegung die gerleitbilder beschreiben und fragen, wel- politischen Vorgänge zu durchschauen Vorstellung des aktives Bürgers, der stän- che politische Handlungsmöglichkeiten und angemessen zu reagieren. dig und überall mitbestimmen soll. An und Handlungsfelder für sie besonders Der reflektierte Zuschauer muß auch die seine Stelle ist inzwischen das realisti- wichtig sind. Auf die besonderen Schwie- Regeln kennen, nach denen entschieden schere Leitbild des interventionsfähigen rigkeiten der Frauen bei der Durchset- wird. Insgesamt ist der politische Informa- Bürgers getreten: fähig, immer dann in zung ihrer Bürgerrolle kann nicht einge- tionsgrad der Bürger seit Gründung der den politischen Prozeß einzugreifen, gangen werden. Bundesrepublik gestiegen. Doch wissen wenn er es für notwendig erachtet. Red. wir aus Umfragen, daß z.B. die Mehrheit Der Normalbürger als urteilsfähiger der Deutschen über die Funktionsweise Unterschiedliche Antworten Zuschauer des Parlaments relativ wenig Bescheid weiß und auch die Regeln zu wenig Wie sollen die Bürger der Bundesrepublik ln den 50er Jahren wurde in der noch jun- kennt, nach denen dort entschieden wird. Deutschland sein – bzw. wie sind sie? Be- gen Bundesrepublik von verschiedenen So haben die Bürger nicht genügend Ver- fragt man entsprechende Titel wissen- Politikwissenschaftlern darüber nachge- ständnis für die Verschränkung von Regie- schaftlicher und publizistischer Beiträge, dacht, von welchem Bild eines Bürger man rung und Mehrheitsfraktionen oder für so bekommen wir recht unterschiedliche ausgehen soll. Der Politikwissenschaftler die funktionelle Notwendigkeit der Frak- Antworten: Neben der klassischen Alter- Wilhelm Hennis geht z.B.: 1957 vom einfa- tionsdisziplin. Ich greife das Bild vom Fuß- native „mündig“ oder „unmündig“ gel- chen Menschen und seinem Verhältnis zur ballspiel wieder auf: Die Bürger sehen ten die Bürger als „überfordert“ (Helmut Politik, vom sogenannten Normalbürger Fußball, ziehen aber Beurteilungsregeln Schelsky 1974), „zornig“ (Manfred Hättich aus. Er verwendet das eingängige Bild für Handball heran. (Patzelt 1998: 69-101) 1984), „schwierig“ (Siegfried Schiele 1994) vom Fußballspiel. Die Politiker sind die als „Schwachstelle des Gemeinwesens“ Spieler, die Normalbürger die Zuschauer. 2. Mitbestimmung durch Wahlen (Werner Patzelt 1998) oder nach dem ehe- Er fragt nach den Kompetenzen des Bür- Die Wahlen stellen für den Normalbürger maligen Stuttgarter Oberbürgermeister gers: Dieser muß wissen, worum es bei die wichtigste Möglichkeit dar, an der po- Manfred Rommel als „verwöhnt“ und dem Spiel geht, er muß informiert sein, er litischen Willensbildung teilzunehmen. Sie „verschnullert“. Welche politische Leitbil- muß die Regeln kennen. Wenn die Politi- wird von den Bundesbürgern vor allem der für die Bürgerinnen und Bürger gibt ker schlecht oder falsch bzw. gegen die auf der Bundesebene sehr intensiv wahr- es bzw. gab es, und wie nehmen diese ihre Regeln spielen, kann er bei Wahlen dafür genommen. In der Politikwissenschaft ist Rolle in den verschiedenen politischen sorgen, daß die Mannschaft ausgewech- es umstritten, ob eine hohe politische Handlungsfeldern wahr? Diesen beiden selt wird. Hennis warnt vor der Forderung Wahlbeteiligung ein Zeichen der politi- Fragen, die sich sowohl für die praktische nach ständiger politischer Aktivität des schen Stabilität oder der Instabilität dar- Politik als auch für die politische Bildung Bürgers, die verfassungsmäßig nicht zu stellt. Es würde zu weit führen, auf die ver- stellen, will ich nachgehen und damit nor- realisieren sei und formuliert: schiedenen Ansätze der Wahlforschung

170 einzugehen. Insgesamt scheinen die Grup- – Auskunftspflicht der Behörden 1. An die Öffentlichkeit gehen penbindungen z.B. an die Kirchen oder – Recht auf Akteneinsicht des Bürgers Während der studentischen Protestbewe- Gewerkschaften oder soziale Schicht zu- – Verschiedene Beschwerdemöglichkei- gung wurde ein ganzes Repertoire an Me- gunsten der Themen und Personen, die im ten thoden, die Öffentlichkeit zu beeinflus- Wahlkampf zur Disposition stehen, an Be- – Die Möglichkeit des Widerspruchs und sen, wieder aufgenommen oder z.T. neu deutung zu verlieren. Außerdem entschei- der Klage beim Verwaltungsgericht. entwickelt, wie Flugblätter, Dokumenta- den die Wählerinnen und Wähler je nach (Ackermann 1998: 163–187) tionen, Wandzeitungen, Plakate, Demon- Systemebene sehr unterschiedlich, indem Insgesamt kann man sagen, daß die Un- strationen und Kundgebungen verschie- sie bei Bundestags-, Landtags- und Kom- tertanenmentalität gegenüber der Ver- denster Art. Neben diesen mehr konven- munalwahlen zum Teil anderen Parteien waltung in den letzten Jahrzehnten tionellen Protestformen entwickelten sich ihre Stimmen geben. Insgesamt scheint zurückgegangen ist. Der Bürger oder die neue unkonventionelle und z.T. auch ille- das Wahlverhalten individueller, rationa- Bürgerin tritt der Verwaltung immer gale Formen wie Sitzstreiks, Hausbeset- ler, bewußter geworden zu sein. mehr als selbstbewußter Interessent ge- zungen, wobei der Übergang zwischen genüber. (Greiffenhagen 1993: 83 f.) Die konventionellen und unkonventionellen 3. Umgang mit der Verwaltung Tatsache, daß die Verwaltungsgerichte fließend ist. Ich gehe auf diese Handlungsmöglichkeit überlastet sind, zeigt, daß die Rechtsmit- In der politischen Praxis sind heute die etwas ausführlicher ein, weil sie bisher so- tel voll ausgeschöpft werden. Er besteht Chancen, an der Bildung der öffentlichen wohl in der Politikwissenschaft als auch in zunehmend die Gefahr, daß sich die Meinung mitzuwirken, recht unterschied- der politischen Bildung vernachlässigt Durchführung von bestimmten Maßnah- lich verteilt. Die politische Meinungsbil- wurde. Während die Bürgerinnen und men wie z.B. Straßenbauprojekten we- dung wird weitgehend durch Regierun- Bürger frei entscheiden können, ob sie gen der zeitaufwendigen Klageverfahren gen, Parteien, Großverbände bestimmt. zum Wählen gehen, kommen sie in jedem lange verzögert. Doch ist es lokalen und überregionalen Fall mit Verwaltungsbehördem in Be- Bürgerinitiativen immer wieder gelungen, rührung, um ihr alltägliches Leben bewäl- Der Aktivbürger als neues Leitbild auf den verschiedenen politischen Ebenen tigen zu können. Dabei sind die Verwal- die Meinungsbildung zu beeinflussen. tungstätigkeiten sehr unterschiedlich, wie Unter dem Einfluß der Kritischen Theorie, Dabei geht es vor allem darum, Themen, z.B. das Ausstellen eines Personalauswei- vor allem von Jürgen Habermas und der die besonders dringlich erscheinen, in die ses, einer Gaststättenerlaubnis, die Einbe- studentischen Protestbewegung, kam es öffentliche Diskussion einzubringen. rufung eines Wehrpflichtigen, ein Steuer- in den 70er Jahren zu einem neuen Bür- bescheid, die Auszahlung der Sozialhilfe, gerleitbild, dem sogenannten Aktivbür- 2. Mitwirkung in Parteien eine Baugenehmigung. Welche zentrale ger. Habermas, der vom Modell der direk- und Großverbänden Bedeutung die Verwaltung für die Bürge- ten Demokratie ausging, wandte sich Die studentische Protestbewegung hat rinnen und Bürger hat, wurde sowohl gegen „eine Formalisierung der Demokra- nur kurzfristig Ende der 70er und Anfang nach dem Zweiten Weltkrieg als auch tie zu einem Set von Spielregeln“. Zielbe- der 80er Jahre zu einer Zunahme der Mit- nach der Vereinigung Deutschlands, als griff war der Aktivbürger, der sich in Or- glieder der Parteien und zu intensiven Dis- die Verwaltung in den neuen Bundeslän- ganisationen und Institutionen engagiert kussionen über deren Demokratisierung dern neu aufgebaut werden mußte, deut- mit dem Ziel der zunehmenden Selbstbe- geführt. Seitdem geht die Zahl der Partei- lich. Es ist daher für den Normalbürger un- stimmung und Emanzipation: mitglieder wieder zurück. Heute sind bedingt notwendig, nicht nur die Aufga- „Wurde der Staatsbürger bisher fast aus- höchstens 4% der Bevölkerung Mitglied ben und Befugnisse und Verfahrenswei- schließlich als Objekt der Demokratie be- einer Partei. Davon beteiligen sich nur sen der Verwaltung zu kennen, sondern trachtet (er müsse ,verantwortlich’ sein, 25% der Mitglieder am Parteileben. Auch auch zu wissen, wie er mit Behörden um- damit die Demokratie funktionieren bei Großverbänden wie Gewerkschaften gehen kann und nicht zuletzt, wie er sich könne), so wurde er jetzt ausdrücklich und Kirchen geht die Zahl der Mitglieder gegen deren Entscheidungen und Maß- zum Subjekt erklärt“. (Giesecke 1972: 43) und der Aktiven zurück. Helmut Klages nahmen wehren kann. Bundeskanzler Willy Brandt hat in seiner führt diesen Mitgliederschwund darauf „Mit Spott, Angst und Vertrauen“ hat ein Regierungserklärung am 28. Oktober zurück, daß diese Großorganisationen Verwaltungswissenschaftler die unter- 1969 diesen Ansatz aufgenommen: „noch bei weitem an herkömmlichen Au- schiedlichen Haltungen der Bürgerinnen „Wir wollen mehr Demokratie wagen. toritätstraditionen und Führungsphiloso- und Bürger gegenüber der staatlichen Wir werden darauf hinwirken, daß jeder phien“ festhalten und an den „aktuellen Verwaltung gekennzeichnet. Angst erzeu- Bürger die Möglichkeit erhält, an der Re- Wertverwirklichungsbedürfnissen und -in- gen die oft komplizierten rechtlichen Be- form von Staat und Gesellschaft mitzuwir- teressen der Menschen draußen vorbei- stimmungen. Trotz dieser Bedenken gibt ken.“ denken und- handeln“. (Klages 1993:39f.) es auch in der Bevölkerung auch viel Ver- Ziel war die Demokratisierung nicht nur Sie erfüllen offensichtlich das gestiegene trauen, daß es die Verwaltung schon rich- der staatlichen Institutionen, sondern Bedürfnis der Bürger nach mehr Selbst- tig macht. Dem Bürger muß die Notwen- auch der Gesellschaft. Als wichtiger Hin- und Mitbestimmung nicht mehr. Die Bür- digkeit wichtiger Verwaltungsprinzipien tergrund für diese Veränderungen im po- ger wollen keine „Parteisoldaten“ sein. bewußt gemacht werden wie z.B.: litischen Bewußtsein kann der gesell- – die Schriftlichkeit des Verfahrens nach schaftliche Wertewandel angesehen wer- 3. Bürgerinitiativen als neue politische dem Motto: „Was nicht in den Akten den, der in den letzten Jahrzehnten nicht Organisationsform steht, ist nicht in der Welt“; nur in der Bundesrepublik, sondern auch Als neue politische Organisationsform – das Prinzip der Zuständigkeit und Hier- in anderen westlichen Industriestaaten haben sich seit den 70er Jahren die Bür- archie und nicht zuletzt die Gesetz- stattgefunden hat. Helmut Klages bringt gerinitiativen und Selbsthilfegruppen ge- mäßigkeit der Verwaltung, was unter den nach ihm unumkehrbaren Megatrend bildet, um politische Anliegen durchzuset- anderem bedeutet, daß eine Behörde aus die kompakte Formel: „Von Pflicht- zen. Die Bereitschaft, sich eher in freien In- ohne gesetzliche Grundlage überhaupt und Akzeptanzwerten zu Selbstentfal- itiativen als in traditionellen politischen nicht handeln kann. tungswerten“. (Klages 1993:34) Organisationsformen zu engagieren, ist Daraus ergeben sich dann auch die Rechte vor allem bei jüngeren Menschen größer. des Bürgers. Die Schreiben der Behörden In der Folge davon neue politische Das hat unter anderem folgende Gründe: enthalten in der Regel eine sogenannte Beteiligungsformen Angesichts der in der Gesellschaft vorherr- Rechtsmittelbelehrung, in der dem Adres- schenden Tendenz zur Individualisierung saten erläutert wird, was er dagegen un- Die Aktivbürger, die sich in der Bevölke- wollen sich die Menschen nicht mehr lang- ternehmen kann. Das Verwaltungsrecht rung in den unterschiedlichen Wertekom- fristig an eine Organisation binden und hat verschiedene Möglichkeiten ent- binationen ausbildeten, entwickelten zu- setzen sich lieber für eine Sache ein, von wickelt, wie sich der Bürger gegenüber sätzlich zu den genannten Handlungs- der sie selbst betroffen sind und die sie der Verwaltung wehren kann. möglichkeiten des Normalbürgers neue selbst überschauen können. Zur Zeit gibt Hier sollen nur die wichtigsten aufgezählt politische Beteiligungsformen bzw. füll- es etwa 50 000 Bürgerinitiativen mit etwa werden: ten traditionelle mit neuen Inhalten: 1,5 Millionen Mitgliedern. Etwa die Hälfte

171 der Bevölkerung ist nach Umfragen zu- len“ zu übernehmen, bieten sich für den deutung zurück“ (Meyer 1994:262). mindest bereit, eventuell in einer Bürger- interventionsfähigen Bürger? initiative mitzuwirken, was jedoch noch 1. Erweiterung der Wahlmöglichkeiten 4. Sich an Planungen beteiligen nichts über die tatsächliche Aktivität aus- auf der lokalen und regionalen Ebene Ein weiteres Handlungsfeld für den inter- sagt. Insgesamt hat die studentische Pro- Verstärkte Interventionsmöglichkeiten ventionsfähigen Bürger stellt die Planung testbewegung durchaus zu einer Demo- werden vor allem auf der Ebene der Bun- dar. Der Bürger will nicht nur auf Maß- kratisierung der politischen Kultur ge- desländer, Regionen und Kommunen ge- nahmen der Verwaltung reagieren, son- führt. Allerdings hat sich gezeigt, daß das sehen. Dort sind die Wahlmöglichkeiten dern sich zunehmend selbst aktiv an Pla- Leitbild des auf vielen politischen Hand- z.B. durch die Direktwahl der Bürgermei- nungen für die Zukunft beteiligen, da er lungsfelder dauernd engagierten Aktiv- ster und Landräte verstärkt worden und davon betroffen ist, auch wenn er dies bürgers nur von einer Minderheit nach- werden auch vom Bürger bewußter wahr- zunächst nicht wahrnimmt. Auf der Ge- vollziehbar war. genommen. Zu Recht wird zur Zeit auch meindeebene kann es z.B. für einen Bür- die Möglichkeit der Abwahl von Bürger- ger von großer wirtschaftlicher Bedeu- Der interventionsfähige Bürger meistern diskutiert. tung sein, ob bei einem Bebauungsplan das eigene Grundstück in das Baugebiet Der Politikwissenschaftler Fritz Scharpf 2. Durch Abstimmungen an Sach- kommt und damit einen viel größeren hat mit dem von ihm geprägten Begriff entscheidungen mitwirken Wert bekommt. Bei dem Bebauungsplan- der „komplexen Demokratie“ das niedri- Die Möglichkeiten, durch Abstimmungen verfahren auf der Gemeindeebene han- ge Komplexitätsniveau der verschiedenen an politischen Sachentscheidungen mitzu- delt es sich um ein mehrstufiges Bera- Demokratietheorien, vor allem der direk- wirken, sind besonders geeignete Beispie- tungsverfahren, in dem die Mitwirkung ten Demokratie kritisiert. Die komplexe le, die oben genannte Interventionsfähig- der Bürgerinnen und Bürger ausdrücklich Demokratietheorie will ausdrücklich nicht keit auszuüben. Diese Interventionsmög- vorgesehen ist. Es ist durch das Baugesetz- nur den Beteiligungs- oder Inputaspekt, lichkeiten sind in den letzten Jahren auf buch, also ein Bundesgesetz, vorgeschrie- sondern auch die Steuerungsleistungen – Länder- und kommunaler Ebene nicht nur ben. In diesem Verfahren kann der Bürger den Output des politischen Systems – erweitert, sondern auch verstärkt genutzt in der ersten Stufe in Form einer Bürger- berücksichtigan (Manfred Schmidt 1997: worden. Mit Recht wird auch die Frage anhörung mündlich Stellung nehmen. Die 205-217) Problemverarbeitung und Ent- der Volksabstimmungen auf Bundesebe- Anregungen und Bedenken müssen in scheidungsfindung müsse vom Zentral- ne zunehmend diskutiert. (Vgl. den Bei- einen neuen Entwurf der Verwaltung ein- staat soweit wie möglich an nachgeordne- trag von Britta Kurtz in diesem Heft.) gearbeitet werden. Zu diesem neuen Ent- te Systemebenen wie Bundesländer, Re- wurf, der vom Gemeinderat beschlossen gionen und Kommunen verteilt werden. 3. Neue Formen bürgerschaftlichen wird, kann der Bürger schriftlich Stellung Dort bestehen durchaus noch mehr Parti- Engagements nehmen. Dieses Stellungnahme muß vom zipationsmöglichkeiten. Nach Hermann Trinkle hat sich politische Gemeinderat, der die letzte Entscheidung Die Komplexität vergrößernd kommt die Partizipation in den letzten Jahrzehnten hat, berücksichtigt werden. Als letzten zunehmende internationale Verflechtung verändert: Ausweg bleibt dem Bürger den Gang zum unseres politischen Systems hinzu. Ins- „Sie ist viel stärker punktuell, auf einzelne Verwaltungsgericht. Inzwischen sind auch gesamt stehen nach der komplexen Poblembereiche konzentriert, situations- andere Formen der Bürgerbeteiligung bei Demokratietheorie in Zeitalter komplexer und kontextabhängig. Die Formen politi- der Planung entwickelt worden wie Beirä- Interdependenz die Effektivität politi- scher Partizipation werden stärker auf te, Planungszellen, in denen ein repräsen- scher Problemlösungen und die demokra- dem Hintergrund der eigenen Lebenswelt tativer Querschnitt der Bürgerinnen und tische Legitimation in einem schwer lös- betrachtet, aus deren unmittelbaren Be- Bürger mitwirkt, oder Zukunftswerkstät- baren Spannungsfeld. Ein umfassende troffenheit dann gehandelt wird (Trinkle ten. Teilhabe eines politischen Aktivbürgers 1997: 142). Die politischen und sozialen Insgesamt gesehen scheint mir der inter- an allen Entscheidungen des politischen Bürgerinitiativen bieten den organisatori- ventionsfähige Bürger das Bürgerleitbild System ist kaum organisierbar – und wohl schen Rahmen für die Interventionsfähig- zu sein, das unserer komplexen Demokra- auch nicht zu erwarten. Anstatt eines poli- keit der Bürger. tie am ehesten angemessen ist. Auch die tischen Dauerengagements wird in den In welche Richtung die Form des Engage- theoretischen Ansätze zur Bürgergesell- 90er Jahren die politische Interventions- ments des intsventionsfähigen Bürgers schaft, auf die in diesem Zusammenhang fähigkeit des Bürgers in der Vordergrund geht, zeigt das neue Verständnis vom „Eh- nicht eingegangen werden kann, schei- gestellt. Ein interventionsfähiger Bürger renamt“, das für viele Organisationen be- nen in diese Richtung zu gehen. muß wissen, „wann eine Einmischung in zeichnend ist: das politische Geschehen notwendig wird „War das ,Alte Ehrenamt‘ stark durch den Vom Nationalbürger und wo und wie sie wirksam werden Einsatz für die Sache geprägt, so knüpfen zum Unions- und Weltbürger kann“ (Thomas Meyer 1994: 263) Dieser die meisten freiwillig Aktiven ihre Bereit- Typ stellt gewissermaßen einen Kompro- schaft zum Engagement an bestimmte Be- Die genannten Bürgerleitbilder und miß zwischen dem Bürger als Zuschauer dingungen: Sie wollen Tätigkeiten, von Handlungsfelder beschränkten sich weit- und dem Aktivbürger dar. Nach Thomas deren Sinn sie überzeugt sind, Möglichkei- gehend auf den Nationalstaat. Angesichts Meyer sind politische Tugenden „auch ten, die inhaltlich und zeitlich überschau- der zunehmenden internationalen Ver- eine Frage der Gelegenheit, zum Ver- bar sind, Möglichkeiten der Mitgestaltung flechtung entgleitet dem Nationalstaat lernen und Versäumen nicht weniger als und Mitbestimmung bieten, sie in Kon- „mehr und mehr die Kontrolle über das zum Erwerb und zur Einübung. Absurd ist takt mit anderen Menschen bringen, ein kollektive Schicksal seiner Bürger“ der abstrakte Idealismus, der in der Zumu- Dazulernen ermöglichen und schlicht und (Scharpf 1993:165). Im Vertrag von Maas- tung liegt, die aus dem politischen Ge- einfach Spaß machen“ (Landschaft Bür- tricht wird die Figur des Unionsbürger schehen Ausgeschlossenen sollten wenig- gerschaftliches Engagement 1996:12); oder der europäischen Bürgerschaft defi- stens kluge Duldung üben, damit der poli- (vgl. auch den Beitrag von Konrad Hum- niert. Der Europäische Rat hat die Heraus- tische Betrieb weiterlaufen kann, von mel in diesem Heft). bildung eines „aufgeklärten europäischen dem am Ende doch wieder alle profitie- Auch die Parteien werden sich sowohl in- Nationalbewußtseins“ gefordert. Aller- ren. Auch politische Klugheit wächst nur haltlich als auch organisatorisch auf die dings zeigt die relativ geringe Wahlbetei- in der Teilhabepraxis, die die Perspektive neuen Organisationsformen und das neue ligung bei den Wahlen für das europäi- verantwortlichen Handelns ist.“ (Meyer Selbstverständnis der Bürgerinnen und sche Parlament, daß die Bürgerinnen und 1994:225) Bürger einstellen müssen: Bürger dieses politische Handlungsfeld Wenn sie sich „auch als Katalysatoren sol- noch zu wenig wahrnehmen. Verstärkte Interventions- cher Initiativen und in unaufdringlicher „Müßte man, wenn man von ,Weltgesell- möglichkeiten Weise zugleich als Brücken zwischen schaft‘ spricht, auch von ,Weltdemokratie‘ ihnen und dem politischen System verste- sprechen?“ (Greven 1996:115) Das ver- Welche Gelegenheiten, sich in die Politik hen, gewinnen sie durch den Wandel ihres stärkte Aufkommen der Nichtregierungs- einzumischen bzw. „Verantwortungsrol- Rollenverständnisses einen Teil ihrer Be- organisationen zeigt das Bemühen der so-

172 genannten Weltbürger, auch auf interna- keiten ganz unterschiedlich wahrgenom- Giesecke, Hermann: Didaktik der politischen Bildung. München, 7. Aufl., 1972 tionale Entscheidungsprozesse, die bisher men werden. Die Bürgerrolle bzw. die Habermas, Jürgen: Politische Beteiligung ein Wert an nur den Regierungen vorbehalten waren, politische Identität ist jedoch nichts Ferti- sich. In: Habermas, Jürgen/ Friedeburg, Ludwig/Oehler, Einfluß zu nehmen. Das didaktische Kon- ges, Vorgegebenes, sondern muß in der Christoph/ Weltz, Friedrich: Student und Politik. 3. Aufl. Darmstadt/ Neuwied 1961,S.13-17 zept des Globalen Lernens in der „Einen Auseinandersetzung mit der gesellschaft- Greiffenhagen, Martin und Sylvia. Ein schwieriges Vater- Welt“ hat auch den Weltbürger im Blick, lich- politischen Wirklichkeit immer wie- land. Zur politischen Kultur Deutschlands. München/ Leipzig 1993 wenn auch die Formel „Global denken – der neu überdacht, entwickelt werden. Greven, Michael: Die politische Gesellschaft braucht lokal handeln“ der Komplexität der inter- Auch wenn ich den interventionsfähigen politische Bildung. In: Weidinger, Dorothea (Hrsg.) Politi- sche Bildung in der Bundesrepublik. Opladen 1996, nationalen Beziehungen noch nicht ge- Bürger, der nicht nur auf den nationalen S.113-118 recht wird. Rahmen beschränkt bleibt, sondern sich Hennis, Wilhelm: Das Modell des Bürgers. In: Gesell- Die wenigen Hinweise haben gezeigt, daß als auch europäischer oder Weltbürger schaft-Staat-Erziehung. 7/1957, S. 330-339 Hepp, Gerd/Schiele, Siegfried/Uffelmann, Uwe (Hrsg.): die Selbstlokalisierung der Bürger in einer fühlt, für das angemessene Bürgerleitbild Die schwierigen Bürger. Schwalbach/Ts. 1994 entgrenzten Welt bzw. das Problem der für eine absehbare Zukunft halte, wäre es Klages, Helmut: Traditionsbruch als Herausforderung. Perspektiven der Wertwandelsgesellschaft. Frankfurt/ kollektiven Identität eine neue Herausfor- problematisch, den Jugendlichen oder Er- M./New York 1993 derung für die Politik und politischen So- wachsenen und als Adressaten politischer Klein, Ansgar/ Schmalz- Bruns (Hrsg.): Politische Beteili- zialisation darstellt. Dabei geht es nicht Bildung ein bestimmten Bürgerleitbild gung und Bürgerengagement in Deutschland. Schriften- reihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Bd. 347, darum, die nationale Identität durch eine aufzuoktroyieren. Die Wahrnehmung der Bonn 1997 andere zu ersetzen, sondern eher zu er- Bürgerrolle ist für mich eine unabge- Landschaft Bürgerschaftliches Engagement: Das Praxis- Handbuch der ARBES. Freiburg 1996 gänzen. Man spricht von abgestuften schlossene Suchbewegung jedes Einzel- Meyer, Thomas: Die Transformation des Politischen. oder multiplen kollektiven Identitäten. nen nach dem richtigen Weg zur politi- Frankfurt/M. 1994 schen Partizipation. Patzelt, Werner J.: Bürger, Schwachstelle unseres Ge- Bürgerleitbild: eine meinwesens? In: Breit, Gotthard/Schiele, Siegfried (Hrsg.): Handlungsorientierung im Politikunterricht. unabgeschlossene Suchbewegung Schwalbach /Ts. 1998, S. 69-100 Scharpf, Fritz W.: Legitimationsprobleme der Globalisie- Wir haben gesehen, daß in der Geschichte Literaturhinweise rung. In: Böhret, Carl/Wewer, Gottrik (Hrsg.): Regieren der Bundesrepublik sehr unterschiedliche im 21. Jahrhundert. Opladen 1993, S.161-185 Ackermann, Paul: Bürgerhandbuch. Schwalbach/Ts., Trinkle, Hermann: Veränderungen politischer Partizipa- Bürgerleitbilder angeboten wurden bzw. 1998 tion. Frankfurt/M 1997 werden und in der politischen Wirklich- Dörner, Helmut: Medien als politische Identitätgenera- Schmidt, Manfred (Hrsg.): Demokratietheorien. 2. Aufl., keit auch heute die Partizipationsmöglich- toren. In: Politische Viertejahresschrift 1998, H.1, S. 3-21. 1997

173 Kommunalwahlen 1999

Am 24. Oktober 1999 werden in Baden-Württemberg in 1110 Gemeinden und 35 Landkreisen die Mitglieder von Gemeinderäten und Kreistagen gewählt. Dabei können die Wählerinnen und Wähler sowohl Stimmen häufen (kumulieren) als auch Kandidaten von einer Liste auf eine andere übertragen (panaschieren). Wahlberechtigt sind deutsche Gemeindebürger wie auch ausländische Mitbürger aus der EU. In den Gemeinden mit Ortschaftsverfassung werden auch die Mitglieder der Ortschaftsräte bestellt. Am gleichen Tag werden die 80 Mitglieder der Regionalversammlung des Verbandes Region Stuttgart in den 179 Gemeinden des Stadtkreises Stuttgart und der fünf Landkreise Böblingen, Esslingen, Göppingen, Ludwigsburg und Rems-Murr gewählt. Die Wahlen zur Regionalversammlung gelten nicht als Kommunalwahlen. Von daher gibt es hier die Möglichkeit zu kumulieren und panaschieren nicht, und EU-Ausländer sind dabei nicht wahlberechtigt. Das kommunale Wahlsystem gilt als kompliziert, zumal wenn man auch noch die Möglichkeit der Unechten Teilorts- wahl bedenkt. Im ersten der beiden Aufsätze wird das kommunale Wahlsystem erklärt, der zweite stellt dar, wer bei den Gemein- deratswahlen vor fünf Jahren gewählt worden ist. Für alle, die Genaueres wissen wollen, hält die Landeszentrale ein breites Publikationsangebot bereit. Red.

