1/2|2020 ZfBeg ZfBeg 1/2|2020 Freiburger Rundbrief Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext be be g g » Die Frage ist wohl weniger, ob es e für die Erinnerungskultur nach der nächsten Erinnerungs- e oder übernächsten Generationenwende im Wandel g noch eine Zukunft geben wird, als vielmehr, kultur g wie diese Erinnerungskultur zu gestalten ist, nun d.h., welche aktuellen Probleme, Gefahren, im Wandel nun Herausforderungen und Chancen in dieser Zukunft auf uns zukommen. Erinnerungskultur Erinnerungskultur Erinnern ist ein dynamischer Prozess, der sich | durch inneren Druck und veränderte äußere Konstellationen in permanenter Veränderung g g befindet. [...] g im Kontext Deshalb erscheint eine selbstkritische Diskussion über die Standortbestimmung und Entwicklungs- dynamik der deutschen Erinnerungskultur zum gegenwärtigen Zeitpunkt dringend geboten.«

Aleida Assmann Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, München 2020, S. 12. Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung 2020 | 2 / Beg 1

ISSN 2513-1389 f Z ZfBeg 1/2 |2020 Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext Folgezeitschrift des »Freiburger Rundbriefs« (Neue Folge) 2 Inhaltsverzeichnis

4 … Hinweise | Editorial Rubriken

6 … Joseph A. Kanofsky: b Bildung | Anregungen für Schule Zikaron – Kultur der Erinnerung Gemeinde | Erwachsenenbildung im Judentum 76 … Lucy Debus | Lisa Hellriegel | 18 … Katharina Stengel: Jonas Jakubowski | Louis Wörner: Fritz Bauer und der Auschwitz-Prozess Lagerhaus G – Gedenken ohne Gedenkstätte? Geschichtsvermittlung 24… Ulrich Ruh: auf dem Kleinen Grasbrook in Hamburg Gurs – ein besonderer Erinnerungsort 82 … Felix Henn: in Frankreich »Soll ein Judenkirch gewesen seyn«. Jüdische Spuren in Schwäbisch Gmünd 29… Wilhelm Schwendemann: Erinnerungsorte. Erinnerungslernen 86… Julian Wilhelm: an Orten nationalsozialistischer Was kann deutsche Rap-Musik Verbrechen im Wandel der Zeiten zur Erinnerungskultur im Kontext des Religionsunterrichts beitragen? 39… Reinhold Boschki: Impulse zu den Songs Erinnerungskultur im Wandel. Berlin – Tel Aviv und Stolpersteine Kulturwissenschaftliche, theologische 90… Herbert Plotke: und gesellschaftspolitische Aspekte Kurz erklärt… Schawuot – das Wochenfest 46… Julia Münch-Wirtz: Erinnern 2.0. Digitales Gedenken 91 … Gregor Delvaux de Fenffe: an die Schoah Schule als »lieu de mémoire«. Das Freiburger Friedrich-Gymnasium 51 … Valesca Baert-Knoll: am Heinrich-Rosenberg-Platz »Dem Missverständnis zum Verdruss«. Lebendige Kommunikation in Ambi- jc Jüdisch-Christliche valenzen … Erinnerungskultur am Bibellektüre Beispiel von Rammsteins Deutschland 96… Daniel Krochmalnik | Sr. Raphaela Brüggenthies: 60… Siegbert Wolf: Psalm 61: »Nanga Parbat«. Rabbinisch- Geschichtsvermittlung und benediktinische Psalmen-Betrachtung Erinnerungslernen nach der Schoah 101… Wilhelm Schwendemann: 69… Emma Elisa Theresa Hauf: Meditation zu Röm 13,1-7.8-10: Never again starts with you. Museales Vom Vertrauen und der Torah erfüllung Erinnern an die Schoah … US Holocaust Memorial Museum, Washington D.C.

ZfBeg 1/2|2020 73 … Valesca Baert-Knoll | Reinhold Boschki: The ›Night‹ Holocaust Concert. Gedenkkonzert zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz 3

p Persönlichkeiten 138… Grözinger, Karl Erich (2019): in Judentum und Christentum Jüdisches Denken. Theologie – Philo- sophie – Mystik (Daniel Krochmalnik) 105… Felizitas Küble: Einzigartig in der Geschichte Europas: 142… Scholem, Gershom (2019): Poetica 2.600 Jahre Freundschaft (Bernd Feininger) zwischen Georgiern und Juden. 145… Lindner, Konstantin et al. (2017): Interview mit Dr. Moisei Boroda Zukunftsfähiger Religionsunterricht 109… Moisei Boroda: (Wilhelm Schwendemann) Die Antwort | Erzählung 147… Fried, Hédi (2019): Fragen, 112… Gertrud Rapp: die mir zum Holocaust gestellt werden Kornelis Heiko Miskotte: (Valesca Baert-Knoll) Das Wesen der Jüdischen Religion 148… Baumert, Norbert (2008): 123… Reinhold Boschki: Mit dem Rücken zur Wand »…nie wieder hinter Auschwitz (Wilhelm Schwendemann) zurück.« | Johann Baptist Metz 150… Schnelle, Udo (2019): (1928–2019) | Nachruf Die getrennten Wege von Römern, Juden und Christen: Religionspolitik Freie thematische f im 1. Jh. n.Chr. (Rebekka Groß) Beiträge 151… Berger, Joel (2019): Gesetz – 124… Juliane Güler: Ritus – Brauch. Einblicke in jüdische Wandel einer chassidischen Botschaft. Lebenswelten (Wilhelm Schwendemann) Martin Buber und Elie Wiesel über das Verhältnis von Gott und Mensch 153… Perel, Sally (1992/2016): Ich war Hitlerjunge Salomon a Aktuell (Vanesa Gasparevic) 155… Werner, Hans-Joachim | Silvera David | 130… Aktuelle Notizen Flashman, Alan (2020): Verbundenheit im Gegenüber. Martin Buber… Umgang 133… Ankündigung: Forschungsgruppe mit Konflikten (Mechthild Ralla) REMEMBER (2020): Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht Impressum lit Rezensionen 157… Herausgeber | Ziele | Schriftleitung Bücherschau 158… Ehrenmitglied Unterstützende Institutionen | Spender 134… Kasper, Walter Kardinal (2020): Geschäftsstelle ZfBeg Juden und Christen – das eine Volk Herstellung | Bildnachweis Gottes (René Dausner) 159… Heftbezug | Abonnement ZfBeg 1/2|2020 137… Martin Buber Werkausgabe, Bd. 12 160… ZfBeg-Bestellformular (2017): Schriften zu Philosophie und Religion (Wilhelm Schwendemann) 4 Hinweise | Editorial

Hinweise Editorial

• Die nächste ZfBeg-Zeitschrift, die im Herbst »Die deutsche Erinnerungskultur erlebt 2020 erscheint, wird dem Philosophen gerade einen Umbruch«, schreibt die Kulturwis- Emmanuel Levinas gewidmet sein. senschaftlerin und Gedächtnisforscherin Aleida Assmann im Jahr 2020. • Wir bieten Verlagen, Institutionen und Neben dem bereits häufig thematisierten For- Gruppen, die den christlich-jüdischen schungsfeld des Übergangs von der Zeitzeugen- Dialog fördern, die Möglichkeit, durch Generation zur Adressaten-Generation zeigt sich Anzeigen in unserer Zeitschrift auf ihr Erinnerungskultur als ein mehrdimensionales Phä- Anliegen aufmerkam zu machen. nomen. Bedingt durch kulturelle und gesellschaft- Fordern Sie das aktuelle ZfBeg-Mediablatt liche Transformationsprozesse ist die Erinnerungs- mit allen relevanten Informationen kultur im stetigen Wandel und muss als dynamisch (Anzeigenformate/-preise/-termine) aufgefasst werden. Dies umfasst auch, dass eine per Mail an: [email protected] Pluralisierung der Ausgestaltungsmöglichkeiten von Erinnerungskultur stattfindet, insbesondere • Das BRU-Magazin – Magazin für den die digitalen Medien bieten dazu neue und viel- Religionsunterricht an berufsbildenden versprechende Möglichkeiten. So können neben Schulen – widmet sich in der aktuellen dem gemeinsamen Erinnern an Gedenktagen, Ausgabe 73/2020 ebenfalls dem Thema Orten und Anlässen, welche vor allem von Prä- Erinnerungskultur: Blick zurück nach senz und persönlicher Begegnung leben, nicht- vorn – erinnern, vergessen, Zukunft. präsenzbasierte und individuelle Formen von Er- Das Heft erscheint im Juli 2020; innerungskultur gefördert werden. Informationen und Bestellmöglichkeit Die Nutzung digitaler Medien soll keine Re- unter www.bru-magazin.de. vision oder Ablösung klassischer Erinnerungsfor- men bedeuten, stattdessen sollen diese an geziel- • Neuer Masterstudiengang der Hochschule ten und sinnvollen Punkten ergänzt und berei- Nordhausen: Gedenkstättenarbeit und chert werden. Menschenrechtsbildung in sozialen Berufen, eine Kooperation der Evangelischen Hoch- schule Freiburg (Prof. Wilhelm Schwende- mann) mit der Hochschule Nordhausen (Prof. Cordula Borbe). Beginn: Herbst 2020. Einladung zur Auftaktveranstaltung unter https://www.hs-nordhausen.de/studium/ wiso/gameb/fachtag-die-zeit-ist-reif/

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Die persönliche Begegnung, die Erfahrung von Digitale Erinnerungsformen beschränken sich Gemeinschaft ist für Erinnerungskultur von zen- nicht auf Übergangs- und Ersatzlösungen für Prä- traler Bedeutung und letztlich nicht zu ersetzen. senzveranstaltungen, sondern verfügen über einen In Anbetracht der aktuellen Situation der Corona- eigenständigen Stellenwert. Das interaktive Zeit- Pandemie hat sich gezeigt, wie schmerzlich diese zeugnis Dimensions in Testimony beispielsweise Erfahrungen vermisst werden, wenn sie aufgrund simuliert Gesprächssituationen zwischen Zeitzeu- von Hygieneschutzmaßnahmen nicht oder nur gen, die holografisch dargestellt werden, und ler- eingeschränkt stattfinden können. Das Bedürfnis nenden Subjekten. nach Erinnerung, Begegnung und Austausch, ins- Die Zeitschrift für christlich-jüdische Begeg- besondere an Gedenktagen, ist trotz Pandemie nung, die im Übrigen auch in digitaler Form (als nicht geschmälert und es gilt, diesem gerecht zu PDF) erhältlich ist, greift diese verschiedenen Ebe- werden. In dieser Anforderungssituation kommen nen von neuen, kreativen und auch digitalen Ele- die Vorzüge und neuen Möglichkeiten von digi- menten der Erinnerungskultur auf und buchsta- talen Medien zur Geltung, die einen Begegnungs- biert sie innerhalb verschiedener Themenschwer- raum jenseits persönlicher Präsenz eröffnen und punkte durch. die Leerstelle, wenn ein persönliches Treffen nicht mehr möglich ist, konstruktiv zu füllen vermö- gen. Valesca Baert-Knoll hat beispielsweise an Yom Ha- Reinhold Boschki Schoah per Videostream die Namen der Holocaust- Julia Münch-Wirtz opfer verlesen lassen und eine Onlineausstellung Wilhelm Schwendemann zur Verfügung gestellt. Im Vorfeld gab es einen Verantwortliche Schriftleitung * weltweiten Aufruf, an der Kampagne #remember Ulrich Ruh ingFromHome teil- und sich selbst beim Rezitie- Redaktion ren der Namen von Holocaustopfern aufzunehmen (#shoahnames), welche im Anschluss in sozialen in Kooperation mit Netzwerken veröffentlicht werden sollen. Daniel Krochmalnik

* Das Tübinger Team wird von der studentischen Mitarbeiterin ZfBeg 1/2|2020 Vanesa Gasparevic unterstützt. 6

Joseph A. Kanofsky 1 Zikaron: Kultur der Erinnerung im Judentum

Erinnern ist für jüdische Identität zentral Tatsächlich lassen sich mindestens drei Spiel- arten des Erinnerns identifizieren. Die Entwicklung einer Kultur der Erinnerung Die einfachste davon bedeutet, in Übereinstim- ist für das rabbinische Judentum in seiner Existenz mung mit den ursprünglichen lateinischen Wör- nach der Zerstörung des Zweiten Tempels ein zen- tern memor oder rememorari, sich etwas zu mer- trales Unterfangen. Erinnern ist nicht bloß das Ge- ken oder ins Bewusstsein zurückzurufen. Das ist genteil von Vergessen; wie wir sehen werden, um- das genaue Gegenteil von Vergessen. fasst es ein Bündel von Verhaltensweisen, Äuße- Eine weitere Ebene des Erinnerns bedeutet rungsformen, Handlungen und Gebeten, die das nicht nur das bloße Zurückrufen, sondern, etwas in Weltliche auf die Ebene des Heiligen heben, das Zeit- den Vordergrund des Gedächtnisses zu stellen.Bei- gebundene mit dem Transzendenten verbinden, spielsweise stellt der »Tag des Erinnerns« im bri- das unmittelbar Gegebene mit dem Kosmischen. tischen Commonwealth das Ende des Ersten Welt- Ohne Zweifel ist Erinnern ist ein zentrales An- kriegs 1918 in den Vordergrund des Gedächtnis- liegen des rabbinischen Judentums und, wie wir ses; das geschieht durch Rituale wie das Tragen auf den folgenden Seiten zeigen werden, prägt es einer Kornblume am Revers der Jacke und das sich dem Bewusstsein als ein sinnvolles und kon- Einhalten einer Minute Stille um 11 Uhr am Vor- stantes Merkmal an den wichtigen Wendepunkten mittag. Der »Volkstrauertag« in Deutschland wird im jüdischen Leben ein. Wir werden uns mit fol- normalerweise wenige Tage später begangen, mit genden Punkten befassen: Ereignisse, die Momen- Reden, Liedern, Prozessionen und Kranznieder- te des Übergangs im Lebenslauf eines Juden mar- legungen. Am »Veterans Day« legt das Staatsober- kieren; Inhalt und Stil der täglichen Liturgie so- haupt der USA einen Kranz am Grabmal der un- wie der jährliche Kalender der Feste und Feierta- bekannten Soldaten auf dem Nationalfriedhof nie- ge. Wie wir sehen werden, verkörpert die Kultur der. Diese besonderen öffentlichen Rituale stellen des Erinnerns im Judentum eine ganz besondere das Gedächtnis der Kriegsgefallenen in den Mittel- Haltung. Mehr als 1900 Jahre lang, seit der Zer- punkt und rücken es an den obersten Platz, sie störung des Zweiten Tempels, hat diese Haltung drücken die Anerkennung der Nation für ihre den jüdischen Diskurs auf eindrückliche und kon- Opfer aus. stante Weise geprägt. Sie ist Brennpunkt des reli- Eine dritte Ebene des Erinnerns geht, theolo- giösen und gemeinschaftlichen jüdischen Lebens. gisch gesehen, noch viel tiefer als das eben Ange- Erinnern oder Erinnerung ist mehr als das blo- führte. Es geht weit über das bloße Vermeiden von ße Gegenteil des Vergessens. Erinnern hält in un- Vergessen hinaus und bedeutet mehr als etwas in serem Bewusstsein etwas Bestimmtes fest, hebt den Vordergrund des Gedächtnisses zu rücken. eine Emotion bzw. einen Bewusstseinsinhalt ge- Diese Ebene des Erinnerns stellt den gegenwärtig genüber anderen hervor. Auf diese Weise gewin- erlebten Augenblick als gleich-zeitig, co-synchron nen wir einen Zugang zum rabbinisch-jüdischen mit dem ursprünglichen Augenblick wieder her, Verständnis von Erinnern.2 mehr noch: erschafft den ursprünglichen Augen-

ZfBeg 1/2|2020 1 Dr. Joseph A. Kanofsky ist Rabbiner der Kongregation Shaarei 2 Zum Gegensatz von Geschichte und Erinnerung im jüdischen Torah in Toronto, Canada. Er erwarb seinen PhD an der Boston Diskurs siehe: Yerushalmi, Yosef Haim (1988): »Zachor«: University im Bereich der vergleichenden Literaturwissenschaft Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, und war in den 1990er-Jahren Wissenschaftlicher Assistent Elie Berlin. Wiesels. – Der vorliegende Beitrag wurde von Dr. Ulrich Ruh ins Deutsche übersetzt. 7

Torah in der ehemaligen Kölner Synagoge, Glockengasse.

genwärtige Geschehen mit Erinnern aufzuladen und es mit der göttlichen Macht seines Vorbilds und Vorgängers zu durchdringen: Dies geschieht offensichtlich bei den meisten Feiern in Frömmig- keit und Liturgie. Die rabbinische Literatur, am meisten Misch- na undTalmud (Sammlungen von Gesetzestexten zum jüdischen Ritual und gemeinschaftlichen Ver- pflichtungen) und in kleinerem Umfang der Mid- rasch (exegetische und homiletische Literatur), begann als allumfassender Akt des Erinnerns. Bis zur Periode von Juda dem Prinzen (ca. 135 – 217 nach der üblichen Zeitrechnung) waren diese Erklärungen des jüdische Gesetzes eine ausschließ- lich mündliche Tradition. Im Unterschied zur »ge- schriebenen Torah« der 24 Bücher des Kanons blieben die 63 Traktate der Mischna und ihre be- gleitende Erklärung im Talmud als »mündliche blick sogar neu. Zeit wird dabei nicht linear gese- Torah« überliefert, die wörtlich vom Lehrer zum hen, sondern zyklisch. Immer wieder setzen jene, Schüler weitergegeben wurde. Sie war absichtlich die die theurgischen 3 Möglichkeiten des Augen- nicht für die Schriftform bestimmt, um so den Un- blicks benutzen, die göttliche Gegenwart ins Werk, terschied zwischen dem von Gott gegebenen Kanon die beim ersten Mal sichtbar war, sei es die Er- und seiner menschlichen Erklärung zu bewahren. schaffung der Welt, der siebte Schöpfungstag, die Dementsprechend bildeten die Weisen der frühen »Bindung Isaaks« auf dem Altar oder das Ritual rabbinischen Periode eine ganze Kultur oder Ge- des Hohen Priesters im Jerusalemer Tempel am meinschaft des Erinnerns aus, in der die Fragen Versöhnungstag; sie laden den gegenwärtigen Au- und Antworten, die in der Blütezeit dieser umfas- genblick mit der transzendenten Macht des ur- senden Gesetzestradition die beständige Beschäf- sprünglichen Augenblicks auf. tigung mit einem auswendig gelernten und münd- lich überlieferten Bestand an Literatur erforderte.4 Rabbinische Zugänge zum Gedenken Man kann nur schwer die Auswirkung überschät- zen, die all das auf die jüdische Kultur als Kultur Die Kultur des Gedenkens im rabbinischen Ju- des Erinnerns hatte. dentum besteht in weiten Teilen aus dieser drit- Es genügt die Feststellung, dass die Grundlage ten Ebene des Erinnerns. Hier geht es um das Auf- für die Kultur des Erinnerns, die das Judentum in rufen des ursprünglichen Geschehens, um das ge- der fast 2000-jährigen Zwischenzeit seit der Zer-

3 Theurgie ist die in der jüdischen Tradition, insbesondere 4 Vgl. Ong, Walter (2002): Orality and Literacy, New York. ZfBeg 1/2|2020 in der jüdischen Mystik, gängig Praxis der Verbindung des Weltlichen mit dem Göttlichen. 8 Joseph A. Kanofsky: Zikaron – Kultur der Erinnerung im Judentum

störung des Tempels darstellt, tief im talmudischen als Satzung für Jakob, als ewigen Bund für .« Diskurs verwurzelt ist. Die Spannung, die mit dem Die Beschneidung ist ein sichtbares Zeichen für Talmud gegeben ist, besteht darin, wie die vom diesen Bund (hebräisch: brit ) zwischen Gott und Text der Bibel verlangten verschiedenen Rituale Abraham und seinen Nachkommen; das Erinnern und Riten, vor allem die des Tempelgottesdiens- an diesen Bund wird bei dieser ersten Lebenszäsur tes, ohne diesen Tempel ausgeführt werden kön- beschworen. Das ist mehr als eine Erinnerung, nen. Das alles bahnte sich bereits nach der Zer- mehr als eine Geste, die den ursprünglichen Mo- störung des salomonischen Tempels im 6. Jahr- ment für die gegenwärtige Erfahrung in den Vor- hundert vor unserer Zeitrechnung und dem da- dergrund rückt. Über diese Ebenen hinaus ist es rauf folgenden babylonischen Exil an. Die am das Bestreben, den Augenblick von Abrahams Op- besten geeignete und dauerhafteste Antwort auf fer und den jetzt anwesenden Vater, der seinen dieses Problem blieb über die Jahrhunderte hin- Sohn in den Bund aufnimmt, in ein und demsel- weg eine Kultur des Erinnerns. ben transzendenten und metahistorischen Augen- blick des Bundesschlusses zu vereinigen. Der Lebenszyklus Die Hochzeitszeremonie im Judentum schließt mit sieben Segenssprüchen, die unter dem Hoch- Drei Achsen des jüdischen Lebens belegen die zeitsbaldachin rezitiert werden. Der vorletzte klare Evidenz des Vorrangs des Erinnerns, der bei- Spruch lässt zwar das Wort »Erinnern« aus, ruft nahe an jedem Wendepunkt ins Spiel kommt. Der aber dennoch dieselben Segenssprüche auf das Zyklus des Lebens mit den ihn begleitenden peri- Paar unter der Chuppah herab, die über Adam odischen Ritualen, die tägliche Liturgie, die einem und Eva, dem ersten Paar, herabgerufen wurden. Juden aufgetragen ist, ob allein oder in einer Ge- »Erfreue die gesegneten Brautleute, wie Du ehe- betsgemeinschaft, und schließlich der jährliche mals Deine Geschöpfe im Garten Eden erfreut Zyklus der Fest- und Feiertage: Das alles sorgt da- hast. Gepriesen bist Du Gott, der Du Bräutigam für, dass das Erinnern zum Hauptantrieb wird, der und Braut erfreust.« Die Braut und der Bräuti- das jüdische Leben prägt. gam, die vor uns unter dem Hochzeitsbaldachin Der Lebenszyklus beginnt mit der Zeremonie stehen, werden nicht nur poetisch mit Adam und der Namensgebung bei der Geburt. Bei Jungen bil- Eva verglichen; sie werden vielmehr jetzt im Au- det diese Namensgebung einen Teil derbrit milah, genblick der Segnung zum ursprünglichen Paar dem Beschneidungsritual am achten Tag nach der des Anfangs. Geburt. Die kurze Liturgie für die Namensgebung Auch die letzten Vorgänge des Lebens, Tod beinhaltet ein Zitat aus Psalm 105,8-10: »Ewig ge- und Begräbnis, enthalten in ihrem Ritual das Er- denkt Er seines Bundes, dem Wort, das Er gege- innern. Dabei berücksichtigt es in diesem Fall die ben hat für tausend Geschlechter; des Bundes, Fragilität und Prekarität des Lebens, die in dem den Er mit Abraham geschlossen hat; des Eides, Grenzzustand, den die abgeschiedene Seele jetzt den Er Isaak geschworen hat. Er bestimmte ihn einnimmt, deutlich wird. Die Sammlung von Stel-

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len, die beim Begräbnis gesprochen werden, trägt Hier könnten wir mit der möglicherweise irri- den Titel »Annehmen des Gerichts«. Sie enthält tierenden theologischen Herausforderung zu kämp- folgende Stelle: »In deiner Hand ist die Bewahrung fen haben, was es denn bedeute, Gott zu bitten, aller Geister. Der Himmel soll es dir verbieten, die Er möge Sich erinnern. Schließlich impliziert das Erinnerung an uns auszulöschen.« Es handelt sich die Vorstellung, Gottes Gedächtnis sei fehlerhaft um eine Umschreibung von Abrahams bekann- und habe eine Erinnerung nötig. Die Absicht liegt tem Eintreten vor Gott für die Sünder von Sodom allerdings anderswo. Es gibt hier eine Praxis, die in Gen 18,25. Die Besorgnis, die zum Ausdruck zum Liturgischen hinzutritt und einen Teil von ihm kommt, wenn man ein Mitglied der Gemeinde ausmacht: die lebendige Verpflichtung, zugunsten zur letzten Ruhe bettet, besteht in nicht geringem der Toten etwas Gutes zu tun, so dass dieses po- Maß aus der Angst, dass die Erinnerung verblas- sitive religiöse Verhalten Verdienste zugunsten sen und letztlich ganz verschwinden wird. Indem der Toten erwerben kann. Sie sind in diesem Sinn dieser biblische Augenblick mit dem unmittelba- tot, aber nicht vergangen. Der Bittsteller bittet ren Augenblick des Verlusts und der Trennung Gott nicht, Sich zu erinnern, weil Gott nicht ver- verbunden wird, wird das Zeitliche in das Ewige gisst. Der Bittsteller bittet Gott nicht darum, das verwandelt. Gedenken an seine verstorbene Familie in Seinem Wissen nach vorne zu rücken; eine solche Bitte ist Das Gebet namens überflüssig. Die Bitte zielt darauf, dass durch gött- »Yizkor« – »Erinnere dich« liche Barmherzigkeit unsere zeitlichen Akte der Rechtschaffenheit sich in der geistigen Welt der Teilweise im Blick auf diese Angst vor dem Seelen auswirken mögen; Gott möge Almosen, Vergessenwerden sprechen Juden bei vier Anläs- die in dieser Welt gegeben werden, als verdienst- sen im jüdischen Kalenderjahr ein sehr kurzes li- lich für diejenigen betrachten, die sie nicht mehr turgisches Gebet; am letzten oder vorletzten Tag bewohnen. eines Fests. Man nennt dieses Gebet »Yizkor«, also »Erinnere dich«, nach seinem ersten Wort; Gott vergisst nicht in voller Länge heißt es: »Möge sich Gott der See- le meines Elternteils, meines Lehrers erinnern, die Aus diesen Beispielen folgt, dass Erinnerung zu seiner Welt hingegangen ist, denn ich werde mehr ist als ein bloßes Wort, ein Aufruf oder eine eine Gabe zu ihren/seinen Gunsten spenden. Erwähnung; es ist von greifbarer Art und Beschaf- Deshalb soll seine/ihre Seele in den Bund des Le- fenheit. Gott, der nicht vergisst, wird dringend da- bens aufgenommen werden, zusammen mit den rum gebeten, zu erinnern; so muss es logischer- Seelen von Abraham, Isaak und Jakob, von Sara, weise eine Dimension des Erinnerns geben, die Rebekka, Rachel und Lea; und zusammen mit den ganz und gar vom Vergessen unterschieden ist, anderen Gerechten im Garten Eden. Und wir das genaue Gegenteil davon. Das Erinnern könn- sprechen ›Amen‹.« te eine Wirklichkeit und ein Sein eigenen Rechts

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haben, eine Vorrangstellung oder eine Aufwer- Bund unserer Vorväter erinnerst.« Hier haben wir tung erfahren; worin bestünde sonst der rhetori- wieder ein Gebet, das Erinnerung in das Bewusst- sche oder religiöse Sinn davon, einen Gott in Sei- sein der betenden Person einprägt; und wieder bit- ner Vollkommenheit zu bitten, etwas nicht zu ten die Betenden darum, dass sich etwas beim Höchs- vergessen? Wie gezeigt, geht es um mehr als um ten, in den göttlichen Regionen bewegen soll. die formelhafte Wiedererinnerung an ein vergan- Anstelle der täglichen Opfer des Tempeldiens- genes Ereignis; es geht im Vollsinn darum, das tes wird die Ordnung dieses Dienstes erinnert, und Göttliche, also das Unzeitliche, mit dem imma- es werden Gebete dargebracht, deren Erinnern nenten, dem zeitlichen Akt einer Person, zu ver- und Erwähnung die gleiche Nähe der Begegnung binden. Mit einem vollkommenen Ausgleich von von Gott und Mensch bewirken soll, die die reale göttlicher Gnade und menschlicher Anrufung wird Praxis im Jerusalemer Tempel ins Werk setzte. So das Göttliche in das Weltliche hineingeholt. folgt auf die liturgische Rezitation der täglichen Opfer wiederum ein kurzes Gebet, das die Präsen- Die täglichen Gebete und der Kalender tation der Elemente des Tempeldienstes in verba- formen eine Kultur des Erinnerns ler Form umfasst: Diese mündliche Darbietung möge die Kraft der Versöhnung, Annäherung und Die täglichen Gebete eines Juden sind ähnlich Erfüllung der Bitten bewirken; das Beten und Er- wichtige Bezugspunkte für die Kultur des Erin- innern der Ordnung des Tempeldienstes möge die nerns. Die Morgengebete beginnen mit dem Anle- gleiche Nähe und Gemeinschaft mit Gott errei- gen der Phylakterien, also der Gebetsriemen, der chen, die damals durch seine physische Darbie- Tefillin, als Ausführung der Weisung von Dtn 6,8: tung im Tempel bewirkt wurde. »Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk bin- Ein Jude bekennt den Glauben an Gott mehr den. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn wer- als einmal am Tag, indem er Verse aus Dtn 6,4-9, den.« An denTefillin sind kunstvoll gearbeitet Leder- 11 und 13-21 sowie Num 15,37-41 rezitiert, die täschchen befestigt, die winzige Pergamentrollen die Weisungen der Schrift für das Erinnern des enthalten, auf denen Verse aus dem Pentateuch Auszugs aus Ägypten enthalten. An verschiedenen geschrieben sind, darunter Ex 13,1-16: »Gedenke Stellen im zentralen Gebet Amidah, dem soge- des Tages, an dem du aus Ägypten herauszogst.« nannten »Stehenden Gebet«, wird die Erinnerung Die Morgenliturgie umfasst Gen 22, die Bin- an den Tempel regelmäßig aufgerufen, ebenso wie dung Isaaks, die uns an jedem Tag aufs Neue vor die speziellen Erfordernisse für das Erinnern in Ver- Augen geführt wird – als Erinnerung an Abrahams bindung mit der Zeit während der hohen Festtage. Bereitschaft, seinen wertvollsten und lange erwar- Zu den täglichen Gebeten gehört in vielen Fas- teten Nachfahren zu opfern. Auf diesen Passus folgt sungen des Standardgebetsbuchs das allerkürzes- eine Anrufung, die beginnt: »Herr des Universums! te mit dem Titel »Sechs Erinnerungen«, eine ein Möge es Dein Wille sein, Gott unser Gott und Gott bis drei Verse lange Rezitation von sechs unter- unserer Vorfahren, dass Du zu unserem Heil den schiedlichen biblischen Geschehnissen, die erin-

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nert werden sollen: der Auszug aus Ägypten; die Schabbat und jüdische Feste Offenbarung am Sinai; der Angriff der Amalekiter, als Tage des Erinnerns das Goldene Kalb, die Rede Miriams und der Schabbat. Sie werden auch vom Einzelnen laut Der Schabbat ist schon als solcher eine wö- gelesen, um so die biblischen Weisungen einzu- chentliche »Erinnerung an das Werk der Schöp- lösen, d.h. sie zu erinnern. fung« und eine »Erinnerung an den Auszug aus Bemerkenswerterweise besteht das jüdische Ägypten«, wie sein Heiligungsgebet die jüdische Gebet sowohl aus Akten der Erinnerung wie aus Familie in den Ruhetag einführt. Diese beiden Er- Erinnerung als solcher. Im Lauf des täglichen Mor- innerungen werden in Gegenwart der gesamten gengebets, das weniger als eine Stunde in An- Familie bei der kurzen Heiligungszeremonie, beim spruch nimmt, kann ein Jude sich selbst als anwe- Kiddusch, wörtlich am Esstisch zitiert – und zwar send bei der Erschaffung der Welt, der Bindung gleich zum Beginn des Mahls, das den wöchent- Isaaks, dem Exodus und der Teilung des Rotes lichen Feiertag eröffnet. Meers und am Sinai vorstellen und die enge Ver- Jeder der jährlichen Festtage, Pessach, Scha- bindung mit Gott bei jedem dieser Ereignisse ins vuot und Sukkot, wird wiederum in der Synagoge Gedächtnis rufen. ebenso wie zuhause willkommen geheißen, in- Schließlich bildet der jährliche Zyklus von Feier- dem man die Prägung des jeweiligen Festtags als tagen und Festen ein kontinuierliches Gegenwär- »Erinnerung an den Auszug aus Ägypten« er- tigsein aktiven Erinnerns, indem er vergangene wähnt. Erfahrungen stets wiederkehrend aufruft. Sie er- Das sehr populäre und bleibende Ritual von halten greifbaren sinnlichen und verbalen Aus- Pessach ist derSeder, ein gemeinschaftliches Mahl druck, um so die spirituelle und gemeinschafts- zuhause, bei dem ungesäuertes Brot und bittere stiftende Kraft dieser Tage auf Neue zu erleben. Kräuter verzehrt werden, um den wirklichen Ge- Bei den meisten hier erwähnten Vorschriften ge- schmack und die Bitterkeit von Sklaverei und Ge- hört zu ihrer Ausführung das Rezitieren des in der fangenschaft ins Gedächtnis zu rufen. Indem sie Bibel angeordneten Gottesdienstes im Zelt, später alle fünf Sinne anspricht, mit Gesang und Erzäh- im Jerusalemer Tempel. Der Text wird so zu einer lung, mit Wein und Hallel (die Lobpsalmen 113- Handlung. Diese Kultur des Erinnerns prägt bis 118), erzählt und erlebt die Familie die Erlösung heute Tag für Tag und im Jahresablauf das ganze aus Ägypten aufs Neue und realisiert durch dieses religiöse Ritual und die religiöse Praxis des Juden- Tun die Übertragung auf künftige Generationen. tums. Für gegenwärtige und zukünftige Beteiligte Die Haggada, das schmale Buch, das die schriftli- bestätigt und gleichzeitig verstärkt sie die Bedeu- che Vorlage für das abendliche Ritual liefert, wur- tung und die emotionale Wirkung jener Rituale, de so oft in so vielen unterschiedlichen geografi- die nach dem Verlust des Tempels als Zentrum des schen und linguistischen Kontexten angepasst, jüdischen Lebens im ersten nachchristlichen Jahr- übersetzt, modifiziert und revidiert, dass sie zum hundert nicht mehr praktizierbar erschienen. am meisten nachgedruckten jüdischen Buch wur-

ZfBeg 1/2|2020 12 Joseph A. Kanofsky: Zikaron – Kultur der Erinnerung im Judentum

Die Haggada ist im religiösen Leben der Juden Erzählung und Handlungsanweisung für den Seder am Erev Pessach, dem Vor- abend des Fests der Befreiung der Israeliten aus der ägypti- schen Sklaverei. Gedeckter Tisch für den Seder. Rabbi Joseph A. Kanofsky berichtet in seinem Beitrag von mehr als 7.000 veröffentlichten Varianten der Pessach-Haggadah.

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

ZfBeg 1/2|2020  Seder-Tisch, Darstellung aus dem 19. Jh.  Rabbi Nachman’s Haggadah, 2013.  The Rylands Haggadah, Mitte 13. Jh.  Pessach-Haggada von Jakob Michael May Segal, 1731, Frankfurt am Main. Sie wird im Museum Judengasse Frankfurt am Main aufbewahrt und ist eine Schenkung von Ignatz Bubis.  Seite aus der Vogelkopf-Haggadah, 13. oder 14 Jh. 13

de, mit etwa 7.000 veröffentlichten Varianten mit froherem Herzen begangenen Feier des israe- und unzähligen »hausgemachten« Versionen. Die lischen Unabhängigkeitstags, desYom Haatzmaut, Haggada enthält den Text der Erzählung und die voraus. wirkliche Choreographie des Erinnerns: Die Mit- Das sog.Omerzählen oder Sefirat Haomer ist wirkenden sehen sich selbst, als wären sie am tat- ein kurzes tägliches Ritual, das Pessach mit Scha- sächlichen Auszug aus Ägypten in jener Nacht be- vuot (analog zum Pfingstfest) verbindet. DasOmer teiligt. war das erste Frühlingsopfer, das früher zur Zeit des Der Monat Nissan als solcher, in dem Pessach Tempels dargebracht wurde. Es wurde von der begangen wird, wird vom Rest des Jahres durch Ernte der Gerste genommen, die als erste Feld- eine leicht abweichende Tagesliturgie unterschie- frucht reif war. Dieses Zählen beginnt am zweiten den, die ihn als einen Monat der Freiheit und der Tag des Pessachfests, und heutzutage wird jeder Befreiung sowie einer besonderen Nähe zu Gott Tag in Erinnerung an jenes Gerstenopfer im Tem- kennzeichnet. pel genau gezählt, sieben volle Wochen, 49 Tage, Yom Hashoah und Yom Hazikaron wurden im bis Schavuot bzw. Pfingsten, dem Frühlingsfest, 20. Jahrhunderts zum jüdischen Kalender hinzu- das an das gemeinsame Stehen am Berg Sinai und gefügt. Beide Tage drehen sich um das Erinnern. den Empfang der Zehn Gebote erinnert (Ex 19-20). Yom Hashoah, der Tag des Erinnerns an den Ho- Genau wie anPessach sind die Liturgie des Tages locaust, ist ein Gedenktag im späten Frühjahr, ein (»Die Zeit des Empfangs unserer Torah, eine Er- Kompromissdatum zwischen denen, die ihn im innerung an den Auszug aus Ägypten«), die sym- Kalender am hebräischen Datum des Warschauer bolischen Speisen und sogar der Schmuck der Ghettoaufstands von 1943 festmachen wollten, Synagoge kulturelle Elemente, die das Erinnern an am ersten Tag des Pessachfests, und denen, die ihn einen entscheidenden Moment in der jüdischen später ansetzen wollten, damit dieses melancho- Geschichte unterstützen, der sich als solcher jähr- lische Gedenken nicht mit dem Themen Freiheit lich mit Freude und Festlichkeit wieder darstellt. und Erlösung des hebräischen Monats Nissan zu- Die Erfahrung, mit der Vergangenheit, Gegenwart sammenfällt. und Zukunft des jüdischen Volkes am Sinai zu ste- Yom Hazikaron, nur wenige Wochen nach Pes- hen, schafft einen Erinnerungsraum für die Men- sach und einige Tage nach dem Yom Hashoah, ist schen, um die beständige Offenbarung der Torah der israelische Gedenktag für die gefallenen Sol- zu empfangen, die nicht auf ein Datum in der Ge- daten und wurde von damit sympathisierenden schichte begrenzt ist. jüdischen Gemeinden in der ganzen Welt über- Drei Sommerwochen lang rückt das ernste Ge- nommen. Wörtlich bedeutet sein Name »Tag der denken in den Mittelpunkt, deren Kultur des Er- Erinnerung«; er wird geprägt von der äußerst feier- innerns sich um die Belagerung in alten lichen Anerkennung für jene, die ihr Leben in den Zeiten und um die darauf folgende Zerstörung des Verteidigungsstreitkräften Israels gaben. Mit seiner Jerusalemer Tempels 586 vor und 70 nach unse- sehr düsteren Stimmung geht er unmittelbar der rer Zeitrechnung dreht. Merkdaten für diese Pe-

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riode sind zwei Fasttage: Der 17.Tammuz und der hervorragendes Beispiel dafür, wie man sich in 9. Av im hebräischen Kalender. Dieser etwas trau- einen transzendenten Moment der Trauer und rige Zeitraum führt auf immer höhere Ebenen des des Verlusts hineinbegibt. Verzichts und der Selbstkasteiung hin zum 9. Av, Wenige Wochen danach beginnt die Zeit der an dem die Beteiligten die Gebräuche ausführen, Buße mit Selihot, Bußgebeten, die gemeinschaft- die beim Tod eines Familienmitglieds gelten. Ab lich im Morgengrauen, vor den regulären Morgen- dem Fasten am 17. Tammuz gibt es keine Ver- gebeten, verrichtet werden. Das beherrschende sammlungen zu öffentlichen Hochzeiten oder an- Thema dieser Gebete ist das Erinnern. Ihr Höhe- deren festlichen Anlässen, es wird auch keine Mu- punkt ist das Sprechen des »Erinnere den Bund« sik gespielt, um die Seelen zu erheben. Die einzi- am Morgen vor Rosch Haschanah. gen Ausnahmen sind die Brit Milah (Beschnei- dung); sie muss – wenn medizinisch möglich – Der Höhepunkt des Jahres: am achten Tag nach der Geburt durchgeführt wer- Rosch Haschanah den, damit sie an die Beschneidung Isaaks durch Abraham in diesem Alter erinnern kann, und die Rosch Haschanah, das jüdische Neujahrsfest, Vermählung von Paaren, die zu jedem Zeitpunkt kennt eine einzigartige Version des zusätzlichen formell besiegelt werden kann, auch ohne Musik Gebets, alled Musaf. Dieses Gebet unterscheidet und Festlichkeiten, um an das erste Paar Adam sich von dem Musaf-Gebet am Schabbat, am und Eva zu erinnern. Neumond oder an den drei Festen Pessach, Scha- An den ersten neun Tagen des hebräischen vuot und Sukkot; es widmet sich dem einzigen Monats Av und in der Woche mit dem Fasttag des Thema dieses besonderen Tages. Das Musaf-Gebet neunten enthalten sich Juden genussvoller Vergnü- an Rosch Haschanah umfasst drei Themen: die gungen: Fleisch und Wein, sowie weltlicher Sor- Souveränität Gottes, das Erinnern und das Scho- ge, zum Beispiel dem Wäschewaschen. Am 9.Av far (ein rituelles Widderhorn). Jedes dieser Themen selbst wird der Gedenktag markiert durch Fasten, wird in diesem komplexen Gebet erinnert, indem das Sitzen auf niedrigen Stühlen oder auf dem Bo- es Verse aus dem Pentateuch, den Propheten und den wie Trauernde, das Wegräumen von beque- den Weisheitsbüchern rezitiert, die das Thema er- mem Schuhwerk, den Verzicht auf gegenseitiges wähnen. Es wird abgeschlossen mit einer Bitte da- Grüßen und das Lesen des Buchs der Klagelieder rum, dass alle diese biblischen Verse voll in unse- mit leiser und trauriger Stimme. Diese Entbeh- rer Erfahrung zur Wirkung kommen, die ganze rungen in der Ernährung, von Berührungen, im Welt ein günstiges Urteil finden möge und zu einer Sehen und Hören sorgen für die Stimmung der universalen Anerkennung Gottes führen sollen. Trauer und des Gedächtnisses der Trauer über den Die abschließende Bitte der Reihe von erinne- Verlust des Tempels und das darauf folgende Exil. rungsbezogenen Versen lautet: »Denn Du bist es, Wie kann man um ein Ereignis trauern, das 19 Jahr- der Sich ewig alles Vergessenen erinnert, und es hunderte zurückliegt? Das Fasten des 9.Av ist ein gibt kein Vergessen vor Deinem Thron der Ehre,

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und mögest Du gnädig heute die Bindung Isaaks zur Erlösung seiner Nachkommen erinnern.« Nach jeder der drei ähnlichen Reihen wird das Schofar geblasen, außer dann, wenn Rosch Ha- schanah auf den Schabbat fällt und das Schofar- blasen weggelassen wird. Dann wird statt dessen eine Erinnerung an das Erinnern gebetet: Die Li- turgie ersetzt dann die Verse »Du gabst uns, o Gott, voll Liebe diesen Tag des Erinnerns, einen Tag, an dem das Schofar geblasen wird, eine hei- lige Versammlung, eine Erinnerung an den Aus- zug aus Ägypten« durch: »Du gabst uns, o Gott, voll Liebe diesen Tag desSchabbat und diesen Tag der Erinnerung, einen Tag, der an das Blasen des Schofar erinnert, voller Liebe, eine heilige Ver- sammlung, eine Erinnerung an den Auszug aus Ägypten.« Darstellung eines Schofar Das Fest Sukkot folgt bald nach Rosch Hascha- auf einem Plakat zu Yom Kippur, 2003. nah und Yom Kippur. Das zentrale Thema, dem es seinen Namen verdankt, sind die Laubhütten, die Juden in ihren Gärten aufstellen und zum Es- trächtigt hat. Diese Reflexionen können einige in- sen, zur Geselligkeit und manchmal sogar zum teressante Einsichten bezüglich seiner Durchhal- Schlafen (in wärmeren Klimazonen) an den acht tefähigkeit und Flexibilität auch unter sich ver- Tagen des Festes benutzen – als Erinnerung an ändernden sozialen und institutionellen Bedingun- Gottes Schutz für das Volk während seiner vierzig- gen vermitteln. jährigen Wanderung in der Wildnis nach dem Aus- Als das rabbinische Judentum den Ort des Got- zug aus Ägypten. tesdienstes von dem nicht mehr vorhandenen Je- rusalemer Tempel wegverlegte, verschob es den Neue Herausforderungen durch Covid19 Brennpunkt der Begegnung von Gott und Mensch von einem einzigartigen Punkt auf dem Globus Abschließend wollen wir über das Durchhal- zu theoretisch jedem Punkt auf dem Globus. Wo ten des Judentums während der jüngsten kulturel- auch immer sich eine jüdische Gemeinschaft zum len Erschütterung durch die Covid19-Pandemie öffentlichen Gottesdienst versammelte oder viel- nachdenken, die die institutionalisierte Religion leicht noch stärker veränderbar und flexibel, wo in ihrer Abhängigkeit von gemeinsamem Gottes- immer sich ein jüdischer Haushalt der vollen Teil- dienst und liturgischen Leitung schwer beein- habe an der Kultur des Erinnerns verpflichtete,

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dort konnte und kann sich bis heute das Erinnern nicht bloß das Gegenteil des Vergessens sein. in aller Stärke und aller Kraft ereignen. Das rab- Sogar der bloße Vorgang des Erinnerns als eine binische Judentum als solches enthielt in sich die Absage an das Vergessen unterstellt, dass ein The- Saat zum Überleben und Blühen sogar unter der ma, ein zu erinnerndes Etwas, nicht vollständig aus Inquisition, dem Kommunismus und anderen zeit- dem Bewusstsein verloren geht; es bedeutet nur, weisen Hindernissen für Observanz und Erinnern. dass dieses Etwas nicht im Vordergrund oder im Quarantäne und Isolation als Folge einer Pande- Zentrum steht. Es wird quasi ausgeschaltet, dann mie waren für eine ewige Kultur des Erinnerns aber wiederbelebt; aber weil es nicht aktiv ver- niemals ein ernsthaftes Problem. wendet wird, befindet es sich nicht im Vorder- Sehr wenige der hier erwähnten Praktiken und grund des Bewusstseins oder der Aufmerksam- Rituale erfordern ein gemeinschaftliches Sakra- keit. ment. Natürlich gibt es im Judentum wie in jeder Ein Beispiel aus dem alltäglichen Leben kann Religion ein bedeutendes soziales Element. Aber diesen Vorgang illustrieren: Wenn wir etwas »ver- für einen Juden erfordern Gebet, Erinnern, Stu- gessen«, etwa wo wir unsere Schlüssel gelassen dium und das Engagement in den meisten hier er- haben oder dass wir Milch und Äpfel aus dem Le- wähnten rituellen Praktiken nichts anderes als bensmittelgeschäft mitbringen sollten, verfolgen Wissen und Frömmigkeit. Es braucht keinen Kle- wir entweder unseren Weg nach und korrigieren rus, um ein Ereignis zu segnen, keine heiligen Vor- das, von dem wir wissen, dass wir es hätten tun höfe müssen die Grenzen für das Heilige signali- sollen; oder, wenn wir die Schlüssel wiederfinden sieren. In der Tat, das Erinnern als solches schafft oder nach Hause kommen und uns plötzlich daran und heiligt Raum wie Zeit. erinnern, wozu wir in das Lebensmittelgeschäft Institutionen des heutigen Judentums, etwa gehen sollten, greifen wir uns an den Kopf und Gemeinschaftsorganisationen für karitative und sagen: »Richtig! Ich habe es vergessen! Jetzt erin- soziale Zwecke oder sogar große Synagogen mit nere ich mich.« Wir waren uns der Sache bewusst, entsprechenden Haushaltsmitteln, werden mögli- sie stand aber nicht im Zentrum der Aufmerksam- cher Weise dazu herausgefordert, über ihre Tätig- keit. Erinnern meint, dass wir die Sache in den keiten in einer veränderten Welt nach Covid19 Vordergrund der Aufmerksamkeit schieben und neu nachzudenken. Aber die Kraft der jüdischen das Licht von Absicht und Konzentration auf sie Kultur des Erinnerns ist durch solche Herausfor- richten. derungen kaum zu erschüttern. Unsere begrenzten und vergänglichen intellek- tuellen Fähigkeiten fallen definitiv weg, wenn wir Kultur des Erinnerns heute? alt werden und sterben. Gott wird weder alt noch stirbt er, sondern er ist in jedem Fall vollkommen Am Ende stellt sich nochmals die Frage: Was und ohne menschliche Schwächen. So müssen wir ist eine Kultur des Erinnerns für unsere Zeit? In Menschen uns unter Umständen an das »erin- dem Kontext, mit dem wir uns befassen, kann sie nern«, was wichtig ist, und diese wichtigen Dinge

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den weniger wichtigen vorziehen. Weil wir Gott tur des Erinnerns lädt Gott in unsere großen Über- nur in menschlicher Sprache begreifen und uns mit gänge des Lebens und des Sterbens ein, sie bringt ihm befassen können, was als solches logisch un- Ihn mit ins Spiel. Dies geschieht in unserer jährli- möglich ist, müssen wir unvermeidlicher Weise chen und täglichen Choreographie des Erinnerns, Begriffe wie »Erinnern« verwenden, die mensch- die sich in Gebet und Ritual ausdrücken. liche Fähigkeiten beschreiben, aber die Wahrheit Das rabbinische Projekt, eine Kultur des Erin- Gottes nicht erfassen können. Paradoxerweise nerns zu schaffen und beizubehalten, hat ehrgeizi- kommen wir dem Wesen Gottes am besten näher, ge Ziele. Es möchte die Weltsicht, die Perspektiven wenn wir schweigen. Aber Schweigen ist nicht und Werte einer religiösen Gemeinschaft auch das, was von uns erwartet wird, es kommt auch dann bewahren, wenn zentrale Teile des Funktio- dem nicht nahe, was wir leisten können. Wir ha- nierens dieser Gemeinschaft unwirksam gemacht ben eine vom Scheitern bedrohte, aber notwen- werden, bis zu der Zeit, in der sie wieder belebt dige Mission: Wir müssen riskieren, zu Gott, mit werden können. Die Kultur der Erinnerung ver- Gott und über Ihn in einer Sprache zu reden, die sucht, eine Gemeinschaft über geographische der Aufgabe letztlich nicht gerecht wird. Und doch Grenzen und den Wechsel der Zeiten hinweg zu- ist das alles, was wir haben. Kafka und Sisyphus sammenzuhalten, so weitgehend, dass diese Kul- verkörpern unser Schicksal: Keiner von ihnen tur über Außenposten in fünf Kontinenten und schreckte vor seiner Verantwortung als Mensch über 19 Jahrhunderte hinweg verfügt. Ob mit Ab- zurück. Auch wir dürfen das nicht. sicht oder unbewusst hat es dem Leben vieler Gene- Wenn wir Gott darum bitten, sich zu erinnern, rationen seiner Anhänger Tiefgang, Sinn, Orien- rufen wir uns sowohl Gottes Gegenwart wie Sein tierung und die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit ge- Mittun ins Bewusstsein. Das bedeutet, dass wir genüber der Welt und dem Nächsten vermittelt. beides zur Kenntnis nehmen, auch, dass in uns die Die jüdische Kultur der Erinnerung hat nichts Hoffnung, das Bemühen und die Fähigkeit gestärkt weniger als das ehrgeizige Ziel, die Welt auf das wird, das Wertvollste in den Mittelpunkt zu rücken: Ende der Zeiten vorzubereiten, so wie Elie Wiesel das vollkommene Gleichgewicht unter unseren sehr häufig Rabbi Israel Baal Schem Tow zitierte: Prioritäten hervorzubringen. Vielleicht sind wir uns der Kluft zwischen unserer begrenzten Fähigkeit »Im Erinnern liegt bewusst, dieses vollkommene Gleichgewicht auf- das Geheimnis der Erlösung.« recht zu erhalten, und Gottes grenzenloser Fähig- keit, sich an alles zu erinnern. Trotzdem rufen wir die Unendlichkeit Gottes an, wenn wir in unserer Endlichkeit nachdenken, eine Art Denken auf Ab- stand zum Göttlichen, in dem wir auch nie die Aufmerksamkeit für unsere wichtigsten Werte und Perspektiven verlieren. Kurz gesagt: Eine Kul-

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Katharina Stengel 1 Fritz Bauer und der Auschwitz-Prozess

Der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer erheblichen, auch innerbehördlichen Widerstand (1903 –1968) und der wesentlich von ihm initi- für eine energische Verfolgung der NS-Verbrechen ierteFrankfurter Auschwitz-Prozess (1963 –1965) einsetzte. teilen eine gemeinsame Geschichte: Sie fanden Fritz Bauer, 1930 in Stuttgart zum Amtsrichter Anfang/Mitte der 1960er-Jahre in der bundes- ernannt, wurde als Jude und engagierter Sozialde- deutschen Öffentlichkeit starke Beachtung, wenn mokrat bereits im März 1933 von den National- auch keineswegs einhellige Zustimmung. Wenig sozialisten verhaftet und für acht Monate im KZ später gerieten sie weitgehend in Vergessenheit, Heuberg festgehalten. 1936 emigrierte er nach um dann in den 1990er-Jahren allmählich wieder- Dänemark, wo er nach dem Einmarsch der Deut- entdeckt zu werden. schen 1940 zunächst interniert wurde. 1943, als Fritz Bauers posthume Karriere von einem fast die Deportationen der jüdischen Bevölkerung vergessenen Juristen zu einem Vorbild der bundes- kurz bevor standen, tauchte er unter und konnte republikanischen Vergangenheitsbewältigung ist nach Schweden fliehen, wo er gemeinsam mit beachtlich. Es gibt inzwischen zwei Biografien, Willy Brandt und anderen die Zeitschrift Sozialis- drei Spielfilme, mehrere Dokumentarfilme, eine tische Tribüne gründete. Bauer kehrte 1949 nach große Ausstellung, zahlreiche Sammelbände und Deutschland zurück und übernahm zunächst das Aufsätze sowie einige Monografien, die sich mit sei- Amt des Landgerichtsdirektors am Landgericht nem Leben und Wirken befassen.2 Es wurden ihm Braunschweig, 1940 das des Generalstaatsanwalts ein Denkmal gesetzt, Plätze, Straßen, Säle und am selben Ort. Er sorgte dort 1952 für Furore mit Preise nach ihm benannt und Tafeln an seinen einem Prozess gegen den ehemaligen Generalmajor Wohn- und Wirkungsstätten angebracht. Auch Otto Ernst Remer wegen dessen Verunglimpfung Briefmarken, die an ihn erinnern, gibt es inzwi- der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, die erst schen. Jede diese Ehrungen ist berechtigt, viele durch diesen Prozess posthum rehabilitiert wur- waren überfällig. den.3 Im Jahr 1956 wurde er von seinem Partei- In der Summe verweisen sie aber auf ein er- freund Georg-August Zinn, Ministerpräsident von staunlich großes Bedürfnis nach positiven Identi- Hessen, zum hessischen Generalstaatsanwalt be- fikationsfiguren in einer bundesrepublikanischen rufen. Juristen, die nicht durch Funktionen oder Nachkriegselite, die daran nicht eben reich war. Insbesondere die Justiz, die sich beharrlich wei- Fritz Bauer und das Versagen der Justiz. Nazi-Prozesse und ihre gerte, ihre eigene Beteiligung an NS-Verbrechen »Tragödie«, Hamburg; Backhaus, Fritz; Boll, Monika; Gross, zur Kenntnis zu nehmen, hatte bezüglich eines Raphael (Hg.) (2014): Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. Begleit- publikation zur gleichnamigen Ausstellung des Fritz Bauer kritischen und aufgeklärten Umgangs mit der NS- Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt, Frankfurt am Zeit wenig vorzuweisen. Da kommt der streitbare Main; Fritz Bauer Institut; Rauschenberger, Katharina (Hg.) (2013): Rückkehr in Feindesland? Fritz Bauer in der deutsch- Jurist und leidenschaftliche Aufklärer Fritz Bauer jüdischen Nachkriegsgeschichte, Frankfurt; New York (Jahr- buch des Fritz Bauer Instituts 2013).; Frei, Norbert (2014): wie gerufen, der eine hohe Stellung im Justizsys- Fritz Bauer oder: Wann wird ein Held zum Helden? in: Gerber, tem erlangte und sich in seiner Amtszeit gegen Stefan et al. (Hg): Zwischen Stadt, Staat und Nation. Bürgertum in Deutschland (Teil 1), Göttingen, S. 273 – 279. Dokumentarfilme: Ziok, Ilona: Fritz Bauer – Tod auf Raten. Deutschland 2010.; Hartl, Peter; Klamt, Andrzej: Mörder unter ZfBeg 1/2|2020 1 Dr. Katharina Stengel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am uns – Fritz Bauers Kampf, Deutschland 2013; Fritz Bauer – Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Generalstaatsanwalt. Nazi-Jäger, von Catherine Bernstein, 2016 Dubnow in Leipzig, in dem in Kooperation mit dem Fritz Bauer (Arte Frankreich). Institut durchgeführten Forschungsprojekt »Opferzeugen in NS- Spielfilme: Im Labyrinth des Schweigens, Spielfilm von Giulio Prozessen. Eine Analyse ihrer wechselhaften Rolle in sechzig Ricciarelli mit Gert Voss als Fritz Bauer, Deutschland 2014; Jahren Bundesrepublik«. Der Staat gegen Fritz Bauer, Spielfilm von Lars Kraume mit 2 Vgl. Wojak, Irmtrud (2016): Fritz Bauer 1903–1968. Eine Burghart Klaußner als Fritz Bauer, Deutschland 2015; Biographie, München.; Steinke, Ronen (2013): Fritz Bauer. Die Akte General, TV-Politikdrama von Stephan Wagner, mit Oder: Auschwitz vor Gericht, München.; Renz, Werner (2015): Ulrich Noethen als Fritz Bauer, Das Erste 2016. 19

Gedenktafel für Fritz Bauer vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main.

Tätigkeiten in der NS-Zeit belastet waren, waren dem In- und Ausland. Ein zufällig zustande ge- damals deutlich in der Unterzahl, auf entspre- kommener Prozess gegen Teile des Einsatzkom- chend große Widerstände stieß Bauer in der Jus- mandos Tilsit vor dem Schwurgericht Ulm 1958 tiz. Wie begrenzt sein Vertrauen in die bundes- verwies auf die zahllosen, bisher durch die Justiz deutschen Behörden war, zeigte sich, als er 1957 noch gar nicht erfassten Massenverbrechen im be- einen entscheidenden Hinweis auf den Wohnort setzten Osteuropa. Noch im selben Jahr wurde von Adolf Eichmann in Argentinien nicht an deut- die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen sche Behörden, sondern an den israelischen Ge- in Ludwigsburg geschaffen, die erstmals systema- heimdienst weitergab.4 tisch gegen NS-Täter ermitteln sollte. In dieser Der so genannte 1. Frankfurter Auschwitz- Gründung hatten die meisten der kommenden Prozess (ihm folgten bis in die 1980er-Jahre fünf NS-Prozesse ihren Ausgangspunkt. 5 weitere) gehört zu den bekanntesten NS-Prozes- Derweil hatte Generalstaatsanwalt Fritz Bauer sen der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. bereits damit begonnen, in seinem Amtsbereich Er stand am Anfang einer zweiten Welle von NS- umfassend zu den Verbrechen im Rahmen der End- Prozessen ab Anfang der 1960er-Jahre. Während lösung der Judenfrage ermitteln zu lassen, ebenso seit 1945 durch alliierte, aber auch durch deut- zu Verbrechen an Sinti und Roma und an Kran- sche Gerichtshöfe etliche NS-Täter verurteilt wor- ken und Behinderten im Rahmen der Euthanasie. den waren, stellte die westdeutsche Justiz die Ver- Bauer verfolgte früh ein bemerkenswert breites folgung von NS-Verbrechen Anfang der 1950er- Strafverfolgungsprogramm, das etliche Massen- Jahre fast gänzlich ein. Wenn es zu Verfahren kam, verbrechen des Nationalsozialismus einschloss, dann meist nur noch aufgrund von Strafanzeigen die in jenen Jahren noch kaum jemand im Blick ehemaliger Verfolgter. hatte. Er wollte dem Recht Geltung verschaffen Die Obstruktionshaltung der Justiz geriet En- und verfolgte darüber hinaus dezidiert pädagogi- de der 1950er-Jahre von verschiedener Seite unter sche und aufklärerische Absichten. Die deutsche Druck: Es mehrten sich kritische Stimmen aus Bevölkerung sollte auf dem Wege einer kritischen

3 Vgl. Fröhlich, Claudia (2005): Der Braunschweiger Remer- 4 Vgl. Wojak, Irmtrud (2016), Fritz Bauer, S. 269–284. ZfBeg 1/2|2020 Prozess 1952. Zum Umgang mit dem Widerstand gegen den 5 Vgl. Hofmann, Kerstin (2018): »Ein Versuch nur – immerhin NS-Staat in der frühen Bundesrepublik, in: KZ-Gedenkstätte ein Versuch«. Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg unter der Neuengamme (Hg.): Schuldig. NS-Verbrechen vor deutschen Leitung von Erwin Schüle und Adalbert Rückerl (1958 –1984), Gerichten, Bremen, S. 17– 28; Dies. (2006): »Wider die Tabu- Berlin. isierung des Ungehorsams«. Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Frankfurt am Main. 20 Katharina Stengel: Fritz Bauer und der Auschwitz-Prozess

Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ihre als Vermittlungsinstanzen zwischen der misstrau- blinde Autoritätsgläubigkeit ablegen und zu demo- isch beäugten deutschen Justiz und den ehemali- kratischem Denken und Handeln erzogen wer- gen Häftlingen unverzichtbare Arbeit. Die Zu- den. sammenarbeit zwischen den Überlebenden und 1959 gelang es Bauer, der Frankfurter Justiz den bundesdeutschen Ermittlern war allerdings die rechtliche Zuständigkeit für die Verbrechen des keineswegs konfliktfrei. Insbesondere das Inter- Konzentrations- und Vernichtungslagers Ausch- nationale Auschwitz-Komitee mahnte immer wie- witz zu sichern. Von da an wurden die Ermittlun- der eine Ausweitung der Ermittlungen an und gen für einen großen Prozess zu den in Ausch- protestierte gegen etliche Verfahrenseinstellun- witz begangenen Verbrechen in Frankfurt geführt. gen. Fritz Bauer strebte eine umfangreiche rechtliche und historische Aufklärung des Verbrechenskom- Die Ermittlungen zu dem bis dahin größten plexes Auschwitz an, zu einer Zeit, in der die Prozess der bundesdeutschen Justizgeschichte lie- bundesdeutsche Geschichtswissenschaft noch fen von 1959 bis 1963. Vor Gericht standen ab kaum etwas zur Erforschung der KZ-Verbrechen dem 20. Dezember 1963 zunächst 22, später 21 beigetragen und die Strafjustiz nur vereinzelt und Angeklagte; sie stammten aus allen Hierarchie- gänzlich unsystematisch gegen einige SS-Leute ebenen der Lager-Verwaltung und waren wegen und Funktionshäftlinge aus Auschwitz ermittelt Mordes oder Beihilfe zum Mord angeklagt. Die hatte.6 Es musste Grundlagenarbeit geleistet wer- vier historischen Sachverständigengutachten, die den. Bauer beauftragte zwei junge Staatsanwälte auf Anregung Fritz Bauers in Auftrag gegeben mit der Arbeit, die nicht durch Funktionen im worden waren, blieben für lange Zeit Standard- Dritten Reich belastet waren. Recht unbefangen werke der westdeutschen Geschichtswissenschaft nahmen sie Kontakt auf zu polnischen und israe- zu den NS-Verbrechen und ihren organisatori- lischen Behörden sowie zu Organisationen der schen Hintergründen. 7 Die Aufmerksamkeit der Auschwitz-Überlebenden und konnten mit deren Medien und der Öffentlichkeit für dieses Verfah- Hilfe schriftliches Beweismaterial und vor allem ren war enorm. 8 Als Teile des Gerichts mit zahl- zahlreiche Belastungszeugen finden. Die Unter- reichen Prozessbeteiligten im Dezember 1964 zu stützung der ehemaligen Auschwitz-Häftlinge und einer Ortsbesichtigung ins polnische Os´wie¸cim ihrer Organisationen hatte für den Prozess immen- fuhren – die erste derartige Fahrt eines bundes- se Bedeutung. Sie waren es, die mit ihren Verbin- deutschen Gerichts in den Ostblock – war das in- dungen und Netzwerken auf der ganzen Welt ternationale Presseecho riesig. nach Zeugen gegen einzelne Angeklagte suchten In der bis August 1965 andauernden Haupt- und die auch die oft zögerlichen Überlebenden verhandlung wurden insgesamt 360 Zeuginnen überreden konnten, in Frankfurt auszusagen. Or- und Zeugen vernommen, 211 davon waren Ausch- ganisationen wie das Internationale Auschwitz- witz-Überlebende. Während die Angeklagten die Komitee und der Jüdische Weltkongress leisteten Taten fast durchweg leugneten und die als Zeugen

ZfBeg 1/2|2020 6 Vgl. zum Auschwitz-Prozess: Wojak, Irmtrud (2016): Fritz schen Aneignung und Abwehr, Köln.; Horn, Sabine (2009): Bauer, S. 298– 341; Pendas, Devin O. (2013): Der Auschwitz- Erinnerungsbilder. Auschwitz-Prozess und Majdanek-Prozess Prozess, Völkermord vor Gericht, München.; Zusammen- im westdeutschen Fernsehen, Essen.; die Presseberichte des fassend: Renz, Werner (2018): Auschwitz vor Gericht. FAZ-Berichterstatters Bernd Naumann sind veröffentlicht in: Fritz Bauers Vermächtnis und seine Missachtung, Hamburg. Naumann, Bernd (1968): Auschwitz. Bericht über die Straf- 7 Vgl. Buchheim, Hans et al. (1967): Anatomie des SS-Staates, sache gegen Mulka u.a. vor dem Schwurgericht Frankfurt, München. Frankfurt am Main.; jüngst wurden auch die Prozess-Reporta- 8 Vgl. Wilke, Jürgen et al. (1995): Holocaust und NS-Prozesse. gen von Inge Deutschkron in Buchform publiziert: Deutsch- Die Presseberichterstattung in Israel und Deutschland zwi- kron, Inge (2018): Auschwitz war nur ein Wort. Berichte über den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-1965, Berlin. 21

Fritz Bauer.

Verwaltungsstrukturen und das Vernichtungsge- schehen hatten, es sagten deutsche Kapos und Blockälteste aus, politische Häftlinge aus zahlrei- chen Ländern, Überlebende des Zigeunerlagers in Birkenau, ehemalige sowjetische Kriegsgefan- gene und zahlreiche jüdische Häftlinge, die oft in Auschwitz oder anderen Lagern ihre Familien, ihre Freunde und ihre gesamten Nachbarschaften verloren hatten. Manche von ihren waren bereits vernommenen ehemaligen SS-Leute meist Er- geübt darin, öffentlich über Auschwitz zu spre- innerungslücken vorschoben, nutzen viele der chen, aber die meisten hatten bis dahin über ihre Auschwitz-Überlebenden das Forum, das ihnen Lagererfahrungen kaum gesprochen, oft nicht ein- die Gerichtsverhandlung bot, um erstmals öffent- mal innerhalb ihrer Familien. In Angesicht der Tä- lich über ihre Erfahrungen und Erinnerungen zu ter und vor einer großen, deutschen Zuhörerschaft sprechen. Es waren vor allem die Zeugenaussa- das Wort zu ergreifen, kostete sie oft enorme Über- gen der Überlebenden, die in den Medien und der windung. Öffentlichkeit regelrechte Schockmomente aus- Ihre Rolle als Zeugen vor Gericht war schwie- lösten. Erstmals vernahm die interessierte bundes- rig. Die große Verantwortung, die sie für die Über- deutsche Öffentlichkeit aus dem Mund der ehe- führung der Angeklagten trugen, war eine Belas- maligen Häftlinge Details über die Verbrechen in tung und Überforderung, bedingt vor allem durch Auschwitz, über die Misshandlungen und Folte- die Praxis der Rechtsprechung in diesen Prozes- rungen, den Hunger, über die systematischen sen, die eine Verurteilung wegen Mordes vom Morde in den Krankenbauten und an den Erschie- Nachweis so genannter konkreter Einzeltaten ab- ßungsorten, über die Geschehnisse an der Rampe hängig machte. So genügte es beispielsweise nicht, und über die unabgesetzten Massenmorde in den einem Angeklagten nachzuweisen, dass er als SS- Vernichtungseinrichtungen Birkenaus. Es war Offizier auf der Rampe, wo die deportierten Jüdin- diese sich über viele Monate hinziehende Kon- nen und Juden selektiert wurden, Dienst getan frontation der Öffentlichkeit mit den Schrecken hatte, um ihn wegen Beihilfe zum Mord zu verur- von Auschwitz, die den Prozess nachträglich als teilen. Gefordert waren Augenzeugen, die glaub- ein »Schlüsselereignis« 9 der bundesdeutschen haft angeben konnten, ihn zu benennbaren Zeiten Nachkriegsgeschichte erscheinen ließ. bei konkreten Tätigkeiten auf der Rampe gesehen zu haben. An die Glaubhaftigkeit der Zeugenaus- Die Zeuginnen und Zeugen kamen aus aller sagen wurden darüber hinaus hohe Anforderun- Welt und fast aus allen Häftlingsgruppen.10 Es sag- gen gestellt. Das strafrechtliche Ideal des Zeugen ten zahlreiche Polen aus, die als langjährige Lager- war ein neutraler, unbeteiligter Beobachter, eine häftlinge oft einen sehr guten Überblick über die Anforderung, die ehemalige Häftlinge per se nicht

9 Vgl. Benz, Wolfang (2004): Entnazifizierung und Strafjustiz. 10 Die Autorin arbeitete von 2015 bis 2020 in einem Forschungs- ZfBeg 1/2|2020 Zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, in: projekt zu »Opferzeugen in NS-Prozessen« mit einem Schwer- Wojak, Irmtrud (Hg.): Auschwitz-Prozeß 4 Ks 2/63 Frankfurt punkt zu Zeugen in Auschwitz-Prozessen. Die Ergebnisse am Main; Köln, S. 111–121, hier S. 221.; ähnlich Frei, Norbert werden 2020/21 in der Publikationsreihe des Simon-Dubnow- (1996): Der Frankfurter Auschwitz-Prozeß und die deutsche Instituts erscheinen. Aus dem 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess Zeitgeschichtsforschung, in: Loewy, Hanno (Hg.) (1996): sind Tonbandaufzeichnungen der meisten Zeugenvernehmun- Auschwitz. Geschichte, Rezeption und Wirkung, in: Jahrbuch gen überliefert, online verfügbar unter: http://auschwitz- des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt am Main, S. 123 –138, prozess.de/ [Zugriff: 10.03.2020].; eine Quellenedition zum hier S. 124. Prozess: Fritz Bauer Institut/Staatliches Museum Auschwitz- Birkenau (Hg.) (2004): Der Auschwitz-Prozeß. Tonbandmit- schnitte, Protokolle, Dokumente, Berlin (DVD). 22 Katharina Stengel: Fritz Bauer und der Auschwitz-Prozess

erfüllen konnten. Sie standen immer in Verdacht, winkeln bezeugt und geschildert. Erstmal waren zu emotional und zu voreingenommen zu sein. in Deutschland Berichte von Überlebenden der Ihre Erinnerungsfähigkeit stand – 20 Jahre nach Sonderkommandos zu hören, die in Birkenau an den Ereignissen – grundsätzlich in Frage und den Vernichtungsanlagen hatten arbeiten müssen. musste sich gegen die Behauptungen der Ange- Zahlreiche jüdische Häftlinge schilderten ihre An- klagten bewähren. Die deutschen Juristen und kunft an der Rampe und die gewaltsame Tren- die meist aus dem Ausland angereisten Zeugen nung von ihren Familienangehörigen, die sie in sprachen in vielerlei Hinsicht verschiedene Spra- der Regel nie wiedersahen. Diese Erzählungen chen und verfolgten unterschiedliche Interessen. wurden durchaus gehört und oft erschüttert wahr- Die Juristen erwarteten kleinteilige Angaben, die genommen, und dennoch verhallten sie in meh- sich unmittelbar an den strafrechtlichen Erforder- rerer Hinsicht folgenlos. Die Öffentlichkeit inte- nissen orientierten; es ging um: Wer hat wen ressierte sich letztlich doch mehr für die Täter als wann mit welchen Mitteln getötet? Die Überle- für die Opfer; ein empathisches Interesse an den benden konnten Fragen nach diesen Details oft Verfolgten und ihren erschütternden Geschichten nicht beantworten. Sie wollten zur Aufklärung ließ noch viele Jahre auf sich warten. Vor allem der ungeheuerlichen Geschehnisse in Auschwitz aber sah das Gericht sich nicht in der Lage, den und zur Überführung der Angeklagten beitragen, Massenmord in Birkenau in seinem Urteil auch aber ebenso an ihre ermordeten Angehörigen und nur annähernd angemessen zu behandeln. Schon Freude erinnern und von ihren persönlichen Er- bei den Zeugenvernehmungen lag der Fokus der fahrungen berichten. Das Alltagswissen und Vor- Juristen meist bei einzelnen Exzesstaten, also stellungsvermögen der Prozessbeteiligten sprach Mordtaten einzelner Angeklagter, die über die ge- häufig gegen die Plausibilität der Zeugenberichte. gebenen Befehle hinausgingen. Diese Taten waren Als grundlegendes Verständigungshindernis er- mit dem gegebenen strafrechtlichen Instrumen- wies sich das Bestreben der Richter und Ankläger, tarium am einfachsten als Morde zu verurteilen. das Verfahren als ein ganz normales Strafverfah- All die arbeitsteilig begangen Taten, die tagtäglich, ren zu führen. Die Singularität der Verbrechen den Routinen und Befehlen gemäß, für die ge- wurde damit ebenso ausgeblendet wie die besonde- meinsame Durchführung des millionenfachen ren Bedingungen und Schwierigkeiten, unter de- Mordes erforderlich waren, wurden allenfalls als nen die ehemaligen Opfer als Zeugen aussagten. »Beihilfe zum Mord« verfolgt, und auch das nur, In der Beweisaufnahme vor Gericht kamen wenn eine unmittelbare Überführung der einzel- zahlreiche Facetten des Lebens und Sterbens in nen Täter durch Augenzeugen gelang. Auschwitz zur Sprache. Auch das zentrale Ver- brechen von Auschwitz – die Ermordung von Nach der von Fritz Bauer vertretenen Rechts- knapp einer Million Jüdinnen und Juden in den auffassung wäre dagegen eine Verurteilung der Vernichtungsanlagen Birkenaus 11 – wurde von vie- Beteiligten am Massenmord relativ einfach gewe- len Überlebenden aus unterschiedlichen Blick- sen und hätte, wie er 1963 sicherlich etwas zuge-

ZfBeg 1/2|2020 11 Wobei die Schätzungen der Opferzahlen damals oft noch erheblich höher lagen als heute. Vgl. Piper, Franciszek (1993): Die Zahl der Opfer von Auschwitz, Os´wie¸ cim. 23

spitzt formulierte, »in drei bis vier Tagen erledigt Gemessen an den sonstigen Ergebnissen der sein« können: »Es gab eine Wannseekonferenz juristischen Auseinandersetzung mit den NS-Ver- mit dem Beschluss zur Endlösung der Judenfrage. brechen in Westdeutschland war der Auschwitz- Dazu gehörte eine gewisse Maschinerie. Alle, die Prozess dennoch ein herausragender Erfolg. Viele an dieser Vernichtung bzw. der Bedienung der Ver- der anderen strafrechtlichen Anstrengungen Fritz nichtungsmaschinerie mehr oder minder beteiligt Bauers scheiterten, vor allem an den Widerstän- waren, werden daher angeklagt wegen Mitwir- den innerhalb der Justiz. So gelang es ihm bei- kung an der ›Endlösung der Judenfrage‹« 12 Fritz spielsweise nicht, die Verantwortlichen der Eutha- Bauer und die Frankfurter Staatsanwälte konnten nasie-Verbrechen und ihre Mittäter dingfest zu sich mit dieser Rechtsauffassung nicht durchset- machen, 14 oder diejenigen, die den Massenmord zen. Das Gericht, das ansonsten für seine umfas- an den Sinti und Roma ermöglichten. sende Rekonstruktion der Vorgänge in Auschwitz Fast gänzlich unbeachtet gab es in Frankfurt zurecht hochgelobt worden war, zerstückelte die parallel zum Auschwitz-Prozess ein verheerendes Tatabläufe in kleinste Einheiten, die jeweils ein- Gerichtsverfahren gegen zwei Mitarbeiter Adolf zeln nachgewiesen werden mussten. Die Exzess- Eichmanns wegen ihrer Beteiligung an der Depor- täter, die eigeninitiativ einzelne Morde begangen tation der ungarischen Juden.15 Auf der Grund- hatten, erhielten lebenslange Freiheitsstrafen, lage des Urteils im ersten Auschwitz-Prozess während die meisten Beteiligten am systemati- wurden in den folgenden Auschwitz-Verfahren schen Massenmord an Jüdinnen und Juden in Bir- ebenfalls nur Exzesstaten als Morde bestraft, die kenau allenfalls wegen Beihilfe zu zeitbegrenzten meisten SS-Angehörigen aus Auschwitz wurden Strafen verurteilt wurden. Die rechtlichen Ge- damit faktisch außer Verfolgung gesetzt. Die Öf- wichtungen der Taten im Urteil zeichneten so ein fentlichkeit interessierte sich für die NS-Prozesse verzerrtes Bild der Verbrechen von Auschwitz; immer weniger. die Verantwortung der Einzelnen, aber auch die Fritz Bauer kommentierte diese Entwicklun- der deutschen Gesellschaft für den systematischen gen in seinen letzten Lebensjahren mit großer Er- Massenmord wurde negiert. Entgegen der ver- nüchterung und Resignation. Bald nach seinem breiteten Tendenz, im Auschwitz-Prozess einen Tod am 1. Juli 1968 geriet auch sein eigenes Wir- Meilenstein der beginnenden gesellschaftlichen ken in Vergessenheit. Vom gesellschaftlichen Auf- Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen zu bruch um 1968 erlebte er nur die Anfänge. Die sehen, resümiert Devin O. Pendas, »dass der 68er nahmen zwar – ganz im Sinne Fritz Bauers – Auschwitz-Prozess als rechtliche und historische die Untertanenmentalität der Deutschen aufs Korn, Erzählung gesellschaftlich gescheitert ist.« 13 Es sei aber die Details der NS-Verbrechen, ihre arbeits- insgesamt nicht gelungen, den Völkermord in teilige Realisierung und ihre Opfer verschwanden Auschwitz als das zentrale Verbrechen herauszu- – kaum dass der Auschwitz-Prozess sie greifbar arbeiten und dessen gesellschaftliche Bedingun- gemacht hatte – hinter abstrakten Faschismus- gen zu konkretisieren. Analysen.