Um die Sitze hier geht es: in den Gemeinderäten und Kreistagen unseres Landes.

Rathaus Tübingen Landratsamt Waldshut

174 wohnern und Bürgern der Gemeinde Wie wird gewählt? (§ 12). Das Bürgerrecht hat jeder Deutsche Das kommunale Wahlsystem in Baden-Württemberg im Sinne des Art.116 Grundgesetz oder wer „die Staatsangehörigkeit eines ande- ren Mitgliedsstaates der Europäischen Von Hans-Joachim Mann Union besitzt (Unionsbürgerschaft)“, so- fern er mindestens 3 Monate in der Ge- Hans-Joachim Mann, M.A., ist Leiter der Namen enthalten, wie Gemeinderäte in meinde wohnt, ihm nicht auf Grund eines Abteilung Regionale Arbeit der Landes- der jeweiligen Gemeinde zu wählen sind. Gesetzes oder eines richterlichen Spruches zentrale für politische Bildung Baden- Die Zahl der Mitglieder in den Gemeinde- die bürgerlichen Rechte aberkannt wur- Württemberg. Er verfügt über reiche ratsgremien ist gesetzlich festgelegt und den (Geisteskranke etc.) und er das 18. Le- kommunalpolitische Erfahrung als Ge- bewegt sich zwischen mindestens 8 bei bensjahr erreicht hat. Weiterhin sind nicht meinderats- und Kreistagsmitglied. Gemeinden bis zu 1000 Einwohnern und wählbar Personen, die vom Wahlrecht höchstens 60 bei Gemeinden mit mehr als nach § 14 Abs. 2 GemO ausgeschlossen Basis-Demokratie kann ungeheuer 400000 Einwohnern (vgl. § 25 GemO). sind oder infolge eines Richterspruchs die kompliziert sein Neu wurde bereits 1993 in § 25 Abs. 2, Wählbarkeit oder die Fähigkeit zur Beklei- Satz 1 geregelt, daß in Gemeinden ohne dung öffentlicher Ämter nicht besitzen Kein Wahlverfahren im politischen System Unechte Teilortswahl durch Hauptsatzung (§ 28 Abs. 2 GemO). der Bundesrepublik Deutschland ist so- bestimmt werden kann, daß für die Zahl Die genannte Drei-Monats-Frist bezieht wohl für den abstimmenden Bürger der Gemeinderäte auch die „nächstniedri- sich bei mehreren Wohnungen auf den (Stimmgebungsverfahren mit Kumulieren gere Gemeindegrößengruppe maßge- Hauptwohnsitz. Eine klare Regelung der und Panaschieren), für Parteien und bend“ sein kann. Bei Unechter Teilorts- Frage, wie der Hauptwohnsitz bestimmt Wählervereinigungen bei der Aufstellung wahl ist die Variationsmöglichkeit noch wird, hat in der Vergangenheit etliche von Listen wie für die Gremien zur Über- größer (s.u.). Probleme bereitet. Die Definition des sog. wachung und Auszählung der Wahl und Diese pragmatische Regelung kommt si- Lebensmittelpunktes war z.B. bei Studie- für die Gemeindeverwaltungen (z. B. Ein- cher in mancher Gemeinde, die z.B. knapp renden höchst umstritten. teilung der Wahlkreise bei Unechter Teil- über 5000 Einwohnern liegt, den Parteien Neu ist die Lockerung der 3-Monats-Frist ortswahl) so schwierig zu handhaben wie und Wählergemeinschaften gelegen, weil für einen bestimmten Personenkreis das Kommunalwahlrecht in Baden-Würt- sie u.U. Schwierigkeiten haben für 3, 4 durch folgende Ergänzung des § 12 Abs.1 temberg. oder 5 Listen jeweils 18 Bewerber zu fin- Satz 1 GemO: Um so mehr überrascht die Feststellung den. „Wer das Bürgerrecht in einer Gemeinde des baden-württembergischen Innenmini- Durch die Gemeindereform hat sich die durch Wegzug oder Verlegung der Haupt- steriums in den Berichten über die letzten Einwohnerzahl der Gemeinden wesent- wohnung verloren hat und vor Ablauf von Kommunalwahlen, daß der Anteil der lich erhöht. Daher wird die in der GemO drei Jahren seit dieser Veränderung wie- ungültigen Stimmzettel z.B. bei der letz- vorgesehene Ausnahmeregelung kaum der in die Gemeinde zuzieht oder dort ten Wahl 1994 nur 3,9% ausmachte. noch wirksam, nämlich die Mehrheits- seine Hauptwohnung begründet, ist mit Nach Informationen des Innenministeri- wahl: Wird in einer Gemeinde nur ein gül- der Rückkehr Bürger“. ums war bei der Wahl 1994 die Zahl der tiger oder gar kein Wahlvorschlag einge- Gemeinden nach wie vor sehr groß, die reicht, finden nicht die Grundsätze der Seit eh und je typisch für Baden- alle genannten Schwierigkeiten kombi- Verhältniswahl, sondern die Mehrheits- Württemberg ist das „Kumulieren“ niert praktiziert haben: in 638 (1984: wahl Anwendung. Gewählt sind die Be- und „Panaschieren“ 693; 1989: 680) von 1110 Gemeinden werber oder andere namentlich Genann- (57,47 %) fand Unechte Teilortswahl statt ten in der Reihenfolge der auf sie entfalle- In § 26 Abs. 2 letzter Satz GemO wird das und in 407 (1989: 436) dieser Gemeinden nen Stimmen. Dabei sind die Wähler je- Stimmgebungsverfahren des Kumulierens gab es gleichzeitig Ortschaftsverfassung. doch (bei einer Liste) nicht daran gebun- und Panaschierens mit dem schlichten Kritisch muß man allerdings vermerken, den, die vorgeschlagenen Bewerber zu Satz festgelegt: daß insgesamt bei den Kommunalwahlen wählen, sondern können bis zur Aus- „Der Wähler kann Bewerber aus anderen 1994 in Baden-Württemberg die Wahlbe- schöpfung ihrer Stimmenzahl andere Wahlvorschlägen übernehmen und einem teiligung niedriger war als in den meisten Namen auf dem Wahlzettel ergänzen. Bewerber bis zu drei Stimmen geben.“ anderen Flächenstaaten der Bundesrepu- Auch bei nur einer Liste darf dieser eine Die Möglichkeit des Kumulierens führt blik (1994: 66,7 %). Auch das Innenmini- Vorschlag nicht mehr Namen enthalten, dazu, daß die Parteien und Wählervereini- sterium schließt in seinen Berichten nicht als Gemeinderäte zu wählen sind. Der gungen nur begrenzt Personalplanung aus, daß diese Tatsache etwas mit dem Wähler hat bei Mehrheitswahl allerdings betreiben können, weil der Wähler durch komplizierten Wahlsystem zu tun haben nicht das Recht, auf einen Bewerber meh- seine Stimmabgabe die Reihenfolge des könnte. rere Stimmen zu häufen (kumulieren). Da Wahlvorschlags kräftig durcheinander- Mehrheitswahl und Persönlichkeitswahl bringen kann. Nahezu ausnahmslos gilt die oft gleichgesetzt wird, ist das Kumulie- Zwar nimmt mit der Größe einer Ge- Verhältniswahl rungsverbot eigentlich systemwidrig. meinde die Zahl der unverändert abge- Damit soll aber verhindert werden, daß gebenen Wahlvorschläge zu, dennoch Bei der Kommunalwahl 1994 wurden ins- bei dieser geringen Bewerbersituation je- verändern 90 % aller Wähler ihre Stimm- gesamt 19 971 Frauen und Männer in die mand mit minimaler Stimmenzahl auf den zettel. Selbst in der Landeshauptstadt Gemeinderäte gewählt, davon 19 359 hinteren Platzziffern gewählt wird. Gibt Stuttgart haben noch mehr als 50 % der über die Verhältniswahl und lediglich 612 es keinen Listenvorschlag, kann der Wähler einen veränderten Stimmzettel über Mehrheitswahl, die nur in 65 der Wähler völlig frei seine Stimmen verge- abgegeben. 1110 Gemeinden des Landes praktiziert ben. Die Wählbarkeit der Gewählten Die Grundsätze des Kumulierens und wurde. ohne Listenplatz wird im Fall der Mehr- Panaschierens gelten auch für die Wahl Auch die Gemeinderäte müssen wie die heitswahl nachträglich überprüft. des Kreistages. Abgeordneten auf Landes- oder Bundes- Die Möglichkeit des Panaschierens bedeu- ebene „in allgemeiner, unmittelbarer, Wer kann wählen – wer darf gewählt tet nichts anderes, als daß sich der Wahl- freier, gleicher und geheimer Wahl“ von werden? berechtigte aus allen Wahlvorschlägen die den Bürgern gewählt werden (§ 26 Kandidaten heraussuchen kann, die er GemO). Gewählt wird in der Regel auf Auch wenn die Zahl der Gemeinderatsmit- kennt oder die er für geeignet hält. Da- Grund von Wahlvorschlägen (Listen) unter glieder sich nach der Zahl der Einwohner durch ist es z. B. möglich, daß CDU-Bewer- Berücksichtigung der Grundsätze der Ver- richtet, so bedeutet dies nicht, daß auch ber auf die SPD-Liste übernommen wer- hältniswahl. Im Gegensatz zu den Listen alle Einwohner wahlberechtigt oder gar den können und umgekehrt, was sicher für die Kreistagswahlen dürfen die Listen wählbar wären. Die Gemeindeordnung nicht im Interesse der jeweiligen Partei ist. für die Gemeinderatswahl nur so viele unterscheidet sehr genau zwischen Ein- In der Regel wird der Wähler dabei so vor-

175 gehen, daß er den Wahlvorschlag als samt auf dem Stimmzettel zuviele Stim- bezirken auf einen Bewerber bis zu 3 Grundlage nimmt, auf dem er die meisten men abgegeben bzw. Bewerber gewählt Stimmen kumulieren kann, das heißt zum Kandidaten wählen will. hat, ist der Stimmzettel im ganzen ungül- Beispiel bei einem Sitz einem Bewerber bis Auch für die panaschierten Kandidaten tig. Im anderen Fall „sind die Stimmen für zu 3 Stimmen, bei 2 Sitzen 2 Bewerbern gilt natürlich die Möglichkeit des Kumu- alle Bewerber dieses Wohnbezirks ungül- bis zu 3 Stimmen geben. Er darf allerdings lierens. tig“ (nicht jedoch für die anderen). nicht mehr Bewerber wählen, als Sitze im Will sich der Wähler der Mühe des Pana- Wohnbezirk vergeben werden. schierens auf einen Wahlvorschlag nicht So werden die Sitze verteilt unterziehen, so kann er mehrere gekenn- Ortschaftsrat – Bezirksbeirat und zeichnete Wahlvorschläge als Stimmzettel Bei der Sitzverteilung wird im Gegensatz Unechte Teilortswahl sind zweierlei abgeben. zur Bundestagswahl (Haare-Niemeyer- Die Wirkung des Panaschierens ist um- Verfahren) bei den Kommunalwahlen in In der politischen Öffentlichkeit wird häu- stritten. Auch hier läßt sich feststellen, Baden-Württemberg nach wie vor das so- fig die Ortschafts- und die Bezirksbeirats- daß mit zunehmender Gemeindegröße genannte d’Hondtsche Höchstzahlverfah- verfassung mit der Unechten Teilortswahl das Panaschieren abnimmt und die ren angewandt. in Verbindung gebracht. Dabei sind dies Wähler sich mehr entsprechend ihrer poli- Für die Gemeinderats- und Kreistagswahl nach der baden-württembergischen Kom- tischen Orientierung an die vorgegebe- bedeutet dies, daß die Stimmen für alle munalverfassung völlig getrennte Ele- nen Wahlvorschläge halten. In kleineren Bewerber einer Liste (auch die panaschier- mente. Allerdings ist dieses Mißverständ- Gemeinden kann das Panaschieren Min- ten ) zusammengezählt werden. Die Ge- nis insofern verständlich, als viele Gemein- derheitengruppen zugute kommen, die samtstimmenzahl für die einzelne Liste den mit der Ortschaftsverfassung auch auf ihrer Liste einzelne bekannte Bür- entscheidet nach d’Hondt über die Zahl gleichzeitig Unechte Teilortswahl einge- ger haben. So werden etwa in ländlichen der Sitze. führt haben. Zwingend ist dies allerdings Gebieten mit starker CDU-Mehrheit ein- Beispiel: nicht. zelne Sozialdemokraten, die als Person In der Gemeinde sind 3 Wahlvorschläge Die Gemeindeordnung sieht sehr unter- bekannt und angesehen sind, trotz ihrer zugelassen. Es sind 12 Sitze zu vergeben. schiedliche Möglichkeiten für die Verfas- SPD-Zugehörigkeit durch Panaschieren Die Stimmenzahlen der Listen werden sung einer Gemeinde vor. Da für den gewählt. jeweils durch 1, 2, 3, 4 usw. geteilt (§ 25 Laien diese Varianten der baden-würt- Abs. 1 KomWG). Auf die höchsten Tei- tembergischen Gemeindeverfassung nicht Wer sich verzählt, stimmt ungültig ab lungszahlen entfallen bis zur Ausschöp- ohne weiteres zu durchschauen sind, sol- fung der 12 Sitze die Plätze für die einzel- len sie kurz gegeneinander abgegrenzt Bei der Stimmabgabe ist in Verbindung nen Listen (s. Klammerzahlen): werden. mit der Auszählung zu beachten, daß Die Unechte Teilortswahl ist lediglich ein Stimmzettel, auf denen zuviel Stimmen geteilt Liste A Liste B Liste C besonderes Wahlverfahren für den Ge- vergeben wurden, ungültig sind. durch 9000 5000 4000 meinderat der Gesamtgemeinde, durch Wichtigster Grundsatz für die Stimmabga- 1 9000(1) 5000(2) 4000(4) das die Repräsentation der Orts- oder be ist, daß der Wille des Wählers eindeu- 2 4500(3) 2500(6( 2000(8) Stadtteile gewährleistet werden soll. tig sein muß (sog. positive Kennzeich- 3 3000(5) 1666(10) 1333(12) Die Ortschaftsverfassung ist für ehemals nungspflicht). Der Wähler kann z. B. sei- 4 2250(7) 1250 1000 selbständige Gemeindeteile gedacht. nen eindeutigen Willen dadurch zum Aus- 5 1800(9) 1000 800 Durch sie soll „Ortschaften“ ein begrenz- druck bringen, daß er einen vorgedruck- 6 1500(11) 833 666 tes Mitwirkungsrecht bei Entscheidungen ten Namen mit einem Kreuz versieht oder des Gemeinderates der Gesamtgemeinde durch die Ziffer „2“ oder „3“ hinter dem Nach diesem Rechenbeispiel erhält also eingeräumt werden. Die Ortschaftsräte, Namen deutlich macht, daß er auf diesen die Liste A 6 Sitze, die Listen B und C je- die nach den gleichen Grundsätzen wie Bewerber Stimmen kumulieren will. Nach weils 3 Sitze, obwohl Liste B 1000 Stimmen die Gemeinderäte direkt von den wahlbe- den Regelungen des KomWG ist Kumulie- mehr erhalten hat als Liste C. Dabei kann rechtigten Bürgern der „Ortschaft“ ge- ren von Stimmen auch dadurch möglich, es vorkommen, daß ein Bewerber auf der wählt werden, haben in begrenzten – daß man den Namen eines Bewerbers auf Liste A nicht mehr berücksichtigt wird, ob- durch die Hauptsatzung festgelegten – den freien Zeilen wiederholt. wohl er absolut mehr Stimmen erhielt Bereichen eigene Entscheidungskompe- Gibt ein Wähler einen Wahlvorschlag als als ein gewählter Bewerber der Liste B tenzen. In allen ihren Ortsteil betreffen- „im ganzen gekennzeichnet“ ab, so gilt oder C. den Angelegenheiten haben sie darüber jeder Bewerber als mit einer Stimme ge- Auch bei der Kreistagswahl und den hinaus ein Anhörungsrecht gegenüber wählt, der auf dem betreffenden Stimm- Wahlen zum Ortschaftsrat gilt für die Sitz- der Verwaltung und dem Gemeinderat zettel vorgedruckt ist. Bei Unechter Tei- verteilung das d’Hondtsche Höchstzahl- der Gesamtgemeinde. Die Ortschaften lortswahl gilt, daß bei einem unveränder- verfahren. haben im Rahmen der Ortschaftsverfas- ten Stimmzettel nur so viele Bewerber in sung eine eigene Miniverwaltung, an der Reihenfolge von oben mit einer Stim- Wie werden die Sitze dann innerhalb deren Spitze ein Ortsvorsteher steht, der me als gewählt gelten, wie Vertreter für der Wahlvorschläge zugeteilt? in den meisten Gemeinden nach der Ge- den Wohnbezirk zu wählen sind. meindereform als Wahlbeamter der Ge- Bei Unechter Teilortswahl muß der Die auf eine Liste entfallenen Höchstzah- samtgemeinde angestellt wurde (ehema- Wähler aber vor allem darauf achten, daß len werden nicht in der Reihenfolge der lige Bürgermeister) oder inzwischen zu- er die ihm für das gesamte Wahlgebiet zur Plazierung, sondern nach der erreichten nehmend ehrenamtlich tätig ist (Mitglied Verfügung stehende Stimmenzahl nicht Stimmenzahl der Bewerber zugeteilt. Nur des gewählten Ortschaftsrates). überschreitet sowie in den einzelnen bei Stimmengleichheit von Bewerbern Im § 69 Abs. 4 GemO wurde 1983 ein Satz Wohnbezirken nicht mehr Bewerbern bis einer Liste entscheidet dann die höhere angefügt, der auch in umgekehrter Weise zu höchstens 3 Stimmen gibt, als für den Position auf der Liste. die Verknüpfung von Teilort und Gesamt- Wohnbezirk Sitze festgelegt sind. Er muß Bei den Mehrsitzen, die sich aus dem Ver- gemeinde verstärken soll: In Gemeinden also zweimal zählen. hältnisausgleich im Wahlgebiet ergeben, mit Teilortswahl haben die Vertreter eines Durch die Änderung des KomWG vom wird in der Regel der Hauptort als größter Wohnbezirkes im Gemeinderat das Recht, 1. 9. 1983 wurde bei der Wahl am 24. 10. Wohnbezirk bevorteilt, weil die Stimmen- an den Verhandlungen des Ortschaftsra- 1984 erstmals die sog. wohnbezirksbezo- zahlen der Bewerber im größten Wohn- tes mit beratender Stimme teilzunehmen, gene Ungültigkeitsregel des § 24 Abs. 2 bezirk, die bei der Zuteilung nach Wohn- die im betreffenden Wohnbezirk gewählt praktiziert. Sie bedeutet, daß bei Unech- bezirken nicht mehr zum Zug gekommen wurden. ter Teilortswahl nicht der gesamte Stimm- sind, oft immer noch höher liegen als die Die Bezirksverfassung ist historisch nicht zettel ungültig ist, wenn der Wähler „in von Bewerbern der gleichen Liste aus klei- mit der Gemeindereform verbunden. Sie einem Wohnbezirk mehr Bewerbern Stim- nen Wohnbezirken. Dieser Effekt wird al- kann in Städten mit mehr als 100 000 Ein- men gegeben (hat), als für den Wohnbe- lerdings dadurch abgeschwächt, daß der wohnern und räumlich getrennten Orts- zirk zu wählen sind“. Nur wenn er insge- Wähler auch in Einer- und Zweier-Wohn- teilen durch Hauptsatzung eingeführt

176 werden. Seit der Änderung der GemO nisse der Wahl von 1975 stimmten nicht In einem zweiten Zuteilungsverfahren vom 8.11.1993 gibt es die Möglichkeit, mehr überall mit dem gesetzlichen Gebot werden die Gesamtstimmenzahlen eines daß die Bezirksbeiräte „nach den für die überein, daß die Grundsätze der Verhält- Wahlvorschlages in allen Wohnbezirken Gemeinderäte geltenden Vorschriften ge- niswahl (§ 26 Abs. 2 GemO) berücksichtigt addiert und im Verhältnis zu den Gesamt- wählt werden“ können, d.h. direkt von werden müssen. stimmenzahlen der anderen Listen im ge- den Bürgerinnen und Bürgern (§ 65 Abs.4 samten Wahlgebiet nach d’Hondt auf die neu GemO). In diesem Fall werden auch Zusätzlicher Verhältnisausgleich Gesamtzahl der Sitze in der Gemeinde für die Gemeindebezirke Bezirksvorsteher bringt mehr Gerechtigkeit verteilt (Verteilung der Sitze nach dem gewählt. D.h., daß künftig die Städte über Stimmenaufkommen in der gesamten Ge- 100 000 Einwohner die Wahl zwischen Einvernehmlich beschloß der Landtag am meinde). drei Möglichkeiten haben: 30. 1. 1980 folgende Regelungen, die in Zeigt sich bei dieser Zuteilung auf der a) Einführung der Bezirksverfassung über- der neuesten Fassung angeführt werden: Ebene des gesamten Wahlgebietes, daß haupt; 1. Es gibt den theoretischen Fall, daß auf ei- einem Wahlvorschlag in den Wohnbezir- b) Bestellung von Bezirksbeiräten durch ne Liste wegen der Unechten Teilortswahl ken mehr Sitze zugeteilt wurden, als ihm Wahl des Gemeinderats zunächst weniger Sitze entfallen, als ihr im Wahlgebiet zustehen, so wird ein Ver- c) Direktwahl der Bezirksbeiräte nach § 65 aufgrund ihrer Gesamtstimmenzahl in der hältnisausgleich vorgenommen, indem die Abs. 4. ganzen Gemeinde zustehen. Dann werden Zuteilung von Sitzen nach d’Hondt so diesem Wahlvorschlag die fehlenden Sitze lange fortgesetzt wird, bis diesem Wahl- Die Unechte Teilortswahl und ihre zugeteilt. Die gesamte Sitzzahl des Ge- vorschlag die Mehrsitze zufallen würden. Problematik meinderates erhöht sich somit entspre- Da bei dieser Fortsetzung der Zuteilung chend (§ 25 Abs. 2 letzter Satz KomWG). nach dem Höchstzahlverfahren die ande- Die Unechte Teilortswahl ist wohl der Umgekehrt bleiben einem Wahlvorschlag ren Wahlvorschläge beteiligt werden, kön- komplizierteste und gleichzeitig umstrit- die Sitze erhalten, die er gemessen am Ge- nen auch für diese weitere Sitze abfallen. tenste Teil des kommunalen Wahlrechts in samtstimmenaufkommen in den Wohn- Dabei darf nach § 25 Abs. 2 KomWG die so Baden-Württemberg. bezirken zu viel bekommen hat. erhöhte Sitzzahl das Doppelte der gesetz- Sie wurde als ein besonderes Wahlverfah- 2. § 25 Abs. 2 KomWG regelt, wie der Ver- lichen bzw. der durch Hauptsatzung nach ren eingeführt, um die Vertretung der In- hältnisausgleich im einzelnen zu gesche- § 25 Abs. 2 GemO festgelegten Zahl nicht teressen der Bürger in Vororten von Städ- hen hat. überschreiten. Diese Grenze dürfte aller- ten oder Gemeindeteilen von Gemeinden Die Zuteilung erfolgt so, daß zunächst die dings auch künftig nur in wenigen Ex- auch in personeller Hinsicht zu berücksich- Sitze im Wohnbezirk auf die Wahlvor- tremfällen erreicht werden (s. u.). tigen. Bei reiner Mehrheitswahl oder Ver- schläge entsprechend der von ihnen dort Ein Beispiel: Die Zahl der Gemeinderäte hältniswahl in Verbindung mit dem erreichten Stimmenzahl nach dem beträgt nach § 25 Abs. 2 GemO in der Ge- d’Hondtschen Höchstzahlverfahren wür- d’Hondtschen Höchstzahlverfahren ver- meinde Schwabenburg insgesamt 22. Sie den viele Vororte oder Gemeindeteile kei- teilt werden (Verteilung der Sitze nach hat durch Hauptsatzung Unechte Teilorts- nen Vertreter in den Gesamtgemeinderat dem Stimmenaufkommen in den Wohn- wahl in vier Wohnbezirken beschlossen, entsenden können, weil die Zahl ihrer bezirken). die sich wie folgt aufteilen: Wahlberechtigten im Vergleich zur Ge- samtzahl in der Gemeinde zu gering ist. Wohn- Wohn- Wohn- Wohn- Summe Die GemO gibt den Gemeinden die Mög- bezirk bezirk bezirk bezirk lichkeit, durch Hauptsatzung die Unechte Schwaben- Alb- Neuffen- Echaz- Teilortswahl einzuführen: Dabei erhalten burg blick blick quelle einzelne oder mehrere Teilorte (in der GemO „Wohnbezirke“ genannt) eine vor- Sitzzahl 17 3 1 1 22 her nach ihrer Einwohnerzahl festgelegte Anzahl von Sitzen im Gemeinderat garan- Davon entfallen nach Auszählung tiert. Entsprechend sind die Listen nach in den Wohnbezirken auf die Wahlvorschläge Wohnbezirken getrennt aufzustellen, folgende Sitzzahlen: damit jeder Wähler weiß, welche Kandi- daten für seinen Wohnbezirk kandidie- Wahlvorschlag A 8 2 1 1 12 ren. „Unecht“ heißt dieses Verfahren im Wahlvorschlag B 6 1 0 0 7 Gegensatz zu einer „echten Teilortswahl“ Wahlvorschlag C 2 0 0 0 2 deshalb, weil jeder Wähler seine Stimmen Wahlvorschlag D 1 0 0 0 1 nicht nur an die Kandidaten seines Wohn- bezirkes vergeben, sondern auf die aller Summe 17 3 1 1 22 Wohnbezirke verteilen kann (s. u. Muster- stimmzettel). Ergebnis der Zuteilung nach der Gesamtstimmenzahl im Wahlgebiet:

Die heutigen Bestimmungen haben Wahlvorschlag A 10 Wahlvorschlag C 3 eine lange Vorgeschichte Wahlvorschlag B 8 Wahlvorschlag D 1

Vor der Gemeindereform spielte die Un- Wahlvorschlag A hätte nach der Gesamt- gesetzt, bis die zwei zusätzlichen Sitze echte Teilortswahl in Baden-Württemberg stimmenzahl in der Gemeinde 10 Sitze zu tatsächlich verteilt sind. Dabei werden die eine geringere Rolle und hatte weniger bekommen. Durch die Auszählung nach Höchstzahlen im gesamten Wahlgebiet gravierende Auswirkungen als bei der Teilorten entfallen auf A aber 12 Sitze, zugrunde gelegt. Wahl 1975. Durch Eingemeindungsverträ- also ,zwei zu viel‘. Das d’Hondtsche Aus- Die endgültige Sitzverteilung könnte in ge und vergleichbare Absprachen waren zählungsverfahren wird nun so lange fort- unserem Beispiel so aussehen: viele Gemeinden seit Anfang der 70er Jahre aber gezwungen, die Unechte Tei- Wahlvorschlag Sitzzahl nach Sitzzahl nach Sitzzahl lortswahl durch Hauptsatzung einzu- nach Wohnbezirken Gesamt- führen, weil sie den neuen Gemeindetei- Verhältnis- stimmenzahl len eine zahlenmäßig feste Sitzzahl im Ge- ausgleich meinderat der Gesamtgemeinde garan- tiert hatten. Dies führte zu der hohen Zahl A121212(10) von Wohnbezirken mit nur einem oder B7810 zwei Sitzen. C234 Landesregierung und Landtagsfraktionen D112 waren einheitlich der Meinung, die Ergeb- Summe 22 24 28