12 Protokoll der »4. Arbeitstagung der Leiter der Sonderkommis- 14 Vgl. Schneider, Christoph (2017): Diener des Rechts und ZfBeg 1/2|2020 sionen zur Bearbeitung von NS-Gewaltverbrechen, der Vernichtung. Die Verfahren gegen die Teilnehmer der 21.10.1963, S. 22 f., Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Konferenz von 1941 oder: Die Justiz gegen Fritz Bauer, Abt. 503, Nr. 1161. Frankfurt am Main; New York. 13 Pendas (2013): Der Auschwitz-Prozess, 322; Hervorhebung 15 Prozess gegen Hermann Krumey und Otto Hunsche vor dem i.O. LG Frankfurt, 4 Ks 3/63 (14.12.1965 –16.9.1966), Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 461, 12/2002. Vgl. Wojak (2016): Fritz Bauer, S. 381 f. 24

Ulrich Ruh 1 Gurs – ein besonderer Erinnerungsort in Frankreich

Das Stichwort Gurs taucht in dem monumen- Sommer 1940 vorübergehend Tausende inter- talen Werk von Saul Friedländer über das Dritte niert, sowohl Menschen aus Feindstaaten wie Reich und die Juden nur zwei Mal eher en passant französische Untersuchungshäftlinge, meist Kom- auf. 2 Und das ist kein Zufall, sondern legt sich im munisten. Sie wurden Ende Juli 1940 de facto Blick auf die historischen Tatsachen nahe: freigelassen, blieben aber teilweise im Lager. Gurs Gurs, im südwestfranzösischen Département lag nach der schnellen französischen Niederlage Basses Pyrénées nahe der spanischen Grenze ge- gegen die deutschen Truppen in der von der Wehr- legen, war kein Konzentrationslager oder gar ein macht nicht besetzten Zone des Landes, in der Vernichtungslager, sondernnur ein Internierungs- sich ab dem Juli 1940 unter der Präsidentschaft lager von überschaubarer Größenordnung. Dieses von Marschall Philippe Pétain, dem Helden Frank- französische Lager spielt aber trotzdem in der auf reichs aus dem Ersten Weltkrieg, der État français das Dritte Reich bezogenen Erinnerungskultur des mit dem mondänen Badeort Vichy als Regierungs- deutschen Südwestens eine wichtige Rolle, weil sitz konstituierte, ein autoritär geführtes Staats- dorthin im Oktober 1940 die gesamte bis dahin wesen, das eng mit Nazideutschland kollaborier- verbliebene jüdische Bevölkerung von Baden, der te: DasVichy-Regime »strebte eine antiindividua- Pfalz und des Saarlands (es waren über 6.500 listische, staatlich überwachte und homogene Ge- Frauen, Männer und Kinder) deportiert wurde – sellschaft an, in der die republikanischen Werte für sehr viele von diesen Menschen wurde Gurs keine Gültigkeit mehr besaßen, sondern von der eine Durchgangsstation nach Auschwitz und da- Triade ›Arbeit, Familie und Vaterland‹ ersetzt mit in den Tod in der Gaskammer. Allein in Baden wurden.« 4 betraf die Deportation damals nicht weniger als Leidtragende der neuen staatlichen Ordnung 137 Städte und Dörfer quer durch das ganze Land, im unbesetzten Frankreich waren Staatsbürger von Lörrach an der Grenze zur Schweiz bis nach ausländischer Herkunft, die Freimaurer (der Ur- Wertheim am Main im Dreiländereck zu Bayern feind für die starke rechte Strömung in Frankreich) und Hessen. Darunter waren auch traditionsrei- und nicht zuletzt die jüdische Bevölkerungsgrup- che jüdische Gemeinden, die jahrhundertelang ihr pe. Schon im Oktober 1940 wurde nach dem Vor- jeweiliges Gemeinwesen mitgeprägt und dort einen bild der Nürnberger Gesetze des Dritten Reichs erheblichen Bevölkerungsanteil gestellt hatten. für Vichy-Frankreich das Judenstatut erlassen, das Juden durch vielfältige Beschränkungen zu Bür- Das Lager Gurs wurde im Frühjahr 1939 als gern zweiter Klasse machte. Weitere diskriminie- Barackenlager errichtet und diente zunächst der rende Maßnahmen gegen jüdische Staatsbürger Unterbringung von nach dem Ende des Bürger- folgten dann im Sommer 1941. Alle Juden muss- kriegs mit dem Sieg Francos (1936 –1939) aus ten sich bei den Präfekturen melden, sie mussten Spanien geflohenen republikanischen Kämpfern.3 Angaben über ihren Besitz machen und sich in Dann wurden in Gurs im Zusammenhang mit dem eigens angelegte Register eintragen lassen. Außer- deutschen Angriff auf Frankreich im Frühjahr/ dem: »Ein Gesetz vom 2. Juni 1941 erweiterte die

ZfBeg 1/2|2020 1 Dr. theol. Dr. h.c. Ulrich Ruh ist Honorarprofessor an der 4 Waechter, Matthias (2019): Geschichte Frankreichs Theologischen Fakultät Freiburg und Redakteur der ZfBeg. im 20. Jahrhundert, S. 232. 2 Friedländer, Saul (2017): Das Dritte Reich und die Juden, S. 473, 490. 3 Laharie, Claude (2005): Gurs: 1939–1945. Ein Internierungs- lager in Südwestfrankreich, S. 25 – 27. 25

Blick auf das Internierungslager Jugoslawische Teilnehmer am Spanischen Camp de Gurs, etwa 1939. Bürgerkrieg im Lager Camp de Gurs, ca. 1939.

den Juden untersagten Tätigkeiten auf alle freien Polizeieinheiten bereit. Die Juden bestiegen die Berufe, das Bank- und Immobiliengewerbe sowie Busse nach Namenslisten: Sie durften pro Person auf Handel und Handwerk. Am 21. Juli 1941 schuf einen Koffer von bis zu 50 Kilo (für ein Kind: 30 das Vichy-Regime die gesetzliche Grundlage für Kilo), eine Decke, Lebensmittel für mehrere Tage, die ›Arisierung‹ jüdischer Betriebe, Immobilien Geschirr und 100 RM in bar sowie die erforderli- und beweglichen Besitzes.« 5 chen Ausweispapiere mitnehmen. Sämtliche Wert- In diesem Umfeld fand Ende Oktober 1940 – sachen mußten zurückgelassen werden; Lebens- von Adolf Hitler angeordnet – die Deportation der mittel wurden den Vertretern der NS-Volkswohl- 6.500 jüdischen Menschen aus Baden, der Pfalz fahrt übergeben, die Wohnungen wurden ver- und dem Saarland in neun Transportzügen nach schlossen und versiegelt, nachdem man Wasser, Gurs statt, ohne dass diese Maßnahme den fran- Strom und Gas abgestellt hatte.« 6 zösischen Behörden zuvor bekanntgemacht wor- den wäre.Vichy-Frankreich bemühte sich auf dip- Es gibt ergreifende Berichte von badisch-pfäl- lomatischem Weg erfolglos um eine Rücknahme zischen Frauen und Männern, die die nationalso- der Deportierten. zialistische Judenverfolgung und -vernichtung über- lebt haben, über ihre Erfahrungen bei der Depor- Von der Deportation bis zur Endlösung tation nach Gurs und ihre Zeit im Lager. Nur zwei Beispiele aus diesen Zeugnissen seien hier ange- Saul Friedländer beschreibt unter Rückgriff auf führt: die offiziellen Anweisungen für die dafür eingesetz- Hanna Meyer-Moses, die den Zug nach Gurs ten Beamten das Prozedere der Deportation aus in der badischen Hauptstadt Karlsruhe besteigen Baden und der Saarpfalz: musste, gab später zu Protokoll: »Am Morgen des »In den wichtigsten Städten der beiden Länder 22. Oktober 1940, ca. acht Uhr in der Früh, läute- waren Sammelpunkte festgelegt worden; Auto- te es an unserer Wohnungstüre. Als meine Mut- busse standen bereit; jedem Bus war ein Kriminal- ter öffnete, standen zwei Männer in Zivil vor ihr, kommissar zugeteilt, und für alle Fälle standen die sich als Gestapo-Angehörige auswiesen und

5 Ebd. S. 233. 6 Friedländer, Saul (2017): Drittes Reich, S. 473. ZfBeg 1/2|2020 26 Ulrich Ruh: Gurs – ein besonderer Erinnerungsort in Frankreich

fragten, ob alle Familienangehörigen zu Hause und seine prekären Lebensbedingungen mit etwa seien… Nachdem meine Mutter bejaht hatte, teil- 7.000 jüdischen Frauen, Männern und Kindern ten ihr die Gestapo-Männer mit, es dürfe von nun aus Frankreich, die aus anderen Internierungsla- an niemand mehr die Wohnung verlassen, wir gern imVichy -Frankreich dorthin verlegt wurden, sollten uns reisefertig machen, sie kämen in ca. sowie einer großen Zahl von Opfern von Razzien einer Stunde wieder… Die Karlsruher Juden wur- und Polizeiaktionen: Emigranten, Exilsuchende den nicht auf dem Personenbahnhof versammelt, und Flüchtlinge. sondern im ›Fürstenbahnhof‹, einem tunnelarti- Im Zug der nationalsozialistischen Endlösung gen Durchgang, von wo aus die Bahnsteige er- der Judenfrage, die nach der berüchtigten Wann- reicht werden konnten. Als wir dort ankamen, seekonferenz im Januar 1942 ins Werk gesetzt fanden wir schon viele unserer Bekannten und Mit- wurde, begannen dann auch im besetzten wie im schüler vor, die auf ihren Gepäckstücken saßen unbesetzten Frankreich (in letzteres marschierte und warteten.« 7 im November 1942 die Wehrmacht ebenfalls ein) Und Ida Löb aus der pfälzischen Mutterstadt Deportationen der Juden in Vernichtungslager im beschrieb das Leben in Gurs folgendermaßen: Osten. Das Lager in Gurs kam schon im August »Ein Schrecken überfiel uns, als wir die vielen Ba- 1942 an die Reihe: Am 6., 8. und 24. August racken sahen, und doch haben wir es uns nicht so 1942 sowie am 3. März 1943 wurden fast 4.000 schlimm vorgestellt, wie es war. Die ersten Näch- jüdische Frauen, Männer und Jugendliche von te am blanken Boden, kaum Decken, dann gab Gurs über das Transitlager Drancy bei Paris nach es Strohsäcke, auf denen wir bis zum Schluss Auschwitz-Birkenau transportiert und dort ermor- lagen… Es war sehr kalt in Gurs. Es war meistens det. Die Deportation von Juden aus dem besetzten kein Brand da. An Weihnachten hatten wir kein wie dem unbesetzten Teil Frankreichs (gleichzei- Feuer. Wir saßen mit den Mänteln am Boden, tig sollten Juden aus Belgien und aus den Nieder- wenn es geheizt war, spürten wir auch nicht viel landen deportiert werden) hatte den zynischen davon, wir waren an der Türe. Das Essen war Decknamen Frühlingswind. Bis zum 2. Septem- knapp und schlecht.« 8 ber 1943 wurden insgesamt 27.069 Juden aus Einem Teil der Deportierten gelang es, bis zum Frankreich nach Auschwitz deportiert, davon fast Sommer 1942 legal zu emigrieren, weil sie Aus- 10.000 aus Vichy-Frankreich. wanderungspapiere besaßen. Anderen glückte die Flucht aus Gurs mit Hilfe von Widerstandsgrup- Schließung des Lagers nach Kriegsende pen und von Hilfsorganisationen, die im Lager tätig sein konnten, etwa das protestantische Hilfs- Zum 1. November 1943 verfügte der Innen- werk CIMADE und die jüdische Organisation minister der Vichy-Regierung die Schließung des Kinderhilfe (OSE). Lagers Gurs, in dem sich nur ein kleiner Rest von Die deportierten Jüdinnen und Juden aus dem Internierten aufhielt. Aber erst nach Kriegsende deutschen Südwesten teilten sich das Lager Gurs wurde das Lager definitiv geschlossen, und zwar

ZfBeg 1/2|2020 7 Evangelische Landeskirche in Baden; Evangelische Landes- kirche der Pfalz: 22. Oktober, 1940– 2014. 75. Jahrestag der Deportation der Jüdinnen und Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland. Eine Arbeitshilfe, S. 36. 8 Ebd. S. 38. 27

am 31. Dezember 1945: »Die Baracken für die Internierten, die für nichts mehr zu gebrau- chen waren,wurden ver- brannt; die Baracken des Wachpersonals, die sich in einem besseren Zustand befanden, ver- steigerte man in den folgenden Wochen in Olo- Jüdischer Friedhof in Gurs. ron. Danach wurden auf dem Gelände Bäume ge- pflanzt.« 9 Erhalten blieb der Friedhof mit seinen etwa 1.000 Gräbern – Hunderte von Internierten Am 26. März 1963 konnte der im Auftrag des waren schon in den ersten Wochen nach ihrer Oberrats der Israeliten Badens restaurierte Fried- Verbringung nach Gurs an Hunger und Kälte ge- hof in Gurs eingeweiht werden, unter Beteiligung storben. französischer Behördenvertreter_innen und Ver- Gurs geriet erst einmal in Vergessenheit. Am treter_innen der badischen Städte. Zwei Stellen 10. August 1957 erschien dann ein Artikel eines wurden dabei errichtet, eine für die jüdischen Karlsruher Journalisten in der Badischen Volks- Opfer und eine für die Spanier_innen und Ange- zeitung unter dem Titel »Sind die badischen hörige der Internationalen Brigaden aus dem Spa- Juden vergessen?«. Dieser Text brachte über zehn nischen Bürgerkrieg. Besuche von Delegierten Jahre nach dem Ende von Krieg und nationalso- badischer Städte und des Oberrats der Israeliten zialistischer Diktatur den Stein ins Rollen und jeweils im Frühjahr eines Jahres in Gurs wurden führte dazu, dass man wieder auf das Schicksal zu einer festen Tradition und sind jeweils mit Ge- der seinerzeit nach Gurs deportierten badischen denkveranstaltungen verbunden. Landsleute aufmerksam wurde: Der Artikel »gab Am 3. Oktober 1994 wurde auf dem Gelände den Anstoß für eine fünfköpfige ›Expedition‹ noch des ehemaligen Lagers Gurs einer von drei staatli- im November des gleichen Jahres nach Gurs, der chen französischen Gedenkorten an den Holocaust Mitarbeiter der Karlsruher Stadtverwaltung und beziehungsweise seine vorbereitenden französi- des Oberrats der Israeliten Badens angehörten. schen Stationen eingeweiht: »Ein von dem israe- Der damalige Karlsruher Oberbürgermeister Gün- lischen Architekten Dani Karavan entworfenes ther Klotz wandte sich wenig später an 34 badi- Werk erstreckt sich über etwa 200 Meter. Es be- sche Städte und Landkreise mit der Bitte, Mittel steht aus verschiedenen Teilen, die durch einen zur Wiederherstellung der Deportiertenfriedhöfe Schienenstrang verbunden sind, der die Deporta- in Gurs und Noé zur Verfügung zu stellen.« 10 Noé tion versinnbildlichen soll. Das Werk umfasst zu- war ein Internierungslager nördlich von Gurs. dem ein authentisches Element der Erinnerung

9 Laharie, Claude (2005): Gurs, S. 67. ZfBeg 1/2|2020 10 Ebd. S. 82. 28 Ulrich Ruh: Gurs – ein besonderer Erinnerungsort in Frankreich

Bodenskulptur in Neckarzimmern, 2005 entstanden im Rahmen des Ökumenischen Jugendprojekts Mahnmal.

an Gurs: das rekonstruierte Holzgerüst einer Ba- wurde ursprünglich von dem katholischen Arbeits- racke.«11 kreis Erinnern und Begegnen – Forum christlicher Im Sommer 1996 wurde erstmals ein deutsch- Gedenkarbeit entwickelt und wird heute von der französisches Jugendwerkcamp in Gurs abgehal- katholischen und evangelischen Jugendarbeit ge- ten. Die Jugendlichen legten Teile des von Gestrüpp meinsam getragen. überwucherten Lagers frei und stellten Informa- tionstafeln über das Lager für die Besucher auf. Ein besonderes Gedenkprojekt galt den 349 Ebenfalls im Rahmen eines Jugendprojekts wurde Jüdinnen und Juden aus Freiburg, die im Oktober auf dem Lagergelände eine Baracke in Original- 1940 nach Gurs deportiert wurden. Eine kleine größe errichtet. Gruppe Engagierter des Fördervereins Mahnmal für die deportierten Jüdinnen und Juden Badens Kreative Formen der Erinnerungskultur hat am Gedenktag der Deportation am Platz der alten, in der Reichskristallnacht vom 9. November Nicht nur in Gurs selbst gibt es inzwischen 1938 zerstörten Freiburger Synagoge Rosen nie- sichtbare Zeichen der Erinnerung an die Internie- dergelegt, eine für jedes Opfer der Deportation, rung der badischen Jüdinnen und Juden (sie stell- mit einem Gedenkzettel mit dem jeweiligen ten damals den überwiegenden Anteil der im Ok- Namen: »Die Rosen wurden auf den Brunnenrand tober 1942 nach Gurs Verbrachten): gelegt, der dem Grundriss der ehemaligen Syna- Seit dem 23. Oktober 2005, dem 75. Jahrestag goge entspricht, die bis 1938 an diesem Ort stand, der Transporte nach Gurs, steht auf dem Gelände dann niedergebrannt und damit für immer zer- der Tagungsstätte Neckarzimmern der Evangeli- stört wurde.« 12 Gerade dieses kreative Projekt hat schen Jugend der Badischen Landeskirche ein wie auch das Mahnmal in Neckarzimmern ge- Mahnmal zur Erinnerung an die deportierten ba- zeigt, dass es notwendig und gleichzeitig möglich dischen Jüdinnen und Juden. Es ist als Verbindung ist, Formen der Erinnerungskultur zu entwickeln, von zentralem Gedenkort und lokalen Erinnerungs- die neben ritualisierten Gedenkveranstaltungen zeichen angelegt. Je ein von Jugendgruppen oder und vielleicht mehr als diese Menschen heute an- Schulklassen gestalteter Gedenkstein verbleibt am sprechen und nachdenklich machen können, zu- jeweiligen Herkunftsort der Deportierten, der an- mal es nicht mehr lange Überlebende geben wird, dere wird Teil einer großen Bodenskulptur in Form die aus eigener Anschauung vom Gurs berichten eines Davidsterns in Neckarzimmern. Das Projekt können.

ZfBeg 1/2|2020 11 Ebd. S. 71. 12 Boschki, Reinhold (2017): 349 Rosen – ein innovatives Gedenkprojekt, in: ZfBeg, 3/2017, S. 220. 29

Wilhelm Schwendemann 1 Erinnerungsorte Erinnerungslernen an Orten nationalsozialistischer Verbrechen im Wandel der Zeiten

1 Einleitung Mit mir zusammen besuchten etwa zehn Stu- dierende der Sozialen Arbeit die Gedenkstätte; un- Als ich das erste Mal die KZ-Gedenkstätte tergebracht waren wir in der Internationalen Ju- Auschwitz bei Os´wie¸cim/Polen im Frühsommer gendbegegnungsstätte und hatten so auch die Ge- 2010 besuchte, hatte ich ein mulmiges Gefühl in legenheit, pädagogisch zu arbeiten und die Ein- mir, was sich verstärkte, als ich den Parkplatz vor drücke während unseres Aufenthalts emotional der Gedenkstätte überquerte. Würstchenbuden, nachzuarbeiten.2 Imbissstände, Eisstände, lachende Menschen: Was Dieses Fremdgefühl ließe sich auch als Ort der hatte ich erwartet? Jedenfalls nicht dieses Fremd- absoluten Sinnleere sehen: Was treibt mich zu so heitsgefühl. einem Ort – was erwarte ich? Dan Diner be- schreibt diese Ortlosigkeit von Auschwitz als Zi- vilisationsbruch Auschwitz und als Ereignis voll- endeter Sinnlosigkeit. 3 Sind Gedenkstätten wie

Ansicht des Konzentrations- und Vernichtungs- lagers Auschwitz-Birkenau (1940 – 1945), heute Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau. In die Aufnahme von 2009 ist die Fotografie vom Torhaus kurz nach der Befreiung durch die Rote Armee 1945 einmontiert; Foto links: Tafel zur Erinnerung an die Opfer.

1 Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann ist Professor für Evange- 3 Vgl. Diner, Dan (Hg.) (1988): Zivilisationsbruch: Denken ZfBeg 1/2|2020 lische Theologie, Religionspädagogik und Schulpädagogik nach Auschwitz, Frankfurt am Main.; ders. (1995): Kreisläufe: an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Er ist einer der Nationalsozialismus und Gedächtnis, Berlin.; ders. (2007/ Herausgeber und Schriftleiter des ZfBeg. 2020): Gegenläufige Gedächtnisse, Göttingen.; siehe auch: 2 Vgl. Nickolai, Werner; Schwendemann, Wilhelm (Hg.) Allmeier, Daniela et al. (Hg.) (2016): Erinnerungsorte (2013): Gedenkstättenpädagogik und Soziale Arbeit, Münster. in Bewegung. Zur Neugestaltung des Gedenkens an Orten nationalsozialistischer Verbrechen, Bielefeld, S. 85. 30 Wilhelm Schwendemann: Erinnerungsorte – Erinnerungslernen an Orten nationalsozialistischer Verbrechen im Wandel der Zeiten

Auschwitz Erinnerungsorte und in welchem Sinn zum von Menschen besuchten oder benutzten auch Lernorte, wie die sogenannte Gedenkstätten- Platz. 5 Anschlussfähig ist diese ursprüngliche De- pädagogik avisiert? Wolfgang Meseth schreibt finition des deutschen Begriffs durchaus mit dem zum Thema Gedenkstättenpädagogik: »Pädagogi- von Pierre Nora überkommenen Begriff des Erin- sche Angebote sind heute ein selbstverständlicher nerungsortes bzw. Mnemotops. Bestandteil der Arbeit in den Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Haupt- und neben- Zwischen 1990 und 1998 erschienen die Bän- amtliche, aber auch ehrenamtliche Mitarbei- de zu den französischen Erinnerungsorten, denen ter_innen bieten Führungen oder Projekttage zu die Deutschen Erinnerungsorte von Etienne Fran- unterschiedlichen, zumeist ortsspezifischen The- çois und Hagen Schulze folgten. 6 Lieux de mé- men an. Sie ermöglichen eine vertiefende und er- moire, im Deutschen Erinnerungsorte, definieren gänzende Auseinandersetzung zur schulischen Pierre Nora und Etienne François wie folgt: »Es Beschäftigung mit der Geschichte des National- handelt sich um langlebige, Generationen über- sozialismus und stehen dabei nicht selten vor der dauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erin- Frage, mit welchen Zielen und Methoden sie das nerung und Identität, die in gesellschaftliche, Thema am ›Ort der Verbrechen‹ angemessen ver- kulturelle und politische Üblichkeiten eingebun- mitteln sollen.« 4 den sind und die sich in dem Maß verändern, in KZ-Gedenkstätten sind zweifellos Erinnerungs- dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneig- orte, die an die Verbrechen des Nationalsozialismus nung, Anwendung und Übertragung verändert. gegen die Menschlichkeit erinnern; aber sind sie Wir verstehen also ›Ort‹ als Metapher, als Topos auch geeignete religionspädagogische Lernorte in im buchstäblichen Wortsinn. Der Ort wird aller- einer sich transformierenden Erinnerungskultur? dings nicht als eine abgeschlossene Realität ange- Und was bedeutet kollektive Erinnerungskultur sehen, sondern im Gegenteil stets als Ort in einem in einem spezifisch religiösen und religionspäda- Raum (sei er real, sozial, politisch, kulturell oder gogischen Sinn? Im Folgenden werde ich versu- imaginär).« 7 Pierre Nora versteht also unter Er- chen, diesen Fragen nachzugehen und ein paar innerungsort nicht nur einen realen Ort, sondern didaktische Hinweise zu geben. auch im übertragenen Sinn Bedeutungen und Symbole, die in der kollektiven Erinnerung einen 2 Definitionen Erinnerungsort, Platz einnehmen. Daraus resultiert eine neue Erinnern und Erinnerungslernen Form der Geschichtsschreibung: Das Symbolische wird nicht an einen bestimmten Ort gebannt. 8 Es Der Begriff ORT ist ein ursprünglich germani- geht in der Definition von Pierre Nora um die sches Wort und bezeichnet eine Schneide oder symbolische und metaphorische Bedeutung der Spitze, als räumlicher Begriff auch als Schlupfwin- Orte als Kristallisationskerne des kollektiven Ge- kel verstanden. Im Mittelalter erweitert sich der Be- dächtnisses und das heißt, dass sich kollektive Er- griff als Stätte innerhalb eines Raums oder wird innerung an symbolische Figuren heftet. 9

ZfBeg 1/2|2020 4 Meseth, Wolfgang (2010): Beruf »Gedenkstättenpädagoge/ 5 »Ort«, in: Wörterbuchnetz Bd.13, online verfügbar unter: -pädagogin« zwischen Qualitätsmerkmalen und Standardisie- http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle rung. Gedenkstättenbrief 160 S. 3 – 10. Überlegungen zu =DWB&mode=Vernetzung&lemid=GO02320#XGO02320. Professionalität und Professionswissen von Gedenkstätten- 6 Vgl. die Zusammenfassung von Pierre Nora (1998): pädagogen und -pädagoginnen, online verfügbar unter: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main.; https://www.gedenkstaettenforum.de/nc/ François, Etienne; Schulze, Hagen (Hg.) (2001): Deutsche gedenkstaettenrundbrief/rundbrief/news/beruf_ Geschichte, drei Bände, München. gedenkstaettenpaedagoge_paedagogin_zwischen_ 7 Ebd., Band 1, S. 18. qualitaetsmerkmalen_und_standardisierung/. 8 Ebd. S. 10. 9 Ebd. S. 16f. 31

2020 sind es 75 Jahre seit der Befreiung des chel 14 eigentlich einortloser Ort, obwohl der Ort Konzentrationslagers Auschwitz – diese zeitliche topografisch definiert ist: »Auschwitz steht exem- Distanz ist nicht nur Distanz zum Nationalsozia- plarisch für das menschenverachtende nationalso- lismus, sondern erfordert ein neues Verständnis zialistische System von Zwangsarbeit und Völker- kultureller Vermittlung und formt neue Erwartun- mord, medizinischen Versuchen und Verwertung gen an Erinnerungskultur. Heute interessiert mehr des Vermögens sowie der körperlichen Überreste die Systemgestalt des Verbrechens, denn der Ort der Ermordeten. Es war ein von Menschen betrie- der Erinnerung ist nicht der einzelne zweckge- benes System rationeller Reduktion von Men- bundene Schauplatz, sondern bezieht sich auf schen auf tote Materie.« 15 viele Orte, die heute oft anders genutzt werden Auschwitz steht für die industrielle Ermordung und die selbst auch andere Bedeutungen haben.10 und Verwertung von Menschen; in der Hauptsa- Das Ende der sogenannten Zeitzeugen und Zeit- che ging es um die Ermordung jüdischer Menschen, zeuginnen und dementsprechende Perspektiven- aber auch andere Gruppen wie Sinti/Roma, poli- verschiebungen verweisen wiederum auf die Ma- tische und gesellschaftliche Minderheiten usw. terialität der Erinnerungsorte, die zur Leitebene waren in starkem Maß von diesem Vernichtungs- des Erinnerns werden, sodass diese Orte heute system betroffen. Nach dem Zweiten Weltkrieg professionell für Besuchende gestaltet werden.11 reagierte die deutsche Bevölkerung mit Bestür- Das Gedenken und Erinnern werden professionell zung und Unglauben auf die Bilder der NS-Gräu- gesteuert, die Inhalte sind erschlossen und vorab eltaten in Auschwitz und anderen Vernichtungs- definiert, was zur Machtfrage der Erinnerungs- lagern. 16 orte führt: Wer definiert die Inszenierung von Die Erinnerung an Auschwitz begannen je- Raumfolgen, die Szenografie von Alltagsgegen- doch genau an diesem Ort, ab 1947 wurde dieser ständen, die Ästhetik der Beschilderungen, die Ort für »ewige Zeit« zum polnischen National- Narrative der Gedenkstätte? Die Praxis des Ge- denkmal erklärt: »Auschwitz ist der Ort des Sicht- denkens, des Erinnerns und die Praxis begange- baren und Unsichtbaren und nicht zuletzt der ner Verbrechen sind vollkommen entgegenge- größte Friedhof der Welt, ein Friedhof ohne Grab- setzte Praxen.12 Erinnerungslernen, wie es Rein- steine.« 17 Die Frage, die heute heftig umstritten hold Boschki und Wilhelm Schwendemann ver- ist: Wem gehört Auschwitz? Diese Grundfrage geht stehen, muss diesen Grundkonflikt deutlich ma- an die Substanz des Erinnerungslernens: Gehört chen, wach halten und sensibilisieren.13 ein Ort wie Auschwitz den Überlebenden, den Ermordeten, den Trauernden, den sich Erinnern- 3 Orte NS-Verbrechen: den, den Besuchenden, den Lernenden, den Leh- Auschwitz als Beispiel renden, den Gedenkstättenpädagogen/-pädago- ginnen, den Historiker_innen? Konrad Weiß er- Am Beispiel von Auschwitz wird dieser Grund- mahnte 1992 im Bundestag: Über Auschwitz dür- konflikt deutlich. Auschwitz ist nach Peter Rei- fe kein Gras wachsen. 18

10 Vgl. Allmeier, Daniela et al. (Hg.) (2016): Erinnerungsorte 14 Reichel, Peter: Auschwitz, in: François, Etienne; Schulze, Hagen ZfBeg 1/2|2020 in Bewegung, S. 7– 8. (Hg.) (2001): Deutsche Geschichte, Bd. 1, München, S. 600 – 621. 11 Ebd. S. 9. 15 Ebd. S. 600. 12 Ebd. S. 11. 16 Ebd. S. 601. 13 Vgl. Boschki, Reinhold (2015): Erinnerung/Einnerungslernen, 17 Reichel, Peter: Auschwitz (2001): Deutsche Geschichte, S. 602. in: Wissenschaftlich-Religionspädagogisches Lexikon im 18 Ebd. S. 603 und Arning, Matthias (2005): Kein Gras über Internet (www.wirelex.de); Schwendemann, Wilhelm; Hirsch- Auschwitz, online verfügbar unter: https://www.fr.de/politik/ feld, Uwe (Hg.) (2018): Mai 1945. Perspektiven der Befreiung, kein-gras-ueber-auschwitz-11725106.html [Zugriff: 28.3.2020]. Münster. 32 Wilhelm Schwendemann: Erinnerungsorte – Erinnerungslernen an Orten nationalsozialistischer Verbrechen im Wandel der Zeiten

ferbewusstsein wurde durch aktuelle Erfahrungen noch verstärkt.«20 Dagegen hatte aber schon 1945/1946 der Philosoph Karl Jaspers oppo- niert.21 1955 erschien Anne Franks Tagebuch als Ta- schenbuch 22; Aktion Sühne- zeichen/Friedensdienste wurde als Versöhnungswerk der EKD gegründet 23, 1963 erschien Rolf Hochhuths Der Stellvertreter und 1963 (20.12.) begann der Ausch- witzprozess in Frankfurt am Eingangstor des KZ Auschwitz I (Stammlager) mit der zynischen Aufschrift »Arbeit macht frei« 2007. Main (Chefankläger war Fritz Bauer).24 Der Prozess war deswegen wichtig, weil er zum einen darstellte, wie In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozes- Auschwitz funktionierte; zum anderen wurden sen ab 1945 ging es um die Aufarbeitung der die Täter_innen der Vernichtungsmaschinerie in Schuld. Die Anklage lautete: »Verschwörung ge- Menschen zurückverwandelt: »Die politische gen den Frieden, Führung eines Angriffskrieges; Schuld erinnert an den Anfang des Nationalsozia- Kriegsverbrechen im Sinn der Haager Landkriegs- lismus. Sie liegt im Versagen der deutschen Gesell- ordnung, Genfer Kriegsgefangenenkonvention/ schaft und ihrer Eliten gegenüber der Herausfor- Verbrechen gegen die Menschlichkeit, definiert derung durch die Hitler-Bewegung.« 25 als Vertreibung, Versklavung, Deportation und Er- mordung der Zivilbevölkerung.« 19 1999 wurde im Bundestag beschlossen, in In der deutschen Nachkriegsgesellschaft hat- Berlin ein Stelenfeld (Holocaust Mahnmal) für die ten die Aufarbeitung und damit auch das Erinne- jüdischen Opfer des Nationalsozialismus zu er- rungslernen anfangs kaum eine nachhaltige Wir- richten. 26 In diesen Zusammenhang des Erinnerns kung, und es kam zur mythischen Trennung zwi- gehören auch der Neubau des jüdischen Muse- schen einem dämonischen Hitler und Anhängern ums in Berlin oder die Einführung eines Holocaust auf der einen Seite und auf der anderen Seite den Gedenktages. Auschwitz hat deswegen auch das gutgläubigen, verführten Deutschen, die sich selbst historische Bewusstsein und den zivilgesellschaft- dann als Opfer sahen: »Das schuldentlastete Op- lichen Umgang mit Geschichte verändert. 27

ZfBeg 1/2|2020 19 Reichel, Peter: Auschwitz (2001), S. 605. 28 Zum Folgenden siehe Schwendemann, Wilhelm (2013): 20 Ebd. S. 608. Erinnern und Lernen in bildungswissenschaftlicher Perspek- 21 Jaspers, Karl (1946/2012): Die Schuldfrage, München. tive – Was soll in einer zeitgemäßen Form der Auseinanderset- 22 Vgl. Reichel, Peter (2001): Auschwitz, S. 611. zung mit dem Holocaust gelernt werden?, in: 23 Ebd. S. 612. Nickolai, Werner; Schwendemann, Wilhelm (Hg.) (2013): 24 Ebd. S. 613. Gedenkstättenpädagogik und Soziale Arbeit, Münster, 25 Ebd. S. 615. S. 101– 116; im Sommer 2020 erscheint von der Forschungs- 26 Ebd. S. 617. gruppe REMEMBER ein Forschungsbericht, der die Problematik 27 Ebd. S. 620. der Antisemitismusprävention gerade des Religionsunterrichts aufweist (siehe Ankündigung auf S. 133) 33

4 Dynamiken der Lernorte im Unterricht

Aber genügt der oben angesprochene verän- derte zivilgesellschaftliche Umgang mit der Ge- schichte von NS-Gräueltaten? Das Problem, das sich dabei im Unterricht stellt, ist nicht nur ein didaktisches Problem der Abstimmung der Lehr- und Bildungspläne in Deutsch, Geschichte, Ge- meinschaftskunde, Religion und Ethik, sondern die Kombination historischen Wissens mit morali- schen Appellen, denn der/die Lerner_in wird in seiner oder ihrer Subjektivität vom Lehrenden 28 nicht wahrgenommen. Es entsteht eine psycho- Studierende der Evangelischen Hochschule dynamische Kluft zwischen Lernenden und Leh- Freiburg besuchten 2012 in Begleitung von renden oder zwischen emotionaler Belastung und Prof. Bernd Seibel und Prof. Wilhelm Schwendemann den sogenannten »Umschlagplatz« (NS-Begriff) kognitivem Wissen. Anfängliches Interesse von in Warschau. Von diesem Sammelplatz aus Schülern und Schülerinnen, zum Beispiel im Ge- wurden die Menschen dann in die Vernichtungs- lager deportiert. schichtsunterricht an der Geschichte des Natio- nalsozialismus, verpufft schnell, wenn das Thema Nationalsozialismus nicht schülersensibel unter- Formen des Antisemitismus, der Hass-Dialektik richtet wird oder sich Unterricht in der Präsenta- und Intoleranz. Von verschiedenen Seiten 30 wird tion von scheinbar emotionslosen Fakten erschöpft, beklagt, dass der herkömmliche Schulunterricht, wie wir verschiedenen Orts zum Beispiel im Ge- der Nationalsozialismus, Antisemitismus und Ho- schichts- oder Gemeinschaftskundeunterricht in locaust zum Thema hat, häufig sein Ziel verfehle, allen Schularten beobachten konnten. prophylaktische Lerneffekte bei den Schülern zu Das weitere Problem ist, dass sich Lehrende, bewirken. Stattdessen sind in der schulischen In- wenn sie den moralischen Zeigefinger heben, in teraktion verschiedene Kommunikationsstörun- die Position des moralisch Stärkeren begeben, was gen und Lernblockaden wahrnehmbar. schnell zu Authentizitätsproblemen führen kann Für den Religionsunterricht im Speziellen er- und in die Dialektik des Autoritären bzw. des au- weitert sich dieser Problemhorizont um die Theo- toritären Charakters verwoben ist.29 Die Kombi- dizeefrage, also um die Frage nach der Gerechtig- nation von Geschichte und Moral bzw. Appellen keit Gottes im Zusammenhang mit den massen- zum zivilgesellschaftlichen Engagement im Unter- haften Morden 31 und um das Problem des Anti- richt über Nationalsozialismus wird dabei jedoch semitismus, der theologisch als Gotteslästerung nicht problematisiert und schon gar nicht thema- zu qualifizieren wäre. Die Liste der Lernblockaden tisiert. Der Hang zum Autoritären begünstigt neue und Störungen ließe sich um einiges erweitern,

29 Vgl. Adorno, Theodor W. (Hg.) (1950): The authoritarian 31 Vgl. Wiesel, Eli; Guri, H. ayim (2005): ha- Lailah v.e-‘od 2 ZfBeg 1/2|2020 - personality, New York.; Adorno, Theodor W. (2010): sipurim. Ha-shah. ar, ha-yom. Tel Avîv: Yedioth Acharonot- Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt am Main. Hemed; Wiesel, Elie (1969): Night, New York; 30 Vgl. Zülsdorf-Kersting, Meik (2007): Sechzig Jahre danach deutsch: Wiesel, Elie (2013): Die Nacht. Erinnerung und Jugendliche und Holocaust. Eine Studie zur geschichts- Zeugnis, Freiburg. kulturellen Sozialisation, Berlin.; Wagensommer, Georg (2009): How to teach the Holocaust: Didaktische Leitlinien und empi- rische Forschung zur Religionspädagogik nach Auschwitz, Frankfurt am Main. 34 Wilhelm Schwendemann: Erinnerungsorte – Erinnerungslernen an Orten nationalsozialistischer Verbrechen im Wandel der Zeiten

Installation »Schwelle der Erinnerung« am Kölner Hauptbahnhof, aufgestellt von der privaten Initiative »Die Bahn erinnern«. Auf einer alten Bahnschwelle aus Eichenholz sind vier kleine Metalltafeln angebracht: »Viele Beamte, Angestellte und Arbeiter der Deutschen Reichsbahn waren in der Zeit des Nationalsozialismus an der Deportation von Millionen Menschen beteiligt.« »Nach genauen Zugfahrplänen wurden Frauen, Männer und Kinder aus allen Teilen Europas – meist in Güterwaggons gedrängt – in die Konzentrations- und Vernichtungslager abtransportiert.« »Im Gedenken an die Opfer von Deportation und nationalsozialistischer Vernichtung. Köln im Januar 2006.« »Die deutsche Bahn AG hat die Reichsbahn übernommen, weigert sich aber bis heute, in ihren Räumen und Bahnhöfen die Einbindung der Reichsbahn in die Verbrechen der Nazis öffentlich zu dokumentieren und zu bedauern.«

und dass es sich dabei um Berichte und Wahrneh- mungen Einzelner handelt, kann man weder für die Gegenwart noch für die Vergangenheit feststel- len. 32 Vielmehr, so Stephan Marks 33, sei die Klage über den geringen Erfolg des Schulunterrichts zum Thema Nationalsozialismus und über das dürftige Wissen vieler junger Menschen fast so alt wie der Schulunterricht zu diesem Thema – ein histori- scher Rückblick verifiziert Marks’ These auf dras- tische Weise: Die gegenwärtigen Rezeptionsprob- leme sind bzw. waren von Beginn der Vermitt- lung (konkret: seit den 1960er-Jahren) bis in die heutige Zeit bewusst. In der Literatur ist dies be- legt. 34 Ein zweites Ergebnis, das direkt die pädagogi- schen Kompetenzen der Lehrenden berührt, aber auch natürlich im Bereich der sich wandelnden

ZfBeg 1/2|2020 32 Vgl. Wagensommer, Georg (2001): Zur Konfrontation Jugend- 34 Vgl. Glück, Eva-Maria; Schwendemann, Wilhelm; Wagen- licher mit Nationalsozialismus und Holocaust im Unterricht, sommer, Georg (2004): Aufklären, Erinnern und Gedenken – in: Im Gespräch 2, S. 64 – 68. Weiterer Bericht des Freiburger Forschungsprojekts »Antisemi- 33 Vgl. Marks, Stephan (2003): Wissenschaft nach Auschwitz, tismus und Nationalsozialismus als Themen des Unterrichts. in: Schwendemann, Wilhelm; Marks, Stephan; Wagensommer, (= 2004a), in: Im Gespräch (9), S. 60 –71; Glück, Eva-Maria; Georg (Hg.): Aus der Geschichte lernen? Nationalsozialismus Schwendemann, Wilhelm; Wagensommer, Georg (2004): und Antisemitismus als Unterrichtsthema, Münster; Hamburg, »Mein Opa ist geil, mein Opa war Nazi« – Bericht des Frei- S. 172–176, hier S. 172. burger Forschungsprojekts »Antisemitismus und National- sozialismus als Themen des Unterrichts«. (= 2004b), in: Zeitschrift für Internationale Schulbuchforschung /Internatio- nal Textbook Research 26 (3), S. 313 –321. 35

Gedenkstättenpädagogik zu reflektieren ist, ist: Leh- rende sind in der Regel überfordert, dem Grauen der Bilder der Schoah standzuhalten, und neigen im emotionalen Konfliktfall eher dazu, Informa- tions- statt Bedeutungs- oder Handlungswissen weiterzugeben. Warum soll man sich überhaupt mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus be- schäftigen? Welche Kompetenzen lassen sich dann in und mit dieser Beschäftigung erwerben? Holocaust Education bzw. Erziehung nach und über Auschwitz ließe sich ja auch gewaltig und gewalttätig missverstehen. Meine These ist, dass bestimmte Orte mit be- stimmten Leidenserfahrungen verbunden sind und die Erinnerung an die Bedeutung dieser Orte gleich- zeitig die Erinnerungen an Leidenserfahrungen festhalten. 35 In unterrichtlichen Prozessen und Interaktionen werden diese Erinnerungen in Form einer Zweittraumatisierung aktiviert, wenn Ler- nende mit entsprechenden Medien konfrontiert sind; gerade hier muss der schülersensible Unter- richt einsetzen: einmal, um die Lernenden in ih- rem Umgang mit NS-Gräueltaten nicht allein zu lassen, und andererseits, um die Opfer der Schoah nicht ein zweites Mal zu entmenschlichen. Politi- sche Korrektheit 36 anlässlich von Jahrestagen, Gedenkfeiern usw. führt aber in der Regel nicht zu einer aktiven Auseinandersetzung mit Natio- nalsozialismus und Holocaust, sondern zu einer Erinnerungsstele am Eingang Blockade. Unterrichtliche Blockaden bieten aber zur »Internationalen Jugend-Begegnungsstätte« dann auch wieder die Einfallsmöglichkeit für Frag- in Auschwitz/Os´wie¸cim, Polen. mente nationalsozialistischer Ideologie, wie zum Beispiel psychodynamische Wirkungen von Macht- Ohnmacht-Verhältnissen oder Ausgrenzungen von Nichtmehrheitsmeinungen in einer Lerngruppe, was kognitives Lernen verunmöglicht.

35 Vgl. Metz, Johann Baptist (1995): »Landschaft aus Schreien«. Reikerstorfer, Johann (2011): Memoria passionis. Ein provozie- ZfBeg 1/2|2020 Zur Dramatik der Theodizeefrage, Mainz.; ders. (2002): rendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg im Kirche nach Auschwitz, in: Wissenschaftliche Paperbacks. 14; Breisgau.; Metz, Johann Baptist; Wiesel, Elie (1981): Gott nach ders. (2004): Compassion. Das Leid der anderen spüren, in: Auschwitz. Dimensionen des Massenmordes am jüdischen von Wartenberg-Potter, Bärbel (Hg.): Was tust du, fragt der Volk, Freiburg im Breisgau. Engel, Freiburg im Breisgau, S. 38 – 42; dies. (2005): 36 Vgl. Schwendemann, Wilhelm; Boschki, Reinhold (Hg.) Annäherungen an eine Christologie nach Auschwitz. Franz- (2008): Vier Generationen nach Auschwitz – Delitzsch Vorlesung 2004. Münster: Inst. Judaicum Delitz- Wie ist Erinnerungslernen heute noch möglich?, Münster. schianum (Franz-Delitzsch-Vorlesung, 14); Metz, Johann B.; 36 Wilhelm Schwendemann: Erinnerungsorte – Erinnerungslernen an Orten nationalsozialistischer Verbrechen im Wandel der Zeiten

#uploading_holocaust ist ein multimediales Webprojekt, das herausfinden will, wie Jugendliche heute mit der Erinnerung an den Holocaust umgehen und wie sie sich eine zeitgemäße Erinnerungskultur im digitalen Zeitalter vorstellen.

Die Auseinandersetzung mit dem Nationalso- sen der Gedenktagsreden,« sagt Harald Welzer. zialismus und Holocaust als Aufbau eines Ge- »Letztlich sind sie ein Instrument, sich nicht mit schichtsbewusstseins ist unterrichtlich oft verbun- der Geschichte zu befassen.« 39 Das normierte den mit moralisierenden Einstellungen, die es den Sprechen erzeugt eine Fassade, die Erinnerungs- Schülern und Schülerinnen schwermachen, sich arbeit vorspiegelt, aber letztlich nur davon ablenkt, zu sensibilisieren. Der Religions- und auch der dass man sich die wirklich schwierigen Fragen Geschichtsunterricht sollten dazu befähigen, sich vom Hals hält, etwa die nach der Schuld. Lieber mit dem Nationalsozialismus auseinanderzuset- spricht man von Verantwortung. Der Holocaust zen und nicht die Folge haben, dass sozial er- ist für mich auch kein typisch-curricularer oder wünschtes Sprechen über den Nationalsozialis- distanziert zu unterrichtender Lehrgegenstand, mus eingeübt wird. 37 Was »sozial erwünschtes denn Unterricht über Nationalsozialismus/Holo- Sprechen« heißt, zeigen die alljährlichen offiziel- caust gefährdet Identität in einer entwicklungs- len Gedenkrituale. 38 »Es liegt ein geradezu gegen- psychologisch angespannten Situation, in der Ju- aufklärerisches Moment in den gestanzten Phra- gendliche sich auf den Weg begeben, eigene Iden-

ZfBeg 1/2|2020 37 Was geht mich das noch an?, in: Zeit online, S. 2, und Konsequenzen für die Schulbuchkonstruktion, in: Handro, online verfügbar unter: Saskia (Hg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung. http://www. zeit .de/2010/45/Erinnern-NS-Zeit-Jugendliche. Berlin; Münster, S. 105–119.; ders. (2006c): Über Verbrechen 38 Zülsdorf-Kersting, Meik (2006a): Identitätsstiftung durch das reden. Umgang mit Menschenrechtsverbrechen in globaler Grauen? Jugendliche und das Thema »Holocaust«, in: Perspektive, in: Zeitschrift für Genozidforschung Themenheft, Zeitschrift für Genozidforschung 7 (2), S. 67–92; ders. (2006b): Vol.7, 2006-2, Paderborn.; ders. (2007): Sechzig Jahre danach Jugendliche und das Thema »Holocaust« – empirische Befunde Jugendliche und Holocaust.; ders. (2008): Zum Verhältnis 37

titätskonstruktionen zu entwickeln. Als Lernge- Evaluierungen von Programmen historisch- genstand sollte er trotzdem gelten, wenn Schüler politischer Bildung lassen den Schluss zu, dass sich und Schülerinnen sich auf Spurensuche begeben historische Kenntnisvermittlung zu nationalsozia- und eine objektivierende Distanz aufgeben. Sol- listischen Verbrechen an Orten ehemaliger Konzen- che Distanzierungen geschehen dann, wenn die trationslager und Übungen zum Demokratieler- Geschichte des Nationalsozialismus als Geschich- nen in einer Zivilgesellschaft nicht unmittelbar te von Tätern und Opfern beschrieben wird. verknüpfen lassen. Gedenkstätten können, wie Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass ich oben angedeutet habe, nicht einfach als Lern- aktive Aneignungsprozesse der Schüler und Schü- orte politischer Bildung bzw. Erinnerungsorte in- lerinnen und die Entwicklung eigenständiger Deu- strumentalisiert werden. Der Gegenwartsbezug tungen und Bewertungen nachhaltiger für den muss immer zuerst auch jugendsensibel sein und Aufbau eines selbst erarbeiteten Geschichtsbe- sollte »sich weder in der Herstellung, noch in der wusstseins sind als die Übernahme vorgefertigter Problematisierung von Vergleichen und Analogien geschichtsmoralischer Glaubenssätze von Lehren- erschöpfen« 40. Die Lernaufgaben von Gedenk- den, die biologisch und sozial einer anderen Ge- stätten sind zuerst einmal, konkrete geschichtliche neration angehören. Kenntnisse über die Zeit des Nationalsozialismus und damalige Terrormaßnahmen zu verdeutlichen; 5 Fazit sie sind in gleicher Linie auch Orte, an denen man lernen kann, wie mit der Geschichte des Natio- Erinnerungslernen an Orten nationalsozialis- nalsozialismus seit 1945 umgegangen wurde. tischer Verbrechen muss einerseits radikal subjekt- Als Lernfeld steht dabei immer auch, dass die orientiert sein, d.h. vom Lernenden ausgehen, und Bedeutung des Ortes für die Opfer und ihre Nach- darf die Lernenden angesichts der grauenvollen fahren in einer Spannung zur Aufgabe der Wis- Bilder und Berichte über die Schoah nicht allein sensvermittlung steht. Zudem ist fraglich, ob man lassen. Ideologiekritisch müssen die Macht-Lern- und was man aus der Geschichte des Nationalso- Verhältnisse in der professionellen Gedenkstätten- zialismus lernt; ob Orte früherer Verbrechen sich pädagogik und im schulischen Unterricht auf den tatsächlich als Orte der Menschenrechtsbildung Prüfstand gestellt werden und damit auch die oft eignen, ist hierbei ebenso fraglich. Die kurzzeit- an die Bilder aus NS-Quellen verhaftete NS-Ideo- pädagogischen Angebote von Gedenkstätten müs- logie. Schulische und außerschulische Erziehung sen verbunden bleiben mit kontinuierlichem Ler- nach und über Auschwitz kann Jugendliche zwar nen in der schulischen aber auch außerschulischen gegen Rassismus, Diskriminierung, Antisemitis- Arbeit – menschenrechtsfördernde Einstellungen mus sensibilisieren, aber nicht dagegen unemp- benötigen lange Lernräume und Lernzeiten. findlich machen. Resilienz lässt sich pädagogisch Auch müssen Pädagog_innen lernen, wie mit nicht einfach durch eine moralisch und politisch Emotionen und Traumatisierungen seitens ihrer korrekte Haltung entwickeln. Lernenden umzugehen ist.

von historischer Identität und geschichtskultureller Prägung. 40 Vgl. Kößler, Gottfried; Thimm, Barbara; Ulrich, Susanne ZfBeg 1/2|2020 Empirische Annäherungen, in: Geschichte in Wissenschaft und (2010): Produktive Verunsicherung. Ein Modellprojekt Unterricht 59, S. 631– 646. als Beitrag zur Qualifizierung der Gedenkstättenpädagogik 39 Welzer, Harald (2011): Für eine Modernisierung der Erinne- (Gedenkstättenrundbrief), online verfügbar unter: rungs- und Gedenkkultur, in: Gedenkstättenrundbrief 162, http://www. gedenkstaettenforum.de/nc/gedenkstaetten- 8/2011, S. 3 – 9. rundbrief/rundbrief/news/produktive_verunsicherung/. Das »Denkmal für die ermordeten Juden Europas«, kurz Holocaust- Mahnmal, in der historischen Mitte Berlins erinnert an die über 6 Millionen im Nationalsozialismus ermordeten Jüdinnen und Juden.

Das Mahnmal wurde von dem Archi- tekten Peter Eisenman entworfen und besteht aus 2.711 quaderförmi- gen Beton-Stelen. Es wurde zwi- schen 2003 und 2005 auf einer rund 19.000 m2 großen Fläche südlich des Brandenburger Tors errichtet und am 10. Mai 2005 eingeweiht. Im ersten Jahr besuchten über 3,5 Millionen Besucher diesen Ort. 39

Reinhold Boschki 1 Erinnerungskultur im Wandel Kulturwissenschaftliche, theologische und gesellschaftspolitische Aspekte

Kann man sich an etwas erinnern, Berichten von anderen, dem Kindermädchen und das man selbst nicht erlebt hat? der Eltern, die die Geschichte immer wieder er- zählten, in sein eigenes Lebensgedächtnis über- Zu dieser Frage erzählt der berühmte Entwick- nommen, beispielsweise das Aussehen des Übeltä- lungspsychologe Jean Piaget (1896 –1980) eine ters, des Polizisten und die Tatsache, dass das Kin- Geschichte aus seinem eigenen Leben: 2 dermädchen zur Belohnung eine Uhr geschenkt Er wurde in Paris geboren. Als er zwei Jahre bekommen hatte – für die damalige Zeit ein außer- alt war, schob ihn ein Kindermädchen der Familie ordentlich wertvolles Geschenk. Allerdings nimmt im Kinderwagen zu den Champs-Élysées und stellte die Erzählung Piagets eine überraschende Wen- ihn dort in der Nähe einer Metrostation ab. In dung, auf die ich am Schluss des Beitrags zurück- einem achtlosen Augenblick versuchte ein Frem- kommen werde. der, ihn zu entführen. Er zerrte an dem Kind, das Erinnerung, so kann in einem ersten Zugang jedoch mit einem Lederriemen im Kinderwagen festgehalten werden, ist sehr häufig nicht allein festgebunden war. Das Kindermädchen lief aufge- unsere eigene, sondern »Erinnerung aus zweiter schreckt herbei, es kam zu einem Handgemenge, Hand«.4 bei dem sie sich einige Kratzer im Gesicht zuge- fügt hatte. Menschen liefen zusammen, auch ein Unser Gedächtnis ist kommunikativ Polizist, und schlugen den potentiellen Entführer in die Flucht. Der Grund dafür liegt im kommunikativen Piaget kann sich an die Einzelheiten dieser und konstruktiven Charakter unseres Erinnerungs- Geschichte sehr genau erinnern, obwohl er erst vermögens. 5 Erinnerungen werden im menschli- zwei Jahre alt war. Er sieht den Bösewicht noch chen Gehirn nicht wie Texte oder Fotos im Com- vor sich, erinnert sich an die Kratzspuren im Ge- puter gespeichert, also eins zu eins abgebildet, sicht des Kindermädchens, kann den Polizisten sondern auf vielfältige Weise »kodiert«, mit ande- beschreiben, der einen Schulterumhang trug und ren Erfahrungssituationen vermengt, mit Erzäh- einen weißen Stab bei sich hatte. lungen von anderen Menschen in Verbindung ge- Doch genau besehen ist die Erinnerung an bracht, emotional angereichert, gedeutet, aufgela- solche Details lebensgeschichtlich kaum möglich. den oder abgeschwächt – und vor allem: verändert. Der Sozialpsychologe Harald Welzer, der eine be- Erinnerung ist eine großartige, bisweilen aber auch deutende »Theorie der Erinnerung« vorgelegt hat, mit Fallen versehene Konstruktionsleistung unse- zeigt auf, dass das Gedächtnis ein »konstruktives res Gedächtnisapparats. Er führt Erinnerungsspu- System ist, das Realität nicht einfach abbildet, ren und kommunikative Erfahrungen bzw. Erzäh- sondern auf unterschiedlichsten Wegen und nach lungen zusammen zu einem neuen großen Gan- unterschiedlichsten Funktionen filtert und inter- zen. pretiert«. 3 In diesem Fall hat der Erzähler offen- So bedeutungsvoll diese Gehirnarbeit ist, so un- sichtlich zahlreiche Erinnerungsdetails aus den präzise ist sie auch. Erinnerungen können ver-

1 Reinhold Boschki ist Professor für Religionspädagogik, 4 Ebd. – zum Folgenden vgl. ebd., S. 19 – 45. ZfBeg 1/2|2020 Leiter der Elie Wiesel Forschungsstelle an der Universität 5 Es gibt Versuche, die Begriffe Erinnerung, Gedächtnis und Tübingen und Mitherausgeber der ZfBeg. Gedenken, analog die engl. Begriffe remembrance und 2 Piaget, Jean (1969): Nachahmung, Spiel und Traum. Die memory, gegeneinander abzugrenzen, allerdings verwenden Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde, Stuttgart, S. 240. andere Arbeiten die Termini genau im gegensätzlichen Sinne. 3 Welzer, Harald (2017): Das kommunikative Gedächtnis. Aus diesem Grunde werden die Begriffe in diesem Beitrag Eine Theorie der Erinnerung, München, S. 20. und in dieser Ausgabe der ZfBeg synonym gebraucht. 40 Reinhold Boschki: Erinnerungskultur im Wandel – Kulturwissenschaftliche, theologische und gesellschafts-politische Aspekte

blassen oder ganz verschwinden, können uns täu- mit zeitlichen Kontinuitäten, mit den Entwick- schen, manipuliert werden, Fehldeutungen her- lungen und Beziehungen der Dinge.« 8 vorbringen. Manch ein Überlebender der Todes- Im Idealfall korrespondieren Erinnerung und lager berichtete, er sei auf der Rampe von Ausch- Geschichte wie zwei sich gegenseitig ergänzende witz- Birkenau dem berüchtigten Dr. Mengele be- und korrigierende Instanzen. Ohne Geschichts- gegnet, der die Selektionen leitete. Historisch kann wissenschaft liefe Erinnerung Gefahr, verfälscht jedoch nachgewiesen werden, dass Mengele zur und verzweckt zu werden. Ohne Erinnerung könn- Ankunft dieser speziellen Züge gar nicht in Ausch- te sich Historiografie zu einer Ansammlung von witz war, es muss sich also um einen anderen Fakten und Zahlen verflachen, zu denen es keinen Massenmörder gehandelt haben. Die Überleben- interpretativen Gesamtsinn mehr gibt. den haben spätere Berichte und Erzählungen in Die sozial- und kulturwissenschaftliche Ge- der Nachkriegszeit in ihre eigenen Erinnerungen dächtnisforschung hat die kommunikative und eingebaut und quasi »verfälscht«. kulturelle Bedeutung des Gedächtnisses hervorge- hoben. Die bahnbrechenden Arbeiten von Mau- Erinnerung ist also von historischer Tatsachen- rice Halbwachs (1877–1945) haben das Gedächt- beschreibung zu unterscheiden. Der französische nis als soziale und kollektive Größe entdeckt und Gedächtnisforscher Pierre Nora bezeichnet Erin- beschrieben. 9 Gruppen verfertigen ihre eigenen nerung und Geschichte sogar als »Gegensätze«.6 Gedächtnistraditionen, die ihre soziale Identität Das Gedächtnis wird von lebendigen Gruppen ge- konstruieren, indem sie kollektive Erinnerungen tragen und ist ständig in Entwicklung. Es ist un- in bestimmter Weise sammeln, ordnen, filtern und scharf, vermischt sich mit anderen Erinnerungen, an die nächsten Generationen tradieren. Darauf repräsentiert sich oft symbolisch, »ist zu allen Über- aufbauend hat Jan Assmann die Funktion des tragungen, Ausblendungen, Schnitten oder Pro- »kulturellen Gedächtnisses« beschrieben,10 was jektionen fähig«. 7 Vor allem sind sie affektiv, also die internationalen Forschungen der Cultural Me- von Emotionen bestimmt. Erinnerungen tragen mory Studies in differenzierter Weise weiter er- starke emotionale Marker. Erfahrungen, die uns be- forscht.11 eindrucken, aufwühlen, bewegen oder belasten, Im Zusammenhang dieser Untersuchungen werden besser und anders erinnert als neutrale wurde herausgearbeitet: Das Gedächtnis ist von Sachverhalte. Die entscheidende Instanz, die die sozialen, kulturellen, gesellschaftlichen und poli- Erinnerungen steuern und ihnen Bedeutung zu- tischen Bedingungen abhängig. Es gibt kein ›neu- messen, sind unsere Emotionen. trales‹ Gedächtnis, sondern immer nur eine durch Hingegen ist Geschichte die Rekonstruktion die gesellschaftspolitischen Umstände geprägte Er- dessen, was ›tatsächlich‹ war, stützt sich auf histo- innerungstradition, die dem historischen Wandel rische Forschung, ist eine Sammlung von beleg- unterliegt. Denn, wenn sich die gesellschaftlichen baren Fakten aus Archiven, Quellen und histori- Umstände verändern, verändert sich auch das je- schen Berichten. »Die Geschichte befasst sich nur weils herrschende Gedächtnisparadigma.