177 Damit würde sich die Zahl der Gemeinde- Von dieser letztgenannten Möglichkeit phisch weit auseinanderliegende Gemein- ratssitze in der Gemeinde Schwabenburg haben bei der Kommunalwahl 1994 im- den um die Städte herum zusammenge- in der auf die Wahl folgenden Gemeinde- merhin 53 Gemeinden (8,3 %) Gebrauch faßt werden müssen. ratsperiode um sechs Sitze von 22 auf 28 gemacht. Für die nächstniedrigere Gruppe Im Gegensatz zur Gemeinderatswahl dür- Gemeinderäte erhöhen. entschieden sich lediglich 26 Gemeinden fen bei der Kreistagswahl in den einzel- Die durch Verhältnisausgleich geschaffe- (4,1%), während bei der Regelsitzzahl 326 nen Wahlkreisen höchsten eineinhalbmal nen Mehrsitze (Ausgleichsmandate) Gemeinden (51,1 %) blieben und 233 Ge- soviel Bewerber aufgestellt werden, wie nennt man im allgemeinen Überhang- meinden (36,5 %) die nächsthöhere Grup- Kreisräte im Wahlkreis zu wählen sind mandate. pe wählten. (§ 22 Abs. 2 LKrO). Um die Zahl der Ausgleichsmandate bei Für unsere Beispielgemeinde „Schwaben- Unechter Teilortswahl von vornherein in burg“ heißt dies, daß sie jede Zahl zwi- Zur vorgesehenen Zahl der Kreisräte Grenzen zu halten, gab früher der § 25 schen 18 und 26 durch Hauptsatzung be- können Überhangmandate kommen Abs. 2 GemO die Möglichkeit, durch stimmen könnte. Hauptsatzung die Zahl der Gemeinderats- Bei den Wahlen seit 1980 erhöhte sich die Nach § 20 der LKrO besteht der Kreistag mandate auf die ,nächsthöhere Gemein- Zahl der Mandate durch den Verhältnis- aus dem Landrat als Vorsitzendem und degrößengruppe‘ anzuheben. ausgleich im Durchschnitt der betroffenen mindestens 24 Kreisräten. In Kreisen mit Diese Absicht wurde wohl nur teilweise Gemeinden um ca. drei. mehr als 50000 Einwohnern erhöht sich erreicht. Trotz der Kompliziertheit der Unechten die Zahl der Kreisräte pro 10 000 weiteren Auf Vorschlag des Innenministers wurde Teilortswahl können Gemeinden, die Einwohnern um je 2 bis zur Grenze von ein noch weitergehender Vorschlag ange- diese z. B. erst im Rahmen von Eingemein- 200 000. Über 200000 Einwohner wird die nommen, nämlich der, daß auch eine da- dungsverträgen in den 60er und 70er Jah- Zahl der Kreisräte für jede 20 000 Einwoh- zwischenliegende Zahl gewählt werden ren in die Hauptsatzung aufgenommen ner um zwei Sitze erhöht. Damit sollen kann (§ 25 Abs. 2, Satz 2). haben, sie nicht ohne weiteres wieder ab- diejenigen Kreistage in bevölkerungsrei- schaffen. § 27 Abs. 5 GemO bestimmt chen Landkreisen etwas verkleinert wer- nämlich, daß Gemeinden, die die Unechte den, die heute schon Zahlen erreicht Teilortswahl auf Grund einer Vereinba- haben, die fast denen des Landtages rung im Rahmen der freiwilligen oder ge- gleichkommen. Da bei der Kreistagswahl setzlichen Gemeindereform auf unbe- das Wahlgebiet in Wahlkreise eingeteilt stimmte Zeit eingeführt haben, diese wird, ergibt sich bei der Sitzverteilung, für frühestens zur übernächsten regelmäßi- die ebenfalls das d’Hondtsche Höchstzahl- gen Wahl der Gemeinderäte wieder ab- verfahren gilt, unter Umständen eine un- schaffen können. gerechte Verzerrung des Wählerwillens für das gesamte Wahlgebiet. Sind in Weitgehende Übereinstimmungen einem Landkreis z. B. 8 Wahlkreise einge- der Regelungen für Gemeinderats- teilt worden, so wird das d’Hondtsche und Kreistagswahl Höchstzahlverfahren achtmal angewandt. Wie das Zahlenbeispiel zeigt, können da- In weiten Bereichen der gesetzlichen Be- durch erhebliche Verzerrungen entste- stimmungen gibt es für die Wahl der Ge- hen. Daher schreibt § 20 Abs. 2 LKrO vor, meinderäte und Kreisräte gleichlautende daß eine „Zweitauszählung“ der auf die oder inhaltlich übereinstimmende Rege- Wahlvorschläge im gesamten Wahlgebiet lungen. Allerdings sind bei Kreistagswah- (in unserem Beispiel aller acht Wahlkreise) len Wahlkreise vorgesehen (§ 22 Abs. 4 entfallenen Stimmen durchgeführt wer- LKrO). Für diese Wahlkreiseinteilung gibt den muß, für die ebenfalls d’Hondt gilt es einige Eckdaten, die beachtet werden (vgl. dazu Zweitauszählungsverfahren bei müssen: der Landtagswahl), allerdings mit einer Gemeinden, auf die nach der Einwohner- zusätzlichen Verkomplizierung: Wer genauer Bescheid wissen will, zahl mindestens 4 Sitze entfallen, bilden Wie die Zweitauszählung zu erfolgen hat, lese nach im einen eigenen Wahlkreis (Gesamtsitzzahl : legt § 22 Abs. 5 LKrO und § 22 Abs. 3 Taschenbuch Baden-Württemberg Einwohnerzahl = Schlüsselzahl). Kleine be- KomWG fest. Dieses komplizierte Verfah- Gesetze – Daten – Analysen nachbarte Gemeinden, die keinen eige- ren soll wiederum an einem Zahlenbei- Neuausgabe 1999 nen Wahlkreis bilden können, aber „mit spiel dargestellt werden. Auf 550 Seiten enthält das Taschen- einer solchen Gemeinde eine Verwal- Nehmen wir daher an, der Kreistag be- buch Baden-Württemberg eine detail- tungsgemeinschaft bilden, können mit ihr steht aus 60 Mitgliedern. In den 8 Wahl- lierte Darstellung des Kommunalwahl- zu einem Wahlkreis zusammengeschlos- kreisen erhielten die 4 Wahlvorschläge rechts, darüber hinaus eine Fülle von sen werden“ (§ 22 Abs. 4 Satz 4). Andere folgende Sitzzahlen nach der „Erstauszäh- Analysen zur Landes- und Kommunal- Gemeinden, die für einen eigenen Wahl- lung“: politik, vor allem aber die Texte von kreis zu klein sind, werden unter Beach- Landesverfassung, Gemeindeordnung tung der geographischen Lage, der Struk- Wahlvorschlag und Landkreisordnung, einen Datenan- tur der Gemeinden und der örtlichen Ver- ABCD hang über alle Gemeinden und Kreise waltungsräume zu Wahlkreisen zusam- 28 15 12 5 Baden-Württembergs, Listen der Lan- mengeschlossen mit mindestens 4, höch- deskabinette seit Bestehen des Landes, stens 8 Sitzen. Keine Gemeinde, die einen Bei der Zweitauszählung werden die Stim- 2 informative Schaubilder und vieles an- eigenen Wahlkreis bildet, darf mehr als /5 menzahlen für die einzelnen Listen und dere mehr. der Gesamtsitzzahl erhalten. Wahlkreise errechnet und durch die Zahl Diese Bestimmung ist zum Schutz der klei- der im jeweiligen Wahlkreis zu wählen- Das Taschenbuch empfiehlt sich für nen Gemeinden gegenüber einer einzel- den Bewerber geteilt. Daraus ergeben alle Kandidatinnen und Kandidaten nen dominierenden Stadt innerhalb des sich für jede Liste und jeden Wahlkreis die und eignet sich zur Ausstattung der Landkreises geschaffen worden. Damit „gleichwertigen Stimmenzahlen“. Die neugewählten Mandatsträger. haben die Kreisräte der Landgemeinden Summe der „gleichwertigen Stimmenzah- Das Taschenbuch Baden-Württemberg die Chance, bei Einigkeit nicht von den In- len“ aller Wahlkreise für eine Liste ergibt ist zu beziehen bei der Landeszentrale teressen der einen großen Stadt über- die jeweilige „gleichwertige Gesamtstim- in Stuttgart und den vier Außenstellen stimmt zu werden. menzahl“ der Liste im Wahlgebiet. zur Schutzgebühr von DM 10,– (außer- Die Regelung, daß Gemeinden mit minde- Diese „gleichwertige Gesamtstimmen- halb Baden-Württembergs DM 20,– ) stens 4 Sitzen einen eigenen Wahlkreis bil- zahl“ ist nun die Basiszahl für die Vertei- zuzüglich Versandkosten. den, kann andererseits zu kuriosen Wahl- lung der Zahl der Gesamtsitze einer Liste kreiseinteilungen führen, weil geogra- nach d’Hondt (nicht die absolute Zahl aller

178 Stimmen im Wahlgebiet). Dabei ist aller- bandsmitgliedern aus der Stadt Stuttgart, Erläuterungen zum Musterstimm- dings zu berücksichtigen, daß bei der Ver- den Landkreisen Böblingen, Esslingen, zettel für Unechte Teilortswahl teilung der Sitze jeweils nur von der Zahl Göppingen, Ludwigsburg und Rems-Murr ausgegangen werden muß, die für die zusammengesetzt, also dem früheren Re- I. Jeder Wähler hat 22 Stimmen Wahlkreise festgelegt ist, in denen ein gionalverband Mittlerer Neckarraum. In Wahlvorschlag einer Gruppe abgegeben diesem Raum wohnt, grob gesagt, knapp II. Der Hauptort wurde. ein Viertel der Bevölkerung Baden-Würt- ,Schwabenburg’ hat 17 Mandate Nehmen wir also an, daß in unserem Bei- tembergs. Die Regionalversammlung soll Der Wohnbezirk spiel die Listen A bis D in allen 8 Wahlkrei- über die Infrastrukturmaßnahmen in die- ,Albblick’ 3 Mandate sen kandidiert haben, so werden die 60 sem Ballungszentrum entscheiden. Der Wohnbezirk Sitze nach dem Verhältnis der „gleichwer- Unter dem Gesichtspunkt des Wahlsy- ,Neuffenblick’ 1 Mandat tigen Gesamtstimmenzahlen“ nach stems gilt für die Regionalversammlung Der Wohnbezirk d’Hondt verteilt. Hat jedoch eine Wähler- eine eigenartige Mixtur aus baden-würt- ,Echazquelle’ 1 Mandat vereinigung in einem Wahlkreis keine tembergischem Kommunalwahlrecht und Liste aufgestellt, der z. B. 4 Sitze erhält, anderen Wahlrechtsregelungen. Die ge- III. Der Wähler kann seine 22 Stimmen dann nimmt sie an der Zweitauszählung nannten 80 Mandate werden auf die auf Kandidaten aus allen vier Wohn- nur bis Platzziffer 56 teil. Stadt Stuttgart und die 5 Landkreise nach bezirken vergeben. Überschreitet er Auf die nach diesem Verfahren errechne- d’Hondt entsprechend der Bevölkerungs- jedoch durch die positive Kennzeich- ten Sitze der einzelnen Wahlvorschläge zahl aufgeteilt. In der Diskussion im In- nung die Zahl 22, so ist der Stimmzet- werden die in den Wahlkreisen zugeteil- nenausschuß des Landtages wollten die tel insgesamt ungültig. ten Sitze angerechnet. Hat eine Gruppe kleineren Fraktionen, insbesondere die IV. Innerhalb eines Wohnbezirkes darf bei der Zuteilung in den einzelnen Wahl- FDP, daß das Hare-Niemeyer-Verfahren der Wähler nicht mehr Kandidaten bis kreisen mehr Sitze erlangt, als ihr nach Anwendung findet. zu drei Stimmen geben, als im Wohn- dem Verhältnis der „gleichwertigen Ge- Es gilt Listenwahl; jede Wählerin und bezirk zu wählen sind. samtstimmenzahl“ (Zweitauszählung) zu- jeder Wähler hat nur eine Stimme (ähnlich Beispiel: Ist ein Wähler im Wohnbezirk stehen, so bleiben diese Sitze erhalten. In der Zweitstimme bei der Bundestags- „Albblick“ stimmberechtigt, der 3 diesem Fall ist mit der Verteilung von Sit- wahl). Kumulieren und Panaschieren ist Mandate hat, so kann er 3 Kandidaten zen so lange fortzufahren, bis der entspre- nicht möglich. Andererseits gelten aber bis zu 3 Stimmen = 9 Stimmen geben chenden Wählervereinigung nach dem Regelungen nach dem Kommunalwahlge- (Panaschieren zwischen den Listen ist „Verhältnis der gleichwertigen Gesamt- setz, z.B. der Verhältnisausgleich nach § 25 möglich). Seine restlichen 13 Stimmen stimmenzahl“ diese Sitze zugeteilt wür- Abs. 1 des KomWG. Die Zahl der Aus- kann er frei auf Kandidaten der ande- den. gleichssitze darf jedoch nach § 53 GemO ren 3 Wohnbezirke vergeben. Ande- Auf Grund der Zweitauszählung im ge- (neu) Abs. 1 letzter Satz die Zahl der Mit- rerseits muß der Wähler aus dem samten Wahlgebiet stehen demnach den glieder „nicht um mehr als 20 vom Hun- Wohnbezirk „Albblick“ die möglichen Wahlvorschlägen jedoch folgende Sitz- dert“ erhöhen. D.h. konkret, daß die Re- 9 Stimmen nicht auf Kandidaten sei- zahlen zu: gionalversammlung in der Region Stutt- nes Wohnbezirkes vergeben, sondern gart nicht mehr als 96 Mitglieder haben kann sie bis zur Grenze von 22 Stim- Wahlvorschlag darf. Ihre Amtszeit beträgt 5 Jahre. men auf alle 4 Wohnbezirke verteilen. ABCD 27 (28) 15 13 (12) 5

Die Liste A behält ihren 28. Sitz, die Liste C erhält zusätzlich ein weiteres 13. Mandat. Diese Mandate gelten für die Legislatur- periode als Überhangmandate. Der Kreis- tag setzt sich also in unserem Fall nicht aus den nach der Einwohnerzahl errechneten 60, sondern aus 61 Kreisräten zusammen. Die Zahl der Überhangmandate darf aller- dings nach § 22 Abs. 6 letzter Satz LKrO 20 v. H. der Sitzzahl nicht überschreiten. Die Stimmen der nicht zum Zuge gekom- menen Bewerber der Liste C in den einzel- nen Wahlkreisen werden durch die Zahl der Sitze im Wahlkreis geteilt. Die da- durch entstandenen Zahlen stellen somit die gleichwertige Stimmenzahl der Be- werber der Liste C der verschiedenen Wahlkreise dar. Gewählt ist derjenige Be- werber des Wahlvorschlages C, der die höchste gleichwertige Stimmenzahl hat. Bei dieser Zuteilung gilt allerdings eben- 2 falls die /5-Begrenzung, da bei der Größe 2 der Wahlkreise, die der /5-Begrenzung un- terliegen, die gleichwertige Stimmenzahl der Bewerber i.d.R. so hoch ist, daß sonst de facto die Überhangmandate fast immer diesem Wahlkreis zufallen würden.

Die Regionalversammlung der Region Stuttgart als Sonderfall

Als bisher einziger Region gibt es eine direkt gewählte Regionalversammlung in der Region Stuttgart Die „Regionalversammlung des Verban- des Region Stuttgart“ wird aus 80 Ver-

179 Wer wird gewählt? sich kaum etwas, und solchen, in denen sich sehr viel verändert hat. Überlicher- weise stellen die Parteien und Wählerver- Das Auswahlverhalten von Wählerinnen und Wählern bei einigungen die bisherigen Mandatsträger Kommunalwahlen in Baden-Württemberg wieder auf, wenn diese nicht freiwillig – und das dann meist aus Altersgründen – darauf verzichten. Sie sind eben doch be- Von Hans-Georg Wehling kannt – und deswegen Stimmenfänger. Man kann sie höchstens – gelegentlich auch als Bestrafungsmaßnahme für allzu selbstherrliches Aus-der-Reihe-Tanzen – schlechter plazieren. Doch gerade dann weichen die Wähler besonders gern von Der Prototyp des kommunalen wundern, daß Zuzügler sich nicht in glei- der Reihenfolge ab und wählen sie trotz- Mandatsträgers cher Weise für das Geschehen am Ort ver- dem. Ist das Zerwürfnis nicht mehr zu hei- antwortlich fühlen. Die Entscheidung für len, kommt es zur Neugründung einer So sah der Prototyp des 1994 gewählten eine (Wohn-)Gemeinde folgte vielleicht Gruppierung; die Eintrittschance ist nach Gemeinderatsmitglieds in Baden-Würt- nur dem Niveau der Miet- oder Grund- unserem offenen Wahlrecht groß. Man temberg aus: Er war Mitfünfziger, beklei- stückspreise. Wer in Korb im Remstal kann sogar soweit gehen und behaupten: det einen angesehenen Beruf, war nicht wohnt, in Stuttgart arbeitet, seine Freizeit Unser kommunales Wahlsystem begün- neu im Gemeinderat – und er ist ein weitgehend außerhalb verbringt, seine stigt Parteispaltungen geradezu. Mann. Kinder nach Waiblingen aufs Gymnasium Insgesamt wurden am 12. Juni 1994 19 902 schickt, fühlt sich nicht so stark herausge- Auch die GRÜNEN sind in die Jahre Gemeinderatsmitglieder in 1110 Gemein- fordert, auch bei Kommunalwahlen gekommen den unseres Landes gewählt, zusätzlich wählen zu gehen, zumal er die Kandida- 2350 Kreistagsmitglieder. Bei genauerem ten nicht kennt. Das gilt zumindest so Das hohe Maß an Wiederwahl erklärt – Hinsehen fällt natürlich das Bild der Ge- lange, wie die Kommunalverwaltung gut zum Teil wenigstens – auch die Alters- meinderatsmitglieder sehr viel differen- arbeitet (und das tut sie ja zumeist). struktur der 1994 gewählten kommuna- zierter aus. Ganz bewußt waren 1994 in Baden-Würt- len Vertretungskörperschaften. Dabei ist Die folgende Analyse beruht auf den temberg die Kommunalwahlen auf den weniger das Durchschnittsalter interes- Daten von 20 Gemeinden, die vom Ge- Termin der Europawahlen gelegt worden, sant (einzelne „Ausreißer“ können es meindetag Baden-Württemberg zur Ver- um damit die Beteiligung an den Europa- nach oben oder unten kräftig verändern fügung gestellt worden sind. Dabei han- wahlen anzuheben. Das Kalkül ging auf, und damit im Grunde verfälschen), son- delt es sich um Gemeinden, die nach einer merkwürdigerweise war der Effekt sogar dern die Verteilung nach Altersgruppen. Modellrechnung des Statistischen Landes- reziprok: Der Abwärtstrend bei der Betei- Die größte Gruppe machen die 50- bis amtes als repräsentativ gelten sollen für ligung an Kommunalwahlen konnte ge- 60jährigen aus, gefolgt von den 40- bis Baden-Württemberg. Auch wenn bei den stoppt, ja leicht umgebogen werden: Im 50jährigen und 60- bis 70jährigen. Der An- Kriterien des Statistischen Landesamtes Vergleich zu 1989 beteiligten sich 5,1% teil der 30- bis 40jährigen ist gering, die für die Kommunalpolitik so wichtige Va- mehr an den Gemeinderatswahlen (ähn- unter 30jährigen sind wie die über riablen wie Gemeindegröße und politi- lich bei den Kreistagswahlen mit einem 70jährigen die absolute Ausnahme. Die sche Kultur fehlen, lassen diese Daten Plus von 5,5 Prozentpunkten). Vielleicht jüngsten Mandatsträger weisen Bündnis doch bestimmte Muster erkennbar wer- ist das der „Wachrütteleffekt“ eines Su- 90/DIE GRÜNEN auf (bzw. deren verwand- den. Da nicht unbedingt von einem völlig perwahltags. te Gruppierungen), aber ohne daß damit veränderten Wahlverhalten bei der Ge- die hier gemachte Altersaussage durch- meinderatswahl vom 12. 6. 1994 ausge- Der Anteil der Wiedergewählten ist brochen wäre. Auch die GRÜNEN sind in gangen werden kann, lassen sich die vor- hoch die Jahre gekommen, ihre Mandatsträger liegenden Ergebnisse durchaus auch im sind allenfalls etwas weniger alt. Lichte voraufgegangener Kommunalwah- Auffällig ist bei der Durchsicht der Daten, len interpretieren. in welch hohem Maße bisherige Man- Parteien und Wählervereinigungen datsträger wiedergewählt worden sind. stellen sich vorab auf den Wähler- Die geringere kommunale 63,8% der am 12. Juni 1994 in den 20 aus- willen ein Wahlbeteiligung läßt sich erklären gewählten Gemeinden gewählten Man- datsträger saßen auch bislang schon im Die Möglichkeit, zu kummulieren und zu Die Wahlbeteiligung 1994 war für Kom- Gemeinderat, 36,2% waren neu. Daß bis- panaschieren, entzieht den Parteien die munalwahlen in Baden-Württemberg mit herige Mandatsträger wiederum im Ge- Möglichkeit, Listen ausschließlich nach 66,7 % außergewöhnlich hoch (1989: meinderat sitzen, ist nachvollziehbar: Sie ihren eigenen Kriterien zusammenzustel- 61,4 %). Sie liegt immer niedriger als bei haben Erfahrung, haben sich – wie wir un- len. Schon im Vorfeld, bei der Kandidaten- Bundestags- und Landtagswahlen und terstellen wollen – bewährt. Das wird vom gewinnung und Listenaufstellung, versu- wird eigentlich nur noch durch die von Eu- Wähler honoriert. Natürlich verschafft das chen Parteien und Wählervereinigungen, ropawahlen unterboten. Das läßt sich ein- bisher schon innegehabte Mandat auch den Wählerwillen zu vorwegzunehmen. fach erklären: Die Wähler gehen um so Bekanntheit, was sich nicht zuletzt in der Je besser ihnen das gelingt, desto größer eher zur Wahl, je wichtiger sie das Ergeb- Zeitung niederschlägt. Bei der Möglich- kann die Listentreue der Wähler sein. Ge- nis für ihr persönliches Leben einschätzen. keit zu kumulieren und zu panaschieren, wählt wird vor allem, wen man kennt und Für die gesamte wirtschaftliche Lage und, wie sie das baden-württembergische wen man schätzt bzw. wer etwas ist und daraus folgend, für die Beschäftigungs- Kommunalwahlrecht eröffnet, ist das ein etwas gilt, Honoratioren also. Das muß situation ist die Bundespolitik in ihren Startvorteil. Lediglich bei neuen – oder nicht unbedingt auf persönlicher Be- Augen wichtiger. An zweiter Stelle ran- verhältnismäßig neuen – Listen ist der An- kanntschaft beruhen. So ist auffällig, daß giert die Landtagswahl. Dann erst kom- teil Neugewählter hoch. Hier zeigt dann das Berufsprestige genommen wird als men die Kommunalwahlen. Da das Eu- der Zusatz „Wiedergewählt“ an, von wem Kriterium dafür, ob jemand etwas ist und ropäische Parlament relativ wenig zu der Anstoß zu einer neuen, eigenen Liste etwas gilt. Es sind durchweg Vertreter an- sagen hat, erklärt sich, warum hier die ausging. gesehener Berufe, die in die Gemeinderä- Wahlbeteiligung am niedrigsten ist. Spekulieren läßt sich darüber, ob ein te gewählt werden. Zu kurz kommen Ver- Für die Kommunalpolitik von erheblicher größerer Anteil Neugewählter in einer teter unterer Berufsgruppen, vor allem Auswirkung ist zudem die hohe Mobilität Gemeinde möglicherweise nicht viel mehr Arbeiter, aber auch Schüler, Studenten (sie einer modernen Industriegesellschaft: Da ist als ein Indiz für einen Generationen- trifft wohl auch das „Altersverdikt“), Beteiligung an Wahlen auch ein Indikator wechsel. Dafür spricht die relativ große Rentner, Arbeitslose. Natürlich sind die Be- für Integration ist, darf man sich nicht Streuung zwischen Gemeinden, in denen rufsbezeichnungen für den Außenstehen-

180 den nicht ganz durchschaubar. So können kanntheitsgrad kommt auch hier hinzu. Die berufliche Zusammensetzung von sich Arbeitslose schon einmal hinter dem Die Präsenz von Lehrern in der Kommu- Kandidatenlisten und Gewählten variiert akademischen Titel eines Dipl.-Volkswirts nalpolitik ist unübersehbar, ihre zahlen- nach Listen, selbstverständlich. Man kann verstecken, andererseits gibt sich ein pen- mäßige Bedeutung wird jedoch über- auch nach solchen Listen unterscheiden, sionierter Staatssekretär und Landtagsab- schätzt. Wahrscheinlich aber ist ihre Rolle die ähnlich bis zur Austauschbarkeit sind, geordneter als Pensionär aus, wohl wis- bedeutender als die Zahlen zu erkennen und solchen mit deutlichem Abstand zu- send, daß die Wähler seinen wahren be- geben (und insofern ist die „Volksmei- einander. Das gilt aber nicht für alle Orte ruflichen Hintergrund schon kennen. nung“ gerechtfertigt): Da sie in ihrer Zeit- gleich. Besonders nahe stehen sich in der Schwierig ist es mit der Bezeichnung Haus- einteilung freier sind als die meisten ihrer Regel die Listen von CDU und Freien frau, hinter der sich die tatkräftige Gattin Mitbürger, können sie auch eher Wählervereinigungen (einschließlich FDP, eines stadtbekannten Unternehmers (und Führungspositionen in der Kommunalpo- sofern sie antritt) auf der einen Seite Arbeitgebers) genau so verbergen kann litik einnehmen und machen sich von sowie von SPD und GRÜNEN auf der ande- wie die Frau eines einfachen Mannes, die daher eher bemerkbar. ren. gewählt wird aufgrund ihres Engage- Durchweg gibt es einen Zusammenhang ments in der örtlichen Arbeiterwohlfahrt. zwischen den Berufen der Gewählten und Immer noch zu niedriger Frauenanteil Wenig Aussagekraft hat zudem die Berufs- der beruflichen Zusammensetzung der bezeichnung Kaufmann, die sowohl den Liste insgesamt. Die Gewählten sind nach Besonderes Augenmerk verdient der An- kaufmännischen Angestellten als auch diesem Kriterium für ihre jeweilige Liste teil der Frauen an den kommunalen Man- den selbständigen Einzelhändler oder gar durchaus repräsentativ. Zudem zeigt sich, datsträgern, die am 12. Juni 1994 gewählt den Großkaufmann meinen kann. daß sich in den Listen die Struktur der Ge- worden sind. Ihr Anteil ist in den 20 unter- Auffallend ist der hohe Anteil von Selb- meinde zwar nicht genau abbildet, aber suchten Gemeinden durchweg gering, ständigen in den Gemeinderäten. Dabei doch in etwa widerspiegelt: Weinbauge- was eben aber auch ein Größenklassen- handelt es sich vorwiegend um kleine Ge- meinden oder Beamtenstädte sind als sol- effekt ist. Der Bericht des Innenministe- werbetreibende wie Bäcker, Metzger, In- che zu erkennen. Das ist nicht unbedingt riums von Baden-Württemberg über die stallationsmeister, Inhaber von Einzelhan- ein Zeichen von Repräsentativität, son- Kommunalwahlen zeigt deutlich, daß der delsgeschäften, Landwirte und Winzer, dern zeigt nur an, wer bzw. welche Be- Frauenanteil an den Gemeinderäten sehr seltener Bauunternehmer: Die Inhaber rufsgruppe in der Gemeinde nach wie vor stark von der Ortsgröße abhängt, und oder Manager größerer Betriebe sind (noch?) den Ton angibt. zwar steigt er mit zunehmender Größe. nicht im Gemeinderat vertreten: Sie neh- Deutlich wird aus dem Bericht auch, daß men sich dafür zumeist keine Zeit, brau- der Frauenanteil in den Gemeinderäten chen es auch nicht, da in der Gemeinde so- bereits von 1984 auf 1989 zugenommen wieso nichts gegen ihre Interessen läuft, hat, sowohl insgesamt als auch in (fast) ihr Einfluß ist – als Anbieter von Arbeits- allen Größenklassen. plätzen und Zahler von Gewerbesteuern – Bei den Gemeinderatswahlen vom 12. quasi „automatisch“. Gut vertreten sind Juni 1994 sind insgesamt 17,5 % Frauen Angehörige Freier und Beratender Berufe gewählt worden. Gegenüber 13,2 % 1989 wie Rechtsanwälte, Steuerberater, Archi- oder gar nur 9,5 % 1984 ist das eine tekten. Wer als Arzt antritt, hat von vorn- deutliche Zunahme, ja ein Aufwärts- herein gewonnen: Es gibt kaum einen trend. kandidierenden Arzt, der nicht gewählt Doch es muß sogleich Wasser in den Wein würde. Warum ausgerechnet viele Frau- gegossen werden. Denn eins zeigen die enärzte (männlich) gewählt worden sind, vorliegenden Daten aus den „repräsenta- darüber kann nur spekuliert werden (in tiven“ Gemeinden leider auch: Wenn der der „repräsentativsten“ Gemeinde Baden- Anteil von Frauen unter den Gewählten Württembergs, Müllheim im Landkreis immer noch zu gering ist, ist das nicht in Breisgau-Hochschwarzwald, waren es erster Linie den Parteien und Wählerverei- gleich zwei). Möglicherweise werden sie nigungen anzulasten. Sie hatten verhält- gewählt, weil sie ein besonders hohes Ver- nismäßig viele Frauen aufgestellt, und trauen genießen. Auch sonstige Pflege- zwar durchweg auf guten Listenplätzen. berufe sind chancenreich – nicht unbe- Eine Feinauswertung der Listen zeigt, daß dingt aber Sozialarbeiter etc. Gut vertre- die Listentreue von den Wählern immer ten – und gerne gewählt – sind zudem wieder aufgegeben wird, um eine Frau zu Polizeibeamte, nicht zuletzt Kriminalbe- übergehen. Das trifft für die CDU, die Frei- amte. Möglicherweise, weil man ihnen so- Eine erste allgemeinere und umfassen- en Wähler und auch die FDP eher zu als wohl Scharfsinn als auch eine hohe Kom- dere Orientierung für die SPD, am wenigsten für die GRÜ- petenz für die Bewahrung der Sicherheit zum Thema Kommunalpolitik bietet NEN und Alternativen. in der Gemeinde unterstellt, als Garanten das Heft Dieser Eindruck wird gestützt durch die in- der „heilen Welt“ daheim, gegenüber zwischen vorliegende Aufstellung des Sta- einer Außenwelt, in der man sich nicht „Kommunalpolitik“ tistischen Landesamtes über das Verhält- mehr sicher fühlen kann. Auch ihnen kann nis von Kandidaten und gewählten weib- erschienen als Heft 242 in der Reihe man zudem lokale Kompetenz unterstel- lichen Mandatsträgern bei den Gemein- „Informationen zur politischen Bildung len. deratswahlen: Danach haben alle Parteien herausgegeben von der Bundeszen- Versuchen wir, das Ergebnis allgemeiner und Wählervereinigungen prozentual trale für politische Bildung. zu fassen: Gewählt wird erstens, wem mehr Kandidatinnen aufgestellt als ge- Seit Ende 1998 liegt die völlig über- man eine hohe lokale Kompetenz zutraut: wählt worden sind. Lediglich bei den arbeitete Neuauflage vor. Der Bäcker, Metzger, Landwirt wohnt je- GRÜNEN ist das Verhältnis ausgeglichen weils nicht nur in der Gemeinde, er arbei- Zu beziehen ist das Heft und insgesamt auf einem hohen Stand: tet auch dort, kennt sich aus, nicht zuletzt „Kommunalpolitik“ (nur schriftlich) bei Fast jedes zweite Gemeinderatsmitglied weil er dort sogar geboren ist, aus einer Franzis print & media, (45,0 %) der GRÜNEN ist eine Frau (damit alt eingesessenen Familie stammt. Zudem Postfach 15 07 40, 80045 München haben die GRÜNEN natürlich auch den natürlich bringen diese Berufe Kontakt oder Fax 0 89 – 5117-292 Gesamtanteil der Frauen in den Gemein- mit vielen Menschen, sorgen für einen deräten mit angehoben). Besonders kraß hohen Bekanntheitsgrad. Gewählt wird Die Lieferung – auch von Sätzen für sind die Unterschiede zwischen aufgestell- zweitens, wem man Selbstlosigkeit, Ein- Gemeinderäte oder Schulklassen – er- ten und gewählten Frauen bei Freien satz für das Wohlergehen der Mitmen- folgt kostenlos, jedoch unfrei. Berufs- Wählern und REPs. schen unterstellt. Davon profitieren Ärzte angabe ist erforderlich. Noch ausgeprägter ist das Mißverhältnis wie auch andere Heilberufe. Hoher Be- bei den Kreistagswahlen ausgefallen:

181 sie in ihrer Gemeinde schon lange woh- ist nach den vorliegenden Unterlagen so nen, vielfach dort geboren und aufge- nicht der Fall. Schließlich wären Ort- wachsen sind. Das schafft auf seiten der schaftsräte auch zu nutzen als „Frauenre- Kandidaten Vertrautheit mit ihrer Ge- servat“. Das scheint aber nur dort gege- meinde, sowohl im Sinne von emotionaler ben zu sein, wo nicht ausreichend Männer Verbundenheit als auch von Ortskenntnis, zu gewinnen waren: Wie üblich treten lokaler Kompetenz. Und das verschafft Frauen dann ganz selbstverständlich als ihnen als Bewerbern um ein Mandat Be- „Notstopfen“ auf. Ansonsten aber kanntheit und Vertrauen – was sich dann wählen die Wählerinnen und Wähler die entsprechend in Stimmen umsetzen läßt. Ortschaftsräte nach denselben Kriterien Auffallend ist zudem, daß die Gewählten wie die Gemeinderäte, die Ortschaftsräte durchweg über Grundbesitz in der Ge- werden nicht als der „minderer Gemein- meinde verfügen, in Form eines eigenen derat“ behandelt. Deutlicher ausge- Hauses, aber auch Grundbesitz über das drückt: Auch im Wissen um die geringe Wohneigentum hinaus. Bedeutung der Ortschaftsräte betrachten Insgesamt leben so im Ergebnis der Kom- die Wähler sie als etwas durchaus Eigen- munalwahlen eigentlich die Bedingungen ständiges. Als Talentschuppen, Altenteil, fort, an die jahrhundertelang das Bürger- Frauenresevat können die Gremien der recht in unseren Gemeinden geknüpft „Sublokalpolitik“ nur dort behandelt wer- war: Ortsbürtigkeit oder doch zumindest den, wo nicht der Wähler, sondern der Ge- lange Wohndauer, Grundbesitz, Selbstän- meinderat über deren Zusammensetzung digkeit, zumindest sicheres Einkommen entscheidet: im Fall der Bezirksräte in den (Beamte), Mindestalter – und männlich Großstädten. sein (Frauen wurden als nicht selbständig, Gleichzeitig mit den Kommunalwahlen da vom Manne abhängig, angesehen). Die Persönlichkeit hat Vorrang vor finden am 24. Oktober 1999 in Stutt- Diese Voraussetzungen des Bürgerrechts – der Parteizugehörigkeit gart und den Gemeinden der Landkrei- zu verstehen aus der vorindustriellen Ge- se Böblingen, Esslingen, Göppingen, sellschaft, in der die Gemeinde auch die Insgesamt zeigt sich, daß bis in die Groß- Ludwigsburg, Rems-Murr die Instanz sozialer Sicherung war – leben also städte hinein Kommunalwahlen zu einem Wahlen zur Regionalversammlung merkwürdigerweise lange nach ihrer guten Teil Persönlichkeitswahlen sind, um Verband Region Stuttgart rechtlichen Abschaffung in den Köpfen so ausgeprägter, je kleiner die Gemeinde fort und werden, zumindest teilweise, im ist. Bei all dem darf nicht aus dem Auge statt. Wer Genaueres zum Verband Re- Wahlverhalten weiter praktiziert. verloren werden, daß es in Baden-Würt- gion Stuttgart wissen will, überhaupt Eine weitere, moderne, Voraussetzung temberg gerade einmal vier Städte mit über regionale Strukturen in Deutsch- muß erfüllt sein, will man gute Chancen mehr als 200 000 Einwohnern gibt (Stutt- land, der kann das Heft haben, gewählt zu werden: Vereinsmit- gart, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg) – „Über den Kirchturmshorizont hin- gliedschaft (möglichst in mehreren Verei- das Statistische Jahrbuch Deutscher Ge- aus: überlokale Zusammenarbeit“ nen), ja mehr noch: Vereinsaktivitäten, meinden läßt erst mit dieser Einwohner- der Zeitschrift „Der Bürger im Staat“ Vereinsfunktionen. Man kann so weit zahl die Großstadt beginnen – zu Recht. (4, 1998) bei der Landeszentrale gehen und sagen, daß für die Kommunal- Demgegenüber weisen 607 der 1110 Ge- anfordern. politik die Vereine die zentrale Bedeu- meinden nicht mehr als 5000 Einwohner tung haben: für die Rekrutierung und auf. Vorbereitung der Gemeinderatskandida- Oskar W. Gabriel hat bei einer repräsenta- CDU, SPD und FDP hatten hier doppelt so ten, als Orientierungshilfe für die Wähler, viele Kandidatinnen für die Kreistage auf- für die Artikulierung von Interessen; selbst Man kann sich der Kommunalpolitik gestellt als gewählt worden sind. Im Ver- der Stil von Kommunalpolitik ist der auf auch spielerisch annähern gleich zu den Gemeinderatswahlen läßt Ausgleich und Harmonie bedachte Stil des zu Hause, in der Schule, im Seminar. sich vielleicht interpretieren: Im über- Vereinslebens. Mit dem Entscheidungsspiel, das die schaubaren Rahmen der Gemeinde haben Die Aussagen über den Zusammenhang Landeszentrale herausgegeben hat die Wählerinnen und Wähler Frauen mög- von lokaler Verwurzelung – ablesbar an licherweise eher noch ein Mandat zuge- Wohndauer, Haus- und Grundbesitz, Ver- traut als auf der unübersichtlicheren einsaktivitäten – und Wahlchancen gelten Kreisebene. am ausgeprägtesten für CDU und Freie Der Schluß daraus: Es lag weniger an den Wähler, am wenigsten für die GRÜNEN Parteien, wenn so wenig weibliche kom- (und verwandte Listen), ohne aber auch munale Mandatsträger gewählt worden dort ganz an Bedeutung zu verlieren; bei sind, als vielmehr an den Wählern – und den GRÜNEN ist zudem zu bedenken, daß man darf vielleicht hinzufügen: an den für sie auf lokaler Ebene „funktionale Wählerinnen. Wichtiger als den Parteien Äquivalente“ zum herkömmlichen Ver- und Wählervereinigungen ins Gewissen einswesen existieren in Form von Bürger- zu reden, wird in Zukunft sein, sich beson- initiativen, Selbsthilfeeinrichtungen etc. ders der Wählerinnen und Wähler anzu- nehmen, nicht zuletzt auch im Bereich der Kein abweichendes Profil der politischen Bildung. Parteien und Wähler- Ortschaftsräte vereinigungen hatten trotz anders gear- teter Wählererwartungen Frauen aufge- In den Gemeinden mit Ortschaftsverfas- Petra, Paul & Co stellt, und zwar auf passablen Plätzen. Sie sung sind am 12. Juni 1994 auch die Ort- Ein freches Spiel über Entscheidungen hatten dabei in Kauf genommen (und es schaftsräte neu bestellt worden. Denkbar in der Gemeinde für 4 bis 10 Spieler dann auch erleben müssen), daß die wäre, daß die Ortschaftsräte genutzt wür- ab 13 Jahren. Mit 25 City-Teilen, Wähler – und die Wählerinnen – ihnen das den, um hoffnungsvollen jungen Leuten 55 Spielkarten, Sanduhr, Spielanleitung nicht immer honorierten. ein Übungsfeld für eine spätere Tätigkeit und jede Menge Spielfiguren, Steine im Gemeinderat zu bieten, quasi also als und Würfel. Die Auswahlkriterien scheinen „Talentschuppen“. Genauso denkbar Zu bestellen bei der Landeszentrale traditionell zu sein wäre es, die Ortschaftsräte zu nutzen, um für DM 14,90 zuzüglich Versandkosten bewährten alten Gemeinderäten den Ab- (außerhalb Baden-Württembergs Gemeinderatsmitglieder in Baden-Würt- schied aus der Kommunalpolitik zu er- DM 29,80). temberg zeichnen sich dadurch aus, daß leichtern, quasi also als „Altenteil“. Beides

182 tiven Befragung der Stuttgarter festge- rung versus Parteiorientierung ließe sich hen. Wissenschaftlicher gefolgert: In der stellt, daß nur wenige von ihnen die so auflösen, daß man die Parteizugehörig- Kommunalpolitik hat sich das politische Namen von Stadtratsmitgliedern nennen keit, deren Art und Intensität, als einen System noch nicht durchweg vom sozialen können. Daraus schließt er, es gebe mithin Bestandteil der Persönlichkeitsmerkmale System getrennt. auch keine Persönlichkeitsorientierung ansieht – freilich als einen unter anderen! Die Gemeindeverfassung Baden-Würt- beim kommunalen Wahlverhalten. Zu die- Wenn also für das konkrete Wahlergebnis tembergs ist gekennzeichnet durch einen sem Schluß kann man allerdings nur kom- die Persönlichkeitsmerkmale der Kandida- starken Bürgermeister, der zugleich Rats- men, wenn man den Namen als einziges ten ausschlaggebend sind, genauer: die vorsitzender, Verwaltungschef und Ver- Persönlichkeitsmerkmal gelten läßt, Anforderungen, die der Wähler an sie treter der Gemeinde nach außen ist. Seine Namen und Persönlichkeitsmerkmale in stellt und die Bestandteile, die er für wich- Stellung wird noch dadurch zusätzlich ge- eins setzt, was in meinen Augen unzuläs- tig hält –, dann sind sie Ausfluß einer be- stärkt, daß er sein Amt der Direktwahl sig ist. Persönlichkeitsmerkmale sind Aus- stimmten regionalen oder lokalen politi- durch die Bürger selbst verdankt. Diese bildung, Beruf, Alter, Geschlecht und nicht schen Kultur. wiederum achten bei ihrer Wahl sehr zuletzt Stadtteilansässigkeit, die zur Ori- Spricht man mit Vertretern von Parteien genau auf die Qualifikation der Bewer- entierung der Wählerinnen und Wähler über das Ergebnis der jüngsten Kommu- ber: Wichtig sind dabei für sie Verwal- dienen können. Und siehe da: im 60köpfi- nalwahlen, machen sich gelegentlich Ent- tungserfahrung, Bereitschaft zu unbüro- gen Stuttgarter Stadtrat sind 11 Mitglie- täuschung und Ratlosigkeit bemerkbar: kratischem Handeln, Einfallsreichtum, der, also 18,3%, z. B. aus Bad Cannstatt, Der Wähler – und die Wählerin – erschei- Durchsetzungsfähigkeit, Distanz zu den obwohl dieser Stadtbezirk nur 11,3% der nen ihnen unberechenbar. Nicht die bishe- Parteien und den Gruppierungen am Ort. Stuttgarter Einwohner stellt. Die Stadt- rige Leistung im Gemeinderat, nicht die Gemeinderäte, die nach den aufgezeigten teilsorientierung bei der Wahl scheint Qualität des Wahlkampfes, des dort vor- Kriterien gewählt worden sind, passen um so ausgeprägter zu sein, je älter, ge- gelegten Programms, nicht die Qualifika- gut in das System, sind funktional: Sie ver- wachsener und selbstbewußter ein Ge- tion der Bewerber für die Funktion im Ge- fügen über ausgeprägte lokale Bodenhaf- meindeteil ist. Zwei der Stuttgarter meinderat, erst recht nicht die Tätigkeit in tung, können mit ihrem Ansehen die Ent- Gemeinderäte, auch noch gleichen Na- der und für die Partei haben den Aus- scheidungen des Rathauses nach außen mens, sind Wengerter und Inhaber einer schlag für die Wahl gegeben, sondern das vermitteln, sind bereit, auch über die Par- Besenwirtschaft, einer aus Cannstatt und Ansehen der Berwerber, das aus ganz an- teigrenzen hinweg zu kooperieren – einer aus Uhlbach, auch das dürfte eine deren Bereichen stammt, wie etwa aus wovon nicht zuletzt auch solche Bürger- haushohe Überrepräsentierung sein – der beruflichen Stellung, aus bürgerlicher meister profitieren, die als Parteilose oder aber eben auch Ausdruck der Wertschät- Wohlanständigeit, persönlichem Vertrau- als Angehörige einer Minderheitspartei zung für einen besonderen Berufsstand, en usf. Das Gemeinderatsmandat er- am Ort gewählt worden sind. letztlich eine Persönlichkeitsorientierung. scheint somit oft als eine „kommunale Der Gegensatz: Persönlichkeitsorientie- Verdienstmedaille“, die die Bürger verlei-

Literatur zum Thema: Kommunales Wahlverhalten

Czarnecki, Thomas In der kommunalen Wahlforschung kon- nalen Wahlverhaltens. Nach diesem Mo- Kommunales Wahlverhalten. Die Existenz kurrieren zwei Hypothesen miteinander. dell bestimmen generelle, kontextuelle und Bedeutsamkeit kommunaler Determi- Oscar W. Gabriel hat sie treffend als Kon- und kommunale Faktoren das Wahlver- nanten für das Wahlverhalten. Eine empi- vergenz- und Divergenzhypothese be- halten. Generelle Faktoren sind system- rische Untersuchung am Beispiel Rhein- zeichnet. Nach der Konvergenzhypothese ebenenunabhängig und beeinflussen das land-Pfalz. München 1992 (These von der Parteienwahl), die auf Paul Wahlverhalten auf allen drei System- Kevenhörster zurückgeht, ist kommunales ebenen gleichermaßen, z.B. die Sozial- Gabriel, Oscar W. / Brettschneider, Frank / Wahlverhalten bloß Reflex eines ein- oder Konfessionsstruktur. Die kontextuel- Vetter, Angelika (Hrsg.) heitlichen Wahlverhaltens auf allen Sy- len Determinanten bezeichnen lokalspezi- Politische Kultur und Wahlverhalten in stemebenen. Unterschiedliche Wahler- fische Besonderheiten, wie z.B. Ortsgröße einer Großstadt. Westdeutscher Verlag gebnisse sind danach lediglich Folge un- oder örtliche Wirtschaftsstruktur. Opladen 1997 terschiedlich hoher Wahlbeteiligung auf Auch sie wirken sich auf alle drei System- In manchen Zweigen der Politikwissen- Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. ebenen gleich aus. Die kommunalen Fak- schaft bewegt sich der Erkenntnisfort- Nach der Divergenzhypothese (These von toren dagegen beeinflussen nur die un- schritt im Schneckentempo. Dazu gehört der Persönlichkeitswahl), die vor allem terste Systemebene. Sie stehen für die auch die kommunale Wahlforschung. Das von Löffler/Rogg und Wehling vertreten systemebenenabhängigen Bestimmungs- ist erstaunlich, weil Wahlforschung im all- wird, stehen bei Kommunalwahlen kom- größen. Beispiel dafür ist das Kommunal- gemeinen zu den Lieblingskindern der Po- munale Faktoren im Vordergrund der wahlrecht mit seinen besonderen Mög- litikwissenschaft zählt und es wahrschein- Wahlentscheidung. Hauptfaktor unter lichkeiten für die Wähler (z.B. Kumulieren lich keinen anderen Bereich politischen den kommunalen Faktoren ist die Kan- und Panaschieren). Daraus folgt: Je stär- Verhaltens gibt, der so gut ausgeleuchtet didatenorientierung. Sie wird in diesem ker der Einfluß genereller und kontextuel- ist wie das Verhalten bei Wahlen zum Konzept im großen und ganzen als ler Faktoren, desto schwächer die Rolle und zu den Landtagen. Dass systembedingte Folge des kommunalen der kommunalen Determinanten, und die kommunale Wahlforschung Mauer- Wahlrechts verstanden. Dagegen kommt umgekehrt. Mit Hilfe einer Regressions- blümchen spielen muß, ist unverständlich. der Parteiidentifikation und der Themen- analyse überprüft Czarnecki seine Hypo- Gerade die kommunale Ebene betrifft die orientierung ein nur relativ geringes Ge- these von der Existenz eines system- Bürger unmittelbar und in ihrem Alltag. wicht zu. ebenenabhängigen Wahlverhaltens und Folglich müßte das Verhalten der Bürger Czarnecki geht in seiner Studie „Kommu- kommt zu dem Ergebnis, daß vieles für die bei Wahlen auf dieser Politikebene ei- nales Wahlverhalten“ von der Grundhy- Existenz wahlentscheidender kommuna- gentlich von besonderem Interesse sein. pothese aus: Das Wahlverhalten auf kom- ler Determinanten spreche. Bestätigt sieht Vor diesem Hintergrund ist jeder fundier- munaler Ebene ist nicht bloß Abbild des Czarnecki auch die Hypothese, nach der te und qualitativ angemessene Beitrag zur Wahlverhaltens auf Bundes- und Landes- die Wirksamkeit kommunaler Determi- Erkundung der Bestimmungsgründe kom- ebene, sondern stellt einen eigenständi- nanten von der persönlichen Bekanntheit munalen Wahlverhaltens willkommen gen Verhaltensbereich dar. Überprüft der Kandidaten abhänge. Nur unter der und wertvoll. Insofern verdienen auch die wird diese Hypothese mit Hilfe einer Bedingung der persönlichen Bekanntheit Untersuchungen von Thomas Czarnecki Aggregatdatenanalyse der rheinland- könnten Persönlichkeitsfaktoren die und der um Oscar W. Gabriel gescharten pfälzischen Kommunalwahlen von 1979, Wahlentscheidung der einzelnen Wähler Autoren Beachtung und kritische Auf- 1984 und 1989. Czarnecki verwendet das stärker beeinflussen als Parteiidentifika- merksamkeit. Modell der drei Determinanten kommu- tion und Themenorientierung. Bestätigt

183 wurde diese Hypothese zum ersten Mal in Bürgern. Im Abschnitt „Politische Einstel- derem daran zu erkennen, daß „die der Untersuchung kommunalen Wahlver- lungen“ wird der Frage nachgegangen, Wähler die Chance, einmal über die bloße haltens von Löffler/Rogg, 1985. Wobei, so ob sich in Stuttgart lokalspezifische Mu- Wahl einer Partei hinausgehend mitbe- sei hinzugefügt, dem Attribut „persön- ster politischer Orientierung nachweisen stimmen zu können, ausgiebig nutzen.“ lich“ eine weite Auslegung zukommt. Per- lassen und wie sich Wertorientierungen, Völlig zurecht wiederholt Henke die schon sönlich bekannt muß nicht heißen, daß Ideologien und Politikpräferenzen auf der früher vorgebrachte Kritik am Kommunal- die Wähler ihre Kandidaten auch tatsäch- kommunalen Ebene auswirken. Der von wahlrecht, das mit seinen Möglichkeiten lich persönlich kennen. Der Faktor„per- Frank Brettschneider und Katja Neller ver- des Kumulierens und Panaschierens eine sönliche Bekanntheit“ ist bereits dann faßte Beitrag über Art und Umfang der kompetente Personalpolitik der Ortspar- vorauszusetzen, wenn Wähler ein eigen- Mediennutzung macht klar, daß die lokale teien erschwere, wenn nicht gar unmög- ständiges Bild von den Bewerbern, eine ei- Presse Dreh- und Angelpunkt der kommu- lich mache. Zurecht weist Henke darauf gene Vorstellung vom Persönlichkeitspro- nalpolitischen Informationsvermittlung hin, daß es sichere Listenplätze für die fil der einzelnen Kandidaten haben. Ein- und Meinungsbildung ist und bestätigt Kommunalwahlkandidaten im Prinzip geschränkt wird die Aussagekraft der Ar- damit die Befunde früherer Untersuchun- nicht gebe, weil Popularität meist wichti- beit Czarneckis dadurch, daß die Ergebnis- gen. Im Mittelpunkt des Abschnittes ger sei als politische Befähigung und Sach- se seiner Untersuchung ausschließlich auf „kommunales und nationales Wahlverhal- verstand. Und dennoch, so Henke ein Aggregatdaten basieren. Folglich läßt ten“ steht die von Oscar W. Gabriel ge- wenig ratlos zum Schluß seines Beitrages, seine Untersuchung keine Aussagen über stellte Frage, ob es Eigengesetzlichkeiten zögen in der Regel die bestplazierten die Motive, Einstellungen und Entschei- des kommunalen Wahlverhaltens gebe. Kandidaten in die kommunalen Volksver- dungsgründe der einzelnen Wähler zu. Gabriel eröffnet seinen Beitrag mit der tretungen ein. Grund dafür ist, so sei Das schmälert aber in keiner Weise Feststellung, in Anbetracht der Unkennt- ergänzend angemerkt, nicht der Listen- Czarneckis Verdienst, einen wichtigen nis über individuelle Motive der Stimmab- platz. Es ist vielmehr die Tatsache, daß die Beleg für die Existenz eines eigenständi- gabe bei Kommunalwahlen sei es erstaun- populären und persönlichkeitswahlstar- gen Wahlverhaltens auf der kommunalen lich, daß Löffler/Rogg zu dem Ergebnis ken Kandidaten – obwohl sie es, bezogen Ebene im Sinne der Divergenzhypothese hätten kommen können, in Baden-Würt- auf ihren persönlichen Wahlerfolg, gar geliefert zu haben. Schade nur, daß die temberg gebe es ein spezifisch kommuna- nicht nötig haben – fast immer auf die Czarnecki-Studie vergriffen ist. les Wahlverhalten. Von Unkenntnis kann besten Plätze nominiert werden, um dort Ein beachtenswerter Beitrag zur Er- freilich keine Rede sein, haben doch die sichtbar zu sein und ihre Rolle als Wahl- klärung kommunalen Wahlverhaltens mit genannten Autoren in ihrer Untersuchung stimmenfänger um so besser spielen zu dem Titel „Politische Kultur und Wahlver- die empirische Bestätigung der Hypothese können. halten in einer Großstadt“ stammt von eines eigenständigen Wahlverhaltens auf Der letzte Abschnitt unter dem Titel einer Forschergruppe an der Universität kommunaler Ebene erbracht. Trotzdem „Ratsmitglieder“ nimmt das Verhältnis Stuttgart unter Leitung von Oscar W. Ga- verteidigt Gabriel die Konvergenzhypo- von Bürgern und Gemeinderäten ins Vi- briel. Beachtenswert, auch wenn sich die these, die am Ende seiner Argumentation sier. Nach einem Blick auf die soziale Her- Untersuchungsergebnisse der einzelnen allerdings im Gewande einer modifizier- kunft, die Wertorientierungen und die Autoren gelegentlich widersprechen. Auf- ten Konvergenzhypothese daherkommt. ideologischen Einstellungen der Stuttgar- schlußreich, auch wenn sich die Untersu- Gabriels unbeirrte wie zugegebener- ter Gemeinderäte werden die Politikprä- chungsergebnisse nur sehr beschränkt maßen geschmeidige Verteidigung der ferenzen von Bürgern und Gemeinderä- verallgemeinern lassen, weil die Verhält- Konvergenzhypothese verblüfft deshalb ten verglichen. Der Vergleich kommt zu nisse in der Untersuchungsstadt Stuttgart ein wenig, weil Mitglieder seiner eigenen dem Ergebnis, daß die Präferenzen von nicht repräsentativ für die baden-würt- Forschergruppe Belege für die Richtigkeit Volk und Volksvertretern außergewöhn- tembergischen Gemeinden sind. Der Sam- der Divergenzhypothese präsentieren. So lich stark übereinstimmten. melband hat drei thematische Schwer- konstatiert etwa Andreas Henke, daß Schlußbemerkung: Auch hier, wie häufig punkte: die politischen Einstellungen der selbst die Gemeinderatswahlen in Stutt- bei wissenschaftlichen Büchern, denen Wähler, das kommunale und nationale gart (und Stuttgart ist absolut untypisch eine weitere Verbreitung zu wünschen Wahlverhalten sowie Sozialprofil und poli- für die Verhältnisse im Land) noch minde- ist, ist der Preis (78 DM) ein Ärgernis. Er tische Einstellungen der Stuttgarter Ge- stens teilweise den Charakter einer Per- macht das Buch leider zu einer Lektüre für meinderäte und deren Verhältnis zu den sönlichkeitswahl tragen. Das sei unter an- Besserverdienende. Berthold Löffler