ZfBeg 1/2|2020 6 Nora, Pierre (1998): Zwischen Geschichte und Gedächtnis, 10 Assmann, Jan (2007): Das kulturelle Gedächtnis. Frankfurt, S. 13. Zum Folgenden vgl. ebd., S. 7–21. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen 7 Ebd. Hochkulturen, München. 8 Ebd., S. 14. 11 Überblick in: Erll, Astrid (2017): Kollektives Gedächtnis 9 Halbwachs, Maurice (1985): Das kollektive Gedächtnis, und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Heidelberg; Frankfurt (La mémoire collective, Paris 1950). Erll, Astrid; Nünning, Ansgar (eds.) (2010): A companion to cultural memory studies, Berlin, New York. 41

Gesellschaftliche Transformation Migration: Durch den Prozess der Globalisie- verändert das Gedenken des Holocaust rung werden in den einzelnen Gesellschaften neue Traditionen der Erinnerung aufgenom- Erinnerung ist ein dynamisches Geschehen, men: Erinnerung an die Unrechtsherrschaften das sich im Laufe geschichtlicher und gesellschaft- von Nationalsozialismus und Faschismus, Er- licher Veränderungen selbst fortwährend verän- innerung an die menschenverachtenden Aus- dert.12 Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist derzeit wüchse des Kommunismus, die überlappende einem eminenten Wandel ausgesetzt, der zumeist Erinnerung in verschiedenen Regionen der mit den Transformationsprozessen wie Pluralisie- Europäischen Union. Durch Migration bringen rung, Globalisierung, Migration, Digitalisierung ethnische, kulturelle und religiöse Gruppen etc. gekennzeichnet wird. Mit der Veränderung ihre je eigenen Erinnerungen und Identitäten, der Gesellschaft verändern sich auch die Formen ihre Leidenserfahrungen und kollektiven Trau- des Gedenkens, in diesem Fall die Erinnerung an mata in den gesellschaftlichen Diskurs um Er- den Holocaust bzw. an die Schoah oder an Ausch- innerung mit ein. witz.13 Angesichts des fundamentalen Wandels ge- • Digitalisierung der Erinnerung: Die Digitali- sellschaftlicher Bedingungen in unserer Zeit wird sierung der Gesellschaft, insbesondere der und muss sich im gleichen Maße die Erinnerungs- Kommunikationsformen, hat ebenfalls Auswir- kultur des Holocaust radikal verändern.14 kungen auf die Formen des Erinnerns. Inzwi- schen hat sich eine »Erinnerungskultur 2.0« Aspekte der Transformation der Erinnerungs- entwickelt, 16 die Chancen (zum Beispiel durch kultur sind: videografierte Zeitzeugenberichte oder digi- • Verstummen der Zeitzeugen: Die Begegnung tale Rekonstruktionen zerstörter Synagogen), mit Zeitzeugen ist und war ein bedeutendes aber auch eminente Ambivalenzen und Gefah- Moment kultureller und schulischer Erinne- ren in sich birgt (Wikipedia als »Erinnerungs- rungsarbeit in den vergangenen Jahrzehnten. speicher«; Banalisierung des Holocaust in You- Die direkte Begegnung mit Menschen, die die tube-Produktionen etc.). Angesichts der »me- Grauen der Todeslager des Nationalsozialismus dialen Transformationen des Gedächtnispara- erlebt und erlitten hatten, war insbesondere digmas« muss es zu »Neuverhandlungen des für die junge Generation ein wesentlicher Fak- Holocaust« kommen. 17 tor der Bewusstseinsbildung im Blick auf den • Religiöser Wandel: Nicht weniger als Politik Holocaust. Im Zeitalter des Verstummens der und Gesellschaft ist Religion durch Transfor- Zeitzeugen wird deutlich, dass sich Erziehung mation, Pluralität und Heterogenität gekenn- und Bildung nach Auschwitz in heutiger Zeit zeichnet. Globalisierung verändert auch die grundlegend verändern müssen.15 religiösen Identitäten. Deshalb ist in den plura- • Politischer und gesellschaftlicher Wandel im lisierten und globalisierten Gesellschaften Eu- Zeichen von Pluralisierung, Globalisierung, ropas das religiöse Gedächtnis nicht mehr

12 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf den theoretischen 15 Vgl. Gross, Zehavit; Stevick, Doyle (eds.) (2015): As the ZfBeg 1/2|2020 Bezugsrahmen in: Forschungsgruppe REMEMBER (2020): witnesses fall silent. 21st century Holocaust Education in Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht. Empi- curriculum, policy and practice, New York. rische Einblicke und didaktische Impulse, Stuttgart, Kapitel 1. 16 Vgl. die Beiträge von Julia Münch-Wirtz und Julian Wilhelm 13 Auch diese drei Begriffe werden hier synonym verwendet. in dieser Ausgabe. 14 Assmann, Aleida (2020): Das neue Unbehagen an der Erinne- 17 Frieden, Kirsten (2014): Neuverhandlungen des Holocaust. rungskultur. Eine Intervention, München; Assmann, Aleida Mediale Transformationen des Gedächtnisparadigmas, Bielefeld. (2018): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungs- kultur und Geschichtspolitik, München. 42 Reinhold Boschki: Erinnerungskultur im Wandel – Kulturwissenschaftliche, theologische und gesellschafts-politische Aspekte

identisch mit dem christlichen. Institutionell genüber Jüdinnen und Juden einflussreich in vermittelte Formen des religiösen Gedächtnis- die Öffentlichkeit zu tragen, was eine wach- ses verlieren ihren Einfluss und individuali- sende Bedrohung für Demokratie und Men- sierte Formen der Religiosität sind verbreitet schenwürde darstellt. anzutreffen, gerade auch bei jungen Men- • Wandel der pädagogischen Erinnerungskultur: schen. Aus diesem Grunde sind auch religiöse Die genannten gesellschaftlichen Umbruch- Formen der Erinnerung und Erinnerungskul- prozesse führen schon seit Jahren zu einer Ver- tur in einem umfassenden Wandel begriffen. änderung der Erinnerung an den Holocaust in • Wandel der Lebenswelten und Identitätskon- pädagogischen Feldern. Wenn Zeitzeugen nicht struktionen: All die erwähnten Transformati- mehr persönlich zur Verfügung stehen, müs- onsprozesse verändern die Lebenswelten der sen verstärkt literarische und videografierte Menschen und damit ihr Selbstverständnis, Zeugnisse eingesetzt werden. Die gesamte Pa- ihre Mentalitäten und ihre Konstruktionen lette von Darstellen, Vermitteln, Aneignen des von Identität, was wiederum besonders die jun- Holocaust in Literatur, Bild, Film, Kunst sowie ge Generation betrifft. Bisher vertraute indi- an Gedenkstätten,19 d.h. in der gesamten Bil- viduelle, soziale, politische und religiöse For- dungsarbeit (Schule, politische Bildung, Er- men der Selbstdefinition und Identitätsverge- wachsenenbildung), stehen zur Disposition. wisserung werden abgelöst durch neue, viel- fach noch schwer fassbare Formen, die das Auch die religiöse Erinnerung Bisherige in Frage stellen. Entsprechend steht verändert sich auch die identitätsgenerative Kraft gesell- schaftlicher und religiöser Narrative zur De- Wie erwähnt, ist auch die Erinnerungskultur batte und mit ihnen auch die Bedeutung der innerhalb der Religionen dem geschichtlichen und Holocausterinnerung für gegenwärtige Iden- gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Auch re- titätskonstruktionen. ligiöse Traditionen sind etwas höchst Dynamisches, • Wiedererstarken des Antisemitismus und selbst wenn dies ›Traditionalisten‹ nicht wahrha- rechtsradikaler Tendenzen: Identitätsdiffu- ben wollen. Religionen stehen nicht außerhalb, sion und soziale Unsicherheit sowie politische sondern sind Teil der Gesellschaft und prägen sie Veränderungsprozesse sind unter anderem mehr oder weniger stark bzw. werden von ihr be- Gründe für das neue Aufleben von gruppen- einflusst. bezogener Menschenfeindlichkeit und rechts- Dabei ist Pluralität heute ein Grundkennzei- radikaler Tendenzen im Allgemeinen sowie chen aller Religionsgemeinschaften in Geschichte des Antisemitismus im Speziellen.18 Insbeson- und Gegenwart, wobei sich die Vielfalt aktuell po- dere das Internet gibt antisemitisch eingestell- tenziert. Die zahlreichen Richtungen, »Flügel«, ten Einzelnen und Gruppierungen die Mög- Konfessionen oder Denominationen in den Welt- lichkeit, ihren Hass und ihre Verachtung ge- religionen sind schon allein dadurch gegeben, dass

ZfBeg 1/2|2020 18 U.a. Blume, Michael (2019): Warum der Antisemitismus uns 19 Vgl. den Beitrag von Wilhelm Schwendemann alle bedroht. Wie neue Medien alte Verschwörungsmythen in dieser Ausgabe. befeuern, Ostfildern; Lipstadt, Deborah (2019): Der neue Anti- semitismus, Berlin; Schwarz-Friesel, Monika (2019): Juden- hass im Internet. Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl, Berlin; Leipzig. 43

sie von den einzelnen Regionen, in denen sie ver- Ethische und politische Dimension wurzelt sind, kulturell geformt werden. Das asch- der Erinnerung kenasische und sefardische Judentum sind klassische Beispiele, aber auch die Unterschied- Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann lichkeit des Katholizismus etwa in Polen, im sä- benennt fünf Punkt, die eine neue Erinnerungs- kularen Westeuropa oder in Afrika und kultur angesichts des gesellschaftlichen Wandels Südamerika steht stellvertretend für kulturell plu- umfasst: 24 Sie bezeichnet rale Ausformungen ein und derselben Religion. … Erinnern (1) als anthropologische Universalie, Wer deshalb von »anamnetischer Kultur«20 in die heute in erster Linie von Individuen und Grup- Bezug auf Religion und Gesellschaft spricht, muss pen, nicht mehr von Nationalstaaten, gestaltet eigentlich von anamnetischen Kulturen sprechen, wird. Jedes Individuum, jede ethnische, soziale die sich in den einzelnen Religionen entwickeln und religiöse Gruppe hat ein grundsätzliches Men- können. Erinnerung als religiöse und theologische schenrecht auf die Pflege ihrer eigenen Erinne- Basiskategorie 21 ist heute in ihrer pluralen Gestalt rungskultur. Dies schließt Migrantinnen und Mig- wahrzunehmen und zu reflektieren. Religionen ranten mit ein. Es kann also künftig keine einheit- haben immense Erinnerungspotentiale und kön- liche Gedenkkultur eines Landes mehr geben, nen in ihrer Heterogenität zur gesellschaftlichen vielmehr müssen die Erinnerungskulturen – in Diskussion um Erinnerung einen bedeutenden Europa insbesondere das Auschwitzgedenken – Beitrag leisten. ins Gespräch und in Austausch mit anderen Erin- nerungstraditionen kommen. Konkret: Der kürzlich verstorbene Fundamen- … Erinnern ist (2) die Vergegenwärtigung von taltheologe Johann Baptist Metz (1928 – 2019),22 Vergangenheit, das bedeutet, dass es nicht allein dessen Werk wie kaum ein anderes für die christ- um Musealisierung und Archivierung des Ge- lich-theologische Durchdringung der Frage nach dächtnisses gehen kann, sondern um dessen Ak- der Erinnerung an Auschwitz steht, sieht in der tualisierung, das Setzen in die Gegenwart. Damit Ausbildung einer »leidempfindlichen Weltverant- sind die Herausforderungen unserer Zeit, beispiels- wortung« 23 einen Zentralpunkt einer christlichen weise der neu aufkommende Antisemitismus, anamnetischen Theologie und Kultur: Leidemp- Rassismus und Hass gegen Fremde, im Fokus der findlichkeit gegenüber den Schwachen, den Op- Diskurse der vielfältigen Erinnerungen. Vergegen- fern der Geschichte, aber insbesondere auch der wärtigen heißt aber auch, dass neue Formen des Gegenwart, ist ein primäres, von der Bibel her ge- Erinnerns gefunden werden müssen, die zeitge- botenes Ethos. Darin eingeschlossen sind insbe- mäß sind und die auch junge Menschen errei- sondere die Armen, die Fremden, die Flüchtlinge chen, die provozieren und zum nach-denken an- und Verfolgten. Erinnerung wird hier weder litur- regen.25 gisch noch privatistisch verengt, sondern zeigt … Erinnern bedarf außerdem (3) der Darstellung, sich von ihrer ethischen und politischen Seite. das heißt der Repräsentation in Medien (Presse,

20 Metz, Johann Baptist (1992): Für eine anamnetische Kultur, 23 Metz, Johann Baptist (2006): Memoria passionis. Ein provo- ZfBeg 1/2|2020 in: Loewy, Hanno (Hg.): Holocaust. Die Grenzen des zierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg, Verstehens, Reinbek bei Hamburg, S. 35 – 41. S. 163 –184. 21 Vgl. Petzel, Paul; Reck, Norbert (Hg.) (2003): Erinnern. 24 Assmann, Aleida (2020): Unbehagen, S. 233 –240. Erkundungen zu einer theologischen Basiskategorie, Darmstadt. 25 Vgl. den Betrag von Valesca Baert-Knoll in dieser Ausgabe. 22 Siehe den Nachruf in dieser Ausgabe. 44 Reinhold Boschki: Erinnerungskultur im Wandel – Kulturwissenschaftliche, theologische und gesellschafts-politische Aspekte

»Halle der Erinnerung« in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, Kampf gegen Antisemitismus und für Mount Herzl, . Menschenwürde als Erinnerungsaufgabe

Der vierte Punkt einer neu konturierten Erin- Buchmarkt, Bühne, Funk, Fernsehen, Film und nerungskultur kann insbesondere am Kampf gegen Internet, Museen und Ausstellungen), womit Antisemitismus und für Menschenwürde ver- zwangsläufig eine mediale Transformation einher- deutlicht werden. Schon Theodor W. Adorno hat- geht, die aber fruchtbar sein kann und weitere te in seinem Plädoyer für eine Erziehung nach Adressatenschichten, auch, um es nochmals zu be- Auschwitz gefordert, durch allgemeine Aufklä- tonen, die junge Generation erreicht. Die Zeit des rung »ein geistiges, kulturelles und gesellschaftli- Kränzeniederlegens und der moralinen Sonntags- ches Klima« zu schaffen, das Auschwitz nie wieder reden an Gedenktagen ist vorbei. Heute geht es um möglich macht und das »die Motive, die zu dem Gestaltung kreativer, neuer Gedächtnisformen Grauen geführt haben, einigermaßen bewusst und Erinnerungsräume. werden« lässt. 27 Heute kann dieses »Klima« mit … Als weiteren Punkt einer Erneuerung der Er- einer gesellschaftlichen Kultur der Erinnerung innerungskultur nennt Aleida Assmann (4) deren übersetzt werden, die die Ursachen und Mecha- ethischen Rahmen. »Neu ist … eine ethische Prä- nismen des modernen Rassenantisemitismus bis misse, die das Erinnern an den universalistischen hin zum Holocaust aufdeckt, bewusst macht, um Wert der Menschenrechte bindet und damit der damit für aktuelle Formen des neu aufkommen- Verschränkung von Vergangenheit und Gegen- den Antisemitismus und Rassismus in unserer Ge- wart eine ganz neue Qualität gibt.« 26 sellschaft und weltweit zu sensibilisieren. 28

ZfBeg 1/2|2020 26 Assmann, Aleida (2020): Unbehagen, S. 236f. 28 Vgl. Mendel, Meron; Messerschmidt, Astrid (Hg.) (2017): 27 Adorno, Theodor W. (1966/1971): Erziehung nach Auschwitz, Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der in: ders.: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt, S. 88 –104, Migrationsgesellschaft, Frankfurt. hier S. 91. 45

Die Schweizer Soziologin Monique Eckmann Kindermädchen ihre früheren Vergehen, deckte nennt mehrere Bedingungen, die als Vorausset- die Wahrheit auf und gab auch die Uhr zurück, zung gegeben sein müssen, damit Auschwitzge- die sie als Belohnung für ihre »Heldentat« erhal- denken im Kontext von Antisemitismus-Bekämp- ten hatte. Piaget erinnerte sich nicht an eine wirk- fung und für Menschenrechtslernen in der heuti- liche Begebenheit, sondern an die Erzählungen gen Zeit möglich sein kann: 29 Erstens, Auschwitz durch seine Eltern und an die Emotionen, die darf nicht moralisiert werden; zweitens darf Ge- damit verbunden waren. Das Gedächtnis konstru- schichte nicht eins zu eins, also linear in die Ge- ierte die Ausschmückungen dazu. genwart verlängert werden, um vorschnelle Paral- Das Beispiel zeigt, dass wir uns an Dinge er- lelen zu ziehen; und drittens dürfen keine Lehren innern können, die wir nicht selbst erlebt haben. gezogen werden, ohne die Vergangenheit genau Das gilt auch für die junge Generation, die von zu kennen. Dennoch kann Holocaust Education Auschwitz nach dem Verstummen der Zeitzeugen als »Rahmen« dienen, um Prozesse des Menschen- nunmehr medial und digital erfahren wird. Doch rechtslernens zu aktivieren: »Holocaust Educa- das Beispiel zeigt auch, dass Erinnerungsinhalte tion kann Schülerinnen und Schülern helfen, die stets kritisch und selbstkritisch reflektiert werden Notwendigkeit des Schutzes der Menschenrechte müssen. Dies entspricht dem fünften Punkt, den zu erkennen.« 30 In der Beschäftigung mit den Ab- Aleida Assmann als Kennzeichen einer erneuer- gründen der Judenvernichtung können Lernende ten Gedenkkultur aufzählt: heute verstehen, warum es entscheidend ist, … (5) Erinnerungsdiskurse können und müssen rechtlose und staatenlose Menschen, zum Beispiel als Chance zur kritischen Selbstreflexion begrif- Flüchtlinge, in ihren Rechten und in ihrer Würde fen werden. Dekonstruktion und kritische Rekon- zu schützen. struktion sind zentrale Elemente dabei. Dazu ge- Das Werk des Auschwitzüberlebenden Elie hört die Beschäftigung mit den Tätern und den Wiesels (1928 – 2016) steht exemplarisch für die historischen Mechanismen, die zur Katastrophe Erinnerung an den Holocaust, die zum Katalysa- führten, ebenso wie mit den Zeugnissen der Op- tor für den Kampf um Menschenrechte und für fer und Überlebenden, die heute in literarischer Menschenwürde wird. 31 und medialer Form vorliegen. Erinnerung an Auschwitz bedeutet in der Zeit Kritische, selbstreflexive Erinnerungskultur der Transformation für die Gesellschaft vor allem, die Vergangenheit in ihrer Bedeutung für die Ge- Kommen wir zum Schluss auf die eingangs er- genwart wahrzunehmen und sie als Chance zum wähnte Geschichte zurück, die Jean Piaget aus Handeln zu begreifen. Erinnerung stiftet uns an, seiner frühen Kindheit erinnerte: Mehr als ein Selbstkritik einzuüben und im Austausch mit an- Jahrzehnt später erfuhr die Familie, dass die Ge- deren Erinnerungstraditionen und neuen Erinne- schichte der versuchten Entführung des kleinen rungsformen die eigene Perspektive zu erweitern – Jean frei erfunden war. Inzwischen bereute das und bisweilen auch zu verändern.

29 Eckmann, Monique (2015): Is teaching and learning about 30 Ebd., S. 60. – vgl. Brumlik, Micha (2016): Globales Gedächtnis ZfBeg 1/2|2020 the Holocaust relevant for Human Right Education?, in: und Menschenrechtsbildung, in: »Holocaust und historisches Gross, Zehavit; Stevick, Doyle (eds.): As the witnesses fall Lernen«: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 66, Heft 3-4, silent. 21st century Holocaust Education in curriculum, S. 29 – 37. policy and practice, New York, S. 53 – 65, hier S. 57. 31 Siehe »Elie Wiesel. Seine Bedeutung für Juden, Christen und die ganze Menschheit«, Themenheft der ZfBeg | Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext 1-2/2017. 46

Julia Münch-Wirtz 1 Erinnern 2.0 Digitales Gedenken an die Schoah

In Zeiten der Digitalisierung, in denen sich un- tionen ein Zugang ermöglicht werden kann. So- sere Kommunikation und die sozialen Interaktio- mit stellt auch diese zweite Entwicklung eine Zäsur nen in vielen Bereichen nachhaltig verändert haben für das Erinnern und damit für das Erinnerungs- und sich besonders junge Erwachsene als digital lernen dar: Von der einst lebendigen Erinnerung natives 2 ganz selbstverständlich in diesem Gefüge muss der Brückenschlag zu einem Erinnern in di- bewegen, drängt die Frage, wie die Geschehnisse gitaler Kultur geleistet werden. der Schoah unter diesen veränderten medialen Be- dingungen in Erinnerung 3 gehalten werden kön- Erinnern in digitaler Kultur nen und trotz der digitalen Beschleunigung 4, die eher ein Vergessen als ein Erinnern befürchten Der Begriff der Erinnerung, der meist mit dem lässt, die Schoah ein wesentlicher Bestandteil un- Gedenken an die Schoah in Verbindung gebracht seres Gedächtnisses bleibt. wird 8, sollte nie ausschließlich rückwärtsgewand- In diesem Zusammenhang ist an Johann Bap- te Verwendung finden, sondern Impulse aus der tist Metz’ 5 Begriff der anamnetischen Kultur zu Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft denken, denn für ihn bleibt das »Eingedenken geben. 9 Ergänzen lässt sich diese Forderung mit fremden Leids (...) eine fragile Kategorie einer Aleida Assmanns Hinweis, dass Erinnern bzw. die Zeit, in der sich Menschen am Ende nur noch mit Auseinandersetzung mit der Vergangenheit im- der Waffe des Vergessens, mit dem Schild der Am- mer der Darstellung bedürfe, d.h. die Vergangen- nesie gegen die immer neu hereinstürzenden Lei- heit modelliert, gedeutet und konstruiert werde, densgeschichten und Untaten wappnen zu können, indem das Gesehene in Worte gefasst, Vergange- meinen: Gestern Auschwitz, heute Bosnien und nes zu einer Geschichte verarbeitet, in ein Denk- Ruanda und morgen?« 6 mal umgesetzt oder in einen Film übertragen wer-

Neben dieser allgemeinen medialen Entwick- sie schauen sich oft Youtube-Videos an oder bemühen die lung der Digitalisierung, die ohne Frage Auswirkun- Bildersuche der Suchmaschinen, um einen ersten Eindruck gen auf das Erinnern an die Schoah hat, lässt sich zu bekommen, online verfügbar unter https://historischden- ken.hypotheses.org/2715. eine zweite, parallel laufende beobachten: Auf- 3 Zur Begriffsklärung sei an dieser Stelle auf den Artikel »Erin- grund des Schwindens der Zeitzeug_innen-Gene- nerung/Erinnerungslernen« von Reinhold Boschki verwiesen: Boschki, Reinhold (2015): Art. Erinnerung/Erinnerungslernen, ration im 21. Jahrhundert, Aleida Assmann spricht in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon (www.wirelex.de). in diesem Kontext von dem »Ende der Ära der Zeit- 4 U.a. Rosa, Hartmut (2016): Beschleunigung – Die Veränderung zeugen, die bislang als Mittler eine wichtige Brü- der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt. 5 Metz, Johann Baptist (1995): Plädoyer für eine anamnetische cke zwischen Geschichte als persönlicher Erfah- Kultur, in: Konrad, Franz-Michael; Boschki, Reinhold; Klehr, rung und bloßem Lernstoff geschlagen haben.« 7 Franz-Josef (Hg.): Erziehung aus Erinnerung. Pädagogische Perspektiven nach Auschwitz, Stuttgart, S. 11–17. Damit werden Formen neuen Erinnerns bzw. er- 6 Metz, Johann Baptist (1997): Gottesgedächtnis in Zeiten kultureller Amnesie, in: Albrecht, Folker; Greve, Astrid, in: innerungsgeleiteten Lernens notwendig, damit »Wer diese meine Rede hört und tut sie...« Zur Verantwortung auch den gegenwärtigen und künftigen Genera- von Theologie, Wuppertal, S. 75. Diese Auflistung ließe sich durch aktuelle zahlreiche Beispiele (u.a. Flüchtlingslager wie Moria) ergänzen. 7 Assmann, Aleida (2020): Das neue Unbehagen an der Erinne- ZfBeg 1/2|2020 1 Dr. Julia Münch-Wirtz ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin rungskultur. Eine Intervention, München, S.13. Zugleich beob- in der Abteilung für Religionspädagogik an der Universität achtet Assmann auch eine zweite Bewegung: Zurzeit befänden Tübingen, Oberstudienrätin an einem Stuttgarter Gymnasium wir uns am »Ende der Deutungsmacht der 68er-Generation, die und Mitherausgeberin der ZfBeg. zusammen mit den noch älteren Generationen der Flakhelfer 2 Wenn sich Jugendliche über historische Ereignisse und Themen und der Kriegskinder als Architekten, Planer und Betreiber der heute zumeist online informieren, greifen sie in der Regel nur deutschen Erinnerungskultur verantwortlich zeichnet.« auf begrenzte Angebote und Recherchestrategien zurück. (Ebd. S.13). Diese beiden Entwicklungen sieht sie als doppelten Die Suche führt zuerst zum einschlägigen Wikipedia-Artikel, Generationenwechsel an. 47

Filmprojekt evas.stories, Startseite auf Instagram. de 10; dies ermöglichen insbesondere auch digitale Medien, die vielfältige Umsetzungsmöglichkeiten bereithalten.

Zugleich kann das Internet auch die Verbin- dung von Vergangenheit und Gegenwart erreichen, indem es Vergangenes spiegelt und transformiert und soziale Interaktionen und Kommunikation in den virtuellen Raum verlagert. Gerade die digita- len Medien bieten Anknüpfungspunkte an die Le- benswelt der Lernenden und stellen einen Lebens- und Gegenwartsbezug dar. Ferner greift das In- ternet klassische Erinnerungsmedien (Literatur, Film, Fotografie, Museum, Denkmal) auf, so dass traditionell kulturelle Medien nicht gänzlich ab- gelöst oder ersetzt, sondern lediglich dem aktuel- len Medienwandel angeschlossen werden. Ausgehend von diesen Überlegungen, kann das Internet durchaus ein möglicher Baustein des Er- innerns sein. Befremdlich erscheinen allerdings – vor allem in dem Kontext des Erinnerns an die Schoah – die Anonymität des Internets und der ihm immanenten Kommunikationsmöglichkeiten (zum Beispiel in Form der Kommentierung). In- wiefern bei diesem sensiblen und moralisch schüt- zenswerten Thema des Erinnerns an die Schoah, das – wie Kirstin Frieden konstatiert – »zuneh- mend in die populäre Vielfalt der neuen Medien aufgenommen« wird und »in die Nähe einer po- pulären Eventkultur« 11 rückt, Form und Inhalt auf geeignete Weise korrespondieren, stellt eine He- rausforderung dar. Zugleich liegt auf der Hand, dass Interaktivität, Multimedialität und Vernet- zung und die Möglichkeit eines unermesslichen historischen Archivs Chancen für das Erinnerungs- lernen eröffnen.

8 Zugleich ist der Themenbereich des Erinnerns/der Erinnerung 10 Vgl. Assmann, Aleida (2020): Unbehagen, S. 235. ZfBeg 1/2|2020 in der christlich-jüdischen Tradition bedeutsam. An dieser Stelle 11 Frieden, Kirstin (2014): Neuverhandlung, S. 238. sei an das jüdische Pessachfest und die damit verbundene befreiende Erinnerung an den Auszug aus Ägypten gedacht. 9 Vgl. dazu: Boschki, Reinhold (2015): Art. Erinnerung/Erinne- rungslernen, in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon (www.wirelex.de). 48 Julia Münch-Wirtz: Erinnern 2.0 – Digitales Gedenken an die Schoah

Beispiele des digitalen Erinnerns 12 erreichen und ein Nacherleben von vergange- nen historischen Geschehnissen zu ermögli- Unter dem zentralen Aspekt der zeitlichen Di- chen – zumal den Adressat_innen suggeriert mensionen des Erinnerns (Vergangenheit – Gegen- wird, er oder sie sei während des Anschauens wart – Zukunft) werden die nachfolgenden bei- mitten im Geschehen dabei. den Beispiele für digitales Erinnern betrachtet.13 Während die Herangehensweise von Mati Ko- chavi durchaus von einigen Seiten anerken- 1 Das auf Instagram veröffentlichte Filmprojekt nendes Lob erfährt, werden auch Stimmen Evas.Stories des israelischen Unternehmers laut, die den Umgang mit Geschichte in dieser Mati Kochavi und seiner Tochter erzählt das Selfie-Form als unangemessen und allzu ober- auf historischen Begebenheiten beruhende flächlich beurteilen und die historischen Do- Schicksal der jungen Ungarin Éva Heyman, die kumente unzureichend in den Gesamtkon- ihre letzten Monate im Jahr 1944 in einem text eingebettet sehen 15. Tagebuch festgehalten hat.14 Ausgehend von Bezüglich der zeitlichen Dimensionen des Er- der realen Lebensgeschichte dokumentiert die innerns fällt auf, dass mithilfe von gegenwärti- Darstellerin Eva in dem Internetprojekt ihren gen Tools (Smartphone, Emojis, etc.), die aus Alltag mit ihrem Smartphone im Selfie-Stil. der Alltagswelt des lernenden Subjekts ent- Während zu Beginn der Serie die Erlebnisse des nommen und auf diese Zielgruppe ausgerich- jungen Mädchens mit vielen positiven und tet sind, Ereignisse und Erfahrungen aus der lustigen Emojis verziert und kommentiert wer- Vergangenheit erzählt werden. Auf diese Wei- den, verändert sich die Darstellungsweise mit se kreuzen sich zwei Zeitebenen und können der Zeit drastisch. Nicht nur die Kamerafüh- der Rezipientin/dem Rezipienten den Zugang rung wird unruhiger und wackeliger, auch die zum Erinnern eröffnen. Allerdings bleibt offen, an den Straßen hängenden Hakenkreuzfah- welche Relevanz das Erzählte für die Gegen- nen, die aufmarschierenden Nationalsozialis- wart bzw. Zukunft der Rezipientin/des Rezi- ten und die eingespielte düstere Musik setzen pienten hat. Obgleich das Dargestellte im Ideal- die Zäsur. Hashtags – wie zum Beispiel #life- fall Anlass zum Fragen gibt bzw. (Verständnis-) duringwar – weisen explizit auf die gewandel- Fragen aufwirft und die Zuschauer emotional ten Bedingungen hin. anspricht, werden die verwendeten histori- Auch historisches Material – u.a. Reden von schen Materialien nicht erläutert und bleiben Hitler, die von Eva kommentiert werden (»I unkommentiert; damit das Gesehene nicht hate him.«) – sind Teil des Ganzen. Die Sog- ausschließlich rückwärtsgewandt und rein emo- kraft, die von diesem Projekt ausgeht, ist nicht tional aufgeladen bleibt und ohne in die Zu- von der Hand zu weisen. Gerade die moderne kunft weisende Perspektive verhallt, ist eine Erzählweise der Plattform Instagram scheint methodisch-didaktische Nachbereitung zwin- jüngere Adressat_innen für dieses Thema zu gend erforderlich, die eine metahistorische

ZfBeg 1/2|2020 12 Da die Bandbreite des digitalen Erinnerungslernens enorm ist 13 Die beiden angeführten Beispiele ließen sich auch anhand von (u.a. Social Web, (Twitter, Youtube, Instagram), Wikipedia- Leitlinien, die für die Bedeutung des Lernens von Erinnerung in Artikel, virtuelle Zeitzeugeninterviews, Virtuelles Erkunden der religiösen Bildung zentral sind, gewinnbringend analysieren von Gedenkstätten und Erinnerungsorte, Video-Zeugnisse, (Überwältigungsverbot, doppelte Subjektorientierung, Biografie- geschichtsdidaktische E-Learning-Programme), kann an dieser und Ortsorientierung, Anti-Semitismus-Bekämpfung, religiöse Stelle anhand von zwei Beispielen nur ein kleiner Ausschnitt Bildung als Menschenrechtslernen, ethische und selbstkritische erfolgen. Orientierung); vgl. dazu Boschki, Reinhold (2015): Art. Erinnerung/Erinnerungslernen, in: Das wissenschaftlich- religionspädagogische Lexikon (www.wirelex.de). 49

Deutsches Technikmuseum Berlin:

Reflexion anschließt, Stärken und Schwächen diskutiert und den adäquaten Umgang mit die- sem besonderen Teil der Geschichte reflektiert.

2 Das Deutsche Technikmuseum Berlin startete im Februar 2020 die Testphase eines interak- tiven Zeitzeugnisses für Schulklassen zum Thema Schoah. 16 Als erste deutschsprachige Zeitzeugin eröffnete Anita Lasker-Wallfisch 17 die Reihe Dimensions in Testimony, bei der die Interviewten in einer Green-Screen-Um- gebung zahlreiche Fragen zu ihrer Lebensge- schichte gestellt bekommen. Durch dieses Vor- gehen entsteht eine Datenbank aus Antwor- Die Shoah-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch ten, auf die später mit einer eigens entwickel- beantwortete für das Projekt Dimensions in Testimony der USC Shoah Foundation über 1.000 Fragen ten Spracherkennungs-Technologie zurück- zu ihrem Leben vor, während und nach der Shoah. gegriffen werden kann, wenn das lernende Sub- jekt an den virtuell anwesenden Schoah-Über- lebenden Fragen stellt und passende Antwor- ten abgespielt werden. Auf diese Weise ent- steht der Eindruck einer Gesprachssituation,̈ in der Antworten in Echtzeit auf einer lebens- großen Monitordarstellung projiziert und wie- dergegeben werden. Dadurch wird eine Nahë zur befragten Person moglich,̈ die bislang be- kannte Medienformen nicht besaßen, eine In- teraktion zwischen Fragendem und Befragtem durch die Interview-Form eröffnet und eine Begegnung ermöglicht. Das persönliche Inte- Karen Jungblut, Director of Global Initiatives der resse an den Ereignissen der Schoah steht bei USC Shoah Foundation, bei der Presseveranstaltung. Dimensions in Testimony im Vordergrund, da es den Jugendlichen ermöglicht, ihre eigenen Fragen zu entwickeln. So haben auch zukünf- nern als Konstrukt umschrieben werden kann, tige Generationen die Möglichkeit, einen per- können die Rezipient_innen aus direkten Er- sönlichen Zugang zur Geschichte zu finden. zählungen von Überlebenden einen Einblick Bei diesem innovativen Beispiel, das als Erin- in die Lebens- und Leidensgeschichte erhalten

14 Erschienen sind ihre Aufzeichnungen in dem Buch von Zsolt, digitale 3-D-Zeugnisse und Holocaust Education – Entwicklung, ZfBeg 1/2|2020 Agnes (2013): Das rote Fahrrad, Wien. Präsentation und Erforschung, in: Ballis, Anja; Gloe, Markus 15 U.a. online verfügbar unter https://www.tagesschau.de/ (Hg): Holocaust Education Revisited. Wahrnehmung und ausland/holocaust-instagram-101.html; Vermittlung. Fiktion und Fakten. Medialität und Digitalität, https://www.dw.com/de/evastories-holocaust-gedenken- Wiesbaden, S. 403 – 436. auf-instagram/a-48593294. 17 Anita Lasker-Wallfisch ist eine der bekanntesten Persönlich- 16 Einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit digitalen keiten der Zeitzeug_innen. Sie war Cellistin im Orchester von 3-D-Zeugnissen und Holocaust Education widmen sich Ballis, Auschwitz und später Mitbegründerin des English Chamber Anja; Barricelli, Michele; Gloe, Markus (2019): Interaktive Orchestra. 50 Julia Münch-Wirtz: Erinnern 2.0 – Digitales Gedenken an die Schoah

und Vergangenes vergegenwärtigen. Durch nen intendiert. Problematisch erscheint dies im diese interaktive Erschließung von Erzählun- Kontext des Überwältigungsverbots, das vor al- gen von Überlebenden sollen auch nach ihrem lem in der Politikdidaktik eine zentrale Maxime Tod einerseits die Erfahrungen gesichert und darstellt und ein Element des Beutelsbacher Kon- andererseits eine Verbindung zwischen Fra- senses ist, der auf eine Tagung der Baden-Würt- genden und Zeug_innen initiiert werden. Auch tembergischen Landeszentrale für politische Bil- wenn die berichtende Person nicht real anwe- dung aus dem Jahr 1976 zurückgeht, und es den send ist (sondern lediglich als Projektion), Lehrpersonen verbietet, »den Schüler – mit wel- können die Lernenden für gegenwärtige und chen Mitteln auch immer – im Sinne erwünsch- zukünftige Entwicklungen sensibilisiert wer- ter Meinungen zu überrumpeln und damit an der den: Denn die Reihe Dimensions in Testimo- ›Gewinnung eines selbständigen Urteils‹ zu hin- ny eröffnet die Möglichkeit, auf kommunika- dern.« 18 Ferner stellt sich die Frage, inwiefern die tive Weise die Erfahrungen aus der Schoah le- Wiedererlebbarkeit und die Abrufbarkeit von Ge- bendig zu vergegenwärtigen und einen Bei- schichte zu einer Bagatellisierung führen kann und trag zu einem zukunftsfähigen Erinnern zu vielleicht sogar die Singularität der Schoah infrage leisten. Zugleich bedarf dieser Quasi-Dialog stellt. zwischen Zeitzeug_innen und Fragenden, der Dass Erinnern keineswegs ein »monolithischer in gewisser Weise Nähe und Authentizität in- Block« ist, sondern ein »kontingentes und unab- szeniert, einer Dekonstruktion in der metho- schließbares Geschehen, das von Generation zu disch-didaktischen Nachbereitung der Lehr- Generation und zwischen den verschiedenen Grup- person mit den Lernenden. Wie auch für klas- pen immer wieder neu ausgehandelt (...) wird be- sische Zeitzeug_innengespräche sind Vorbe- ziehungsweise werden muss 19, liegt besonders reitung, Reflexion des Gesprächs und eine bezüglich des Erinnerns im Internet auf der Hand. Auswertung dringend erforderlich. Entscheidend, so zeigen die beiden angeführten Beispiele, ist nicht unbedingt die digitale Form, Die beiden angeführten Beispiele, die für Ler- um an die Schoah zu erinnern. Im Sinne einer be- nende Anknüpfungspunkte an ihre Lebenswelt ziehungsorientierten Religionspädagogik, die die bieten, zeigen auf, dass dem digitalen Zeit- unterschiedlichen Beziehungsebenen des lernen- zeug_innen-Projekt eine Offenheit inhärent ist, den Subjekts stets mitdenkt, können Impulse aus insofern dessen inhaltliche Ausrichtung durch die dem digital Vermittelten und somit aus den ver- Fragen des Interviewers gesteuert werden kann. gangenen Ereignissen erwachsenen und auf unser Während die Interviewerin/der Interviewer – gegenwärtiges und zukünftiges Denken und Han- auch aufgrund der Größe der Datenbank aus Ant- deln Einfluss nehmen, wenn Nähe und Authen- worten – als aktiv handelndes Subjekt erscheint, tizität zu Situationen und Personen – auch in der werden bei der Instagram-Story Gefühle transpor- methodisch-didaktischen Nachbereitung durch tiert, gelenkt und eine Reaktion der Zuschauer_in- eine Lehrperson – generiert werden können.

ZfBeg 1/2|2020 18 Schiele, Siegfried; Schneider, Herbert (1977): Das Konsens- problem in der politischen Bildung, Stuttgart, S. 179. 19 Ebd. S. 3f. 51

Valesca Baert-Knoll 1 »Dem Missverständnis zum Verdruss« Lebendige Kommunikation in Ambivalenzen als Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur am Beispiel von Rammsteins Deutschland

»Die Inszenierung der Musiker von »Für mich sind Rammstein einfach sehr Rammstein als todgeweihte KZ-Häftlinge gute Entertainer, die es schaffen, bei den stellt die Überschreitung einer roten Medien so etwas wie einen Pawlowschen- Linie dar. Sollte dies nur der Verkaufs- Hund-Reflex auszulösen und sie damit förderung des neuen Albums dienen, vorzuführen. Man muss sich nur vergegen- halte ich dies für eine geschmacklose wärtigen, dass ganze Denkstücke über den Ausnutzung der Kunstfreiheit.« kurzen Video-Teaser zur Singleauskopplung Felix Klein2 ›Deutschland‹ zu hören und zu lesen waren, bevor das fertige Produkt überhaupt »Wie Rammstein hier das Leid und die zu sehen war.« Raphael Smarzoch 6 Ermordung von Millionen zu Entertain- mentzwecken missbraucht, ist frivol und »Eine Werbung für den Faschismus ist abstoßend. Was Rammstein im Video zeigt, ›Deutschland‹ nicht. Es ist, im Gegenteil, verharmlost eindeutig die Schrecken des ein orgiastisch in Szene gesetztes Hadern Holocaust. So eine Trivialisierung schadet mit Deutschland.« Arno Frank 7 am Ende unserer Erinnerungskultur und befördert dann Vorurteile und eine »ich finde dieses Video sollte Bestandteil Normalisierung von Antisemitismus.« jedes Geschichtsunterrichts sein« Charlotte Knobloch 3 Anonym 8

»Yad Vashem kritisiert nicht generell »durch das rammstein video bin ich auf künstlerische Arbeiten, die an Holocaust- wikipedia gegangen und habe mich das Bilder erinnern. Wir glauben, dass eine erste mal für das land interessiert in dem respektvolle künstlerische Darstellung ich lebe« Anonym 9 des Subjekts legitim sein kann, solange es die Erinnerung an den Holocaust keines- falls beleidigt, herabsetzt oder schändet. Und nicht nur als bloßes Werkzeug dient, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu gewinnen.« Iris Rosenberg 4

»Rammstein spielen in ihrem Video ›Deutschland‹ mit faschistischer Ästhetik. Die Empörung war kalkuliert, ist aber unangebracht. Ihr Kurzfilm feiert die Kunst der Ironie.« Daniel Hornuff 5 4 Ebd. Iris Rosenberg, Sprecherin von Yad Vashem. 5 Vgl. Hornuff, Daniel (2019): Kann dich lieben, will dich hassen, in: Die Zeit, online verfügbar unter: https://www.zeit.de/ kultur/musik/2019-03/rammstein-video-deutschland-holocaust. 1 Valesca Baert-Knoll ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin 6 Raphael Smarzoch im Interview auf Dlf, online verfügbar unter: ZfBeg 1/2|2020 in der Abteilung für Religionspädagogik an der Universität https://www.deutschlandfunk.de/neues-album-von-rammstein- Tübingen, Coleiterin der Forschungsstelle Elie Wiesel virtuose-inszenierung-von.807.de.html?dram:article_id=448882. und Mitherausgeberin der ZfBeg. 7 Arno Frank im Stimmungsbild im Spiegel Kultur, online verfügbar 2 Felix Klein zur dpa – zitiert nach: Jüdischen Allgemeine, unter: https://www.spiegel.de/kultur/musik/rammstein-kontro online verfügbar unter: https://www.juedische-allgemeine.de/ verse-um-musikvideo-deutschland-eine-falle-a-1260212.html. kultur/rammstein-provoziert-mit-kz-anspielungen/. 8 Kommentar unter dem Musikvideo »Rammstein-Deutschland 3 Ebd. Charlotte Knobloch, die frühere Präsidentin des Zentral- historische Analyse + Meinung« auf YouTube, online verfügbar rats der Juden. unter: https://www.youtube.com/watch?v=dYF-LWTvxdA. 9 Ebd. 52 Valesca Baert-Knoll: »Dem Missverständnis zum Verdruss« … Rammsteins Deutschland

Rammstein-Konzert in Schweden 2013.

Die Band Rammstein hat am 26. März 2019 nen Statements angefragt und zügig verbreitet einen 35-sekündigen Teaser zuerst auf Instagram, hat.10 Schnell zeichneten sich zwei Lager ab, Kri- dann auf ihrem offiziellenYouTube-Kanal veröffent- tiker und Befürworter; ersteres dominierte aller- licht. In diesem sieht man die Bandmitglieder, ihre dings deutlich, zumindest innerhalb der medialen Hinrichtung erwartend, aufgereiht vor einem Gal- Verbreitung. Eine 35-sekündige Provokation löst gen, in Kleidung, die eindeutig und detailgetreu an eine umfassende Kontroverse aus, auch jenseits die von KZ-Gefangenen erinnert. Auf der Kleidung der Politik. In Internetforen überschlagen sich die von Paul Landers, Gitarrist, ist ein Judenstern auf- Beiträge und Spekulationen. Die Rezeption bleibt genäht, bei Oliver Riedel, Bassist, lässt sich in der nicht darauf beschränkt, auch viele Unentschlos- vorbeigleitenden Perspektive ein rosa Winkel er- sene meldeten sich zu Wort, die sich weder dem ahnen. Am Ende des Teasers erscheint das Wort einen noch dem anderen Lager zuordneten und Deutschland in frakturähnlicher Schrift auf die Veröffentlichung des gesamten Videos abwar- schwarzem Grund, darunter ein Datum in römi- ten wollten. schen Ziffern XXVIII.III.MMXIX (28.03.2019), Die gesamte Single wurde dann, wie im Teaser darüber das umstrittene Bandlogo – die Gesamt- angekündigt, am 28. März 2019 aufYouTube ver- komposition der Ankündigung ihres neuen Albums öffentlicht. Sie beinhaltet einen 9:22-minütigen, bzw. ihrer neuen Single. Die Kommentarfunktion martialisch wirkungs- und gewaltästhetisch gestal- auf YouTube war deaktiviert. teten Ritt durch die (Tief-)Punkte der deutschen Geschichte, beginnend mit einer Adaption der Va- Ein Beitrag zur russchlacht, über Bücher- und Hexenverbrennun- deutschen Erinnerungskultur? gen, wollüstig völlernde Mönche, die eine personi- fizierte Germania ausweiden, Ordensritter auf Das mediale Echo auf diesen Teaser war um- dem ersten Kreuzzug unter Friedrich I., Hyperin- fassend, allen voran die Bild-Zeitung, die u.a. bei flation und dem 1.Weltkrieg, der Gewalt und der Yad Vashem und einigen Vertretern von (christlich-) Tanz-auf-dem-Vulkan-Mentalität zur Zeit Weimars, jüdischen Arbeitsgemeinschaften und Organisatio- zum DDR-Regime und orgiastisch feiernden SED-

ZfBeg 1/2|2020 10 Online verfügbar unter: https://www.bild.de/unterhaltung/ unbetitelt) wird mit dem Lied »Zeig Dich« explizit der kirch- leute/leute/rammstein-schockt-mit-kz-video-darf-man- liche Missbrauchsskandal im Horizont einer allgemeinen die-nazi-zeit-fuer-pr-benutzen-60907904.bild.html. Theodizee aufgegriffen. 11 Die Kritik an der Kirche bleibt nicht auf diese Sequenz be- 12 Online verfügbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/ schränkt, später wird eine marienartig anmutende Germania von neues-album-von-rammstein-virtuose-inszenierung-von.807. einem Kardinal von einigen Schäferhundwelpen entbunden. Die de.html?dram:article_id=448882. Interpretation dieser Szenen ist schwierig. Die Kardinalsfiguren 13 Bei der Abgrenzung und Verwendung der Begriffe Ambiguität treten während des gesamten Videos immer wieder als Randfigu- und Ambivalenz ist folgendes zu beachten: Ambiguität bezieht ren auf. Auf dem Album »Rammstein 2019« (von der Band selbst sich auf ein sprachtheoretisches Problem, konkret auf Unein- 53

Funktionären und eben auch der Zeit des Natio- So jung und doch so alt nalsozialismus, situiert im Konzentrationslager Dein Atem kalt Mittelbau-Dora, gekennzeichnet durch eine auf- Das Herz in Flammen steigende V2-Rakete.11 Will dich lieben und verdammen Virtuoses Spiel mit Ambivalenzen Man kann dich lieben Und will dich hassen Der Dlf hat im späten Nachklang des Medien- aufruhrs, nach der Veröffentlichung des neuen Ge- Eine klassische Antithese stellt folgende Formu- samtalbums von Rammstein, ein Interview Virtuo- lierung dar: ses Spiel mit Ambivalenzen veröffentlicht, darin Deutschland, deine Liebe heißt es: »Auch auf ihrem neuesten Album spielt ist Fluch und Segen die Band Rammstein mit Ambivalenzen und ent- zieht sich wieder einmal klaren Zuordnungen.« 12 Während in dieser Vagheit der Aussagequali- Rammstein, allen voran der Frontmann Till tät häufig genau die Stärke der Band gesehen wird, Lindemann, sind schon lange für ihre stark von kann darin auch ihr schärfster Kritikpunkt festge- Ambivalenzen und Ambiguitäten geprägten Texte macht werden. Kritik jenseits einer musikalischen bekannt; es ist ein Charakteristikum dieser Band, Bewertung oder künstlerischen Umsetzung – über das auch in ihrem jüngsten Album wieder mar- Geschmack im Bereich Musik lässt sich ohnehin kant hervorsticht.13 Durch gezieltes und konstruk- streiten – sondern bezüglich ihrer politischen Ge- tives Einsetzen bspw. semantischer Ambiguitäten sinnung. Die verwendeten Ambiguitäten und kom- und antithetisch formulierter Ambivalenzerfah- munizierten Ambivalenzerfahrungen, kombiniert rungen auf Textebene erzeugen sie ein rundum mit der häufigen Tilgung des sprechenden Subjekts, oszillierendes Gesamtbild, schaffen den Raum und lassen Zweifel offen ob der Aussageintention und die Anknüpfungspunkte für eine rege Streitkultur, der politischen Gesinnung der Band. auch in dem umstrittenen Lied Deutschland. In Deutschland liegen semantische Ambiguitä- Kritische Anfragen zwischen ten, also die Mehrdeutigkeit auf Wortebene bei- Stripped, Links 2, 3, 4 und Deutschland spielsweise in den Begriffen überlegen, überneh- men und übergeben vor. Spätestens seit 1998 und dem Musikvideo zu Ambivalenzerfahrungen, Doppelwertigkeiten Stripped, in welchem Auszüge aus Leni Riefen- im Sinne von meist zwiespältigen Gefühlen gegen- stahls Propagandafilm Olympia – Fest der Völker über Gegenständen der Wahrnehmung, werden gezeigt wurden, müssen sich Rammstein mit Vor- antithetisch formuliert, sowohl zeilenimmanent würfen bezüglich ihres scheinbar diffusen Verhält- wie übergreifend, meist leicht variiert als Antithe- nisses zu rechten Ideologien auseinandersetzen, ton, sichtbar an den Beispielen: die sie in Interviews zwar immer wieder scharf

deutigkeiten innerhalb der Wort- bzw. Satzsemantik, wohin- 14 Mehrfach haben Rammstein an die Fiktionalität ihres musika- ZfBeg 1/2|2020 gegen Ambivalenz einen Bewertungsprozess von Widersprüch- lischen und künstlerischen Schaffens erinnert, in welchem sie lichkeiten im Erleben und Handeln beschreibt. alleine schon durch den Prozess der künstlichen Ästhetisierung Vgl. weiterführend die Artikel zu Ambiguität bzw. Ambivalenz eine Distanzierung zum Inhalt erzeugen, vgl. dazu auch im HWPh; Graumann, Carl Friedrich (1971): Art. Ambivalenz, Hornuff, Daniel (2019): Kann dich lieben, will dich hassen. in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.1, Sp. 204; Aktuell äußerte sich der KiWi-Verlag nach der Veröffentlichung sowie Kohlenberger, Helmut Karl (1971): Art. Ambiguität, in: von Lindemanns Gedichtband »100 Gedichte« ähnlich, bezug- Ebd. Sp. 201– 203. nehmend auf die Kritik zum darin enthaltenen Gedicht »Wenn du schläfst«, welches Vergewaltigungsphantasien thematisiert. 54 Valesca Baert-Knoll: »Dem Missverständnis zum Verdruss« … Rammsteins Deutschland

abstreiten, in ihrer Musik allerdings nur mit ambi- tet, wird von der deutlich negierten Absage bezüg- valenten Texten von sich zu weisen suchen.14 lich einer eigenen Liebesbekundung nicht ange- Durch die Kommunikation in Ambivalenzen bleibt rührt. So schaffen sie es, ihrer lyrischen und mu- der Zweifel an ihrer Gesinnung bestehen, so etwa sikalischen Linie weitestgehend treu, dennoch bei der Rezeption des 2001 veröffentlichen Liedes markant, Stellung zu beziehen. Und damit nicht Links 2,3,4: genug. Rammstein kommunizieren in der Regel Sie wollen mein Herz am rechten Fleck nicht in Ambivalenzen, um ihnen dann schlicht Doch sehe ich dann nach unten weg eine Zu- oder Absage zu erteilen, stattdessen ver- Da schlägt es in der linken Brust mögen sie es innerhalb einer von ihnen künstlich Der Neider hat es schlecht gewusst. geschaffenen Ambivalenzerfahrung eine ostenta- tive Aussage zu platzieren. Während es in Links 2,3,4 zwar tatsächlich offen bleibt, warum die Figur nach unten wegsieht Deutschland – eine Grenzüberschreitung? und in typischer Rammstein-Manier viel Raum – oder eben auch nicht – für Spekulationen offen- Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der bleibt, beziehen sie hingegen in Deutschland ganz Bundesregierung, hat nach dem Attentat von Halle untypisch konkret Stellung. Dort heißt es nach im Oktober 2019 seinen Vorwurf, Rammstein über- circa zwei Dritteln des Textes und nach sämtlichen schreite eine rote Linie und fördere (zumindest oben angeführten Ambiguitäten und Ambivalen- implizit) das Wiederaufkommen des Nationalsozia- zen: lismus, indem es durch seine Texte die Grenzen des Sagbaren verschiebe und »Leute, die diese Ge- Deutschland, meine Liebe sinnung [Nationalsozialismus] schon immer hatten« Kann ich dir nicht geben dazu ermuntere, »offener auszusprechen, was sie denken«, reformuliert.15 Der Text erreicht mit dieser Aussage seine Kli- Im Anschluss an das zu Beginn zitierte State- max und beantwortet m.E. die Anfragen in Bezug ment von Yad Vashem ist Felix Kleins Hinweis auf auf die Gesinnung der Band(mitglieder), die aus der die Grenzen der Kunstfreiheit bei Holocaust-Re- linken Punk-Bewegung der DDR hervorgegangen zeptionen zuzustimmen, insbesondere seiner Ver- ist. Dass Rammstein, trotz all der verwendeten deutlichung, die Missachtung ebenjener könne Ambiguitäten und Ambivalenzgenerierung und zur Folge haben, dass die Grenzen des Sagbaren bei für das sonstige Auftreten der Band untypisch, so deren jeweiligen Rezipienten verschoben werden. konkret Stellung beziehen, ist eine signifikante Ab- Man denke nur an den Skandal um die ECHO- sage an faschistische Ideologien. Die vorangegan- Verleihung an Farid Bang und Kollegah im Jahr gene antithetische Aussage, die Liebe des perso- 2018, 16 ausgerechnet an Jom Ha’Schoah, deren nifizierten Deutschlands als Fluch und Segen zu Texte Zeilen wie »Mein Körper definierter als von empfinden, bleibt in ihrer Ambivalenz unangetas- Auschwitzinsaßen« und »Mache mal wieder nen

ZfBeg 1/2|2020 15 Online verfügbar unter: https://www.morgenpost.de/politik/ 17 Enthalten im Bonustrack »0815« auf dem Album »Jung, Brutal, article227459535/Rammstein-Antisemitismus-Beauftragter- Gutaussehend 3«, für welches der ECHO verliehen wurde. Klein-provoziert-Deutschland-Clip-Juden-Hass.html. 18 BE DEUTSCH! [Achtung! Germans on the rise!] 16 Vgl. weiterführend Stahmann, Christian (2018): »Wir Juden NEO MAGAZIN ROYALE, online verfügbar unter: waren Ghetto, bevor es Hip-Hop gab.« (Oliver Polak). Gangsta- https://www.youtube.com/watch?v=HMQkV5cTuoY. Rap meets Auschwitz – und die Frage: Sind Felix Blume und Farı-d al-’Abdala-wı- antisemitisch?, in: ZfBeg 3/2018 Antisemi- tismus, S. 245 – 252. 55

Rammstein-Konzert in London 2012.

Holocaust« 17 enthalten, die allerdings nach einem Interpretation, etwa in der Darstellung der perso- Ermittlungsverfahren seitens der Staatsanwalt- nifizierten Germania durch die farbige Schauspie- schaft als von der Kunstfreiheit geschützt einge- lerin Ruby Commey, welche im Musikvideo auch ordnet wurden. als Nazischergin in ebensolcher Uniform auftritt, Rammsteins Deutschland kann damit nicht der zurecht umstrittenen Selbstinszenierung der verglichen werden, es firmiert in seiner Aussage- Musiker sowohl als KZ-Gefangene am Galgen so- intention eher auf einer Ebene mit Böhmermanns wie als Nazischergen und letztlich mit der klaren klar antifaschistischem Satirevideo Be Deutsch. 18 Negierung einer vermeintlichen Vaterlandsliebe Auch dort wird offensichtlich mit dem Nazipathos und kritischen Aufarbeitung der deutschen Ge- gespielt, tatsächlich sogar der Klang von Ramm- schichte. Bei Farid Bang und Kollegah wird hinge- stein und die Stimme sowie das rollende R Till gen zur Unterstützung eines extrem körperbildge- Lindemanns imitiert und immer wieder laut leiteten, toxisch-maskulinen Selbstwertes plump »Deutsch« skandiert. 19 Auch dort wird mit Ambi- provoziert, es erfolgt kein Bruch, keine Reflektion, valenzen und Ambiguitäten gespielt. keine Metaebene. Die Grenzen des Sagbaren ebenso die Formen Dieses Argument mutet vordergründig leicht der Erinnerungskultur wandeln sich dennoch ganz dekonstruierbar an, erweist sich bei einer differen- offensichtlich, spätestens seit Timur Vermes Er ist zierteren Betrachtung dennoch tragend. Die Band wieder da 2012 und der gleichnamigen Verfil- Rammstein bricht immer wieder und ganz be- mung 2015.20 Holocaust-Aufarbeitung und wie- wusst eine potenzielle neonationalsozialistische deraufkommender Nationalsozialismus gestaltet

19 Die Melodie von Rammsteins »Amerika« wird leicht variiert 20 Vgl. die Forschung zum Thema »Lachen nach Auschwitz« ZfBeg 1/2|2020 verwendet, ebenso sind Anklänge an Text und Sprachwahl und »Lachen als Modus der Erinnerungskultur« an der (Deutsch und Englisch) erkennbar. Universität Gießen; https://www.uni-giessen.de/fbz/fb05/ slavistik/fachrichtungen/holocaust/pers/sruk. 56 Valesca Baert-Knoll: »Dem Missverständnis zum Verdruss« … Rammsteins Deutschland

als Lachnummer, gerettet nur durch den plötzli- raus resultierenden Ambivalenzerfahrungen eine chen Twist gegen Ende der Lektüre des Buches. existentielle Dimension des Menschseins, eine Die Gesellschaftskritik, die darin angelegt ist, wird Conditio Humana, die Rammstein aufgreifen, offen nicht explizit ausgeführt, sie klingt nur an, wird legen und musikalisch verarbeiten.28 Ein kompe- letztlich der Interpretation der Rezipienten über- tenter Umgang mit diesen Ambivalenzerfahrun- lassen – damit dies gelingt, bedarf es relativ hoher gen, die Entwicklung und Ausgestaltung einer kognitiver Abstraktionsfähigkeit. Das gilt auch für Ambivalenzkompetenz und einer Ambiguitätsto- Rammsteins Deutschland. leranz scheinen aufgrund ihrer existenziellen Be- Ambivalenz, Ironie, Satire sind vor einem Miss- schaffenheit dringlich geboten, auch um einer po- verstehen, vor allem vor einem bewussten Miss- tenziellen Verkürzung der eigentlich durchaus verstehen, nicht gefeit. So muss auch darauf hin- konstruktiven Dimensionen von Ambivalenz ent- gewiesen werden, dass bei Rammsteins Live-Kon- gegenzuwirken,29 denn Identität selbst ist ein am- zert in Frankfurt 2019 seitens der Fans erheblich bivalentes Phänomen geworden. 30 lauter beim Lied Deutschland mitgesungen und Die konstitutiven Ambivalenzerfahrungen post- der gebellte Ausruf »Deutschland« skandiert wur- moderner Identitätsausbildung wirken individuell de,21 statt bei dem Lied Ausländer, welches deut- wie kollektiv und prägen so die Gesellschaft und schen Sextourismus – die Deutschen sind in die- deren Erinnerungskultur. Erinnerungskultur ist sem Fall die zum sexuellen Vergnügen einreisen- den Ausländer – thematisiert.22 Musikauswahl. In »Engel« heißt es unter anderem: Wer zu Leb- zeit gut auf Erden / Wird nach dem Tod ein Engel werden / Ambivalenzkompetenz – (…) / Wir haben Angst und sind allein. / Gott weiß, ich will kein Engel sein. Dem Missverständnis zum Verdruss 22 Darin heißt es: »Ich bin Ausländer (Ausländer) / Mi amor, mon chéri. / Ausländer (Ausländer).“ 23 Zitat aus Rammsteins »Ausländer«. Derzeit wird das Prinzip Wie kann man einem solchen Verhalten be- von Ironie oder Ambivalenz in Kunst und Musik als eher un- populärer Modus betrachtet, auch und insbesondere wegen gegnen und vorbauen – dem Missverständnis zum des wiederaufkommenden Nationalsozialismus und der Gefahr Verdruss?23 Ambivalenzerfahrung ergibt sich nach eines bewussten Missbrauchs derartig gestalteter Werke. Vgl. Hornuff, Daniel (2019): Kann dich lieben, will dich hassen. 24 Zygmunt Baumans semiotischer Kulturtheorie 24 Vgl. Junge, Matthias (2014): Ambivalenz: Eine Schlüsselkate- durch die Orientierung an ambiguen Klassifizie- gorie in der Soziologie Zygmunt Baumans, in: Junge, Matthias; Kron, Thomas (Hg.): Zygmunt Bauman, Wiesbaden, S. 69 – 86. rungen bzw. Ordnungsmustern,25 die aufgrund 25 Vgl. Bauman, Zygmunt (1973): Culture as Praxis, S.97ff; »Each term usable in meaningful communication is an index der bereits auf der Ebene des Orientierungsrefe- in the semiological sense of the word, to wit, it reduces the pre- renzrahmens bestehenden Uneindeutigkeiten,26 in vious incertitude of the perceived universe, brings some order into the hitherto amorphic domain.« eine ambivalente Bewertung von Gegenständen, 26 Ebd. S.39. »There are codes of different kinds, in which a rela- Erfahrungen, Sachverhalten usw. führen kann. Da tively small amount of units may produce, through the applica- tions of the rules of combination, a practically endless multitude diese Ambiguitätena priori, zumindest innerhalb of meanings. This (…) double articulation of human language owes its unique richness and flexibility, its capacity of produ- eines Klassifizierungssystems, welches durch cing, with practically no technical limitations ever new mea- Sprache geordnet wird, 27 existieren, sind die da- nings, and so introducing ever new subtle distinctions into the universe referred to in the acts of communication.« 27 Ebd. S.97ff. »Since cultural ordering is performed through the activity of signifying – splitting phenomena into classes through ZfBeg 1/2|2020 21 Während dieses Livekonzerts ließen sich einige Bandmitglieder marking them – semiotics, the general theory of signs, provides zu einer Variation des Liedes »Engel« auf Schlauchbooten von the focus for the study of the general methodology of cultural der kleinen Bühne im Auditorium zur Centerstage transportie- praxis. The act of signifying is the act of the production of mea- ren; dies war fester Bestandteil des Bühnenprogramms. Neu ning.« war daran, dass Till Lindemann ihnen auf der Centerstage 28 Zu dieser Theorie vgl. Boschki, Reinhold (2016): Zeiten der stehend ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift Ambivalenz, in: ThPQ (196), S.195-212 sowie Dietrich, Walter; WILLKOMMEN entgegenhielt. Eine offene Kommunikation Lüscher, Kurt; Müller, Christoph (2009): Ambivalenzen ihrer Einstellung zur Willkommenskultur, allerdings wiederum erkennen, aushalten und gestalten. Eine neue interdisziplinäre gebrochen und als Ambivalenzerfahrung ausgestaltet durch die Perspektive für theologisches und kirchliches Arbeiten. 57

Rammstein: Deutschland

Du (du hast, …) Hast viel geweint (geweint, …) Im Geist getrennt (getrennt, …) bezüglich ihrer Ausgestaltung kein Absolutum, Im Herz vereint (vereint, …) sondern im beständigen Wandel, im Synergieeffekt Wir (wir sind, …) eines gesamtgesellschaftlich-kulturellen Wandels. Sind schon sehr lang zusammen (ihr seid, …) Musik und Kunst sind Medien, die diesen Wan- Dein Atem kalt (so kalt, …) del rezipieren und verarbeiten, ggf. variieren und Das Herz in Flammen (so heiß, …) Du (du kannst, …) vorantreiben. Eine wissenschaftliche und reflek- Ich (ich weiß, …) tierte Auseinandersetzung mit den Inhalten und Wir (wir sind, …) der Ausgestaltung von Erinnerungskultur bedeu- Ihr (ihr bleibt, …) tet, ganz in der Linie Felix Kleins, eine kritische Deutschland, mein Herz in Flammen Auseinandersetzung mit diesen Medien vor dem Will dich lieben und verdammen Kontext von Kunstfreiheit und den Grenzen des Deutschland, dein Atem kalt Sagbaren. Allerdings bedeutet es m.E. auch, dass, So jung, und doch so alt wenn mit einem Höchstmaß an Differenziertheit Deutschland! und Offenheit gearbeitet wird, die konstruktiven Ich (du hast, …) Ich will dich nie verlassen (du weinst, …) Botschaften zum Ambivalenzempfinden bzgl. deut- Man kann dich lieben (du liebst, …) scher Geschichte und Erinnerungskultur, die in Und will dich hassen (du hasst, …) den Texten so stigmatisierter Bands wie Rammstein Überheblich, überlegen liegen, (an-)erkannt und ernstgenommen werden. Übernehmen, übergeben Diese Forderung ist selbstverständlich nicht zu Überraschen, überfallen pauschalisieren, denn nicht mit jedem Wandel, Deutschland, Deutschland über allen nicht mit jeder Variation gehen Fortschritt oder Deutschland, mein Herz in Flammen Respekt einher. Eine differenzierte Betrachtung Will dich lieben und verdammen sollte garantieren, dass die hier bereits themati- Deutschland, dein Atem kalt So jung, und doch so alt sierten erheblichen Differenzen zwischen einer Deutschland, deine Liebe plumpen und respektlosen Provokation – Kollegah Ist Fluch und Segen und Farid Bang – und dem reflektierten, wenn Deutschland, meine Liebe auch sicherlich nicht gefälligen Beitrag – Ramm- Kann ich dir nicht geben steins Deutschland – zur deutschen Erinnerungs- Deutschland! kultur wahrgenommen werden. Du Klein hatte sich bei der Veröffentlichung des Ich Teasers ursprünglich dahingehend geäußert, wie Wir wichtig ein differenzierter und vor allem fundier- Ihr Du (übermächtig, überflüssig) ter Blick auf solche Sachverhalte sei, war allerdings Ich (Übermenschen, überdrüssig) von derBild-Zeitung verkürzt und einer entschei- Wir (wer hoch steigt, der wird tief fallen) denden Aussagekonstante beraubt, bewusst mei- Ihr (Deutschland, Deutschland über allen) nungsbildend zitiert worden. Deutschland, mein Herz in Flammen Will dich lieben und verdammen Deutschland, dein Atem kalt 29 Vgl. Baert-Knoll, Valesca (2019): Bedeutung und Perspektiven ZfBeg 1/2|2020 von Strukturen der Ambivalenz im Œuvre Elie Wiesels, in: So jung, und doch so alt ZfBeg 2/3-2019, S. 170 –175. Deutschland, deine Liebe 30 Bauman, Zygmunt (2004): Identity. Conversations with Benedetto Vecchi, Cambridge; zitiert nach Boschki, Reinhold Ist Fluch und Segen (2016), Zeiten der Ambivalenz, S. 203. Deutschland, meine Liebe Kann ich dir nicht geben Deutschland! 58 Valesca Baert-Knoll: »Dem Missverständnis zum Verdruss« … Rammsteins Deutschland

Rammstein hatten den Teaser zu Deutschland Rammstein-Konzert inmitten ohne Kontext veröffentlicht, erst das gesamte Mu- des Publikums, Frankfurt 2019. sikvideo zeigte auf, dass die Entrüstung zumindest bezüglich der tatsächlich dargestellten Inhalte wei- testgehend überzogen war und die Medien »über Betrachtet man vor diesem Hintergrund die ein Stöckchen gesprungen [sind] und sich im Nach- Ambigua in den Zeilen »überlegen, übernehmen, hinein ärgern«.31 übergeben« und das dort vorangestellte »überheb- Klein hatte sein Statement – »Die Inszenierung lich«, könnte man den Eindruck erhalten, Ramm- der Musiker von Rammstein als todgeweihte KZ- stein führe trotz oder gerade wegen der medialen Häftlinge stellt die Überschreitung einer roten Entrüstungswelle das Oberwasser, indem es eben Linie dar. Sollte dies nur der Verkaufsförderung dieser von ihnen forcierten und dann inszenierten des neuen Albums dienen, halte ich dies für eine Entrüstungskultur den Spiegel vorhält. 33 geschmacklose Ausnutzung der Kunstfreiheit.« – ursprünglich damit ergänzt, dass man erst das Der Teaser – eine Verzweckung Album abwarten müsse, um ein finales Urteil fäl- len zu können. Er hatte seine Erwartungen aber Allerdings muss klar benannt werden, dass die zugleich relativiert: »Sollten es Lieder gegen den Kommunikation dieser Botschaft auf dem Rücken Judenhass sein, wäre ich positiv überrascht.« 32 einer Verzweckung des Holocaust stattgefunden Mit dieser Ergänzung sticht auch der Konjunktiv hat. Die Auswahl des Teasers auf die Sequenz der »sollte« im Erstzitat deutlicher hervor. Darstellung von KZ-Gefangenen war dazu nicht

ZfBeg 1/2|2020 31 Online verfügbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/ https://www.sueddeutsche.de/kultur/musik-berlin- neues-album-von-rammstein-virtuose-inszenierung-von.807. rammstein-provoziert-mit-video-mit-kz-anspielungen-dpa. de.html?dram:article_id=448882. urn-newsml-dpa-com-20090101-190328-99-580738. 32 So zitiert u.a. auf Zeit.de, online verfügbar unter: 33 Vgl. hierzu auch die Anmerkung von Hornuff, Daniel (2019): https://www.zeit.de/kultur/musik/2019-03/rammstein- Kann dich lieben, will dich hassen. musikvideo-kz-anspielungen-holocaust-rockband; 34 Es wurde häufig angeführt, dass Rammstein einen »PR-Gag« ebenso in der Süddeutschen, online verfügbar unter: vollführt haben, um ihr Album nach zehnjährigem Ausbleiben von Veröffentlichungen medienwirksam zu lancieren, da sie 59

Rammstein im Amphitheater von Nîmes 2017.