184 beit erhebt den Anspruch, einen „Beitrag zur Theoriebildung einer sozialwissen- schaftlichen Hermeneutik auf einer Mikro- Das politische Buch und Makroebene“ (S. 14) zu leisten. Die Struktur der Arbeit gliedert sich in mehrere, z.T. recht umfangreich darge- stellte Entwicklungsschritte. In einem er- sten Schritt werden grundlegende fach- Auf der Suche nach der politischen Das Buch enthält eine überreiche Fülle an didaktische Positionen referiert. Leitende Solidarität Informationen, die der Autor sehr behut- Fragestellung ist es, unterschiedliche Auf- sam präsentiert, denn er weiß sich dem fassungen darüber herauszuarbeiten, Martin Greiffenhagen Prinzip Offenheit verpflichtet. Er zeigt welchen Zielvorstellungen politische Parti- Politische Legimität in Deutschland durchgängig auf, wo zu den Sachverhal- zipation im Rahmen politischer Bildung Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh ten und Problemen noch keine oder un- dienen sollte und wie diese Ziele durch die 1997 terschiedliche empirische Forschungser- Vermittlung entsprechender Kompeten- Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für gebnisse vorliegen und wie die vorliegen- zen erreicht werden können. politische Bildung den Ergebnisse unterschiedlich vorliegen Im Folgeschritt referiert der Autor rele- Bonn 1998, 508 S. und wie die vorliegenden Ergebnisse un- vante Positionen der Partizipationsfor- terschiedlich interpretiert und gedeutet schung. Da neben einer Vielzahl von Fak- Mit diesem Buch setzt Martin Greiffenha- werden. Besonders aufschlußreich ist sein toren bekanntlich auch die Einstellung ge- gen seine Arbeiten zur politischen Kultur, Verfahren, wenn er die politischen Kultu- genüber einer in Frage stehenden Beteili- die er mit Sylvia Greifenhagen veröffent- ren in Ost- und Westdeutschland betrach- gungsform einen gewichtigen Ausschlag licht hat, fort, z.B. „Ein schwieriges Vater- tet. für die tatsächliche politische Entschei- land. Zur politischen Kultur im vereinigten Leider läßt Greiffenhagens Darstellung dung spielt, werden im weiteren Fortgang Deutschland“ (1993). Das neue Werk „ist nicht immer den stringenten Bezug zum Forschungsansätze der politischen Kultur Bestandteil des Projektes ,Geistige Orien- eigentlich leitenden Aspekt, zur Frage sowie ausgewählte empirische Befunde tierung’ der Bertelsmann Stiftung“. Die nach der Legitimität, erkennen. Gar zu oft und Erklärungsansätze der Wertewand- Stiftung hatte Greiffenhagen beauftragt, läßt sich der politische Kulturforscher sehr lungsforschung vorgestellt. Angereichert „eine Einschätzung von Trends, Chancen breit aus, er hat allerdings immer Interes- mit Erkenntnissen, die sich aus der Erfor- und Risiken für die Entwicklung politi- santes und Bedenkenswertes zu berich- schung neuer sozialer Bewegungen erga- scher Kultur Deutschlands unter legitima- ten. ben, und unter Zuhilfenahme des Lebens- torischen Gesichtspunkten vorzuneh- Das Buch ist eine Fundgrube zu vielen we- welt- und Milieu-Ansatzes (Bordieu, Ve- men.“ (S. 50) Daraus habe sich für ihn die sentlichen Themen, die in der politischen ster, Flaig u.a.) werden in einer ersten Ge- Stoffauswahl ergeben. Bildung behandelt werden oder behan- samtschau die Dimensionen veränderter Gleich zu Beginn betont Greiffenhagen: delt werden sollten. Jeder, der politische politischer Partizipation zu erfassen ver- „Das Thema ,Politische Legitimität’ ent- Bildung lehrt, sollte es kennen und hinein- sucht (S. 142). „Die in den 70er und 80er stammt der Erfahrung ihrer Krise.“ Dieses sehen, bevor er sich ein Thema vornimmt. Jahren entstandenen Bürger und Protest- Buch hat „Legitimätsdefizite zum Gegen- Dies wird auch deshalb empfohlen, weil in bewegungen sind Ausdruck und Ergebnis stand: gegenwärtig erfahrbare und für der politischen Bildung die Tendenz zu veränderter Ansprüche und Erwartungen die Zukunft drohende.“ (S. 23) beobachten ist, sich auf griffige, umfas- an das politische System. Politische Partizi- Die Darstellung wende im wesentlichen sende Theorien festzulegen, wie die der pation ist dadurch sehr viel stärker punk- David Eastons empirisch orientiertes For- „Risikogesellschaft“ oder des „kommuni- tuell, auf einzelne Problembereiche kon- schungskonzept an, in dem Legitimität tativen Handelns“. Greiffenhagen zeigt zentriert, situations- und kontextabhän- entweder eine Dimension politischer Un- deren relative Leistungsfähigkeit und gig. Die Formen politischer Partizipation terstützung sei oder diese selbst darstelle stellt ihnen plausible Gegenpositionen ge- werden stärker vor dem Hintergrund der (S. 45). Dementsprechend fragt Greiffen- genüber. Walter Fehling eigenen Lebenswelt aus betrachtet, aus hagen unter dem die empirische For- deren unmittelbarer Betroffenheit heraus schung leitenden Gesichtspunkt nach der dann gehandelt wird. [...] Es werden die Stabilität des politischen Systems. Antwor- Handlungsformen bevorzugt, die unmit- ten sucht er in den Feldern legitimatori- Politische Partizipation telbaren, kurzfristigen Erfolg versprechen scher Unterstützung: politische Gemein- und die Möglichkeiten bieten, die eige- schaft mit der Überschrift „Patriotismus“. Hermann Trinkle: nen Interessen einzubringen. Ein auf lang- Daran schließt er den Themenkreis „Eliten Veränderungen politischer Partizipation. fristige Veränderungsprozesse hin orien- – Politische Klasse – Prominenz – Reputa- Entwicklung eines erweiterten Analyse- tiertes Engagement in verfaßten organi- tion und ,Think tanks‘ (S. 48) an. Den The- und Interpretationsmodells und dessen satorischen Strukturen nimmt demge- menkomplex „politische Ordnung“ teilt Bedeutung für die politische Bildung genüber ab.“ (S. 142) er in „Wohlfahrtsstaat“ und „Bürgerge- Frankfurt a.M. 1997, Peter Lang Verlag, Im Abschluß an diese Bilanzierung ent- sellschaft“ auf. Zunächst behandelt er 422 S. wickelt Trinkle sein eigentliches Analyse- aber in einem besonderen Kapitel die Fa- modell zur Beschreibung und Erfassung milie und die Schule, weil in diesen Institu- Das Grundverständnis politischer Partizi- politischer Partizipationsformen. Erneut tionen wichtige Grundlagen für die politi- pation hat sich in der Bundesrepublik werden mehrere theoretische Bezugs- sche Legitimität gelegt werden. Erst da- nach 1945 nachhaltig verändert. Nicht nur punkte hierzu herangezogen. Mit den Be- nach wendet er sich dem politischen Sy- die Einstellungen zu den politischen Insti- grifflichkeiten der Systemtheorie (Parsons, stem im engeren zu, der „Bürgergesell- tutionen, den Verfahren der Entschei- Luhmann) wird politische Partizipation schaft“ und dem „Staat“, weil es ihm sinn- dungsfindung und Legitimation wandel- vornehmlich unter der Perspektive der Sy- voll erscheint, erst einmal die „beunruhi- ten sich, auch die Formen politischer Be- stemdifferenzierung erläutert. Für die genden Ergebnisse in den ökonomischen teiligung haben sich geändert. weitere begriffliche Präzision, die eine und sozialen Räumen, die zunehmend als Ziel der vorliegenden Dissertation ist es, Verbindung zwischen Systemwelt und Le- Ressourcen für politische Legitimität gel- die Veränderungen politischer Beteili- benswelt herzustellen vermag, wählt Trin- ten müssen“ (S. 50), vorzustellen. In einem gung unter verschiedenen Perspektiven kle die „Theorie kommunikativen Han- weiteren Kapitel befaßt sich Greiffenha- zu untersuchen, um somit zu einem erwei- delns“ (Habermas), die eine Verbindung gen mit „politischer Legitimität in Ost- terten Analyse- und Interpretationsmo- zwischen sprachtheoretischen und sozio- und Westdeutschland“. Im Schlußkapitel dell zur Erfassung politischer Partizipa- logischen Fragestellungen erlaubt. Somit wägt er im Blick auf die Zukunft „Chancen tionsformen zu gelangen. Hierzu werden wird nicht nur die didaktische Ergiebigkeit und Risiken“ für Legitimität ab. Ein An- unterschiedliche politikwissenschaftliche dieser Theorie, die einen Weg bietet, le- hang bietet einen Materialteil, ein Litera- Perspektiven und wissenschaftstheoreti- bensweltliche Ansätze für Systembezüge turverzeichnis und ein Sachregister. sche Paradigmen herangezogen. Die Ar- zu öffnen, erkannt, sondern auch die für

185 den letzten Theoriebaustein notwendige hend eine gedankliche Konstruktion, die schichte der europäischen Integration. Sie Voraussetzung geschaffen: die Verbin- erst noch falsifiziert und verifiziert wer- beleuchtet nicht nur die Zeit nach 1945, dung von Mikro- und Makrotheorie. Auf den muß“. (S. 402) Die Arbeit macht je- sondern reicht bis ins frühe Mittelalter sprachwissenschaftlicher Grundlage wird doch deutlich, daß gerade im Bereich sy- zurück und betrachtet auch die ideellen ein Kommunikations- und Handlungsbe- stemreformierender und systemkritischer und kulturellen Grundlagen einer Eini- griff entwickelt, mit dessen Hilfe auf der Beteiligungsformen die Untersuchung des gung der europäischen Völker. Darüber Mikroebene eine adäquate Beschreibung Prozesses sowie der Artikulations- und hinaus geht sie auf aktuelle Probleme der und Interpretation politischer Beteili- Kommunikationsformen noch ein wichti- EU-Politik ein und bringt eine Liste mit gungsformen erfolgen kann. Die ausführ- ges, weil weitgehend unerfülltes For- weiterführenden Literaturhinweisen. An- liche Darstellung sprachpragmatischer schungsdesiderat ist. Ohne das ernstge- schließend folgt eine ausführliche, von und sprachsoziologischer Ansätze mündet meinte Anliegen des Autors und den In- Heinz Schmitz zusammengestellte Zeitta- in die drei Grundmodelle der systemi- halt der Dissertation schmälern zu wollen, fel der europäischen Einigung seit 1923. schen, systemreformierenden und system- sei abschließend noch angemerkt, daß Neu in der zweiten Auflage sind Portraits kritischen Partizination (S. 278). Unter eine inhaltliche Verdichtung zur Lese- der 15 EU-Länder. Sie informieren auf je- dem Begriff systemische Partizipation freundlichkeit beigetragen hätte. weils zwei Seiten über deren Geschichte, werden alle durch eine staatliche und ver- Siegfried Frech politisches System und Parteien und ent- fassungsmäßige Organisationsform gege- halten Grunddaten über die Bevölkerung benen Möglichkeiten der Mitbeteiligung sowie die wirtschaftliche und soziale Si- und Mitbestimmung erfaßt. Systemrefor- tuation. mierende Partizipation soll all die Prozes- Die Europäische Union Das Kernstück des Buches ist das 543 Sei- se kennzeichnen, die auf eine Verände- in 1000 Stichwörtern ten umfassende Lexikon. Ein 37seitiges rung des politischen Thematisierungspro- Register, das nicht nur auf dessen Stich- zesses mit der Perspektive zielen, verän- Wolfgang W. Mickel (Hrsg.) wörter, sondern auch auf die historische derte Verfahren der Entscheidungsfin- Handlexikon der Europäischen Union Darstellung, die Zeittafel und die Länder- dung zu erreichen. Systemkritische Partizi- 2. überarbeitete und erweiterte Auflage portraits verweist, rundet den Band ab. pation dagegen setzt grundlegender an Omnia-Verlag Köln, 1998, 680 Seiten, Der Lexikonteil überzeugt durch seine den bestehenden Wert-, Norm- und Ord- 44 DM (kartoniert), 58 DM (gebunden) Vielseitigkeit Neben Artikeln über Orga- nungsvorstellungen an und versucht, Redaktionsschluß: Ende Juni 1998 ne, Institutionen und Entscheidungsver- diese zu verändern. Für jedes Grundmo- fahren der EU finden sich Beiträge über dell identifiziert Trinkle die relevanten Noch nie stand die Europäische Union Politikbereiche und politische Aktionspro- Kommunikations- und Interaktionskom- hierzulande dermaßen im Zentrum des öf- gramme. Internationale Organisationen, petenzen und begründet die definitori- fentlichen Interesses wie in den letzten die für die EU von Bedeutung sind, wer- sche Entscheidung in Abgrenzung zu den Monaten. Vor allem die am 1. Januar 1999 den ebenso berücksichtigt wie europapo- anderen Grundmodellen. Im Folgeschritt in Kraft getretene Währungsunion mit litische Vereinigungen und Personen mit werden die drei Grundmodelle sowie die ihren Unwägbarkeiten erhitzte im Vorfeld besonderer Bedeutung für den europäi- notwendigen Kompetenzen am Beispiel die Gemüter und rief Ängste vor einem schen Integrationsprozeß. Ferner werden der Friedensbewegung der 80er Jahre ex- „Verlust“ der „harten“ D-Mark als Symbol Fachbegriffe aus dem Sprachschatz von emplarisch dargestellt. für den wirtschaftlichen Erfolg der Nach- Politikern und EU-Beamten erläutert. Die Der abschließend didaktische „Appendix“ kriegs-Bundesrepublik hervor. Die Be- Länge der Artikel richtet sich nach der Be- mag ein Zugeständnis an die Pädagogi- trugs- und Korruptionsaffären in der EU- deutung und Vielschichtigkeit des Gegen- sche Hochschule sein, an der Trinkle sein Kommission setzten das Europäische Par- stands: so umfaßt der Beitrag über das Eu- Promotionsstudium absolvierte, stellt aber lament ins Rampenlicht der Öffentlichkeit ropäische Parlament fast neun Seiten, einen inhaltlichen Bruch im Gesamtbild und führten Millionen Fernsehzuschauern während derjenige zum Konzept eines der Arbeit dar und bietet den hinlänglich und Zeitungslesern dessen Kontrollaufga- „Europa der Vaterländer“ nur zehn Zeilen bekannten fachdidaktischen Diskussions- be und damit auch dessen Bedeutung vor lang ist. In vielen Fällen ergänzen Litera- stand. Die Forderung, System- und Le- Augen. Die neue rot-grüne Bundesregie- turhinweise und Adressen die Erläute- benswelt als zentrale Bezugspunkte politi- rung hält im ersten Halbjahr 1999 die rungstexte. Einige größere Artikel enthal- scher Bildung zu erklären, greift das be- Ratspräsidentschaft und wird an ihren Er- ten auch Schaubilder oder Tabellen. kannte „Brückenproblem“ (Gagel, Rich- folgen bei der Vorbereitung des Reform- Das breite Spektrum von Stichwörtern er- ter) auf. Die Forderung, daß es für die Ge- pakets „Agenda 2000“, das den Weg für laubt es, bestimmte Aspekte der europäi- staltung politischer Lehr- und Lernprozes- die Osterweiterung der EU ebnen soll, ge- schen Politik systematisch zu erschließen. se grundlegend ist, zwischen der explizi- messen werden. Allem Anschein nach Wer beispielsweise Näheres über das Pro- ten Bezugnahme auf die Lebenswelt des wird die integrationspolitische Debatte gramm „Agenda 2000“ zur Reform der Alltags bzw. Milieuwelt und der soge- vor der Europawahl am 13. Juni noch Agrar- und Strukturpolitik der EU wissen nannten Systemorientierung einen Spa- einen Schub erhalten. Vieles von dem, was möchte, kann zunächst unter „Agenda gat herzustellen, verweist auf das didakti- in den Medien über die EU und ihre Politik 2000“ nachschlagen. Hier findet er auf sche Problem der zu schlagenden berichtet wird, bleibt aber selbst europa- drei Seiten Informationen über die ge- „Brücke“ zwischen Lebenswelt und Poli- politisch Interessierten unklar. Trotz inten- plante Umgestaltung der Agrarpolitik tik. Die etwas mißverständliche Forderung siver Berichterstattung herrscht also ein sowie der Struktur- und Kohäsionsfonds. von Trinkle nach einer Repolitisierung po- großes Informationsdefizit. Der Artikel setzt jedoch einiges an Vorwis- litischer Bildung meint in diesem Zusam- Hier setzt das von Wolfgang W. Mickel sen voraus und ist ziemlich akademisch menhang die didaktische Beachtung zen- herausgegebene „Handlexikon der Eu- geschrieben. Bei Begriffen wie ,interinsti- traler Inhaltsdimensionen des Politischen ropäischen Union“ an, das nun in einer tutionelle Vereinbarung“, „Ausfuhrerstat- (Massing, Kuhn). überarbeiteten und auf rund 1000 Stich- tungen“, „Verordnung“, „Subsidiarität“ Der Autor merkt selbst an, daß der vorlie- wörter erweiterten Neuauflage erschie- und „INTERREG“ wird zwar mittels Pfeil gende Stand der Ausarbeitung noch nicht nen ist. Gegenüber der ersten Auflage auf die entsprechenden Stichwörter im hinreichend differenziert genug ist, damit von 1994 wurden etwa 200 Stichwörter Lexikon verwiesen. Begriffe – wie „Heran- operationalisierbare Einzelfragestellun- neu aufgenommen, viele Artikel wurden führungshilfe“, „Preisstützung“, „Direkt- gen für eine empirische Untersuchung di- aktualisiert und an die Veränderung der zahlung“, „Gemeinschaftsinitiativen“ und rekt abgeleitet werden können. Interes- Rechtslage durch den Vertrag von Amster- „mid-term-review“ werden aber nicht un- sant erscheint die Frage, ob das entwickel- dam angepaßt. Insgesamt 50 Autoren aus mittelbar erklärt und sind auch nicht mit te Analyse- und Interpretationsmodell auf Universitäten, EU-Institutionen, Ministeri- einem Verweispfeil versehen. Weniger andere politische Beteiligungsformen en und internationalen Organisationen sachkundige Zeitungsleser, Radiohörer übertragbar ist. Obwohl verschiedene An- waren an dem Werk beteiligt. und Fernsehzuschauer dürften daher aus wendungs- und Politikfelder aufgezeigt Am Anfang des Buches steht eine – not- dem Artikel bald„aussteigen“. Wer die werden, bleibt das vorgestellte Analyse- wendigerweise kursorische – 30seitige, Geduld aufbringt, unter ,,Heranführungs- und Interpretationsmodell „noch weitge- von Mickel verfaßte Einführung in die Ge- strategie“ nachzusehen, wird auf „Oster-

186 weiterung der EU“ verwiesen und erhält fahren“. Separate Artikel geben außer- Das Buch ist sehr übersichtlich aufgebaut. dort die gewünschte Auskunft. „Gemein- dem über das Demokratiedefizit sowie Einem allgemeinen Literaturverzeichnis, schaftsinitiative“ ist als separates Stich- über Legitimationsprobleme bei der das Standardwerke zum Europarecht und wort vorhanden. Die übrigen drei Begriffe immer umfangreicheren Gesetzgebungs- Monographien zum Amsterdamer Vertrag sind weder im Lexikonteil noch im Regi- tätigkeit der EU Auskunft. enthält, folgen ein Abkürzungsverzeichnis ster zu finden. Alles in allem überzeugt sowohl das ge- und eine Einführung des Generalanwalts Bleibt die Möglichkeit, unter „Gemeinsa- samte Buch als auch der Lexikonteil durch am Europäischen Gerichtshof und früheren me Agrarpolitik“, „Fonds der EU“ und seine Vielseitigkeit und seinen übersichtli- CDU-Europaabgeordnetne Siegbert Alber. „Strukturpolitik“ nachzuschlagen. Der chen Aufbau. Die thematische Vielfalt der Den Kern des Bandes bilden 20 Kapitel zu vier Seiten lange Beitrag zur Gemeinsa- Stichwörter ist ein großes Plus des Bandes. einzelnen Aspekten der Politik und des po- men Agrarpolitik ist verständlicher ge- Die rechtlichen Neuerungen durch den litischen Systems der EU. Jedes von ihnen ist schrieben und übersichtlicher aufgebaut. Vertrag von Amsterdam sind in die Texte in drei Unterkapitel gegliedert. Nach einer Er geht nicht nur auf die Grundsätze, Ziele eingearbeitet. Leider hapert es bei vielen Erläuterung der bisherigen Rechtslage wer- und Instrumente der EU-Landwirtschafts- Beiträgen an der Allgemeinverständlich- den jeweils die Neuerungen durch den Am- politik ein, sondern auch auf deren nega- keit: politisch interessierte „Normalbür- sterdamer Vertrag analysiert. Schließlich tiven Folgen; er bringt einige Beispiele ger“ werden teilweise große Schwierig- werden diese vor dem Hintergrund der in- und gibt Informationen zur „Agenda keiten haben. Ein Lexikon wie das vorlie- tegrationspolitischen Entwicklungen und 2000“. Obwohl Fachbegriffe meist direkt gende-kann anschaulich geschriebene, der ursprünglichen Zielsetzungen der Re- erläutert werden (auch diejenigen, die gut gegliederte Einführungsliteratur nicht gierungskonferenz 1996/97 bewertet. Alle vorher unklar geblieben sind), kommt er ersetzen, sondern allenfalls ergänzen. Zu- Kapitel bieten außerdem ein spezielles Lite- nicht ganz ohne Sozialwissenschaftler-Jar- gegeben: Über ein derart komplexes raturverzeichnis mit – auch ausländischen – gon aus. Der zweieinhalbseitige Text über Thema wie die Strukturpolitik der EU rechts- und politikwissenschaftlichen Tex- die Fonds der EU erklärt die Aufgaben der einen Lexikonartikel zu schreiben, der ei- ten. Ein 20seitiges Stichwortverzeichnis im Artikel „Agenda 2000“ erwähnten nerseits allgemeinverständlich ist, ande- rundet das Werk ab. fünf Spezialfonds: sie dienen zur Finanzie- rerseits aber auch Experten noch zusätzli- Nach seiner Ratifizierung durch die Parla- rung bestimmter politischer Maßnahmen. che Informationen bieten kann, ist – auch mente der Mitgliedsstaaten wird der Am- Um ihn zu lesen, sind wiederum ausrei- angesichts des ausufernden transparenz- sterdamer Vertrag voraussichtlich im Früh- chende Vorkenntnisse nötig. Dies gilt feindlichen Eurokraten-Jargons – eine jahr 1999 in Kraft treten – in einer Zeit, in auch für den ausführlichen, gut sechs Sei- kaum zu bewältigende Herkulesaufgabe. der die EU zwei große Herausforderungen ten langen Beitrag über die Strukturpoli- Verbesserungen sind hier aber dennoch bewältigen muß. Einerseits gilt es, die tik der EU, der sich ebenfalls kurz mit der wünschenswert und machbar. wirtschafts-, finanz-, arbeitsmarkt- und „Agenda 2000“ befaßt. Sachkundige Der Herausgeber unterläßt es, in seinem sozialpolitischen Grundlagen für die am dürften nun ihre Fragen zu dem Reform- Vorwort die Zielgruppen, an die sich das 1. Januar 1999 erfolgte Vertiefung der EU programm weitgehend geklärt haben, Lexikon richtet, zu benennen. Gut geeig- durch die Währungsunion zu schaffen, politisch interessierte „Durchschnittsbür- net ist es für Studenten der Rechts- und und andererseits, die Erweiterung der ger“ haben inzwischen wohl aufgegeben. Politikwissenschaften, politische Journali- Union nach Osten und Süden vorzuberei- Die kommende Europawahl legt es nahe, sten, Mittler der politischen Bildung, Leh- ten. Trotz dieser drängenden Aufgaben ist sich über das Wahlverfahren und die Be- rer der gymnasialen Oberstufe und alle, der neue Vertrag im Gegensatz zur Ein- fugnisse des Europäischen Parlaments die sich beruflich mit Recht und Politik der heitlichen Europäischen Akte (Binnen- kundig zu machen. Wer nun das „Handle- EU auseinandersetzen müssen. Für alle an- markt) und dem Vertrag von Maastricht xikon“ zu Rate zieht, erhält unter dem deren empfiehlt es sich, zuerst ein leicht (Währungsunion) „nicht mit einem spek- Stichwort „Direktwahl zum Europäischen verdauliches Einführungswerk zu lesen takulären Projekt verbunden“, wie die Parlament“ knappe, aber präzise Aus- und dann das Lexikon gegebenenfalls er- Herausgeber in ihrem Vorwort anmerken. kunft zur Geschichte und zum aktuellen gänzend hinzuzuziehen. Andreas Knoll Statt dessen „sei er ,in erster Linie ein Stand der Wahlgesetzgebung auf eu- Nachfolgevertrag im Sinne eines „Maa- ropäischer Ebene. Die rechtlichen Ände- stricht II’“. Die „im Hinblick auf die Oster- rungen durch den Vertrag von Amster- weiterung erforderliche große institutio- dam sind durchweg berücksichtigt Leider Der Amsterdamer Vertrag nelle Reform sei ausgeblieben. Auch Sieg- geht der Beitrag nicht auf die Besonder- bert Albert betont, daß „das Hauptziel heiten des Europawahlverfahrens in der Jan Bergmann/Christofer Lenz (Hrsg.): der ... Regierungskonferenz, den institu- Bundesrepublik ein, das sich vom Bundes- Der Amsterdamer Vertrag tionellen und finanziellen Rahmen der tagswahlsystem grundlegend unterschei- Eine Kommentierung der Neuerungen des Gemeinschaft zu verbessern und zu ver- det. EU- und EG-Vertrags einfachen, ... sicher noch nicht zur vollen Die Entscheidungs- und Kontrollrechte Omnia-Verlag, Köln 1998, 367 S., 85 DM Zufriedenheit verwirklicht worden“ sei. des Parlaments sind unter „Europäisches Dennoch habe es, darüber ist sich der Ge- Parlament“ nachzulesen. Zwei Seiten des Am 2. Oktober 1997 wurde der Vertrag neralanwalt mit den Herausgebern einig, Beitrags über das Gremium sind diesen von Amsterdam unterzeichnet. Nach der erhebliche Fortschritte gegeben, vor allem Befugnissen gewidmet. Unterrichtet wird Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 in den Bereichen Sozial- und Beschäfti- in aller Kürze, aber trotzdem umfassend und dem Maastrichter Vertrag von 1992 gungspolitik, Innen- und Rechtspolitik über die Kompetenzen, die sich das Organ bringt er die dritte größere Reform der EU sowie bei der Stärkung des Europäischen im Laufe der Zeit erstritten hat, und über und ihrer Gemeinschaften. Im wesentli- Parlaments und der Vereinfachung der die, die ihm noch fehlen, um eine vollwer- chen ändert und ergänzt er die beiden Gesetzgebungsverfahren. tige, mit den nationalen Parlamenten ver- Hauptverträge der EU, den Vertrag zur In seinem Beitrag über das neue Beschäfti- gleichbare Volksvertretung zu sein. Ver- Gründung der Europäischen Gemeinschaft gungskapitel des EG-Vertrags stellt Chri- tiefende Informationen über die diversen (EG-Vertrag) und den Vertrag über die Eu- stian Roth fest, dieses sei in erster Linie Gesetzgebungsverfahren und die Rolle, ropäische Union (EU-Vertrag). Wenn der- wegen der „allgemeinen Legitimations- die das Parlament dabei jeweils spielt, ver- art wichtige Abkommen überarbeitet probleme(n) der Europäischen Union“ zu- mittelt ein spezieller Beitrag. Hier zeigt werden, benötigen Juristen, Studierende standegekommen. Die EU solle damit „als ein Schaubild den Ablauf des Mitentschei- der Rechts- und Politikwissenschaften, po- sozial- und beschäftigungspolitische dungsverfahrens, das dem Parlament in litische Journalisten und Mittler der politi- Wohltäterin“ präsentiert werden. Aller- den betreffenden Politikbereichen gleiche schen Bildung, die sich näher mit dem EU- dings ist die Arbeitsmarktpolitik nach Rechtsetzungsbefugnisse wie dem Rat Recht befassen, baldmöglichst ausführli- Roth weiterhin von wirtschafts- und wett- einräumt. Das Mitentscheidungsverfahren che und verläßliche Kommentarliteratur. bewerbspolitischen Zielsetzungen der EU wird darüber hinaus in einem gesonder- Diese Lücke haben die Herausgeber Jan abhängig. Die europäischen Organe sind ten Text behandelt, dessen Erläuterungen Bergmann und Christofer Lenz sowie ihre nun lediglich dazu befugt, die nationalen allerdings oberflächlicher sind als die zehn teilweise recht jungen Mitautorin- Beschäftigungspolitiken zu koordinieren. unter dem Stichwort „Gesetzgebungsver- nen und Mitautoren nun geschlossen. Da eigene Mittel dafür nicht vorgesehen

187 sind, muß auf Gelder aus den Struktur- wendungsbereich des Mitentscheidungs- auf überparteilicher und bundesunmittel- fonds und dem Kohäsionsfonds zurückge- verfahrens (verbunden mit Mehrheitsent- barer Grundlage per Bundestagsbeschluß griffen werden. Gebracht habe das neue scheidungen im Rat) erheblich vergrößert eingerichtet wurde. Zwar existierte die Kapitel, so Roth, hauptsächlich „eine stär- und die Prozedur insgesamt vereinfacht Gedenkstätte bereits seit 1962, aber auf kere primärrechtliche Normierung be- und gestrafft. Andererseits sei, so Wirtz, neuer Rechtsgrundlage konnte sie sich zu schäftigungspolitischer Ziele und Mittel das Verfahren der Zusammenarbeit nicht einer Gedenkstätte mit nationalem An- auf europäischer Ebene“. Davon abgese- – wie ursprünglich vorgesehen – vollstän- spruch entwickeln. Heute ist das Haus in hen kämen ohnehin hohe Fondsmittel der dig durch das Mitentscheidungsverfahren der Pfaffengasse neben der ständigen Arbeitsmarktpolitik zugute, und die Ak- ersetzt worden. Außerdem habe sich der Ausstellung Sitz eines Archivs nebst For- tionsprogramme der EU seien schon seit Rat „in ca. 50 Bereichen immer noch das schungs- und Dokumentationsstelle mit längerem umfangreich und differenziert. Einstimmigkeitsprinzip vorbehalten ..., einer öffentlichen Bibliothek, die umfang- Sebastian Winkler, der Kommentator des von denen einige wirklich konstitutionelle reiche Dokumente und Publikationen zur Themas „Justiz und Inneres“, hält den Bedeutung haben.“ Das Ziel, „das Parla- Geschichte der deutschen Arbeiterbewe- neuen Titel IV des EG-Vertrags über „Visa, ment in sämtlichen Bereichen des Gesetz- gung und Sozialdemokratie beherbergt. Asyl, Einwanderung und andere Politiken gebungsverfahrens mitwirken zu lassen“, Nun liegt ein reich bebilderter, von Walter betreffend den freien Personenverkehr“ sei verfehlt worden, da „zu viele wichtige Mühlhausen bearbeiteter Begleitband für die „weitestgehende und in Anbe- Bereiche allein in der Entscheidungsver- vor, der ein kompetenter und detaillierter tracht der nationalen Widerstände er- antwortung des Rats bleiben“. Begleiter durch die Ausstellung ist, aber staunlichste Neuerung im Amsterdamer Insgesamt ist das Buch sehr klar und über- auch als Lektüre lohnt und zum Besuch Vertrag“. Der Vertragstext zeige jedoch sichtlich gegliedert, die benötigten Infor- der Gedenkstätte geradezu auffordert. eine „Furcht der Mitgliedstaaten vor der mationen lassen sich leicht finden. Vergli- Auf über mehr als 350 Seiten werden die Personenfreizügigkeit“. So gelten bei- chen mit anderen Gesetzeskommentaren Lebensstationen Friedrich Eberts darge- spielsweise für Großbritannien, Irland und ist es trotz „Juristensprache“ recht ver- stellt. Es ist eine reichhaltige Vita mit den Dänemark zahlreiche Sonderregelungen; ständlich geschrieben; es setzt allerdings typischen Mustern für die politische Winkler spricht in diesem Zusammenhang ein solides Grundwissen über Organe, Ent- Führungsspitze der deutschen Sozialde- von einer „Gemeinschaft der ,neuen scheidungsverfahren und Politik der EU mokratie des Kaiserreichs und der Weima- Zwölf“‘. Außerdem entscheidet der Rat in voraus. Außer für „Praktiker in Rechtspre- rer Republik: Lehre zum Sattler in Heidel- den ersten fünf Jahren nach Inkrafttreten chung, Rechtsberatung und Wirtschaft“, an berg, Wanderschaft mit Ziel Bremen, Ar- des Amsterdamer Vertrags stets einstim- die sich das Buch laut Vorwort wendet, eig- beit als Redakteur und erstes parteipoliti- mig und hört das Europäische Parlament net es sich auch für Studenten der Rechts- sches Engagement, Gastwirt, Mitglied der nur an. Erst danach soll vorbehaltlich eines und Politikwissenschaften, politische Jour- Bremischen Bürgerschaft, Arbeitersekre- weiteren Ratsbeschlusses das Mitentschei- nalisten, Mittler der politischen Bildung tär und Sekretär des Parteivorstands in dungsverfahren gelten. Hier liege, so und Lehrer der gymnasialen Oberstufe, die Berlin. 1912 bei den „roten Wahlen“ dann Winkler, ein „demokratisches Defizit“; das die nötigen Vorkenntnisse mitbringen. erstmals in den Reichstag gewählt und Einstimmigkeitsprinzip könne sich oben- Ihrem im Vorwort zurückhaltend formu- während des Ersten Weltkriegs einer der drein „als Bremse erweisen“. Positiv sei, lierten Anspruch, „den Rechtsanwendern beiden SPD-Parteivorsitzenden und Befür- daß die Kommission nun ein umfassendes die Phase zwischen Vertragsschluß und worter des „Burgfriedens“. Eine steile Po- Initiativrecht habe und somit als treibende Aufarbeitung des Vertrags in den Groß- litikerkarriere mit dem Höhepunkt der Kraft auftreten könne. kommentaren überbrücken“ zu helfen, Reichspräsidentschaft in einer außen- und Die vielen Sondervereinbarungen schaf- sind die Autorinnen und Autoren voll ge- innenpolitisch krisengeschüttelten Zeit fen laut Winkler ein weiteres Problem: das recht geworden. Mehr noch: das Buch ist mit einer erschöpften und gleichzeitig zu- Vertragswerk wird in den Bereichen für diejenigen, die einen „dicken Wälzer“ tiefst gespaltenen Bevölkerung. Innen- und Rechtspolitik zunehmend un- nicht zur Verfügung haben oder dessen Unser Bewußtsein für „Systemübergän- übersichtlich. Dies sei „zugleich Folge und Detailliertheit nicht brauchen, auch später ge“ und verteilungspolitische Kämpfe Vorgeschmack dessen, was Frankreich und wertvoll. Ein Wermutstropfen ist der recht wurde im letzten Dezennium wohl ge- Deutschland als Flexibilisierung der Ver- stolze Preis von 85 DM, der z.B. ein stu- schärft. Die Forschungskontroversen der träge bezeichnen: eine stärkere Zusam- dentisches Budget ziemlich strapaziert. 60er und 70er Jahre über die verpaßten menarbeit einzelner Mitgliedsstaaten Eine Paperback-Ausgabe des Bandes wäre Chancen der „Novemberrevolution“ und ohne den Zwang zur Mitwirkung aller“. wünschenswert. Andreas Knoll über die Rolle, die Friedrich Ebert dabei Die Praxis müsse zeigen, ob das Konzept spielte, sind einem weitgehenden Kon- die Integration vorantreibe oder „den sens über den Politpragmatiker Ebert ge- nichteingestandenen Anfang vom Ende“ wichen. Die Kritik orientierte sich an dem des Willens, sie zu vertiefen, markiere. Friedrich Ebert: idealtypischen Maßstab einer optimalen Weit weniger skeptisch betrachtet Philip Leben, Werk und Zeit Durchsetzung sozialdemokratischer Posi- Hall, Referent im britischen Außenmini- tionen oder einer Verklärung der revolu- sterium, die neuen Bestimmungen des Friedrich Ebert. Sein Leben, sein Werk, tionären Räte. Kontrovers diskutiert wird Amsterdamer Vertrags zur „verstärkten seine Zeit. weiterhin die Frage, ob die Einleitung ein- Zusammenarbeit“ (Flexibilisierung). Sie Begleitband zur ständigen Ausstellung schneidender Strukturreformen zur stär- seien „insbesondere im Hinblick auf die in der Reichspräsident-Friedrich-Ebert- keren politischen und sozialen Fundie- anstehende Osterweiterung“ ausgehan- Gedenkstätte. rung der neuen Staats- und Gesellschafts- delt worden, um diese mit der Vertiefung Hrsg. und bearb. im Auftrag der Stiftung ordnung unter den gegebenen Umstän- in Einklang zu bringen. Da die verstärkte Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenk- den überhaupt möglich war, ohne daß die Zusammenarbeit an sehr enge rechtliche stätte Heidelberg von Walter Mühlhausen. innenpolitische Situation außer Kontrolle Voraussetzungen geknüpft sei, werde sie Kehrer Verlag Heidelberg 1999 geraten wäre. Schärfer werden heute die sich ,in aller Regel nur als ,fine-tuning’ er- 376 Seiten, DM 19,80 Grenzen betont, die einem politischen weisen“. Flexibilität werde „die Ausnah- und gesellschaftlichen Umbruch in me bleiben“. „Ebert ist Süddeutscher; er ist am 4. Fe- Deutschland 1918/19 gesetzt waren, ohne In ihrem Beitrag über die Kompetenzen bruar 1871 in Heidelberg geboren.“ So die Frage auf die Alternativen „soziale des Europäischen Parlaments bezeichnet Friedrich Ebert in einer autobiographi- und proletarische Revolution“ oder „par- Ursula Johanna Wirtz den Amsterdamer schen Skizze nach seiner Wahl zum Reichs- lamentarische Republik im Bündnis mit Vertrag als „weitgehend ... gelungen“, da präsidenten 1919. den konservativen Kräften“ zu verengen. „die Position“ des Gremiums „gestärkt 70 Jahre nach dieser Wahl wurde in sei- Ebert war als Reichspräsident das Symbol wird“. Durch „den Ausbau seiner Rechte nem Heidelberger Geburtshaus die Aus- für den verfassungspolitischen Wandel. Er in weiten Bereichen“ des EG-Vertrags stellung „Friedrich Ebert – Sein Leben, sein selbst verstand sich in diesem Amt als werde „seine Stellung als gleichberechtig- Werk, seine Zeit“ eröffnet Sie ist zentraler Mittler zwischen Arbeiterschaft und Bür- tes und gleichgewichtiges Organ neben Bestandteil der Stiftung Reichspräsident- gertum, zwischen „vaterlandslosen Gesel- dem Rat anerkannt.“ So wurde der An- Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, die 1986 len“ und „Reichstreuen“. Mit den Stich-

188 punkten Ebert-Groener-Übereinkunft, krieg. Aufgewachsen in einer deutschen Persilschein und Käferkauf „Zentralarbeitsgemeinschafts“, Abkom- jüdischen Familie in Köln, muß er bereits men, „Dolchstoß“-Legende, Versailler im Alter von zwölf Jahren mit seinen Ver- Wolfgang Sannwald (Hrsg.): Vertrag, Kapp-Lüttwitz-Putsch und Hyper- wandten die Flucht nach Belgien antreten. Persilschein, Käferkauf und Abschlacht- inflation sind die Leistungen, Belastungen Ein Jahr darauf holt sie der Krieg dort ein prämie. und Krisen der ersten Jahre der Weimarer und sie müssen erneut fliehen. Immer wie- Von Besatzern, Wirtschaftswunder und Republik umrissen. Ebert hat die einmali- der entkommt die Familie um Haaresbrei- Reformen im Landkreis Tübingen. Ein ge Chance zu grundlegenden Reformen te den Truppen der Wehrmacht und den Buchprojekt des Landkreises Tübingen. erkannt, aber auch die Erschwernisse und Schergen des NS-Regimes. Von der franzö- Verlag Schwäbisches Tagblatt Risiken. In einer segmentierten und kri- sischen Polizei des Vichy-Regimes wird Tübingen 1998. sengebeutelten Gesellschaft ohne breiten Hermann Zimmermann 1942 festgenom- 480 Seiten. Broschiert. DM 44,– demokratischen Konsens war auch die In- men und mit einem großen Judentrans- tegrationskraft eines Politikers wie Ebert port in Marsch gesetzt, wird aber auf Ein Landkreis als Identifikationsraum. der Erosion verfallen. abenteuerliche Weise durch das beherzte Kommunalpolitik im regionalen Bezugs- Ohne jeden Zug zur Selbstinszenierung Eingreifen guter Menschen gerettet. Noch rahmen. Das klingt nach abstrakter Ver- stellte er die eigene Person hinter Amt einige Male steht er dicht vor der Festnah- waltungsgeschichte, aber bereits der Titel und Aufgabe zurück Sein zu früher Tod me, dann gelingt die Flucht in die Schweiz verspricht mehr – und er hält dies auch. gibt darüber beredtes Zeugnis. Wie kaum und bringt endlich die ersehnte Sicherheit. Das Buchprojekt ist greifbarer Beleg gegen ein anderer Politiker stand er als Symbol Nach dem Krieg lebte der Autor zunächst die These der „Ressourcen-Fehlsteuerung“ der neuen Ordnung im Zentrum der Het- in Frankreich, emigrierte in die USA und an deutschen Hochschulen und zeigt das ze einer wiedererstarkten republikfeind- kehrte schließlich nach Deutschland Ergebnis wissenschaftlicher, quellennaher lichen Rechten. Verleumdungsprozesse zurück. Doch nie in all den Jahren verließ und dabei pragmatischer Zusammenarbeit und öffentliche Schmierenkampagnen ihn das Gefühl, vom Schicksal entgegen von Zeithistorikern und Politologen, von sind Ausdruck der vergifteten politischen aller Wahrscheinlichkeit vor dem grausa- akademischen Lehrern und Studierenden. Kultur der Weimarer Republik – und Ebert men Ende der meisten seiner jüdischen Al- Hervorgegangen ist der reich bebilderte war eines ihrer prominentesten Opfer. tersgenossen bewahrt worden zu sein, die Band aus einem fächerübergreifenden Se- 1924 wurde seine Beteiligung am Berliner damals in den Bereich des NS-Regimes ge- minar zum 25. Jahrestag der kommunalen Massenstreik im Januar 1918 vom „straf- raten waren. Schließlich bewogen ihn Gebiets- und Verwaltungsreform in rechtlichen Standpunkt“ aus als „Landes- Dankbarkeit für die wunderbare Rettung Baden-Württemberg von 1973. Anselm verrat“ beurteilt Das war politischer Ruf- und das Gefühl einer daraus entstehen- Doering-Manteuffel, Hans-Georg Weh- mord per Gerichtsbeschluß, kurz vor der den Verpflichtung, dieses Buch zu schrei- ling, Hans-Joachim Lang sowie der Tübin- ersten für Februar 1925 vorgesehenen ben. Hermann Zimmermann will die Ge- ger Kreisarchivar und Herausgeber Wolf- Volkswahl des Reichspräsidenten. Ebert schichte der Verfolgung als Überlebender gang Sannwald leiteten das Seminar an hatte sich entschieden, für diese Volks- authentisch an die heutige junge Genera- der Universität Tübingen. In die vom Land- wahl nicht zu kandidieren, aber dem Be- tion weitergeben und so die Bereitschaft kreis Tübingen unterstützte Publikation rufungsprozeß wollte er sich nicht entzie- stärken, sich extremistischen Verführun- der Ergebnisse sind zahlreiche Beiträge hen. Er sollte ihn nicht mehr erleben, denn gen entgegenzustellen. Nicht nur ab- von Studierenden eingeflossen. am 28. Februar 1925 starb er an den Fol- schreckende, auch anziehende Verhal- In drei Teilen wird der regionale Identifi- gen einer verschleppten Blinddarment- tensweisen im Bericht des Autors können kationsraum „Landkreis Tübingen“ facet- zündung. als Beispiele dienen. In der Rückschau auf tenreich unter die Lupe genommen. Die Friedrich Eberts Tod war eine Zäsur in der einige Erlebnisse zollt er denen Anerken- Makrotheorien der Modernisierung, des Zwischenkriegszeit. Mit seinem Nachfol- nung, die sogar unter dem Terror des NS- Umbruchs zur Industrie-, Dienstleistungs- ger Paul von Hindenburg stand statt eines Regimes ihre Menschlichkeit bewahrten. und Konsumgesellschaft, die ökonomi- Verfechters der sozialen Demokratie und Zimmermann kennt keine pauschalen sche und soziale Dynamik der letzten rund der demokratisch-parlamentarischen Ord- Schuldzuweisungen – deshalb fühlt er sich fünfzig Jahre werden im regionalen Zu- nung ein adliger Militär, ein Antirepubli- auch in Deutschland durchaus heimisch –, griff anschaulich dargestellt. Eine oft als kaner, ein Verfechter der „Dolchstoß“-Le- sondern faßt im Rückblick die Handlun- willkürlich empfundene Verwaltungsein- gende und ein Mann der Vergangenheit gen der einzelnen im Heer der Verbrecher, heit wird hier als lebensweltlicher Bezugs- an der Spitze des Weimarer Staates. Helfershelfer, Mitläufer und Gleichgülti- rahmen und als Denkkonstante unterhalb Der Begleitband zur Ausstellung bietet – gen scharf ins Auge. der „großen Politik“ präsentiert. Die ge- wie die Ausstellung neben der gebotenen Das Buch enthält eine große Zahl plasti- lungene Mischung aus Kreisarchiv- und Fokussierung auf die Person Ebert und scher Episoden. Einige lesen sich „leicht“, Zeitungsauswertung sowie erfahrungsge- seine außergewöhnliche Biographie aber bilden in ihrer Abfolge ein spannendes schichtlichen Interviews verdeutlicht den mehr: Er ist eine profunde und gelungene buntes Abenteuer, sogar humorvolle Ein- Bevölkerungswandel, den wirtschaftli- Darstellung der Geschichte der deutschen lagen fehlen nicht. Doch immer wieder chen, städtebaulichen und verkehrspoliti- Arbeiterbewegung während der Kaiser- verweisen die einzelnen Szenen auf den schen Strukturwandel und die Wahrneh- zeit und in den ersten Jahren der Weima- ernsten Hintergrund. Das Verhalten der mung dieses Wandels in der Bevölkerung. rer Republik. Ein bemerkenswerter Band Menschen, die als handelnde Personen in Identifikationen werden thematisiert, die für eine der wenigen demokratiege- diesem großen Drama auftreten, legt den sonst eher im Verborgenen schlummern, schichtlichen Gedenkstätten in Deutsch- Nachgeborenen die Frage nach ihren ei- sich bei bestimmten Anlässen aber ver- land, die das Bewußtsein für die demokra- genen Grundsätzen und möglichen Ent- dichten, manifestieren und letztlich Moti- tischen Traditionslinien und ihre Gefähr- scheidungen zwingend nah. Gerade ve für Wandel und Reform, aber auch für dungen in der deutschen Geschichte darum kommt der Autor mit seinen Be- Beharrungskraft sind. stärkt. Reinhold Weber richten und Lesungen vor Schulklassen Der erste Teil behandelt das Trümmerjahr- und Gruppen von Jugendlichen so gut an. zehnt. Was für die einen Niederlage war, Er ist nie in der Rolle des Lehrers, sondern war für die anderen Aufbruch und Neube- Überleben im Holocaust läßt die Begebenheiten und die damali- ginn. Daß es trotz nachfaschistischem de- gen Akteure für sich sprechen, entwickelt mokratischem Konsens keine konfliktfreie Hermann Zimmermann daraus die immer lebhafte Diskussion mit Gesellschaft war, zeigt die Bandbreite der Ein Engel an meiner Seite der Jugend. Dieses Buch sei als Schul- und Themen: Militärverwaltung und Schwarz- Eine Geschichte vom Überleben Privatlektüre dringend empfohlen, es läßt markt, Entnazifizierung und „Displaced im Holocaust sich vielseitig einsetzen. Ein besonderes Persons“, Heimatvertriebene und Erinne- Universitätsverlag C. Winter Heidelberg Erlebnis ist die persönliche Begegnung mit rungskultur an den Krieg. Der örtliche und GmbH 1997 dem Autor, der auf Vermittlung der Lan- regionale Rahmen war in dieser Zeit deszentrale für politische Bildung u.a. vor Strukturierungseinheit – sei es bei der Be- Hermann Zimmermann erzählt die Ge- Schulklassen und anderen Jugendgrup- wältigung der existentiellen Sorgen um schichte seiner Rettung im Zweiten Welt- pen gerne auftritt. Ernst Lüdemann ein Dach über dem Kopf oder der „Ver-

189 waltung“ des Bildungshungers der studie- Die Aufsätze des dritten Teils sind ein ge- Angela Hermann und Gerd Meyer zeigen renden Jugend. lungener Beitrag zur Problematik der „re- psychologisch und tiefenpsychologisch Die Multiperspektivität der zeitgenössi- flexiven Globalisierung“ und zeigen, daß kenntnisreich auf, was die Entwicklung so- schen Wahrnehmung und die „kleinen die Kategorie der heimatlichen und le- zialen Mutes fördert: zum Beispiel ein Fa- Quellen des Alltags“ – ob Carepaket oder bensweltlichen Region als Orientierungs- milienklima, in dem die Kinder früh üben der Zichorien-Malz-Ersatzkaffee berühmt raum auch im „global village“ (in seinem können, Eigenständigkeit zu entwickeln; als „Muckefuck“ (,moka faux’) veran- doppelten Sinn) von Bedeutung ist. in dem ihr Ich gestärkt wird und Selbstbe- schaulichen die „kleinen Genüsse“ in der Das Buch, dem bereits 1995 vom selben wußtsein wachsen kann; in dem Ängste Not. Die Beiträge zu den Heimatvertriebe- Herausgeber ein Band über „Einmarsch, zugelassen und überwunden werden kön- nen etwa belegen, daß trotz des kollekti- Umsturz, Befreiung“ vorausging, ist eine nen; in dem innere Stärke und persönliche ven Ärmelhochkrempelns, Zusammen- empfehlenswerte Vogelschau mit Adler- Freiheit entstehen und zum Kern der Per- rückens und Aufbauens auch traditionelle augen auf eine regionale Einheit. Konzep- son werden können. Sozialer Mut kann konfessionelle Vorbehalte und lokale Ego- tionelle Schärfe des Herausgebers und sich entwickeln, wenn Eltern zum Wider- ismen überwunden werden mußten, thematische Vielfalt lassen dem „Buchpro- spruch ermuntern, selbst Vorbild sind, letztlich aber eine erfolgreiche Integrati- jekt“ viele Leser und eine Nachfolge wün- eine halt-gebende Beziehung zu den Kin- ons- und Aufbauleistung der Einheimi- schen. Kleiner Mangel: Ein Autorenver- dern haben, Toleranz vorleben. schen und der „Reingeschmeckten“ unter zeichnis hätte Lesern (und Verfassern) gut Die Studie ist eine unaufdringliche soziale den Stichpunkten „Lastenausgleich“ und getan. Reinhold Weber Tugendlehre. Diese fordert zu einem „Eigenheim“ ihren Anfang nahm. Der Überdenken der üblichen Erziehungs- Blick in die kirchlichen Visitationsberichte praktiken heraus. Besonders in Institutio- ist hier für die Ausleuchtung der konfes- Zivilcourage nen, in denen ein Macht-Ungleichgewicht sionellen Integration sicherlich als interes- gegeben ist, zum Beispiel in Ausbildung, sante Bereicherung zu bewerten. Gerd Meyer/Angela Hermann Arbeitsplatz und Schule, werden unter Der zweite Teil unter dem Titel „Wirt- „ … normalerweise hätt’ da schon jemand dem Aspekt sozialen Mutes moralische schaftlicher und sozialer Umbruch“ the- eingreifen müssen.“ Zivilcourage im All- Versäumnisse offenkundig. Beim Lesen matisiert das kollektive Gedächtnis der tag von BerufsschülerInnen der Studie erwächst aus der Frage nach Westdeutschen und die Währungsreform Studien zu Politik und Wissenschaft, Wo- der Zivilcourage immer wieder die Frage als „Mythos vom Ursprung des goldenen chenschau Verlag, Schwalbach/Ts. 1999, nach der öffentlichen Moral und deren Zeitalters“. Motorroller und „Käfer“ sind 238 Seiten, DM 54,– niedrigem Niveau in der Gesellschaft: der zu Ikonen des Aufbruchs in die Dienstlei- mangelnden Fähigkeit, Anteilnahme und stungs- und Konsumgesellschaft gewor- Zivilcourage als sozialen Mut und zivile Mitleid zu spüren, der geringen Bereit- den. Aber die thematisch reichen Beiträge Tapferkeit bräuchten wir dringend für das schaft, für menschliche Grundwerte ein- sind nicht harmonisierend: Auch die Leben in einer bedrohten Welt. Seit den zutreten und der gleichgültigen Weige- problematischen Aspekte der Spirale der Anfängen der Ethik gehört Tapferkeit – rung, sich für andere, insbesondere Bedürfnisbefriedigung werden angespro- neben Klugheit, Gerechtigkeit, Besonnen- Schwache einzumischen. chen – sei es beim Stichpunkt „Massen- heit – zu den Kardinaltugenden. Es liegt im Wesen der wissenschaftlichen motorisierung“, „Strukturwandel der Die Studie von Gerd Meyer und Angela Untersuchung, daß die Autoren Tatbe- Landwirtschaft“ oder „Armut im Wohl- Hermann untersucht Motive, Chance und stände wiederholen, weil sie sich um eine stand“. Die Untertitel zweier Beiträge Hindernisse für Zivilcourage oder sozial Verzahnung der einzelnen Elemente be- mögen paradigmatisch dafür stehen: mutiges Handeln. Zwar grenzen die Auto- mühen; ich selbst habe diese Wiederho- „Wirtschaftswunder, Krisen und Neuori- ren ihre Untersuchung auf junge Men- lungen aus einer jeweils anderen Perspek- entierung“ sowie „Wohnraumnot und schen ein; aber dieser Anspruch wird über- tive gern gelesen, weil sie immer wieder Häuslebau“. troffen: Der Leser findet fundierte Er- das Wichtige vertiefen. Der dritte Teil des Buches, der sich mit der kenntnisse über die Tugend bürgermuti- Die Autoren schaffen mit großer Sorgfalt Kreis- und Kommunalreform der siebziger gen Handelns, die unsere ganze Gesell- begriffliche Klarheit; die ist notwendig bei Jahre beschäftigt, rückt nochmals den schaft betreffen. dem derzeit inflationären Gebrauch und Landkreis in den Mittelpunkt. Zwar war Gerd Meyer und seine Mitarbeiterinnen Mißbrauch des Wortes „Zivilcourage“. Sie die Gebietsreform von 1973 nicht die erste arbeiten deutlich heraus, was unter Zivil- bedienen sich einer durchsichtigen Spra- in der Geschichte, aber gerade der lokale courage zu verstehen ist: eingreifen – sich che, die dem wissenschaftlichen Anspruch Zugriff zeigt, daß sich der „verwaltete wehren – sich einsetzen. Sie grenzen den wie der Allgemeinverständlichkeit zu Bürger“ auch in einer hochentwickelten sozialen Mut gegen andere mutige Hand- Gute kommt. Ich erlebte als Leser klärend, und mobilen Gesellschaft in den regiona- lungsweisen ab: als öffentliches, mit per- wie die verschiedenen Aspekte der Zivil- len historischen Kontinuitätslinien der sönlichen Risiken behaftetes Handeln in- courage immer greifbarer wurden – im politischen und kulturellen Traditionen nerhalb eines Macht-Ungleichgewichts, Sinne von Bertolt Brecht: „Die Begriffe, bewegt. Die Verwaltungseinheit ist hier mit dem aus freien Stücken für Wertüber- die man sich von was macht, sind sehr „Raum“ – Raum des Denkens, Raum des zeugungen eingetreten und Mitmen- wichtig; sie sind die Griffe, mit denen man Bewußtseins und Wahrnehmungszusam- schen geholfen wird. die Dinge bewegen kann.“ In der Studie menhang. Die Autoren beziehen vielerlei Lebensbe- taucht kein grundlegender Begriff auf, Wolfgang Sannwald arbeitet anhand der reiche ein, in denen ziviler Mut praktiziert der nicht verdeutlicht und durch Beispiele Gemeinde Ammerbuch, einer Kunst- werden kann. In ausführlichen Interviews veranschaulicht wurde. schöpfung der Gemeindereform, die Iden- und Gesprächen mit Jugendlichen einer Überall wo danach gefragt wird, wie in tifikationen jenseits von Verwaltung und Berufsschule sammelten die Befrager Fall- jungen Menschen sozialer Mut wachsen politischer Dimension heraus. Eine leichte geschichten, in denen Jugendliche im All- kann, wird der Leser zur Erziehungskritik Geburt war die Gemeinde Ammerbuch tag mutig eingriffen, sich wehrten oder herausgefordert: Die Heranwachsenden nicht: Gewachsene geschichtliche, konfes- sich für etwas Wertvolles einsetzten. Die bräuchten mehr Ermutigung zu Nonkon- sionelle, kulturelle und verwandtschaftli- Zitate aus den Gesprächen und Befragun- formität, größeren familiären Rückhalt che Beziehungen sowie nicht zuletzt die gen machen das Buch lebendig und inter- bei „Eigen-Sinn“ und Widerspruchsmut, Dialektgrenze zwischen dem Neckar- essant. Vorbilder für Zivilcourage. Die Lektüre des schwäbischen und dem „katholischen“ Anschauliche Beispiele zeigen, was es Forschungsberichtes regt dazu an, sich in Hohenbergischen bildeten Hürden. „Frei- schwer macht, öffentlich mutig zu sein Jugendliche einzufühlen, Verständnis für willig und dezentral“ war letztlich die De- und was Zivilcourage begünstigt. In den sie zu entwickeln – und sie stößt dazu an, vise, aber der „Goldene Zügel“ als finanz- Intensiv-lnterviews werden 40 Beispiele nach eigenen Erinnerungen und aktuellen politisches Steuerungsinstrument mußte analysiert: was zu sozialem Mut bewegt, Verhaltensweisen zu fragen – also sich doch auch kräftig mithelfen – von der welche Motive die Jugendlichen zum Ein- selbst im Hinblick auf sozialen Mut auf- Landesregierung als „Fusionsprämie“ be- greifen antreiben, was sie daran hinderte, merksamer wahrzunehmen. zeichnet, von Kritikern als „Abschlacht- mutig zu sein, unter welchen Bedingun- Das Buch ist ein hervorragender Beitrag prämie“ tituliert. gen sozialer Mut gewagt wurde. zur politischen Bildung und zur Men-