Rammsteins Deutschland – Anknüpfungspunkt für eine ambivalenz- sensible Erinnerungskultur

Die Aussagegewalt dieser Band liegt genau in der künstlichen, intensiven und bewussten Forcie- rung solcher Problematiken, dem konsequenten und gnadenlosen Auslösen von Ambivalenzerfah- rung, welche die Ambivalenzkompetenz ihrer Zu- hörer und Fans bis auf das Äußerste reizt, zum Zerreißen spannt und sie damit vor allem klar auf- zeigt. Rammstein leisten nicht nur einen Beitrag zu einer regen Streitkultur und Erneuerung der nötig, genügend weitere Szenen innerhalb des Vi- Erinnerungskultur durch kritisch überspitzte Aus- deos hätten zur Provokation und Ankündigung einandersetzung mit der deutschen Geschichte ihres neuen Albums ausgewählt werden können, und dem schwierigen deutschen Erbe, sondern auch wenn sie sicherlich nicht dieses Maximum an vor allem einen grundlegenden Beitrag zu einer Rezeption und Entrüstung ausgelöst hätten. Ver- reflektierten Identitätsbildung. Ambivalenzerfah- mutlich zielten Rammstein gerade auf diese Ma- rungen und vor allem der Umgang mit diesen be- ximalentrüstung ab, um sie dann zu thematisie- stimmen die Ausprägung der eigenen Identität ren. 34 Eine Holocaust-Adaption als Beispiel zur prägnant. Dazu bedarf es ein Bewusstwerden, ein Übermittlung einer Botschaft jenseits einer Auf- Offenlegen dieser Erfahrungen, um sie dann re- arbeitung des Holocaust-Geschehens zu nutzen, flektiert verstehen und konstruktiv handhaben zu ist eindeutig eine Verzweckung desselben. Und es können. 35 muss sehr deutlich gesagt werden: Der Holocaust Die Erfahrungswelten, die Rammstein auslösen, und das Andenken der Opfer darf nicht ver- ermöglichen einen solchen reflektierten Zugang zweckt werden. zum eigenen Umgang mit Ambivalenzen, denn Der Teaser und die Art der kontextlosen Ver- Rammstein können nicht, auch wenn es gerne ver- öffentlichung des Gleichen sind demnach m. E. sucht wird, in schwarz und weiß eingeteilt und so- nicht zu rechtfertigen und sollen in diesem Beitrag mit geordnet und bewertet werden. Stattdessen auch nicht gerechtfertigt oder relativiert werden. verfügen sie über unzählige Grautöne, die inei- Auch nicht im Zusammenspiel von Teaser und nander übergehen, sich überlagern und vor allem Musikvideo. Dennoch muss angeführt werden, nicht ordnen lassen, sie changieren, sie flimmern, dass in diesem Zusammenspiel eine Ambivalenz- sie oszillieren. erfahrung evoziert wird, und diese gilt es (kon- Rammstein – man kann dich lieben, muss dich struktiv) auszuhalten. hassen, zumindest man kann an dir lernen.

der Werbung bedurften. Rammstein verfügen über eine derart 35 Vgl. dazu die Forschung mit theologischer Schwerpunkt- ZfBeg 1/2|2020 große Fanbase, die sich in den letzten Jahren und dem sehn- setzung im Tagungsband Juen, Maria et al. (2015) (Hg.): lichen Erwarten eines neuen Albums begleitet von Tourneen Anders gemeinsam – gemeinsam anders?, in: Ambivalenzen und Auftritten auf beliebten Festivals als Headliner nur weiter lebendig kommunizieren, Ostfildern. vergrößert hat, dass eine solche Motivation unwahrscheinlich erscheint. Vgl. den sofortigen Ausverkauf ihrer Europatournee. Die Konzerte in Deutschland waren in weniger als zwei Stun- den restlos ausverkauft. 60

Siegbert Wolf 1 Geschichtsvermittlung und Erinnerungslernen nach der Schoah

»Es ist geschehen, als Voraussetzung des Gedenkens verknüpft bleibt, und folglich kann es weiterhin geschehen: fällt dem öffentlichen, zweckfreien Erinnern an darin liegt der Kern dessen, die NS-Opfer und deren Angehörige und Nach- was wir zu sagen haben.« kommen eine besondere Bedeutung zu. Keines- Primo Levi 2 falls darf nachhaltige Erinnerung zum identitäts- politischen Ritual erstarren, wollen wir verhindern, I. dass die Auseinandersetzung mit der Schoah aus Die Schoah, der NS-»Verwaltungsmassenmord« dem öffentlichen Diskurs verschwindet. Vergan- (Hannah Arendt) am europäischen Judentum, genes Geschehen ist so aufzubereiten, dass es tat- bleibt »ein epochemachendes Ereignis«, weil sie sächlich gegenwärtig bleibt. »einzigartig ist, neue moralische Forderungen stellt Neben der unentbehrlichen geschichtswissen- und die Wahrnehmung der späteren Geschichte schaftlichen Forschung über die NS-Zeit liegt ein verändert.« 3 Die Präzedenzlosigkeit dieses Verbre- weiterer Schwerpunkt auf der Wissens- und Wer- chens besteht darin, dass zum ersten Mal ein Na- tevermittlung an Schulen, Hochschulen und in tionalstaat mit sämtlichen ihm zur Verfügung ste- der politischen und Erwachsenenbildung. Gehö- henden Machtmitteln einen Genozid, geplant an ren heute offizielle Gedenkrituale zum festen Be- allen Juden und Jüdinnen, aus dem einzigen standteil der politischen Kultur in Deutschland, Grund beging, weil sie jüdischer Herkunft waren: so dient rituelle Erinnerung allerdings nur dann »Jedes andere mögliche Ziel der Nazis, einschließ- aufklärerischen Absichten, solange keine »be- lich des Ziels, den Krieg zu gewinnen« trat »hinter stimmte Sicht der Vergangenheit«7 präferiert oder ihrer Entschlossenheit, die Juden zu ermorden« 4 für (macht-)politische Zwecke instrumentalisiert zurück. Dieser Zivilisationsbruch verlangt nach wird. anhaltender Erinnerung und historischem Ler- nen, damit die Nachfahren, »in Anerkennung der II. Tradition, in der sie stehen, dem Tun der Gene- Das normative Postulat, wonach Erinnerungs- ration[en] vor ihnen eine Absage [...] erteilen, es lernen als gesellschaftliche Daueraufgabe gestellt nicht fortsetzen.«5 ist, findet sich im Kontext der Kritischen Theorie. Wie kann Erinnerungslernen aus historiogra- So eröffnete Theodor W. Adorno 1966 seinen be- fischer Perspektive gestaltet werden? Nicht mög- deutenden Vortrag Erziehung nach Auschwitz mit lich ist es, der Schoah einen Sinn abzugewinnen, der Kernaussage: »Die Forderung, dass Auschwitz allenfalls ist »die Darstellung eines […] Bruches nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erzie- zwischen der Wirklichkeit der Lager und der ge- hung.«8 Bewusstseinsbildende Erziehung auf der wöhnlichen Welt« leistbar, »die als solche die Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse über Möglichkeit eröffnet, sich wenigstens der Dimen- die NS-Zeit soll dazu ermächtigen, gesellschaftli- sion der Erfahrung der Überlebenden zu nähern.« 6 chen Entwicklungen, die auf gegenwärtige und zu- Da Geschichtslernen unmittelbar mit Erinnerung künftige Barbarisierung hindeuten, konsequent

ZfBeg 1/2|2020 1 Dr. phil. Siegbert Wolf ist Historiker und Publizist in Frankfurt 3 Samuelson, Norbert M. (1995): Moderne jüdische Philosophie. am Main, Gründungs- und Vorstandsmitglied der Martin Buber- Eine Einführung, Reinbek bei Hamburg, S. 335. Gesellschaft und seit 2008 Herausgeber der Gustav Landauer- 4 Ebd. S. 335; Arendt, Hannah (1989): Die vollendete Sinnlosig- Werkausgabe. keit, in: dies., Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1. 2 Levi, Primo (1990): Die Untergegangenen und Geretteten, Berlin, S. 7– 30. München; Wien, S. 205. 5 Reichert, Thomas (2002): Dialog und Erinnerung, in: Im Gespräch. Hefte der Martin Buber-Gesellschaft, Nr. 5, Herbst, S. 59 – 66, hier: S. 65. 61

entgegenzuwirken. Nur einer Gesellschaft, in der chen Erfahrungen des nationalsozialistischen All- Erinnerung, Erinnerungslernen und öffentliche tags in die Zeit des Nachkriegs mit ein. Anhalten- Vermittlung geschichtlichen Wissens gepflegt wer- der Widerwillen gegen eine zureichende Erinne- den, ist es möglich, die Nachwirkungen des Na- rung an die Schoah und ein (selbst-)kritisches Ler- tionalsozialismus sichtbar zu machen und einzu- nen aus seiner Geschichte in der Bevölkerung dämmen. Dabei dürfe niemals das »Recht des Staa- waren (und sind) die Folge. tes über das seiner Angehörigen« gestellt sein, Seit den 1960er-Jahren nahmen, nicht zuletzt und unter keinen Umständen sollen jemals wie- infolge der Antisemitismuswelle (1959/60), des der Menschen bzw. Menschengruppen in gleiche Eichmann-Prozesses in Jerusalem (1961), des und ungleiche aufgeteilt werden, da ansonsten Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963 –1965), »das Grauen potentiell schon gesetzt« sei. 9 der Verjährungsdebatte im Deutschen Bundestag Auch aus jüdisch-religiöser Perspektive lassen (1965) und des Erscheinens des autobiografischen sich Überlegungen ableiten, an denen ein Erinne- Berichtes des Auschwitz-Überlebenden Jean Amé- rungslernen produktiv anknüpfen könnte. So hat ry Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungs- der Rabbiner und Philosoph Emil Fackenheim, versuche eines Überwältigten (1966) – ein rich- ein Schüler von Martin Buber und Franz Rosen- tungsweisender Text der deutschsprachigen Lite- zweig, den 613 Mitzwot der Torah ein 614. Ge- ratur über die Schoah – historiographische Erkun- bot hinzugefügt, das die Pflicht zur Erinnerung dungen über den Nationalsozialismus sowie bil- beinhaltet: »Juden ist es […] geboten, sich der dungspolitische Bemühungen erkennbar zu. Öf- Opfer von Auschwitz zu erinnern, ansonsten ihr fentliche Debatten über das Für und Wider von Andenken verloren ginge. Ihnen ist es verboten, Erinnerungsorten – erstmals Mitte der 1960er- am Menschen und an der Welt zu verzweifeln Jahre konnte auf dem Gelände des ehemaligen und sich zu flüchten in Zynismus oder Jenseitig- Konzentrationslagers Dachau eine Gedenkstätte keit, ansonsten sie mit dazu beitragen würden, errichtet werden – gingen einher mit der Entfal- die Welt den Zwängen von Auschwitz auszulie- tung einer regen, geschichtswissenschaftlich kon- fern.«10 Diese Mitzwa könnte Richtschnur sein, turierten Gedenkstättenpädagogik. sich an den Werten des Dialogs, der Humanität und Hervorzuheben ist auch die Bewegung der Ge- sozialen Gerechtigkeit auszurichten. schichte von unten, die seit den 1980er-Jahren in Geschichtswerkstätten mittels lokalgeschicht- III. licher Forschungen, Zeitzeug_innen-Interviews Die historische Aufarbeitung des Nationalso- (Oral History) und Ausstellungen zum Erinne- zialismus als Erinnerungslernen ist aufgrund mas- rungslernen über die NS-Zeit beitrug. Insbeson- siver Erkenntnisabwehr als verspätete und unzu- dere entfachte die vierteilige US-amerikanische reichende Vergangenheitspolitik zu evaluieren. Fernsehserie Holocaust, die aus der Perspektive Die vielfach apostrophierte Stunde Null 1945 konn- einer Berliner jüdischen Familie die Geschichte te es nicht geben, flossen doch die gesellschaftli- der Schoah visualisierte, 1979 eine bis dato bei-

6 Welzer, Harald (1997): Verweilen beim Grauen. 9 Ebd. S. 104. ZfBeg 1/2|2020 Essays zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Holocaust, 10 Fackenheim, Emil L. (1970): God’s Presence in History. Tübingen, S. 26. Jewish Affirmations and Philosophical Reflections, New York; 7 Ebd. S. 14. Münz, Christoph (1995): Der Welt ein Gedächtnis geben. 8 Adorno, Theodor W. (1966): Erziehung nach Auschwitz, in: Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, Kadelbach, Gerd (Hg.) (1971): Erziehung zur Mündigkeit: Gütersloh, S. 287–289. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959 –1969, Frankfurt am Main, S. 88. 62 Siegbert Wolf: Geschichtsvermittlung und Erinnerungslernen nach der Schoah

spiellose öffentliche Debatte bis hinein in die Perspektive«, da sie »vom absoluten Extremfall Mehrheitsbevölkerung und leitete eine »erinne- ausgeht.« 14 rungskulturelle Zäsur« 11 ein. Obschon die unmittelbaren Zeugen und Zeu- Als weitere bedeutsame erinnerungskulturelle ginnen der Schoah inzwischen verstummen und Stationen gelten die vollständige textkritische Edi- wir uns heute in einem Umbruch der Erinnerungs- tion der Tagebücher Anne Franks (1986, dt. kultur befinden, verfügen wir im Rahmen des Er- 1988), die Wehrmachtsausstellungen des Hambur- innerungslernens auch zukünftig über dokumen- ger Instituts für Sozialforschung (1995/2001), tarisch-historische Quellen: umfängliche Videoin- die Gründung des Frankfurter Fritz-Bauer-Insti- terviews seit den 1980er-Jahren, vor allem am tuts zur Erforschung der Schoah (1995), der ge- Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimo- setzlich verankerte Tag des Gedenkens an die nies an der Yale-Universität und am Visual His- Opfer des Nationalsozialismus (1996), die Gold- tory Archive des Schoah Foundation Institute for hagen-Debatte über den eliminatorischen NS-An- Visual History and Education in Los Angeles. Ele- tisemitismus (1996), die Eröffnung des Jüdischen mentar sind fernerhin die Interviews mit Angehö- Museums Berlin (2001), die Einweihung des rigen der Second Generation, die ebenfalls in Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Museen, Gedenkstätten und Bildungseinrichtun- der Bundeshauptstadt (2005), der Internationale gen zur Verfügung stehen. Neueste Vermittlungs- Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust techniken, die das Verschwinden der Zeitzeugen (2005) sowie das seit den 1990er-Jahren fortge- und Zeitzeuginnen kompensieren sollen, setzen führte Erinnerungsprojekt der Stolpersteine als auf die 3D-Zeugen-Hologrammtechnologie, ein »Mikrogedenkstätten mitten im Alltag«.12 Instrument zur Geschichtsaneignung mittels vir- Zu den maßgeblichen Quellen für ein Erinne- tueller Rundgänge und dreidimensionaler Licht- rungslernen zählen die in den 1990er-Jahren er- projektionen.15 schienenen Tagebücher des in Dresden lehrenden Von Überlebenden der Schoah, Elie Wiesel und Romanisten und dort Überlebenden der Schoah, Jean Améry, sind frühzeitig Zweifel angemeldet Viktor Klemperer. Zum ersten Mal wird hier der worden, ob dieser Zivilisationsbruch überhaupt »gesamte Zeitraum des ›Dritten Reiches‹ aus der adäquat dargestellt werden könne und ob nicht Perspektive eines in Deutschland verbliebenen die Berichte der Überlebenden der NS-Lager letzt- Opfers« 13 dokumentiert. Sich der subjektiven Op- endlich kommunikativ unerzählbar bleiben müs- ferperspektive Jean Amérys, Primo Levis, Imre sen: »Die Opfer verfügen über die erfahrene Ge- Kertesz’, Ruth Klügers, Cordelia Edvardsons und wissheit, dass die erzählten Geschichten der wirk- Victor Klemperers anzunehmen, ist deshalb vor- lichen Geschichte nicht entsprechen und zugleich rangig, weil deren Zugang keineswegs »eine bloß über das Wissen, dass keine Struktur verfügbar subjektive oder gar komplementierende Sichtwei- ist, in der sie erzählt werden könnte.« 16 Die von se« beinhaltet, sondern »vielmehr die umfassen- den Nationalsozialisten geschaffene »Gegen-Welt, dere, die Totalität der Ereignisse angemessenere die sich der Rationalität zwar entzieht, die aber

ZfBeg 1/2|2020 11 Fischer, Torben; Lorenz, Matthias N. (2007): Lexikon der 14 Diner, Dan (1991): Zwischen Aporie und Apologie. Über ›Vergangenheitsbewältigung‹ in Deutschland. Debatten- und Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus, in: Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Ders. (Hg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Histo- Bielefeld, S. 244. risierung und Historikerstreit, Frankfurt am Main, S. 71. 12 Ebd. S. 339. 15 Hierzu jüngst die Zeitschrift »Einsicht 2019«. Bulletin des 13 Ebd. S. 341. Fritz Bauer Instituts: »Zeitzeugen des Holocaust«, S. 49 –77. 16 Welzer, Harald (1997): Verweilen beim Grauen, S. 125f. 63

gleichwohl zur einzigen Realität der Häftlinge zwölf Jahre, die es ja nicht selber endigte.« 22 Für wurde«, hinterlässt einen »Abgrund, der zwischen ihn konnte eine nachhaltige Aufarbeitung der NS- den Überlebenden und der Welt der Nicht-Opfer Vergangenheit nur in Form einer Inanspruchnah- klafft.« 17 Demnach verbleibt immer ein Bereich me als »negatives Eigentum« 23 erfolgen. der Zeitzeug_innenerzählungen, der kommuni- Somit stellt sich heute die Frage nach einem kativ nicht vermittelbar ist, weil die »Erfahrungs- zeitgemäßen historischen Erinnern gegen anhal- räume […] grundlegend von dem abweichen, was tendes Verdrängen und Geschichtsklitterung. Alltags- und wissenschaftliches Bewusstsein für (Selbst-)kritisches Lernen über die Schoah im Rah- möglich halten.« 18 Aufgrund dieser Kommunika- men einer multiperspektivischen historischen Bil- tionslosigkeit sind die überlebenden Opfer einer dungs- und Gedenkstättenarbeit, das auf Quellen- unentrinnbaren »Fremdheit in der Welt« 19 ausge- forschung, Zeitzeugenvideos, Visualisierung, Muse- liefert: »Wenn aber das Leiden und der Tod der alisierung und didaktischer Geschichtsvermitt- Abermillionen in den Vernichtungslagern Ermor- lung gegründet ist, erfordert beim medialen Ler- deten affektiv nicht darstellbar und daher in her- nen via Internet zusätzlich Medienkompetenz.24 kömmlichen Formen des Rituals nicht gestaltbar Lernziel ist die Erweiterung der »Geschichtsnarra- ist, wie […] kann dann die Massenvernichtung tive auf Minderheitengeschichten« unter Vermei- im kollektiven Bewusstsein nicht nur der Deut- dung eines »monoperspektivischen nationalen schen, sondern der gesamten Menschheit, bewusst Unterrichts«.25 gehalten werden?« 20 V. IV. Die notwendige Auseinandersetzung mit der Inzwischen rückt infolge des zeitlichen Ab- NS-Zeit – auch in den eigenen Herkunftsfami- stands das Interesse an der NS-Zeit in zunehmen- lien – zielt darauf ab, ein gesellschaftliches Klima de Ferne. Dabei warnte Jean Améry bereits in den zu generieren, »in dem die Motive, die zu dem 1960er-Jahren davor, den Nationalsozialismus »aus Grauen geführt haben, einigermaßen bewusst wer- der nationalen Tradition« 21 auszuklammern: »So- den.« 26 Schwerpunkt des Erinnerungslernens lange nämlich das deutsche Volk einschließlich bleibt damit, sich fortgesetztem Schweigen und seiner jungen und jüngsten Jahrgänge sich nicht Tabuisieren, sozialpsychologischen Entlastungs- entschließt, ganz und gar geschichtsfrei zu leben bedürfnissen sowie jeglicher Instrumentalisierung […] muss es die Verantwortung tragen für jene der Schoah zu widersetzen. Vielmehr gebietet es, eine Kultur begegnungs-

17 Hewera, Birte (2015): Wem gehört die Erinnerung? Über- orientierten Dialogs zu entwickeln: »Dass die [NS-] legungen zu Zeugenschaft und Kulturindustrie in: sans phrase. Vergangenheit in Deutschland keineswegs nur im Zeitschrift für Ideologiekritik, H. 6, Frühjahr, S. 220; Assmann, Aleida (2016): Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Kreise der Unverbesserlichen […] noch nicht be- Eine Intervention, München. 18 Welzer, Harald (1997): Verweilen beim Grauen, S. 129. wältigt ward, ist unbestritten. […] Aufgearbeitet 19 Améry, Jean (2002): Jenseits von Schuld und Sühne. Bewälti- wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ur- gungsversuche eines Überwältigten, Bd. 2, Stuttgart, S. 84f. 20 Brumlik, Micha (1992): Trauerrituale und politische Kultur nach der Shoah in der Bundesrepublik, in: Loewy, Hanno (Hg.): Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über Ostermann, Patrick; Rehberg, Karl-Siegbert (Hg): Die Shoah in ZfBeg 1/2|2020 die Besetzung der Geschichte, Reinbek bei Hamburg, S. 204. Geschichte und Erinnerung. Perspektiven medialer Vermittlung 21 Gallner, Marlene (2016): Politisches Denken nach Auschwitz. in Italien und Deutschland, Bielefeld, S. 211–222; Bothe, Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und Jean Améry unter Alina (2019): Die Geschichte der Shoah im virtuellen Raum. Deutschen, in: sans phrase, H. 9, Hebst 2016, S. 201. Eine Quellenkritik, Berlin; Boston. 22 Améry, Jean (2002): Jenseits von Schuld und Sühne, S. 140. 25 Sternfeld, Nora (2013): Kontaktzonen der Geschichtsvermitt- 23 Ebd. S. 143. lung. Transnationales Lernen über den Holocaust in der post- 24 Wetzel, Juliane (2015): Das Lernen über den Holocaust via nazistischen Migrationsgesellschaft, Wien, S. 89. Internet. Möglichkeiten und Fallstricke, in: Müller, Claudia; 26 Adorno, Theodor W. (1966): Erziehung nach Auschwitz, S. 91. 64 Siegbert Wolf: Geschichtsvermittlung und Erinnerungslernen nach der Schoah

sachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil »schrittweise Verlernen individueller und grup- die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis penbezogener Egozentrismen und rigider Identi- heute nicht gebrochen.« 27 Adornos Diktum, wo- tätsentwürfe« sowie der »Erwerb der Fähigkeit, nach Auschwitz sich niemals wiederholen dürfe sich in die Situation von Opfern« hineinzuverset- und man »sich deshalb den subjektiven Vorausset- zen. 32 Und es gelte, mittels »moralischen Urtei- zungen menschlichen Handelns zuwenden sol- lens und sozialen Handelns« sich zu befähigen, le«, erfordert »eine genaue Diagnose der Kompe- »von einem prinzipiengeleiteten moralischen tenzen, derer ein handelndes Individuum bedarf, Standpunkt« aus und »auf der Basis zureichender um in vergleichbaren oder auch nur entfernt dem Informationen und universeller, auch affektiv ver- Nationalsozialismus ähnlichen historisch-politi- ankerter Solidarität, sowohl den ermordeten Op- schen Umständen, verfolgten und bedrängten An- fern Respekt und Gerechtigkeit widerfahren zu deren beizustehen, bzw. es erst gar nicht zu sol- lassen, als auch unter aktuellen Umständen ge- chen Verfolgungen kommen zu lassen.« 28 Allein recht und solidarisch zu handeln.« 33 Nur so ent- in der »Aktualisierung, schärfer gesagt: durch Aus- stehe ein »einstellungs- und handlungsrelevantes tragung des ungelösten Konflikts im Wirkungsfeld Geschichtsbewusstsein jenseits von Zeitgenossen- der geschichtlichen Praxis«, seien »die Leichen- schaft und Historisierung.« 34 haufen abzutragen.« 29 Um Gleichgültigkeit und Aufgrund der Erkenntnis, dass sich den NS- Kälte als Grundprinzipien der »bürgerlichen Sub- Opfern »eine andere Rahmung des Erfahrenen be- jektivität«, ohne die »Auschwitz nicht möglich ge- reitstellt« als in der »gewöhnlichen Welt«, dass wesen wäre«, zu überwinden, eröffnet die auf his- das, was sich tatsächlich ereignete, »überhaupt torischem Wissen gründende Bewusstseins- und nicht in das kommunikative und noch weniger in Persönlichkeitsbildung eine Perspektive zur Aus- das kulturelle Gedächtnis unserer Gesellschaft zu tragung dieses ungelösten Konfliktes der national- integrieren ist« 35 und dass »kognitive und affekti- sozialistischen Katastrophe. 30 ve Widerstände« 36 eine tiefgehende, nachhaltige Unverzichtbar für nachhaltiges Erinnerungs- Aufarbeitung des Nationalsozialismus behindern, lernen und öffentliches Gedenken an die Schoah lässt sich erklären, warum wir bis heute über kei- sind neben der historiographischen Forschung und ne »konsistente Theorie und Pragmatik gegen- künstlerischen Vermittlungsformen, wie zum Bei- wartsrelevanten historischen Lernens« 37 verfü- spiel Literatur und Bildende Kunst, vor allem die gen. Gleichwohl gehören die »moralisch-politi- Aneignung und Vermittlung der Vorgeschichte, schen, handlungsorientierenden Normen, die Geschichte und Nachgeschichte des Nationalso- durch das Lernen aus heilloser Geschichte (erst) zialismus. Hierzu gehört die »Heranbildung eines gewonnen werden sollen […] zu den Vorausset- präzise informierten, wissenschaftlich-hypotheti- zungen, um historische Geschehnisse, staatliche schen Bewusstseins der Geschichte des National- Ordnungen oder gesellschaftliche Verhältnisse als sozialismus und der industriellen Massenvernich- offen oder latent […] menschenfeindlich zu beur- tung« 31, die »affektive Vermittlung«, also das teilen.« 38

ZfBeg 1/2|2020 27 Adorno, Theodor W. (1959): Was bedeutet: Aufarbeitung der 30 Adorno, Theodor W. (2003): Negative Dialektik. Jargon der Vergangenheit, in: Ders. (Hg.) (1971): Erziehung zur Mündig- Eigentlichkeit, in: Ders. (Hg.): Gesammelte Schriften, Bd. 6, keit, S. 11; 28. S. 356. 28 Brumlik, Micha (1988): Trauer und Solidarität. Zu einer 31 Brumlik, Micha (1988): Trauer und Solidarität, S. 117. Theorie des öffentlichen Gedenkens, in: Ders.; Kunik, Petra 32 Ebd. S. 117f. (Hg.): Reichspogromnacht. Vergangenheitsbewältigung aus 33 Ebd. S. 118. jüdischer Sicht, Frankfurt am Main, S. 116. 34 Knigge, Volkhard (2013): Erinnerung oder Geschichtsbewusst- 29 Améry, Jean (2002): Jenseits von Schuld und Sühne, S. 128f. sein? Warum Erinnerung allein in eine Sackgasse für historisch- politische Bildung führen muss, in: GedenkstättenRundbrief 172, 01.12.2013, S. 13. 65

Erinnerungslernen bedeutet mehr als Erinne- bensansprüche, Ängste, Phantasien usw.«, die rung und die Bezugnahme allein auf die Erzählun- sich »wie Subtexte an das Vergangenheitsmaterial gen der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen. Es han- anheften.« 43 Und es gelte nach den »Subjektprä- delt sich »um einen Konstruktions- und Umbau- gungen« zu suchen, »die dem Vergangenheitsma- prozess von Wahrnehmungs- und Erfahrungsre- terial bewusst oder unbewusst projizierend aufge- präsentanzen im Lichte neuer Wahrnehmungen, bürdet bzw. eingeprägt werden.« 44 Wenn es ge- Erfahrungen und Wertungen.« 39 So unverzichtbar länge, belastbare Lösungen zu finden, die zugleich Oral History als Methode für das Erinnerungsler- eine »achtungsvolle Annäherung an das, was das nen ist, müssen Zeitzeugenberichte quellenkri- Subjekt noch sagt« mit einschließt, »an das, was tisch abgeglichen werden, damit diese verlässli- es bewegt, erregt, ängstigt, an das, was es nicht che Erkenntnisse über die Vergangenheit ermög- anders sagen kann«, dann bestünde die berech- lichen. Unser Gedächtnis ist nämlich kein objek- tigte Hoffnung auf eine Aufhebung von Abwehr: tiver Speicher vergangener, selbst erlebter Ge- »Abwehr wird aufgehoben, weil das Subjekt sein schichte. Erinnerungen werden immer auch re- volles Sprechen, seine volle Geschichte und damit konstruiert aus der Gegenwart; Erlebtes und spä- sich selbst im Verstehen des anderen, des Lehrers, ter Erfahrenes können sich dabei vermischen. des Gedenkstättenmitarbeiters zurückerhält. 45 Allerdings ist das, »was eine Geschichte zur Ge- Was aber wäre angesichts des Bruches und der Un- schichte macht […] nie allein aus den Quellen ab- verbürgtheit zwischenmenschlichen (Über-)Le- leitbar: Es bedarf einer Theorie möglicher Geschich- bens, für die der Holocaust steht, notwendiger ten, um Quellen überhaupt erst zum Sprechen zu […], als sich im anderen zu finden, d.h. garantiert bringen.« 40 Erinnerungslernen erfordert daher zu sehen?« 46 Historische Aufarbeitung der NS- die Fokussierung auf Überlebenszeugnisse, Quel- Vergangenheit und deren Deutung setzen inhaltli- lenexegese und Theoriebildung. che Transparenz über die Lernziele und -metho- den sowie anhaltende (Selbst-)Reflexivität bei Leh- VI. rern und Schülern voraus. Um zu erklären, warum viele Deutsche ange- sichts der Schoah mit »Abwehr und Widerstand« 41 VII. reagieren, fragt der langjährige Leiter der Gedenk- Unverzichtbar ist demnach die Fokussierung stätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Volk- auf kollektive Erinnerung und gesellschaftliche hard Knigge, danach, »welche Elemente der Ge- Aufklärung, die sich auf interdisziplinäre Ge- schichte des Holocaust, die den Widerstand evo- schichtswissenschaft und -didaktik gründet und zieren, also Transformationen in Gang setzen, in zugleich nichtwissenschaftliche Formen des Ein- Form und Inhalt der Abwehr […] eingewandert gedenkens, sowie die Entfaltung einer Ge- sind, in welch entstellter und versteckter Gestalt schichtskultur – Stichwort: Gedenkstätten – kri- auch immer.« 42 Zu richten sei der Fokus auf die tisch-reflexiv mit einbezieht. Somit bezweckt Er- jeweiligen »Subjektregungen – Erinnerungen, Le- innerungslernen einen nachhaltigen Aneignungs-

35 Welzer, Harald (1997), Verweilen beim Grauen, S. 141. 41 Knigge, Volkhard (1992): Abwehr – Aneignen. Der Holocaust ZfBeg 1/2|2020 36 Knigge, Volkhard (2013): Erinnerung oder Geschichtsbewusst- als Lerngegenstand, in: Loewy, Hanno (Hg.) (1992): Holocaust: sein?, S. 14. Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung 37 Ebd. S. 13. der Geschichte, Reinbek bei Hamburg, S. 256. 38 Ebd. S. 13. 42 Ebd. 39 Ebd. S. 5. 43 Ebd. 40 Koselleck, Reinhart (1984): Vergangene Zukunft. Zur Semantik 44 Ebd. geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main, S. 206. 45 Ebd. S. 257. 46 Ebd. 66 Siegbert Wolf: Geschichtsvermittlung und Erinnerungslernen nach der Schoah

und Bewusstwerdungsprozess, der die selbstkri- tische Betrachtung des eigenen Standortes und die durch das Eingedenken gewonnenen Erfahrun- gen umfasst und instrumentelle Identitäts- und Geschichtspolitik negiert. Der Abbau von Informa- tionsdefiziten und Vorurteilsstrukturen und die Errichtung einer Kultur der Empathie eröffnen neue soziale Standards, mit denen Menschen- »Das Geheimnis der Erlösung heißt feindlichkeit zurückgedrängt werden kann. 47 Erinnerung« – Briefmarke zum Gedenken Allerdings darf das Erlernen von Empathie nicht an 50 Jahre Reichspogromnacht 1988. auf eine »gut gemeinte Identifikation mit der Erin- nerung des Anderen« 48 reduziert werden. Ohne zureichende Reflexion des damit verbundenen, reichische Schriftstellerin und Schoah-Überleben- unverzichtbaren Lernprozesses läuft Einfühlungs- de Ilse Aichinger unmittelbar nach ihrer Befrei- vermögen »geradezu auf das Gegenteil von refle- ung vom Nationalsozialismus in einem bewegen- xivem Geschichtsbewusstsein« 49 hinaus: »Ge- den Essay als Option einer zukünftigen Vorbeu- schichtsbewusstsein steht vielmehr für das empi- gung zum anhaltenden Selbstmisstrauen aufge- risch gehaltvolle Verständnis der Wirkung von fordert: »Uns selbst müssen wir misstrauen. Der Vergangenheit und Gegenwart, steht für das Be- Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Ge- greifen der Ursachen und Prozesse, der Wirkungen danken, der Güte unserer Taten! Unserer eigenen und Wechselwirkungen, die Zukunft und Gegen- Wahrhaftigkeit müssen wir misstrauen! […] Wer- wart aus Vergangenheit entstehen lassen.« 50 den wir misstrauisch gegen uns selbst, um ver- trauenswürdiger zu sein!« 54 Mit ihrem Appell zur VIII. »bewussten Selbstbeunruhigung« 55 widersetzte Erinnerungslernen als »Verweilen beim sie sich jedem Verdrängen und Vergessen der NS- Grauen« 51 gelingt nur, wenn wir angesichts der Vergangenheit. Schoah keinen »distanzierten Betrachterstand- punkt« beanspruchen, den es ohnehin »nicht gibt – IX. schon gar nicht in Deutschland.« 52 Zu fragen ist Zur nachhaltigen Erinnerung an die Verbrechen nach der »politischen und gesellschaftlichen Ver- des Nationalsozialismus bedarf es des Erwerbs his- ursachung von Gegenmenschlichkeit« – aufgrund torischer Kompetenz sowie angemessener Erzähl- der erschütternden Erfahrung, dass der National- formen. Der wachsende zeitliche Abstand zur sozialismus wesentliche Grundannahmen mensch- Schoah, erschreckende Defizite bezüglich des Ge- licher Zivilität und Grundsolidarität in ihr Gegen- schichtswissens unter Jugendlichen 56 und nicht teil verkehrt hat. 53 Angesichts dessen, was Men- zuletzt der Abschied von den Zeitzeugen und Zeit- schen einander anzutun vermögen, hat die öster- zeuginnen, die die »Imagination der unmittelba-

ZfBeg 1/2|2020 47 Brumlik, Micha (2008): »Dass Auschwitz sich nie wieder- 51 Arendt, Hannah (1986): Elemente und Ursprünge totaler hole...« Pädagogische Reaktionen auf Antisemitismus, online Herrschaft, München, S. 680. verfügbar unter: https://www.bpb.de/politik/extremismus/ 52 Welzer, Harald (1997): Verweilen im Grauen, S. 10. rechtsextremismus/41277/dass-auschwitz-sich-nie- 53 Ebd. wiederhole-?p=all [Zugriff: 12.01.2020]. 54 Aichinger, Ilse (1946): Aufruf zum Misstrauen, in: Der Plan 1 48 Knigge, Volkhard (2013): Erinnerung oder Geschichtsbewusst- (1945/46), H. 7, Wien, S. 588. sein?, S. 8. 55 Knigge, Volkhard (2016): »Das radikal Böse ist das, was nicht 49 Ebd. hätte passieren dürfen.« Unannehmbare Geschichte begreifen, 50 Ebd. in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 3-4, S. 8. 67

Hinzu kommt beim Erinnerungslernen nach der Schoah, das negative Eigentum der deutschen Geschichte auch in der eigenen Familiengeschich- te anzunehmen, also öffentliches und privates Ein- gedenken miteinander zu verbinden. Um aus der Geschichte zu lernen, bedarf es kognitiver Offen- heit und der Bereitschaft zur Veränderung der ei- genen Haltung.61 Wissensvermittlung allein reicht dazu nicht aus. Vielmehr müssen zusätzlich in- terdisziplinäre Methoden des Erinnerungslernens Stolperstein für Else Liebermann von Wahlendorf, Budapester Straße 45, Berlin, verlegt am 26.9.2006. gefunden und weiterentwickelt werden. Hierbei Der Künstler Gunter Demnig installiert seit 1992 gibt der bedeutende Erforscher der Schoah, Raul Gedenksteine aus Messing, sogenannte Stolpersteine, vor dem Wohnhaus der Opfer. Hilberg, zu bedenken, dass das Ergebnis eines kri- Sie sollen an das Schicksal der Menschen erinnern, tisch-selbstreflexiven, historischen Lernens nach die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert oder vertrieben wurden. der Schoah, »vielleicht ein Erkennen und allen- Am 29. Dezember 2019 verlegte Gunter Demnig falls ein Begreifen, aber bestimmt kein Verstehen« in Memmingen den 75.000sten Stolperstein. sein könne. 62

X. ren Begegnung mit der Vergangenheit […] nur Was ein Erinnerungslernen gegen das Verges- verbürgen, solange er selbst der Gegenwart ange- sen hindert, sind eine in der deutschen Gesellschaft hört« 57, führt dazu, dass aufgrund des damit ver- nach wie vor zu hohe Anfälligkeit für autoritäre bundenen »Erlöschens unmittelbarer Erfahrungs- Ideologien, Judeophobie und Rassismus sowie ein geschichte« zugleich »die Frage nach der Zukunft virulenter Geschichtsrevisionismus, der die singu- der Erinnerung« 58 an Bedeutung gewinnt. Dabei läre Vernichtung des europäischen Judentums als handelt es sich weniger um ein Festhalten an einer deutschen Tat relativiert und sich gegenüber einem »leerlaufenden Erinnerungsimperativ« 59 als historischer Bildung über den Nationalsozialismus vielmehr um die Fokussierung auf die historischen und seinen Folgen als immun erweist. Antisemi- Quellen und Erinnerungen als Lerngegenstand tismus basiert auf Ressentiments und Vorurteilsan- mit dem Ziel einer von Geschichtstheologie un- nahmen, gegen die Aufklärung nur begrenzt er- belasteten »Zivilgeschichte«. 60 folgreich ist, da der »genuine Antisemit vielmehr dadurch definiert ist, dass er überhaupt keine Er- fahrung machen kann, dass er sich nicht anspre- 56 So ergab eine repräsentative Umfrage der Körber-Stiftung von chen lässt.« 63 2017, dass mehr als 40% der befragten Schüler_innen keine Kenntnisse über das Vernichtungslager Auschwitz besitzen, Um dennoch einer intergenerativen Schuld- https://www.koerber-stiftung.de/fileadmin/user_upload/ und Verantwortungsabwehr und Erinnerungsver- koerber-stiftung/redaktion/handlungsfeld_internationale- verstaendigung/pdf/2017/Ergebnisse_forsa-Umfrage_ Geschichtsunterricht_Koerber-Stiftung.pdf [Zugriff: 12.01.2020]. 61 Vgl. Boschki, Reinhold; Schwendemann, Wilhelm (2008): ZfBeg 1/2|2020 57 Sabrow, Martin (2012): Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen Vier Generationen nach Auschwitz – Wie ist Erinnerungslernen zwei Welten in: Ders.,; Frei, Norbert (Hg.): Die Geburt des heute noch möglich? Schlüssel für erinnerungsgeleitetes Lernen Zeitzeugen nach 1945, Göttingen, S. 25; siehe auch das Heft in Schule, Gesellschaft, Kirche (Thesen), in: Dies. (Hg.): Vier zum Thema »Zeitzeugen« der Zeitschrift »Totalitarismus und Generationen nach Auschwitz – Wie ist Erinnerungslernen Demokratie« 15 (2018), H. 2. heute noch möglich? Berlin, S. 77f.; 95-97. 58 Knigge, Volkhard (2010): Zur Zukunft der Erinnerung, in: 62 Hilberg, Raul (1994): Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 25-26, S.11. Holocaust-Forschers, Frankfurt am Main, S. 175. 59 Ebd. S. 14. 63 Adorno, Theodor W. (1959): Was bedeutet: Aufarbeitung der 60 Ebd. S. 15. Vergangenheit, S. 26. 68 Siegbert Wolf: Geschichtsvermittlung und Erinnerungslernen nach der Schoah

weigerung wirksam entgegenzutreten, bedarf es sei, so Adorno, zwar unumgänglich, zugleich aber historiographischen Erinnerungslernens, das auch stets »der überwältigenden Kraft des Bestehenden die individuellen und kollektiven Verstrickungs- ausgesetzt […] und zur Ohnmacht verurteilt […] mechanismen in den Blick nimmt. Um die Ursa- Wer ändern will, kann es wahrscheinlich über- chen für Massenverbrechen, die mit den ökono- haupt nur, indem er diese Ohnmacht selber und mischen, politischen und ideologischen Grundla- seine eigene Ohnmacht zu einem Moment dessen gen der kapitalistisch-kulturindustriellen Gesell- macht, was er denkt und vielleicht auch was er schaft unmittelbar verknüpft sind, aufheben zu tut.« 66 können, verlangt es nach einer grundlegenden Zusammenfassend folgt daraus, dass Erinne- freiheitlichen Transformation der Gesellschaft. rungslernen nach der Schoah ein Gleichgewicht Dabei sollten sich nichtjüdische Deutsche ver- zwischen wissenschaftlicher Rationalität und emo- gegenwärtigen – da ihre Herkunft vielfach aus tionalen und ethischen Kriterien erfordert – ein- Täter_innen- und Mitläufer_innengenerationen gedenk des Wissens um die »Brüchigkeit der Fun- herrührt – dass Generationen übergreifend eine damente unserer Denk- und Lebensweise« und enge personelle, gefühlsmäßige und teilweise auch der Einsicht in die »Begrenztheiten wissenschaft- ideologische Nähe zu den NS-Täter_innen – Stich- licher Arbeitsweise.« 67 Erinnerungslernen bedeu- wort: Gefühlserbschaft (Freud) 64 – und somit so- tet dann »begreifendes Lernen an Geschichte und zial eine Weitergabe des NS-Erbes bestehen kann, historischen Erfahrungen im Sinne einer Selbst- die aufklärerisches Erinnerungslernen behindert. aufklärung über das, was man besser nicht tut, Grundsätzlich »befinden sich aber alle Zeitgenos- wenn Gesellschaften ihre Zivilität, ihre humane sen […] im Traditionszusammenhang des Natio- Substanz nicht verlieren sollen.« 68 Unverzichtbar nalsozialismus und des durch ihn hervorgebrach- bleibt die Weiterentwicklung von Erinnerungs- ten Massenmordes: Jedes Mitglied einer Gesell- kultur als gesellschaftlicher Aufgabe mittels histo- schaft steigt qua Sozialisation in den stetigen Fluss riografischer Forschung, Gedächtnisorten, Infor- der Gesellschaft, die seine Eltern [und Großeltern – mations- und Dokumentationszentren, Museen, S.W.] mitproduziert und miterlitten haben, und Stolpersteinen, an Schulen, Hochschulen und in das heißt konkret für die Kinder der deutschen der Erwachsenenbildung. 69 Nachkriegsgesellschaft, dass sie über Komplizen- Wohl erst dann, wenn wir gesellschaftliche schaften des Schweigens über das Angerichtete und Verhältnisse geschaffen haben, in denen der Ein- des Sprechens über das Erlittene […], über Um- zelne, unabhängig von seiner ethnischen, religiö- kehrung der Rollen von Täter und Opfer […], sen und sozialen Herkunft, ohne Angst unter- einen spezifischen Umgang mit der Geschichte schiedlich sein kann, wird man sagen können, ihrer Eltern und Großeltern, das heißt auch mit dass der Mensch aus seiner Geschichte gelernt ihrer eigenen Geschichte gelernt haben.« 65 hat. Somit birgt Erinnerungslernen »die Chance zu Widerstand gegen totalitäre und freiheitsfeind- individueller, zwischenmenschlicher und gesell- liche Ausprägungen der Gegenwartsgesellschaft schaftlicher Befreiung und Genesung.« 70

ZfBeg 1/2|2020 64 Lohl, Jan (2010): Gefühlserbschaft und Rechtsextremismus. 69 Dazu zählt das Projekt »Heimatsucher e.V.«. Da die Personen- Eine sozialpsychologische Studie zur Generationengeschichte gruppe der Überlebenden der Schoah bald verstummen wird, des Nationalsozialismus, Gießen. tragen »Zweitzeug_innen« deren Biografien zum Beispiel 65 Welzer, Harald (1997): Verweilen beim Grauen, S. 21. mittels Ausstellungen und Workshops weiter, online verfügbar 66 Adorno, Theodor W. (1969): Erziehung zur Mündigkeit, unter: https://heimatsucher.de/ [Zugriff: 12.01.2020]. S. 147. 70 Seemann, Birgit (2010): »Man redet nicht zueinander« – 64 Münz, Christoph (1995): Der Welt ein Gedächtnis geben, Martin Buber und der interreligiöse Dialog, in: S. 461. Im Gespräch. Hefte der Martin Buber-Gesellschaft, S. 54. 68 Knigge, Volkhard (2013): Erinnerung oder Geschichtsbewusst- sein?, S. 12. 69

Emma Elisa Theresa Hauf 1 Never again starts with you Museales Erinnern an die Schoah am Beispiel des US Holocaust Memorial Museum, Washington D.C.

Wie funktioniert Erinnerung an ein Ereignis, Um Besucher_innen des Museums zu errei- ein Verbrechen, das auf einem anderen Kontinent chen und ihnen zu vermitteln, dass die Erinnerung stattgefunden hat? Wie gelingt es, Menschen für an die Schoah und die Opfer wachgehalten wer- eine Thematik zu sensibilisieren, die auf den ers- den muss, wird im USHMM ein emotionalisieren- ten Blick für die meisten persönlich keine Bedeu- der Zugang zu Themen und Inhalten gewählt. Da- tung hat? bei wird beispielsweise mit großen Wandfotos von Diesen Versuch unternimmt das United States Massakern, Videomaterial mit erschreckenden Auf- Holocaust Memorial Museum (USHMM) 2 in Wa- nahmen direkt nach der Befreiung der Konzentra- shington D.C., indem es tionslager oder auch detailgetreuen Nachbauten a) sich selbst als thematisches Bildungsangebot aus der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau sowie verstehen, exemplarischen Exponaten gearbeitet. Beispiels- b) die europäische und deutsche Vergangenheit weise hat man als Besucher_in die Möglichkeit, der Jahre 1933 –1945 im Sinne der Multipers- durch einen Transportwaggon hindurchzugehen, pektivität den Besucher_innen nahebringen, um wenig später durch eine Kopie des Torbogens c) ein Ort des Gedenkens sein will. mit der Aufschrift Arbeit macht frei zu laufen. So soll erreicht werden, dass die Besucher sich das Ge- Im Folgenden möchte ich, basierend auf mei- schehene plastisch besser vorstellen können. nen Erfahrungen als Freiwillige der Organisation Nicht alle US-amerikanischen Schüler_innen Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) im haben den Begriff Holocaust zuvor schon einmal USHMM, diese drei für mich zentralen Punkte mit gehört oder sind darauf im Unterricht zu sprechen Hilfe von Beispielen erläutern und abschließend gekommen. Bei einer geführten Tour durch die persönlich reflektieren. Ausstellung habe ich selbst gehört, dass Jugendli- che gefragt haben, ob die dokumentarische Video- Bildungsangebot aufzeichnung der Befreiung Dachaus inszeniert sei. Dem USHMM ist es ein großes Anliegen, dass Kernstück des USHMM ist die Dauerausstel- die Realität der nationalsozialistischen Verbrechen lung. Diese ist in drei Stockwerke gegliedert: und die Gräuel der Schoah deutlich werden. Das erste Stockwerk widmet sich den thema- Gleich zu Beginn, quasi das erste Ausstellungs- tischen Schwerpunkten der Machtübertragung stück, zeigt ein sehr großes Foto der Befreiung des Hitlers 1933, der graduellen Ausgrenzung von Ju- Außenlagers Ohrdruf im April 1945. Eine Gruppe den und anderen Opfergruppen und der Zeit bis amerikanischer Soldaten steht vor Eisenbahnschie- zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Die nächs- nen, auf denen Körperteile verbrannter Leichen te Etage befasst sich mit der Ghettoisierung und liegen. Ein paar Schritte weiter liest man in gro- Vernichtung der Opfer, während der letzte Stock ßen Buchstaben ein Zitat Eisenhowers, in dem er die Retter und Personen im Widerstand in den die Echtheit der nationalsozialistischen Verbre- Blick nimmt. chen bezeugt.

1 Emma Elisa Theresa Hauf ist Praktiantin am ZfBeg 1/2|2020 US Holocaust Memorial Museum, Washington D.C. 2 United States Holocaust Memorial Museum, online verfügbar unter: https://www.ushmm.org/. 70 Emma Elisa Theresa Hauf: Never again starts with you – museales Erinnern … US Holocaust Memorial Museum, Washington D.C.

Die »Hall of Remembrance« im USHMM. Unten: Emma Hauf führt durch die Dauerausstellung.

Im Ausstellungsraum Tower of Faces wird von dem Massaker an einem litauischen Schtetl von 1941 erzählt. Der Großteil der jüdischen Be- völkerung kam dabei ums Leben. An den Wänden des Raumes hängen ungefähr 1.000 Fotografien der Einwohner, aufgenommen vor dem Krieg. Wissend um die NS-Ideologie betritt der/die Be- sucher_in nun den Raum, in dem die emotiona- lisierenden Fotos im Vordergrund stehen: Fotos, die Alltagsmomente im Leben der Familien und Menschen zeigen, die vermeintlichen Untermen- Chronologisch wird von den Ereignissen der schen in der NS-Ideologie. Jahre 1933 bis 1945 in Europa berichtet. Es wird u.a. versucht, darüber aufzuklären, wie Hitler de- Multiperspektivität mokratisch gewählt werden konnte. Dafür wer- den auch der Zerfall der Weimarer Republik und Die Verantwortung des Einzelnen für seine ei- die dadurch entstandenen Bedingungen für Hitlers genen Entscheidungen und sein Handeln wird Aufstieg berücksichtigt. Zudem liegt ein weiterer sprachlich in den Ausstellungstexten sichtbar. Die Fokus im ersten Stockwerk auf der Rolle der Pro- am Zeitgeschehen beteiligten Personen werden in paganda und der Massenbewegung. Dies wird verschiedene Gruppierungen unterteilt. So wird multimedial durch HJ-Aufmärsche über Videobei- von Tätern, Opfern, Rettern, Menschen im Wider- träge in Dauerschleife, Audiodateien von Heil- stand, aber vor allem auch von Mitläufern oder Rufen und der ersten Strophe der Deutschen Na- Opportunisten gesprochen. Beispielsweise ist auf tionalhymne oder antisemitischen Kinderbüchern Fotos eine Massenerschießung zu sehen oder wie an den/die Besucher_in herangetragen. Immer ein Mann öffentlich gedemütigt wird. Beide Male wieder kann man sich als Besucher_in fragen, wel- stehen im Hintergrund Jugendliche und Bürger_in- che Verantwortung das Individuum und die Ge- nen, die das Ereignis beobachten und sich passiv sellschaft zu dieser Zeit hatten. zu verhalten scheinen.

ZfBeg 1/2|2020 71

Das Museum legt auch Wert darauf, sprachlich symbolisieren soll. Dieser Ort lädt zur Selbstrefle- zum Ausdruck zu bringen, dass die grausamen xion und zum Nachdenken darüber ein, was man Verbrechen nicht ausschließlich von den Deut- in der zurückliegenden Dauerausstellung gelernt schen begangen wurden. In den Infotexten wer- und erfahren hat. An den Wänden sind sämtliche den als Täter das nationalsozialistische Deutsch- Namen der Konzentrations- und Vernichtungsla- land und seine Kollaborateure in den von Deutsch- ger zu sehen. Teelichter stehen zum Anzünden land besetzten Ländern aufgeführt. bereit.

Die Rolle und Verantwortung der USA wer- Wirkung auf mich als Europäerin den in der Ausstellung kritisch thematisiert. Stell- und persönliche Wertung vertretend dafür werden die Ereignisse um das Schiff St. Louis 1939 geschildert; die überwiegend Ich halte das Museum für sehr gelungen in jüdischen Passagiere wurden von der US-Regie- seinem Versuch, an der Erinnerung an dieSchoah rung an der Einreise gehindert. Das Schiff kehrte auch in den USA festzuhalten. Besonders gut ge- nach Europa zurück und mehr als 70 % der Pas- fällt mir der thematische SchwerpunktVerantwor- sagiere wurden in der Schoah ermordet. tung der Gesellschaft.

Gedenkort Tower of Faces in der Dauerausstellung des USHMM. Mit Hilfe eines maßstabsgetreuen Modells wird schrittweise der Tötungsprozess in einem Vernich- tungslager dargestellt. Dabei unterstützen kleine weißbemalte Figuren die Visualisierung. Eine ähn- liche Funktion erfüllen Wandbilder, die beispiels- weise in Originalgröße die Haarberge aus der Ge- denkstätte Auschwitz zeigen. Natürlich gibt es in den USA keine historischen Orte bezüglich der Schoah wie ehemalige Konzentrationslager, die zu Gedenkstätten werden könnten. Mit diesem Museum wird in den USA versucht, die Erinne- rung an die Gräueltaten der Schoah wachzuhal- ten. Der Ausstellungsgang mündet schließlich in der sogenannten Hall of Remembrance. In der Mitte dieser Halle steht eine Kerze, die als eternal flame das nie vergehende Gedenken der Opfer

ZfBeg 1/2|2020 72 Emma Elisa Theresa Hauf: Never again starts with you – museales Erinnern … US Holocaust Memorial Museum, Washington D.C.

Sonderausstellungen wie some were neigh- vivors and Victims Resource Center (HSVRC) ge- bors – collaboration and complicity in the Holo- arbeitet. Interessierte haben die Möglichkeit, in caust oder die aktuelle Americans and the Holo- verschiedenen Datenbanken nach Opfern und caust – what did they know? What more could Überlebenden der Schoah zu suchen und bei- have been done? unterstützen dieses Anliegen spielsweise mehr Informationen über Familien- des USHMM über die Dauerausstellung hinaus. mitglieder in Erfahrung zu bringen. Eine weitere Sonderausstellung mit dem Titel Dass ich ihnen als deutsche Freiwillige helfen Syria – please don’ t forget us zieht Bezüge zu heu- darf, empfinde ich als Friedensdienst im Sinne tigen Menschenrechtsverletzungen wie die aktu- meiner Entsendeorganisation Aktion Sühnezei- elle politische Situation in Syrien und thematisiert chen. Für diese Erfahrungen bin ich dankbar. diese. Meine Eindrücke finden sich in den nachfol- Vorbehalte hatte ich persönlich gegenüber der genden Worten Katrin Piepers wieder: starken und immer wiederkehrenden Emotiona- lisierung der Thematik. Ich habe mich gefragt, ob »Memory Museums werden hier verstanden die großen, teilweise auch erdrückenden Fotos als museale Institutionen, die sowohl Gedenkstät- wirklich notwendig für das Verständnis sind, wa- ten als auch Ausstellungsorte mit gesellschaftspo- rum und wie dieSchoah geschehen konnte; oder litischen Zukunftsentwürfen und Zielsetzungen auch Videos und Audios, die in Dauerschleife ab- sind. In ihrer Doppelfunktion als Museum und gespielt werden. Ähnliche Gedanken hatte ich be- Memorial vergegenwärtigen sie mahnend Krieg, züglich der detailgetreuen Nachbauten. Vernichtung und Vertreibung im Rahmen der je- Denn ich hatte das Gefühl, wer in einem weiligen thematischen Fixpunkte der nationalen Transportwaggon steht, der genauso aussieht, wie Erinnerungskulturen. Sie gedenken der Opfer und die vielen, mit denen die Menschen in die Kon- Toten und – mehr oder weniger implizit – den Tä- zentrations- und Vernichtungslager gebracht wur- tern. Durch die Anerkennung als nationale Ein- den, versucht automatisch, sich in die Situation richtung bekommen sie darüber hinaus beson- der Opfer hineinzuversetzen und zu fragen: Wie dere politisch-repräsentative Funktionen zuge- hätte ich mich nun gefühlt? Was hätte ich in die- schrieben.« 3 sem Augenblick gedacht? Aber egal, wie schreck- lich wir uns die Erlebnisse der Opfer vorstellen, sie sind immer noch schlimmer als wir denken. Museums-Logogramm. Meiner Meinung nach fördern diese Nachbauten den Gedankengang der Nachempfindung und den Versuch, sich in die Opfer hineinzuversetzen, bei- des aber ist im Museum nicht möglich ist. Als Freiwillige am USHMM habe ich neben Museumsführungen vorrangig im Holocaust Sur-

ZfBeg 1/2|2020 3 Pieper, Katrin (2006): Die Musealisierung des Holocaust. Das Jüdische Museum Berlin und das US Holocaust Memorial Museum in Washington D.C.. Ein Vergleich, Köln; Weimar, S. 23. 73

Valesca Baert-Knoll 1 und Reinhold Boschki 2 The ›Night‹ Holocaust Concert Gedenkkonzert zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz

»Wir müssen dem wieder neu auf- keimenden Hass, der Verrohung und der Gleichgültigkeit in unserer Gesellschaft ein Ende setzen – und Genoziden weltweit entschieden entgegentreten!« 3

Der 27. Januar, das Datum an dem das Kon- zentrationslager Auschwitz-Birkenau 1945 von den alliierten Truppen befreit wurde, inzwischen internationaler Gedenktag an die Opfer des Holo- caust, ist ein Tag, der von der Last der Ver- Leib Glantz gangenheit überschat- tet wird, die Gegen- Der gebürtig aus Kiew wart und Erinnerungs- stammende Leib Glantz kultur kennzeichnet war einer der wichtigs- und zugleich im Licht ten Kantoren und Komponisten jüdischer Musik. der Zukunft steht. Weltweit wird der 27. Januar Er wuchs in der Tradition der Cha’za’nut auf; so- von zahlreichen Gedenkveranstaltungen begleitet, wohl sein Vater wie auch seine beiden Großväter so auch in Hannover, wo die Deutschlandpre- waren renommierte Kantoren mit chassidischem miere desThe ›Night‹ Holocaust Concerts 4 statt- Hintergrund. Glantz emigrierte 1926 in die USA, fand: dort wurde ihm eine Stelle als Chefkantor der an- »›The ›Night‹ Holocaust Project‹ möchte die gesehenen Ohev-Shalom-Synagoge in New York Erinnerungen von Elie Wiesel (1928 –2016) leben- angeboten. Es folgten zahlreiche Synagogen- und dig halten und sie mit der ergreifenden Musik Konzertauftritte die ihn zu einem Plattenvertrag von Leib Glantz (1898 –1964) verbinden.« 5 mit der RCA Victor Recording Company führten. Diese Aufnahmen brach- Dazu wurde die liturgische Synagogalmusik ten ihm Einladungen u.a. von Leib Glantz durch das Symphonieorchester Ka- nach Kanada, Südameri- liningrad, dem Staatschor , der Moscow ka, Europa, Südafrika und Male Jewish Capella und dem Norddeutschen Palästina. Synagogalchor unter der musikalischen Leitung Insgesamt komponier- von Arkadi Feldman im Wechsel mit von Sebastian te Leib Glantz 216 Stücke Koch gelesenen Auszügen aus Elie Wiesels Night kantorialer chassidischer (dt. Nacht) inszeniert. 6 Musik. Der von ihm kom-

1 Valesca Baert-Knoll ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin 4 Organisation: Matthias Düsterhoft. ZfBeg 1/2|2020 in der Abteilung für Religionspädagogik an der Universität 5 Ebd., S. 5. Tübingen, Coleiterin der Forschungsstelle Elie Wiesel 6 Auf youtube findet sich ein Videozusammenschnitt der und Mitherausgeberin der ZfBeg. Premierenveranstaltung in Kaliningrad.: 2 Reinhold Boschki ist Professor für Religionspädagogik, Leiter https://www.youtube.com/watch?v=lU6xojTpKUc. der Elie Wiesel Forschungsstelle an der Universität Tübingen Für einen Kurzeindruck der Veranstaltung in Hannover und Mitherausgeber der ZfBeg. empfiehlt sich: https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/ 3 The ›Night‹ Holocaust Project, Infobroschüre zum Gedenk hallo_niedersachsen/The-Night-Holocaust-Concert-am- konzert am 27.01.2020, S. 5. Gedenktag,hallonds56536.html. 74 Valesca Baert-Knoll/Reinhold Boschki: The ›Night‹ Holocaust Concert – Konzert zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz

ponierte Mitternachts-Selichot-Gottesdienst wird weltweit rezipierte Fassung Die Nacht (Ursprung- von vielen Kantoren, Wissenschaftlern und Lieb- sprache franz. La Nuit 1958) entstand, brach Wie- habern jüdischer Musik als das wichtigste kanto- sel sein zehnjähriges Schweigen über seine Holo- rale Werk angesehen, das je veröffentlicht wurde. caust-Erfahrung und trat damit in das Licht der Die Aufnahme wurde live in der Synagoge Tiferet Öffentlichkeit. Er zog zeitgleich von Frankreich Zvi in Tel Aviv aufgenommen und wird seit 1954 nach New York und begann dort seine schriftstel- jährlich von Kol Yisrael und Kol Zion LaGolah lerische Tätigkeit, die von der Veröffentlichung wei- Radio weltweit ausgestrahlt. Das Wirken und die terer Autobiografien zu biblisch-talmudisch-chas- kantorialen Interpretationen von Leib Glantz wer- sidischen Schriften über Essaysammlungen bis hin den als ein neuer Weg zur Analyse und zum Ver- zu zahlreichen Romanen reichte. ständnis der alten jüdischen Gebetsmodi, der 1986 wurde Wiesel der Friedensnobelpreis Nu’sach, angesehen. verliehen: »Elie Wiesel ist einer der wichtigsten Sein Sohn, Jerry Glantz, Gründer der Stiftung geistigen Führer und Wegweiser unserer Zeit. The ›Night‹ Holocaust Project 7, hat dieses Projekt Seine Worte verkünden die Botschaft des Friedens, organisiert. Jerry Glatz hat 2008 das Buch The der Versöhnung und der Menschenwürde.« 8 Man Who Spoke To God über das Vermächtnis sei- Elie Wiesels Die Nacht – Erinnerung und Zeug- nes Vaters publiziert; mit zusätzlichen 30 Audio- nis 9 zählt zu den einflussreichsten und bekann- dateien von durch Leib Glantz persönlich gesun- testen biographischen Zeugnissen über den Holo- genen wichtigsten Kompositionen. caust, es ist fester Bestandteil international rezi- pierter Holocaust-Literatur und gilt als der Schlüs- Elie Wiesel sel und Primärzugang zu Wiesels Gesamtwerk und Botschaft; die Motive, die darin angelegt sind, keh- Elie Wiesel wuchs in ren in seinen anderen Schriften, mitunter leicht der Tradition des Chassi- variiert, stets wieder. Ein zentrales Motiv, welches dismus bis zu seiner De- auch von vielen weiteren Zeitzeugen und Verfas- portation 1944 mit 15 sern von Überlebensberichten genutzt wird, birgt Jahren im ehemals rumä- bereits der Titel Die Nacht: »Niemals werde ich nischen Sighet auf. Er diese Nacht vergessen, die erste Nacht im Lager, überlebte Auschwitz, Buna und Buchenwald. die mein Leben in eine lange Nacht verwandelt Nach der Befreiung Buchenwalds durch die Alli- hat.« 10 ierten kam Wiesel als displaced person nach Frank- reich; dort begann er 1948 ein Studium der Phi- Konzert und Veranstaltung am 27.1.2020 losophie, Literatur und Psychologie an der Sor- bonne in Paris. 1956, mit der Veröffentlichung Angesichts der Bedeutung beider Zeugnisse, von un di welt hot geshwign, seinem jiddischen des musikalischen von Leib Glantz und des auto- Erstlingswerk, aus welchem später die gekürzte, biografischen und literarischen von Elie Wiesel,

ZfBeg 1/2|2020 7 Die offizielle Website der Stiftung ist unter folgender Adresse 9 Die deutsche Printversion ist nur noch antiquarisch erhältlich, abrufbar: https://thenightholocaustproject.com. an einer kommentierten Neuauflage arbeitet derzeit die 8 Aus der Preisverleihungsrede bei der Vergabe des Friedens- Forschungsstelle Elie Wiesel an den Universitäten Tübingen nobelpreises an Elie Wiesel. und Potsdam. 10 Wiesel, Elie (2008): Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis, Freiburg, S. 56. 75

kann das Konzert als einzigartige Kombination ge- Profit-Organisationen und Vereine, die sich gegen sehen werden, die für das Fortleben der jüdischen Antisemitismus und für ein friedliches interreli- Religion und Kultur ebenso steht wie für die Prä- giöses Zusammenleben einsetzen, die Möglich- senz der Erinnerungskultur in Deutschland und keit, sich und ihre Arbeit vorzustellen.11 weltweit. Die Aufführung, auch die zahlreichen Das Interesse an der Veranstaltung war im- jüdischen Zuhörerinnen und Zuhörer aus aller mens, der Kuppelsaal bis auf den letzten Platz be- Welt, stellen einen posthumen Sieg über die Nazis setzt, und dennoch standen noch einige Schlange und ihre menschenverachtende Ideologie dar. an der Abendkasse in der Hoffnung, eine Restkarte Musik und Kultur des Gedenkens sind hier auf zu erhalten. Die Karten waren im Vorfeld zu einem geniale Weise miteinander verwoben. kleinen Teil an geladene Gäste, primär allerdings Die Inszenierung des Gedenkkonzerts, wel- (80% der Karten, in Realzahlen 3.350) über das ches mit dem Klang eines/r Schofar und dem Bürgerbüro der Region Hannover, das Hannove- Sch’ma Jisrael endete, zeichnete sich neben her- raner Künstlerhaus und die Gedenkstätte Ahlem vorragenden musikalischen Leistungen vor allem allen Interessierten gratis zur Verfügung gestellt durch das stimmungsvolle Zusammenspiel der So- worden. Das große Interesse und die Rezeption listen mit Original-Tonaufnahmen von Leib Glantz der Veranstaltung zeigten, dass in der Gesellschaft aus; Vergangenheit und Gegenwart der jüdischen das Bedürfnis besteht, an diesem Tag zusammen- Synagogalmusik standen so in einem gesanglichen zukommen, innezuhalten und zu gedenken – in Dialog. Die Textauszüge aus Wiesels Nacht waren Gemeinschaft. ausgewählte, zentrale Passagen, beginnend mit Dieses Bedürfnis ist am 27. Januar besonders seiner Deportation, seiner Zeit in Auschwitz, den präsent, darf allerdings nicht auf diesen einen Tag Todesmärschen nach Buchenwald und letztlich schränkt werden im Sinne eines kurzzeitigen ein- der Befreiung, atmosphärisch unterstrichen durch maligen moralischen Reinwaschens – ähnlich dem farbliche Illumination der Kuppel – rot, blau, lila, ökologischen green washing. Jerry Glantz, der grün und ein Changieren zwischen diesen Tönen. Gründer und Initiator des ›Night‹ Holocaust Pro- jects, teilt diese Gedanken und hat das Projekt Die Veranstaltung wurde durch die multime- nicht nur als einmalige Veranstaltung für den 27. diale Ausstellung Five Rooms im großzügigen Foyer Januar konzipiert, auch wenn sie mit der Ver- des Kuppelsaals begleitet. In fünf Räumen bzw. Be- knüpfung zu diesem Tag eine besonders konkrete reichen wurden dort Schlaglichter auf Rechtsex- Bedeutung bekommt, sondern als Wanderkon- tremismus, Antisemitismus und den Holocaust zert, damit auch jenseits des offiziellen Gedenk- aufgezeigt, beispielsweise durch die Fotografieaus- tages der Opfer der Schoah gedacht und die Er- stellung »Die Kinder von Bergen-Belsen« (Raum 2) innerung aufrecht erhalten wird. Die Urauffüh- und gefilmte Erfahrungsberichte ein »Perspekti- rung fand 2019 in Kaliningrad statt, in Planung venwechsel« (Raum 3) ermöglicht. Außerdem sind weitere, internationale Konzerte, demnächst hatten im »Hoffnungsraum« (Raum 4) einige Non- in Israel und den USA.

11 Vgl. hierzu die Projekte: MyGatekeeper; NoBorder. ZfBeg 1/2|2020 NoProblem – solidarity kitchens; Out of bubble into VR! – IKJA e.V. 76

Lucy Debus | Lisa Hellriegel | Jonas Jakubowski | Louis Wörner 1 Lagerhaus G – Gedenken ohne Gedenkstätte? Geschichtsvermittlung auf dem Kleinen Grasbrook in Hamburg b Bildung | Erwachsenenbildung | Gemeinde |

Das Lagerhaus G am Dessauer Ufer liegt mit- Abb. 1: Das Dessauer Ufer 1982. ten im Hamburger Hafen (Abb. 1). Wenig verweist

Anregungen für Schule auf die Geschichte dieses Ortes als zentrales Au- ßenlager des KZ Neuengamme im Hamburger Um die Formate der Erinnerung und Vermitt- Stadtgebiet. Nur zwei Tafeln und ein Stolperstein lung vor Ort, die die Initiative entwickelt hat, soll erinnern daran, dass dort mehrere tausend weib- es im Folgenden gehen. Zunächst soll die Ge- liche und männliche KZ-Häftlinge sowie Kriegs- schichte des KZ-Außenlagers Dessauer Ufer skiz- gefangene inhaftiert waren, die zur Sklaven- und ziert werden. Zwangsarbeit im Hafen gezwungen wurden. Es waren die überlebenden Häftlinge und ihre An- 1 Historischer Kontext gehörigen, die zunächst als Einzige vor Ort an das Außenlager erinnerten (Abb. 2). Das KZ Neuengamme wurde 1938 als Außen- Angesichts der geplanten Entwicklung des um- lager des KZ Sachsenhausen gegründet und 1940 liegenden Hafengebiets Kleiner Grasbrook zu einem in den Status eines selbständigen Lagers erho- neuen Stadtteil und der Erfahrungen mit anderen ben. 2 Die Entstehung des Neuengammer Stamm- Erinnerungsorten in Hamburg gründete sich die lagers stand im Kontext der geplanten städtebau- Initiative Dessauer Ufer. Diese macht auf die Ge- lichen Umgestaltung Hamburgs zu einer soge- schichte des Ortes aufmerksam und setzt sich für nannten Führerstadt. KZ-Häftlinge sollten die da- einen Lern- und Gedenkort ein. für benötigten Klinkersteine produzieren.

ZfBeg 1/2|2020 1 Lucy Debus studiert Transkulturelle Studien an der Universität 2 Garbe, Detlef (2015): Neuengamme im System der Konzen- Bremen. Die anderen drei Autor_innen studieren Geschichte trationslager. Studien zur Ereignis- und Rezeptionsgeschichte, an der Universität Hamburg. Alle sind Mitglieder der Initiative Berlin. Dessauer Ufer. 77

überwiegend als Jüdinnen Verfolgte, wurden aus den b KZ Auschwitz und Ravens- Bildung brück nach Norddeutsch- | land deportiert. Zu den ers- ten dieser Haftorte zählte das Außenlager Dessauer Ufer. Dieses war ab Mitte Juli 1944 zunächst mit Erwachsenenbildung

1.000 jüdischen Frauen | aus Ungarn und der Tsche- choslowakei belegt. Im Au-

gust 1944 wurde eine wei- Gemeinde | tere Gruppe von 500 weib- lichen Häftlingen aus dem Tschechische Überlebende, Ghetto Lodz über Ausch- v.l.n.r.: Edith Kraus, Susi Weiss, Ruth Kemens, witz nach Hamburg depor- Margit Hermannová, Dagmar Lieblová und Ruth Bachricht am Dessauer Ufer, Juni 1999. tiert. Die Frauen wurden im Hafen bei der Trümmer-

räumung in Raffinerien im Anregungen für Schule Ab 1942 entstanden die ersten großen Neuen- Rahmen des sogenannten Geilenberg-Programms gammer Außenlager. Diese Entwicklung stand im eingesetzt. Mitte September 1944 verlegte die SS Zusammenhang mit den Forderungen des Wirt- die Häftlinge auf weitere Hamburger Außenlager. schafts-Verwaltungshauptamtes der SS nach einem Einsatz von KZ-Häftlingen in der deutschen Kriegs- Anschließend entstand am Dessauer Ufer ein wirtschaft. Bis Kriegsende entstand ein System von Männer-Außenlager für zunächst 2.000 Häftlin- über 80 Neuengammer Außenlagern, das sich wie ge, das mit einer Unterbrechung bis April 1945 ein Netz über Norddeutschland erstreckte. Die existierte. Dazu ist die Quellenlage eher dünn, Bereiche, in denen die Häftlinge zur Sklavenarbeit wobei diese zu den ebenfalls am Dessauer Ufer eingesetzt wurden, reichten von der Produktion untergebrachten Kriegsgefangenen und italieni- von Rüstungsgütern über den Bau von Befesti- schen Militärinternierten noch spärlicher ist: Sie gungsanlagen bis zur Räumung von Blindgängern tauchen nur in Erinnerungsberichten weiblicher und Trümmern, besonders nach den Luftangriffen KZ-Häftlinge auf. Die männlichen Überlebenden auf Hamburg 1943. erlebten die Befreiung Ende April 1945 im Stalag Im Sommer 1944 entstanden die Neuengam- XB Sandbostel. Die überlebenden Frauen wurden mer Frauen-Außenlager. Die weiblichen Häftlinge, im KZ Bergen-Belsen befreit.

ZfBeg 1/2|2020 78 Lucy Debus u. A.: Lagerhaus G – Gedenken ohne Gedenkstätte? Geschichtsvermittlung auf dem Kleinen Grasbrook in Hamburg

2 Geschichtsvermittlung am Dessauer Ufer »ei[n] Großteil der Bevölkerung zu[schreibt], […] b ist [keine] zwingende Konsequenz der Geschich- Als historischer Ort bietet das Dessauer Ufer te« 5 als Lagerstandort. Dies gilt auch fürs Des- Bildung | Möglichkeiten zur Geschichtsvermittlung, die mit sauer Ufer, das jahrzehntelang trotz der Besuche dem zunehmenden zeitlichen Abstand zum Natio- einiger Überlebender keine Rolle in der Erinne- nalsozialismus und damit der Tatsache, dass im- rungskultur Hamburgs spielte. mer weniger Überlebende von ihren Erfahrungen berichten können, wichtiger werden. Laut An- Aktuell veranstaltet die Initiative Dessauer dreas Ehresmann kommt den baulichen Relikten Ufer dort vor allem Rundgänge und Gedenkver- Erwachsenenbildung | so stärker »die Funktion des Bezeugens« zu. 3 Den- anstaltungen (Abb. 3). Beide Vermittlungsformate noch bleibt es wichtig, die Erwartungen, die Be- basieren auf der Nutzung von Überlebendenbe- suchende und Vermittelnde an sogenannte au- richten als historischer Quelle. Hinzu kommen 4 Gemeinde thentische Orte zu stellen, zu hinterfragen. bei den Rundgängen visuelle Materialien. | Angemerkt werden sollte auch, dass ehema- Gebäude als stumme Zeugen können, anders lige KZ-Standorte in Westdeutschland jahrzehn- als lebendige Zeitzeug_innen, nicht der Erzäh- telang nach 1945 »fast ausschließlich von überle- lung der Vortragenden widersprechen. Deshalb benden Häftlingen als erhaltenswert erachtet wur- kommt den Vermittelnden – auch infolge der Deu- den«: Die Wichtigkeit, die ihnen aktuell sowohl tungshoheit, die die Teilnehmer_innen ihnen zu- die Gedenkstättenkonzeption des Bundes als auch schreiben – eine besondere Verantwortung zu, Anregungen für Schule

Abb. 3: Gedenkveranstaltung der Initiative Dessauer Ufer am 25.10.2019 zur Erinnerung an einen Bombentreffer auf das Lagerhaus G am 25.10.1944.

ZfBeg 1/2|2020 3 Ehresmann, Andreas (2010): »KZ-Architektur« – Zur Bau- Nedelkovski, Aleksandar; Placenti-Grau, Anita (Hg.): geschichte des KZ Neuengamme und dem Umgang mit den Ein Erinnerungs- und Lernort entsteht. Die Gedenkstätte Überresten, in: von Wrochem, Oliver: Das KZ Neuengamme KZ-Außenlager Laagberg in Wolfsburg, Frankfurt am Main, und seine Außenlager. Geschichte – Nachgeschichte – S. 39 – 53, hier S. 39. Erinnerung – Bildung, Berlin, S. 268 – 281, hier S. 280. 5 Haug, Verena (2018): Keine unmittelbare Begegnung, 4 Saupe, Achim (2018): Historische Authentizität als problema- kein authentischer Ort. Zum Potenzial von Gedenkstätten- tische Kategorie von NS-Gedenkstätten, in: Kraus, Alexander; pädagogik, in: Kraus, Alexander; Nedelkovski et al. (Hg.): Ein Erinnerungs- und Lernort entsteht, S. 55 – 67, hier S. 57. 79

den Besucher_innen deutlich zu machen, was am als unzureichender Luftschutzraum eine wichtige Gebäude sichtbar ist, aber auch, was nicht zu Rolle spielt, sowie die Räume, in denen die Häft- b sehen und vor allem nicht nachzuempfinden ist. linge untergebracht waren, selten zu zeigen sind, Bildung Der Besuch eines historischen Ortes vermittelt muss mit der ersten Enttäuschung der Besu- | ohne einordnende Erzählung keine Kenntnis von cher_innen umgegangen werden, am Dessauer dessen Geschichte und selbst mit dieser keine Mög- Ufer gäbe es außer dem Gebäude selbst nichts zu lichkeit, die Geschichte authentisch wahrzuneh- sehen. men. Stattdessen kann gezeigt werden, wo etwas Eine Möglichkeit, mit dieser Herausforderung war. Wichtig ist, die verschiedenen Zeitschichten umzugehen, ist, Häftlingszeichnungen (Abb. 4) des Erwachsenenbildung der Nutzung des Lagerhauses G zu verdeutli- Kellers zu zeigen. Obwohl die vier erhaltenen | chen. Häftlingszeichnungen des Dessauer Ufers keine Personen zeigen, verweisen sie durch die Beto-

2.1 Visuelle Quellen nung des Stacheldrahts und des Kellers auf die ge- Gemeinde | in der Geschichtsvermittlung waltvollen Erfahrungen der Häftlinge.

Rundgänge und Gedenkveranstaltungen am

Dessauer Ufer stehen vor der Herausforderung, Abb. 4: Zeichnung des KZ-Außenlagers dass der Zugang zum Haus nicht immer möglich Dessauer Ufer aus dem Gedächtnis durch den ehemaligen Häftling ist. Da der Keller, der in Überlebendenberichten Richard Meyer-Heisselberg, Juni 1945. Anregungen für Schule

ZfBeg 1/2|2020 80 Lucy Debus u. A.: Lagerhaus G – Gedenken ohne Gedenkstätte? Geschichtsvermittlung auf dem Kleinen Grasbrook in Hamburg

das auch den Besucher_innen zu b vermitteln. Anhand von Zeich- nungen lässt sich thematisieren, Bildung | wer die Möglichkeiten zu zeich- nen hatte und wer nicht, sowie nach der Motivation der Zeich- nenden fragen.