190 schenbildung insgesamt. Es schränkt Zivil- Russland Rühe einige interessante Bemer- Der Erziehungswissenschaftler Klaus Deh- courage nicht auf das Politische im enge- kungen widmet. Dennoch: Der Krieg im ner, ein Schüler Felix von Cubes, bringt ren Sinn ein, sondern umfaßt alle sozialen Kosovo hat gezeigt, daß manches in die- einen wichtigen Beitrag in die Debatte Bereiche des Alltags, verbindet individuel- sem Idealbild auf Wunschdenken beruht. ein. Wesentlicher Ansatzpunkt Dehners ist le und soziale Verantwortung, das Private Das Lob des Abkommens von Dayton, das das evolutionäre Erbe des Menschen. und das Öffentliche. Rühe als Beweis für den gemeinsam mit „Moralisches“ Verhalten deutet er somit Alle, die die Frage bewegt, wie Menschen Russland vollbrachten „Stabilitätstrans- zunächst als Befolgung von Regeln, die mit Menschen humaner umgehen kön- fer“ anführt, klingt 1999 hohl: Einer der einer Sozietät das Überleben und die nen, werden das Buch als bereichernd er- Unterzeichner war der serbische Präsi- Durchsetzung lebenswichtiger Ziele in der leben: Erzieher, Lehrer, Politiker, Sozial- dent. Konkurrenz mit anderen ermöglichen. pädagogen, Pfarrer, Psychologen und an- Ekkehard Kraft, ausgewiesener Balkan- Dehners Konzeption ist gleichwohl weder dere, die sich um mehr Menschlichkeit in fachmann und Osteuropa-Spezialist, wid- vordergründig-utilitaristisch noch deter- unserer Gesellschaft mit der Erde be- met seinen Beitrag der Lage auf dem Bal- ministisch im Sinne biologisch vorgegebe- mühen. Kurt Singer kan nach Dayton und lenkt den Blick auf ner Unterordnung unter den Gruppen- die einzelnen Staaten dieser Region (ohne zwang, sondem im Gegenteil: der selbst- die Türkei). Klarsichtig stellt er dabei das verantwortlich entscheidende Mensch, Der östliche Mittelmeerraum Kosovo und den Gegensatz zwischen Grie- der sich durch diese Fähigkeit von den in- chenland und der Türkei als die wesent- stinktiv handelnden anderen Lebewesen Peter Trummer, Sabine Fleischerl, Wolf- lichen Konfliktherde heraus. Die griechi- unterscheidet, ist der Träger jeglicher gang Pühs (Hrsg.) sche und die türkische Außenpolitik – Ethik und Moral. Zudem kennt Dehner die Die Lage im östlichen Mittelmeerraum als nicht nur in den Beziehungen zueinander Diskussion um eine „Moralerziehung“ Aspekt deutscher Sicherheitspolitik – werden in den Beiträgen von Gürbey genau und weiß sie richtig in den geistes- Nomos Verlag Baden-Baden. 1997, ISBN 3- und Kramer analysiert. Außer dem Streit geschichtlichen Kontext einzuordnen. 7890-4765-1, 170 Seiten, DM 48,– um die Ägäis und um Zypern, der traditio- Das Überleben und Funktionieren von Ge- nellen Wahrnehmung Griechenlands und meinschaften ist sicherlich ein Axiom, von Die Einschätzung, daß „der östliche Mit- der Türkei als gegenseitige „Erbfeinde“ dem ausgehend „richtige“ Verhaltenswei- telmeerraum als Region von wachsender durch die Bevölkerung beider Staaten sen hergeleitet werden können. Dies gilt sicherheitspolitischer Bedeutung“ zu be- werden auch die Haltung Griechenlands zunächst auch für menschliche Gruppen: achten sei, hat sich seit dem Erscheinen zum serbischen Konfliktherd, das Kurden- Staaten, Gesellschaften und kleinere Ein- dieses Sammelbandes in dramatischer Problem und die Rolle der Türkei im heiten. Die Binnenverhältnisse von Wirt- Weise bestätigt, seit Präsident Clinton in Nahen Osten, in der Kaukasus-Region und schaftsunternehmen und die Beziehun- seiner „Kriegsrede“ am 23. März 1999 das in Zentralasien behandelt. Weitere Beiträ- gen zwischen ihnen untersucht Dehner als bevorstehende Eingreifen der Nato im Ko- ge erörtern die Beziehungen der Europäi- ein besonders sprechendes Beispiel. Doch sovo zu einem guten Teil mit der Gefähr- schen Union zur Türkei (Sakellariou) und damit ist noch keine Moral im eigentli- dung der Stabilität Europas an seiner die Außenpolitik der Regierung Erbakan chen Sinne geschaffen, denn der Konkur- Südostflanke begründete. Die Herausge- (Sen). Dass der reputierte Islamkenner renzkampf zwischen Tiersozietäten der ber haben den Balkankonflikt, die Span- Udo Steinbach den Band mit Überlegun- gleichen Art ist hart und wird gnadenlos nungen zwischen Griechenland und der gen zum islamischen Fundamentalismus ausgetragen, und schwache Individuen, Türkei und die Ausläufer der Krisenregion abschließt, erhöht noch den Wert und die die eine Belastung für die jeweilige Grup- Naher Osten im Blick, ebenso die Heraus- Aktualität der Publikation und zeigt er- pe sein könnten, werden in der Regel forderung des Westens durch den Islamis- neut, welche vielschichtigen Konfliktlini- nicht geduldet. Eben diese Forderungen, mus, die im arabisch-persischen Raum ent- en: staatenpolitische, wirtschaftliche, eth- Moral auch gegenüber Menschen fremder steht und auch auf den östlichen Mittel- nische und religiöse den östlichen Mittel- Sippe, ethnischer, religiöser oder sonstiger meerraum ausstrahlt. Der Konflikt in und meerraum prägen. Ernst Lüdemann verbindender Zuordnung walten zu lassen um Israel, die strategischen Verbindungen und insgesamt das Nutzprinzip nicht über der USA mit diesem Staat, bilden in die- moralisch-ethische Erwägungen zu stel- sem Band allerdings kein eigenes Thema, len, prägen die menschliche Moral. Diesen sondern werden als Funktion der genann- Moral und das evolutionäre wichtigen weiteren Unterschied des Men- ten Konflikte einbezogen. Erbe des Menschen schen zum Tierreich unterstreicht Dehner Peter Trummer, langjähriger Vorsitzender und erteilt damit jeglichem Sozialdarwi- des Bundesverbandes Studierender Reser- Klaus Dehner nismus eine Absage. Die Fixierung auf die visten und Fachmann für Sicherheitspoli- Lust an Moral: die natürliche Sehnsucht eigene Gruppe will er ausdrücklich aufhe- tik, u.a. Leiter der von ihm selbst gegrün- nach Werten ben zu Gunsten eines universalen morali- deten Studiengruppe Internationale Si- Darmstadt: Primus Verlag, 1998, ISBN schen Prinzips, das „alle Menschen in den cherheitspolitik in Mannheim, führt den 3-89678-079-4, 184 Seiten, DM 26,90 Schutzraum seiner Regeln stellt“. Sammelband, der auf eine Veranstaltung Dehner arbeitet evolutionäre Grundlagen der Bundesarbeitsgemeinschaft Studie- Atomstrom, Schwangerschaftsabbrüche, der Moral heraus, indem er den Blick auf render Reservisten zurückgeht, ein, indem Organtransplantationen, Gentherapie, das Triebverhalten von Tieren, insbeson- er „den östlichen Mittelmeerraum als Re- Euthanasie... Moralisch-ethische Fragen dere Primaten, lenkt: Die „Gesamtfitness“ gion von wachsender sicherheitspoliti- bilden den Kern der Auseinandersetzun- der Gruppe, also der Zustand, der nicht scher Bedeutung“ betrachtet und dabei gen, die die modernen demokratischen nur der übergeordneten Einheit das Über- den Balkankonflikt, die griechisch-türki- Gesellschaften am meisten aufwühlen. leben sichert, sondern auch dem Individu- schen Spannungen und die „Ausläufer der Dies war nicht anders in den frühen 80er um innerhalb des Ganzen ein Maximum Krisenregion Naher Osten“ zu einem Ge- Jahren, als Rüstungsgegner den demokra- an Sicherheit und Erfüllung seiner Triebe samtkomplex bündelt. tisch-legitimierten Ansprüchen des Staa- gewährt, ist das Ziel. Eigennützig moti- Volker Rühe behandelt die deutsche Si- tes „ein höheres“ ethisches Verständnis vierte Verstöße gegen das Regelwerk wer- cherheitspolitik und die Rolle der Bundes- entgegensetzten, und es betrifft auch den zwar beobachtet und können evoluti- wehr vor den künftigen Aufgaben der 1999 wieder die moralischen Gründe für onstheoretisch als Vorstufe „amorali- „neuen NATO“. Anstelle der Abwehr oder gegen den Einsatz von Waffenge- schen“ Verhaltens gedeutet werden, ge- einer Bedrohung – so sieht es Rühe – trete walt. In der politischen Bildung lebte die fährden jedoch nie den Bestand der So- nun die Schaffung einer gesamteuropäi- Frage nach den Werten und der Moral in zietät und kommen in existienziellen Not- schen stabilen Ordnung mit Hilfe der sich den 90er Jahren wieder auf, nachdem lagen der Gruppe nicht vor. Auch Ansätze erweiternden EU und der sich ebenfalls fremdenfeindliche Ausschreitungen und einer „Moralerziehung“ können im Tier- ausdehnenden NATO. Im Idealfall soll Orientierungslosigkeit innerhalb der jun- reich ausgemacht werden, wenn nämlich Russland als Partner in dieses Konzept ein- gen Generation Schlagzeilen machten. Fehlverhalten, das der Gruppe schaden bezogen werden, ebenso wie die Ukraine, Der Ruf nach einer neuen Werte-Erzie- könnte, sanktioniert wird. Dehner plä- deren Mittlerstellung zum eurasischen hung wurde lauter. diert für eine Moralerziehung, die nicht

191 „moralisiert“, sondern sich andere evolu- chen Unterschieden stimmen die beiden Eric Hobsbawms’ „Zeitalter der Extreme“ tionäre Anlagen des Menschen zu Nutze Epochendarstellungen darin überein, daß (Ernst Nolte), Noltes „Europäischer Bürger- macht, als die bisher gezeigten: Das Stre- die totalitären Ideologien an die Stelle krieg“ (Jens Reich), den Sammelband von ben nach Anerkennung einer Gemein- Gottes die Geschichte rückten mit dem Alfred Söllner u.a. (Hrsg.): „Totalitarismus. schaft, mit dem der Bindungstrieb ver- Anspruch absoluten Wissens um deren Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts“ stärkt wird und das auf ebenso lustvolle Weg und Ziel, woraus die sich darauf be- (Klaus Georg Riegel) und eine Darstellung Weise befriedigt werden kann wie das rufenden Bewegungen und Staaten den des Kalten Krieges aus russischer Sicht natürliche Bestreben, durch Leistung eine Anspruch auf eine grundlegende „Verän- (Wladislaw Subok und Konstantin Plescha- bestimmte Position innerhalb einer Grup- derung der Welt“, ja der „Weltherrschaft“ kow: „Der Kreml im Kalten Krieg. Von 1945 pe zu erringen. ableiteten. Furet und Nolte stimmen auch bis zur Kubakrise“, 1997 (Wolfgang Leon- Man kommt also weit mit dieser Konzep- darin überein, daß die radikale Auf- hardt). Es folgen noch Kurz- und Sammel- tion, und der verdienstvolle Beitrag, den klärung und bestimmte Entwicklungen in besprechungen (60 Druckseiten) (wobei Felix von Cube und seine Schüler, fußend der Französischen Revolution als gemein- die Zuweisung zu diesen oder zu den auf der Evolutionstheorie, in die Erzie- samer „Wurzelgrund“ der Totalitarismen Hauptbesprechungen nicht immer ein- hungswissenschaft eingebracht haben, in ihren beiden wichtigsten Ausprägun- leuchtet), eine kommentierte Bibliogra- soll hier keineswegs geschmälert werden. gen als sozialistischer und nationalistisch- phie (35 Druckseiten) und einige Kurz- Dennoch muß mit Blick auf den breiten rassistischer „Messianismus“ verstanden rezensionen einschlägiger Zeitschriftenauf- und tiefen Strom der philosophischen werden müssen, so daß ihr „Vergleich“ sätze (Deutschland-Archiv, Zeitschrift für Ethik – ein Teil davon ist nach klassischer sich aus der Sache selbst und der gemein- Politik, Leviathan und Beilage zum „Parla- Lehre die Politik – festgestellt werden, samen Genese ergibt und die „dialekti- ment“ „Aus Politik und Zeitgeschichte“). daß dieses beachtenswerte Erklärungs- sche Beziehung zwischen Kommunismus Auch dieses Jahrbuch dokumentiert er- modell natürlich auch an seine Grenzen und Faschismus ins Zentrum der Tragödien neut, daß es Herausgebern und Autoren stößt. Die seit der Stoa überlieferten klas- des (20.) Jahrhunderts“ führt (Furet). Die nicht um vordergründige Tagespolitik und sischen Beispiele der Auseinandersetzung Konsequenz aus der Bilanz des totalitären politische Auftragsforschung geht, son- zwischen einer rein utilitaristischen oder Zeitalters ist der Abschied von der enthu- dern in wissenschaftlicher Unabhängig- vom Wesen des Menschseins her begrün- siastischen Zukunftsgewißheit der tota- keit ein sorgfältiges Röntgenbild der Ge- deten philosophischen Ethik, die Fragen litären Geschichtsideologien, ihre Einord- sellschaft und Politik in Deutschland ver- nach einer zeitbedingten oder unverän- nung in den „weltgeschichtlichen Zusam- mittelt wird, so daß es in der Reihe der derlichen Wertordnung, nach dem Wesen menhang“ (Klaus Hildebrandt) „ohne wissenschaftlichen Publikationen auch des Guten und Bösen, nach der metaphy- Rechthaberei, gesinnungsethische Ver- weiterhin unentbehrlich erscheint. sischen oder religiösen Begründung der inselung unbequemer Fragen oder gar Klaus Hornung Würde des Menschen, werden an einigen deren volkspädagogische Zurichtung“. Stellen berührt, aber nicht eingehender In der Rubrik Forum geht es dann um die erörtert. Scientology-Kirche (SC), zu der Hans-Gerd „Stressgesellschaft“ Dennoch: Ein lesenswertes Buch, ein wich- Jaschke Fragen formuliert, auf die Angeli- tiger, in sich schlüssiger Ansatz, für den ka Köster-Lösack (MdB, Grüne), Helmut K. Peter Fritzsche Ethik-Unterricht sehr zu empfehlen. Rannacher (Präsident des Landesamtes für Die Stressgesellschaft Ernst Lüdemann Verfassungsschutz Baden-Württemberg), Vom schwierigen Umgang mit rasanten Sabine Weber (Scientology-Kirche gesellschaftlichen Veränderungen Deutschland) und Jaschke selbst antwor- Kösel Verlag München 1998, 181 Seiten, Extremismus und Demokratie ten. In der Rubrik Daten – Dokumente – DM 29,90 Dossiers berichten Eckhard Jesse über die Uwe Backes/Eckhard Hesse (Hrsg.) Wahlen 1997, Uwe Backes über den aktu- Der Untertitel des Buches sagt schon wo- Extremismus und Demokratie ellen Stand links- und rechtsextremisti- rum es geht: Wie können Menschen die 10. Jahrgang 1998, Nomos Verlagsgesell- scher Organisationen, Uta Stoll über Joa- Herausforderungen weitreichenden ge- schaft Baden-Baden, 1998. 520 S., DM 68,– chim Gauck und seine Behörde, Stefan sellschaftlichen Wandels und den damit Mayer über „Zehn Jahre Deutsche Volks- verbundenen sozialen Stress bewältigen? Der vorliegende Band ist der zehnte in der union“, Bettina Blank über die Proteste Der Begriff wird aus der Arbeitsmedizin Reihe der Jahrbücher unter diesem Titel, gegen die Castor-Transporte, Reinhard und Psychologie auf den sozialen Bereich die sich unter der Herausgeberschaft von Rupprecht über das Instrumentarium der übertragen und dient als Schlüsselbegriff, Uwe Backes und Eckhard Jesse inzwischen „streitbaren Demokratie“ und den um neue Befindlichkeiten zwischen Her- einen festen Platz unter den politikwis- behördlichen Verfassungsschutz sowie ausforderungen, Entfaltungschancen und senschaftlichen Periodika in Deutschland Tobias Wunschik über den Prominenten Tendenzen zur Überforderung zu be- erworben haben. Kritiken und Angriffe bundesdeutschen Linksterroristen Till zeichnen. Stress werde vor allem erzeugt von interessierter Seite, hier werde das – Eberhard Meyer, wobei einmal mehr durch Schübe der Pluralisierung, Individu- angeblich überholte – Schema „freiheitli- deutlich wird, wie wichtig die genaue alisierung und Mobilität, durch Arbeitslo- che Demokratie contra Totalitarismus“ Erfassung der Biographie und Sozialisa- sigkeit und die Begnung mit fremden Kul- unter neuen Etiketten fortgesetzt auf Ko- tion zum Verständnis von Extremisten turen, durch die neuen Freiheiten in den sten des wirklichen Gegensatzes „Faschis- und Extremismus ist. In allen genannten einst sozialistischen Gesellschaften und mus – Antifaschismus“ sind nicht ausge- Essays ist jedenfalls viel informationsrei- Prozesse der Globalisierung. Stress-Reak- blieben. Den Herausgebern ist es aber che deutsche Gegenwartsgeschichte ent- tionen zeigten sich in neuen mentalen stets gelungen, das Jahrbuch mit Vernunft halten. und sozialen Grenzziehungen aus Furcht und Sorgfalt durch die Kontroversen des Gleiches gilt für die zumeist lesenswerten vor den neuen Freiheiten, als Abwehr und Tages und des Marktes zu steuern. Literaturberichte und Sammelrezensionen Suche nach Sicherheit vor Fremdem und Im Aufbau der Rubriken folgt auch diese über Antisemitismus und deutsch-jüdische Bedrohlichem. Doch nicht diese Entwick- Ausgabe den vorangegangenen. In der Geschichte, den „Deutschen Herbst“ des lungstendenzen selbst, sondern das, was Rubrik Analysen finden sich die Essays Terrorismus vor zwanzig Jahren, über Un- sie in den Menschen auslösen und wie sie „Neue Formen des politischen Extremis- garn und die einstige DDR-Opposition. damit umgehen, ist das Thema dieses mus?“ (Backes/Jesse); „Jenseits von rechts Unter „Wieder gelesen“ berichtet Boris Bändchens. und links? Zum Bedeutungswandel der Orlov über Wolfgang Leonhards „Die Re- Eine Kernthese des Autors lautet: „Stress politischen Richtungsbegriffe“ (Frank volution entläßt ihre Kinder“ und Uwe wird nie allein durch objektive Bedingun- Deckert); „Rückblick auf das tragische Backes über Franz Schönhubers Biogra- gen verursacht, sondern bleibt immer ab- Jahrhundert“ (Volker Kronenberg) und phie Le Pens. hängig von der Einschätzung und Bewer- „Demokratie und Demokratietypen“ Unter den Hauptbesprechungen finden wir tung der Betroffenen.“ (S. 12) Stress ist be- (Juan L. Linz). Kronenberg vergleicht die das „Schwarzbuch des Kommunismus“ stimmt durch das „Gefühl der Überforde- Deutungen des totalitären Zeitalters von (Gerhard Hirscher), Anthony Giddens’ „Jen- rung“, wenn Ressourcen und Kompeten- François Furet und Ernst Nolte. Bei man- seits von Links und Rechts“ (Bassam Tibi), zen fehlen, um die Stress erzeugenden