2.2 Erwachsenenbildung | Erinnerungen als multiperspektivische Quellen

Gemeinde Um eine quellenkritische Per- | spektive einzubringen, können die Vermittelnden die eigenen Rechercheprozesse inklusive Leerstellen transparent machen. Die Erinnerungen der Überleben- den stellen die Arbeitsgrundlage Abb. 5: Foto des KZ-Außenlagers Dessauer Ufer Anregungen für Schule Anfang 1945. der Initiative Dessauer Ufer dar. In Form von Oral History -Inter- views, Autobiografien und Haft- Nur wenige Fotografien (Abb. 5) sind aus der berichten haben Überlebende die Haft am Des- Zeit des KZ-Außenlagers erhalten. Zudem sind die- sauer Ufer beschrieben. Die subjektive Erfahrung se von den Tätern aufgenommen und zeigen so- ermöglicht, nicht nur den Erzählungen von Ge- mit ihre Perspektive auf das Außenlager, in der walt, die die Häftlinge erlebt haben, Raum zu ge- die Häftlinge und ihre Lebensbedingungen keine ben, sondern auch den Geschichten von Selbst- Rolle spielen. behauptung und Widerstand. Wichtig bleibt, Der Kontrast zwischen Täterfotografie und deutlich zu machen, dass Erinnerungen wider- Häftlingszeichnungen 6 verdeutlicht, wie wichtig es sprüchlich sein können – sowohl zu Quellen aus in der Vermittlung ist, über den Entstehungskon- Täter_innnenperspektive als auch zu Erinnerun- text von Quellen zu informieren und so eine kri- gen anderer Inhaftierter. Letzteres weist nicht auf tische Auseinandersetzung zu ermöglichen. Gera- eine falsche Erinnerung, sondern vielmehr auf de bei Fotografien, die spontan meist als realitäts- verschiedene Perspektiven hin. getreu wahrgenommen werden, ist es wichtig, Deutlich wird das bei den verschiedenen Be- danach zu fragen, was sie eben nicht zeigen, und schreibungen der Ankunft am Dessauer Ufer: Die

ZfBeg 1/2|2020 6 Heß, Christiane (2010): Félix Lazare Bertrand – Zeichnungen 7 Fried, Hédi (2013): Fragmente meines Lebens. Ein Leben aus dem KZ Neuengamme, in: von Wrochem, Oliver: bis Auschwitz und ein Leben danach, Hamburg, S. 123. Das KZ Neuengamme und seine Außenlager. Geschichte – 8 Elias, Ruth (1988): Die Hoffnung erhielt mich am Leben. Mein Nachgeschichte – Erinnerung – Bildung, Berlin, S. 229 – 243; Weg von Theresienstadt und Auschwitz nach Israel, München, Wrocklage, Ute (2010): KZ-Fotografien als historische Quellen, S. 162. in: von Wrochem, Oliver: Das KZ Neuengamme und seine Außenlager. Geschichte – Nachgeschichte – Erinnerung – Bildung, Berlin, S. 244 – 261. 81

weiblichen Häftlinge wurden aus Auschwitz-Bir- 3 Ausblick kenau ans Dessauer Ufer gebracht, das für sie b einen weiteren Ort in einer oft jahrelangen Verfol- Eine wichtige Frage bei der Vermittlung bleibt Bildung gungsgeschichte darstellte. Deshalb beschreiben die Zugänglichkeit. Das Lagerhaus G ist nicht bar- | sie die Ankunft dort häufig als Erleichterung, als rierefrei zugänglich, was nur begrenzt durch das seien sie, wie die 1924 geborene ungarische Jüdin Zeigen visueller Materialien zu umgehen ist. Bei Hédi Fried schreibt, »von der Hölle in den Him- der Gestaltung eines Lern- und Gedenkorts am mel gekommen«. 7 Dazu trug die Ungewissheit Dessauer Ufer sind Fragen der physischen und so- bei der Abfahrt aus Auschwitz bei, die die als zialen Barrierefreiheit grundlegend. Erwachsenenbildung

Jüdin verfolgte Ruth Elias (1922 – 2008) eindrück- Die Initiative Dessauer Ufer organisiert über | lich schildert: »Gehen wir oder gehen wir nicht die Formate vor Ort hinaus Informationsveranstal- ins Gas?« 8 Im Augenblick ihrer Ankunft konnten tungen in verschiedenen Stadtteilen sowie On-

die Frauen nicht wissen, welche Lebensbedingun- line-Angebote in sozialen Medien. Vorwiegend Gemeinde | gen sie in Hamburg erwarteten. So stand die Er- nehmen Erwachsene verschiedenen Alters an den leichterung, Auschwitz überlebt zu haben, für Vermittlungsformaten teil; weitere demografische mehrere Frauen im Vordergrund. Angaben wurden bisher nicht erhoben. Deutlich ist, dass zumeist Menschen ange- Den Berichten der männlichen Häftlinge hin- sprochen werden, die schon einen Zugang zu Ge- gegen, für die die Haft im KZ Neuengamme und sei- schichte und Gedenken haben. Beginnend mit der nen Außenlagern meist eine relativ frühe Station Sprache an sich – die Formate finden auf Deutsch, Anregungen für Schule ihrer Verfolgungsgeschichte darstellte, ist der Schre- teilweise auf Englisch statt – betrifft dies auch Fra- cken angesichts der Ankunft am Dessauer Ufer gen von Alltags- versus akademischer Sprache. deutlich anzumerken: »Wir wurden in einem alten Dazu erarbeitet die Initiative eine Broschüre, die Lagerraum untergebracht. Schmutzig war es, ver- einer nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit die schimmelt und ungelüftet, kurz gesagt, ekelhaft. Geschichte des Außenlagers zugänglich macht. Ein Schweinestall wäre ein zu guter Ausdruck für Darüber hinaus plant die Initiative Zwischen- dieses ›Lokal‹ gewesen,« schreibt der dänische nutzungen verschiedener zeitlicher Dauer. Ju- Widerstandskämpfer Jørgen Barfod (1918 – gendlichen und Anwohner_innen soll die Mög- 2015). 9 lichkeit gegeben werden, sich der Geschichte des Ortes über eigene Forschung anzunähern. Sowohl bei Rundgängen als auch bei Gedenk- Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die Initia- veranstaltungen spielen Ankunftsszenen eine wich- tive größtenteils unbezahlt arbeitet. Einen öffent- tige Rolle. Die Differenz in der Erinnerung zu er- lich geförderten und dennoch unabhängigen Lern- klären, bietet die Chance, durch das Hinterfragen und Gedenkort am Dessauer Ufer einzurichten, einheitlicher Geschichtsnarrative ein »reflexives ist daher langfristig wichtig, um diese Arbeit anzu- Geschichtsbewusstsein« zu fördern. 10 erkennen und zu verstetigen.11

9 Barfod, Jørgen: AGN, HB 41, S. 11. 11 Zum 75. Jahrestag der Räumung des KZ-Außenlagers Dessauer ZfBeg 1/2|2020 10 von Wrochem, Oliver (2010): Historisch-politische Bildung Ufer am 14.04.1945 hat die Initiative Dessauer Ufer ein Video in NS-Gedenkstätten. Überlegungen zu reflexivem Geschichts- gedreht und veröffentlicht. Es basiert auf den Berichten von bewusstsein und berufsgruppenorientierter Arbeit, in: Überlebenden des Lagers: https://vimeo.com/407581276. von Wrochem, Oliver: Das KZ Neuengamme und seine Außen- lager. Geschichte – Nachgeschichte – Erinnerung – Bildung, Berlin, S. 285– 299, hier S. 288. 82

Felix Henn 1 »Soll ein Judenkirch gewesen seyn« Jüdische Spuren in Schwäbisch Gmünd

Die Gmünderin Ortrud wurde und nur durch zufällig angestrebte Umbau- b Seidel 2 mahnt und er- arbeiten entdeckt wurde. Zweitens sollen dazu mutigt. Mut zur Erin- dann einige fachdidaktische Überlegungen ange- Bildung | nerung – so heißt ihr stellt werden, wie man die regionalgeschichtli- Buch, in dem sie die chen Erkenntnisse für Schülerinnen und Schüler Geschichte der Juden zugänglich machen kann. Dabei soll versucht wer- in der Zeit des Natio- den, nicht nur den Geschichtsunterricht zu be- nalsozialismus in rücksichtigen. Schwäbisch Gmünd Erwachsenenbildung | beschreibt. Es sei, so »Soll ein Judenkirch gewesen seyn…« der ehemalige Landrat Klaus Pavel im Vorwort, ein subjektiver Bericht einer Zeitzeugin, welcher So unbedeutend dieses frühgotische, als einzi-

Gemeinde sich mit großem Engagement nicht nur mit der Ge- ges bis zum Dachstuhl gemauert erhaltene Stein- | schichte der Gmünder Judengemeinde auseinan- haus in der Imhofstraße 9 in der Kernstadt Schwä- dersetze, sondern vielmehr auf die Einzelschick- bisch Gmünds von außen erscheint, so aktuell und sale jener Zeit eingehe. von großem Interesse für die europäisch-jüdische Ein 2013 errichtetes Mahnmal erinnert nun Geschichte sowie die Stadtgeschichte Gmünds an diese Zeit. Doch auch ein wahres Kleinod jüdi- könnte es sein, da es sich sehr wahrscheinlich um scher Präsenz aus dem Hochmittelalter ist bis das mittelalterliche jüdische Gemeindezentrum

Anregungen für Schule heute erhalten geblieben. Ein ehemaliges Wohn- mit Synagoge handelt und gleichzeitig auch um haus »soll ein Judenkirch gewesen seyn« 3, wel- das älteste Gebäude Gmünds. Dass das Haus in ches seit wenigen Jahren in den Fokus der Öffent- der Imhofstraße im ehemaligen Judenhof und lichkeit gerückt ist, da es die jüdische Geschichte durch seine exponierte Lage (in diesem Viertel der Stadt Schwäbisch Gmünd in einen europäi- liegt es am höchsten) besonders zur Geltung kam, schen Kontext stellt. erfährt man bei jeder Stadtführung. Doch auch schon der Ratsherr und Baumeister Friedrich Vogt Vorliegender Beitrag soll den Fokus auf einen schreibt in seiner 1647 abgeschlossenen Chronik, bisher eher selten bedachten, aber umso bedeuten- »[es] soll ein Judenkirch gewesen seyn«. 4 Festigen deren Ort jüdisch-christlicher Geschichte im Rems- lässt sich dies durch die im Viertel außerdem ge- tal – genauer: in Schwäbisch Gmünd – lenken. fundenen jüdischen Überreste, wie zum Beispiel Zwei Aspekte sollen nachfolgend besprochen wer- eine in Stein eingearbeitete Badestelle, die als jüdi- den. Erstens das Mahnmal an die im Zweiten Welt- sches Ritualbad, Mikwe, gedeutet wurde, oder die krieg einem Brandanschlag zum Opfer gefallene ehemalige Judenmühle, die zwar 1887 verbrannt Synagoge sowie eine wohl im europäischen Be- ist, von der aber heute noch Überreste in der reich einmalige Entdeckung, ein Wohnhaus, das Hochstraße zeugen. Ebenso bezeugt ist eine jüdi- wohl schon seit etwa 1358 als Synagoge genutzt sche Schule aus der Mitte des 14. Jahrhunderts.5

ZfBeg 1/2|2020 1 Felix Henn ist Lehrer für Deutsch und Geschichte am 3 Paulus, Simon (2018): »›ein sehr starckes Hauß von St. Jakobus Gymnasium in Abtsgmünd. Sandquaderstucken gebaut‹. Das Gebäude Imhofstraße 9 2 Ortrud Seidel, geboren 1924 und verstorben 2011, ist Zeit- in Schwäbisch Gmünd und sein jüdischer Kontext«, in: zeugin und Autorin des Buches »Mut zur Erinnerung«. Denkmalpflege in Baden-Württemberg – Nachrichtenblatt der Denkmalpflege, 3, S. 169 –174. 4 Ebd. S. 169 –174. 5 Vgl. Graf, Klaus (2002): Einhorn-Jahrbuch, 29, S. 146. 83

Querschnittszeichnung der geplanten Umbaumaßnahme.

Doch zurück zum Hauptgebäude in der Imhofstraße 9: Es wird nach weiteren Archiv- b funden von einem Bau ausgegangen, der nach Bildung dem Umbau im Jahr 1370 bis zur Vertrei- | bung der jüdischen Bevölkerung um 1500 als deren Synagoge genutzt wurde. Derzeit wird das Gebäude aufwendig sa- niert.6 Und auch ein Blick in das ehemalige Wohnhaus und verschiedene Forschungen Erwachsenenbildung an der Bausubstanz lassen erahnen, mit wel- | chen historischen Dimensionen man es hier zu tun hat. Man entdeckte unter anderem

drei verschiedene Eingangstüren und geht Gemeinde | davon aus, dass in der Tür der Westnische wohl einst der Torah schrein verwahrt wur- de. Doch nicht nur die Eingänge änderten sich, auch das Niveau des Fußbodens vari- ierte, und Experten kamen zur Erkenntnis, dass die ursprüngliche Deckenhöhe von 7 bis

8 Metern wohl nicht zu einem gewöhnlichen »Das Zeichen der Erinnerung« Anregungen für Schule Wohnhaus gehört haben kann, sondern vielmehr zu einem als Synagoge genutzten Gebäude ge- Ein weiterer Aspekt, der das Zusammenleben hörte, wofür auch Wandbemalungen und Verzie- verschiedener Glaubensrichtungen in Gmünd in rungen an Türstöcken sprechen. 7 Auch die Ver- besonderer Weise unter Beweis stellt, ist der von wendung als Lager, Gäste- und Tanzhaus sowie der jüdischen Gemeinde seit 1919 genutzte Bet- als Gerichtsstand ist anzunehmen und so auch saal im Prediger, einem ehemaligen Dominikaner- schon für diese Zeit in England und den südlichen kloster und heutigem Ort des Stadtmuseums. Niederlanden bezeugt, was wiederum die Bedeu- Die neue jüdische Geschichte der Stadt Gmünd tung dieses Fundes im jüdisch-europäischen Kon- beginnt erst mit der Freizügigkeit in Württemberg text untermauert. Simon Paulus vermutet sogar in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Für das Jahr noch weitere Verwendungsmöglichkeiten: In einem 1887 sind Gottesdienste in privaten Räumlichkei- Vortrag zur Geschichte des Bauwerks skizziert er ten verzeichnet, 1890 zählte die Gemeinde etwa mögliche Verbindungen zwischen den christlichen 100 Köpfe. Stadtadligen Gmünds und jüdischen Großfinan- 1925 konnte dann eine ehemalige Fabrik in ciers und hebt dadurch noch einmal die exponier- der Katharinenstraße erworben werden, welche te Stellung des Gebäudes im Mittelalter hervor. 8 daraufhin vom Stuttgarter Architekten Ernst Gug-

6 Momentan müssen noch Stabilisierungs- und Instandhaltungs- 7 Stefan King (2018): »Ein sehr starckes Hauß von Sandquader- ZfBeg 1/2|2020 arbeiten durchgeführt werden, da die Bausubstanz teilweise stucken gebaut«. Die Baugeschichte des Gebäudes Imhof- sehr gefährdet ist, was eine Besichtigung bzw. den Zugang für straße 9 in Schwäbisch Gmünd, in: Denkmalpflege in Baden- Interessierte unmöglich macht. Geplant ist die Errichtung einer Württemberg. Nachrichtenblatt der Landesdenkmalpflege, Ausstellung und eines Informationszentrums im Haus, um den 47. Jg. Nr. 3, S. 174– 179. Fund der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein genauer 8 Vgl. Fischer, Wolfgang: »Paulus: Ganz wertvolles Baudenkmal«, Zeitpunkt für eine Eröffnung ist leider noch nicht bekannt. in: Gmünder Tagespost, 20.11.2017. Weitere Informationen online verfügabr unter: https://denkmalstiftung-baden-wuerttemberg.de/einstige- synagoge-wird-sorgsam-restauriert-denkmalstiftung-hilft/. 84 Felix Henn: »Soll ein Judenkirch gewesen seyn« – Jüdische Spuren in Schwäbisch Gmünd

Die ehemalige Synagoge.

Didaktische b Anmerkungen Bildung | Um diese kurz umrissenen historischen Zeugnisse di- daktisch im Schulkontext nutzbar zu machen, wäre zum Beispiel ein narrativ angelehnter Geschichtsun- Erwachsenenbildung

| terricht möglich, der die Historie der jüdischen Ge- genheimer zur Synagoge umgebaut wurde. Am sellschaft in Schwäbisch Gmünd regionalgeschicht-

Gemeinde 16. Mai 1926 fand die feierliche Einweihung statt; lich beleuchtet, Entwicklungen aufzeigt, die Blü- | sie stellte den Höhepunkt im 50-jährigen Beste- tezeiten hervorhebt und den Schülerinnen und hen der jüdischen Gemeinde Gmünds dar. Den Schülern dann einen Spaziergang möglich macht, heutigen Platz der ehemaligen Synagoge nimmt bei dem die besprochenen Stationen real betrach- das Hauptstellengebäude der Sparkasse ein, nach- tet werden können. Zur ehemaligen Synagoge in dem die Synagoge dem Novemberpogrom im Jah- der Imhofstraße und dem Mahnmal am Bock- re 1938 zum Opfer gefallen war und durch SA- stor/Ecke Robert-von-Ostertag-Straße gibt es die

Anregungen für Schule und SS-Männer verwüstet worden war. Das Ge- Möglichkeit, 38 Stolpersteine zu betrachten. Die lände wurde im darauffolgenden Jahr der Spar- Realschule Leinzell hat zusammen mit dem Stadt- kasse veräußert. 9 archiv Schwäbisch Gmünd eine aufwendig gestal- Unser Augenmerk fällt unweigerlich auf das tete Homepage erstellt, welche die Biografien der gegenüberliegende Mahnmal, das zum Zeichen der einzelnen Schicksale dokumentiert. Möglich wä- Erinnerung errichtet wurde (heute Ecke Bocks- re hier ein gruppenteiliges Erarbeiten verschiede- tor/Robert-von-Ostertag-Straße). Das 2015 einge- ner Biografien, um einen breiten Eindruck von weihte Mahnmal ist optisch direkt angelehnt an den Schicksalen der jüdischen Bevölkerung ge- die Eingangstreppe zur ehemaligen Synagoge, winnen zu können.11 über die die Menschen damals ins Gotteshaus ge- Der wichtige Aspekt der modernen Geschichts- langten. Die Namen der jüdischen Gemeindemit- didaktik, wenn es um jüdische Geschichte in Zei- glieder zur Zeit der Judenverfolgung im Dritten ten des Nationalsozialismus geht, ist das Erinnern Reich säumen die Stufen, die nach oben führen. und Mahnen. Beide Aspekte werden immer wie- Oben angebracht ist nur eine Glasscheibe, die die der in einschlägiger Fachliteratur 12 angeführt und Leere zeigt, aber auch die Aktualität. Eine Leere, erhalten in der Fachliteratur mannigfaltige Vor- die die Betrachtenden selbst füllen müssen. Und schläge zu Umsetzungsmöglichkeiten im Ge- genau dies gelingt diesem Ort der Erinnerung.10 schichtsunterricht oder Selbststudium.

ZfBeg 1/2|2020 9 Vgl. online verfügbar unter: http://www.alemannia- 11 Anmerkung: Unter dem Titel: »Ein Stein – Ein Mensch – judaica.de/schwgmuend_synagoge.htm. Ein Leben« erstellten Inge Eberle, Rudolf Berkenhoff, Wolfgang 10 Vgl. Pressemitteilung der Stadtverwaltung Schwäbisch Gmünd Gundlach und Tilman John vom Arbeitskreis Stolperstein zu- vom 30. Oktober 2015, online verfügbar unter: sammen mit der Gestalterin Veldana Sehic einen Stolperstein- https://www.schwaebisch-gmuend.de/pressedetails/presse Wegweiser, der im Schwäbisch Gmünder i-Punkt, Marktplatz meldung24638.html. 37/1 sowie an der Info-Theke im Rathaus erhältlich ist. 12 Man denke an den Beutelsbacher Konsens; Wissenschaftliche Beiträge von Pandel: Historisches Erzählen, Rüsen: Historik und Didaktik. 85

Das 2015 eingeweihte Mahnmal, Ecke Bockstor/Robert-von-Ostertag-Straße.

So bietet sich auch der Besuch Schwäbisch Gmünds in der Klassenstufe 9 an, in welcher der b thematische Fokus auf der Zeit des Nationalsozia- Bildung lismus liegt. Die Schülerinnen und Schüler könn- | ten vorab kleine Referate übernehmen, beispiels- weise zu den einzelnen Stationen und zu Biogra- fien der Stolpersteine. Möglich wäre auch, die ar- chitektonischen Bestandteile des Mahnmals zu bewerten und sie mit weiteren Mahnmalen zu Erwachsenenbildung vergleichen und gegebenenfalls vorab einen klei- | nen internen Wettbewerb auszugeben, bei dem Schülergruppen selbst ein Mahnmal für die Syna-

goge entwerfen sollen. Am Objekt selbst könnte Gemeinde | dann über Darstellung und Wirkung diskutiert werden. Ein weiterer Anknüpfungspunkt ist der Reli- gionsunterricht, wenn es um jüdische Bräuche und jüdisches Leben in Deutschland geht. Vor allem der Besuch der ehemaligen Synagoge sowie die Einbindung der jüdischen Bevölkerung ins all- wahrscheinlich vor allem in der Oberstufe als Ein- Anregungen für Schule tägliche Leben müsste dann genauer betrachtet heit anbieten würde, und welche den Fokus auf werden. Auch ein Besuch in der Imhofstraße lohnt, das Zusammenleben, aber auch wieder auf die da das Judentum nicht nur auf die Zeit des Natio- Zeit des Nationalsozialismus lenkt. Denkbar wäre nalsozialismus reduziert werden darf, sondern hier das Rezitieren von aussagekräftigen Zitaten auch schon weit vorher jüdische Spuren in Schwä- aus den Werken jüdischer Autoren unter Einbe- bisch Gmünd vorzufinden sind. So wäre zum Bei- ziehung ihrer Biografien. spiel auch die Konzeption über ein Team-Tea- Die Gmünderin Ortrud Seidel wünschte sich, ching zwischen Religion und Geschichte denkbar, dass aus dem Mut zur Erinnerung ein Mut zur um die Vielschichtigkeit in der Geschichte aufzu- Verantwortung erwachse – ein »entschiedenes zeigen, was besonders am Gebäude in der Imhof- Nein gegen Judenhass, Rassismus, Fremdenfeind- straße sehr gut darzustellen ist, und den Ge- lichkeit und jegliche Verdrängung, Umdeutung schichtsunterricht dafür sensibel zu machen, dass und Verherrlichung der NS-Gewaltherrschaft« 13 – das Judentum nicht nur auf die Zeit des Holocaust und mit dem Wahren der Erinnerung und einem reduziert werden darf. kleinen narrativen Spaziergang durch Schwäbisch Ein letzter Zugang wäre die Behandlung jüdi- Gmünd kann dazu ein kleiner, aber wichtiger Bei- scher Literatur im Deutschunterricht, die sich trag geleistet werden.

13 Artikel: Der Nachholbedarf ist riesig, online verfügbar unter: ZfBeg 1/2|2020 https://www.gmuender-tagespost.de/p/685855/ (20.3.2020). 86

Julian Wilhelm 1 Was kann deutsche Rap-Musik zur Erinnerungskultur im Kontext des Religionsunterrichts beitragen? Impulse zu den Songs Berlin – Tel Aviv und Stolpersteine

»Die Erinnerung, meine Damen und Herren, b ist wie das Wasser: Sie ist lebensnotwendig und sie sucht sich ihre eigenen Wege in neue Räume Bildung | und zu anderen Menschen. Sie ist immer konkret: Sie hat Gesichter vor Augen, und Orte, Gerüche und Geräusche. Sie hat kein Verfallsdatum und sie ist nicht per Beschluss für bearbeitet oder für beendet zu erklären.« 2 Am 6. Dezember 2019 greift Bundeskanzlerin Erwachsenenbildung

| Angela Merkel dieses Zitat Noach Flugs bei ihrer Rede zum zehnjährigen Bestehen der Stiftung Auschwitz-Birkenau auf, um auf die große Verant-

Gemeinde wortung zu verweisen, die uns mit der Erinnerung Max Herre, 2013. | zukommt. 3 Wie das Wasser, kann Erinnerung nie- mals etwas Statisches sein: Ihr fällt die Aufgabe zu, ausgehend von der jeweiligen Gegenwart, die Ver- Medium, das heutigen Künstlern eine Stimme gangenheit zu vergegenwärtigen, um uns immer gibt: Rap-Musik. wieder aufs Neue zu ihr, der Gegenwart und der Zukunft – und den jeweiligen Fragen und Proble- Die Debatte um die Echo-Verleihung vom 12.

Anregungen für Schule men – positionieren zu können. 4 Auch ist Erin- April 2018 an die beiden deutschen Rapper Farid nerung nicht passiv zu verstehen, sondern muss Bang und Kollegah hat weite Kreise gezogen und vielmehr aktiv gestaltet, ja, kultiviert werden. weithin bewusst gemacht, dass Rap-Musik längst kein Nischenphänomen der deutschen Musikin- Der Religionsunterricht kann hierfür als Er- dustrie mehr ist, sondern längst in Kinder- und Ju- möglichungsraum 5 dienen, um über blanke Zahlen gendzimmern Einzug gehalten hat. 6 und Fakten hinaus konkreten Menschen der Ver- Hier soll es nicht darum gehen, deutschen Rap gangenheit eine Stimme zu geben, Biografien zu auf offensichtlich vorliegende Antisemitismen 7, gedenken und zu erinnern. Auch ermöglicht er den Rassismus, Sexismus, Homophobie und andere Schülerinnen und Schülern, ihren Fragen Raum Diskriminierungen gegenüber Marginalisierten zu zu geben, mit ihnen an die Vergangenheit, an die überprüfen – das zu hinterfragen und zu kritisie- Erinnerung und die Menschen zu treten, zu lernen ren ist notwendig und wichtig. Vielmehr möchte und so die eigene Identität besser verstehen zu ich exemplarisch aufzeigen, welche Möglichkei- können. ten sich durch diese Kunstform für den Religions- Im Folgenden möchte ich eine Möglichkeit unterricht bieten und mehr noch, wie sie so Erin- vorstellen, Menschen der Vergangenheit im Reli- nerungskultur und genauer die Erinnerung an gionsunterricht eine Stimme zu geben durch ein den Holocaust mitgestalten kann.

ZfBeg 1/2|2020 1 Julian Wilhelm ist Student der Katholischen Theologie 3 Vgl. Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum zehnjährigen Be- an der Universität Tübingen. stehen der Stiftung Auschwitz-Birkenau am 6. Dezember 2019 2 Rede von Noach Flug anlässlich des Festakts zum zehnjährigen in Auschwitz, online verfügbar unter: Bestehen der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/suche/rede-von- Zukunft« am 23. Juni 2010, online verfügbar unter: bundeskanzlerin-merkel-zum-zehnjaehrigen-bestehen-der-stif- https://www.auschwitz.info/de/essentials/wichtige-reden/ tung-auschwitz-birkenau-am-6-dezember-2019-in-auschwitz- 2010-noach-flug.html [Zugriff: 08.02.2020]. 1704518 [Zugriff: 08.02.2020]. 4 Vgl. Rüsen, Jörn (1994): Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen, Köln, S. 78ff. 87

bekannte nach Tel Aviv aufzubrechen, um ihr Leben zu retten. Elis Geschichte bündelt die Er- b lebnisse und Gefühle verschiedener Biografien, Bildung auch aus Herres Familiengeschichte, und gewährt | so emotionale Einblicke in die brutalen Gescheh- nisse im Herbst 1938. Sophie Hunger, 2009. Elli war 13 Achtundreißig [sic!], Berlin-Weißensee Erwachsenenbildung

Kunst ist immer auch Unterbrechung. 8 Rap ist Der Vater darf nicht arbeiten, als Kinderarzt | durch seine Sprache – ich möchte sogar sagen Er weiß nicht mehr wie’s weitergeht Sprach-Gewalt – und seine eingängigen Rhythmen Die Mutter träumt von Herzls Altneuland

genau das: Wo Sprache und Musik ergänzend auf- Palästina, (doch) sein Herz hängt an Gemeinde | einandertreffen, können sie berühren, öffnen und Deutschland unterbrechen. Hierzu möchte ich exemplarisch Dem Deutschland Rilkes, Manns und zwei Lieder vorstellen, die aus verschiedenen Rap- Schuberts Genres stammen, aus verschiedener Perspektive Nicht dem Deutschland, das diese Angst auf die Vergangenheit schauen und so unterschied- hier zulässt liche Zugänge zur Erinnerung mittels Rap ermög- (doch) sein Herz hängt an Deutschland lichen. Dem Deutschland Rilkes, Manns und Anregungen für Schule Schuberts Max Herre, Sophie Hunger: Nicht dem Deutschland, das diese Angst Berlin – Tel Aviv hier zulässt Er wird sie fortschicken, es lässt sich Auf dem Album Hallo Welt des Künstlers Max nicht mehr ändern Herre erschien 2012 das Lied Berlin – Tel Aviv, Achtundreißig [sic!], die letzten Tage das von der dreizehnjährigen Berlinerin Eli Wein- im September reb erzählt, die 1938 kurz vor den Novemberpo- Berlin, Anhalterbahnhof gromen dazu gezwungen ist, ihr Zuhause und ihre Sie winkt dem Vater durch die Scheibe Familie in Deutschland zu verlassen und ins Un- und sie fahren los […] 10

5 Vgl. Boschki, Reinhold (2016): Zeiten der Ambivalenz. Den beiden Rap-Parts Herres steht kontrastie- Religiöse Bildung zwischen Unterbrechung und Erneuerung, ThQ 196, S. 205. rend der von Sophie Hunger gesungene Refrain 6 Vgl. Stahmann, Christian (2018): »Wir Juden waren Ghetto, bevor es Hip-Hop gab.« (Oliver Polak). GangstaRap meets entgegen, der als verzweifelter einsamer Schrei Auschwitz – und die Frage: Sind Felix Blume und Farı-d Eli Weinrebs ihre Trauer bündelt. Sie, ein Stern 11 al-’Abdala-wı- antisemitisch?, in: ZfBeg 2018-3, S. 245ff. 7 Vgl. Schwarz-Friesel, Monika (2019): Judenhass im Internet. Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl, Berlin; Leipzig, S. 98ff. 10 Ebd. ZfBeg 1/2|2020 8 Vgl. u.a. Bergold, Ralph (2016): Quo Vadis? Kirchliche 11 Die Stern-Metaphorik wird hier in doppelter Weise genutzt: Erwachsenenbildung im Transformationsprozess, in: Religions- Einerseits, um die Ferne Eli Weinrebs zu ihrer Heimat zu pädagogische Beiträge, Bd. 74, S. 11–13. nach Metz, Johann veranschaulichen, jedoch auch in Anklang an den Davidstern, Baptist (1992): Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien der im Dritten Reich – so auch in Berlin – zur Stigmatisierung zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz, S. 166. von Jüdinnen und Juden getragen werden musste. 9 Vgl. Kommentar von Max Herre, online verfügbar unter: https://genius.com/Max-herre-berlin-tel-aviv-lyrics [Zugriff: 09.02.20]. 88 Julian Wilhelm: Was kann deutsche Rap-Musik zur Erinnerungskultur im Kontext des Religionsunterrichts beitragen?

in der Ferne, der am Nachthimmel nicht mehr zu Trettmann, KitschKrieg: b erkennen ist, während in Deutschland die Synago- Stolpersteine gen brennen und den Himmel verdunkeln, als Sinn- Bildung | bild der Zerrissenheit zwischen Nähe und Dis- Trettmann berichtet in seinem 2019 veröffent- tanz, Fremde und Heimweh, gedenkt in Tel Aviv lichten Lied Stolpersteine 12, wie er nach einer der verlorenen Heimat und gemahnt sie ihres Ver- durchtanzten Nacht – also Sinnbild des Lebens lusts: pur – auf seinem frühmorgendlichen Heimweg auf einen Stein aus Messing stößt 14, liest, innehält Ich bin der Stern, der auf deinem Boden und ins Stolpern kommt: Erwachsenenbildung

| schlief Ich bin der Stern, der gefallen vor dem […] Himmel liegt Hier wohnte ’ne Frau mit ’nem Namen

Gemeinde Ich bin der Stern, in dem du nachts Les’ Zahl’n | die Sonne siehst Geboren in’n Zwanziger Jahren Ich bin dein Stern, Berlin, Berlin Abgeschoben nach Polen Ich bin der Stern, nach dem du Deportiert April so gesucht hast Ermordet in den letzten Tagen Ich bin der Stern, das Funkeln im Geäst Ich bin verloren im Rauch über Untermalt wird der Text von einem zurückhal-

Anregungen für Schule der Landschaft tenden, zirkulierenden Beat, der den Worten und Ich bin dein Stern, Berlin, Berlin Gedanken Trettmanns Raum lässt 14 und sogartig immer weiter in die Ge- schichte einführt. Die Spra- Trettmann beim Konzert gegen rechts che Trettmanns ist bewusst »Wir sind mehr« in Chemnitz, 2018. einfach gehalten, die gera- dezu spartanisch genutzten und salopp gewählten Wor- te stehen im harten Kon- trast zu deren Inhalt und verleihen ihnen gerade da- durch Tiefe und Gewicht. Es handelt sich bei seinem Text um eine alltägliche und doch zutiefst unalltägliche Erfahrung, um eine Unter- brechung des Alltags:

ZfBeg 1/2|2020 12 Songtext zu »Stolpersteine«, online verfügbar unter: 14 Interessanterweise haben Trettmann und KitschKrieg auch https://genius.com/Trettmann-and-kitschkrieg-stolpersteine- bewusst auf ein Musikvideo für dieses Lied verzichtet, sodass lyrics [Zugriff: 10.01.2020]. Musik und Sprache ganz aus sich heraus wirken können. 13 Vgl. Demnig, Gunter (1993): Hier wohnte – Stolpersteine, 15 Vgl. Thierse, Wolfgang (2007): Erinnerungskultur in der Dokumentationszentrum der Stadt Köln (Hg.), Köln; Bundesrepublik Deutschland, in: Nickolai, Werner; Brumlik, Föcker, Judith (2017): Stolpern im Religionsunterricht: Die Micha (Hg.): Erinnern, Lernen, Gedenken. Perspektiven der Stolpersteine als Lernimpuls, in: ZfBeg 2017-1/2), S. 82 – 86. Gedenkstättenpädagogik, Freiburg im Breisgau, S. 10. 16 Vgl. Boschki, Reinhold (2016): Erinnerung an den Holocaust in der Migrationsgesellschaft, in: Katetische Blätter 2, Jhrg. 141, S. 145. 89

Okay, in meiner Straße Stolpersteine Vögel sing’n und ich weine b Hier könnte jeder Name steh’n, irgendeiner Bildung Irgendeiner, doch hier steht deiner | […] Stolperstein, hier in Freiburg/Breisgau. Saß sie auch hier, hier im Viertel, Wo jeder jeden kennt Stell’ mir vor, wie sie mir’n Lächeln schenkt […] Ob es wohl so’n Morgen, so wie dieser war Schling’n werden wieder geknüpft Erwachsenenbildung

Straße menschenleer als der Wagen kam Messer wieder gewetzt | Reifen quietschen, erste Straßenbahn Nein, nicht woanders Alle schau’n, doch kein Licht geht an Hier und jetzt

Der Schoß noch fruchtbar, aus dem das kroch Gemeinde | Wer war diese junge Frau, die hier lebte? Ging […] 17 sie auch gerne tanzen und war sie auch so man- che Nacht auf eben jenem Heimweg? Wie kann In diesem Plädoyer für den Beitrag deutscher es sein, dass in einem Viertel, in dem jeder jeden Rap-Musik für die Erinnerungskultur möchte ich kennt, ein Mensch einfach verschwinden konn- diese Kunstform als ein Medium unter anderen te? Warum hat ihr niemand geholfen? Der grau- verstanden wissen, das als solches im Mosaik der samen Willkür, die hinter den Verbrechen der Unterrichtsgestaltung Anwendung finden kann. Anregungen für Schule Nazis steckte, Jüdinnen und Juden marginalisierte Der kreative Umgang mit Erinnerung und Erinne- und zum Ziel hatte, Menschen und ihre Identitä- rungskultur öffnet Raum für Fragen, Gefühle und ten auszumerzen 15, stellt Trettmann in wenigen Gedanken der Schülerinnen und Schüler entge- Worten gegenüber, dass Menschen nicht willkür- gen strikter Vorgaben, »was man zu denken, zu lich, nicht austauschbar sein können: Hinter je- glauben und zu erinnern (!) hat« 18. dem Verbrechen stand ein konkreter Mensch, ein So kann deutsche Rap-Musik als Grundlage Mensch mit Namen, einer Biographie, einem Ge- dazu dienen, Zugang zu finden – Zugang zur Ver- sicht, mit Wünschen und Träumen – so auch sei- gangenheit, zu konkreten Menschen und zu den ne Erinnerung, die dieses Person- und Mensch- Schülerinnen und Schülern selbst, zu sensibilisie- sein ehrt und in seiner Würde wahrt.16 ren und ins Gespräch zu kommen.19 Was spricht mich an, was vielleicht weniger? Wie möchte ich In seinem letzten Part wendet Trettmann sei- mich dazu verhalten und positionieren? Was hat ne Blickrichtung, kehrt wieder in die Gegenwart das mit mir im Hier und Heute zu tun, und warum zurück und zieht aus der Erinnerung das Bewusst- ist es wichtig, zu erinnern? sein dafür, dass nach wie vor dieser Hass existiert, »Die Erinnerung, meine Damen und Herren, der Menschen nach ihrem Dasein trachtet: ist wie das Wasser […].«

17 Vgl. Brecht, Bertolt (1957): Der aufhaltsame Aufstieg des 18 Boschki, Reinhold; Schwendemann, Wilhelm (2008): ZfBeg 1/2|2020 Arturo Ui, in: Bertold Brecht. Stücke aus dem Exil, Stücke IX, Vier Generationen nach Auschwitz: Wie ist Erinnerungslernen Bd. 4, Berlin; Frankfurt am Main, S. 365. heute noch möglich?, Münster. »Ihr aber lernet, wie man sieht statt stiert 19 Vgl. Boschki, Reinhold, Art. Erinnerung/Erinnerungslernen, Und handelt, statt zu reden noch und noch in: WiReLex.de, Jhrg. 2016, S. 4 –7. Sowas hätt einmal fast die Welt regiert! Die Völker wurden seiner Herr, jedoch Daß keiner uns zu früh da triumphiert — Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.« 90

Herbert Plotke 1 | Kurz erklärt… Schawuot – das Wochenfest

Schawuot, ein Fest der Freude, wird aus zwei b Gründen gefeiert: Bildung | 1 Fest der Erstlinge In den Zeiten der beiden Tempel galt die Vorschrift, dreimal jährlich nach Jerusalem zu wallfahren. An Schawuot, dem mittleren Wallfahrtsfest, wurden im Tempel die Erst- Schawuot, Gemälde von linge der neuen Ernte dargebracht.

Erwachsenenbildung Moritz Daniel Oppenheim, 1880. | Weil Schawuot in die Zeit des ersten Schnit- tes fällt, lesen viele an diesem Tag das Buch Dass Pfingsten (< griech. pentekosté = fünf- Ruth, in dem die Arbeit auf dem Feld eine

Gemeinde zigster) am 50. Tag nach Ostern gefeiert wird, ist wichtige Rolle spielt. Und Ruth wurde die | kein Zufall, sondern hat sein Vorbild im Judentum: Urgroßmutter von König David. Schawuot (Betonung auf der letzten Silbe; Be- deutung: Wochen), das Wochenfest, das sieben 2 Fest der Übergabe der Torah (= Lehre) Wochen nach Pessach am 6. und 7. des Monats Nach der Überlieferung übergab Gott Mose Siwan (stimmloses s; zweite Hälfte Mai, erste Hälf- auf dem Berg Sinai an Schawuot die beiden te Juni) begangen wird. Es dauert in Israel einen Bundestafeln mit den Zehn Geboten.

Anregungen für Schule Tag, in der Diaspora zwei Tage. (Der Unterschied Zur Erinnerung an dieses zentrale Ereignis geht auf die Unsicherheit bei der Festlegung des werden an Schawuot während des Gottes- Kalenders im Altertum zurück; der Grund hat sich dienstes im Rahmen der Lesung aus der längst erledigt, doch Traditionen und besonders Torah in feierlicher Weise auch die Zehn Feste halten sich gern.) Gebote vorgetragen. Da die Israeliten ursprünglich vor allem Vieh- wirtschaft und Ackerbau betrieben, spiegelt der jü- Bräuche an Schawuot: dische Kalender den Ablauf eines landwirtschaft- • Die Synagogen werden mit Blumen und lichen Jahres. Auch wenn seine Monate nur die Pflanzen geschmückt. Länge einer ganzen Mondperiode (und somit 29 • Milch und Milchspeisen bilden einen oder 30 Tage) umfassen (Mondmonate), wandern, wesentlichen Teil des Festtagsessens. im Gegensatz zum Kalender der Muslime, die • Nach dem Abendessen lernen Fromme Monate nicht durch das Jahr. Nach einem genau während der ganzen Nacht bestimmte festgelegten Plan, der eine Periode von 19 Jahren Stellen aus der Torah in kleineren Gruppen umfasst, werden Schaltmonate eingefügt, um die von mindestens zehn Personen. Unterschiede zum längeren Sonnenjahr auszu- gleichen.

ZfBeg 1/2|2020 1 Dr. iur. Herbert Plotke ist ehemaliger Departementssekretär und Lehrer im Ruhestand. 91

Gregor Delvaux de Fenffe 1 Schule als »lieu de mémoire« Das Freiburger Friedrich-Gymnasium am Heinrich-Rosenberg-Platz

»Das habe ich getan«, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben – b sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Bildung Endlich – gibt das Gedächtnis nach. | Friedrich Nietzsche: Exploration Schulgeschichte: Jenseits von Gut und Böse, 1886 Das Friedrich-Gymnasium Viertes Hauptstück Sprüche und Zwischenspiele als Forschungsgegenstand

Im Schuljahr 2012/2013 hatten Oberstufen- Erwachsenenbildung Dokumentarfilmwerkstatt schüler im Zuge des Dokumentarfilmprojektes | am Friedrich-Gymnasium »IM WANDEL DER ZEIT. Die Geschichte des Fried- rich-Gymnasiums Freiburg« in bemerkenswerten

Das Friedrich-Gymnasium ist ein kleines, mo- Arbeiten die über hundertjährige Geschichte ihrer Gemeinde | dernes humanistisches Gymnasium in Freiburg- Schule erforscht. Ihre Ergebnisse haben sie der Öf- Herdern, beherbergt in einem traumhaft schönen fentlichkeit gleich an zwei aufeinanderfolgenden Jugendstilbau mit weit über hundertjähriger Ge- Abenden in einem mehrteiligen Dokumentarfilm schichte. Nicht einmal 500 Schüler besuchen die- präsentiert, der auch auf DVD herausgegeben se Schule, die von außen ein wenig an Harry Pot- wurde. ters Hogwarts erinnert. Im unserem alten Schul- Aufgabe war, die eigene Schule, also das Fried- gewölbe wohnt eine Fledermauskolonie, und seit rich-Gymnasium, das sicher und bekannt geglaub- Anregungen für Schule rund zehn Jahren betreiben wir unterm Dach in te alltägliche Lebensumfeld zu erkunden und zu direkter Nachbarschaft zu unseren Fledermäusen begreifen als Erinnerungsort, lieu de mémoire 2, eine kleine Dokumentarfilmwerkstatt auf enga- als tiefen und ungewohnten Resonanzboden für giertem und innovativem Niveau. die eigene, vielschichtige Geschichte; ein paradig- Schülerinnen und Schüler können hier in der matischer Ansatz, der auf den französischen His- Oberstufe ein Jahr lang einen ›Seminarkurs Do- toriker Pierre Nora zurückgeht, mittels dessen das kumentarfilm‹ belegen und gehen anschließend kollektive Gedächtnis einer sozialen Gruppe als mit ihren Arbeiten ins Abitur. Sie entdecken im Ver- identitätsstiftendes Moment für die jeweilige Erin- lauf des Kurses eine neue Perspektive auf das Fach nerungskultur fruchtbar gemacht werden kann. Geschichte. Geschichte wird hier konkrete, plas- Den Kopf voller Ideen und beflügelt von der Er- tische, lokale Geschichte des alltäglichen Lebens- kenntnis, dass dem eigenen Alltag, dem Schulge- raumes, Geschichte als ubiquitäre Vernetzung in bäude, den Straßen ihrer Stadt greifbare Vergan- der Lebenswirklichkeit der Schüler, hinterfragbar genheit, Geschichte zugrunde liegt, unternahmen und recherchierbar hinter jedem Stadtviertel, je- die Schülerinnen und Schüler der Seminarkurs- dem Haus, jeder Straße, jedem Ort der eigenen gruppe veritable Explorationen, lernten ihren For- Lebenswirklichkeit. schungsgegenstand journalistisch zu konkretisie-

1 Gregor Delvaux de Fenffe ist Oberstudienrat am Friedrich- 2 Nora, Pierre (1984 –1992): Les Lieux de mémoire, Gallimard ZfBeg 1/2|2020 Gymnasium Freiburg. (Bibliothèque illustrée des histoires), Paris, 3 tomes: t. 1 La République (1 vol., 1984), t. 2 La Nation (3 vol., 1986), t. 3 Les France (3 vol., 1992). 92 Gregor Delvaux de Fenffe: Schule als »lieu de mémoire« | Das Freiburger Friedrich-Gymnasium am Heinrich-Rosenberg-Platz

ren, Geschichten und Hintergründe zu recher- b chieren, die konkrete lokale Geschichte des eige- nen Lebensradius’ im Kontext der deutschen Bildung | Makrogeschichte zu verorten. Wenige Tage später, am 20. November 1938, stirbt der inzwischen nach Freiburg zurückge- Heinrich Rosenberg, kehrte Otto Rosenberg an den Folgen der Miss- Schüler des Friedrich-Gymnasiums handlungen im Konzentrationslager mit nur 56 Jahren. Am 22. Oktober 1940 werden Heinrich Im Rahmen dieses Projektes hatte Elena Mug- Rosenberg und seine Mutter nach Südfrankreich Erwachsenenbildung

| genthaler, Abiturientin des Jahres 2014, die Bio- in das Internierungslager Camp de Gurs de portiert. grafie unseres ehemaligen FG-Schülers Heinrich Am 11. September 1942 werden Heinrich und Ilse Rosenberg erforscht und in einem Dokumentar- Rosenberg mit dem Konvoi Nr. 31 über das Kon-

Gemeinde film unter dem Titel »Heinrich Rosenberg. Frei- zentrationslager Drancy nach Auschwitz verbracht. | burg – Gurs – Auschwitz. Eine Spurensuche« der Dort wird Ilse Rosenberg im Alter von 50 Jahren Schulgemeinschaft und einer interessierten Frei- ermordet, ihr Sohn Heinrich Rosenberg vollendet burger Öffentlichkeit nähergebracht. nicht einmal das 19. Lebensjahr. Vor der Jacobi- straße 50 erinnern im Jahr 2004 verlegte Stolper- Heinrich Rosenberg, steine an Heinrich und seine Eltern Ilse und Otto Sohn eines jüdischen Groß- Rosenberg.

Anregungen für Schule eisenhändlers, wird am 17. März 1923 in Freiburg- 2014 wurde Muggenthalers filmdokumenta- Herdern geboren. Er wohnt rische Arbeit bei der Verleihung des 33. Landes- mit seinen Eltern Ilse und preises für Heimatforschung 3 vorgestellt und mit Otto in der Jacobistraße, dem Jugendförderpreis ausgezeichnet. Im Rahmen in unmittelbarer Nachbar- des Jugendwettbewerbs »Denktag« der Konrad- schaft zum Friedrich-Gym- Adenauer-Stiftung wurde Elena am 27. Januar 2015 nasium, das er als Schüler in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung in besucht. Er ist ein guter Schüler, mit Ausnahme Berlin für ihre Arbeit über Heinrich Rosenberg der Fächer Leibesübungen und Kunsterziehung. vom damaligen Bundestagspräsidenten, Prof. Dr. Bereits am Tag nach der Pogromnacht, am 10. No- Norbert Lammert, und dem ehemaligen General- vember 1938, wird Heinrich auf eine vorläufige sekretär des Zentralrates der Juden, Stephan Kra- Anordnung des Unterrichtsministers hin durch mer, mit dem 2. Platz geehrt.4 Über den Histori- den Direktor des Friedrich-Gymnasiums der Schu- ker und Freiburg-Forscher Prof. Dr. Heiko Hau- le verwiesen. Am nächsten Tag, am 11. Novem- mann hat Elena Muggenthalers Arbeit auch Ein- ber 1938, wird sein Vater Nathan Otto Rosenberg gang in die wissenschaftliche Forschungsliteratur verhaftet und in das KZ Dachau deportiert. gefunden. 5

ZfBeg 1/2|2020 3 Pressemitteilung des Landes Baden-Württemberg vom 4 Badische Zeitung vom 29. Januar 2015: Konrad-Adenauer- 20.11.2014: Verleihung des 33. Landespreises für Heimat- Stiftung zeichnet Film-Doku des Friedrich-Gymnasiums aus: forschung: https://www.baden-wuerttemberg.de/de/ https://www.badische-zeitung.de/konrad-adenauer-stiftung- service/presse/pressemitteilung/pid/verleihung-des-33- zeichnet-film-doku-des-friedrich-gymnasiums-aus-- landespreises-fuer-heimatforschung/ 99662984.html 5 Haumann, Heiko (2015): »22. Oktober 1940. Die Freiburger Juden werden deportiert«, in: Auf Jahr und Tag: Freiburgs Geschichte in der Neuzeit, Freiburg, S. 161–178. 93

Schule am Ludwig-Aschoff-Platz Initiative »Heinrich-Rosenberg-Platz« b Der Freiburger Pathologe Ludwig Aschoff Mit Interesse nahmen wir wahr, dass die Frei- Bildung (1866–1942) gilt unbestritten als einer der bedeu- burger Straßenumbenennungskommission expli- | tendsten Pathologen seiner Zeit. Der Platz vor zit die Empfehlung aussprach, unsere Schule an dem Friedrich-Gymnasium, Aschoff war Anwoh- einer neuen Namensfindung zu beteiligen: ner, wurde im Jahr 1950 nach ihm benannt. Tra- »Bei der Umbenennung könnte das den Platz ditionell feiern hier unsere Abiturienten alljährlich beherrschende Friedrich-Gymnasium einbezogen im Frühjahr ihre bestandenen Prüfungen, mitun- werden, etwa im Sinne eines in der Oberstufe an- Erwachsenenbildung ter nicht immer zur Freude der unmittelbaren gesiedelten historischen (Forschungs-)Projektes.« 8 | Herdermer Nachbarschaft. Ausgehend von den in die Schulgemeinschaft Als in Freiburg die 2012 gestartete Initiative getragenen Arbeiten des »Seminarkurs Dokumen-

zur Umbenennung nationalsozialistisch belasteter tarfilm« begann der Prozess, unter Einbeziehung Gemeinde | Straßennamen zum Abschluss kam, empfahl die der schulischen Gremien Schülerschaft (SMV), Historikerkommission unter der Leitung von Prof. Lehrerschaft und Direktion (Gesamtlehrerkonfe- Dr. Bernd Martin der Stadt in ihrem Abschlussbe- renz), Elternschaft (Elternbeirat) und Schulkonfe- richt 6 am 21. April 2016, auch den nach dem Pa- renz, der Stadt Freiburg auf Basis von Elenas film- thologen Ludwig Aschoff benannten Platz vor dem dokumentarischer Arbeit den Vorschlag zu unter- Friedrich-Gymnasium umzubenennen. In der Be- breiten, den ehemaligen Ludwig-Aschoff-Platz in gründung der Kommissionsempfehlung heißt es Freiburg-Herdern künftig in HEINRICH-ROSEN- Anregungen für Schule wie folgt: BERG-PLATZ umzubenennen. Mit einstimmigem Votum konnte die Schul- »Aschoff war das Bindeglied zwischen den na- gemeinschaft des Friedrich-Gymnasiums dabei mit tionalkonservativen alten Eliten und den neuen ihrer Initiative für einen Heinrich-Rosenberg-Platz Machthabern. Als Doyen der deutschen Patholo- gegenüber der Schulgemeinde und den Mitbürgern gie muss er als Wegbereiter für die Verbreitung im Freiburger Stadtteil Herdern den Wert einer völkisch-rassistischer Ideen gelten. Seine (weltwei- lebendigen Erinnerungsarbeit unterstreichen und te) geistige Beeinflussung jüngerer Kollegen steht der historischen Verantwortung einer aktiven Er- außer Frage wie seine Stützung der nationalsozia- innerungskultur gerecht werden, die aus der un- listischen Herrschaft. Hauptquelle ist der (ehema- menschlichen und widerrechtlichen Entfernung lige) Freiburger Medizinhistoriker Cay-Rüdiger ihres damaligen Mitschülers Heinrich Rosenberg Prüll mit seiner Publikation ›Ludwig Aschoff unter dem verbrecherischen Regime der Natio- (1866 –1942): Wissenschaft und Politik in Kaiser- nalsozialisten erwächst. reich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Dabei argumentierten wir gegenüber der Stadt Die Freiburger Medizinische Fakultät in der Wei- Freiburg, dass die Schülerinnen und Schüler des marer Republik und im ›Dritten Reich‹.« 7 Friedrich-Gymnasiums durch die Straßenumbenen-

6 Abschlussbericht der Kommission zur Überprüfung der 7 Stadt Freiburg: Heinrich-Rosenberg-Platz (ehemalig Ludwig- ZfBeg 1/2|2020 Freiburger Straßennamen, 2016; Anlage 2 zur DRUCKSACHE Aschoff-Platz): https://www.freiburg.de/pb/site/Freiburg/ G-16/212: https://www.freiburg.de/pb/site/Freiburg/ node/1309907/zmdetail_14786901/ get/params_E1625727966/1028363/Strassennamen_ index.html?nodeID=14786901 Abschlussbericht.pdf 8 Ebd. 94 Gregor Delvaux de Fenffe: Schule als »lieu de mémoire« | Das Freiburger Friedrich-Gymnasium am Heinrich-Rosenberg-Platz

nung im Sinne unserer Initiative vertraut gemacht Gleichwohl rief das aktive Gestalten der kon- b werden mit der Biografie eines ehemaligen Mit- kreten Erinnerungsarbeit in und vor unserer Schu- schülers, der wie sie in jungen Jahren das Fried- le nicht nur Befürworter auf den Plan. Auch das Bildung | rich-Gymnasium besuchte, in unmittelbarer Nach- ist eine signifikante Lehre für die Schülerinnen barschaft zur Schule lebte, den heutigen Aschoff- und Schüler unseres humanistisch ausgerichteten Platz und das Schulhaus frequentierte und durch Gymnasiums. Die Beschäftigung mit der eigenen das nationalsozialistische Regime um Bildungs- Geschichte ist keine Operation im luftleeren möglichkeiten, Selbstverwirklichung, schließlich Raum, hier geht es um Menschen und die Ausle- um sein Leben gebracht wurde. gung ihrer Biografien, und um die muss mitunter Erwachsenenbildung

| Der Vorschlag des Friedrich-Gymnasiums zur schmerzhaft gerungen werden. Benennung des Vorplatzes in Heinrich-Rosenberg- Platz berücksichtigt dabei zwei der erforderlichen Historikerkommission

Gemeinde Kriterien, die die Stadt zur Bedingung machte: zur Freiburger Straßenumbenennung | – einen klaren Freiburg-Bezug als gesellschaftliches Korrektiv – die Würdigung der Opfer von Verfolgung, resp. staatlicher Willkür In der Causa Aschoff/Rosenberg bedeutete dies bald eine in Leserbriefen der Badischen Zei- Der Schüler Heinrich Rosenberg hat nach Jahr- tung ausgetragene Debatte, in der hitzig um die zehnten des Verschweigens und Vergessens durch Reputation des fachlich international renommier-

Anregungen für Schule eine Mitschülerin seiner ehemaligen Schule wie- ten Pathologen Prof. Dr. Ludwig Aschoff gestrit- der Eingang in das aktive Gedenken in Herdern ten wurde und zwar interessanterweise erst weni- gefunden. Am 31. Januar 2020 hat sich der Bür- ge Wochen und Tage vor der entscheidenden Ge- gerverein Herdern e. V. uns angeschlossen und in meinderatssitzung am 3. März 2020, war doch einer an den Oberbürgermeister der Stadt Frei- die Empfehlung der Historikerkommission, den burg gerichteten Erklärung für die Unterstützung Aschoff-Platz umzubenennen bereits 2016 im Ge- des Namensvorschlages des Friedrich-Gymnasi- meinderat bestätigt worden. ums ausgesprochen. Dass sich die Debatte der Freiburger Straßen- Eine Würdigung des zu kurzen, nicht verwirk- umbenennung an der Aschoff/Rosenberg-Diskus- lichten Lebens Heinrich Rosenbergs ist ein politi- sion so entzünden würde, erinnert an die Muster sches, heimatgeschichtliches und pädagogisches der Kontroverse der Wehrmachtsausstellung von Signal gerade auch an die Gymnasiasten des Fried- Hannes Heer 9, die durch das beharrliche Ringen rich-Gymnasiums kommender Generationen und der Historiker den deutschen Topos der »Sauberen bedeutet ein unmittelbares und verantwortungs- Wehrmacht« dekonstruierte und dadurch dauer- bewusstes Aufgreifen der lokalen Zeitgeschichte haft neu bewertete. des Freiburger Stadtteils Herdern mit seinen tra- Dabei übersahen die erklärten Gegner der Platz- gischen Brüchen des 20. Jahrhunderts. neubenennung, wie auch Stadtrat Lars Petersen

ZfBeg 1/2|2020 9 Hamburger Institut für Sozialforschung; Heer, Hannes et al. 2020/03/03/strassenumbenennung-das-kollektive-vergessen- (2002): Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Ver- ist-nicht-weniger-politisch-als-das-kollektive-erinnern/ nichtungskrieges 1941-1944, Ausstellungskatalog, Hamburg. 11 Vgl. hierzu auch den Beschlussantrag des Freiburger Gemeinde- 10 Petersen, Lars (2020): Das kollektive Vergessen ist nicht rats DRUCKSACHE G-19/067, S. 2: »Die Verwaltung folgt weniger politisch als das kollektive Erinnern, Rede vor dem weiterhin dem Votum des Kommissionsberichts, das unter Freiburger Gemeinderat vom 3.3.2020. Bündnis90/Die Grünen, Berücksichtigung der wissenschaftlichen Leistung jedoch auf- Kreisverband Freiburg: https://fraktion.gruene-freiburg.de/ grund des politischen Wirkens Ludwig Aschoffs gefällt wurde.« 95

richtigstellte 10, dass die medizinischen Leistungen des Pathologen nicht geschmälert werden soll- b ten. 11 Die Hinterfragung des »Mythos Aschoff« 12 Bildung durch eine Korrektur und Neubewertung der his- Turbulente Abstimmung | torischen Deutung des Pathologen Ludwig Aschoff im Gemeinderat am 3. März 2020 aufgrund seiner Verstrickungen in seiner Epoche oblag einer wissenschaftlich hochrangig besetzten Die lautstarken Störfeuer der Freiburger AfD Historikerkommission unter dem Vorsitz von Pro- konnten im Freiburger Gemeinderat ein Abstim- fessor Dr. Bernd Martin, dem ehemaligen ge- mungsergebnis für einen Heinrich-Rosenberg- Erwachsenenbildung schäftsführenden Direktor des Historischen Platz nicht verhindern: Beinahe einstimmig vo- | Seminars der Universität Freiburg, die mit Maß und tieren die Stadträte für die Initiative des Friedrich- Um- sicht 200 von 1.300 Freiburger Straßenna- Gymnasiums, lediglich die drei Stadträte der AfD

men näher untersuchte und abschließend emp- stimmten dagegen. Gemeinde | fahl, 15 Straßennamen mit einer ergänzenden Erläuterung zu versehen. Lediglich zwölf Straßen- Epilog namen wurden, historisch fundiert und transpa- rent begründet, als nicht haltbar eingestuft; hier Die ehemaligen Geschichtslehrer des Fried- sprach sich die Expertenkommission für eine rich-Gymnasiums, Dr. Klaus Hennemann und Dr. Neubenennung aus. Torsten Gass-Bolm, kommentierten im Jahr 2004

ein damaliges »Geschichtsprojekt Stolperstein für Anregungen für Schule Dass ein solcher Eingriff in das städtische Ge- Heinrich Rosenberg« im Rahmen der 100-Jahr- meinwesen Unruhe hervorbringt, für die Anwoh- Feier des Friedrich-Gymnasiums mit folgenden ner der umbenannten Straßen und Plätze ganz Worten, die auch an dieser Stelle richtungsweisend praktische, logistische Folgen zeitigt und für mit- sind und uns nachdenklich stimmen müssen: unter heftige Debatten sorgt, liegt in der Natur der »Das Leben des Heinrich Rosenberg, das sich Sache. Es geht um nichts Geringeres als die Hin- am FG mit Sicherheit schwierig gestaltete und das terfragung und Vergewisserung unserer selbst, sich nach seinem erzwungenen Ausscheiden aus unserer städtischen, kulturellen Identität, um die der Schule noch zwei Jahre in unmittelbarer Deutungshoheit lokaler, greifbarer Geschichte. Nachbarschaft abspielte, und sein weiterer Weg Und genau hier wird das gesellschaftliche Korrek- in den Tod wurden über 60 Jahre mit Schweigen tiv einer wissenschaftlich arbeitenden Historiker- übergangen. Wir müssen also auch an die Mög- kommission sinnfällig, die der Stadt Freiburg be- lichkeit denken, dass Heinrich Rosenberg seine ratend zur Seite steht und Empfehlungen aus- Zustimmung für eine Veröffentlichung im Rah- spricht, die, lokalpolitisch umgesetzt, richtungswei- men einer Jubelfeier verweigert hätte. Wir können send für eine gelebte, identitätsstiftende Erinne- allenfalls hoffen, dass wir auch in seinem Sinne rungskultur werden. das Richtige getan haben.«

12 Trittel, Katharina (2018): Hermann Rein und die Flugmedizin. Aschoff ist ein gutes Beispiel dafür, dass ein ursprünglich aufklä- ZfBeg 1/2|2020 Erkenntnisstreben und Entgrenzung. Paderborn, S. 88. Vgl. rerisch-liberaler Impetus, aus dem heraus eben auch völkisches hierzu auch S. 91f.: »Die ideologischen, vorurteilsträchtigen und nationales Denken entstehen konnte, in Verknüpfung mit Prämissen seines politischen Denkstils hat Aschoff bei aller Be- sozialdarwinistischen Reinheits- und Volksgemeinschaftskon- mühung um selbständige Verarbeitung konkreter Situationen zepten anschlussfähig war an manche Komponente der natio- nie reflektiert und in ihrer Selbstverständlichkeit angezweifelt. nalsozialistischen Weltanschauung.« jc ZfBeg Jüdisch-Christliche

1/2 Bibellektüre | 2020 96 1 1 Rabbinisch-benediktinische Psalmen-Betrachtung Psalm 61: »NangaParbat« Jüdische ReligionundPhilosophieanderUniversität Potsdam. Prof. Dr. Dr. h.c. DanielKrochmalnik 9 8 7 Denndu, Gott 6 5 4 3 HörGott 2 Daniel Krochmalnik Gelübde vernimm meinGebet. Von David. Dem Chormeister. ZumSaitenspiel. einlösen immerfort, dabei So werdich und Treue, dasssieihnbewahren. Er throneewiglichvorGott,Güte Füg die Und denendenBesitzgegeben, Selah – in deinerFlügelSchutzmichbergen. In deinemZeltemöchtichewigweilen, warst, vordemFeindeinfesterTurm, Da duimmereineZufluchtfürmich führe mich! auf denFels,dermirzuhochist, zu dir, dameinHerzverschmachtet: Vom ich SaumederErdeherruf’ von GeschlechtaufGeschlecht. seine Jahreseinenwie deinen Namen Tage Tag für Tag , meinFlehen, gehört zu denKönigs deinen Namen , duhastauf 1 meine Gelübde und Sr. RaphaelaBrüggenthies . fürchten. ist ProfessorimFach Tagen meine besingen hinzu, 2 chael Sachsinder sohn Verfügung: dieklassischenvonMosesMendels- deutsch-jüdischer Psalmen-Übersetzungenzur geändert, wosiedaspsalmischeEchostört. wahl vonR.Philippsonhabenwirnurleichtab- eben imHerder-Verlag erschienenist.DieWort- mit UnterstützungvonKarl-HermannBlickleso- zurück, deren3.Teil, Homolka ediertenzweisprachigenBibel-Ausgabe von RüdigerLiwakrevidiertenundR.Walter inder Rabbiner LudwigPhilippson(1811–1889) große liberaleBibelwerkdesDeutschenJuden- Sangmeister. MitSaitenspiel. Konzision einesTheaterzettelszustande: ter aufdemSaitenspiel, auf Saitengerät, Cohn indersogenannten Preisungen, 1988), die genössische wie sooftungewolltkomisch: verleiher überdieTönedesGesanges, worden ist, von Ur- undZielsprache,sieübersetzt,wiegesagt immer nochdurchdiegeschmeidigeVermittlung auch wiederseparatzuhabenist,empfiehltsich H. Tur-Sinai (1937,2013). noth, sohn bleibtexotisch: man schonanderPsalm-Überschrift–Mendel- 2 Es stehenauchandereNeuausgabenälterer Wir greifenaufdiejüdischeÜbersetzungvon Thema Rüdesheim amRhein. im KonventderBenediktinerinnenabteiSt. Hildegard, Sr. Raphaela Brüggenthies Aber PhilippsonsPsalmen-Übersetzung,die (Jubiläumsausgabe 10,1) Hirsch schwelgtinEtymogeleien: moderne treu undschön 1935) unddievonEmilBernhard- von SamsonRaphaelHirsch(1882, Cohn überrascht Zunz-Bibel von MartinBuber Dem SangmeisteraufNegi- Ketuwim, DieSchriften, ist Ordensschwester nur Philippsonbringtdie Berliner Bibel zugleich. Dassieht (S. 1174),die Des Chormeisters, Außerdem solldas und vonR.Mi- mit demBeglei- Dem Sieg- (Buch der Buber ist von N. Dem zeit- schwungenen Flügelnstanden(1Kön6,24-29). 3 uneinnehmbare Turm sur (V.5) ragtjenerhoheFels und dieErhörung(V. 6-9). Indie gelsymmetrische Blöcke:dieAnrufung(V. 2-5) fach. Erzerfälltinzweinahezugleichgroße,spie- Aber nunzumPsalm. als 500englischenHolzschnittenerschienenist. die allgemeineausführlicheErläuterungmitmehr den heiligenUrtext,diedeutscheUebertragung, unter demTitel: tums angezeigtwerden,dasvon1839–1854 dem Zionwiedererkennt. man unschwerdieSymboledesGotteshausesauf nach denenderBeterschmachtetundin sen Innerstemkolossale weist aufdensalomonischenTempel hin,indes- deiner FlügelSchutz«(V.6). AuchdiesesBild ren Titel entnimmt:»Ichmöcht’michbergenin zenswunsch, demdiePhilippson-Übersetzungih- vielleicht dieMühedesAufstiegsab. trum« (H.J.Kraus)imerstenTextblock bildet Die ArchitekturdiesesPsalmsistdenkbarein- der Psalmen,Zürich;Neukirchen,S.142–144. Bildsymbolik unddasAlteTestament. AmBeispiel Vgl. Keel,Othmar(1972):DieWelt deraltorientalischen In dergenauenPsalm-MittestehtHer- Der Schriftsteller undRabbiner Ludwig Philippson. Israelitische Bibel.Enthaltend (Migdal) Cherubim 3 Das »unruhigeMe- (Zur es-sahra) , jenesZelt Selah mit ausge- -Mittelzä- (Ohel) , jener , 4 technicus: mittelt durchRut2,12–derrabbinische 61,5; 63,8;91,4).Daherkommtvielleicht–ver- druck derSchutzflehenden(Ps17,8;36,8;57,2; Der Wunsch istimPsaltereinstehender Aus- pause das Wie schweigtsichderPsalminGeneral- wird imzweitenTeil müheloserklommen.Über ersten Teil einunbezwingbarerGipfelschien,das zweiten Teil unvermittelt Wirklichkeit, wasim Freude. Was imerstenTeil Wunsch ist,wirdim ist aberderStimmungsumschwungvomLeidzur ten eingeschobenwirkt. zweiten Teil unseresPsalmserklären,dieansons- und GefährdungmagdielänglicheFürbitteim gelschattens (63,8).DiesesUmfeldvonFlucht ser« gedenktderFlüchtlingdesschützendenFlü- 63: »ImdürrenunderschöpftenLandohneWas- seinen Titel setzt,verbindetdiePsalmen61und wort »Flügel«,dasPhilippsonauchhierwiederin Sohn fliehenmusste(2Sam15,23).DasStich- wohin ervorseinemeigenenhochverräterischen »als erinderWüsteJehudawar«zugeschrieben, Königs öfterreflektiert.SowirdPsalm63David (Ps 51-72),derdiezentrifugalenErfahrungendes auf denThronamZionorientiert. klagenden LiedimerstenTextblock werdenso rung unddiezentripetaleZions-Sehnsuchtim zentrik desPsalms;diezentrifugaleExils-Erfah- (V. 7-8)imzweitenTextblock verstärktdieZion- men« fürKonversion. hören. zurückspulen unddasganzeStückvonneuem oder bahnteersichan?Wir müssennocheinmal dessen Stimmefreilichgewichtigist. der frühenrabbinischenLiteratur, Berlin,S.409–413, suchungen überdieVorstellung vonderSchekhinahin Anderer AnsichtwarArnoldM.Goldberg (1969): Unter- Der buchstäblichzentralePunktdiesesPsalms Psalm 61gehörtzumzweitenDavidpsalter Selah »unter dieFlügelder aus. GeschahderAufstiegruckartig 4 Die FürbittefürdenKönig Schechina terminus kom- 97 ZfBeg 1/2 | 2020 Jüdisch-Christliche Bibellektüre jc jc ZfBeg Jüdisch-Christliche

1/2 Bibellektüre | 2020 98 Daniel Krochmalnik/Sr. RaphaelaBrüggenthies:Psalm61–»NangaParbat« Daniel Krochmalnik/Sr. ren: Psalms lässtsichmusikalischetwasoparaphrasie- hört« zweite Textblock anhebt:»Denndu,Gott,hastge- beginnt (V.2), antwortetdieErhörung,mitder him), lisiert. DerAnrufung:»HörGott« gabe indenfarblichunterlegtenWortechos visu sammenhang desPsalmswirdinunsererWieder- de derNotwerdenandersalsinPsalm57nicht »Lausche doch!«,»Führemichdoch!«.DieGrün- ter setztdreiimperativeNotrufeab:»Höredoch!«, ancen zwischenVerstummen undSchrei.DerBe- be nichtnurvonKönigennachempfundenwerden. cherheit durchziehendieVerse, siekönnenbeilei- lorenheit undGefährdung,vonErrettungSi- Beter hineinwirkenkann.ErfahrungenvonVer- 61 gleichteinemMotivteppich,indensichder rung? Kannmansiejederzeitnachbeten?Psalm gro imzweitenvor. Wie plausibel istdieseSteige- Der antiphonischeAnrufung-Erhörung-Zu- Durchführung I6-9 II I1 Der erstePsalmteil(2-5)durchmisstKlangnu- Das AllegrettoimerstenSatzbereitetdasAlle- (Ki AtaElohimSchamata) mit demderPsalmunterÜberschrift 2-5 9 7-8 6 Andante conmoto 4-5 2-3 Largo lamentoso Intonationszeichen Name –Gelübde Presto conbrio(cantabile): Vivace: König Allegro: Gelübde–Name Allegretto: Zuflucht Grave: Flehen . DiePartiturdes (Schima Elo- a- kommt plötzlich Leben beginnt.Wie derProphetsagt:»Dann qualitative Sprungnachoben,einganzanderes ruhigung. Anfang findetindieserSpurenleseallmählichBe- Heiligtum, fürdasTempelasyl. DerAufschreiam und ZeltFlügelstehenfürSchutzrechteim tabernaculum Deicumhominibus gessen, derWohnort GottesistauchnureinZelt– sung aufZeitdenken.Abermandarfnichtver- Zelt lassenzwarwiedernuraneineprekäreLö- auf Dauer. DerGaststatusunddasbewegliche chisch amEndeist,sehntsichnachGeborgenheit Zelte« (V.5). DerBeter, derphysischundpsy- Möglichkeit: dasruhigeVerweilen in»deinem genheit amHorizontdiescheinbarunmögliche Wie eineFataMorganaprojiziertdieseVergan- wie man ein AngesichtinmittenderfeindlichenFratzen, warst« (V.4), einstarkerTurm inallenStürmen, gangenheit: »DaduimmereineZufluchtfürmich cheln ziehenauf,ZuversichtleuchtetausderVer- Feierlichkeit, Freiherrlichkeit,einüberlegenesLä- Boden unterdenFüßenverspricht. von hier!«,densteilenFelsenhinauf,derfesten sammen. IhmbleibtnurFlucht:»Nichtswieweg (V.3), derAtemschnürtsichzuStoßgebetenzu- des Abgrunds.DassonststarkeHerzisterschöpft Beter istmarginalisiert(V.3), erstehtamRande geschildert. Soviellässtsichnurentnehmen:Der »Geschlecht-zu-Geschlecht« inderzweitenPsalm- Durative: »Immer-und-ewig«, »Tag-für-Tag«, von hast gehört«,»dugegeben«.Diegehäuften der Herr«(Mal3,1).Vers 6istsichsicher:»du In derGeneralpausevollziehtsichdann Die Melodieverändertsichbereitsunterwegs: | Mipne Ojew Rabbinisch-benediktinische Betrachtungen (Pitom Jawo) wörtlich wiedergebenkann. zu seinemTempel (Ex 40,34-38), 99

hälfte stehen im scharfen Kontrast zur Erfahrung der Prekarität in der ersten Hälfte und setzen sie voraus. Jetzt kann das Psalm-Ich plausibel schlie- ßen »so werde ich besingen (…) immerfort« (V- 9). Das Geschrei des Anfangs, die lautstarken demonstrativen Rufe wandeln sich über die Stille jc zu einer Stimme, werden zu einem neuen Lied.

Reprise Bibellektüre

Psalm 61 ist auch eine wertvolle Wegzehrung im eremitischen wie im zönobitischen Mönch- tum. Wer sich für das Klosterleben entscheidet, ist wie ein religiöser Alpinist, der sich einen Acht- tausender vornimmt, einen spirituellen Nanga Zeichnung von André Frossard. Jüdisch-Christliche Parbat gleichsam. Er muss sich an die dünne Luft in der Todeszone unter dem Gipfel gewöhnen. Die Benediktusregel gibt den Gipfelstürmern lebens- sich nicht stetig, manchmal hüpfen wir nach jah- wichtige, den Psalmen 15 und 34 entnommene relanger Vorbereitung in einem Augenblick über Anweisungen. Dabei wird klar, dass der Aufstieg unüberwindlich geglaubte Hindernisse. Es ist, nicht mit einem Mal und nicht ein für alle Mal was wir im religiösen Leben den Augenblick der zu schaffen ist. Es müssen Zwischenlager ange- Gnade nennen und was sich nicht mit der Kate- legt, die Route muss abgesichert werden, die Seil- gorie der Kausalität erfassen lässt. Deshalb schaften müssen zusammenhalten. Manchmal, schweigt auch der Psalm an dieser Stelle. Insge- wenn einem in einsamen Nächten der Sturm um samt aber überspannt er die Strecke vom: »Höre die Ohren pfeift und der Frost in die Glieder zieht, Gott« (V.2) bis »meine Gelübde« (V.9). Es ist die dann bleibt nichts anderes übrig, als sich in den gleiche Strecke, die auch die Benediktusregel be- Schründen und Klüften der Felswände zu bergen. schreibt: vom »Höre, mein Sohn« (Prolog V.1: Und wie viele sind trotz aller Übung und Vorsicht obsculta) bis zum »und du wirst ankommen« abgestürzt? (73,9: pervenies). Aber wie gesagt, religiöse Alpi- Doch wie weiten sich Herz und Lunge (nicht nisten müssen auch immer wieder herunterkom- der enge Weg!), wie groß ist das »unsagbare Glück men und stehen immer wieder am Fuß des der Liebe« (Benediktusregel, Prolog 49), wenn Berges, das Ordensleben ist ein beständiges Be- man es auf den schmalen Grat der Gebote Gottes ginnen (73,8), ja der Fortschritt liegt womöglich schafft? Geistliches Leben, so lehrt der Gedanken- darin, sich auch im fortgeschrittenen Alter stets sprung in der Mitte unseres Psalms, entwickelt am Anfang zu wissen.

ZfBeg 1/2|2020 100 Daniel Krochmalnik/Sr. Raphaela Brüggenthies: Psalm 61 – »Nanga Parbat« | Rabbinisch-benediktinische Betrachtungen

Den wahren Bergsteiger zeichnet vor allem Die Bergmetaphorik ist in einer Religion, die eines aus: Demut. Der bekannte Extrembergstei- auf Bergen gipfelt – Chorew/Sinai, Zion, Karmel, ger Reinhold Messner, der nach der dramatischen Tabor – nicht weit hergeholt. Viele Mystiker ha- Besteigung des Nanga Parbat auf den Gipfeln aller ben sich dieser Metaphorik bedient, so zum Bei- vierzehn Achttausender stand, brachte es in spiel Johannes vom Kreuz in seinem Traktat vom jc einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung auf »Aufstieg zum Berge Karmel«. den Punkt: »Ich kann Ausdrücke wie ›Ich habe Zur Illustration des Psalms und des mönchi- den Berg bezwungen‹ oder ›Ich habe den Berg schen Lebens haben wir keinen der biblischen

Bibellektüre erobert‹ nicht mehr hören. Das ist Nazisprache. Berge gewählt, weil sie dem heutigen Bergsteiger […] in Wirklichkeit sind wir da oder Kinobesucher recht flach erscheinen und das oben nur geduldete Kreu- Risiko des Aufstiegs nicht mehr so recht fühlbar cher und Fleucher.« 5 machen. Doch keine Anfechtung, keine Not, kein Kampf, keine Traurigkeit, keine Todeszone blei- ben dem erspart, der diesen spirituellen Aufstieg

Jüdisch-Christliche wagt. Aber wie wird der belohnt, dem auf dem Gipfel das Licht des Reiches Gottes aufgeht?

Gipfel des Nanga Parbat/ Westhimalaya, mit 8.125 Metern der neunthöchste Berg der Erde.