192 Momente positiv zu bewältigen (coping). Einsatz oder Fehlen von Ressourcen und ist ein großer Wurf gelungen. Sein So wird vielfach aus der neuen Freiheit Kompetenzen, als gangbarer Weg oder zweibändiges Werk geht alle an, denen eine Belastung, die in Flucht oder Furcht als Irrweg verstanden werden, unter je un- Erziehung und Bildung am Herzen liegen, vor der „Qual der Wahl“ enden kann, terschiedlichen strukturellen, gruppen- besonders diejenigen, die sich nach aber nicht muß. Denn Fritzsche will auch spezifischen oder situativen Bedingun- dem Erziehungs- und Bildungsauftrag zeigen, daß Lernprozesse und ein Wachs- gen. Das Stress-Konzept erweist sich als der Schule verpflichtet fühlen. Nicht nur tum der Kompetenzen möglich und orga- fruchtbar und analytisch plausibel, wo es Ethiklehrer und Religionslehrer also sind nisierbar sind, die uns helfen, den rasan- um relativ präzise beschriebene Prozesse als Leser gefragt, sondern ebenso Schullei- ten sozialen Wandel zu bewältigen und der (Nicht-)Bewältigung von sozialem ter, Lehrerkollegien und Lehrerverbände, unsere Rolle als Bürger in der Demokratie Stress, wo es um konkretes Handeln und Elternvertreter, Bildungspolitiker und in- neu zu definieren. die Entwicklung von Handlungsperspekti- teressierte Bürgerinnen und Bürger im Der schmale, konzentriert und gut lesbar ven geht. Das Konzept wäre allerdings Staat. geschriebene Band analysiert – nach einer überstrapaziert, wollte man Stress ohne Wer mit der Schule zu tun hat, erlebt Klärung des Stress-Konzeptes – das Ver- weiteres als Schlüsselbegriff für eine allge- hautnah „ein strukturelles gesellschaft- hältnis von Heraus- und Überforderung, meine Sozialpsychologie der modernen liches Dilemma… Schulen sind mit der von erfolgreichen und misslingenden oder Gesellschaft verwenden oder sozialen Doppelaufgabe beauftragt, auf ihre verfehlten Strategien der Stressbewälti- Stress zu ihrem Haupt-Charakteristikum Weise … für die wirtschaftliche Leistungs- gung unter mehreren Aspekten. Er skiz- erklären. fähigkeit und für lebens- und handlungs- ziert zunächst „Dimensionen stressigen Der Band ist lesenswert, weil er vielfältige bestimmende orientierende Maßstäbe zu Wandels“ und deckt dann in kritisch-auf- Anstöße zum Aufmerken und Nachden- sorgen, damit von den produzierten Mit- klärerischer Absicht „lrrwege gestresster ken über alltäglich erfahrbare soziale teln ein verantwortlicher Gebrauch ge- Bürger auf der Suche nach ,neuen’ Si- Widersprüche gibt. Manchmal werden al- macht wird. In dieser Spannung sind die cherheiten“ auf: Intoleranz gegenüber lerdings zu viele Aspekte aufgegriffen politischen und ökonomischen Eliten in Fremden, die Sehnsucht nach einer festen oder allzu Bekanntes festgestellt, wo der Bundesrepublik versucht, entgegen kollektiven Identität (gerade auch der Na- komplexere Erklärungen nötig und mög- ihren Beteuerungen die Erhöhung der tion), nach sicheren normativen, religiösen lich wären. So vorzugehen rechtfertigt wirtschaftlichen Effektivität faktisch mit Fundamenten. Drei großen Gruppen sich vor allem im Blick auf die Zielsetzung höchster Priorität zu fördern und für die schenkt der Verfasser besondere Aufmerk- des Bandes, nämlich die Begründung und ethische Selbstreflexivität der Gesellschaft samkeit: Ausländern und der Schwierig- Ermunterung, die individuellen und ge- viel weniger Ressourcen bereitzustellen.” keit besonders der Jugend unter ihnen, sellschaftlichen Kompetenzen für einen (1,23) Davon können nicht nur die Ethik- „zwischen zwei Kulturen zu leben“; den besseren Umgang mit allgegenwärtigem lehrer ein Lied singen; auch Lehrerkol- gestressten Ostdeutschen (der Autor lehrt Stress zu entwickeln. Doch dann wäre es legien, die seit langem dafür plädieren, Politikwissenschaft in Mageburg und kann vielleicht gut gewesen, jene allgemeinen die Schule als Lebensraum zu gestalten, so seine Landsleute aus der Nähe beobach- Tendenzen sozialen Wandels noch mehr stoßen ständig an Rahmenbedingungen, ten); schließlich die „Jugend zwischen auf konkrete Alltags- und Arbeitssituatio- die den Erziehungsauftrag der Schule Stress und Spaß“. Hier stützt sich der Ver- nen zu beziehen. In ihnen ist mancher behindern oder sogar blockieren. „Um so fasser u.a. auf eine höchst interessante Be- Stress ja auch selbst gemacht und nicht lautstärker ergeht der Ruf nach einer fragung von 100 SchülerInnen aus ver- nur gesellschaftlich bedingt. Wie häufig Abfederung der … strukturellen mora- schiedenen Schularten in Ost und West aus sagen wir z.B. von Vorgesetzten oder Leh- lischen Schwächen der Gesellschaft durch dem Jahre 1994, die zugleich ein besonde- renden: „der macht sich doch nur selbst ,Werte‘ und ,Werteerziehung‘ mit Hilfe res Anliegen des Autors verdeutlichen: die Stress“ oder der macht „uns allen ständig der Schule. Dies gilt unabhängig von Förderung kultureller Toleranz und die Stress“. Und wir selbst? Viele von uns den jeweils die Regierung stellenden Überwindung von Fremdenfeindlichkeit. kommen vor lauter Stress „zu gar nichts Parteien von Stuttgart bis Kiel und Denn diese Analyse der Stressgesellschaft mehr“, wir haben keine Zeit mehr fürein- Potsdam bis München.“ (1,70) Das will nicht nur kritisch die Schere zwischen ander, und so reiht sich „ein stressiger wäre freilich nicht mehr so leicht möglich, Herausforderungen und Bewältigungsdefi- Tag“ an den anderen. Ist das alles notwen- wenn das Grundproblem in Angriff ge- ziten aufzeigen, sondern auch konstruktiv dig so? nommen würde, eine von Nipkow diagno- ermutigen, Wege zu suchen und zu gehen, Gefragt ist also eine spezifische Eigenver- stizierte „philosophisch-ethische(n) und wie man „Stresskompetenz“ erwerben antwortung, wenn es um die Bewältigung moralpädagogische(n) Problemblind- kann. „Was sich ändern läßt, ist der Um- von individuell oder gesellschaftlich-struk- heit“ bis hinein in die Erziehungswis- gang mit den Anforderungen, ist die Ein- turell erzeugtem Stress im Umgang mit senschaft. Worum es heute geht, „wird schätzung der bedrohlichen Anforderun- sich selbst und anderen geht. Der Autor theoretisch nicht gründlich genug durch- gen in ihrem Verhältnis zu den eigenen will unseren Blick schärfen für soziale Si- dacht, was vielleicht den Bildungspoliti- Möglichkeiten. Was sich beeinflussen lässt, tuationen und Probleme, wo Verantwor- kern, aber nicht der professionellen ist die Bereitschaft, sich auf riskante Frei- tung und Kompetenz gefordert sind – und Pädagogik nachgesehen werden kann.“ heit einzulassen, um ihre Chancen wahrzu- zugleich besser wahrgenommen werden (1,147) Diesem Mangel will Nipkow, selbst nehmen. Und was sich schließlich auch än- könnten als bisher. Gerd Meyer professioneller Pädagoge, abhelfen, und dern läßt, sind die Reaktionen im Fall von es gelingt ihm auf bewundernswerte Stressangst. Stress muß nicht zu blockier- Weise. tem Verhalten oder zu Ersatzlösungen Sein Werk erscheint in einem Augenblick, führen, sondem kann in einen Lernprozess Eine neue Chance für den in dem die Politik in unserm Lande mit drei münden.... Wir können Stress nicht ab- Erziehungs- und Bildungsauftrag Absichtserklärungen ein bemerkenswertes schaffen, aber wir können versuchen, ihn der Schule Problembewußtsein signalisiert hat: zu kontrollieren und zu transformieren.“ 1. Maßgebliche Abgeordnete des Landta- (S. 146) Die Schule sei „eine Scharnierstelle Karl Ernst Nipkow ges befürworten die Einführung eines für den Übergang der Stress- in eine Lern- Bildung in einer pluralen Welt islamischen Religionsunterrichts. gesellschaft“. (S. 147) Konkret und ein- Band 1: Moralpädagogik im Pluralismus 2. Der Ethikunterricht soll zu seinem leuchtend beschreibt Fritzsche am Ende, Band 2: Religionspädagogik im Pluralis- Recht kommen und einen regulären was nötig ist für eine wirksame Menschen- mus Ausbildungsgang erhalten. rechtserziehung und vor allem für die For- Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, Gü- 3. Der Lernort Schule soll „zu einem Le- derung von Toleranz als politisch-sozialer tersloh 1998 bensort für alle Kinder und Jugendli- Handlungskompetenz. Bd. 1: 329 Seiten, Gebunden DM 98,– chen“ werden – so CDU-Fraktionschef Viele Probleme der Modernisierung in Ost Bd. 2: 610 Seiten, Gebunden DM 128,– Oettinger im Staatsanzeiger vom 12. und West werden hier – manchmal allzu Bei Bezug des Gesamtwerks: DM 178,– April 1999. summarisch – aufgegriffen und in Bezie- Damit ist eine neue bildungspolitische hung gesetzt zu Einstellungen und Ver- Dem emeritierten Tübinger Ordinarius Runde eingeläutet. Nun sind Argumente haltensweisen, die im wesentlichen als für Pädagogik und Religionspädagogik nötig, um Schritte nach vorn zu legitimie-

193 ren und Gelder umzulenken. Die Akteure abendländischen Tradition“ Konkur- Praktischen Philosophie systematisch in brauchen Kriterien und Ideen zur Verstän- renz machen könnte. ihrem Für und Wider“ zu erörtern. (1,17) digung auf Ziele und strukturelle Verän- – Ein dritter Ausweg wird in Branden- Mit dem ersten Band hat er einen bedeut- derungen. Dafür bietet Nipkows zweibän- burg mit dem staatlichen Pflichtfach samen Beitrag für Theorie und Praxis des diges Werk Hilfen in beeindruckender „Lebensgestaltung – Ethik – Religions- Ethikunterrichts geleistet. Fülle. kunde“ versucht. Dieses Fach soll objek- Der zweite Band ist für Theorie und Praxis Zwar geht es ihm primär um die Behe- tiv und neutral Wissen vermitteln. In des Religionsunterrichts in einer pluralen bung des erwähnten theoretischen Defi- Wahrheit handelt es sich um eine mili- Gesellschaft von ähnlicher Bedeutung. zits: „ ,Moralpädagogik‘ sei als Theorie tante ideologische Variante des zwei- Nipkow wählt den Weg einer „pluralen sittlicher oder ethischer Erziehung und ten Auswegs: „,Was Werte sind, be- bzw. pluralisierenden Hermeneutik und Bildung verstanden.“ (1,73) Das hat aber stimmen wir‘, so die bereits zum geflü- Didaktik“ (2,603). Andere Konfessionen, nichts mit dem Bau von Luftschlössern in gelten Wort gewordene, verbürgte Religionen oder weltanschauliche Positio- einem praxisfernen Elfenbeinturm zu tun. Äußerung von staatlicher Seite in Bran- nen werden nicht übergreifenden religi- Seine Theorie greift politische Rahmenbe- denburg …“ (1,53). Immerhin ist hier onswissenschaftlichen Kategorien unter- dingungen ebenso auf wie pädagogisch- deutlich geworden, daß die Beschrän- worfen oder in die eigenen theologischen philosophische Grundsatzfragen. Die ak- kung auf „bloße Information“,die frei Vorstellungen gezwängt. Jeweils eigene tuelle Schulentwicklung in beiden Teilen ist von parteilichen Interessen, Kapitel werden dem Verhältnis Katholisch Deutschlands wird ebenso berücksichtigt grundsätzlich nicht möglich ist. – Evangelisch (Kap. 8), Juden und Christen wie etwa das von manchen als Vorbild be- Nipkow kommt es darauf an, dem Pluralis- (Kap. 9), Christentum und Islam (Kap. 10), trachtete Fach Religious Education in den musproblem wirklich standzuhalten. „Plu- Ethikunterricht und Religionsunterricht Schulen Englands. Reformprogramme ralität ist in ihrem Kern Differenz; darum (Kap. 12) gewidmet, und Nipkow bemüht werden dargestellt und bewertet: natür- bildet der Umgang mit Differenz den Kno- sich jeweils um die dem Gegenüber ent- lich solche, die den Religions- oder Ethik- ten des Pluralismusproblems.“ (1,176) Dies sprechenden Dialogregeln und um sub- unterricht betreffen, aber auch schulische klingt, so theoretisch formuliert, ganz stantielle inhaltliche Anworten: „Jedes Reformprogramme, vornehmlich im Be- harmlos. Wenn wir jedoch „ausdrücklich Sprechen mit und Lernen von anderen im reich der Grundschule. Wen reizte nicht und systematisch den einzelnen konkre- Felde der Religionen hat es jeweils mit die Überschrift „Beispiel Grundschule: ten anderen Menschen zum Thema“ ma- einem so eigenen Gegenüber zu tun, und progressive Praxis – defizitäre moral- chen, rückt uns „die ,Anderheit‘ bzw. das das gilt gegenseitig, daß jedes historisch pädagogische Theorie“? (1,144 ff) Das ge- ,Anderssein‘ des anderen auf den Leib“ entstandene besondere Verhältnis auf meinsame Grundproblem aller Aspekte (1,177). „Der andere Mensch und sein An- spezifische Weise hermeneutisch und reli- zeigt der Titel des Gesamtwerkes an: „Bil- derssein werden … verschärft zum morali- gionsdidaktisch gewürdigt werden dung in einer pluralen Welt“. schen Problem, wenn die anderen die muß…“ (2,390) Daß Pluralismus nicht nur Ganz scharf muß man fragen: Ist ange- Fremden sind.“ (1,178) Und wie erst, ein externes, sondern auch ein innerprote- sichts des gesellschaftlichen Pluralismus wenn aus Fremden Feinde werden! In Er- stantisches Problem darstellt, mit dem Erziehung in staatlichen Schulen über- ziehung und Bildung gilt es, „auf die pädagogisch und theologisch verantwort- haupt möglich, wenn damit nicht nur An- Schärfe des ethischen Problems im Ge- lich umzugehen ist, versteht sich für Nip- passung an die jeweiligen Verhältnisse ge- genüber zu den anderen Menschen als kow von selbst. Für Theorie und Praxis meint sein soll, sondern die Bildung selb- Fremden und Feinden zu antworten“ einer zukunftsfähigen Schule sind beide ständiger, d.h. urteilsfähiger, handlungs- (1,180). Wer mit Gewalt zu tun hat, wer Bände von Bedeutung: „Die Antwort auf fähiger und verantwortungsbewußter interkulturelles Lernen und Friedenserzie- den ethischen und weltanschaulich-reli- Bürgerinnen und Bürger? Wenn es also hung als Aufgaben der Schule akzeptiert, giösen Pluralismus muß auf der Basis einer nicht nur um gesichertes Faktenwissen, wird Nipkow zustimmen, wenn er sagt, zukunftsorientierten und pluralismusfähi- sondern auch um ethische, ja sogar um re- wir könnten nur mit einem „harten Plura- gen Schulphilosophie und kraft einer ligiöse Erziehung und Bildung gehen soll? lismusbild“ (1,125) der pädagogischen wirksamen Schulkultur von der ganzen Wenn somit der „Übergang von der Wis- Herausforderung gerecht werden. Zwar Schule gegeben werden.“ (2,460) Es geht sensvermittlung zur Handlungsbefähi- ist dies besonders mit Blick auf den Ethik- also um „die Gestaltung der Schule als Ort gung“ (1,166) nicht nur beim Lesen, und erst recht auf den Religionsunterricht von Unterricht und Erfahrung, Lehre und Schreiben und Rechnen angestrebt wer- gesagt (2,361); es gilt aber für einen rea- Leben.“ (1,144) „Die schulische Aufgabe den soll, sondern auch im Bereich von litätsgerechten Umgang mit dem gesell- ethischer Erziehung und Bildung darf Moral und Ethik, ja sogar im Bereich von schaftlichen Pluralismus überhaupt. nicht auf den Ethikunterricht beschränkt Religion? Es ist gewiß kein Zufall, daß ausgerechnet bleiben, um dadurch die anderen Fächer Nipkow stellt sich den Fragen und verzich- ein Pädagoge, der zugleich Religions- in fataler Weise zu entlasten“ (1,160). „Es tet auf drei mögliche Auswege: pädagoge ist, sich dem Thema zugewandt hängt von der Schulleitung und dem Kol- – auf den eines „ethischen Relativismus“ hat. Wer sich ein Berufsleben lang mit Fra- legium ab, sodann von der Beteiligung (1,74), der es für unmöglich hält, daß gen des Religionsunterrichts an öffentli- der Schülerschaft, Elternschaft und beson- „zwischen Menschen, die verschieden chen Schulen befaßt hat, war ständig mit nenen Vertretern der Schulverwaltung, ob sind, ein gemeinsames Ganzes möglich dem Pluralismusproblem konfrontiert. über den Ethik- und Religionsunterricht ist“ (1,180). Die Konsequenz wäre der Nipkow ist pädagogisch motiviert und ar- hinaus auch die anderen Unterrichts- Verzicht auf jegliche religiös-weltan- gumentiert auch so. Mit Nachdruck betont fächer mit zunehmend zu fördernden schauliche und ethische Erziehung und er: „Ich verfolge keine geheimen Hinterge- fächerübergreifenden Projekten an der Bildung in der Schule. danken, die auf kirchliche Bevormundung ethischen Erziehung und Bildung teilneh- – Der zweite Ausweg wäre der Versuch, abzielen.“ (1,25) Im Gegenteil: „Als Theo- men, getragen von einem gemeinsamen „den faktischen eigengesellschaftli- loge habe ich früh von mir selbst als einem Konzept, einem „Schulprogramm“, einer chen und selbst den kulturellen Pluralis- Pädagogen gelernt, daß die Pädagogik ihr Philosophie der Einzelschule, durch die sie mus im interkulturellen Vergleich zu eigenes Recht und ihre eigene Würde hat. ein eigenes Gesicht erhält – plurale Schul- begrenzen, im äußersten Falle gerade- Als Pädagoge wurde ich komplementär entwicklung als Antwort auf plurale Her- zu zu leugnen“ und statt dessen „von darauf aufmerksam, daß die Pädagogik an ausforderungen, Pluralität als Chance, der objektiv vorhandenen einen Sitt- ihren Grenzen offen ist. Das ist durch die nicht als defensiv abgewehrte Gefahr.“ lichkeit im Singular“ auszugehen, wie pädagogischen Sachverhalte selbst be- (1,289) „Wenn unsere Schule zu einer dies z.B. nach dem Kriege in den Verfas- dingt, die laufend auf gesellschaftstheore- menschlicheren Bildung beitragen möch- sungen von Rheinland-Pfalz und Bay- tische und anthropologische Vorausset- te, zu deren Signatur es gehört, konse- ern mit dem Rückgriff auf die „allge- zungsfragen stoßen“ (1,12). quent und radikal zu fragen, muß sie ethi- mein anerkannten Grundsätze(n) des Weil jeder Ethik unausweichlich eine welt- sche und religiöse Urteilsbildung fördern. natürlichen Sittengesetzes“ versucht anschaulich-religiöse Interpretation des Sie braucht … beides, Philosophie-/Ethik- worden ist (1,74). Dieser Versuch ten- Lebens vorausgeht, sah Nipkow sich unterricht und Religionsunterricht.“ diert heute dazu, alles von der Schule genötigt, weiter auszuholen, als es bisher (1,289) Im Streit um die angemessene fernzuhalten, was der „christlich- üblich war und „fünf Paradigmen der schulische Realisierung tritt Nipkow mit

194 der Denkschrift der Evangelischen Kirche württembergischen Historie, die Geschich- Ein Aufsatz über Ludwig Uhland, dem in Deutschland von 1994, „Identität und te Neuwürttembergs wurde eher am entschiedenen Anwalt alter württember- Verständigung“, für eine „Fächergruppe“ Rande behandelt. Umso erstaunlicher sei gischer Rechte, schließt sich an. Moersch ein, in welcher „der evangelische und ka- dies, als die Anfänge der demokratischen sieht in Uhlands Werk eine wichtige Wur- tholische Religionsunterricht, der Unter- Bewegung und der republikanischen Idee zel des württembergischen Selbstbewußt- richt in Ethik bzw. Praktischer Philosophie – dabei erinnert er an 1848 – ohne reichs- seins. Im Vormärz und zur Zeit der Revolu- und ein islamischer Religionsunterricht städtische Wurzeln überhaupt nicht denk- tion von 1848/49 verbanden auch andere miteinander kooperieren“ (1,15). Ein letz- bar sei. Auch die Besonderheit des Bistums Männer Politik und Literatur: so Ludwig ter Hinweis, der die Leserinnen und Leser Rottenburg werde viel zu wenig berück- Pfau, Georg Herwegh, Wilhelm Zimmer- als Personen betrifft: Selten habe ich mich sichtigt; das katholische Württemberg mann und Ludwig Seeger, dessen Leben beim Lesen eines pädagogischen Werkes lasse sich mit den bayerischen und badi- im nächsten Kapitel beschrieben wird. persönlich so stark involviert gefühlt. schen Nachbarn nicht ohne Vorbehalt ver- Seeger war eng befreundet mit Hermann Wenn Nipkow z.B. im Kapitel über Chri- gleichen. Kurz aus Reutlingen, dem Redakteur des stentum und Islam die Wahrheitsfrage be- Immer wieder verknüpft der Autor seine „Hochwächter“ Rudolf Lohbauer und handelt, wird es ganz klar: Es ist unmög- Ausführungen mit persönlichen Erfahrun- kam auf politische Veränderung hoffend lich, nicht Stellung zu nehmen. (2,406 ff gen und Beobachtungen, um die Bewer- im Sommer 1848 nach mehrjährigem „Charakter und Ebenen der Wahrheitsfra- tung zu erleichtern. Als gelernter Journa- Schweiz-Aufenthalt nach Württemberg ge“) Der ganze Ernst des Pluralismuspro- list hat er ein geübtes Auge für alles Be- zurück. Lohbauers Bruder Adolph war als blems wäre sofort deutlich, wenn in merkenswerte. Anhand einiger Persön- Jurist Mitbegründer der „Lebensversiche- einem Lehrerzimmer jeder und jede seine lichkeiten gibt Moersch beispielhaft Ein- rungs- und Ersparnisbank“. Einige Jahre bzw. ihre persönliche Überzeugung zu ei- blicke in die politische und kulturelle Ent- saßen beide Brüder gleichzeitig im Land- nigen alltäglichen Fragen offenbaren wicklung Württembergs. Die Lebensläufe, tag. Neben ausführlichen Beschreibungen würde, etwa zur Integration von Auslän- die Karl Moersch beschreibt, umfassen ei- von Lebensläufen findet man auch kürze- dern, zum Umgang mit Gewalttätern oder nen Zeitraum zwischen Reformation und re Aufsätze wie den „Hinweis auf Karl zu einem islamischen Religionsunterricht, dem 20. Jahrhundert und zeigen gleich- August Fetzer“, der ebenfalls Politik und und wenn jeder und jede daraus ganz ehr- zeitig die Verbindung zwischen Gegen- Literatur in seiner Person verband. lich die Konsequenzen zöge für die Auf- wart und Geschichte. Die 15 ganz unter- Als entschiedener Verfechter einer republi- gabe der Friedenserziehung und fürs per- schiedlich langen Kapitel beginnen mit kanischen Staatsform setzte sich Gottlieb sönliche Verhalten. dem „pietistischen Erbe“ Württembergs: Rau neben politischen auch für soziale und Wahrhaftig: Nipkows zweibändiges Werk mit Johannes Brenz, Johann Valentin wirtschaftliche Reformen ein. Im Septem- ist nicht nur ein bedeutendes pädagogi- Andreä, Johann Albrecht Bengel und ber 1848 versuchte er von Rottweil aus, in sches, es ist im besten Sinne ein „politi- den Auswirkungen der Religion auf den einem ähnlichen Marsch nach Stuttgart zu sches Buch“. Es gehört in jede Lehrer- Alltag in Württemberg bis ins 20. Jahrhun- ziehen, wie dies gleichzeitig Gustav Struve bücherei. Gerhard Martin dert. in Südbaden tat. Ziel war das Cannstatter Unter dem Titel „Als Württemberg den Volksfest, doch nach der Nachricht vom Teufel verabschiedete“ berichtet Moersch Scheitern Struves brach auch Rau seinen über Bengels Urenkel Friedrich Gottlieb Zug ab. Er selbst büßte für sein revolu- Exemplarische Lebensläufe aus dem Süßkind, der theologisch bekannt wurde, tionäres Tun auf dem Hohen Asperg, wo „Ländle“ weil er Friedrich von Württemberg – zu jener Zeit viele Demokraten einsaßen. zunächst Großherzog, später König – bei Karl Moersch knüpft an die Biographie Karl Moersch der Modernisierung der evanglisch-luthe- Raus allgemeine Betrachtungen zur Revo- Es gehet seltsam zu in Württemberg rischen Landeskirche zu Beginn des 19. lution von 1848/49 in Württemberg an. Als Von außergewöhnlichen Ideen und Le- Jahrhunderts unterstützte. Hierzu gehör- durch die Revolution errungene Besonder- bensläufen te auch die Abänderung des Tauf-Ritus heit führt er die Geschworenengerichte an, DRW-Verlag Leinfelden-Echterdingen, 1998 mit der Abschaffung der Frage an den die bereits über die Revolutionäre zu Ge- 296 Seiten mit 79 Abbildungen. DM 49,– Täufling, ob er dem Teufel widersage. richt saßen. Wegen seiner Meinung zum Ehestreit Den Sohn von Justinus Kerner, Theobald Karl Moersch schreibt dem Land Württem- König Wilhelms I. ließ sich das gute Ver- Kerner, stellt Moersch als „vorbestraften berg eine „bemerkenswerte historische hältnis Süßkinds mit dem nächsten Herr- Hofrat“ vor. Der 48er-Demokrat, dessen Kontinuität“ zu, deren Beginn im 16. Jahr- scher nicht fortsetzen. einer Pate Ludwig Uhland, dessen Mit- hundert zu finden sei. Die Reformation, Nach der gescheiterten Revolution von schüler Ludwig Pfau und dessen späterer die er eine „große Revolution“ nennt, 1848/49 wurde sehr bald ein „neuer Pietis- Freund Ferdinand Freiligrath waren, er- habe allerdings nur für das alte, mit der mus“ mit politischen Zielen zum vielleicht zählte im hohen Alter von etwa 90 Jahren Reformation evangelisch gewordene Her- wichtigsten Machtfaktor im Staat, dessen um die Jahrhundertwende dem jungen zogtum Wirttemberg, nicht jedoch für die Repräsentant Sixt Carl von Kapff war. Theodor Heuß von den Ereignissen katholischen Landesteile des vor knapp Von 1850 bis zu seinem Tod 1879 sprach er, 1848/49. Dieser brachte später die Vorstel- 200 Jahren entstandenen Königreiches der sich berufen fühlte als „christlicher lungen der 48er in das Grundgesetz ein. Württemberg gegolten. Bis in unsere Zeit Bote aus Schwaben“, entscheidend mit Parallel zur Geschichte Kerners schildert widmeten sich württembergische Ge- im Konsistorium und hatte im Landtag Moersch die weitere Entwicklung der Re- schichtsdarstellungen vorwiegend der alt- auf der Bank der Prälaten Sitz und Stimme. volution.

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195 Einziger Handwerker in der Paulskirche geht es um Ludwigsburg als „Hauptstadt Die Veränderungen des Jahres 1938 waren war der wortgewaltige Schlossermeister der Cichoria“. Der aus den Kolonien kom- einschneidender als jene der Kreisreform Ferdinand Nägele aus Murrhardt, den mende Bohnenkaffee war zu teuer und 1972. Als Ergänzung zu den Veränderun- der Wahlkreis Backnang-Weinsberg ent- wurde als Luxus angesehen. Johann Hein- gen 1938 beschreibt Moersch die Verwal- sandte. Bereits in jungen Jahren war er rich Franck brachte die Idee, Ersatzkaffee tungsentwicklung der Zeit ab der ersten politisch interessiert gewesen und hatte herzustellen, aus Frankreich mit und baute württembergischen Verfassung 1819, da- sich 1829 an der Gründung des Murr- zunächst in Vaihingen jene Pflanzen an, bei geht er vor allem auf den Großraum hardter Liederkranzes beteiligt – auch dies die für die Cichorie-Produktion notwendig Ludwigsburg-Heilbronn ein. eine politische Entscheidung, denn Ge- war. Besonders erfolgreich war Franck, „Nachkriegsträume, Nachkriegspläne und sangvereine und Turnvereine pflegten zu weil er mit Schaffung eines ersten Marken- Nachkriegsrealitäten“ schließen den Band jener Zeit intensiv die politische Diskussion artikels „ein Pioneer des modernen Mar- ab. Ausgehend von der gegen die ehema- und pochten auf politische Freiheitsrech- keting“ war – ohne daß der Begriff damals ligen Staaten Baden und Württemberg te. In den 1840er Jahren saß Nägele auch bekannt war. Auch im Vertrieb der Waren gezogenen Grenzen der Besatzungszonen im Murrhardter Gemeinderat sowie im war die später nach Ludwigsburg verlegte erläutert Moersch die verschiedenen Mo- Stuttgarter Landtag und engagierte sich Firma äußerst innovativ. delle südwestdeutscher Neugestaltung. publizistisch. Er war jedoch nicht nur kri- Unter der Überschrift „Kerner, Dorn- Die interessanten Informationen über die tisch gegenüber der weltlichen Obrigkeit, felder und ihre Namensgeber“ infor- unmittelbare Nachkriegszeit werden für sondern auch gegenüber der geistlichen. miert Moersch über württembergische viele Aktivitäten zum im Jahr 2002 bevor- Als den „anderen“ Neurath bezeichnet Weine. So wurde der Kerner, als Kreuzung stehenden 50jährigen Landesjubiläum Moersch den Ratgeber zweier Könige aus Trollinger und Riesling eine echt würt- wichtig sein. Mit der Gründung Baden- Konstantin von Neurath, da sein Enkel u.a. tembergische Züchtung, nach dem be- Württembergs überträgt Moersch seinen in den 1930er Jahren Reichsaußenminister rühmten Dichter Justinus Kerner benannt, Titel „Es gehet seltsam zu“ auf den ge- war. Sowohl Wilhelm I. als auch König Karl der viele Trinklieder und Weingedichte samten Südweststaat. hat Neurath als Ratgeber und Minister ge- geschrieben hatte und dessen Name für Insgesamt ist das Buch von Karl Moersch dient und beide Male um seine Entlassung Weinsberg stand. Vom selben Züchter wie nicht einfach ein weiterer Beitrag zur gebeten, als seine Vorstellungen von der Kerner stammt auch der Dornfelder, langen Bibliographie zum 150. Jahrestag württembergischer Politik nicht genü- ein Rotwein aus Heroldrebe und Helfen- der Revolution von 1848/49, sondern ein gend beachtet wurden. Dennoch blieb er steiner, der seinen Namen von einem wichtiges Werk mit detaillierter Analyse bei beiden Königen angesehen. Obwohl königlich-württembergischen Verwal- vieler Einzelbiographien aus Württem- er während der Hungersnot 1847 von tungsbeamten erhielt, der die Weinbau- berg, die zum einen „im Land der Vettern Metternich in Wien eine Aufhebung des schule in Weinsberg initiiert hatte. und Basen“ in Verbindung zueinander dortigen Ausfuhrverbotes für Lebensmit- Auch die im Jahr 1938 erfolgte Neuord- gestellt, zum andern mit Aspekten der tel erreichte, war er in der Öffentlichkeit nung der Verwaltungseinteilung in Würt- Gegenwart verknüpft werden. Mit dem weniger beliebt, weil das Außenministe- temberg mit der Umgestaltung von Buch zeigt Moersch deutlich auf, daß rium für die Zensur zuständig war. Oberämtern zu Kreisen führt Moersch als auch in Württemberg über die Jahr- Nach „außergewöhnlichen Ideen und Le- „außergewöhnliche Idee“ an, hatten doch hunderte hinweg stets Menschen „auf- bensläufen“ aus der Religion und aus der die alten Oberämter 121 Jahre unverän- müpfig“ waren und einen revolutionä- Politik widmet sich Moersch wirtschaftlich dert bestanden und mehrfache Mo- ren Geist zeigten. herausragenden Biographien. Zunächst dernisierungsversuche waren gescheitert. Angelika Hauser-Hauswirth

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