ZfBeg 1/2|2020 5 Stuttgarter Zeitung Nr. 182/2008 vom 6. August 2008, S. 8. 101

Wilhelm Schwendemann 1 Meditation zu Röm 13,1-7.8-10: Vom Vertrauen und der Toraherfüllung

1 Einleitung Alltagsverhaltens von Christen und Christinnen.7 Der Kontext und die Rahmung der Perikope durch Der ausgewählte Abschnitt aus dem Römer- 12,1 und 13,14 definiert den Zugang zu Röm brief Röm13,1-7.8-10 gehört in den vierten Haupt- 13,8-10, sodass sowohl Röm 13,1-7 als auch Röm teil des Römerbriefs 2 und dieser lässt sich unter die 13,8-14 in einem interpretatorischen Gefälle zu- Überschrift Ermutigung fassen. 3 Insgesamt geht es einander und zu Röm 12 stehen. jc in den Kapiteln 12 und 13 um das angemessene und selbstreflexive Verhalten und Auftreten der großen Aufbrüchen vorausgegangen. Dies ist kein Zufall: Paulus legt hier wie in keinem anderen Brief eine dichte und überlegte Christinnen und Christen im Privaten, in der Ge- Rechenschaft über sein Verständnis des Evangeliums ab. Ob- Bibellektüre schon es sich deutlich um einen Brief handelt, lässt sich dieses meinde, in der Öffentlichkeit, im römischen Staats- Schreiben zugleich als systematisch angelegter Entwurf einer gebilde. frühchristlichen Theologie lesen. Aus diesem Grund steht diese Schrift auch am Anfang der Briefsammlung innerhalb des neu- In der protestantischen Tradition sind seit Mar- testamentlichen Kanons. tin Luther die Verse 1-7 in Kapitel 13 heftig um- Die konzentrierte Gedankenarbeit, die den Brief an die Römer auszeichnet, hat ihren Grund und Anlass: Paulus schreibt an stritten und die Verse 8-10 etwas verloren gegan- eine nicht von ihm gegründete Gemeinde, die er auch noch nie

besucht hat (Röm 1,13), und will so eine Ausgangsbasis für die Jüdisch-Christliche gen; nach dem Zweiten Weltkrieg wurden der von ihm geplante Mission in der westlichen Mittelmeerwelt Missbrauch und die Instrumentalisierung dieser schaffen (Röm 15,22-24). Mit seiner ausführlichen Darstellung des Evangeliums, in der er auch die Kritik an seiner Verkündi- Verse (V 1-7) durch die jeweiligen Machthaber gung und seiner Heidenmission entschieden zurückweist, sucht deutlich (zum Beispiel deutsches Kaiserreich; Na- er das Einverständnis der römischen Christen. tionalsozialismus).4 Aus diesem Abschnitt lässt Text aus der BasisBibel (eine moderne Bibelübersetzung, die es auch in verschiedenen digitalen Versionen gibt): sich je nach politischer Perspektive ein staatskri- 1 Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn tisches oder auch ein staatstragendes Verständnis hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. des Verhältnisses Staat – Kirche ableiten. Für ihre 2 Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt politische Ideologie nahmen auch die Deutschen Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen. Christen im Nationalsozialismus Röm 13 in An- 3 Denn die Gewalt haben, muss man nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht spruch, was dann antisemitisch und menschen- fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, dann wirst du Lob feindlich aufgeladen wurde.5 von ihr erhalten. 4 Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, Grundsätzlich bleibt jedoch – auch für heutige so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst. Lesende – aus Röm 12,16-19 die Aufforderung, Sie ist Gottes Dienerin und vollzieht die Strafe an dem, der Böses tut. die auch für Röm 13 noch gilt: »Werdet nicht ein- 5 Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. gebildet und selbstgerecht, indem ihr niemandem 6 Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, Böses mit Bösem vergeltet, auf Gutes bedacht auf diesen Dienst beständig bedacht. 7 So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die seid vor den Menschen, soweit es an euch liegt Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die nach Möglichkeit, mit allen Menschen Frieden Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt. 8 Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch unter- haltet, ohne euch selbst zu rächen, Geliebte!« 6 einander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Das ist auf jeden Fall, nach den Erfahrungen in 9 Denn was da gesagt ist (Ex 20,13-17): »Du sollst nicht Korinth, von Paulus antienthusiastisch gemeint ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, und zielt auf eine grundsätzliche Änderung des das wird in diesem Wort zusammengefasst (Lev): »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die ZfBeg 1/2|2020 1 Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann ist Professor für Evange- Liebe des Gesetzes Erfüllung. lische Theologie, Religionspädagogik und Schulpädagogik an 3 Vgl. Baumert, Norbert (2012): Christus – Hochform von der Evangelischen Hochschule Freiburg. Er ist einer der Heraus- ›Gesetz‹. Übersetzung und Auslegung des Römerbriefs, geber und Schriftleiter der ZfBeg. Würzburg, S. 413. 2 In der Einleitung der Zürcher Bibel heißt es zum Römerbrief: 4 Vgl. Käsemann, Ernst (1980): An die Römer, Tübingen, S. 338. In der Geschichte der christlichen Theologie spielt der Brief an 5 Vgl. Scholder, Klaus (2000): Die Kirchen und das Dritte Reich, die Römer eine bedeutende Rolle: Immer wieder ist die erneute Bd. 2., Das Jahr der Ernüchterung 1934; Barmen und Rom, und vertiefte Auseinandersetzung mit gerade diesem Buch des München. Neuen Testaments (bei Augustin, bei Luther, bei Karl Barth) 6 Baumert, Norbert (2012): Christus, S. 259. 102 Wilhelm Schwendemann: Meditation zu Röm 13,1-7.8-10 – Vom Vertrauen und der Torah erfüllung

2 Inhalt des Abschnitts Röm 13,1-7 so Diener Gottes bleibt.14 Ein Diener Gottes ist immer zugleich auch Diener am Gemeinwesen, Paulus schreibt in diesem Teil des Römerbriefs d.h. dient der Öffentlichkeit. Ernst Käsemann keine Abhandlung über die Pólis, sondern er lebt spricht in diesem Zusammenhang vom »christli- im Imperium Romanum, das zu seiner Zeit als dik- chen Gottesdienst im Alltag der Welt«. 15 jc tatorisches und tyrannisches Kaisertum auftrat.8 Röm 13,17 lässt sich also durchaus in der Per- Israel bzw. Palästina wird von einer antiken Groß- spektive gesellschaftlicher Diakonie aufgrund des macht gebunden – Paulus indes denkt an den ein- Glaubens verstehen und gerade nicht als unbe-

Bibellektüre zelnen Menschen, der sich einer staatlichen Insti- dingtes Gehorsamsverhältnis.16 Die Verse 1-7 qua- tution zuordnen muss; es geht um die Umwand- lifizieren also eine ethische Verantwortung für das lung des Einzelnen (Röm 12,2), Beziehungen in Gemeinwesen, das aus dem Vertrauen zu Gott er- der Gemeinde (12,3-8), persönliche Beziehungen wächst.17 (12,9-13), Beziehungen in der Gesellschaft (12, 14-21) und in 13,1-7 um die Beziehung zum 3 Folgerungen in Röm 13,8-10

Jüdisch-Christliche Staat. Auch wenn Paulus beim einzelnen Men- schen ansetzt, so sind für ihn doch die kooperati- Die Liebe fließt aus dem Geschenk des Heili- ven Größen wie Familie, Gruppe, Gemeinde, Staat gen Geistes (Röm 5,5) – »opheilete« (= schulden ausschlaggebend. Zuordnen meint hierbei nicht V8a) muss deswegen indikativisch übersetzt wer- blindes Unterordnen, keine blinde Gefolgschaft den, denn die Liebe gegenüber seinem Nächsten unter autoritären Bedingungen.9 anzuordnen, wäre m.E. widersinnig: »Nieman- Darüber besteht jedoch die Autorität Gottes. dem nichts schuldet ihr, wenn nicht das Lieben«18 Was es für den Einzelnen bedeutet, wenn der bedeutet eine Beziehungsqualität allen Menschen Staat seine Grenzen überschreitet, diskutiert Pau- gegenüber, aber: »Jedes Gebot gilt für die jewei- lus an dieser Stelle nicht und muss offen bleiben. lige Situation; in der Beziehung zu diesem Men- Seine Intention ist: »Die Herrschenden sollen das schen in dieser Situation fordert die Liebe dies Gute fördern und das Böse bekämpfen«.10 Aber und jenes – nichts Unmögliches und nicht immer nur, wenn der Staat genau dieses Ziel verfolgt, noch mehr.«19 Wenn man den Text aus Röm 13 bleibt er auch im Dienst Gottes.11 Die faktische als imperativische Aufforderung liest, kommt man Autorität der staatlichen Ordnung wird von Pau- in eine Schuldspirale und aus dieser nicht mehr lus also nicht per se erhoben und zugesprochen, heraus – denn man bleibt immer jemandem sondern an eine bestimmte Funktion und damit etwas schuldig. Man dürfe und könne sich nicht auch Wesensbestimmung zurückgebunden. dem Alltag entziehen, so Ernst Käsemann, weil Der griechische Begriff Syneidesis (= Gewis- man dort dem Willen Gottes begegne.20 sen 12)(V.5) meint aber auch das Selbstwertgefühl Liebe bleibt immer konkret als Aufgabe beste- und die Selbstbestimmung 13 des Glaubenden, der hen – zurück bleibt kein schlechtes Gewissen aufgrund seiner Freiheit auch Steuern zahlt und oder gar eine Liebesschuld, wie die V8ff oft miss-

ZfBeg 1/2|2020 7 Vgl. Käsemann, Ernst (1980): An die Römer, S. 339. 13 Vgl. ThWNT (1064) VII, S. 916. 8 Vgl. Erlemann, Kurt; Noethlichs, Karl Leo (Hg.) (2011): 14 Vgl. Baumert, Norbert (2012): Christus., S. 266. Neues Testament und antike Kultur, Bd. 1, Neukirchen-Vluyn, 15 Käsemann, Ernst (1980): An die Römer, S. 340. S. 22ff. und Baumert, Norbert (2012): Christus, S. 263. 16 Ebd S. 339. 9 Vgl. Baumert, Norbert (2012): Christus, S. 264. 17 Vgl. Baumert, Norbert (2012): Christus, S. 267. 10 Ebd S. 264. 18 Ebd. S. 268. 11 Ebd. 19 Ebd. S. 268. 12 Luther 2017 übersetzt mit Gewissen, ebenso die BasisBibel 20 Käsemann, Ernst (1980): An die Römer, S. 347. oder auch die Einheitsübersetzung 2016; vgl. ThWNT (1964) VII, S. 897– 918, bes. S. 903– 905 und 912– 917. 103

verstanden werden. Die Liebe ist der Maßstab freuen, sich mit Gottes Volk zusammen zu freuen.24 dessen, was zu tun ist, was von Gott geboten ist. Erfüllung (Pleroma V.10) wird von Wengst deswe- Das Lieben erfüllt das Gesetz oder besser die gen auch mit Summe der Torah übersetzt, Bau- Torah 21 (vgl. Mt 22,36ff). Paulus meint seine mert bleibt beim Begriff Erfüllung der Torah. Mahnung aber als Aussage: Allen schuldet Ihr nur Lieben ist aber in beiden Kommentaren das in der konkreten Situation das Einander-Lieben, »Gesetz« tun im Sinn des jüdisch und nicht hel- jc das Einander-Achten und -Akzeptieren: Wenn du lenistisch denkenden Paulus. Die Gemeinde in also liebst und dann tust, was die Liebe dir sagt, Rom war für Paulus kein esoterischer Club 25, und dann erfüllst du Gottes Gebot. das Liebeshandeln als Summe/Erfüllung der Torah Bibellektüre ist bereits bei Hillel mit der Antwort auf die Frage, 4 Interpretation auf welchen Nenner sich die Einzelgebote der Torah bringen ließen, belegt. 26 Dieser Bibelab- Die Liebe wirkt für den Nächsten nichts schnitt aus dem Römerbrief hat also ganz gewiss Schlechtes oder Böses. Paulus diskutiert also in sei- mit dem Zentrum des Christentums, mit der Got- nem Abschnitt die Gebote des zwischenmensch- tesbeziehung, zu tun und rekurriert dabei auf das Jüdisch-Christliche lichen Lebens, die wir aus den Zehn Geboten oder jüdische Grundverständnis von Vertrauen und To- aus dem Abschnitt der Nächstenliebe in Lev 19 rahobservanz. kennen. Und noch einmal: Wer liebt und danach handelt, trifft den Kern der Torah, der guten Wei- 5 Konsequenzen in heutiger Zeit sung des Solidarrechtes, denn in der Liebe sind alle konkreten Liebespflichten gegenüber den Mit- Der Abschnitt aus demRömerbrief steht auch menschen enthalten. Wer sich in zwischenmensch- als Predigttext im Auftakt des christlichen Kir- lichen Beziehungen von der grundsätzlichen Liebe chenjahres im Advent. Liturgisch bleibt der Text Gottes zum Menschen als Beziehungsraum der auf Jes 64 bezogen. 27 In unserer Zeit bekommt Freiheit leiten lässt, der erfüllt bereits die Gebote der Abschnitt aus dem Römerbrief die Intention der zweiten Dekalogtafel und die Liebe wirkt des Widerstehens gegen gesellschaftliche Miss- nichts Böses: »Wenn jemand dich für seine Ziele stände, wenn es zum Beispiel um Gewinnmaximie- missbrauchen will, dann erfordert die Liebe gera- rung auf Kosten der Schwachen geht oder um sog. de, dass du darauf nicht eingehst.« 22 Hass-Reden im Internet, wenn Mitmenschen öffent- Wer liebt, erfüllt das Gesetz – wer nicht liebt, lich diskriminiert und beschämt werden, was wie- verstößt gegen es. Paulus geht es hier also um derum inkommensurabel mit einer christlichen, eine torahgemäße Norm zwischenmenschlichen dem Mitmenschen zugewandten Haltung ist. Handelns und Begegnens aus dem geschenkten Über Hass-Reden lässt sich Folgendes sagen: Geist heraus: »Die Liebe ist Erfüllung … von Ge- »Unter einer Hate Speech [Hass-Rede] versteht setz«. 23 Klaus Wengst fordert in seinem Kommen- man zumeist verbale Angriffe auf Personen oder tar zur Stelle die Heiden, die Völker auf, sich zu Gruppen aufgrund bestimmter Attribute wie

21 Vgl. ThWNT IV, S. 1069, 15. 26 Vgl. Strack, Hermann L.; Billerbeck, Paul (1986): Kommentar ZfBeg 1/2|2020 22 Baumert, Norbert (2012): Christus S. 271. zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 1., 23 Ebd. S. 271. Das Evangelium nach Matthäus: erläutert aus Talmud und 24 Vgl. Wengst, Klaus (2008): »Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Midrasch, München, S. 357ff; Ders. (1979): Bd. 3, Die Briefe Volk!«: Israel und die Völker als Thema des Paulus – ein Gang des Neuen Testaments und die Offenbarung, München, S. 306; durch den Römerbrief, Stuttgart, S. 400. vgl. auch Dtn 5,17-19.21 LXX und Lev 19,18. 25 Käsemann, Ernst (1980): An die Römer, S. 312. 27 V 2: wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten, und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! 104 Wilhelm Schwendemann: Meditation zu Röm 13,1-7.8-10 – Vom Vertrauen und der Torah erfüllung

kleinen und gemeinen Techniken der Exklusion in Gesten und Gewohnheiten, Praktiken und Überzeugungen, dafür sind alle in der Gesell- schaft zuständig. Den Hassenden den Raum zu nehmen, sich ihr Objekt passgenau zuzurichten, jc dafür sind wir alle als Zivilgesellschaft zuständig. Carolin Emcke auf der LitCologne 2019. Das lässt sich nicht delegieren. Denen beizu- stehen, die bedroht sind, weil sie anders ausse-

Bibellektüre hen, anders denken, anders glauben oder anders Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orien- lieben, verlangt nicht viel. Es sind Kleinigkeiten, tierung, Weltanschauung oder Religion. Hate die den Unterschied ausmachen können und die Speech [Hass-Rede] begegnet einem online häufig den sozialen und diskursiven Raum für diejenigen in Sozialen Medien. Hass wird dabei gegen be- öffnen, die aus ihm vertrieben werden sollen. stimmte Personen oder Gruppen in Form von Vielleicht ist der wichtigste Gestus gegen den

Jüdisch-Christliche Kommentaren, Beiträgen, … oder Videos verbrei- Hass: sich nicht vereinzeln zu lassen. Sich nicht tet. [Die Hass-Rede] Hate Speech missachtet die in die Stille, ins Private, ins Geschützte des eige- Würde von Personen, diffamiert diese, grenzt sie nen Refugiums oder Milieus drängen zu lassen. aus und kann in einer Spirale aus sich verstärken- Vielleicht ist die wichtigste Bewegung die aus sich dem Hass Gewalt provozieren. Dabei gibt es un- heraus. Auf die anderen zu. Um mit ihnen ge- terschiedliche Ausprägungen wie politischer oder meinsam wieder die sozialen und öffentlichen religiöser Extremismus.« 28 Räume zu öffnen.« 29 Paulus insistiert mit den Kapiteln 12 und 13 Paulus redet in diesem Bibelabschnitt gegen darauf, dass die Würde des Menschen unhassbar den Selbstbezug des Menschen und verweist auf bleibt. Carolin Emcke erhielt 2016 mit ihrem eine radikale Sinnesänderung in der Vertrauens- Buch Gegen den Hass den Friedenspreis des Deut- beziehung zu Gott und, dass Menschen ihre Le- schen Buchhandels. Sie macht darin klar, dass benseinstellungen überprüfen und auch befähigt Hassreden die Grundlagen unserer Gesellschaft sind, sie zu überprüfen. Diese Aufforderung galt bedrohen, weil sie Solidarität, Vielfalt und Dialog nicht nur an die Gemeinde in Rom in biblischer in Frage stellen; also das, was das Leben lebens- Zeit, sondern sie spricht auch den gegenwärtigen wert macht, wird durch Hass-Reden massiv be- Rezipierenden des Textes an: droht. Sie schreibt dazu: »Den Hass nicht erst ab Wie gewinnen wir in einer scheinbar unüber- dem Moment zu betrachten, wo er sich blindwü- sichtlichen Welt Freiheit zurück, ohne sie auf tig entlädt, eröffnet andere Handlungsoptionen: Kosten anderer zu leben? Wie können wir uns als Für bestimmte Formen des Hasses sind Staatsan- liebende Menschen begegnen? waltschaft und Polizei zuständig. Aber für die For- Das mögen ganz gewiss naive Fragen sein, sie men der Ausgrenzung und Eingrenzung, für die berühren aber m. E. wesentlich das Christsein.

ZfBeg 1/2|2020 28 Online verfügbar unter: https://www.schau-hin.info/ 29 Emcke, Carolin (2016): Gegen den Hass, sicherheit-risiken/hate-speech-was-ist-das. Frankfurt am Main, S.19f. 105

Felizitas Küble 1 Einzigartig in der Geschichte Europas: 2.600 Jahre Freundschaft zwischen Georgiern und Juden Interview mit Dr. Moisei Boroda 2

Allgemeine Einführung Unlängst hat die georgische Regierung diesem Phänomen den Status eines immateriellen Kultur- Das Land Georgien gehört zu den touristisch erbes verliehen. Es ist zu erwarten, dass auch die attraktivsten Orten der Welt – nicht nur wegen der UNESCO, die bereits das georgische Alphabet Schönheit und sagenhaften Vielfalt seiner Natur, sowie den georgischen traditionellen Weinausbau sondern auch aufgrund seiner uralten Kultur. Zur als immaterielles Kulturerbe der Menschheit ein- Einzigartigkeit dieser Kultur gehören auch die seit gestuft hat, den singulären, über Jahrhunderte be- Jahrhunderten bestehenden friedlichen Beziehun- stehenden friedlichen Beziehungen zwischen in Judentum und Christentum gen zwischen Georgiern und Juden. Georgiern und Juden denselben Status verleihen p wird. Allerdings ist dieses kulturelle Phänomen im Ausland, insbesondere in Deutschland kaum – wenn überhaupt – bekannt.

Interview Persönlichkeiten

Dr. phil. Moisei Boroda Felizitas Küble (F.K.): Betrachtet man das »ge- Geb. 1947 in , Georgien. Musikwissenschaft- orgische Phänomen« im Lichte der Geschichte ler, Komponist, Schriftsteller. 1965–1971 Studium europäischer Juden, so fragt man sich, weshalb am Konservatorium in Tbilisi. 1989 Internationales ist den Georgiern – im Unterschied zu anderen Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt- Stiftung für die Erforschung der Beziehungen zwi- europäischen Ländern – ein solch gutes Einver- schen Sprache und Musik. Seit 1989 in Deutschland. nehmen mit den Juden gelungen? Autor von über 60 wissenschaftlichen Abhandlungen. Sie, Herr Dr. Boroda, kennen als gebürtiger Literarische Werke: Erzählungen in russisch, deutsch und georgisch; Gedichte in russisch und deutsch, Georgier die Verhältnisse aus erster Hand. Bis zu englische Übersetzungen aus italienischen und geor- Ihrer Ausreise nach Deutschland als Stipendiat gischen Veröffentlichungen in Deutschland, Israel, der Alexander-von-Humboldt-Stiftung lebten Sie USA, Georgien, Russland etc. Interessenvertreter des Georgischen Schriftsteller- bzw. Komponisten- in Georgien, so dass Sie genug Zeit hatten, um verbandes in Deutschland sowie der International »die Materie in vivo« zu beobachten. Seit wann Guild of Writers in Georgien; Mitglied der deutsch- leben Juden in Georgien? sprachigen Literaturgruppe »Bochumer Literaten«. Musik: Kammermusik (insbesondere jüdische) für Dr. Boroda: Die erste kompakte Ansiedlung verschiedene Instrumente, Vokalmusik zu den Ge- von Juden in Georgien geht auf das Jahr 576 v. dichten jüdischer, deutscher, russischer, georgischer Chr. zurück, als der babylonische Herrscher Ne- Dichter. Aufführungen, Hörfunksendungen in ver- schiedenen Ländern. Vorsitzender des DTKV-Bezirks- bukadnezar II. Jerusalem eroberte und mehrere verbandes (= Deutscher Tonkünstlerverband). tausend Einwohner von Judäa nach Babylon ver- Botschafter georgischer Kultur (2016, Ehrentitel). schleppen ließ. Ein Teil der im Lande gebliebenen Akaki-Tsereteli-Literaturpreis des Georgischen Schrift- stellerverbandes (2018). Ehrendiplom der »Gesell- Judäer verließ das Land; auf der Suche nach einem schaft für die Renaissance jüdischer Kultur« (2018). sicheren Siedlungsort gelangten sie nach Geor-

1 Felizitas Küble ist katholische Journalistin und Vorsitzende ZfBeg 1/2|2020 des Christoferuswerks. Hauptamtlich leitet sie den Komm-Mit- Verlag und die Versandbuchhandlung Junge Welt in Münster. 2 Dr. phil. Moisei Boroda, SAP-Dozent, Schriftsteller, Komponist und Musikwissenschaftler – siehe Infokasten. Siehe auch seinen Beitrag im ZfBeg 1/2019, S. 114 –120. 106 Felizitas Küble: 2.600 Jahre Freundschaft zwischen Georgiern und Juden | Interview mit Dr. Moisei Boroda

gien, in die Region Mzcheta 3. Sie baten den da- von Antisemitismus frei. Keine Zwangstaufen, ganz maligen Herrscher um die Niederlassungserlaub- zu schweigen von der Parole »Taufe oder Tod«. nis. Diese wurde erteilt. So entstand in Georgien F.K.: Im Jahre 1801 wurde Georgien von Russ- die erste jüdische Kolonie. Allerdings, wie einer land annektiert. Hat sich dadurch die Lage der der führenden Kenner der Geschichte georgischer georgischen Juden geändert? Juden, der Direktor des Jüdischen Museums in Dr. Boroda: Zunächst nicht. Die georgischen Tiflis 4, der Historiker, Archäologe und Ethnologe Intellektuellen betrachteten die in Georgien leben- Prof. Givi Gambaschidze, bemerkt: »Die Kommu- den Juden als Teil der georgischen Nation. Erst in Judentum und Christentum p nikation zwischen dem Kaukasus und Palästina … 1878 entstand die sog. Kutaisser Affäre: Zehn begann sogar in der Bronzezeit. Als Beweise dafür Juden aus einem Dorf im Kutaisser Government gelten Sprache und Denkmäler materieller Kul- wurden beschuldigt, ein kleines Mädchen ver- tur. 5« Es gibt aus dieser Zeit keine Überlieferung schleppt und rituell für das Pessach-Fest ermordet über Konflikte zwischen Juden und der einheimi- zu haben. Im Gerichtsverfahren ließ die Verteidi-

Persönlichkeiten schen Bevölkerung. gung von den Anschuldigungen kein Stück übrig F.K.: Haben sich die georgischen Juden im und verwies eindeutig auf den antisemitischen Laufe der Zeit sprachlich und religiös angepasst? Hintergrund der Affäre. Die angeklagten Juden Dr. Boroda: Sprachlich ja und nein. Es entstand wurden freigesprochen. Es entstand kein Pogrom, eine judäo-georgische Sprache, die sogenannte und der ganze Fall wurde bald vergessen. Dieser Qiwruli – eine Kombination aus Georgisch und Vorgang (wie auch einige spätere Provokationen) Hebräisch, zum Teil auch Aramäisch, wobei Geor- kann als Ergebnis des »aus Russland importierten gisch den überwiegenden Teil ausmachte. Aber: Antisemitismus« verstanden werden. Seit mehreren Jahrzehnten sprechen die georgi- F.K.: 1921 hat Sowjetrussland die 1918 gegrün- schen Juden ein gutes, die Intellektuellen ein hoch- dete Demokratische Republik Georgien überfal- gepflegtes Georgisch. len, das Land wurde Teil der UdSSR. Welchen Anders verlief es mit der Religion. Auch heute Einfluss hatte diese Entwicklung auf das Schick- halten die georgischen Juden das mosaische Ge- sal georgischer Juden? setz und die mit der jüdischen Religion verbunde- Dr. Boroda: Zunächst keinen. Die neuen nen Riten und Bräuche. Oft konnte ich in Geor- Machthaber hatten erst einmal andere Aufgaben: gien den Satz hören: »In Kulaschi betet man wie Es musste die Oberschicht bekämpft sowie die vor zweitausend Jahren.« 6 Autorität der Kirche zerschlagen werden. Mit dem F.K.: Wie entwickelten sich die Beziehungen Aufstieg der Terrorwelle in den 30er Jahren kam zwischen Georgiern und Juden weiter? die jüdische Religion, vor allem der Zionismus, an Dr. Boroda: Die Informationen über das Mit- die Reihe. Die führenden Persönlichkeiten wur- telalter sind spärlich. Einigen Überlieferungen zu- den verfolgt – zum Beispiel David Baazov, der folge gab es einzelne Juden am Hof der Königin flammende Verfechter der Erhaltung jüdischer Tamar. 7 Die spätere Feudalzeit war, soweit bekannt, Kultur und ebenso begeisterter Zionist, wurde mit

ZfBeg 1/2|2020 3 Die Region Mzcheta wurde bereits in der frühen und mittleren 5 Vgl. Interview mit Prof. Givi Ghambashidze. Novyj Renesans, Bronzezeit (BC III – II. Jahrtausend v. Chr.) bewohnt. In der Zeitschrift der Internationalen Schriftstellergilde, 2, 2017, späten Bronze- und frühen Eisenzeit (II – I. Jahrtausend v. Chr.) S. 29 – 33. war diese Region dicht besiedelt. 6 Ort der kompaktesten Ansiedlung georgischer Juden. 4 Vollständige Bezeichnung: David Baasov Museum of the 7 Vgl. Ajiashvili, Simon Jemal. Juden und Georgier, in: History of the Jews of and the Georgian-Jewish Shalom Le Magazine Juif Européen, online verfügbar unter: Relations (https://www.facebook.com/jewishgeo). http://www.shalom-magazine.com/Print.php?id=480220. 107

einer Gruppe seiner Mitstreiter verhaftet und zu- berichtet Prof. Givi Gambashidze, Direktor des nächst zum Tode verurteilt (später wurde das Ur- Museums, in einem Interview. 8 teil in Verbannung nach Sibirien verändert). Sein F.K.: Die Jahre unter Breschnew und späteren Sohn, der bekannte Schriftsteller Herzel Baazov, sowjetischen »Führern« bis hin zu Gorbatschow wurde hingerichtet. waren u.a. durch eine zunehmende Feindschaft F.K.: Kann man also sagen, der Antisemitismus gegenüber Israel und dem Zionismus gekenn- hat Georgien durch die kommunistische Herr- zeichnet – eine Feindschaft, die im Laufe der Zeit schaft doch noch »angesteckt«? offene antijüdische Züge annahm. Soweit im in Judentum und Christentum Dr. Boroda: Nein. Der Terror traf die Georgier Westen bekannt, wurde jüdischen Abiturienten p noch härter – schon zahlenmäßig. Sein Ziel war die Aufnahme in die Prestige-Hochschulen unter der Aufbau eines Sklavenstaates, in dem die Men- allerlei Vorwänden verweigert. Wie stand es da- schen »treu und zuverlässig arbeiten« mussten. mit in Georgien? Jeder sollte sich in diesem »Paradies« glücklich Dr. Boroda: Nichts dergleichen. Ich kann dies

zeigen und nicht etwa an Flucht denken. Der Zio- aus allernächster Nähe beurteilen – aus meiner Persönlichkeiten nismus mit seinem Appell zur Auswanderung eigenen Erfahrung. Bei meinen jüdischen Freunden nach Israel war daher der Erzfeind. Die georgi- war es dasselbe. Als der Sechstagekrieg (in dem schen Machthaber mussten Moskaus Anweisun- die UdSSR die arabischen Staaten mit Waffen etc. gen befolgen. gegen Israel unterstützte) mit einer vernichtenden Als 1948 der israelische Staat gegründet wur- Niederlage der Araber endete, entstand in der de und wider Stalins Erwartung nicht in die Fuß- UdSSR eine hysterische antizionistische Welle mit stapfen der UdSSR treten wollte, wurde in der üblichen Ausbrüchen der Empörung – ganz nach UdSSR eine beispiellose antisemitische Kampagne Orwell. Nicht aber in Georgien. Ich erinnere gestartet. Die Juden wurden als wurzellose Kosmo- mich an die Aussagen: »Bravo, Israel!« und der- politen, zionistische Agenten und Agenten des gleichen, die ich auch von meinen Professoren zu amerikanischen Imperialismus beschimpft, die hören bekam. führenden Vertreter der intellektuellen Elite – An dieser Stelle sei eine Erinnerung von Prof. Schriftsteller, Dichter, Schauspieler – wurden ver- Givi Gambaschidze zur Gründung Israels zitiert: haftet und später erschossen. An einigen Orten »Ich war damals acht Jahre alt. Ich erinnere mich Russlands und der Ukraine kam es zu Pogromen. an Opas Freude, als er in einer Zeitung las, dass Die georgische Gesellschaft reagierte auf die Maß- Israel gegründet wurde. Er erzählte das allen in nahmen mit Bestürzung und Sympathie gegen- unserer Familie und sagte dabei: Endlich gibt es über den Betroffenen. »Als der Befehl aus Mos- auf dem historischen Boden Israels einen jüdischen kau kam, das jüdische Museum in Tiflis zu schlie- Staat. Diese seine Freude prägte sich mir für im- ßen, haben die georgischen Wissenschaftler dafür mer ein.« gesorgt, dass die Artefakte nicht verschollen, son- F.K.: Und wie ging es in den nächsten Jahr- dern an verschiedene Museen verteilt werden«, zehnten weiter?

8 Vgl. Interview mit Prof. Givi Ghambashidze. Novyj Renesans, ZfBeg 1/2|2020 Zeitschrift der Internationalen Schriftstellergilde, 2, 2017, S. 29 – 33. 108 Felizitas Küble: 2.600 Jahre Freundschaft zwischen Georgiern und Juden | Interview mit Dr. Moisei Boroda

Dr. Boroda: Moskaus antiisraelische Politik Dr. Boroda: Erstens bildete die kleine jüdische wurde fortgesetzt. Keine diplomatischen Bezie- Kolonie keine Konkurrenz zur einheimischen Be- hungen mit Israel. Auf Initiative des bekannten Er- völkerung. Ja, sogar mehr als das: Diese Kolonie forschers jüdischer Kultur, Prof. Schalva Tsitsu- hat sich in das Leben der Einheimischen integriert aschvili, und des Archäologen, Historikers und und im Laufe der Zeit am Aufbau von Mzcheta Ethnologen Prof. Givi Gambaschidze wird 1988 am teilgenommen. Präsidium der georgischen Akademie der Wissen- Zweitens: Das Bedürfnis (sowie die Fähigkeit), schaften die Assoziation für die Erforschung ge- mit einem Fremden freundschaftliche Beziehun- in Judentum und Christentum p orgisch-jüdischer Beziehungen gegründet. Prof. gen zu pflegen, ist eine der wichtigsten Eigen- Gambaschidze wurde ihr Leiter. schaften der georgischen Mentalität. Ein Symbol Die Idee wurde von Eduard Shevardnadze, für diese Einstellung sehe ich darin, dass die dem damaligen Chef der georgischen KP, unter- Sioni-Kathedrale in Tiflis (bis 2004 der Sitz des stützt. 1992, auf Initiative dieser Assoziation, wur- Katholikos-Patriarchen der Georgisch-Orthodo-

Persönlichkeiten de das 1952 auf Stalins Befehl geschlossene histo- xen Apostelkirche), die Synagoge und die Moschee risch-ethnographische Museum jüdischer Kultur sich jeweils in unmittelbarer Nähe zueinander be- unter der Leitung von Prof. Schalva Tsitsuaschvili finden. wiedereröffnet; mit dessen Ausreise nach Israel Drittens: Die Einstellung der georgischen Apos- wurde dann Prof. Givi Gambaschidze Museums- telkirche zum Judentum war stets positiv. Zum direktor. einen, weil Georgien das Christentum aus den 2014 wurde das baufällige Gebäude des Mu- Händen der Apostel – Andreas, Simon Zelotes und seums dank der finanziellen Unterstützung des Matthias – erhielt, zu einer Zeit, als der christli- Milliardärs Bidzina Ivanischvili restauriert; eine che Antijudaismus noch nicht aufgeflammt war. wichtige Rolle spielte dabei die freundliche Hilfe Zum anderen waren es einige georgische Juden, von Jamlet Xuxashvili, einer bekannten Persön- die sich als erste im Lande zum Christentum be- lichkeit in Georgien. In einer feierlichen Zeremo- kehrten. nie wurde die 2.600 Jahre andauernde Freund- So sehen die meines Erachtens wichtigsten schaft zwischen Georgiern und Juden gewürdigt. Gründe aus, weshalb sich die georgisch-jüdische Soweit die Kurzgeschichte der georgisch-jüdi- Freundschaft, die brüderliche Einstellung zuei- schen Beziehungen. nander über Jahrhunderte halten ließ. Auch heu- F.K.: Nun kommen wir zu einer Frage, die sich te, nachdem viele georgische Juden nach Israel schon lange aufdrängt: »Warum?« auswanderten, sind kulturelle und politische Kon- Weshalb waren und sind die Beziehungen takte zwischen Georgien und dem jüdischen Staat zwischen Georgiern und Juden so einmalig? eng. Es ist zu hoffen, dass dies trotz aller Turbu- 2.600 Jahre Freundschaft, keine Auseinanderset- lenzen auch in Zukunft so bleiben wird. zung, ganz zu schweigen von Pogromen – er- F.K.: Vielen Dank für das Interview. staunlich! Dr. Boroda: Besten Dank meinerseits.

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Moisei Boroda Die Antwort Erzählung

Vor sechs Jahrhunderten lebte in Spanien, in ling an die Stadtwächter ausliefern. Wird das nicht der Stadt Saragossa, ein großer Thorakenner, Ober- getan, dann werden alle Juden aus der Stadt ver- haupt der jüdischen Gemeinde und ihr oberster trieben. So ist der Befehl des Stadtherrn.« Richter, Rabbi Eleasar ben Mose. Hunderte such- – Was hat der Mann verbrochen? Ist er von sei- ten bei ihm Rat, bewunderten seine Weisheit. Auch nem neuen Glauben abgefallen? Heimlich nach der Stadtherr wusste sie zu schätzen, und solange unseren Gesetzen gelebt? er lebte, geschah der jüdischen Gemeinde unter – Seit wann mischt sich die Saragossaer Juden- Rabbi Eleasars Leitung nichts Böses. gemeinde in die Sachen des Heiligen Tribunals? in Judentum und Christentum Rabbi Eleasar war fünfundsechzig fahre alt, als Des Alguacils Stimme klang betont hart. p der Stadtherr verstarb. Sein Nachfolger hatte für – Das, was euch angeht, habe ich dir gesagt. Du die Juden nichts übrig, und so verbreitete sich bald hast Zeit bis Tagesanbruch, um diese Botschaft an in der Judería, dem Judenviertel, das Gerücht, der alle Juden der Stadt zu bringen. Und merke dir: neue Stadtherr warte nur auf die erste Gelegen- Mit den Freiheiten, die ihr euch früher erlaubt

heit, die Juden aus der Stadt zu vertreiben. Doch habt, ist es vorbei. Persönlichkeiten seit seiner Einsetzung vergingen drei Monate, es ist nichts dergleichen geschehen, und die jüdische Der Alguacil und die Soldaten gingen. Rabbi Gemeinde beruhigte sich allmählich. Eleasar befahl seinem Diener, die Botschaft des Al- guacils allen Hausbesitzern in der Judería mitzu- Es war der letzte Dezembertag des Jahres 1480. teilen. Dann begab er sich in sein Zimmer, schlug Rabbi Eleasar saß, wie üblich, bei seinem spät- die Mischna, das Gesetzbuch, auf und begann im abendlichen Thorastudium. Es war still herum, nur Buch zu forschen. leises Knistern der Wachskerze störte die Stille. Leise las der Rabbi aus dem Buch; seine Lip- Plötzlich ertönte ein lautes Hämmern gegen die pen bewegten sich, die Worte aussprechend. Er- Haustür. Überrascht, nichts Gutes ahnend, da er müdend merkte er nicht, wie er einschlummerte. in dieser Zeit seiner Beschäftigung mit dem Ge- Plötzlich spürte er, als ob jemand an der Tür- setz noch nie gestört wurde, stand der Rabbi auf, schwelle stünde. Er erschauderte, drehte sich um, ging zum Eingang und öffnete die Tür. An der schaute hin – das war seine Frau. Sie guckte ihn Schwelle stand der neue Alguacil, der Polizeilei- mit einem zornigen Blick an und sagte: »Was sitzt ter der Stadt, hinter ihm – zwei Wächter. Wortlos du da und forschst? Was suchst du im Gesetz? ließ Rabbi Eleasar den Alguacil hereinkommen Wirst du den Fremdling ausliefern? Oder wirst du und führte ihn auf sein Arbeitszimmer. Die Wäch- das nicht tun?« ter blieben am Eingang stehen. – Schau mich nicht so an, sagte der Rabbi leise. Der Alguacil schwieg einige Augenblicke, dann Dein Blick zerreißt mir das Herz. Ich bitte dich – sprach er mit intonationsloser, kühler Stimme: gehe! Du störst mich. »Die Heilige Inquisition sucht nach einem getauf- Doch die Frau ging nicht weg, sondern kam ten Juden, der nach Saragossa flüchtete. Sollte er noch näher zu ihm, so nah, dass er ihren keu- einen von euch um Zuflucht bitten, so muss ihn chenden Atem auf seinem Gesicht spürte. derjenige zu dir führen. Du aber wirst den Flücht- – Mein Blick zerreißt dir das Herz? Ihre Stimme ZfBeg 1/2|2020 110 Moisei Boroda: Die Antwort | Erzählung

war voller Wut. Und das Bild von Frauen, Kin- und begann weiter im Buch zu forschen. Nie dern, Greisen, die im tiefen Schnee durchs wüste zuvor musste er über das nackte Überleben seiner Land ins Nirgendwohin wandern – dieses Bild Gemeinde, um ihr Sein oder Nichtsein kämpfen, zerreißt dir das Herz nicht? und ebenso nie zuvor musste er über das Leben eines Menschen entscheiden, von dem er nichts Auf einmal verschwand die Frau, und im glei- wusste. Zum ersten Mal spürte er die enorme Last chen Augenblick ertönte ein leises Klopfen an der seiner Stellung, die ihn jetzt auf einen Weg führte, Haustür. Rabbi Eleasar schrie auf – und erwachte. von dem es keinen Ausweg gab. in Judentum und Christentum p Sein Herz bebte. Das Klopfen wiederholte sich. Bis zum Morgenanbruch suchte Rabbi Eleasar Der Rabbi stand auf, nahm vom Tisch die bren- nach einer Lösung. Als die Glocken der Kathedra- nende Kerze, ging zum Eingang, öffnete. … Ein le die erste Morgenstunde schlugen, stand er auf, Mensch mit hohlwangigem Gesicht stand vor ging zum Bett, wo der Fremde schlief, und legte ihm und murmelte etwas, was kaum hörbar war. die Hand auf seine Schulter. Wie vom Blitz getrof-

Persönlichkeiten Rabbi Eleasar winkte dem Fremdling, ihm zu fol- fen zuckte der Fremde zusammen, schlug die gen, führte ihn aufs Arbeitszimmer und ließ ihn Augen auf, setzte sich auf den Bettrand, hob den sich hinsetzen. Blick auf Rabbi Eleasar und sagte leise: Lass mich – Du scheinst lange unterwegs zu sein. Bist du bis zur nächsten Nacht bei dir bleiben. In der hungrig? Nacht gehe ich. Als ich mich zu deinem Haus Der Mann nickte. durchschlich, hat mich keiner gesehen. – Warte. Ich bringe dir das Abendbrot. – Unglücklicher Mensch, warum bist du zu uns Der Mensch aß hastig. Als er gegessen hatte, gekommen? Welchen Schutz hast du bei uns ge- sprach er das Birkat Hamazon, das Tischgebet. sucht, welche Zuflucht? Wusstest Du nicht, was Dann sagte er: Rabbi, ich werde von der Inquisi- der ganzen Gemeinde passiert, wenn nur einer tion gesucht… von uns sich der Inquisition widersetzt? – Steh auf. Folge mir. – Du hast mich aufgenommen, Rabbi, hast mir – Wohin führst Du mich? Die Stimme des Frem- Brot gegeben, und jetzt lieferst du mich ans Mes- den zitterte. Möchtest du mich aus dem Haus ser! Hast du das Gebot vergessen Du sollst nicht jagen? Den Henkern ausliefern? stehen wider deines Nächsten Blut ? – Folge mir. – Ich weiß, wie grausam das ist, was ich tun Vom Fremdling gefolgt ging der Rabbi ins Zim- muss. Aber ich muss es tun. Wenn ich dich jetzt mer seines Dieners – dieser war noch unterwegs nicht ausliefere, werden alle Juden aus der Stadt und wäre kaum bis zum frühen Morgen zurück vertrieben – alle! So ist der Befehl des Stadtherrn. zu erwarten – zeigte dem Mann das Bett und sagte: – Bist du sicher, er würde das tun? »Du wirkst müde. Leg dich hin und ruh dich aus.« – So wurde mir gesagt. Die ganze Nacht habe Der Mann warf einen erstaunten Blick auf ich nach einem Ausweg gesucht und ihn nicht ge- Rabbi Eleasar, sagte aber nichts, legte sich hin, funden – weder in mir selbst noch in den Büchern. schloss die Augen und drehte sich um zur Wand. Es gibt ihn nicht. Das zerreißt mir das Herz. Rabbi Eleasar kehrte zum Arbeitszimmer zurück – Zerreißt dir das Herz? Ein bitterböses Lächeln ZfBeg 1/2|2020 111

überflog das Gesicht des Flüchtlings. Er stand auf Das Gesicht des Flüchtlings, seine Stimme verfolg- und ging zur Haustür. Rabbi Eleasar folgte ihm. ten ihn jetzt auch im Schlaf. An der Tür befahl der Flüchtling: »Öffne die Tür!« Mitte Januar kam die Nachricht, dass der Flücht- Vor dem Haus standen bereits zwei Wächter. ling des criptojudaismo, des Rückfalls in den jüdi- Sie ergriffen den Flüchtling und führten ihn weg. schen Glauben, bezichtigt auf dem Scheiterhau- Im letzten Moment drehte er sich zum Rabbi um fen verbrannt wurde. Als diese Nachricht Rabbi und schrie: »Verflucht seist du, du Scheinheiliger! Eleasar erreichte, spürte er, dass ihn seine seeli- Mein Blut wird an dir für ewig kleben!« Dann sche Kraft verlassen hat, und das er, so wie er jetzt in Judentum und Christentum schlug ihn einer der Wächter auf den Rücken und ist, die Gemeinde nicht führen kann. Am nächs- p zerrte ihn weg… ten Tag ließ er in der Gemeinde verkünden, er müsse für einen Monat zu Rabbi Abraham ben Die Nachricht über die Errettung der Gemein- Isaak nach Alagon gehen, und bestimmte seinen de verbreitete sich in der ganzen Judería wie ein Stellvertreter, der in dieser Zeit die Gemeinde füh-

Lauffeuer, und als Rabbi Eleasar in die Synagoge ren würde. In jener Winternacht verließ Rabbi Persönlichkeiten kam, nannte man ihn »unser Erlöser« und lobte Eleasar sein Haus, und seitdem fehlte von ihm seine Weisheit. Er aber stand da von Schmerz er- jede Spur. griffen, und jedes Lobeswort stach ihn ins Herz Lange Zeit glaubten die Saragossaer Juden, ihr wie eine glühende Nadel. heiliger Rabbi würde eines Tages zurückkommen Am Ende des Dankgottesdienstes ließ er den und die Geschicke der Gemeinde in seine Hände Psalm Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn re- nehmen. Doch die Hoffnung darauf schwand. All- zitieren und betete zu Gott, der Allmächtige mö- mählich verbreitete sich der Glaube, Rabbi Elea- ge die Gemeinde nicht dafür bestrafen, dass die sar wäre seiner Frömmigkeit wegen ins Reich der Menschen in ihrer Freude über die eigene Erret- Gerechten aufgenommen. tung den Fremden vergessen haben, der für diese Jedes Jahr bis zur expulsión de los judíos, der Errettung geopfert wurde. Totenstille trat ein. Be- großen Vertreibung der Juden aus Spanien im Jah- stürzt, wortlos, leise verließen die Versammelten re 1492, feierte die jüdische Gemeinde Saragossas die Synagoge. den Tag ihrer Errettung. Man erinnerte sich an den Befehl des Stadtherrn, an die Todesangst, die da- Seit jenem Tag spürte Rabbi Eleasar, dass in mals die ganze Gemeinde ergriffen hatte, und an ihm etwas zerbrach. Zwar führte er nach wie vor Rabbi Eleasars Großtat. Das Schicksal des ausge- seine Gemeinde, seine Gerichtsurteile wurden ge- lieferten Flüchtlings passte zu diesen Erinnerun- lobt, nach wie vor suchte man bei ihm Rat und gen jedoch nicht. So verschwand es aus dem Ge- bewunderte seine Gerechtigkeit und Weisheit. dächtnis des Volkes, nur noch schwache Spuren Doch des Öfteren erschien von seinem inneren hinterlassend – die Spuren, die einem erlauben, Blick das Gesicht des Fremden, und in seinem die tragische Geschichte eines Mannes zu be- Kopf hallten seine letzten Worte: »Mein Blut wird schreiben, den sein Schicksal vor eine Aufgabe an dir für ewig kleben!« In solchen Augenblicken gestellt hatte, die weder er noch ein anderer ge- ergriffen den Rabbi Zweifel an allem, was er tat. recht lösen konnte. ZfBeg 1/2|2020 112

Gertrud Rapp 1 Kornelis Heiko Miskotte: Das Wesen der Jüdischen Religion2

Bereits zu Beginn der 1930er-Jahre hat Kor- nelis Heiko Miskotte (1894 –1976), ein Vertreter der niederländisch-reformierten Kirche, seine Dis- sertation verfasst, die nun erstmals von Heinrich Braunschweiger ins Deutsche übersetzt wurde. Der Verfasser will mit seiner Untersuchung die Entdeckung des Judentums als zentrales Thema für die christliche Theologie ausführlich darstellen. in Judentum und Christentum p Die Diskussion über die Frage war im Jahre 1904 durch die Veröffentlichung Adolf von Harnacks Schrift über Das Wesen des Christentums ausge- löst worden. Bereits ein Jahr später hatte der re- formjüdische Rabbiner Leo Baeck (1873 –1956)

Persönlichkeiten mit seiner Untersuchung über Das Wesen des Ju- dentums geantwortet. Baeck deutet das Judentum in der Kontinuität der Epochen. Dabei wird das Gebot, die ethische Forderung, zum Ausdruck des Religiösen. Es ist wichtiger als jedes Zeremo- war Miskotte mit seiner seit 1932 vorliegenden nialgesetz. Baeck vertritt ein religionsphilosophi- Arbeit ein weiterer christlicher Theologe, der mit sches Geschichtsverständnis, das eine positive einer konstruktiven Darstellung des Judentums Würdigung des Christentums nahelegt. Zu einem reagierte. Zeitpunkt, als christliche Theologen jüdische Ent- Ist dieses Werk Miskottes, mit dem er 1932 würfe überhaupt nicht zur Kenntnis nahmen, lag zum Doktor der Theologie promoviert wurde, der Untersuchung Leo Baecks eine optimistische heute nur noch von historischem Interesse? Sicht auf das Christentum zugrunde. Die Rezensentin wird im Verlauf dieser Be- So schreibt er am Ende seiner Untersuchung: sprechung zeigen, dass dieses Werk der Mühe »Wir gestehen allen anderen Bekenntnissen ihre lohnt, auch heute noch gelesen zu werden. Reichtümer zu, vor allem denen auch, die aus un- Dem Werk Miskottes ist die Offenheit für das serer Mitte und aus unserem Geiste hervorgegan- aktuelle Geschehen der Zeit und für das Fremde gen sind« (S. 311/312). anzumerken sowie seine enorme Belesenheit. Er Während Leo Baeck von jüdischer Seite gleiche registriert die gesellschaftlichen Entwicklungen Bedeutung beigemessen wurde und wird wie und Verwerfungen seiner Tage. Früh sah er im Martin Buber und Franz Rosenzweig, findet man Hitlerismus eine Gefahr für den Weltfrieden. Als seine Erwähnung oder gar eine Auseinanderset- eigentliche Ursache des Antisemitismus diagnos- zung mit seinem Werk im Jahre 1929 nur bei dem tizierte er 1939 einen grenzenlosen, viel zu lange katholischen Theologen Erich Przywara. 3 Danach verschwiegenen Hass gegen den Gott der Torah.

ZfBeg 1/2|2020 1 Dr. Gertrud Rapp ist Oberrechtsdirektorin und Beauftragte 3 Przywara, Erich (1929): Judentum und Christentum, in: für den jüdisch-christlichen Dialog in der Erzdiözese Freiburg. ders.: Ringen der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, 2 Miskotte, Kornelis Heiko (1932): Das Wesen der Jüdischen Augsburg, S. 624–661. Religion, in: Braunschweiger, Heinrich (Hg.) (2017): Tübinger Judaistische Studien, Bd. 3, 526 Seiten, ISBN 978-3-643-13715-9 (br.). 113

che, dass das »Wesen« der jüdischen Religion zur Klarheit gebracht werde (S. 39). Miskotte sieht es als großen Gewinn, das Judentum in der Frage nach seinem »Wesen« durch seine Religionsphilo- sophen zu Wort kommen zu lassen (S. 77– 408). Er will sich das Wesen der jüdischen Religion von denen zeigen lassen, die kongenial erachtet wer- den dürfen und zugleich lebendige Zeugen der in Judentum und Christentum historischen Wirklichkeit und des allgemeinen p Geisteslebens in seinen heutigen Wechseln sind (S. 64). So befragt er als Ersten Max Brod (1884– 1968) auf den Seiten 77– 90, der 1921 ein Be-

kenntnisbuch mit dem Titel Heidentum, Chris- Persönlichkeiten Kornelis Heiko Miskotte, 1925. tentum, Judentum geschrieben hat und der nach Ansicht Miskottes nur ein Problem hat: die Frage nach dem Sinn des Leids. Ist Gott ewig-vollkom- Umso unverständlicher mutet es an, dass 2015 men, dann ist das Leben und Leiden der Men- ein evangelischer Theologe das Alte Testament aus schen sinnlos – damit ist das tiefste Motiv von dem Kanon »eliminieren« möchte. Auch Adolf Brods Dualismus angedeutet. Für ihn lässt sich von Harnack behauptete in seinem Marcion- das Leiden der Welt nur schwer mit dem Glauben Buch, das Alte Testament zum Kanon der Kirche an einen allmächtigen und allgütigen Gott verein- zu rechnen, führe zu deren Lähmung. baren. Eine weitere Frage beschäftigte ihn: »Ist die In der 75 Seiten umfassenden Einleitung legt Seele unsterblich?« Miskotte Wert auf die Feststellung, dass sich das Judentum keineswegs als eine »Vorstufe« des Leo Baecks Hauptwerk Das Wesen des Juden- Christentums zeigt, sondern als eine Religion sui tums ist die vollständigste Beschreibung des We- generis, die als solche keine Erfüllung oder Er- sens der jüdischen Religion. Seine Polaritätslehre gänzung brauche. So müsse der talmudische An- ist die geeignetste Form, das »Wesen« darzustel- spruch der Synagoge auf das Alte Testament mit len (S. 131). Zwischen Geschöpf-sein und Schöp- Nachdruck unterstrichen werden (S. 19). Die jü- fer-sein, zwischen Geheimnis und Gebot entsteht dische Religion habe trotz ihrer Veränderungen die Spannung, ebenso zwischen dem Gott der Fer- ihr Wesen behalten (S. 28) und sei als solche mit ne und dem Gott der Nähe; aber so, dass die Span- der Existenz des Volkes aufs Engste verbunden. nung zwischen dem Gott-über-uns und dem Gott- Es stehe auch im Interesse der christlichen Kir- in-uns letztlich nur als die religiöse Ausdrucks-

ZfBeg 1/2|2020 114 Gertrud Rapp: Kornelis Heiko Miskotte – Das Wesen der Jüdischen Religion

form der sittlichen Spannungen in der menschli- chen Natur erscheint. Zwischen der Transzendenz des Ziels und der Immanenz des Weges verläuft die Spannung, die absichtlich nicht vermindert wird, weil Baeck zufolge der menschlichen Natur das Schöpferische innewohnt, das als Waffe gegen das Schicksal den Lauf der Welt bestimmt. Bei Baeck liegt unverkennbar ein stärkerer Akzent auf Hermann Cohen, vor 1906. in Judentum und Christentum p dem Menschen als Schöpfer als auf dem Men- schen als Geschöpf. Konkretion. Das Wesen der jüdischen Religion ist Hermann Cohen (1842 –1918), Mitbegründer als Lehre des ewigen Heiligungsprozesses zu be- und Hauptvertreter der Marburger Schule, des schreiben. Die Korrelation von Gott und Mensch,

Persönlichkeiten Neukantianismus, fußte als Ethiker auf dem Fun- die Vereinigung von Erlösung und Autonomie hat dament der jüdischen Sittenlehre und baute sie keinen anderen Sinn als diesen. In Maimonides’ bewusst weiter aus. Cohens religionsphilosophi- Lehre der Selbstvervollkommnung als höchstes sches Hauptwerk Die Religion der Vernunft aus Prinzip, auf das sich Cohen so gerne beruft, fin- den Quellen des Judentums erhebt die jüdische den wir dieselbe Dialektik von Trennung und Ver- Religion zur wahren Religion der Vernunft. Gott einigung. ist der Gott einer wirklichen Religion, der israeli- tische Monotheismus erkennt ihm ein Sein zu, Martin Buber (1878 –1965), in Wien geboren, mit dem verglichen alles andere Sein nur Dasein wuchs in einer großbürgerlichen Familie auf. Sein heißen kann. Großvater war ein besessener Talmudforscher. Das Wesen der jüdischen Religion äußert sich Die Ehe der Eltern zerbrach (Buber sprach später durch die Propheten. Sowohl die Ethik des reinen von »Vergegnung«), als er drei Jahre alt war. Doch Willens als auch die Religion der Vernunft orien- bei seinen Sommeraufenthalten auf dem väterli- tieren sich an ihren Schriften als klassischen Doku- chen Landgut in der Bukowina und als Gymnasiast menten dieser Religion, die zugleich die Religion im polnischen Lemberg lernte er die Glaubens- der Vernunft ist. Im Talmudischen sieht Cohen welt des Ostjudentums kennen: begeisterte Eks- weniger eine Weiterentwicklung der Lehre als tase aus Freude an Gott, aber auch eine realisti- eine nähere Beleuchtung des Wesens der Lehre. sche Weltfrömmigkeit, die Gottes Herrlichkeit im Die Torah wird von den Propheten her gedeutet. ganz normalen Alltag entdeckt, und seine Nähe Cohen sieht das »Wesen« darin, was Torah und im Schmerz. Es hielt den neugierigen, für alle Propheten gemeinsam haben. Sie beleuchten einan- Strömungen aufnahmebereiten jungen Mann nie der; die Propheten geben der Torah die ethische lange an einem Ort. In Wien, Leipzig und Zürich Erhebung, die Torah den Propheten die ethische studierte er Philosophie, Germanistik, Kunst- und

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Literaturgeschichte und einiges mehr. In der Zeit leme, mit denen auch christliche Denker beschäf- der Weimarer Republik entfaltete er Wirkung als tigt waren. Für Rosenzweig sind theologische Fra- Mitarbeiter des Freien Jüdischen Lehrhauses Frank- gen menschliche Fragen. Schon die gängige Tren- furt, Zeitschriftenherausgeber und Vortragsreisen- nung von Theologie und Philosophie ist seiner der. Buber hielt sich für keinen Philosophen. »Ich Meinung nach ebenso unhaltbar wie die zwi- habe keine Lehre«, pflegte er zu sagen, »aber ich schen Theologie und Wirklichkeit und zwischen führe ein Gespräch.« allgemeiner Menschlichkeit und konkretem, zum Keiner hat das Prinzip der dialogischen Phi- Beispiel jüdischem Bekenntnis (S.265). in Judentum und Christentum losophie so konsequent durchdacht wie Buber. Wichtig für das Wesen der jüdischen Religion p Der Mensch wird erst richtig Mensch, wenn er ist die Tatsache, dass der Indikativ ewiges Sinnbild lernt, Du zu sagen. der Schöpfung ist und der Imperativ das Sinnbild Bei Buber hat die Begegnung mit Gott oft die der Offenbarung. Hier findet Rosenzweig auch Gestalt eines verzweifelten Ringkampfs. In der den Ort, um über das Geheimnis des Eigenna-

Gottesfinsternis ist das Licht nicht erloschen, nur mens im Allgemeinen und des Gottesnamens im Persönlichkeiten verborgen. Der verborgene Gott ist ansprechbar, Besonderen zu sprechen. Grund der Offenbarung selbst wenn er nicht antwortet. ist die Offenbarung des göttlichen Namens. Sie Im Gegensatz zu Cohen findet Buber das We- gründet einen wirklichen Mittelpunkt im Raum sentliche der jüdischen Religion im Mythos aus- und einen wirklichen Anfang in der Zeit. Geist ist gedrückt. Die Lehre vom dialogischen Leben der Akt des Benennens. Mit Gedanken zum Hohe- schließt den dialogischen Monolog aus. Die Liebe lied versucht Rosenzweig das Wesen der jüdischen als Weltgeheimnis und Grundkraft des Lebens Religion zu umreißen und die Linien des »natür- wird in Bubers Fundierung das Wesentliche; sie lichen« Denkens durchzuziehen (S. 294–297). fasziniert die theoretische Besinnung, und diese Den existentiellen Sinn der Erlösung sieht Ro- ist der Rahmen, in dem das Wesen der jüdischen senzweig darin, dass Gott den Menschen nicht Religion neu erscheint. ohne ihn erlösen will. Die Möglichkeit, Gott zu versuchen, ist die äußerste Spitze der menschli- Nach dem Rationalisten Cohen und dem Mys- chen Freiheit (S. 305). »Alles, alles liegt in Gottes tiker Buber gibt Miskotte einem dritten Zeugen Hand, nur eines nicht: die Gottesfurcht« – eine das Wort: Franz Rosenzweig (1886–1929), Schü- der talmudischen Grundpositionen, auf die Ro- ler Cohens, Freund und Mitarbeiter Martin Bu- senzweig sich öfter beruft (wie auch Brod, Baeck, bers. Er hat eine ganz eigene Sicht auf das Wesen Buber und Cohen). der jüdischen Religion und eine andere systema- Im Gottesdienst ist der Ort, an dem das Eigent- tische Methode, sie zu beschreiben (S. 259). liche der jüdisch-orthodoxen Religion zu sehen Zu Rosenzweigs Freunden gehörten – nicht zu- und das Wahre zu erkennen ist. Subjekt dieses fällig – viele christliche Denker. Sein Verständnis Geschehens ist das Volk. Während jede andere der Schrift gibt größtenteils Antwort auf die Prob- Gemeinschaft eine institutionelle Organisation

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nötig hat, um sich zu behaupten, ist Israel eine Zum Wesen der jüdischen Religion gehört Ro- Blutsgemeinschaft, welcher »die Gewähr ihrer senzweig zufolge, dass das Volk als solches Träger Ewigkeit schon heute warm durch die Adern der Offenbarung und Vorbote des Messias ist. rollt« (S. 308). Seine Existenz ist sozusagen amtlich (S. 322). Die Ruhe des Schabbat trägt die Erlösung in sich, denn am Schabbat fühlt sich die Gemeinde Wenn Cohen das Wesen der jüdischen Reli- als erlöste – heute schon. gion mit den Denkmitteln der kritischen Philoso- Das Fest der Befreiung aus Ägypten (= Pes- phie und Buber mit den Mitteln seiner Sprach- in Judentum und Christentum p sach), das Sinai-Fest (= Schawuot) und das Laub- philosophie beschrieben haben, greift Rosenzweig hüttenfest (= Sukkot) bilden einen Zyklus von zu den Denkmitteln einer Theologie des neuen Offenbarungs-Festen. Immer ist das Volk zentral: Denkens. Das neue Denken lässt Platz, schafft Es geht um seine geschichtliche Schöpfung, um Raum für den Ernst der konkreten Gesetzeserfül- seinen Empfang der Torah, um seine Reise mit lung aus der Sicht der Lehre des dialektischen Zu-

Persönlichkeiten der Torah durch die Welt. sammenhangs von Offenbarung und Erlösung. Zum Wesen der jüdischen Religion gehört ih- Wer dieser Philosophie keine philosophische Gel- re mütterliche Sorge für die (anderen) Völker. Die tung zugestehen kann, kann dennoch in ihrer Echtheit der Sorge zeigt sich Rosenzweig zufolge Entfaltung einwandfrei Wesenszüge der jüdischen in der Würdigung des Christentums als historisch Religion in den Blick bekommen. Alles in allem notwendigen Weg der Völker. Das Christentum sind uns aber nicht drei Wesen begegnet, sondern ist ein Strahlenbündel, aus dem feurigen Kern von ein Wesen ist uns begegnet. Dieses Eine kann wie Israels Stern über die Völker gegossen, um ihnen folgt beschrieben werden: den ewigen Weg zu weisen (S. 314). Einheit des Lebensgefühls, das keinen Bedarf »Die Christenheit muss missionieren. Das ist hat, die souveräne Majestät Gottes zu denken, in ihr so notwendig wie dem ewigen Volk seine dem Gott der Gefährte des Volkes (oder des Men- Selbsterhaltung im Abschluss des reinen Quells schen) ist und das Volk (der Mensch) Gottes Part- des Bluts vor fremder Beimischung. Ja, das Missio- ner, in dem das Sittliche deshalb nicht nur eine nieren ist ihr geradezu die Form ihrer Selbsterhal- menschliche Angelegenheit ist, sondern eine Funk- tung.« 4 tion, mit der Gott als dem Hilfsbedürftigen gedient »So drängt sich das christliche Bewusstsein, wird. ganz versenkt in Glauben, hin zum Anfang des Wegs, zum ersten Christen, zum Gekreuzigten, Dem Philosophen der »konkreten Utopien«, wie das jüdische, ganz versammelt in Hoffnung der Tagträume und des Prinzip Hoffnung, Ernst hin zum Manne der Endzeit, zu Davids königli- Bloch (1885 –1977), sind die Seiten 347 –360 ge- chem Spross.« 5 Hier ist der Gegensatz zwischen widmet. Im Zentrum seines Denkens steht der den Balken des Kreuzes und den Strahlen des über sich hinausdenkende Mensch. Für ihn ist das Sterns auf Davids Schild. Judentum die eine universale Sekte, in der der

ZfBeg 1/2|2020 4 Rosenzweig, Franz (1988): Der Stern der Erlösung, Berlin, S. 104. 5 Ebd., S. 111f. 117

Auch wenn in der Kunst Franz Kafkas (1883 – 1924) der Name Gottes nicht einmal genannt wird, ist seine Kunst doch Wort für Wort voll des Fragens nach Gott, des Ringens mit ihm wegen seines Fernseins. Kafka hat sich durch umfangrei- Ernst Bloch auf dem XV. Schriftstellerkongress in Berlin, 1956. che Lektüre intensiv mit der jüdischen Religion auseinandergesetzt. Persönlicher Kontakt bestand zu Martin Buber. Nach Worten Max Brods und von in Judentum und Christentum Geist der Utopie lebt und wirkt, die ihre Anhän- Hans Joachim Schoeps wird Kafka der Mensch, p ger in allen Ständen, unter allen Konfessionen der »als von aller apriorischen Sicherheit abge- hat, eine universale Sekte, die nicht wie die Logen schnittener Wahrheitssucher sich in die Schwebe der Freimaurer und Theosophen mühsam organi- der Ungewissheit hineingehalten weiß, in der das siert werden müsste, die quer durch alle Organi- reine Nichts auf den Menschen lauert«. Kafkas

sationen hin besteht und die dennoch nicht in Weltanschauung ist tragisch. Er anerkennt und Persönlichkeiten einen allgemeinen Humanismus zerfließt, weil sie bekennt Gott, aber keinen Zusammenhang zwi- auf der sehr alten, sehr starken, sehr lebendigen schen Gott und Welt, höchstens einen ironischen. Wurzel Israels blüht und somit ethisch-magisch Am seidenen Faden hängt für den gottverlassenen eingestellt ist (S. 360). Menschen die minimale Chance einer eschatolo- gischen Hoffnung. Kafka akzeptiert also Cohens Constantin Brunner, Pseudonym des Philoso- Deutung vom Wesen der jüdischen Religion. Als phen, Schriftstellers und Literaturkritikers Arjeh Idealkonstruktion bekennt er sich auch zu Bubers Yehuda Wertheimer (1862 –1937), gilt als Vertre- Lehre von »Ich und Du«, aber diese wird durch ter des Holismus und wandte sich in mehreren das Ernstnehmen dessen, was Rosenzweig das Schriften gegen den Antisemitismus. Judenhass existentielle Denken nennt, radikal gestört, denn ist Menschenhass. Antisemitismus ist für ihn ein die Frage ist: Kann eine Idee für uns noch Wahr- Beispiel dafür, wie man den Egoismus verabsolu- heit sein, für die man sich im konkreten Leben tieren und sich von der Basis der allgemeinen Mit- unmöglich entscheiden kann? menschlichkeit entfernen kann. Auch äußerte er Im Unterschied zu allen bisher behandelten sich ablehnend gegenüber dem Zionismus, da die- jüdischen Denkern ringt Kafka mit dem Problem ser die jüdische Emanzipation gefährde. Brunner der Erbsünde. Sie bedeutet die Unmöglichkeit, sieht das Wesen des Judentums in einer eigenarti- auch die Denk-Unmöglichkeit der Freiheit. Kafka gen Mystik oder besser: mystischen Möglichkeit, fühlt sich auf dieser Erde gefangen, ihm ist eng, die die von Jesus vollkommen verwirklicht wurde. Wahnvorstellungen der Gefangenen brechen bei Die Heilige Schrift des Alten Testaments spiegle ihm aus, kein Trost kann ihn trösten, weil es eben eine Geisteshaltung wider, die an das menschlich nur Trost ist, gegenüber der großen Tatsache des Höchste heranreicht (S. 361). Gefangenenseins. Damit ist der jüdische Optimis-

ZfBeg 1/2|2020 118 Gertrud Rapp: Kornelis Heiko Miskotte – Das Wesen der Jüdischen Religion

mus radikal aufgegeben. Das Wesen der jüdischen Samson Raphael Hirsch (1808 –1888). Abraham Religion kann Kafka zufolge nichts anderes sein als ist der in der Schöpfung wiederhergestellte Adam die Bewusstmachung und Rechtfertigung unserer und Erez Jisroel der Garten Eden. Einsamkeit. Brod sagt über Kafka: »Das große Ge- Sobald man sieht, dass nur die Torah eine wah- heimnis: dass dennoch und immer wieder Ruhe re Menschlichkeit möglich macht, kennt man ihre von diesem gequälten Menschen ausging.« Dies Qualität: Offenbarung. ist ein Symbol für die Wirkung des modernen Ju- dentums auf den modernen Geist; die Ehrlichkeit Erst spät entdeckt wurde in seinem theologi- in Judentum und Christentum p im Bekenntnis der Unerlöstheit bekommt eine ei- schen Bestreben der außerordentlich begabte Na- gene, religiöse Würde. turforscher und Arzt Salomon Ludwig Steinheim (1789 –1866). Das Wesen des Judentums liege in In einem kleineren Kapitel widmet sich Mis- seinem Protest gegen das Heidentum. Die Offen- kotte der neuen Orthodoxie (S. 385– 408), ob- barung ist nichts anderes als eine Mitteilung. Die

Persönlichkeiten wohl die im strengen Sinn orthodoxen jüdischen Religion oder die Offenbarung ist Israels Wesen, Theologen und Religionsphilosophen nach seiner und jedes jüdische Individuum ist eo ipso ein leib- Meinung in seine Untersuchung eigentlich nicht haftiger Protest gegen alles Heidentum und gegen hineingehören, weil sie in ihrer inneren Entwick- jegliche philosophische Dogmatik. Die Offenba- lung noch zu keiner Besinnung auf das »Wesen« rung ist die Mitteilung einer Wahrheit, auf die der ihrer Religion gekommen seien. Er fasst deren Mensch von sich selbst nicht käme und die der Werke unter dem Titel Begrenzungen zusammen. Vernunft entgegensteht, die aber, einmal gehört Das Alte Testament ist gegeben, um den Gott zu und verstanden, sich als Rechtfertigung des Lebens, offenbaren, der für uns Lebende nirgends anders der Vernunft, der Menschlichkeit aufdrängt. zu finden ist als in seiner Torah. Im Begriff derOf- fenbarung steckt die Möglichkeit, das Wesen der Hans Joachim Schoeps (1909 –1980) gibt sich jüdischen Religion zu retten in einer Zeit, in der nicht zufrieden mit der Betrachtung und Be- das substituierte Wesen, nämlich das Volk selbst, schreibung des Wesens der jüdischen Religion, auch als geistige Einheit auseinander zu fallen be- sondern bietet einen Entwurf einer systemati- ginnt. schen jüdischen Theologie. Ihn bewegt die Frage Weder Autonomie noch Heteronomie, sondern nach der Möglichkeit des Heils in unserer gottver- Schöpfungsnomie ist das Wesen des Judentums. lassenen Zeit. Theologie muss als Funktion des In der Schöpfung (nicht in der Natur) liegt die Glaubens aufgefasst werden. Es habe nie eine jüdi- Wahrheit beschlossen, Wahrheit im alttestament- sche Theologie existiert, die einen anderen Grund lichen Sinn = das Wirkliche und das Rechte. und ein anderes Ziel haben konnte als das Wort Jude sein bedeutet Geschöpf sein, Geschöpf Gottes. Schoeps sieht das Wesen der Lehre in der sein wollen, nichts als Geschöpf sein wollen. Das Transzendenz Gottes, die positiv die Beziehung ist der Sinn der Offenbarung nach Meinung von Gottes zur Welt in das hörbare Wort stellt.

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Das vorletzte Kapitel befasst sich mit der Leh- den wir bei Cohen und den Seinen ebenso wie re der Korrelation als neue Bundeslehre (S. 409 – bei dem Mystiker Buber und beim existentiellen 441). In vorausgegangenen Kapiteln tauchte die Denker Rosenzweig. Ihnen allen ist die Weige- Frage auf, ob ein Judentum ohne die jüdische Ge- rung gemein, hinter der Relation nach einer hö- setzestreue existiert. Die weitgehende Assimila- heren, tieferen usw. Wirklichkeit zu suchen. Von tion bewog sowohl die Orthodoxie als auch den daher sei die Stellung von Erez Israel im Wesen Liberalismus, die Gesetzestreue in größerem oder der jüdischen Religion zu verstehen, auch die geringerem Maße nach Kern und Peripherie zu Funktion der Klagemauer. Phänomenologisch von in Judentum und Christentum differenzieren und ihr den Hintergrund einer in Be- größtem Gewicht sei die Dialektik der Offenba- p griffe des allgemeinen Geisteslebens zu übertra- rung, wie sie Rosenzweig formuliert habe. genden Weltanschauung oder Lebenshaltung, ein Die Torah als das »tragbare Vaterland« werde ethisches Prinzip oder eine Idee, zu geben. in der Tat getragen. Nicht sie trägt Israel, sondern Zur Rechtfertigung seiner Untersuchung be- Israel trägt sie.

ruft sich Miskotte auf Julius Gutmann, der sagt: Persönlichkeiten »Die an die Stelle der äußeren Normierung des Um vieles mehr als die Sünde, die in jedem Glaubens getretene innere Bindung an die religiö- Augenblick durch die Bekehrung getilgt werden sen Grundüberzeugungen des Judentums hat sich kann, quält das Leid den jüdischen Geist. Die Ge- als fest genug erwiesen, um dem Judentum seine bote Gottes wollen das Leid verhindern; die Men- einheitliche Glaubensgrundlage zu erhalten.« So schenliebe leidet am Leben wegen des Leides, das geht Miskotte Stück um Stück den Strukturein- der Arme, der Fremdling, der Unbegabte, der Un- heiten nach, die die untersuchten Religionsphilo- geliebte erduldet. sophen aufgezeigt haben, um das Zentralste be- Brod hat – wie wir gehört haben – das Leid stimmen zu können. als das eine Thema hingestellt, an dem das Wesen Der Rationalismus Moses Mendelssohns sei der jüdischen Religion zu demonstrieren ist, doch auf der ganzen Linie überwunden. Der Wesens- auch in Cohens Hauptwerk nimmt das Leid einen Gegensatz zu jeglichem Pantheismus sei über- ungeheuren Stellenwert ein. Er wirft der Stoa und nommen worden. Am stärksten sei er in der Neo- Spinoza das Wegargumentieren des Sinns vom Orthodoxie, aber kaum weniger stark bei Cohen, Mitleiden vor und schildert den Messias als Stell- Buber und Rosenzweig fallen gelassen. vertreter nicht unserer Schuld, sondern unseres Eine Ausnahme bilde die extreme Erscheinung Leidens. Auch bei Buber und Rosenzweig konnte Constantin Brunners, aber auch bei ihm sei jeder eine ähnliche Faszination durch das Leid aufge- Form von Naturalismus gewehrt. Alle stimmten zeigt werden. Miskotte geht es in diesem Teil sei- darin überein, dass der Pantheismus zu verwerfen nes Werkes um den Zusammenhang zwischen sei. Diesem werde nicht die eine oder andere Form Leid und Heiligung der Welt. Gott hat Israel nötig von Weltanschauung gegenübergestellt, sondern nicht nur zur Heiligung der Welt, sondern auch zur der Messianismus. Das Denken in Relationen fin- Heiligung seines Namens. Die Gegenseitigkeit von

ZfBeg 1/2|2020 120 Gertrud Rapp: Kornelis Heiko Miskotte – Das Wesen der Jüdischen Religion

Im letzten Kapitel (S. 443 – 504) vergleicht Miskotte die berith-Lehre mit der Struktur des Alten Testaments, was schwierig ist. Er vergleicht

Max Brod, 1914. aber nicht das »Wesen« der jüdischen Religion mit dem »Wesen« des Christentums und misst es nicht am Neuen Testament. Gott und Mensch ist ein auf die Heiligung, auf die Zukunft gerichteter Bund. Die Lehre der Korrela- Hinsichtlich der Grundlagen der wissenschaft- in Judentum und Christentum p tion ist die moderne Form der alten berith. lichen Bibelforschung als bedeutend zu erwähnen Deshalb können Pantheismus und Theismus ist Abraham Geiger (1810 –1874), dessen Urschrift verworfen werden, und deshalb ist sowohl das und Übersetzungen der Bibel in ihrer Abhängig- »Rationalistische« als auch das »Mystische« als keit von der inneren Entwicklung des Judentums »existentielle« Fundierung brauchbar. 1857 erschienen ist. Er sieht, dass jedes Stadium

Persönlichkeiten Israel erlebt Gott in der Geschichte, in seiner der Entwicklung der jüdischen Religion eine eige- Geschichte. Ob die berith ein »königliches Priester- ne Bibel hatte und unternimmt einen Versuch, die tum« als Ziel setzt oder es voraussetzt, ist schwer rabbinischen Exegesen der Schrift »wegzufegen«, zu ergründen. »Der heilige Geist wird im Men- indem er diese selbst zum Objekt einer kritischen schen lebendig, insofern dieser sich selbst heiligt. Untersuchung macht. Ein rationalistischer Me- Und in dieser Selbstheiligung vollzieht er die Hei- thoden-Monismus ist die Voraussetzung für die ligung Gottes«. »Ob Gott transzendent oder im- zugeneigte und vertrauensvolle Haltung, die das manent ist, ist nicht eine Sache Gottes, es ist eine liberale Judentum der alttestamentlichen Wissen- Sache des Menschen« (Buber). »Die Ewigkeit muss schaft gegenüber einnimmt. Der Versuch, die alt- nämlich beschleunigt werden, sie muss stets testamentlichen Urkunden restlos in die Welt des heute schon kommen können: nur dadurch ist sie alten Orients einzuordnen, stößt auf wenig Wi- Ewigkeit. Wenn es keine solche Kraft, kein sol- derstand. Was von der vergleichenden Religions- ches Gebet gibt, welches das Kommen des Reichs geschichte popularisiert in das allgemeine Den ken beschleunigen kann, so kommt es nicht in Ewig- der Zeit einging, schreckt unter den Laien eher keit, sondern – in Ewigkeit nicht« (Rosenzweig). die Christen auf als die Juden. Der Bundesschluss ist gemäß verschiedener Tal- Heiligkeit ist kennzeichnend für die geistige mudstellen Israel zu verdanken. Gott hat die Torah Grundstruktur des ganzen Alten Testaments. Alle allen Völkern angeboten, Israel war das einzige, »Eigenschaften« Gottes sind Offenbarungsweisen das auf das Angebot einging. Und: Weil Moses die dieses einen offenbarten Grundwesens, des Na- Herrlichkeit des ägyptischen Hofes verlassen hat, mens. Heiligkeit ist nicht etwas, das dem erhabe- um nach seinen Brüdern zu sehen, darum hat der nen, unbekannten Gott, dem Gott-an-sich, zu- Heilige die Herrlichkeit des Himmels verlassen, käme, sondern vielmehr die Beschreibung Gottes, um mit ihm auf dem Sinai zu sprechen. wie er in seiner Offenbarung, seinem Wohnen,

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seinem Nahesein erkannt wird (S. 452). Eine entwickeln mussten.« Das Wesen der jüdischen Trennung zwischen dem hohen Jahwe und seiner Religion könnten wir nicht für identisch halten schweifenden, leidenden Schechina, wie das das mit dem Wesen des Alten Testaments. Wer aber im spätere Judentum gelehrt hat, ist im Alten Testa- Allgemeinen das »Wesen des Christentums« in ment nicht zu finden. Für Ezechiel sind Gottes einer Lehre oder Haltung suche, die ethisch das Ehre und seine Transzendenz dauernd aufeinan- Judentum überträfe, tut dem Wesen der jüdischen der bezogen. Auch der Thronwagen drückt aus, Religion Unrecht (S. 466). Er verweist mit guten dass Jahwe nicht nur über der Erde, sondern auch Beispielen darauf, dass in umfassenderem religi- in Judentum und Christentum über den Himmeln thront. Gott selbst ist niemals onsgeschichtlichem und kulturmorphologischem p von seinem Geschöpf abhängig. Er fällt das unwi- Zusammenhang Judentum und Christentum ei- derrufliche Urteil über seine Zeit und nach sei- nander am nächsten verwandt sind und sich die- nem Maß. Allein Gott ist heilig. ser Verwandtschaft auch besser bewusst werden Dass Jahwe König ist, steht im Alten Testa- (S. 470). Die Art, wie die Autoren des Neuen Tes-

ment viel mehr im Mittelpunkt, als dass er König taments das Alte Testament zitieren, zeige, dass Persönlichkeiten werden muss. Jahwe wird schon in der Zeit der sie dieselbe Identität zwischen Wort Gottes und Richter unter dem Begriff malk (melekh) gedacht Schrift statuieren, wie das die Synagoge zwischen und nicht als el und nicht als baal – denn baal ist dem Willen Gottes und der Torah tat. (so Buber) »die vorgefundene Gottheit«, aber malk Der Messias ist für das Judentum nicht der ist »der mitgehende Gott«. Das Tetragramm besie- Wiederkommende, sondern der Kommende. Doch gelt die absolute Freimacht dieses melekh (S. 454). das kann, von der Lehre der Korrelation aus gese- In einem seiner letzten Werke sagt Buber: »Bei hen, in seiner Wortstruktur nicht intakt gelassen jeder Gebotserfüllung soll der Mensch sprechen: werden, Israel wird, die Einheit der Menschheit Ich tue dies, um den Heiligen, gesegnet sei Er, mit wird, mit oder ohne ein konkretes Israel, zum seiner Schechina zu vereinigen.« Mittelpunkt. Das Kommen wurde, gemäß der im- Dem Heiligen als Heiligen gefällt es, bei denen manenten Logik der Wesensstruktur, u.a. bei zu wohnen, die zerbrochenen Geistes sind (Jesaja Baeck und Rosenzweig, durch die Konsequenz 57,15). Mit dem Namen »der Heilige Israels« ver- der Lehre der Korrelation notwendigerweise ein bindet sich oft das Epitheton »Erlöser« (Jesaja 41, Werden. 14; 43,14; 47,4 ). Die eindrückliche Begegnung mit den jüdi- Miskotte kommt schließlich zu dem Schluss, schen Religionsphilosophen, die Miskotte uns mit dass »die Struktur des Alten Testaments und die seinem Werk ermöglicht hat, hat große Bedeutung des Judentums einander nicht decken«, doch sei für die Schärfung des Unterscheidungsvermögens, zuzugeben, »dass die Struktur des Alten Testa- für die Vertiefung der Einsicht in den zentralen ments Elemente enthält, die durch eine gewisse Iso- Sinn der Verkündigung der Kirche. Insofern lohnt lation oder Akzentuierung sich logisch und recht- es sich auch heute noch, die 1932 verfasste Dis- mäßig zum Lehrgehalt des späteren Judentums sertation zu lesen.

ZfBeg 1/2|2020 Hall of Names, Yad Vashem, Jerusalem

In der »Halle der Namen«, dem letzten Raum im Rundgang des Museums zur Geschichte des Holocaust, sind die Namen und persönlichen Daten der jüdischen Opfer des nationalsozialistischen Massenmords gesammelt. Als Grundlage dienten die Angaben auf »Gedenkblättern«, die von Verwandten und Bekannten der Ermordeten gemacht worden waren. Sie sind oft die einzigen Erinnerungen an die Opfer. 123

Reinhold Boschki 1 »… nie wieder hinter Auschwitz zurück.« Johann Baptist Metz (1928 – 2019) Nachruf

Johann Baptist Metz war einer der profiliter- gesichts von Auschwitz testen deutschsprachigen Theologen der zweiten noch Bestand haben. Aus Hälfte des 20. und des beginnenden 21. Jahrhun- diesem Geist schrieb er derts. Er war Impulsgeber für Generationen von den Grundlagentext des Theologinnen und Theologen in Deutschland, Dokuments »Unsere Hoffnung«, das 1975 als Be- Europa und darüber hinaus, insbesondere in Süd- schluss der »Würzburger Synode« mit überwälti- und Nordamerika. gender Mehrheit verabschiedet wurde. 1928 im oberpfälzischen Auerbach geboren, Die Situation nach Auschwitz erfordert auch in Judentum und Christentum studierte er ab 1948 in Bamberg, Innsbruck und ein radikal neues Verhältnis zum Judentum, das sei- p München katholische Theologie und Philosophie. ne Theologie durchzieht. Walter Benjamin, Theo- Bereits 1952 wurde er mit einer philosophischen dor W. Adorno und Elie Wiesel bilden wichtige lite- Arbeit über Heidegger promoviert, zehn Jahre spä- rarische Gesprächspartner seines philosophisch- ter schrieb er in Innsbruck eine theologische Dis- theologischen Ansatzes. 2002 bekam er für sein

sertation bei Karl Rahner. 1954 wurde er zum Engagement im christlich-jüdischen Dialog die Persönlichkeiten Priester geweiht. Von 1963 bis 1993 lehrte er als Buber-Rosenzweig-Medaille verliehen. Professor für Fundamentaltheologe an der Uni- Unablässig forderte Metz aufgrund der Erinne- versität Münster. rung an das Leiden, der Memoria Passionis, eine Dort entwickelte er die »Neue politische Theo- neue Empfindlichkeit für alle Leidenssituationen logie«, die, gespeist von der biblischen Verheißung, unserer Tage. Eine »leidempfindliche Theologie« als kritische Instanz die gegenwärtigen Strukturen verändert ihr eigenes Gepräge, wird weniger sie- in Kirche und Gesellschaft unter die Lupe nimmt gesgewiss, weniger auf- und übertrumpfend, eher und Missstände schonungslos anprangert. Unab- zweifelnd, fragend, tastend. lässig kritisierte er ein »verbürgerlichtes« und priva- Der Kirche blieb Metz in kritischer Solidarität tisiertes Christentum. Mit der politischen Theolo- zeitlebens treu, sie war für ihn eine Erinnerungs-, gie lieferte Metz wesentliche Impulse für die For- Erzähl- und Hoffnungsgemeinschaft, die ihr kriti- mulierung einer »Theologie der Befreiung« in sches Potenzial gegen eine Welt einbringen muss, Lateinamerika. die nur auf Erfolg und Fortschritt zielt. Eine neue Doch der Zentralpunkt seines theologischen Mystik schwebte ihm vor, eine »Mystik mit offe- Denkens bildete die Reflexion der Schreckenser- nen Augen«, die aus der biblischen, propheti- fahrung des Holocaust. Seine Grundfrage war: Wie schen Hoffnung heraus den Finger auf die Wun- kann man nach Auschwitz noch an Gott glau- den der Gegenwart legt und dadurch »unterbre- ben? Metz begann als einer der wenigen christli- chend« wirkt. chen Denker eine konsequente »Theologie nach Metz lebte bis zu seinem Tod in Münster und Auschwitz« zu fordern, die niemals mehr hinter starb dort am 2. Dezember 2019. Sein Vermächt- Auschwitz zurückfallen darf und alle theologi- nis wird christliche Theologie und Kirche noch schen Aussagen auf den Prüfstand stellt, ob sie an- lange beschäftigen.

1 Reinhold Boschki ist Professor für Religionspädagogik, ZfBeg 1|2020 Leiter der Elie Wiesel Forschungsstelle an der Universität Tübingen und Mitherausgeber dieser Zeitschrift. 124

Juliane Güler 1 Wandel einer chassidischen Botschaft Martin Buber und Elie Wiesel über das Verhältnis von Gott und Mensch

Eines der Grundelemente des Chassidismus 1 Chassidismus: ist »das Band zwischen dem Menschen und seinem eine kurze Einführung Schöpfer, zwischen der Handlung des einzelnen und die Auswirkungen dieser Handlung auf die Mitte des 18. Jahrhunderts, begründet durch himmlischen Sphären.« So beschreibt es Elie Wiesel Israel Ben Elieser (ca. 1700 –1760), auch bekannt in seinem Buch Chassidische Feier. 2 Das Verhält- als Baal Shem Tov, entstand in den Regionen Po- nis Mensch – Gott wird von ihm als eine »wech- dolien und Wolhynien die religiöse Bewegung des selseitige Abhängigkeit zwischen Mensch und Chassidismus. Himmel« beschrieben, bei der »jeder […] auf den Der Baal Shem Tov, kurz auch Besht genannt, anderen einwirken [kann].« 3 Anhand einer Erzäh- war ein Wanderrabbiner und -prediger. Sein Name lung soll dieses Band im Vergleich mit den zwei bedeutet Träger des guten Namens, des göttlichen wohl bekanntesten Autoren und Übersetzern Namens, mit dem er heilte und Menschen in chassidischer Erzählungen aus dem 20. Jahrhun- schwierigen Situationen half. Er hielt Kontakt zu f dert charakterisiert werden. den einfachen Leuten und schuf einen Kreis von

Beiträge Elie Wiesel (1928 – 2016) und Martin Buber Anhängern, die später als Chassidim bekannt wur- (1878 – 1965) haben in ihrer Zeit und in ihrem je- den. Die Auslegungen von jüdischen Gesetzen und weiligen Sprachraum durch ihre Übersetzungen Geboten, wie sie der Baal Shem formulierte, ge- entscheidend zur Verbreitung der chassidischen stalteten den Beginn dieser Bewegung; seine Nach- Lehre beigetragen. Ihre jeweils unterschiedlichen folger trugen aber wesentlich dazu bei, aus diesem Zugänge und Beschreibungen der zentralen Lehre Anfang eine Bewegung, eine Gemeinschaft zu be-

Freie thematische und Botschaft des Chassidismus sollen hier vergli- gründen. »Denn hier geht es zunächst nicht«, wie chen werden. So wie bei Buber der Fokus seiner Karl Erich Grözinger in seinem zweiten Band Jü- Darstellung des Chassidismus im engen Zusammen- disches Denken formuliert, »um einzelne Denker, hang mit seiner Philosophie von Ich und Du (1923) die ihre Ansichten zur Deutung und Entfaltung steht, so ist es bei Wiesel der Bezug zu seinem des jüdischen Denkens beigetragen haben, son- Werk Nacht (1956). Dem geht eine kurze allge- dern um das Phänomen einer Massenbewegung, meine Einführung zum Chassidismus sowie zu sei- die dem Judentum Osteuropas binnen weniger ner historischen und religiösen Besonderheit vo- Jahre ein völlig neues Gesicht gegeben hat.« 4 raus. Im Anschluss werden die jeweiligen Beschrei- Dem Chassidismus werden mystisch-kabbalisti- bungen beziehungsweise Charakterisierungen sche Elemente sowie Einflüsse seitens des Sabba- des Chassidismus seitens Buber und Wiesel vor- tianismus zugeschrieben.5 gestellt. Wie definieren sie die chassidische Lehre Die Chmelnezkyj-Pogrome des 17. Jahrhun- und welche Bedeutung schreiben sie ihr zu? Ihre derts in Osteuropa, die Isolation vieler jüdischer jeweils eigenen Prämissen und Deutungen werden Gemeinden und die Abnahme der rabbinischen exemplarisch anhand ihrer Übersetzung an einer Autoritäten sind einige der sozial-historischen Hin- chassidischen Erzählung dargelegt. tergründe, die zum Entstehen des Chassidismus

ZfBeg 1/2|2020 1 Juliane Güler M.A. ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin 5 Wie es der Religionshistoriker Gershom Scholem (1897–1982) am Lehrstuhl für Jüdische Religion und Philosophie an der betont, stand das »Aufkommen und [der] Erfolg des Chassidis- School of Jewish Theology der Universität Potsdam. mus in einem tiefen Zusammenhang« mit dem Sabbatianismus 2 Wiesel, Elie (1974): Chassidische Feier, S. 14. und der lurianischen Kabbala. 3 Wiesel, Elie (1981): Was die Tore des Himmels öffnet, S. 89. 4 Grözinger, Karl Erich (2005): Jüdisches Denken, Band 2, Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus, S. 695. 125

beigetragen haben und die zuvor andere messiani- Gelehrsamkeit, Talmud studium, Arbeit, Gesang sche Bewegungen wie den Sabbatianismus begrün- und Tanz) reichen allerdings nicht aus, allem muss deten. die kawwana/Gesinnung zugrunde liegen. Das f

Der Sabbatianismus bot eine alternative religiö- gilt besonders für das Gebet, aber auch für Torah - Beiträge se Führung und gewann hohe Popularität. In der studium und Mitzwot, um einen Beitrag zur tik- Auslegung Scholems beschreibt der Chassidismus kun olam leisten zu können. 7 die letzte Entwicklungsstufe, die letzte Phase der jüdischen Mystik. Daher finden sich auch ältere 2 Bubers und Wiesels Beschreibung Konzepte wie die Kabbala von Isaak Luria (1534– und Charakterisierung des Chassidismus

1572) im Chassidismus wieder. So wie in der kab- Freie thematische balistischen Lehre der Sefirot 6 eine Wechselbe- Es mag vielleicht mehr als eine Antwort auf ziehung zwischen göttlicher und irdischer Sphäre die Frage geben, was Chassidismus ist. Oben an- existiert und das Handeln des Menschen Einfluss geführt, mit Zitaten von Scholem und Grözinger auf das göttliche Gleichgewicht hat, so auch in der unterlegt, finden wir eine historische Einordnung. lurianischen Kabbala. Es heißt in der Auslegung Aber genügt die Aussage, Chassidismus ist eine von Luria, dass bei der Entstehung der Welt das religiöse Bewegung? Elie Wiesel würde es vielleicht göttliche Licht in Gefäße floss, die zerbrachen verneinen, wie er es in einem seiner Vorträge zum (shivrat ha-kelim) und die fortan als Bruchstücke Ausdruck brachte: Chassidismus ist auch eine in unserer Welt zu finden sind. Das Licht, das in Ideologie oder eine philosophische Schule, eine diesen Scherben gefangen ist, kann überall und in religiöse Sekte mit sozialen Implikationen und allem sein – sei es in Mensch, Tier oder Gegen- vieles mehr für die einen, für die anderen ist es stand, gilt es mit guten Taten zu sammeln und nichts davon.8 Doch ein entscheidender Aspekt zum Einen zu erheben, als Heilung der Welt (tik- aus Sicht Wiesels fehlt hier und zwar der der Ge- kun olam) und um somit den Beginn der messia- meinschaft – Chassidismus ist allem voran eine nischen Zeit einzuläuten. Gute Taten (oder auch Gemeinschaft.

6 Die Sefirot sind, nach kabbalistischer Lehre, zehn göttliche 8 Wiesel, Elie (1995), in: Hasidism: Community, ZfBeg 1/2|2020 Eigenschaften, die den Lebensbaum gestalten. online verfügbar unter: https://www.92y.org/archives/ 7 Scholem, Gershom (1980): Die jüdische Mystik in ihren Haupt- search?searchtext=elie+wiesel+hasidism+community& strömungen, S. 300, 302ff. searchmode=anyword. 126 Juliane Güler: Wandel einer chassidischen Botschaft – Martin Buber und Elie Wiesel über das Verhältnis von Gott und Mensch

Elie Wiesel und Martin Buber hatten ihre per- den. Wiederholungen sind Wiederaufnahmen, bei sönlichen Begegnungspunkte und ihren jeweils denen es immer wieder Neues zu entdecken gilt 12 eigenen Bezug zur chassidischen Botschaft. Wie- und deren Botschaften erneuert werden. sel ist ein Chassid, aufgewachsen in Sighet, einem Shtetl. Für ihn war der Chassidismus etwas Leben- Doch nun zur Botschaft, die der Chassidismus diges, das seine ganze Kindheit und sein ganzes aus Sicht von Wiesel und Buber in Bezug auf das Leben prägte. Bei Buber, der in einer assimilierten Verhältnis von Mensch und Gott vermittelt. jüdischen Familie in Wien aufwuchs, war der Chas- Bei Wiesel finden wir folgende Beschreibun- sidismus nicht Alltag, nichts, das in seiner Familie gen: »Chassidismus will die Mauern sprengen, gelebt worden ist. Jedoch begegnete er den Chas- die zwischen Gott und Mensch existieren« 13, und sidim, die später zu einer Quelle der Inspiration die Wahrheit der Geschichten liegt Wiesel zufolge wurden, und chassidischem Leben bei seinen Groß- darin, »dass Mensch und Gott eins sind« 14. Chas- eltern in Lviv, in Lemberg. sidismus ist aus seiner Sicht ein Protest gegen die f Die Begeisterung, den Funken, für die chassi- Einsamkeit, der Ausbruch aus dem Exil und der

Beiträge dischen Erzählungen teilen beide. Buber, der 1906 Dunkelheit. Hierin schwingt das zu Beginn ange- die Geschichten des Rabbi Nachman in einer führte Zitat Wiesels mit, dass Chassidismus Ge- freien Adaption übersetzte, war einer der ersten, meinschaft ist und zwar zu allererst mit Gott. der im deutschsprachigen Raum chassidische Er- Und diese Gemeinschaft zeichnet sich durch Lie- zählungen auch nicht-jüdischen Leser_innen zu- be und Freundschaft aus, denn »für die Schüler gänglich machte, in einer Zeit, in der großes In- des Baal Shem ist Gott […] Verbündeter […] [und]

Freie thematische teresse an mystischer Literatur bestand. Wiesel, das Band, das Gott und die Menschen verbindet dessen erstes Buch über chassidische Erzählun- […] heißt Liebe.« 15 gen 1972 veröffentlicht wurde 9, betont, dass die Für Buber ist die chassidische Lehre wesentlich Aktualität und die Umstände ähnlich sind und die ein Hinweis auf ein Leben in Begeisterung, in be- Erzählungen in unsere Zeit hineinragen. Beide geisterter Freude und eine Antwort auf die Krisis Autoren sehen sich als Erzähler, nicht als Histori- des Glaubens, was darin zum Ausdruck kommt, ker oder Philosophen. Beide wollen den Funken »die fundamentale Scheidung zwischen dem Hei- der chassidischen Botschaft in die Welt tragen, ligen und Profanen zu überwinden.« 16 Dies be- die Botschaft der Liebe, der Freundschaft, der deutet, Gott in alltäglichen Handlungen zu erken- Güte und der Hoffnung.10 »Weil der Mensch an nen und sich dessen bewusst zu werden, dass der Wirklichkeit verzweifelt, sucht [er] […] die alles Gott ist und Gott in allem ruht und somit Schönheit in der Legende, in der Freundschaft, die »Gegenseitigkeit der Beziehung [von Gott und ganz wie einst der Chassid.« 11 Den Trost, den der Mensch] zum Grundprinzip.« 17 Diese Gegensei- Mensch in den Erzählungen finden könnte, fand tigkeit, das Gegenübersein, wird später in der Phi- einst der Chassid im 18. Jahrhundert und könnte losophie von Buber zu dem bekannten Du. Jede auch der Mensch zwei Jahrhunderten später fin- Begegnung, jedes Du, sei es Mensch, sei Tier oder

ZfBeg 1/2|2020 9 Mit dem Titel »Célébration hassidique« und auf Englisch 1974 14 Ebd., S. 16. unter dem Titel »Souls on fire«. 15 Wiesel, Elie (1974): Chassidische Feier, S. 38. 10 Im Vorwort von »Chassidische Feier« und »Was die Tore des 16 Buber, Martin (1963): Der Chassidismus und der abend- Himmels öffnet« erwähnt Wiesel diese Begriffe, mit denen ländische Mensch, in: Werke dritter Band, München, S. 938. er die zentralen Themen der chassidischen Botschaft charak- 17 Buber, Martin (1963): Erzählungen der Chassidim, terisiert. in: ders., S. 93. 11 Wiesel, Elie (1974): Chassidische Feier, S. 10. 18 Baruch von Miedzyborz (ca. 1756 –1811) war ein Enkel 12 Wiesel, Elie (1981): Was die Tore des Himmels öffnet, S. 15. des Besht und Zaddik in der dritten Generation. 13 Ebd., S. 89. 127

Gegenstand, mündet im ewigen Du, in der Be- der Zaddik Baruch von Miedzyborz laut Darstel- gegnung mit Gott. Und dies sind auch die Fun- lung Bubers und Wiesels auslegte. Anhand der ken, von denen Luria spricht, die göttlichen Fun- Gegenüberstellung der Übersetzungen der beiden ken, die in der Welt zerstreut sind und die es auf- Autoren mit dem Originaltext, wobei in der Ta- zusammeln gilt. belle nur die Übersetzungen der Autoren abgebil- det wird, sollen deren unterschiedliche Nuancen 3 Die beiden Fremden – hervorgehoben werden. Die in fetter Schrift ge- eine chassidische Erzählung setzten Worte stellen dabei die Unterschiede der Übersetzungen in Hinblick auf die Wortwahl dar Die folgende chassidische Erzählung soll nun und verweisen auf die Entstehungszeit und den als Beispiel dienen, um das Verhältnis zwischen Wandel, den diese Erzählung in ihrer Übersetzung Mensch und Gott zu veranschaulichen, wie es durchlaufen hat. f Elie Wiesel Martin Buber

Was die Tore des Himmels öffnet (1981) Die Erzählungen der Chassidim (1949) Beiträge Ein zorniges Feuer der Hoffnung, S. 56f ›Die beiden Fremdlinge‹, S. 205

Im hundertneunzehnten Psalm spricht der Psalmensänger zu Gott: Eines Tages sagte Reb Baruch18

zu seinen Schülern: »Ein Fremdling bin ich auf Erden, Freie thematische verbirg mir nicht deine Gebote!«

Zu diesem Vers sagte Rabbi Baruch:

»Stellt euch einen Menschen vor, den man »Wer in die Ferne verschlagen wird und aus seiner Heimat vertrieben hat. Er kommt in ein unbekanntes Land gerät, der hat an einen Ort, an dem er keine Freunde hat, mit keinem Menschen Gemeinschaft und keine Verwandten. Sitten und Sprachen weiß sich mit keinem zu unterreden. des Landes sind ihm nicht vertraut. Natürlich fühlt er sich allein, schrecklich allein.

Plötzlich sieht er einen anderen Fremden, Wenn da aber ein zweiter Fremdling der auch niemanden kennt, an den er sich erscheint, mag auch dessen Heimat eine wenden könnte, der auch nicht weiß, andere sein, die zwei können miteinander wohin er gehen könnte. Die beiden Fremden vertraut werden und verweilen fortan treffen sich und lernen sich kennen. mitsammen und sind einander zugetan. Sie unterhalten sich und gehen eine Zeitlang Und wären sie nicht beide Fremdlinge, den Weg gemeinsam. Mit ein wenig Glück sie wären einander nicht nahegekommen.« können sie sogar gute Freunde werden.

Das meint der Psalmist: »Du bist wie ein Fremdling auf Erden und ZfBeg 1/2|2020 hast deiner Einwohnung keine Ruhestatt: Das ist die Wahrheit über Gott und so entziehe dich mir nicht, sondern enthülle den Menschen: Zwei Fremde, die versuchen mir deine Gebote, daß ich dein Freund Freundschaft zu schließen.« werden kann.« 128 Juliane Güler: Wandel einer chassidischen Botschaft – Martin Buber und Elie Wiesel über das Verhältnis von Gott und Mensch

Buber übernimmt Aufbau und Struktur vom recht unverbindlichen und vagen Begriff.Verschla- chassidischen Original und benennt auch den gen werden, dies kann auch aus eigener Entschei- Psalm 119, auf den sich diese Erzählung bezieht. dung heraus geschehen und beruht nicht notwen- Die Auslegung des Rabbi Baruch gestaltet in beiden digerweise auf Verfolgungen oder Pogromen. Übersetzungen den Hauptteil. Und hier muss der Wiesels Formulierung hingegen ist klarer und re- Vergleich zum Psalm selbst gezogen werden, um kurriert unmissverständlich auf die Schoah oder zu erkennen, dass es sich um eine mystisch-sym- andere Verfolgungen. Dies geht einher mit Ein- bolische Deutung handelt, in der die Passagen samkeit, wie es heißt: »Natürlich fühlt er sich al- kabbalistisch-chassidisch ausgelegt werden. lein, schrecklich allein.« Wiesel entnimmt dies Psalm 119 ist der längste Psalm mit 176 Ver- nicht dem Originaltext, sondern paraphrasiert, er- sen und thematisiert das Vertrauen auf Gott und klärt und lässt dabei vielleicht auch persönliche seine Gesetze, die Liebe zur Torah und das gute Erfahrung mitschwingen. Handeln nach göttlichen Geboten, aber auch vom Von dieser Einsamkeit, von der die Rede ist, f Fremd-Sein, wie es im neunzehnten Vers heißt: sind Mensch und Gott gleichermaßen betroffen,

Beiträge »Ein Gast bin ich im Land. Verbirg nicht vor mir wie es in der chassidischen Erzählung heißt. deine Gebote.« 19 Die eigentliche Semantik des Mensch wie Gott sind auf Wanderschaft, fremd, Psalms handelt von realem, historischem Verlust doch wenn sie einander begegnen, kann dieser von Heimat, nicht im mystischen Sinn um das Begegnung Freundschaft innewohnen. Beide Au- Fremdsein des göttlichen Funkens im Weltlich- toren beenden ihre Übersetzung mit der Folgerung, Materiellen, wie es die chassidische Erzählung dass Gott und Mensch Freundschaft schließen,

Freie thematische auslegt. wobei Wiesel es einen Versuch nennt. Zu Beginn der Erzählung wird der erste Unter- schied zwischen beiden Übersetzungen deutlich, 4 Fazit wo es bei Wiesel heißt: »Stellt euch einen Men- schen vor, den man aus seiner Heimat vertrieben In diesem kurzen Abriss zeigt sich der Wandel hat.« Buber aber übersetzt: »Wer in die Ferne ver- einer Erzählung an zwei Autoren und ihrer Über- schlagen wird.« Welcher Semantik unterliegt nun setzung. Wie es Wiesel in einem Vorwort sagt, aber die hebräische Ursprungsform? Das hebräi- bringen Wiederholungen immer wieder neue Be- sche Wortnoded bedeutet wandern, durchstreifen deutungen ans Licht, erneuern sich und bleiben oder migrieren. Es impliziert lange als auch kur- so stets aktuell. Im Kern stimmen beide Überset- ze Strecken des Reisens und Wanderns, kann so- zungen in der Botschaft überein, dass das Band wohl Migration, die aus eigener Entscheidung he- zwischen Mensch und Gott das Band der Freund- raus getroffen ist bedeuten, als auch erzwungene. schaft ist oder sein kann. Die jüdische Geschichte ist geprägt vonWanderun- gen und die meisten von ihnen waren unfreiwil- lige. Buber verwendet mit »verschlagen« einen

ZfBeg 1/2|2020 19 Psalm 119,19. 129

Der leise Zweifel, die Anklage, die bei der Mög- lichkeit mit Gott Freundschaft zu schließen bei Wiesel mitschwingt, begründet sich durch seine Erfahrungen während der Schoah. Im Gegensatz dazu kann Buber, der seine Erzählungen der Chas- sidim vor der Schoah verfasst, seine Übersetzung positiver und hoffnungsvoller formulieren, da er nicht im Kontext tatsächlicher, historisch-erfahre- ner Vertreibung, Heimatlosigkeit und Exil steht. Bei Buber liegt eine allgemeine mystisch-spiritu- elle lurianische Fremdheit aller Menschen und göttlichen Funken sowie Gott zugrunde, die durch die Erfüllung der Mitzwot von dem Menschen in messianischer Funktion aufgelöst werden kann. f

Während Baruch und Buber die Erzählung bzw. Beiträge den Psalm somit eher chassidisch in lurianischer Tradition auslegen, verbindet Wiesel diese mit sei- ner Schoah-Erfahrung und bezieht damit den ur- sprünglichen nicht-mystischen Inhalt des Psalms wieder ein.

Wiesel formuliert es als Möglichkeit, einen Eine besondere chassidische Botschaft war bei- Freie thematische Versuch, worin seine Schoah-Erfahrung zum Aus- den Autoren wichtig, weiterzugeben, sei es in der druck kommt und eine gewisse Anklage. Es gibt Ich-und-Du-Philosophie Bubers, wo in der Begeg- noch einige andere Stellen in den Werken Wiesels, nung der Menschen die Begegnung mit Gott ruht, an denen er die Beziehung zwischen Mensch und oder bei Wiesel, der »die Überzeugung sichtbar Gott als Freundschaft charakterisiert. werden [ließ], dass die unmittelbare menschliche Dagegen kommen bei Buber vorrangig die Begegnung, sei es in der Spielart Lehrer – Student mystisch-kabbalistischen Aspekte, die auch im Ori- (in Anlehnung an die Beziehung Meister – Schü- ginal mitschwingen, zum Ausdruck. Da wäre das ler im Chassidismus, die er in mehreren seiner Innewohnen Gottes im Menschen, einem mystisch- Bücher im Einzelnen entfaltete) oder in der wech- kabbalistisches Konzept, das Buber als Ausdruck selseitigen Freundschaft ein wesentlicher Bestand- der Begegnung auslegt. Gott und Mensch werden teil des Lernens und ein Eckstein seiner Pädago- einander zugetan sein und sich nahekommen. Im gik war.« 20 Sinne des Kulturzionismus und der jüdischen Re- naissance, denen Buber angehörte, kann jede Frem- de ein Ort der Heimat werden.

20 Kanofsky, Joseph A. (2017): Die Pädagogik Elie Wiesels: ZfBeg 1/2|2020 uns menschlicher machen, in: ZfBeg 1/2-2017, S. 72. a ZfBeg

1/2 Aktuell | 2020 130 1 nenten einebundesweiteOnline-GebetsaktionJu- ebenfalls imAprilunterstütztvonvielenPromi- setzt werden.ÄhnlichauchinDeutschland,wo chen derVerbundenheit inschwerenZeitenge- tanzierung eineweltumspannendeNähealsZei- diese Weise trotzdesGebots zu physischerDis- bunden durchdiverseInternetkanälekonnteauf men, weltumspannendenGebeteingeladen.Ver- und andere–AnfangAprilzueinemgemeinsa- tentum, Islam,Hinduismus,Buddhismus,Bahai Judentum,Chris- – großen Religionsgemeinschaften Organisation »ReligionsforPeace«Vertreter der viele interreligiöseInitiativen.Sohatteetwadie übertrug sichjedocherfreulicherWeise auchauf bet undGottesdienstversammelnzukönnen, media gionen dasHandicapmittelsInternetund geplant waren. schaften fürchristlich-jüdischeZusammenarbeit text bundesweitdurchdiemehrals80Gesell- Hunderte vonVeranstaltungen, dieindiesemKon- den sollte.Siemussteabgesagtwerdenwieauch Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnetwer- Rahmen BundeskanzlerinAngelaMerkelmitder Brüderlichkeit« inDresdenAnfangMärz,deren wie etwadiezentraleEröffnungder»Woche der von warenauchalleinterreligiösenAktivitäten, zum Stillstandgebracht.Unmittelbarbetroffenda- giöse Leben,wiewireskennen,nahezuweltweit sellschaftliche, wirtschaftliche,kulturelleundreli- Aktuelle Notizen www.compass-infodienst.de. COMPASS-Infodienst, Zusammenstellung: Die kreativeKraft,mitderdieeinzelnenReli- Der AusbruchderCorona-Pandemiehatdasge- »Bande derFreundschaft« Papst undRoms Oberrabbiner betonen Ein Virus die zwingt Welt indieKnie– umgingen, sichnichtmehrphysischzuGe- Dr. ChristophMünz 1 social Hilfe zubitten«. wissen zuerforschenundunserenSchöpferum jetzt »verpflichtetzuhelfen,trösten,ihrGe- Gemeinwohl zusammenzuarbeiten.«Alleseien bensrichtungen unddieNotwendigkeit,fürdas konkret diegemeinsamenWerte unsererGlau- nau indiesenMomentenderKrisespürenwir christlichen OsterfestantworteteDeSegni:»Ge- seinem DankesschreibenmitGlückwünschenzum men EinsatzesfürdieSchwächsten«erneuern.In die »BandederFreundschaftunddesgemeinsa- gegenwärtigen Prüfung,diewiralledurchleben«, schrieb Franziskus,erwolle»insbesondereinder an diejüdischeGemeindeRomszumPessach-Fest Di Segni,gegenseitigeGrüßeaus.IneinemBrief ziskus undderOberrabbinervonRom,Riccardo spenstisch leer. GleichwohltauschtenPapstFran- platz inRomunddieVia DolorosainJerusalemge- sach bliebenKirchenundSynagogen,derPeters- »Deutschland betetgemeinsam«. den, ChristenundMuslimezusammenführten: Historisch einmalig:SelbstanOsternundPes- Kirchengemeinde Laufenburg auf dieOnline-Gebetsaktion Hinweis derEvangelischen am 8. April2020. lionen Mitgliedern. sche GemeinschafteninEuropamitrund2,5Mil- Brüssel vertrittnacheigenenAngaben42jüdi- bart wordenwar. DieOrganisationmitSitzin mit demeinestärkereZusammenarbeitverein- dass derPapsteineDelegationdesEJCempfing, gleichheit. Nach2017waresdaszweiteMal, Migration, mangelndeBildungundglobaleUn- diesen zähltenHass,Extremismus,Problemeder forderungen derGegenwartzuverknüpfen.Zu diese mitdenethischenundmoralischenHeraus- Erinnerung andenHolocaustwachzuhaltenund Papst Franziskustretevorbildlichdafürein,die ohne Antisemitismus"einsetzen.Kantorbetonte, Persönlichkeit, diesichfüreine"inklusivereWelt ten jährlicheinejüdischeundnicht-jüdische jüdisch-christliche Freundschaft.DenPreiserhal- sion-Award 2020«fürdessenVerdienste umdie Moshe KantorPapstFranziskusden»Golden-Vi- Februar imVatikan überreichteEJC-Präsident Europäischen JüdischenKongresses(EJC)Mitte Während desEmpfangseinerDelegation verleiht Preis anFranziskus Europäischer JüdischerKongress EJC-Präsident MosheKantor. Papst Franziskus mit Christentums. den NiederlandenderjüdischenWurzeln des ken dieKircheninPolen,Italien,Österreichund dem »Tag desJudentums«am17.Januargeden- tums« inPolendieWege geleitet habe.Mit Jahren denseitherbegangenen»Tag des Juden- zwischen KatholikenundJudeninPolen«vor23 2005),derals»SchutzpatrondesDialogs – (1978 erinnerte MuszynskianPapstJohannesPaulII. schöfe fürdasGesprächmitdenJuden. Warschau undderKommissionpolnischenBi- Beförderung desjüdisch-christlichenDialogsin war Vorsitzender deskatholischenInstitutsfürdie worden. Der86-jährigeAlterzbischofvonGnesen Pole mitderjüdischenAuszeichnunggewürdigt 2015)als zweiter – dyslaw Bartoszewski(1922 bischof MuszynskiistnachdemHistorikerWla- Dialogs« geehrtworden.Der2010emeritierteErz- dischen Zusammenarbeitmitder»Menorahdes dienste inderchristlich-jü- Muszynski fürseineVer- Primas ErzbischofHenryk ist derfrüherepolnische Judentums« (17.Januar) dern begangenen»Tags des reren europäischenLän- christlichen Kircheninmeh- Bei derVerleihung derAuszeichnunginPosen Anlässlich desvonden Judentum geehrt für Dialogmit Polens Primas emeritierter 131 ZfBeg 1/2 | 2020 Aktuell a 132 Aktuelle Notizen

Armin Laschet erhält liegen seit kurzem in einer neubearbeiteten Auf- Israel-Jacobson-Preis 2020 lage vor. Peter von der Osten-Sacken und Fried- rich Duensing stellen den Liturgischen Lesungen Die Union progressiver knappe Texte – Präfamina – voran, die im Hori- Juden in Deutschland hat zont des christlich-jüdischen Gesprächs den Lek- Anfang März den nord- tor_innen eine behutsame Orientierung zu Ort, rhein-westfälischen Minis- Intention und Verstehen der Texte bringen. Die terpräsidenten Armin La- knappen Texte können einem neuen Hören der schet mit dem Israel-Ja- biblischen Texte dienen und dazu verhelfen, eine cobson-Preis 2020 ausge- liturgische Sprache und Orientierung im Umgang zeichnet. Laschet erhalte mit den Herzstücken des christlichen Gottes- »die Auszeichnung in An- dienstes zu gewinnen. Die nunmehr dritte, auf erkennung seiner großen Verdienste für das libe- der Grundlage der Perikopenordnung von 2018 rale Judentum, für die Stärkung des jüdischen Le- neubearbeitete Auflage umfasst ca. 80 Seiten und bens in Nordrhein-Westfalen in seiner ganzen Viel- kann für € 5,– pro Exemplar (Staffelpreise: ab 20 falt sowie für seinen persönlichen Einsatz für Be- Stück € 4,–, ab 50 Stück € 3,–) ab sofort beim gegnung und Dialog zwischen den Religionen ASF bestellt werden: [email protected]. a und Kulturen«, hieß es in der Begründung.

Aktuell Israel Jacobson (1768 –1828) gehörte zu den »Toleranzwagen« demonstriert inter- Begründern des liberalen Judentums in Deutsch- religiöse Verbundenheit auch im Karneval land. Die Union progressiver Juden würdigt seit 2001 alle zwei Jahre Menschen, die sich um ein Zum zweiten Mal in der Geschichte des Kar- vielfältiges Judentum verdient gemacht haben. Zu- nevals zogen Juden, Protestanten, Katholiken und meist handelt es sich bei den Ausgezeichneten Muslime am 24. Februar 2020 im Düsseldorfer um Rabbiner, hin und wieder jedoch auch andere Rosenmontagszug erneut mit einem gemeinsa- Persönlichkeiten. So erging 2014 der Preis an den men »Toleranzwagen« durch die NRW-Landes- heutigen Außenminister Heiko Maas (SPD) und hauptstadt. Die Seiten des von Juden, Protestan- 2018 an den Ministerpräsidenten von Thüringen, ten, Katholiken und Muslimen konzipierten »To- Bodo Ramelow (Linke). leranzwagens« zeigten auf blauem Hintergrund eine evangelische Pfarrerin, einen katholischen Präfamina – Einleitungen zu den gottesdienstlichen Lesungen

Die von der Aktion Sühnezeichen Friedens- dienste (ASF) herausgegebenen »Präfamina – Ein- leitungen zu den gottesdienstlichen Lesungen«

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Bischof, einen jüdischen Rabbiner und einen mus- stellung der für die jeweilige Religion typischen limischen Imam gut gelaunt und jeweils mit einer Gotteshäuser in Düsseldorf verziert, also die Syna- roten Pappnase. Darüber hinaus war der von ins- goge, die evangelische Johanneskirche, die katho- gesamt 32 Närrinnen und Narren der vier Religi- lische Lambertuskirche sowie die noch im Früh- onsgemeinschaften besetzte Wagen mit den vier jahr dieses Jahres eröffnende große Moschee im Symbolen der Religionen und jeweils einer Dar- Düsseldorfer Stadtteil Reisholz.

Ankündigung

Forschungsgruppe REMEMBER (2020): Erinnerung an den Holocaust im Religionsunterricht Empirische Einblicke und didaktische Impulse Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 280 Seiten, ISBN 978-3-17-038912-0

Die internationale Stu- caust aus der Sicht von Lehrerinnen und Lehrern; die REMEMBER ist die religionspädagogische Konsequenzen und religi- erste große Untersu- onsdidaktische Impulse. a

chung zur Erinnerung an den Holocaust im Reli- An der Forschungsgruppe REMEMBER sind Aktuell gionsunterricht. Religionslehrerinnen und -lehrer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Uni- sind in ihrem Unterricht, bei Exkursionen und versitäten und Hochschulen in Tübingen, Zürich, schulischen Veranstaltungen besonders engagiert, Wien, Mainz, Freiburg und München beteiligt: das Gedenken wachzuhalten. In der empirischen Stefan Altmeyer, Reinhold Boschki, Sonja Danner, Erhebung in Deutschland, Österreich und der Ralf Gaus, Burkard Hennrich, Martin Jäggle, An- Schweiz geben erstmals mehr als 1.200 Lehrkräf- drea Lehner-Hartmann, Stefan Lemmermeier, Re- te Auskunft über ihre Motivationen zu diesem becca Nowack, Viera Pirker, Martin Rothgangel, Thema, berichten über ihre didaktischen Realisie- Thomas Schlag, Wilhelm Schwendemann, Julia rungen, positive Erfahrungen, aber auch über Wi- Spichal, Angelika Treibel, Anna Weber, Michèle derstände der Lernenden und Ambivalenzen. Wenger. Aus dem Inhalt: Theoretische kulturwissen- Insgesamt zeigt die Studie die Chancen und schaftliche, pädagogische und theologische Aspek- Potentiale auf, die der Religionsunterricht hat, um te des Erinnerns an den Holocaust; Hauptergeb- die Erinnerung an den Holocaust weiterzugeben nisse der Studie; länderspezifische Analysen und und ein positives Bild des lebendigen Judentums exemplarische Analyse von Lehrplänen (Deutsch- zu zeichnen. Religionslehrkräfte leisten damit einen land, Österreich, Schweiz); Bedingungen gelin- wesentlichen Beitrag zur Prävention von Antise- genden Unterrichtens zur Erinnerung an den Holo- mitismus.

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Rezensionen

Kasper, Walter Kardinal (2020): Juden und Christen – das eine Volk Gottes Freiburg: Herder, 160 Seiten ISBN 978-3-451-39619-9

Das neue Buch von Walter Kardinal Kasper ist ein Statement, ein leidenschaftliches Bekenntnis zum jü- disch-christlichen Dialog. Gerade in einer Zeit, in der antisemitische Klischees neu verfangen und Stereoty- pen auferstehen, von denen man anzunehmen geneigt war, dass sie endgültig ad acta gelegt worden seien, ge- rade in einer solchen Zeit des drohenden Rückfalls in den Antisemitismus, erscheint diese Publikation mit dem klaren und wahren Titel: »Juden und Christen – das eine Volk Gottes«. Im Vorwort, das vom Juni 2019 in Rom datiert ist, heißt es: »Ich hoffe, dass die Veröffentli- chung ein Ansporn sein kann, dem leider neu aufflam- menden Antisemitismus mit ganzer Kraft zu widerste- hen.« (S. 11) Mit ganzer Kraft – theologisch geschulte Ohren können hier unschwer einen Anklang an das Schma Israel, das »Höre Israel«, erkennen, das nicht selten und nicht zu Unrecht als jüdisches Glaubensbe- Bekenntnis zu Jesus als dem Christus ist das Bekennt- kenntnis gedeutet wird: »Höre, Israel! Der HERR, unser nis zur Treue Gottes zu seinem Volk.« (S. 28) Dass der lit Gott, der HERR ist einzig. Darum sollst du den HERR, Begriff »Volk« an dieser Stelle sich zuerst – und mit Papst deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Johannes Paul II. gesprochen – auf die Jüdinnen und Bücherschau

| Seele und mit ganzer Kraft.« (Dtn 6,4f.) Das Bekennt- Juden als »unsere bevorzugten … unsere älteren Brü- nis zur Einheit von Juden und Christen ist somit von der [und Schwestern]« (S. 114) bezieht, wird aus dem Beginn an als dogmatische Aussage höchsten Ranges unmittelbar anschließenden Satz unmissverständlich zu werten. deutlich, der mit »auch« beginnt: »Auch der christliche Als ehemaliger Präsident des Päpstlichen Rates zur Glaube richtet und verlässt sich ganz auf Gott und sei-

Rezensionen Förderung der Einheit der Christen und damit auch ne in Jesus Christus endgültig geoffenbarte Treue- der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Wahrheit.« (S. 28) Judentum in den Jahren 2001 bis 2010 weiß Kardinal Dabei verschweigt Kardinal Kasper keineswegs, Kasper, worüber er spricht: über die Einheit des Volkes dass der jüdisch-christliche Dialog »ein schwieriger Dia- Gottes. Und als ehemaliger Professor für Dogmatik in log« ist und »ein schwieriger Dialog bleiben« wird. (S. Münster und Tübingen in den Jahren zuvor, von 1964 124) Umso mehr bedarf er der größten theologischen bis 1989, weiß Walter Kasper, wovon er zu sprechen Aufmerksamkeit und der intensiven bibeltheologischen, hat: vom Kern des christlichen Glaubens, der nicht ohne theologiegeschichtlichen, systematisch-theologischen Bekenntnis zu Gottes unverbrüchlicher Treue zum jü- und praktischen Auseinandersetzung und Vergewisse- dischen Volk zu denken ist. Mit Bezug auf den Apostel rung. In insgesamt acht Einzelbeiträgen stellt sich Kar- Paulus kann Walter Kardinal Kasper daher sagen: »Das dinal Kasper dieser Herausforderung.

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Walter Kardinal Kasper Der erste und mit Abstand nen Gedankengang ebenfalls mit einer Bezugnahme umfangreichste Beitrag, der auf Auschwitz eröffnet, wird die Differenz zu Walter fast die Hälfte des gesamten Kardinal Kasper schnell kenntlich: Denn während Kas- Buchumfangs ausmacht, trägt per von einer »Wende im Verhältnis von Juden und den Titel: »Juden und Chris- Christen« (S. 13) spricht, geht es Ratzinger zufolge da- ten – Neuanfang nach der rum, »dass die Kirche die Frage nach dem Wesen des Katastrophe der Schoah« (S. Judentums neu bedenken muss.« Wendebewusstsein 13 – 73). Dieser Eröffnungs- hier – Wesensspekulation dort: Die Grunddifferenz text, der im Unterschied zu könnte kaum stärker sein und findet ihren Ausdruck den übrigen Beiträgen eine in einer unterschiedlichen Bewertung der sog. Substi- Erstveröffentlichung darstellt, tutionstheorie, d.h., einer »Theorie des Ersatzes und der ist von grundsätzlicher Bedeutung – auch und gerade Enterbung der Juden« (S. 40). Während Joseph Ratzin- für die katholische Theologie sowie für den Dialog zwi- ger/Benedikt XVI. die Existenz dieser Substitutions- schen dem Judentum und der katholischen Kirche. Der theorie bestreitet, weil sie sprachhistorisch nicht nach- Aktualitätsbezug wird durch das Framing des Textes weisbar sei, legt Kasper eindrücklich in einem konzisen deutlich: Kardinal Kasper setzt bewusst das erste Kapi- theologiehistorischen Rückblick die »Tragik der Substi- tel unter die programmatische Überschrift: »Ein Blick tutionstheorie« (S. 34 – 40) dar und kommt wiederholt zurück nach vorne« (S. 13 –19), um zweierlei zu errei- auch in den nachfolgenden Beiträgen auf diese theolo- chen: Erstens betont Kardinal Kasper die grundsätzliche gisch fatale Theoriebildung zu sprechen (vgl. S. 95; S. »Wen- de« (S. 13) im Verhältnis der Kirche zum Juden- 113; S. 122). Vor dem Hintergrund dieser Substituti- tum, indem er von der Schoah als der »Niederlage« onstheorie steht das, was Kasper als »kirchliche Um- und »moralische[n] Katastrophe Europas« ausgeht und kehr« (S. 94f.) bezeichnet. Unmissverständlich heißt die Bemühungen um einen neuen, ehrlichen Dialog es daher: »Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat zwischen Juden und Christen würdigt – beginnend mit die christliche Theologie die alte Substitutionstheorie Papst Johannes XXIII. und dem »jüdische[n] Gelehrte[n] aufgegeben und hält an der bleibenden Gültigkeit des lit Jules Isaak (1877–1963)« (S. 13). Der Rückblick ge- Bundes Gottes mit dem jüdischen Volk fest.« (S. 122) Bücherschau winnt auch eine persönliche Note, insofern er die Zeit, Die theologie- und dogmengeschichtliche Kenntnis | in der Kardinal Kasper für die Beziehungen der katho- Kaspers führt zu der Zuversicht, dass die katholische lischen Kirche zum Judentum maßgeblich verantwort- Kirche weder die Wahrheit noch – falls hier überhaupt lich zeichnete, in die Reflexion einbezieht. Zweitens eine Differenz besteht – die »historische Wahrheit« (S. greift Kasper »neue Problemstellungen« auf, die sich im 120) fürchtet. jüdisch-christlichen Gespräch in der jüngsten Vergan- Kardinal Kasper bleibt – und das ist eine bemer- Rezensionen genheit ergeben – dazu zählen aktuelle Publikationen kenswerte Stärke seiner theologischen Arbeit – weder ebenso wie die »Irritationen« (S. 17), die Äußerungen bei einer dogmatischen Kritik seines früheren Kollegen von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. zum jüdisch- stehen noch verkennt er die hoffnungsvollen Zeichen christlichen Dialog kürzlich hervorgerufen haben. aufrichtiger Dialogbemühungen – auch und gerade in Kaspers Veröffentlichung ist also auch ein theologi- der Theologiegeschichte. Beeindruckt von jungen Dok- sches und kirchliches Statement, das ein nicht unkriti- toranden der Hebrew University in Jerusalem, die sich sches Gespräch mit dem emeritierten Papst Benedikt den »guten Zeiten der jüdisch-christlichen Geschichte« XVI. aufnimmt, der seinerseits im Jahr 2018 einen kon- (S. 41) widmeten, stellt Kasper auch »Lichtblicke im trovers diskutierten Text über den Traktat »De Iudaeis« Dunkel der Geschichte« (S. 40 – 53) dar: In differenzier- verfasst hatte. Da Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. sei- ter Sichtung kommen die Toleranzbemühungen früh-

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mittelalterlicher Päpste sowie der Theologen Bernhard deutlich machte, dass zwar ein Dialog über eine Deu- von Clairvaux, Hildegard von Bingen, Hugo von Sankt tung Jesu zwischen Juden und Christen notwendig, Ju- Viktor und Thomas von Aquin zur Sprache. Am Ende denmission aber aus theologischen Gründen ausge- seines ersten Beitrags greift Kardinal Kasper das escha- schlossen sei (vgl. S. 16). tologische – und auch in Nostra aetate zitierte – Bild des Propheten Zefanja (S. 3, S. 9) auf, dass Juden und Von grundsätzlicher Bedeutung ist schließlich auch Christen gemeinsam »Schulter an Schulter« Gott die- der Text »Nostra aetate und die Zukunft des jüdisch- nen (S. 60 – 63). christlichen Dialogs« (S. 109 –129), in dem Kardinal Kasper drei »Künftige Aufgaben und Herausforderun- Im Unterschied zu seinem ersten Beitrag, der im gen« benennt (S. 120–126): ausführlichen Anmerkungsteil aktuelle Literaturhin- 1 die historische Aufarbeitung, die zum eigenen weise enthält, sind die übrigen Texte, die anlassbezogen und zum gegenseitigen Kennenlernen unverzicht- entstanden sind, bereits an anderer Stelle erschienen. bar ist, Dennoch ist die Neuaufnahme sinnvoll und hilfreich: 2 als zentrales dogmatisches Problem die Frage: Denn die neue Zusammenstellung ergänzt und vertieft »Wie ist die Weitergeltung des alten Bundes mit die grundsätzlichen Darlegungen des ersten, bisher un- der für den neuen Bund grundlegenden univer- bekannten Beitrags und bildet die Wegstrecke des Den- salen Heilsbedeutung Jesu Christi vereinbar kens und der Bemühung um eine Erneuerung des (vgl. Röm 3,21-31)?« (S. 122), jüdisch-christlichen Dialogs ab. Für die schulische Pra- 3 die praktische Zusammenwirkung an einer xis sind die kurzgefassten »Hinweise zu dem Fragenka- gerechteren Zukunft. talog für das Projekt ›Judentum im katholischen Reli- gionsunterricht‹« (S. 75–79) ebenso bedeutend wie Der letzte Beitrag, der dem gesamten Band den die »Ansprache zur Woche der Brüderlichkeit 2007 in Titel gegeben hat: »Juden und Christen – Das eine Volk München« (S. 101–108) oder der – gleichermaßen Gottes« (S. 143 –157), bündelt abschließend die Schwie- lit mit Geschichts- und Zukunftsbezug verfasste – Text rigkeiten und die Chancen eines künftigen Dialogs zwi- über »Die Reichspogromnacht und die Gleichgültig- schen Juden und Christen. Bücherschau

| keit« (S. 81– 89). Ein bemerkenswertes Zeugnis inner- katholischer Selbstverständigung ist die Dokumenta- Zusammenfassend gilt es festzuhalten: Dieser Sam- tion »Theologische Schwerpunkte im christlich-jüdi- melband von Walter Kardinal Kasper ist ein bedeuten- schen Gespräch« (S. 131–142); nach einem Auszug aus des und zukunftsorientiertes Vermächtnis zu Lebzei- dem bedeutenden Papier des international renommier- ten. Es bleibt zu hoffen, dass die folgenden Generatio-

Rezensionen ten Gesprächskreises »Juden und Christen« beim Zen- nen von Theologinnen und Theologen sowohl jüdischer tralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) ist ein als auch christlicher Provenienz das hier entwickelte Briefwechsel zwischen Kardinal Kasper und dem dama- historische und dogmatische Bewusstsein aufgreifen ligen Vorsitzenden des Gesprächskreises, Hanspeter und die in einem Text paradigmatisch gestellte Frage als Heinz, abgedruckt; eingehend wird hier das christolo- interesse- und forschungsleitende Fragestellung ihres gische Bekenntnis und die gleichzeitige Absage der ka- eigenen Redens und Tuns erkennen: »Wer soll denn, tholischen Kirche an die Judenmission diskutiert und wenn nicht wir, Juden und Christen, die Fackel dieser theologisch begründet. Darin besteht – aller Nuancie- Hoffnungswahrheit hochhalten?!« (S. 108) Dass diese rungen zum Trotz – Einigkeit mit Joseph Ratzinger/Be- Frage keineswegs nur rhetorisch zu verstehen ist, macht nedikt XVI., der als Reaktion auf die internationale Kri- möglicherweise die Tragik und die Größe unserer Ge- tik seines zuvor genannten Beitrags unmissverständlich genwart aus. René Dausner

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Martin Buber Werkausgabe Bd. 12 (2017): Schriften zu Philosophie und Religion Band 12, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 909 Seiten, ISBN 978-3-579-02688-6

Der zwölfte Band der Werkausgabe umfasst Texte aus den Jahren 1922 –1964, die sich insgesamt mit dem Verhältnis von Philosophie und Religion auf dem Hintergrund von Existenzfragen und dem dialogischen Ansatz Bubers beschäftigen. Religion als Gegenwart dürfte eine Vorstudie von Ich und Du sein. Grundlegen- de Texte sind neben Religion als Gegenwart, Die Reli- gion als Wirklichkeit, Das Problem des Menschen, Zur Situation der Philosophie, Bilder von Gut und Böse, gegenübersteht, nicht zu erfahren, sondern zu verwirk- Gottesfinsternis u.a. lichen. Ich mache es nicht zu einer Erfahrung, indem Religion als Gegenwart sind acht Vorlesungen, die ich in die Beziehung zu ihm trete, sondern ich mache zwischen dem 15.1.1922 und 12.3.1922 im Freien Jü- es zu einer Wirklichkeit, zu einer Gegenwart…« (S. dischen Lehrhaus in Frankfurt a. M. auf Einladung Franz 121). Religion müsse Gegenwart bleiben und dürfe Rosenzweigs gehalten wurden. Die Vorträge waren nicht zum Gegenstand werden (S. 129). Religion ge- Vorarbeiten zu Ich und Du; Buber und Rosenzweig ver- höre in die Beziehung zum ewigen DU, zu Gott (S. suchten in der deso- laten Lage nach dem Ersten Welt- 131). Diese Du-Beziehung sei für die Existenz der Re- krieg dem deutschen Judentum wieder auf die Beine zu ligion entscheidend (S. 144). Gott werde jedoch in der helfen, weil die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft im- Es-Welt zum Gegenstand, d.h. zum Ding (S. 147). Das mer mehr mit Ressentiments auf die jüdische Bevölke- Du-Sagen sei in der Es-Welt nicht möglich (S. 157). Die rung reagierte und der Antisemitismus immer gewalt- Du-Dimension wird von Buber noch einmal in seinen tätiger wurde (S. 583). Ob Religion Gegenwart sei, die Überlegungen Was soll mit den zehn Geboten gesche- lit Bücherschau

zur Vergangenheit werden könne, ist die Grundfrage hen? (1929) deutlich. Wichtig sei die persönliche Du- | Bubers. Er charakterisiert in diesen Vorträgen Religion Anrede (S. 206) und nicht das Abgleiten in die Es-Welt als unbedingte Wirklichkeit, aus der der Mensch leben durch ein ethisches Sollen: »Nicht zu einer Buchrolle, könne (S. 89). Relativierung und Funktionalisierung nicht einmal zu den Steintafeln, auf die sie einst, nach- von Religion seien der Tod im Topf (S. 91). Religion dem sie gesprochen waren, ›der Finger Gottes grub‹, ruhe auf dem Fundament einer Seinsbindung (S. 97); sondern zu der Gesprochenheit des Wortes, zur Schrift Rezensionen auch das Sittliche könne nicht mit dem Religiösen iden- der Stimme« wolle er hinführen (S. 207). tifiziert werden (S. 100). Die Unabhängigkeit des Geis- Die Schrift Das Problem des Menschen ist Bubers tes spiegele sich in der Unabhängigkeit des Religiösen Grundlegung einer dialogischen Anthropologie (S. 652); (S. 108) – Religion sei gerade kein schlechtsinniges Ab- sie entstand 1942 in hebräischer Sprache und erschien hängigkeitsgefühl (gegen Schleiermacher) (S. 110). Für 1948 in Deutsch. Die Schrift ist eine herausragende Buber gehört das Religiöse, Religion überhaupt, grund- Auseinandersetzung mit Immanuel Kants Fragen zur An- sätzlich in eine Ich-Du-Beziehung hinein (S. 117). Die thropologie:»Im Es der Einsamkeit wird sich der Mensch Gefahr für jede Religion bestehe darin, sich in Ich-Es- am unerbittlichsten zur Frage, und eben daher, da die Beziehungen zu verlieren. Religion brauche das Gegen- Frage grausam sein Herrlichstes aufruft und ins Spiel übertreten zu einem DU: »Ich habe das Du, das mir zieht, wird er sich zur Erfahrung« (S. 231).

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Im Abschnitt von Aristoteles zu Kant schließt sich den« (S. 382). Wer Gott liebe, so Buber, liebe keine Buber Baruch Spinoza an (S. 238ff) und bleibt doch nah Idee von Gott (S. 395). Gott könne philosophisch, d.h. an Kant: »Was ist das für eine Welt, die der Mensch er- gegenständlich begrifflich, nicht erkannt werden (S. kennt? Wie kann der Mensch, so wie er in seiner kon- 446), weil jedes menschliche Erkennen Relation zu einem kreten Wirklichkeit ist, überhaupt erkennen? Wie steht Gegenstand sei, d.h. in die Es-Welt gehöre (S. 461). der Mensch in der so von ihm erkannten Welt, was ist sie In Antwort gibt Buber diesbezüglich eine bedeut- ihm und was ist er ihr?« (S. 240). An Kant werden die same Antwort: »Ich muß es immer wieder sagen: Ich anthropologischen Entwürfe von Georg Wilhelm Fried- habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich zeige Wirk- rich Hegel und Karl Marx gemessen (S. 242) – Friedrich lichkeit, ich zeige etwas aus der Wirklichkeit, was nicht Nietzsche wird von Buber, ebenso wie Ludwig Feuer- oder zu wenig gesehen worden ist. Ich nehme ihn, der bach, in die anthropologische Reduktion gestellt (S. mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster. 253); Heidegger wird ein »geschlossenes System« at- Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus. Ich habe testiert (S. 279). keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.« (S.471). Bilder von Gut und Böse (1949/1952) ist eine Ver- Wer Bubers philosophischem Grundverständnis arbeitung der beiden Weltkriege und des verbrecheri- des Menschen und Menschseins und seiner Auseinan- schen Nationalsozialismus, um die anthropologische dersetzung mit Platon, Aristoteles oder Philosophen Wirklichkeit von Gut und Böse im faktischen Lebens- wie Descartes, Spinoza, Kant, Nietzsche, Kierkegaard, zusammenhang darzustellen (S. 695). Gut und Böse Heidegger u.a.m. auf die Spur kommen will, dem sei sind für Buber nicht antinomisch, sondern prinzipiell dieser Band der Werkausgabe besonders ans Herz ge- wesensungleich (S. 695) – die Existenz des Bösen for- legt. Wilhelm Schwendemann dere den Menschen auf, gegen das Böse zu kämpfen. Gottesfinsternis entstehe dann, wenn sich der Mensch der ganzen Wirklichkeit entziehe, sich dem Du Gottes Grözinger, Karl Erich (2019): verweigere. Buber verteidigt Baruch Spinoza gegen Jüdisches Denken. lit Kant und dessen Behauptung: »Gott ist keine äußere Theologie – Philosophie – Mystik Substanz, sondern bloß ein menschliches Verhältnis in Bd. 5: Meinungen und Richtungen Bücherschau | uns« (S. 369). Für Buber lässt sich Gott nicht auf ein im 20. und 21. Jahrhundert Postulat der praktischen Vernunft reduzieren – es geht Frankfurt am Main: Campus Verlag, 857 Seiten ihm gegen Nietzsche und Martin Heidegger um die per- ISBN 978-3-593-51107-8 sönliche Begegnung mit Gott, auf die alle Gottesbilder https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/ bezogen bleiben (S. 373): »Es ist die Situation des Men- wissenschaft/geschichte/juedisches_denken_ Rezensionen schen, der das Göttliche nicht, nicht mehr, als sein Ge- theologie_philosophie_mystik-9963.html genüber erfährt – es nicht zu erfahren wagt oder es nicht zu erfahren vermag, gleichviel: da er sich ihm existen- Nach 839 Seiten steht wie in Heiligen Büchern über tiell entzogen hat, hat er es als Gegenüber verloren.« einer Arabeske die Formel: Tam WeNischlam HaSefer (S. 377). BeEsrat HaEl Jitbarach, d.h.: Beendet und vollendet das Bubers roter Faden, auch durch die anderen Texte Buch, mit Hilfe Gottes, Er sei gesegnet. Die Eulogie be- des Bandes, bleibt die Grundeinsicht, dass sich Religion zieht sich nicht nur auf den anzuzeigenden Band allein, auf die Begegnung des menschlichen Ichs mit dem sie schließt die 3.764 Seiten Text und 137 Seiten Biblio- göttlichen Du und Philosophie auf die denkerische graphie von Karl Erich Grözingers monumentalem Fünf- Zweiheit von Subjekt und Objekt (S. 378) gründen: »Die buch: Jüdisches Denken. Theologie, Philosophie und religiöse Äußerung ist an die konkrete Situation gebun- Mystik von der Bibel bis ins 21. Jahrhundert.

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Die bloßen Zahlen verdeutlichen schon die riesen- sen, aber noch nie hat das jemand für das jüdische Den- haften Ausmaße des Werkes, nicht zu reden vom viel- ken als Ganzes unternommen. Man ist dann weniger gliedrigen Aufbau des Ganzen und der sorgfältigen überrascht, wenn man in Grözingers »Bilder einer Aus- Durchführung im Einzelnen. Der Verfasser schöpft aus stellung« zur Moderne und Postmoderne gelangt und dem Vollen, sein Werk wird zunehmend selbstreferen- auf jüdische Denker stößt, die wie Martin Buber, Franz tiell, mit Hilfe der Querverweise kann der Leser wie in Rosenzweig und Emmanuel Lévinas auch in der allge- einem Hypertext endlos durch dreitausend Jahre jüdi- meinen Philosophiegeschichte Epoche gemacht haben. scher Denkgeschichte navigieren. Die Geschichte des Der zu besprechende 5. Band von Jüdisches Den- jüdischen Denkens wird als Gemäldegalerie mit Por- ken führt die Geschichte vom Anfang des 20. Jahrhun- träts von Denkern und Werken, neuerdings auch von derts bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts fort. Dabei Denkerinnen, sowie großen Panoramen von Denkbe- geht der Verfasser auch Risiken ein, so, wenn er Stim- wegungen präsentiert (S. 669 –770). men aus der Academia behandelt, die noch nicht zum Grözinger kennt jedes der vorgestellten Werke aus etablierten Kanon gehören und ihre Klassizität erst erster Hand, und er lässt sie in langen, eigens übersetz- noch unter Beweis stellen müssen (S. 773 – 825). Aber ten Passagen zu Wort kommen. Seine Kommentierung gerade diese Ausweitung der Denkzone macht diesen bewegt sich durchweg auf dem letzten Stand der his- Band so interessant. Es ist unmöglich, in einer Buchbe- torisch-kritischen Wissenschaft (s. seine Bibliographie) sprechung den Reichtum des Bandes auch nur annä- und zeichnet sich immer durch ein hohes theologisches hernd zu referieren, es bleibt uns nichts anderes übrig und philosophisches Reflexionsniveau aus – das Ganze als einzelne Gesichtspunkte herauszugreifen, die den ist ein Meisterwerk geistesgeschichtlicher Darstellung! Band und das ganze Fünfbuch empfehlen. In den großen Philosophiegeschichten des Mittel- alters wird das jüdische Denken meist als Fußnote zu Zionismus und Schoah – die Themen von Bd. 4 – einer Fußnote abgehandelt, als jüdischer Abklatsch des haben den geografischen Schwerpunkt des jüdischen arabischen Abklatsches des griechischen Denkens. Jü- Denkens von Europa nach Nord-Amerika und Israel dische Denker werden als Epigonen betrachtet und ge- verlagert. Nichtsdestotrotz stammen die wichtigsten lit wöhnlich nur als Händler mit fremden Ideen im Wis- Meisterdenker der zweiten Hälfte des 20. und des be- Bücherschau senstransfer zwischen Ost und West gewürdigt. Etwa ginnenden 21. Jahrhundert, die in Band 5 den größten | in Etienne Gilsons La Philosophie au Moyen Age als Raum einnehmen, noch aus old europe. Die Kohorte gelehrige Schüler der arabischen »Meister« auf acht der Nuller Jahre hat noch mehr gemeinsam: Emmanuel von 782 Seiten, in Kurt Flaschs Das Philosophische Lévinas (1905 –1995, S. 168 –189), R. Josef Dov So- Denken im Mittelalter (1986) als »Anreger« auf acht loveitschik (1903 –1993, S. 291– 388), Abraham Jo- von 720 Seiten. Wer mit solchen Vorurteilen Grözingers shua Heschel (1907–1972, S. 389 – 413), Jeschajahu Rezensionen Ausstellung betritt, der reibt sich die Augen; in dieser Leibowitz (1903 –1994, S. 525 – 582) waren Ostjuden, Retrospektive stößt er auf unerhört originelle Gedan- die in Deutschland studiert und promoviert haben (Lé- kengebilde aus jüdischen Quellen und europäischen vinas nach einem entscheidenden Studien-Aufenthalt Denkansätzen. in Freiburg i. Br. an der deutschesten Universität Frank- Gewiss, Grözinger ist nicht der erste, der das Vorur- reichs); sie sind durch die damals herrschenden Rich- teil der Epigonalität des jüdischen Denkens in der Phi- tungen der deutschen Universitätsphilosophie, vor losophiegeschichtsschreibung widerlegt. R. Jakob Gutt- allem den Neukantianismus Hermann Cohens und der mann, R. Manuel Joel und vor allem Harry Austryn Phänomenologie Edmund Husserls – also Meister, die Wolfson haben im vorvorigen und vorigen Jahrhundert selbst jüdisch waren – entscheidend geprägt worden, die Originalität einzelner jüdischer Denker nachgewie- ehe sie nach dem Krieg in neuen Zentren des jüdischen

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1/2 Bücherschau | 140 2020 Deutschland erkannt,dieerim zweigs inder Lévinas hatschonfrühdieRolleBubersundRosen- französischer Bindestricheinleuchtend(S.47–189). schen Porträtsvorstellt.InsofernistGrözingersdeutsch- zweig, dieGrözingerinausführlichenundauchkriti- und Heideggersan,ebensowieanBuberRosen- phische Hintergrund. Studenten fehlthiergleichfallsderallgemeinphiloso- für dieJüdischenStudiengeeignet,denndenmeisten juifs delanguefrançaise schen zweiWelten aufdem er RosenzweigalsModelleinesjüdischenDenkerszwi- Nachkriegs-Frankreich selbstspielensollte.1959hat Grund istsein 312).Ausdiesem – tianische Epistemologie(S.299 399)undbeiSolveitchikdieneukan- – Husserls (S.390 sophie vorausschickt,beiHescheldiePhänomenologie Denker-Porträts jeweilseineCharakteristikihrerPhilo- Diesem MangelhilftGrözingerab,indemerseinen hens Kant-KommentareundseineSystemschriften? seinen KantnichtgelesenhatundnochwenigerCo- Quellen desJudentums zum BeispielCohens gend TheologenoderPhilologen.Wie abersollman Regel keineFachphilosophenwaren,sondernüberwie- tums Klassiker vonJuliusGuttmann Philosophie imdeutschsprachigenRaumhatnachdem wickelten. DieGeschichtsschreibungzurjüdischen Lebens ihreeigenenPhilosophiendesJudentumsent- Rezensionen Lévinas knüpftandiePhänomenologieHusserls (1933) daruntergelitten,dassJudaisteninaller Jüdisches Denken Jüdischen Renaissance Karl ErichGrözinger. Religion derVernunft ausden gerecht werden,wennman vorgestellt, woerseinebe- Colloque desintellectuels Philosophie desJuden- auch alsLehrmittel Renouveau juif im Vorkriegs- im sen Josef K.’s inKafkas sen JosefK.’s als dessenGeisel,mitdemkrankhaftschlechtenGewis- tertan (sujet) das ebennichtHerrimeigenenHausist,sondern scher Distanz.So,wennerdasLévinas’sche Dabeibleibterwieüblichaufkriti- –198). ken (S.168 Meisterschaft ausseinenphilosophischenHauptwer- »konfessionellen« Schriften,sondernmitgewohnter das jüdischeDenkenLévinas’abernichtausseinen verschmelzung« S. 606ff.),wobeierinGadamersundSagis»Horizont- schen PhilosophenwiederausersterHand(S.592ff., die HermeneutikGadamers.Grözingerreferiertdeut- religions- undkulturphilosophischenPluralismusauf auf dieExistenzphilosophieHeideggersundinseinem 631),inseinerPhilosophiedesGebets – widmet (S.583 (Jg. 1953),demGrözingereinausführlichesPorträt riert etwaderorthodoxeisraelischePhilosophAvi Sagi phischen Schwerpunktverlagerungnichtauf.Sorekur- europäischen Denkenhörtmitdererwähntengeogra- Mitnaggdim in derNachfolgeGegnerdesChassidismus, die sonstverborgenblieben.AllerdingssahsichLévinas schichtliche ParallelenundSchnittpunkteindenBlick, belletristischen. AufdieseWeise bekommtergeistesge- mittel ein,alsogegebenenfallsauchdiemystischenund vielmehr dieganzeBreitedertheologischenAusdrucks- nicht aufdiePhilosophieimengerenSinn,erbezieht jüdischen Philosophiegeschichten.Esbeschränktsich zingers listischen Quellen. bala zieht er, wieschon inseinemBuch schönes Buch 1821). DazukannmanergänzendJudithFriedlanders – von Vilna, RabbimChaimvonWolozyner (1749 freilich auchkabbalistischgeprägtenSchülersdesGaon rühmten Die Verhaftung desjüdischenimdeutschenund Hier zeigtsicheinentscheidenderVorteil vonGrö- , dieLinienzuchassidischenMeisternundkabba- magnum opus Talmud-Lektüren seiner litauischenHeimat,namentlichdes des Anderen,unterdessenAnklageund Vilna ontheSeine (Misug Ofakim) im Vergleich zudenüblichen Prozess hielt. Grözingerentwickelt vergleicht. Von Kafka lesen. seine eigeneAuffas- Kafka unddieKab- Subjekt Un- , mit Kritik,wenneresfürrichtighält.Fastspöttischbe- gegenüber ErscheinungendesjüdischenLebensnicht sens gewordenist.AußerdemspartGrözingerauch zwischen aufvielenCampusderwestlichenWelt Kon- scheint nurdeshalbparteiisch,weilAntiisraelismusin- Metakritik derIsrael-Kritikistwohlbegründet,sie als Sechssternkritikerhervorzutun. brauchtsichaberauchnicht er Juden abzuwandeln– Kernsprüchen überdenUnterschiedvonJudaistenund einenvonSchäfers um muss keinSechssternsein– Museums Berlin,PeterSchäfer. Gewiss,einGeometer sungen deszurückgetretenenDirektorsJüdischen müssen (S.672u.).OdermanhöredieverbalenEntglei- »unkritisch-prozionistische« Haltungverurteilenzu gen. ImallerletztenSatzmeintdieser, nochschnelleine Geschichte derjüdischenReligion man nurdieletzteSeiteausJohannMaiersgroßartiger selbst. UmsichvomGegenteilzuüberzeugen,braucht mit seinemForschungsgegenstandverstündesichvon elische Sache.Manmöchtemeinen,soeineSympathie ein deutscherJudaistmitHerzfürdiejüdischeundisra- 260).ÜberhauptistGrözinger – wegung geißelt(S.256 nistischen Reflexe«derlinksliberalen diesem BandweitereBelege,so,wennerdie»antizio- 433).Dafürgibtesauchin denschaftslos ist(S.423– ken den HerausforderungenderPolitiknichtkapituliert. dass dieVernunft ausdenQuellendesJudentumsvor Quellen desJudentums 666)mitCohens – 633 ideologischen DilemmatanachdemSechstagekrieg(S. gehend unbekanntenIsraelisMicahGoodmanüberdie der Vergleich von litischen KomplexvielAufmerksamkeit.Vielleicht ist gisch-politischen DebattedesheutigenStaatesIsrael. sieht (S.601f.),sodannverorteterSagiindertheolo- sung derHermeneutikdesjüdischenDenkensbestätigt Wohlgemerkt, GrözingeristkeinApologet,seine Grözinger hatschonimBand4von Auch sonstschenktGrözingerdemtheologisch-po- bewiesen, dasserinSachenZionismusnichtlei- Malkod 67 übertrieben, abereszeigtdoch, Religion derVernunft ausden des inDeutschlandweit- (1992) aufzuschla- Tikkun-Olam Jüdisches Den- -Be- Denkens, dasvonsichausnachEinheitsucht,eswider- gen. DiepureVielheit widerspräche dem Begriffdes einzelnen SteinchendesMosaiksimmerstammenmö- logen umdasGesamtbild,woherundvonwanndie ges darin.SchließlichgehtesdemsystematischenTheo- schiedenes im um die chem RechtgehtesaberdemdogmatischenTheologen lyse dertheologischen zusammengewürfelten Stücke,wasGrözingerdieAna- historischen TheologengehtesumdieSonderungder schiedlichen Alters,unterschiedlicherHerkunft.Dem positorium höchstunterschiedlicherStückeunter- S.398). Esistwahr, dasJüdischeGebetbuchisteinRe- führt ergerneden Untertitels, erbezweifeltnurdenSingular. AlsBeleg in Frage,»Theologie«istimmerhindasersteWort des fer dieExistenzderJüdischenTheologieschlechthin 38,S.428).ErstelltnichtwieSchä- – Theologie (S.35 hält GrözingerfüreinjüdischesImitatderchristlichen det. InsbesonderediesystematischeJüdischeTheologie so wennsicheinantitheologischerAffektzuWort mel- zensent nichtimmermitdemAutoreinverstandenist, regend macht. numentalen Werkes vonAnfangbisEndeauf-undan- seine Reiz-undStreitbarkeit,dieLektüredesmo- 224).Esistgerade – tionellen Formzurückkehrt(S.202 Verbeugungen vordemZeitgeistimmermehrzurtradi- Reform indenUSA,dienachvielenVerbiegungen und gleitet erdiesukzessiven»Plattformen«derjüdischen Dann istesaberauchunausbleiblich,dassderRe- Außenlinien Siddur Siddur , dennesstehtzwarhöchstVer- , aberesstehtdochnichtBeliebi- Grundlinien an (Bd. 1, S.22 –24; Bd.5, –24; an (Bd.1,S.22 nennt. Mitglei- 141 ZfBeg 1/2 | 2020 Rezensionen | Bücherschau lit lit ZfBeg Rezensionen |

1/2 Bücherschau | 2020 142 logistische Menschenbilderausschließt.Dievorsichtige Beispiel ebenbildlichkeit isteineGrenzmarkierung,diezum Aufgabe fürjüdischesWeiterdenken. DenndieGott- auch materialeDenkzwängenachsichzieht,wäreeine (S.873). DieFrage,obdieformaleBezugnahmenicht Denkens indieformaleStrukturderTora-Auslegung.« Judentums alsReligionagierte,dieEinfügungallen der rabbinischenHermeneutikundimVerständnis des solange dasJudentumindentraditionellenFußstapfen »Das JüdischeamjüdischenDenkenist,wenigstens stante, dasgesuchteüberzeitlicheDefinitionsmerkmal. Jüdischen Denkens,dasistnachGrözingerdieKon- Lebens) im19.Jh.DieBibelalsOrtundSprachedes R. ChajimWolozyners 12. Jh.miteinerErläuterungdieserStelleebensowie nimmt. Maimonides’ die SchlüsselstelleGen1,26-27undParallelenBezug gezeigt, dassdiejüdischeAnthropologiestetsBezugauf Grözinger hatallenfünfBändenvon Doch dabeibleibterglücklicherweisenichtstehen. zu bringen,undziehtsichaufdenHistorismuszurück. der gegendendogmatischenEssentialismusinStellung falt derGottesbilderundihrermenschlichenEbenbil- riges Ergebnis.UndsofängtauchGrözingeran,dieViel- nach 3.764SeitenengagierterRekonstruktioneintrau- ten durchauszuzutrauenundsiewärefürdenLeser Einzelstücken? EinesolcheSkepsiswäreeinemJudais- fällt seinegroßeSammlungineinSammelsuriumvon ren, nämlichbegrifflichen,systematischenMitteln. logie istnurdieFortsetzungderDoxologiemitande- des einenGotteszurAnschauungbringen.DieTheo- dass sieinverschiedenenAusdrucksformendasAntlitz und singtdieseGebeteausderÜberzeugungheraus, und im wechselnd Kabbalist,im Einheit desBeters,dernichtim – nicht mitunvereinbarenGottesbildernlebenkannund spräche demEinheits-Bekenntnis Rezensionen last butnotleast Was istfürGrözingerdieSummederSumme?Zer- Schir HaKawod a limine materialistische, biologistische,sozio- eswidersprächederBewusstseins- – Führer derVerirrten Anthropomorphist ist.Erspricht Nefesch HaChajim Jigdal ElohimChaj LeSchem Jichud Adonai Echad Jüdisches Denken beginnt im (Seele des Philosoph , das ab- denten erschwinglicheStudienausgabe. diesem Werk einebesserlektorierteundauchfürStu- levanz keineswegsausschließenmüssen.Manwünscht keit undphilosophische,theologischepolitischeRe- und synthetischeGesamtschau,philologischeGenauig- gen Kraftaktbewiesen,dasssichkritischeWerkanalyse Überblick verliert,sohatGrözingerineinemgewalti- befasst undvorlauterphilologischemKleinkramoftden jüdischen AberglaubenalsmitdemGlauben nicht immerersparenkann,dasssiesichliebermitdem Wenn mandieserFachwissenschaftoftdenVorwurf deutschen JudaistikeinstolzesMonumenterrichtet. her kaumzurKenntnisgenommen.Dabeihaterder ist, wennessichindie So alsobjüdischesDenkenerstdannzufriedenmitsich wenn sieauchgegendentraditionellenStrichlasen. anischen antireligiöse Zionistenbezogensichbeiihrennietzsche- ben derjüdischenAntikeinModerne.Auchoffen sche Epochegelte,unterschätzteinwenigdasNachle- Einschränkung, dassdiesnurfürdievoremanzipatori- sar undeinemPersonenverzeichnis. bliografie schließtderBandmiteinemnützlichenGlos- Neben einerBi- –762). (vgl. dazu»ZurEdition«S.760 die ÜbersetzunghebräischerBegriffemiteinschließt sen versehenundfachlich-judaistischkommentiert,was tig ediert,mitdennotwendigenÜberlieferungshinwei- tionsgeschichte (S.24f).DieTexte sindäußerstsorgfäl- Sie gibtimVorwort Hinweise aufdiekomplizierteEdi- seiner langjährigenDirektorinSigridWeigel erarbeitet. tur- undKulturforschungBerlin(ZfL)unterderLeitung Die JudaistenhabenGrözingers Die AusgabewurdeamLeibniz-ZentrumfürLitera- 783 Seiten,ISBN978-3-633-54292-5 Berlin: JüdischerVerlag imSuhrkamp-Verlag, Übersetzungen, Gedichte Poetica. Scholem, Gershom »Umwertungen derWerte« Schriften zurLiteratur, Torah (2019): eingeschrieben hat. Daniel Krochmalnik opus magnum auf die Torah bis- , VI. V. IV. III. II. I. gliedert, diese werden jeweils kenntnisreich eingeleitet: gliedert, diesewerdenjeweilskenntnisreicheingeleitet: 25)istderBandinsechsgroßeAbschnittege- (S. 11– ständige AufsätzeundÜbersetzungen. bliziert: Entwürfe,Notate,Fragmente,aberauchvoll- samt 119aufgenommenenTexte sindhiererstmalspu- de, definitivgelungenundzugänglich.44derinsge- seiner Tagebücher (1995und2000)beschleunigtwur- Scholems) abzeichneteunddurchdieVeröffentlichung Tagung) und1996(Potsdamzum100.Geburtstag »literarischen Scholem«,diesichseit1992(Berliner dichte einensoumfangreichenTeil desNachlassesaus- men) indeutscherSpracheverfasst.DassseineGe- nenderweise sindfastalle(bisaufübersetzteAusnah- Medium dichterischerZwiesprache«(S.650).Bezeich- Durcharbeitung vonfürihnexistenziellenThemenim Richtungen desZionismusodermitMartinBuber, »zur nandersetzung, zumBeispielmitdenverschiedenen Zusammenhang seinerArbeitenoderaktuellerAusei- Zeit- undBegegnungsdokumente,oftBekenntnisseim S 0 311) – (S. 208 Sprach- undÜbersetzungstheoretisches Übersetzungen religiöserTexte Klage undKlagelieder Nach einerHinführung Mit diesemBandistdie(Wieder-)Entdeckung des Gedichte von1914bis1974 Literatur undKritik b) a) Chaim NachmanBialikundSamuelJosefAgnon Um mitLetzteremzubeginnen:DieGedichtesind Übersetzungen Kritiken S 1 521) – (S. 415 Gershom Scholem. S 1 414) – (S. 313 S 2 646) – (S. 523 (S. 27–129) Der literarischeScholem (S. 648 –759) –759) (S. 648 S 3–206) (S. 131– Neueren werdenkönnen,wennerdenWörterbuch- auch leidenschaftlichundungerechtgegenüberden sich durchseineWortmeldungen undEinwürfe,die Probleme mitdementseeltenNeuhebräischenzieht verstärkte dieseRevolte.Aus dem ichbin«/(Nr. 19,S.689).DerErsteWeltkrieg die Federundvergebens/lästreichdasGesetzaus tion, mitdererringt:»GottesHandlenktmiralsTod erfolgten: DerKraftstromwirdsichtbar. UnddieTradi- bzw. FortschreibenderwissenschaftlichenAufgaben Literat ganzwesentlichAnstößefürdasFortschreiten pulsiven Stellungnahmen,ebenvonseinemHabitusals tiven Denken,seinenkritischenAnfragen,im- Fächer desvorliegendenBandes,wievonseinemkrea- gleichzeitig, zusammenmitdemganzenthematischen seiner wissenschaftlichenArbeitunddemonstrieren Einblick indievielfältigeKulturweltdesAutorsjenseits Richard Sieburth. Scholem: TheFullnessofTime. Poems,translatedby herausgegeben vonStevenM.Wasserstrom: Auswahl seinerGedichteerschien2003(Jerusalem), 652).Dieeinzigbislang verfügbare(schmale) – 648 Vorspann gutkommentiertundbiografischverortet(S. 52 aufgenommen.Siesindineinemaufschlussreichen worden. Von denüberlieferten140Gedichtenwurden machen, isterstlangenachScholemsTod bekanntge- ( Sammlung zum HebräischenalsOffenbarungs-Sprachebietetdie Panorama derLebensweltScholems! (Nr. 8,S.667undNr. 13,S.677).Einfaszinierendes Gedicht) und Freund_innenwerdenangesprochen sunkenen Nichts«(Nr. 35,S.727).Weggenoss_innen der unendlich-beklemmendenNähe/desgroßenver- ich siebestehe,/dieWache amRanddesNichts/in abstrakt-existenziell in Stab: /aufGottzuschießen!«(Nr. 11,S.673).Oder sich zuverschließen,/Verfluchte, hebenwirAhasvers Gott, derdiesenTag unsgab/umzweiJahrtausenden III ). DerVorrang desBibel-HebräischenundScholems Weitreichende EinblickeinScholemsVerständnis , direktauchder»abtrünnige«MartinBuber Sprach- undÜbersetzungstheoretisches Die Gedichteerlaubeneinenintimen Media Vita: Chanukah: »Ich weißnicht,ob »Wir hassen (Personen- Gershom 143 ZfBeg 1/2 | 2020 Rezensionen | Bücherschau lit lit ZfBeg Rezensionen |

1/2 Bücherschau | 2020 144 gehen: »Welches ElementunsereshistorischenDaseins element, dasinderjüdischenKulturdrohtverlorenzu am ErtragseinerArbeit,abervorallemalsTraditions- ment derZeitumstände,aucheinZeichendesZweifels Diesem ThemabegegnetmanbeiScholemöfter:EinEle- Grenze, SprachederGrenzeselbst«(ScholemS.34). […] dieseSpracheistdieKlageander Unendlichkeit tieferundandersistalsdiealleranderen Sprache istunendlich.EsgibtabereineSprache,deren Klage lung vonErotikundSexualität). und jüdischenSelbst-Hass,ProblememitderDarstel- gen diejüdisch-deutscheAssimilation,Antisemitismus aber aufdemHintergrundjüdischerZeitprobleme(ge- Kafka, Tucholsky, ElseLasker-Schüler, PhilipRothu.a.), Kontakten zurliterarischenKulturseinerZeit(Rilke, Sprache. tischem HintergrundundzudenEigenheitenseiner ze zuAgnonabgedruckt,darunterdessenkabbalis- gänzend zudenÜbersetzungensindwertvolleAufsät- (über AgnonskurzeNovelle in deralleindasSigelihrerErneuerungliegenkönne« durchsichtig, eine»RestitutioinintegrumderSprache, in derheiligenSprache,sondernseigeradeaufsiehin Agnons NeuhebräischverleugnenichtseinenUrsprung allerdings inTagebücher II(2000)gutzugänglichwäre]. Theorie-Aufsatzes vonBialik mehr machen,unddieÜbersetzungdeswichtigen lems vonvierkurzenErzählungenAgnons,dieLustauf non findensichexemplarischeÜbersetzungenScho- aus dem von Endor«bezeichnet(S.299),neueÜbersetzungen Enzyklopädisten des Rezensionen frühen BialikunddenverehrtenFreundAgnon. wie zumBeispielLeaGoldberg).Dagegenschätzterden Lyrik grundsätzlichablehnt(mitwenigenAusnahmen Der BanderöffnetmitdemwichtigenThemader In Im Abschnitt( ( Literatur undKritik I ) inbiblischerundsynagogalerLiteratur:»Alle Sohar aburteilt (S.255ff)oderneuhebräische IV Iwrit ) zuBialikundbesondersAg- , BenJehuda,als»neueHexe ( V ) begegnetmanScholems Halacha undAggada Zwei Paare , S.426).Er- [der ( deutschung derSchriftein(vgl.dazuScholemselbstin Reiz undladenzumVergleich mitMartinBubersVer- zahl PsalmenundsynagogalePoesie)sindvonhohem und Verweilen ein. disch-deutscher Kulturinteressiertsind,zumStöbern eine Verlebendigung Scholemsundlädt alle,dieanjü- sant. Wie einerderRezensentenbemerkte:Erbietet in ( von 1096. gelied deutende KlagegesängederSynagoge,darunterdasKla- hebräischen Bibel(darunterdasBuch lischen Klagelieder Menschen ertönt(S.71).Scholemübersetztediebib- in dessenResonanzraumdieKlagederNaturunddes selbst, derzuerstklagte(überdieSündeAdams)und stituens desVolkstums« (ScholemS.283).EswarGott ist ausdemneuenLebengetilgt?DieKlagealseinKon- III )/Nr. 11S.285ffund( II Der BandistnichtnurfürdieForschunginteres- Auch dieweiterenÜbersetzungenreligiöserTexte ) (das Amarti sche‘umini Hohe Lied (Echa) , dasBuch III und andereKlagetexteder des KalonymusbenJehuda )/Nr. 16S.301ff. Jona Bernd Feininger , einegroßeAn- Joel) sowie be- 5 2 3 2 1 hörige PositionspapierhatdenTitel: ligionsunterricht; dasaufderTagung entwickeltezuge- 2016 inOsnabrückzumkooperativ-konfessionellenRe- einen Ausblick: Unterricht. DasBuchgliedertsichinfünfKapitelund Moment dietragfähigeAlternativezumkonfessionellen katholischer undevangelischerKonfession,scheintim gionsunterricht, inderHauptsachezwischenrömisch- einander bezogen.Derkonfessionell-kooperativeReli- sind untereinanderkomplementärverbundenundauf- Die dreiStichwortezeigendieRichtungan,alle lungen füreinenzukunftsfähigenReligionsunterricht. Konfessionell, kooperativ, kontextuell–Weichenstel- gionsunterricht inDeutschlandzukunftsfähigbleibt: keit existenziellerAuseinandersetzungzueröffnen.Die terricht als Ba dungsverständnis, das 54)aufdasevangelischeGlaubens-undBil- zer (S.41– log- undFriedensfähigkeitzufördern. Aufgaben derinterkulturellenundinterreligiösenDia- entierung zuüberprüfensei,umdiegesellschaftlichen immer wiederaufseineZeitgemäßheitundSubjektori- ihrem Beitragdaraufhin,dassderReligionsunterricht Optionen organisatorischerModellierung Figuren konzeptionellerFundierung zu neuenPassungsverhältnissen Der ReligionsunterrichtaufdemWeg Das BuchistdasResultateinerTagung imMärz ISBN 978-3-451-37802-7 Freiburg: Herder, 454Seiten konfessionell –kooperativkontextuell Zukunftsfähiger Religionsunterricht Lindner, Konstantin al. et Zu Kap. Bilanzierung undAusblick Religionspädagogik Impulse ausderjüdischenundislamischen Implementierung Erfordernisse religionsdidaktischer Beispielhaft verweistzumBeispielFriedrichSchweit- 1 lsbt art S 3–40)weistin – : ElisabethNaurath(S.23 sis be nötige, umLernendendieMöglich- den konfessionellenReligionsun- (Hg.) (2017): Damit derReli- onsunterricht fürinterkulturellesLernen. und ÖkumenesensibilisierungöffnendenReligi- fordern inihremBeitrageinestärkereGemeinschafts- auf diewichtigstenFragendesLebensimFokussteht. die gemeinsameSuchechristlichmotivierterAntworten Autorin empfiehlteinenökumenischenWeg, beidem Lernenden, voralleminFragenderGerechtigkeit.Die schen PerspektivebeidenLehrendenein,aberauch sich füreineselbstreflexiveSchärfungderökumeni- onsunterrichts zuvernetzen. auch immermitdenanderenDimensionendesReligi- Kontextualitäts- undKooperationsparadigmaseijedoch nung hinzuregional-kontextuellenThemen.Dieses nell-kooperativen ReligionsunterrichtsmiteinerÖff- Beitrag dietheoretischeFundierungeineskonfessio- se aberfesterBestandteildesUnterrichtswerden. nisch geöffnetwerdenmüssten.DieKooperationmüs- tiven aberindenSachthemendesUnterrichtsökume- für einenkonfessionellenUnterricht,dessenPerspek- operation sieht. aber nichtalsWiderspruch zueinerkonfessionellenKo- für einenkonfessionellenReligionsunterricht,dener Engführung desReligionsunterrichts. ben. Erwarntjedochvoreinerkonfessionalistischen Aufgabe eineReflexionsgestaltdesGlaubensbeschrei- bezug nichtdenkbarsei,weilBotschaftundSacheals Religionsunterricht ohneKonfessions-bzw. Religions- Überzeugung kommunikativvertretenzukönnen. religiöser Vielfalt auseinanderzusetzenunddieeigene mit bau vonPluralitätsfähigkeitundderKompetenz,sich wichtiges ZieldesReligionsunterrichtsseiauchderAuf- sionen undReligionsgemeinschaftenzukommen.Ein ineinGesprächmitMitgliedernandererKonfes- heit, lebten ChristentumundgebedenLernendendieFrei- konfessionelle BildunghabeeineVerbindung zumge- anrMle n ihe edn S 3 –158) Rainer MöllerundMichaelWedding (S.139 Zu Kap. diskutiertinseinem Henrik Simojoki(S.101–119) votiert ebenfalls Mirjam Schambeck(S.81–100) Yauheniya DanilovichplädiertausorthodoxerSicht insistiertdarauf,dassder 66) – Hans Schmid(S.55 2 : Ulrike Link-Wieczorek (S.123–138) setzt : UlrikeLink-Wieczorek (S.123–138) 145 ZfBeg 1/2 | 2020 Rezensionen | Bücherschau lit lit ZfBeg Rezensionen |

1/2 Bücherschau | 2020 146 zen zurSelbstpositionierungderLernenden. nenen dialogischenundkommunikativenKompeten- 257) undunterstützendieimReligionsunterrichtgewon- – fokussieren DavidKäbischundLauraPhilipps(S.238 einer heterogenenundmultireligiösenZivilgesellschaft 2017 vor. – falt imkonfessionellenReligionsunterricht)aus2013 in ihremBeitragdieReViKoR-Studie (=ReligiöseViel- Mehrperspektivität desReligionsunterrichtsundstellt sierung derFächergrenzen. Dialog benötige,seinerMeinungnach,eineFlexibili- richt überhauptdialogischesLernengelingenkönne– felt, dassimkonfessionell-kooperativenReligionsunter- schlussfähigkeit desReligionsunterrichts. fessionell-kooperativen ReligionsunterrichtsdieAn- Überlebensstrategien desReligionsunterrichtszählt. fessionslos, sodasskonfessionelleKooperationzuden ein. DiemeistenLernendeninOstdeutschlandsindkon- gen FrankLützeundMonikaScheidler(S.281–296) terrichtliche SituationalsimWesten Deutschlandsbrin- derungen diesesUnterrichtsmodellshin. und weisenaufdiebesonderendidaktischenHerausfor- Württemberg, NiedersachsenundNordrhein-Westfalen den StandderkonfessionellenKooperationinBaden- 280)berichteninihremBeitragüber Sajak (S.261– Rezensionen Zu Kap Die FähigkeitdesvernünftigenArgumentierensin 237)fokussiertdie – Uta Pohl-Patalong(S.213 212)hingegenbezwei- – Thorsten Knauth(S.193 Dem Verhältnis vonkonfessionellbzw. religiösge- Ostdeutsche Perspektivenaufeineganzandereun- 3 : SabinePemsel-MaierundClaußPeter wussten Didaktikeineskon- sieht ineinerdifferenzbe- –192) Jan Woppowa (S.174 ble Religionsdidaktik. eine stärker Subjekts aufundplädiertfür den, aberauchlehrenden ne IdentitätskrisedesLernen- 173) nimmtdiepostmoder- – (S.159 Boschki Reinhold e r eligions sensi- ein. den konfessionell-kooperativenReligionsunterrichts gend undführtindenwissenschaftlichenDiskursum gen seinerZukunftsfähigkeitab. rativen ReligionsunterrichtsundsteckendieBedingun- Reichweiten undGrenzeneineskonfessionell-koope- 444)dieHerausforderungen, – stantin Lindner(S.429 Pluralitätsfähigkeit. religiöser ErziehungimIslamunterrichtinRichtung Lerner undLernerinnenauf. fende RelevanzbiblischerFigurenfürJugendlichebzw. an derbiblischenFigurAbrahamsdiereligionsübergrei- mögen derLehrkräfte. das darausnotwendiggewordeneSelbstreflexionsver- nationale Vernetzung, GlobalisierungvonReligionund 340)verweistaufdieinter- – Peter Schreiner(S.318 tenzprofile fürReligionslehrkräfteentwickelt. aus dieserSituationauchAnforderungs-undKompe- der nen widmetsichBerndSchröder(S.297–317), sen oderandersorientiertenSchülernundSchülerin- bundenen Lernendenzukonfessions-bzw. religionslo- gionscurricula. fähige, zukunftsoffeneundaufeinanderbezogeneReli- 395),sowieumentwicklungs- – fried Verburg (S.383 haltungen. nen unddenAufbauvonProfessionswissenWert- Notwendigkeit derProfessionalisierungLehrperso- Grundanliegen einerpluralitätsfähigenTheologie. ner notwendigenLernprozesseundformulierenerste konfessionell-kooperativen Religionsunterrichtsundsei- nach dentheologischenFundierungeneinerDidaktik 363)fragen inihremgemeinsamenBeitrag – (S. 343 Das Buchliestsichinsgesamtäußerstgewinnbrin- Am SchlussbilanzierenHenrikSimojokiundKon- 425)betontdieDimension Ednan Aslan(S.411– Zu Kap Zu Kap. Um konstruktiveRahmenbedingungengehtesWin- 382)unterstreichtdie – Konstantin Lindner(S.364 4 5 : MirjamSchambeckundBerndSchröder ailKohank(.39–410)zeigt – : DanielKrochmalnik(S.399 Wilhelm Schwendemann Menschen vondamalsundihreLebensumständezu zu verlassen.Siebetont,dasssiestetsversucht,»die sende, existentielleDimensionihrerGesamterfahrung besonderer Relevanzsind,ohnedabeijemalsdieumfas- dazu dieInhaltepointiert,ihrerMeinungnachvon vortrag fürSchulenundUniversitätenüberführt persönlichen ÜberlebensberichtineineArtReferenten- tieren werden. hin indenkommendenGenerationen(hoffentlich)exis- zeugen verstummtseinwerden,dieFragenaberweiter- für eineZeitaufzubewahren,inderauchdieletztenZeit- die mirzumHolocaustgestelltwerden und versuchtdurchdieVeröffentlichung von land 2017.NunziehtsiezudieserArbeitihrResümee Verdienstkreuz I.KlassederBundesrepublikDeutsch- versitäten bereitsmehrfachausgezeichnet,u.a.mitdem Zeitzeugin desHolocaustindiversenSchulenundUni- Fried wurdefürihrelangjährigeAufklärungsarbeitals zur ErinnerungskulturangesichtsdesHolocaustab. an ihreAutobiografieeinweiteresbedeutendesZeugnis bende HédiFriedlegtmitüber90JahrenimAnschluss Die gebürtigausSighetstammendeHolocaust-Überle- In ihremVorwort beschreibtFried,wiesieihren ISBN 978-3-8321-8392-9 Köln: DuMontBuchverlag,160Seiten werdengestellt Fragen, diemirzumHolocaust Fried, Hédi (2019): ihre Antworten Fragen, sondern inihrergesamtenMenschlichkeitzeigen.»Ich, rückte undüberdenDingenstehendeLeidtragende, Wut beantwortet,diesienichtalseinemoralischent- thentischen Ehrlichkeit,Verletzlichkeit undzugleich Deutschen« (S.120),dieFriedmiteinerderartigau- es auchnetteSS-Soldaten«(S.76)oder»HassenSiedie subjektiv unangenehmerscheinenkönnenwie»Gab bzw. derenpotenzielleAntworten– Fragen auf,die– seine Tage zuhaben«(S.64) reichen.Friedlistetauch es, alsFrauimLagerzusein«(S.61),»Wie wares, chen« biszuspezifischenGenderaspekten»Wie war oder »Welche SprachenwurdeninAuschwitzgespro- Auschwitz, dievon»Wie wares,imLagerzuleben« Bevölkerung, zuzahlreichenFragenüberihreZeitin litischen LageundBedrohungssituationderjüdischen Deportation undihrerdamaligenEinschätzungderpo- ihren Elterndarstellt(S.11). dass Sieerlebthaben«,wasfürFrieddieTrennung von schonungslos eröffnetmit»Was wardasSchlimmste, 160) undwerdenfürdenLeserrechtunvermittelt – Zügen chronologischundthematischgeordnet(S.158 derer Bedeutungsind,zusammen.Siesindingroben stellten unddenjenigenFragen,diefürFriedvonbeson- Auswahl. Siesetzensichzumeinenausdenmeistge- müssen. lichen Antworten,dieletztlichfragmentarischbleiben persönliche Begegnung,füressentielleralsihreeigent- gibt. DaherhältsiedieFragenunddasGespräch, fest, dassesaufmancheFragenschlichtkeineAntwort keine verbotenen«Fragengibt(S.9),undhältzugleich Fried betont,dassesfürsie»keinedummenundauch ßenden Gesprächmit»reichlichZeitfürFragen«(S.9). liegt abernichtinihremVortrag, sondernimanschlie- freiung. DerfürFriedbedeutsamsteAspektihrerArbeit Familie, ihremLebenindenLagernundvonihrerBe- tet vonderDeportationJudenausSighetundihrer tive aufihrepersönlicheLebensgeschichteundberich- schehen konnte«(S.9).ErstdannlenktsiediePerspek- schildern, diedazubeitrugen,dassderHolocaustge- Die FragenführenweiterzuFriedsLebenvorder Die FragensindeinevonFried»handverlesene« 147 ZfBeg 1/2 | 2020 Rezensionen | Bücherschau lit lit ZfBeg Rezensionen |

1/2 Bücherschau | 2020 148 stattgefunden hat«(S.157). wort darauferhaltenwird,warumderHolocaust suche, dadieNachwelt»niemalseineeindeutigeAnt- verweist zugleichaufdieAmbivalenzdieserAntwort- Frage sein,diezumVerstehen führt.«(S.157)Fried dann lässtmanesbleiben.Dochkanngeradediese Was ichfragenwill,istdumm,denktman oft, und Vortrag nichtleicht, aufzustehenundFragenzustellen: Jugend, dienachAntwortensucht:»Esisteinem und ErmunterunganihrekünftigeLeserschaft,die Darin kommuniziertFriedsubtileineweitereBotschaft und imAnschlussdieseFragengestellthaben(S.157). ler_innen undStudent_innen,dieihreVorträge gehört und binJüdingeblieben«(S.141). dem Holocausthatte.Ichbinjüdischaufgewachsen eingeht: »IchhabedenGlaubenbehalten,ichvor tion indenLagern,bevorsieaufihreneigenenGlauben antwortet miteinemÜberblicküberdieGlaubenssitua- glaubenSie anGott?«(S.139).Fried Sie erlebthaben– kunft. AuchnachGottwirdgefragt:»Nachallem,was Antisemitismus undnachFriedsEinschätzungderZu- aktuellen Fluchtbewegung,demwiederaufkeimenden Schweden; erendetinFragenmitQuerverweisenzur Befreiung unddemBeginneinesneuenLebensin zu tun«(S.122). und ohneBitterkeitleben.DashatnichtsmitVergeben zu Endehassen.Dannkannmaneshintersichlassen Man mussdas,wasgeschehenist,verarbeiten, (…) Esdauert,bismandasHassgefühlloslassenkann. den Gehassten,esgehtauchdemschlecht,derhasst. sehr kontraproduktiv. DerHassbeeinflusstnichtnur ist. DennochkommtmannichtweitmitHass,erist lung, undermussalsdasakzeptiertwerden,was ist einenatürlicheReaktionaufungerechteBehand- »Hass –121). Zeit, bisichfertiggehassthatte.«(S.120 liefert hatten.UndnachdemKriegdauerteeseinige garn warenesgewesen,dieunsanHenkerausge- und Ungarn.DieDeutschenquältenuns,dochdieUn- die ausUngarnkam,hattezweiHassobjekte:Deutsche Rezensionen Das DankeswortrichtetFriedandiejenigenSchü- Weiter führtderausgewählteFragekanonzuFrieds Valesca Baert-Knoll Die EinteilungnachBaumert(S.370): verbunden sinddiedreiBriefeaus2.Kormit116. (Wieder-)Kommens desApostelsnachKorinth(S.359); läuft synchronzudenwiederholtenAnkündigungendes zurückführen. ten, sondernauf(mindestens)dreiursprünglicheBriefe preten, dieUneinheitlichkeitdes2Kornichtglät- vorgestellt wird.BaumertgehörtzujenenPaulusinter- Korintherbrief derletzteKommentar, derin mit ÜberbringerTitus). 7,4-9.15; Schluss2Kor13,11-13, FREUDENBRIEF(=2Kor1,1-2;1,3-2.13; – Schluss: 1Kor16,21-24,mitÜberbringerTitus); TRÄNENBRIEF(=2Kor10,1-13,10; – Timotheus), Schluss: 1Kor16,1-11,mitÜberbringer APOLOGIE (= 2Kor2,14-7,3; – Die EinteilungderangenommenendreiBriefever- In derReihe ISBN 978-3-429-02974-6 Würzburg: Echter, ,384Seiten des zweitenKorintherbriefes Übersetzung undAuslegung demRückenMit zur Wand Baumert, Norbert Paulus neugelesen (2008): ist nunderzweite ZfBeg gründige Religiositätunterstellt.Indersog. und Paulusreagiertdarauf,dasserihnennurvorder- nach PauluswirdvondiesenPersonenangezweifelt, den in2Korüberdeutlich(S.194).DasEvangelium und auchumdenKernseinerChristusbotschaftwer- ge gestellt,unddieKonflikteumPaulus’Legitimation Mitgliedern derkorinthischenGemeindemassivinfra- Paulus’ Legitimationwirdvonwohljudenchristlichen vor allemderkorinthischenGemeindehinzuweisen. die dichteBriefkommunikationzwischenPaulusund und authentischen«Pauluszurekonstruierenauf Band derReiheausgezeichnet,einen»ursprünglichen man mitderRealitätKraftundHerrlichkeitGottes 93): »Vieles entscheidetsichdaran,ob undwiesehr tröstung undVerschiebung desHeilsin einJenseits(S. tische Teilhabe undTeilnahme undnichtumdieVer- geht demApostelvorrangigumdieexistenziell-präsen- 90)(2Kor4,7-5,11)–es – Gott geborgenbleibe(S.85 rekurrieren, dass,weraufJesusChristusvertraue,von rauf undmussimmerwiederaufseineeigeneBiografie men, weilsieihmmisstrauen(S.75).Paulussetztda- können denGlanzdesEvangeliumsnichtwahrneh- 63)(vgl.2Kor3,12-18).DieGegner, soPaulus, (S. 57– zität (S.53)undumdieQualitätseinerVerkündigung steht (S.49).PauluskämpftindesumseineAuthenti- spruch zurFremdwahrnehmungdurchdieKorinther d.h. SendungdurchGott,wasineklatantemWider- gleichzeitig verweistPaulusaberaufseineSalbung, stand, Verfolgung undBedrängnisgeprägtwar(S.48); zweifelten massivanPaulus,dessenLebenvonWider- seine apostolischeSendung(S.47ff)–einigeKorinther den darf(S.185).InseinerApologieverteidigtPaulus oberflächlich interpretiertundreligiösumgedeutetwer- Kreuz, Tod undAuferstehungJesuChristi,wasnicht (S. 185) von derinnigenHingabeanIhnabspenstigmachen?« nicht, daßsieeureLiebezuChristusverletzen,auch veau seinerGegnerzurückzuziehen:»MerktIhrdenn zwungen, sichaufdassprachlicheArgumentationsni- 2 Kor11,1-12.18wirdPaulusüberdeutlichundistge- Baumert gelingtesauchimursprünglichzweiten Paulus’ InterpretationdesEvangeliumsgründetin Narrenrede winn. empfehlen, undmanliestihnmitpersönlichemGe- gende, luzideundnachvollziehbareKommentarzu briefe. Korintherbriefes undeineChronologiederKorinther- ein KommentarzurGesamtausrichtungdeszweiten Heiligen) (S.304ff),danacheineArbeitsübersetzung, fen (S.244ff)sowieeinNachtragzu2Kor8,4.14(Die 20 ExkursezuSpezialthemenundbestimmtenBegrif- phern ausderKriegssprache(S.173). nern dasHandwerklegenundbemühtdarumMeta- Kragen zuschreiben(S.171).PauluswillseinenGeg- Augen, seineAngst,Beklemmung,sichumKopfund rer Stellein2Korsteht,stelltdenMutdesPaulusvor des Christusgläubigen(S.163). gezogen (S.156ff)!ThemadabeiistdieinnereFreiheit Kapitel 8und9werdenvonBaumertzumFreudenbrief der korinthischenwirdhervorgehoben(S.143).Die Solidarität dermakedonischenGemeinde(Philippi)mit Veränderungen derkorinthischenBriefgemeinde–die geschrieben, reagiertaufdieoffensichtlichpositiven darin mitGottversöhnenzulassen(S.123). für ihndarin,alsPersonzuakzeptierenundsich Gottes abbringenlassen(S.119).DieLösungbesteht verführen (S.177)undsichsovomVersöhnungsweg Korinther dieGefahr, dasssiesichvonScharlatanen uns vor«(S.115).FürPaulusbestehtinBezugaufdie sere Tode mit,odergenauer, erstarbundstirbtsiein und niemandenalleinläßt.Erstirbtgleichsamalleun- da erihnennunauchinihremSterbensolidarischwird Jesus inseinemSterbenmitdemTod allerverbunden, und ermitihnensolidarischgewordenist,sohatsich der‹ wird,sodaßauchsienuninsofernzuihmgehören Menschen inihremSeinverbindet,indemerihr›Bru- Sohn GottesinderMenschwerdungsichmitallen machen undEindruckschinden(S.111):»Wie der 93). Wer inChristuslebt,musskeinefrommenWorte im christlichenLebenrechnetundsiewahrnimmt«(S. Jedem anPaulusInteressiertenistdieserhervorra- Nach demäußerstdetailreichenKommentarfolgen Der Der Tränenbrief Freudenbrief , dernunkompositorischanande- , nachderRückkunftvonTitus Wilhelm Schwendemann 149 ZfBeg 1/2 | 2020 Rezensionen | Bücherschau lit 150 Rezensionen

missverständlich hält, denn seiner Meinung nach gab es gar keine Trennung, weil es gar keinen gemeinsa- men Weg gegeben habe. Das Buch trägt deshalb auch passenderweise den Titel Die getrennten Wege von Rö- mern, Juden und Christen. Schnelle möchte darin die Bedeutung der römischen Religionspolitik für die Ent- stehung des Christentums und sein Verhältnis zum Ju- dentum hervorheben. Nach einer kurzen Einführung (S. 1–10), in der er seine These, dass die Religionspolitik der Römer ent- scheidend für diese Entwicklungen war, und die diver- sen Forschungspositionen zum Trennungszeitpunkt darlegt, stellt Schnelle im zweiten Kapitel die römische Religionspolitik gegenüber Judentum und entstehen- dem Christentum dar (S. 11– 44), indem er das römi- sche Religionsverständnis erläutert, den Sonderstatus Schnelle, Udo (2019): der jüdischen Religion sowie die konkrete Religionspo- Die getrennten Wege von Römern, litik der römischen Kaiser von Augustus bis Domitian. Juden und Christen Im dritten Kapitel schildert er die jüdische Religions- Religionspolitik im 1. Jahrhundert n. Chr. politik gegenüber dem entstehenden Christentum, die Tübingen: Mohr Siebeck, 212 Seiten er als von Anfang an abweisend und konfliktreich an- ISBN 978-3-16-156826-8 sieht (S. 45 – 70). Seiner Meinung nach gebe es »kei- nen einzigen Beleg für eine positive Reaktion von ein- Der emeritierte Neutestamentler Udo Schnelle legt zelnen Vertretern oder Gruppen des Judentums auf die lit mit dieser Veröffentlichung einen kompakten Beitrag neue Bewegung« (S. 69). zu einer exegetisch hochaktuellen Debatte vor, die sich Im vierten Kapitel behandelt er die frühchristliche Bücherschau

| durchaus auch als Einführung eignet: nämlich die Dis- Religionspolitik und stellt deren frühe Eigenständigkeit kussion um die Entstehung des Christentums aus dem heraus, die das Christentum theologisch, institutionell Judentum. Ab wann kann vom Christentum als eigen- und rituell-praktisch vom Judentum trennte (S. 71– ständiger Religion gesprochen werden, und wie war sein 120). Verhältnis zum Judentum? Besagte Debatte wird in der Das kurze fünfte Kapitel ist den sogenannten Ju-

Rezensionen Forschung unter dem Titel Parting of the ways, Tren- denchristen gewidmet, jenen, die zwar jüdischer Her- nung der Wege, geführt; ein Titel, den Schnelle für kunft waren und nach jüdischen Sitten lebten, nach Schnelles Meinung aber von anderen Juden nie als Juden anerkannt wurden (S. 121–132): »Der Wunsch der einen Seite (Judenchristen) begründete noch lange nicht, dass die andere Seite (Judentum) ihn positiv auf- nahm. Die Judenchristen verstanden sich selbst als Teil des Judentums, wurden aber von diesem nicht akzep- tiert« (S. 132). Das sechste Kapitel führt die vorherigen Bereiche fort und schildert die religionspolitischen Entwicklun-

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gen im 2. Jahrhundert (S. 133 –181), bevor Schnelle Berger, Joel (2019): im letzten Kapitel seine methodischen Voraussetzun- Gesetz– Ritus – Brauch gen und Überlegungen erläutert und seine Thesen zu- Einblicke in jüdische Lebenswelten sammenfasst (S. 183 –190): »Entscheidend war die Heidelberg: Universitätsverlag Winter Position der Römer: Ihre christentumsfeindliche Hal- 446 Seiten, ISBN 978-3-8253-6969-9 tung forderte geradezu die Distanzierung des Juden- tums vom entstehenden Christentum. Deshalb konnte Der etwas spröde Buchtitel gibt nicht wieder, was es auch keine ›Trennung der Wege‹ geben, denn alle den Lesenden erwartet. In 38 Kapiteln (nebst Vor- und drei sind nie gemeinsame, sondern von Anfang an ge- Nachwort, Biografie von Joel Berger, Anmerkungen, Li- trennte Wege gegangen« (S. 190). Laut Schnelle hätten teratur, Register) gibt es eine profunde Einführung in den zwischen Juden und Christen spätestens seit Paulus un- Lebensalltag von Juden und Jüdinnen, Reflexionen über wiederbringlich unüberbrückbare theologische Diffe- Judentum in Südwestdeutschland nach der Schoah, renzen bestanden: Die Anerkennung eines Gekreuzig- über den christlich-jüdischen Dialog, Antisemitismus. ten, der im Judentum als von Gott Verfluchter galt, als Es werden überraschende Fragen gestellt, wie zum Bei- gottgesandter Retter und die Abschaffung der Beschnei- spiel: Was hat das Einhorn mit der Bibel zu tun (S. 286 – dung seien völlig unvereinbar mit dem traditionellen 291)? Judentum gewesen. Zudem hätte das Judentum das ent- Das Judentum wird vom ehemaligen württember- stehende Christentum als Bedrohung für seinen Son- gischen Landesrabbiner in seiner Vielfalt als Pluralität derstatus im Römischen Reich gesehen und sich auch von Lebensformen und Lebensvollzügen charakterisiert deshalb von Anfang an von ihm distanziert (S. 69 – 70). (S. 15), die sich aus der lebendigen Interpretation der Bibel, wie zum Beispiel den 613 Weisungen aus der Das Buch bietet einen kompakten Einstieg in die Torah, und aus talmudischen Traditionen speist. Für Thematik und lädt durch zahlreiche Literaturbelege, die Joel Berger ist zentral wichtig, Judentum als gelebten einen guten Überblick über die Forschungslage bieten, ethischen Monotheismus zu verstehen. Hier wäre sei- zu einer weiterführenden Lektüre ein. Sprache und Dar- ner Meinung nach auch die Gemeinsamkeit mit dem lit stellung sind sehr kompakt, viele Informationen wer- Christentum und dem Islam zu suchen, auch wenn in Bücherschau den auf knappem Raum geboten. Sehr hilfreich sind Joel Bergers Ausführungen ebenso die Unterschiede | die kurzen Zusammenfassungen am Ende jedes Kapi- tels und größeren Unterkapitels, die im Layout abge- setzt sind. Es werden keine exegetischen Kenntnisse vorausgesetzt, sodass das Buch sich auch als Einfüh- rung für interessierte Laien eignet. Dabei ist lediglich Rezensionen zu berücksichtigen, dass der Autor eine bestimmte Mei- nung vertritt, die nicht Konsens der Forschung ist, son- dern nur eine Position von vielen darstellt. Andere For- schende vertreten völlig gegensätzliche Thesen. Für alle, die sich für die römische Religionspolitik im 1. Jahrhundert, die Entstehung des Christentums und seine Verhältnisbestimmung zum Judentum im 1. und 2. Jahrhundert interessieren, ist das Buch aber ein gelungener Einstieg, welches Möglichkeiten zur Ver- tiefung gleich mitliefert. Rebekka Groß

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1/2 Bücherschau | 2020 152 [ Ausgrenzungs- undDiskriminierungserfahrungen denklichen Geschichtenvermittelt. lich erklärtundzumTeil mitvergnüglichenodernach- werdenausführ- –112) 93), EssenundTrinken (S.94 gendwo imfernenSiebenbürgen selbst tötet,raubtGottesEigentum 88), – 81),Bekleidung(S.82 77– diePflegedeseigenenKörpers(S. –76), Hauses (S.72 aufstehen…« (Lev19,32)(S.55)oderdiePflegedes tagsverhalten wie»voreinemgrauenHauptsollstdu 53).All- Hochschulen, Wissenschaft übergeht(S.31– die DarstellungjüdischerGelehrsamkeitinSchulen, dungsunterfangen (vgl.Ps119)(S.28),wasdannin tiv istdieVorstellung jüdischerLebensweisealsBil- Maria nochnichtkatholischwar«(S.19).Sehrinstruk- augenzwinkernd: »EsgabeineZeit,dadieJungfrau deutlich benanntwerden,manchmalhumorvollund Rezensionen der Schuld beladen scheibe desAntisemitismuswurden. men wurden,abergleichzeitigauchwiederzurZiel- dieser MehrheitsgesellschaftgerninAnspruchgenom- te, wiezumBeispielBankwesen,diedannvoneben schlossen warundsichaufBerufezurückziehenmuss- rung vonbestimmtenBerufsfelderngänzlichausge- heitsgesellschaft deutlich,dassdiejüdischeBevölke- le SeitederAusgrenzungdurchdiechristlicheMehr- scher« (S.96ff)erläutert.Aberauchhierwirddiedunk- wichtigsten hebräischenBegriffewiezumBeispiel»ko- tilproduktion, Rabbiner, vorgestelltunddie Kantoru.a. wie Metzger, Schächter, Bäcker, Schuster, Händler, Tex- zialismus werdenbenannt. Ghetto undandereGrenzen Schoah Aber auchdiedunkleSeitebleibtnichtunerwähnt: Im BuchwerdenverschiedeneBerufstätigkeiten auf jüdischesLebennachdemNationalso- S 3 341)]oderdieAuswirkungen – (S. 338 (S. 60 –71); –71); (S. 60 Tallit (S. 304–321); (S. 304–321); (S. 48 –252); –252); (S. 48 und Zizit Wer sich S 9– (S. 89 Mit Ir- erstehen ausgereckten Arm kennenzulernen. licht, einedetaillierteInnensichtgelebtenJudentums wahre Schatztruhebereit,dieesLernendenermög- gehen, stelleninreligionspädagogischerSichteine Rundfunkbeiträge, Vorträge, Vorlesungen usw. zurück- zudrücken pflegt,zugutekommenkann. christlich-jüdischen Dialog«,wiesichJoelBergeraus- gogisch sinnvollistundwasinZukunftdem»sog. hoben wird,waswohltuendundgleichermaßenpäda- dass einmoralischerodertheologischerZeigefingerer- schen ReligionerinnertundsoanihreWurzeln, ohne werden andievielenGemeinsamkeitenmitderjüdi- mit derLektüreaufhören.ChristenundChristinnen Man magdasBuchgarnichtausderHandlegenoder dische Geschichten)wiederzumLebenzuerwecken. untergegangenen osteuropäischenJudentums(chassi- Leben zuerzählenundvielenarrativeTraditionen des ist Leben–wasTod? spiel bioethischeProblemanzeigenderGegenwart[ Werk? rechten willen samtkunstwerk plastischvorAugen. den einfarbenfrohesBildgelebtenJudentumsalsGe- für denMaharam ist einMinhag? sonanz imTabaktempel Wein fürdenElija der Reue,Tag derSühne Fest zumSegenundWohlergehen meinschaft sungene Gebete Gemeinden habenkeinenPfarrer 303)]werdenvonBergerfokussiert[ (S. 292– dende Kunst[MarcChagall: Die einzelnenArtikeldesBuches,diezumTeil auf Joel Bergeristesherausragendgelungen,jüdisches Explizite theologischeThemenundDiskurse[ Jüdische EinrichtungenundKult,LehreBil- (S. 264 –270)] fehlenebensowenigwiezumBei- –270)] (S. 264 (S. 229 –242); –242); (S. 229 (S.169 –185); –185); (S.169 (S. 257–263), (S. 257–263), S 2 228); – (S. 222 (S. 161–168); (S. 161–168); (S.276 –285)] stellendemLernen- –285)] (S.276 S 5 256); – (S. 253 (S. 204–221); (S. 204–221); …und willeucherlösendurch …und S 4 247)]. – (S. 243 (S. 271–276); (S. 271–276); (S. 196 –203); –203); (S. 196 … undfeiertnurFestauf Der RabbimitderZitrone Wilhelm Schwendemann Gottes LoboderTeufels Verscheiden undAuf- Im DienstederGe- …um derzehnGe- Harmonie undDis- (S. 153 –160); –160); (S. 153 (S. 186–195); (S. 186–195); Ein Denkmal Ein Becher Jüdische Was Was Tag Ge- gangen [sind],waseinMenschertragenkann[…],war erzählen, dennwährendsie»andieGrenzendessenge- len zukönnen,hinderteihndaranseineGeschichte auf dieselbeStufemitdenanderenÜberlebendenstel- so vieleJahrelangfürsichbehielt.DasGefühl,nicht te, seineGeschichtepreiszugebenundweshalbersie drängen ließ«(S.8). das [er]zuverdrängensuchte,sichnichtlängerver- »denn imLaufderZeitbegriff[er],dassdasTrauma, überwand ersich,seineGeschichteniederzuschreiben, seiner Glaubensgenossen.Erstnachmehrals40Jahren Perel dieZeitdesNationalsozialismusunterdenFeinden Überleben ermöglichte.GetarntalsHitlerjungeerlebte und falschenIdentität,dieihnschützteihmdas genen, sondernvonJosef(Jupp)Perjell,seinerneuen Konzentrationslagern oderseinenjüdischenMitgefan- deren Holocaust-Überlebenden:Ererzähltnichtvon terscheidet sichvondenGeschichtendermeistenan- Sally PerelsBiografie vielleicht auchderenUnverständniszustellen.Denn lern vorOrtteilt,umsichderenGedanken,Fragenund ner Form,sondernauchmitSchülerinnenundSchü- da erseineErfahrungennichtnurinniedergeschriebe- heute einenwichtigenBeitragzurErinnerungskultur, rener, jüdischerAutor. Mitseinen95Jahrenleisteter Perel erklärtimVorwort, wasihndochdazubeweg- Sally PerelisteininPeinebeiBraunschweiggebo- ISBN 978-3-453-53483-4 München: heynefliegt,255Seiten Ich war Hitlerjunge Salomon Perel, Sally (1992/2016): Ich warHitlerjungeSalomon un- mich geradeaufhielt«(S.200). mal Mühezuerkennen,inwelcherPersönlichkeitich rissensein zwischenzweiIdentitäten:»Ichhattemanch- berichtet vonAngst,LügenunddemHin-Herge- an derFronteinTeil derHitlerjugend.DieserAbschnitt als JosefPerjellunterNazisundwirdnachseinerZeit tete ihmdasLeben,undvonnunanlebteSallyPerel deutscher« zuantworten(S.32).DieserMomentret- »Bist duJude?«mit»IchbinkeinJude,ichVolks- sein Überlebenswillebrachtenihndazu,aufdieFrage digte undsieineinemLochvergrub.SeineInstinkte würde« (S.29),weshalbersichseinerPapiereentle- den nächstgelegenenWald triebunddorterschießen »nicht […]inGefangenenlagerbrächte,sondernsie Reihen aufstellen(S.29).Perelwusste,dassmanJuden grünspanfarbenen Uniformen«einundlassenallein er fliehen,inMinsktreffendie»schwarzenStiefelund sollt leben!«fortgeschickt(S.15).Immerwiedermuss Bruder wirdervonseinerMuttermitdenWorten »Ihr Wehrmachtseinheiten. Gemeinsammitseinemälteren und dieJahreanderneuenSchule,biszurAnkunft 14). PerelüberfliegtdieEingewöhnungszeitinLodz schnitten ihnendieBärteundSchläfenlockenab«(S. sie versetztenihnenTritte […],sieschlugenund von JudenindenEingangeinesGebäudesschleifen, Gymnasium vorbeiging,sahichSoldateneineGruppe Ausbruch. […]EinesTages, alsichamhebräischen mus verbargsichnichtmehr, erkamüberalloffenzum nun nichtmehrzuübersehenwar:»DerAntisemitis- Verlauf derMachtergreifungHitlersunddassHass unbeschwerte ZeitbaldeinEnde,Perelberichtetvom lichen Kinderhimmel«trübte(S.9).Jedochnimmtdiese Deutschland flohen,wo»keinWölkchen[seinen]glück- ihm, seinerSchwesterundseinenbeidenBrüdernnach seinen Eltern,dieaufgrundderOktoberrevolutionmit einem kurzenEinblickinseineKindheit.Ererzähltvon zählen. brachte ihnletztenEndesdazu,seineGeschichtezuer- Gewissensbissen, UnsicherheitundAngstzubefreien, gegangen« (S.7).DochderWunsch danach,sichvon [er] zurselbenZeitunbehelligtunterdenNazisumher- Nach derEinführungbeginntPerelsBiografiemit 153 ZfBeg 1/2 | 2020 Rezensionen | Bücherschau lit 154 Rezensionen

Im letzten Teil berichtet Perel, wie seine Zeit als teren Generationen weiterzugeben und die Heteroge- Hitlerjunge zu Ende ging (S. 207). Von da an beginnt nität der Überlebensmöglichkeiten zu verstehen. Erin- seine Suche nach seinem alten Ich und einer neuen Zu- nerungskultur funktioniert aber nicht nur über den per- kunft. Zurück in Peine, seinem Geburtsort, will er an- sönlichen Austausch, auch moderne Medien tragen deren Überlebenden helfen. Es zieht ihn zurück zu sei- ihren Teil zum Erhalt dieser Geschichte bei. Neben der nen jüdischen Wurzeln, weshalb er sogar seinen wie- Neuauflage verlieh auch die Verfilmung des Buches der dergefundenen Bruder verlässt, um »Soldat im Regi- Geschichte neue Aufmerksamkeit und wurde sogar ment 68 der Jerusalemer Division […]« zu werden (S. durch diverse Preise wie den Golden Globe, den Na- 237). Er betont, dass er sein Schicksal in diesem neuen tional Board of Review Award und sogar einer Oscar- Kapitel seines Lebens mit dem »anderer Einwanderer nominierung ausgezeichnet. teilen« wird (S. 237). Seine Reise endet, womit sie be- gonnen hat; er erinnert sich an die Worte seiner Mut- Wie Perel selbst sagt, wollte er sich »alles im wahrs- ter: »Ihr sollt leben« (S. 237). ten Sinne des Wortes von der Seele schreiben« (S. 8). Das Nachwort des Buches gibt einen Einblick in Und genau solch ein Gefühl vermittelt dieses Buch. Er Perels Aufklärungsarbeit an Schulen; er erzählt von Fra- hält sich selten mit genauen Details auf, springt oft zu gen, denen er sich nun endlich stellen kann und von den ausschlaggebenden Momenten seiner Geschichte, Reaktionen der Schüler_innen, die ihm beweisen, wie die Einführung hält er recht kurz und auch das Ende wichtig seine Arbeit ist. Es wird deutlich, dass Perel ge- bleibt offen. Dies mag auf der einen Seite kühl wirken, nau wegen dieser Reaktionen und Fragen mit vor allem sein Schreibstil scheint dabei zu helfen, eine gewisse jungen Menschen sprechen, ihnen die Realität vor Augen Distanz zu bewahren, sei es dem/der Leser_in oder führen will. Das Besondere an dieser Neuauflage ist das der Erinnerung gegenüber. An einigen Stellen wünscht abschließende Interview mit Sally Perel, was auch den man sich als Leser_in, noch genauer zu erfahren, was Anlass dafür gibt, es im Kontext der Erinnerungskultur ihm in diesem Moment durch den Kopf ging, wie er sich noch einmal zur Sprache bringen zu wollen. fühlte. Doch genau das macht seine Geschichte auf lit Perels Geschichte wurde 1992 zum ersten Mal ver- eine eigene Weise emotional. Der Fokus bleibt nämlich öffentlicht, umso mehr zeigt dieses aktuelle Interview, immer auf seiner Angst, der Angst ertappt zu werden, Bücherschau

| dass es in Anbetracht des aktuellen Tagesgeschehens nicht schlagfertig genug zu sein, auf dem Sich-Verlassen immer wichtiger wird, Geschichten wie diese in Erinne- und auf die eigenen Instinkte und den Überlebenswil- rung zu behalten. Darum berichtet Perel im Interview, len gerichtet. welchen Eindruck er von heutigen Schülerinnen und Das ist es auch, was dieses Buch empfehlenswert Schülern hat und was sie in seinen Augen alles über macht. Es präsentiert eine etwas andere Überlebensge-

Rezensionen Nationalsozialismus wissen und wissen sollten. Er er- schichte, die verständlich machen soll, welche Ge- zählt nicht nur von Manipulation, die es ihm erschwer- schichten während des Holocausts geschrieben wur- te, sein wahres Ich zu bewahren. Perel möchte den frü- den, wozu er Menschen fähig machte. Perel berichtet heren Wunsch danach, all seine Erinnerungen verges- nämlich auch von Freundschaften und schönen Momen- sen zu wollen, in ein Erinnern umwandeln, um das ten, die ihn, zusammen mit seiner Angst, immer wie- Bewusstsein zu fördern und zum besseren Verständnis der an der Flucht hindern: »Ihre ständige Sorge um mein dieser Vergangenheit beizutragen; auch sein Buch sei Wohlergehen und die Gefahr, gemeinsam und auf ewig diesem Zweck gewidmet, erklärt Perel (S. 255). in fremder Erde zu ruhen, verbanden mich mit ihnen« Durch seine Arbeit an Schulen regt Perel die vierte (S.105). Die Widersinnigkeit dieses Buches lässt den/ Generation nach Auschwitz dazu an, sich mit Geschich- die Leser_in immer wieder innehalten und regt zur Re- ten wie dieser auseinanderzusetzen, um sie an die wei- flexion an. Vanesa Gasparevic

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Werner, Hans-Joachim; Silvera David; Flashman, Alan (2020): Verbundenheit im Gegenüber Martin Buber und der Umgang mit Konflikten Bodenburg: Edition AV, 210 Seiten ISBN 978-3-868-41236-9

Als »ein in tiefer Zwiefalt wirr verschlungenes Ge- schehen« charakterisiert Martin Buber das Verhältnis der Grundworte genannten »Ich-Du« und »Ich-Es« (S. 8), und dieses Geschehen habe einen bestimmbaren An- fang: »Der Ursprung alles Konflikts zwischen mir und meinen Mitmenschen ist, dass ich nicht sage, was ich meine und dass ich nicht tue, was ich sage« (S. 48). Der Buber-Experte Hans-Joachim Werner widmet Konflikte erleben, sei es mit Eltern, Geschwistern, Leh- sich in diesem grundlegenden Beitrag den Gedanken rern oder Kameraden. Schon mit Schulanfängern kann Bubers als Denker des Dialogs über den Umgang mit in der geschilderten Weise über Konflikte gemeinsam Konflikten (S. 46). Werner beschreibt die aus einem nachgedacht werden, um aufrichtig echte und nach- Mangel an Authentizität folgenden Spannungen auf haltige Lösungen zu finden. Bubers von persönlichen und politischen Konflikten ge- prägten Leben. Die aus diesen Erfahrungen heraus ent- Angefügt sind Aufsätze von israelischen Konflikt- wickelten Vorschläge Bubers zur Lösung von Konflikten forschern. David Silvera schreibt über das Verhältnis sind übersichtlich und ausführlich zusammengestellt von Dialog und Mediation, Instrumente der Konflikt- und im systematischen wie auch philosophiegeschicht- lösung, den Konflikt zwischen Juden und Palästinen- lit lichen Kontext verstehbar gemacht. sern und gibt Einblicke in die Konfliktmediation in der Bücherschau

Bubers Vorschläge haben einen gemeinsamen Leit- Praxis mit einer ausführlichen Erklärung der zehn Pha- | faden für die Lösung: bei sich beginnen, aber nicht bei sen des Mediationsverfahrens. sich enden. Für die Lösung selbst gibt Buber drei Schrit- Alan Flashman untersucht das Verhältnis von Hass te vor: 1. Selbsterhellung (Selbstbesinnung), 2. Selbst- und Beziehung, ausgehend von Bubers Überzeugung beharrung (ich bin, bleibe Teil des Konflikts) und 3. »Doch der unmittelbar Hassende ist der Beziehung Sühne (Wiedergutmachung). Wie dies im Einzelnen näher als der Lieb- und Haßlose« (S. 175) und analysiert Rezensionen gelingen kann, mit welchen Barrieren zu rechnen und auf diesem Hintergrund seine Erfahrungen mit dem is- wie diese zu überwinden sind, zeigen Werners Ausfüh- raelisch-palästinensischen Dialog. Geradezu ein Ge- rungen. schenk macht Flashman dem Leser mit seinem kom- mentierten fiktiven Gespräch eines Ehepaars mit Buber Werners Studie ist ein wertvoller Beitrag insbeson- in der imaginären Rolle des Paartherapeuten mit dem dere für das Bildungswesen. Die Reflexion auf die indi- Titel Hass in Beziehungen. Ein Paarkonflikt – eine viduelle Verantwortung für das, was man denkt, sagt Buber-Phantasie. und tut, sollte dort einen hohen Stellenwert haben, vor Ein empfehlenswertes Buch für Buber-Interessierte allem an den Schulen, gerade in Fächern wie Ethik und insbesondere für im Erziehungsgeschäft und Kon- oder Religion. Auch jüngere Menschen können ständig fliktmanagement Tätige. Mechthild Ralla

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Zeitschrift für • Verantwortliche Schriftleitung christlich-jüdische Begegnung – Prof. Dr. Reinhold Boschki, im Kontext (ZfBeg) Valesca Baert-Knoll , Folgezeitschrift des Dr. Julia Münch-Wirtz, »Freiburger Rundbriefs (Neue Folge)« Universität Tübingen – Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann, Ausgabe 1/2 | 2020 | © 06/2020 Evangelische Hochschule Freiburg ISSN 2513-1389 in Kooperation mit: – Prof. Dr. Daniel Krochmalnik, • Herausgeber School of Jewish Theology, Verein Freiburger Rundbrief. Universität Potsdam Arbeitskreis für christlich-jüdische • Verantwortlicher Redakteur Begegnung e.V. (VR 629; gemeinnützig) – Prof. Dr. Ulrich Ruh, Freiburg 1. Vorsitzender: • Erweiterte Schriftleitung | Berater_innen – Prof. Dr. Reinhold Boschki, Tübingen (wird ständig ergänzt): 2. Vorsitzender: – Karl-Hermann Blickle, Balingen – Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann, – Prof. Dr. René Dausner, Eichstätt/Dresden Freiburg i.Br. – Prof. Dr. Christoph Dohmen, Regensburg – Dr. Dr. Thomas Fornet-Ponse, Aachen/Köln • Ziele – Prof. Dr. Albert Gerhards, Bonn Die »Zeitschrift für christlich-jüdische – Prof. Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Begegnung im Kontext« will die Beziehung Dresden und das Verständnis zwischen Christen und – Prof. Dr. Hans Hermann Henrix, Juden fördern, Antisemitismus und Rassis- Aachen/Salzburg mus auf allen Ebenen bekämpfen, die Erin- – Prof. Dr. Gregor Maria Hoff, Salzburg nerung an den Holocaust wach halten, die – Prof. Dr. Reiner Kampling, Berlin Freundschaft zwischen Christen und Juden – Rabbiner Dr. Joseph A. Kanofsky, Toronto vertiefen, Menschenrechte fördern und – Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel, Tübingen den Dialog öffnen für andere Religionen – Prof. Dr. Verena Lenzen, Luzern und Gruppen, insbesondere mit Muslimen. – Prof. Dr. Klaus Müller, Karlsruhe Die Zeitschrift will in Kirchen, Theologie, – Dr. Christoph Münz, Frankfurt Religionsgemeinschaften und in die gesell- – Prof. Dr. Maria Neubrand MC, Paderborn* schaftliche Öffentlichkeit wirken, ins- – Dr. Gertrud Rapp, Freiburg besondere in den Bereich der Bildung. – Prof. Dr. Christian Rutishauser SJ, Zürich

* Frau Prof. Neubrand ist am 19. März 2020 verstorben. ZfBeg 1/2|2020 158 Impressum

• Ehrenmitglied • Herstellung Fritz B. Voll, Toronto/Kanada – Layout/Herstell.org.: Brigitte Ruoff, Stuttgart • Unterstützende Institutionen – Druck: Offizin Scheufele Druck und Medien – Universität Tübingen GmbH & Co. KG, 70597 Stuttgart – Evangelische Hochschule Freiburg in Kooperation mit dem Tübinger Uni-Verlag – Bibliotheken und Institutionen, (Universitätsbibliothek Tübingen) die die Zeitschrift abonnieren – Bildnachweis – Gesellschaft für Christlich-Jüdische Umschlag/Holocaust-Denkmal Berlin Alfred Ruoff/kleine Abb. Zusammenarbeit, Freiburg i.Br. Nachweis bei den jeweiligen Abbildungen im Innenteil s21 www.fritz-bauer-institut.de | s33/35 Wilhelm Schwende- • Spender mann | s36 uploading-holocaust.com/Startseite | s38 Alfred Wir danken für großzügige Unterstützung: Ruoff | s47 www.instagram.com/eva.stories/?hl=de Startseite s49 oben SDTB/C. Kirchner | s49 Mitte USC Shoah Founda- – den katholischen Bistümern Freiburg, tion | s71 https://collections.ushmm.org/search/catalog/ pa1116002 Edward Owen | s73/75 https://thenightholocaust München, Erfurt, Rottenburg-Stuttgart, Köln project.com | s74 World Economic Forum/swiss-image.ch/ – der Evangelischen Landeskirche Baden Sebastian Derungs | s76 KZ-Gedenkstätte Neuengamme/ F 1982-1751 | s77 KZ-Gedenkstätte Neuengamme/F 2015-273 – der Gemeinschaft der s78 Initiative Dessauer Ufer | s79 The Museum of Danish »Kleinen Brüder Jesu«, Nürnberg Resistance 1940-1945/235224 | s80 The Museum of Danish Resistance 1940-1945/235210 | s83–85 Felix Henn | s91/92 – der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Mitte/95 Friedrich-Gymnasium Freiburg | s105 freilach.com/ Zusammenarbeit, Freiburg i.Br. Boroda | s123 https://www.ksta.de/kultur/theologe-johann- baptist-metz-gestorben-33561972 | s130 https://ekilauf.de/ – dem Stuttgarter Lehrhaus – deutschland-betet-gemeinsam | s131 links unten: https:// Stiftung für Interreligiösen Dialog eurojewcong.org/media/dr-moshe-kantor-bestows-on-his-holi- ness-pope-francis-2020-golden-vision-award/ – zahlreichen Einzelpersonen • commons.wikimedia.org: – privaten Abonnentinnen und Abonnenten s7 HOWI (Horsch, Willy) | s12 Seder-Tisch RadRafe  http://tapirr.narod.ru/art/j/jud/tora_illustr.htm  Eugene Ivanov  metmuseum.org  Zacharias Shoukry  wikidata Q46815/199815 BgHiieuz1IC0Bw at Google Cultural Institute • Geschäftsstelle ZfBeg | s15 www.defenselink.mil/afis/editors/lineart_oct.html Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung s19 Karsten Ratzke | s25 links/ rechts Autor unbekannt | s27 Jean Michel Etchecolonea | s28 Ökumenisches Jugendprojekt im Kontext (Freiburger Rundbrief) Mahnmal | s29 links Mitte Stefan97 | s29 unten Air-Quad Wilma Jansen | Heike Jansen UG/Torhaus unten links Stanisław Mucha | s32 Dnalor 01 s34 Raimond Spekking | s44 Mrbrefast | s51/59 Julien Dame- Postfach 57 03 | 79025 Freiburg i.Br. let | s52 Daniel Åhs Karlsson | s53 Kreepin Deth | s58 Valesca Universitätsstraße 10 | 79098 Freiburg i.Br. Baert-Knoll | s66 Deutsche Bundespost 13.10.1988/Lüdtke s67 Axel Mauruszat | s86 Jörg Padberg | s87 Jörg Huber | s88 Telefon +49 (0)7 61/217716 43 Chris W. Braunschweiger | s89/92 oben James Steakley | s90 [email protected] 1AGGf8FusyN11g at Google Cultural Institute | s97 Leonce49/ Magnus Manske s100 AdamJacobMuller | s104 Hpschaefer – Bankverbindung reserv-art.de | s113 Atelier Prinses/Amsterdam | s114/120 ZfBeg | Freiburger Rundbrief: Autor unbekannt | s117 Bundesarchiv Bild 183-35545-0009/ CC-BY-SA 3.0 | s122 Ilya Varlamov | s131 Wappen Steifer/ LIGA Bank eG Porträt Pelz | s132 oben Olaf Kosinsky/kosinsky.eu/CC BY-SA IBAN: DE89 7509 0300 0002 2158 45 3.0-de/unten wz.de/Andreas Krüger | s152 Merlin • Buchcover und Porträts der Autoren von den Websites BIC: GENODEF1M05 der jeweiligen Verlage

ZfBeg 1/2|2020 Heftbezug | Abonnement 159

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Aleida Assmann Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, München 2020, S. 12. Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung 2020 | 2 / Beg 1

ISSN 2513-1389 f Z