Heuser, Modernisierung des chinesischen Rechts, ZChinR 2009

AUFSÄTZE

Der Ertrag der Republikperiode (1912-1949) für die Modernisierung des chinesischen Rechts

Robert Heuser1 2

Die1während der ersten Dekade des 20. Jahr- ben betraut gewesen war, hatte keine Vorstellung hunderts2 betriebene Modernisierung des chinesi- von einem neuen System, einer neuen Ordnung schen Rechts hatte zwar systemare, konzeptionelle und keine Sympathie für politische Ideen und Insti- und terminologische Grundlagen geschaffen3, tutionen westlichen Ursprungs. In den Ereignissen erschöpfte sich aber weitgehend in der Erarbeitung seit 1911 erblickte er eher das mit einem Dynastie- von Gesetzesentwürfen, die wegen des baldigen wechsel einhergehende Chaos.5 Auch in der folgen- Niedergangs der Dynastie nicht mehr in Kraft tre- den 12-jährigen Periode der Regionalherrschaften ten konnten. Unter der an die Stelle der Monarchie (sog. junfa/Kriegsherren/warlords) konnte gesetz- getretenen Republik wurden die Modernisierungs- geberisch kaum etwas zum Abschluß gebracht wer- bemühungen fortgesetzt. Sie standen weiterhin den, dafür waren diese Jahre in intellektueller vornehmlich im Zeichen der Abschaffung der Hinsicht äußerst lebendig. Auch das Rechtsdenken Exterritorialität. Die Versailler Vertragsverhand- ist davon nicht unbeeindruckt geblieben. Mit dem lungen 1919 führten hierbei noch zu einer Verfesti- Jahre 1927 begannen unter der von der GMD in gung dergestalt, daß Japan durch den Vertrag Nanjing gegründeten Nationalregierung zehn rela- zugesichert wurde (Art. 156-158), in die von tiv stabile Jahre, während denen ein umfassendes Deutschland in Shandong aufzugebenden Privile- Gesetzgebungsprojekt nach dem andern abge- gien nachzufolgen. schlossen wurde und das System der chinesischen „Sechs Kodices“ zustande kam. Die Fülle der so Die Historiker sind sich darin einig, daß „die legislatorisch geschaffenen straf-, privat- und pro- Revolution von 1911 ihrem Wesen nach ein Zusam- zeßrechtlichen Konzepte konnte sich in den bald menbruch, nicht eine neue Schöpfung war“.4 Ein nach Fertigstellung des Kodifikationswerks einset- Neuanfang mit Sun Yatsen, der Ende 1911 in Nan- zenden internationalen und internen kriegerischen jing zum provisorischen Präsidenten eingesetzt Wirren nicht entfalten und wurde nach 1949 – sieht worden war, scheiterte nach wenigen Monaten. Der man ab von – durch ein an der Sowjetunion dann eingesetzte Präsident Yuan Shikai (1859- orientiertes sozialistisches Entwicklungsmodell 1916), der seit den 1880er Jahren von der Qing- verdrängt. Seit den 1980 Jahren findet eine an Inten- Regierung mit verschiedenen militärischen Aufga- sität permanent zunehmende Rückbestimmung auf während der ersten Jahrhunderthälfte gewonnene Einsichten und Resultate der Rechtsmodernisie- 1 Prof. Dr. iur., M.A., Institut für Moderne -Studien, Universität rung statt. Damit erweisen sich diese nicht mehr als Köln. 2 Abkürzungen: BDRC = Biographical Dictionary of Republican China Irrweg und Sackgasse früherer Reformbestrebun- (H. Boorman, R. Howard, eds.), 4 vols., New York and London, 1967- gen, sondern zunehmend als Quelle der Inspiration 1971; BFYJ = Bijiaofa yanjiu; FXJ = Faxuejia; FXPL = Faxue pinglun; und Referenzmaterial für die legislatorischen Her- GMD = Guomindang; JöR = Jahrbuch des öffentlichen Rechts; NOAG = 6 Nachrichten der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens ausforderungen der Gegenwart. (OAG); XDFX = Xiandai faxue; ZFLT = Zhengfa luntan; ZGFX = Zhong- guo faxue. 3 Dazu Robert Heuser, Beginn eines Jahrhundertprojekts: Die Rechtsre- form unter der Späten Qing-Dynastie (1903-1911), in: ZChinR 2008, S. 193-205. 4 So John K. Fairbank, Geschichte des modernen China 1800-1985, deut- 5 Er konnte in dieser Sicht auch dadurch bestärkt werden, dass das sche Ausgabe, München 1989, S.170. Diese Revolution war gegen die Abdankungsedikt vom 12.02.1912 in der Begründung der Abdankung Herrschaft der Adelsschicht des Mandschurenvolkes gerichtet, sie hatte an die traditionelle Staatslehre anknüpfte, wonach die Legitimation zu eine rassistische Spitze. „Once the Manchu Emperor was removed, the herrschen (das „Himmelsmandat“) verloren geht, sobald der Herrscher arrow had no further target“ (Jerome Ch’en, Yuan Shih-K’ai 1859-1916, sich unfähig zeigt, die sittliche Weltordnung und damit auch die Wohl- London 1961, S. 135). fahrt des Volkes zu verbürgen. (Vgl. H.F. MacNair, op. cit., S. 721 ff.).

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A Beyyang-Gesetzgebung und Rechtsidee der zurück und leitete dort die neu gegründete Kodifi- Neuen Kulturbewegung (1912-1927) kationskommission. Sein Stellvertreter war der Kantonese Luo Wen’gan (1888-1941), der von 1906- I. Fortsetzung der Qing-Rechtsreform 1910 in Oxford zum Rechtsanwalt ausgebildet wor- den war und 1922 Justizminister in der Pekinger, 1. Neue Kodifikationskommission 1932 in der GMD-Regierung in Nanjing wurde.11 Da es sich bei dem „Republik China“ genannten Ein weiterer Vizevorsitzender der Kommission war Staat dem Anspruch nach um ein neues politisches Dong Kang (1867-1947), der in den 1890er Jahren System handelte, fiel nun der Verfassungsgesetzge- noch im Strafministerium (xingbu) tätig gewesen bung, die in den letzten Qing-Jahren zaghaft und war. Ende 1905 hatte er zu den Personen gehört, die nur formal begonnen hatte, eine größere Rolle zu. nach Japan zum Rechtsstudium geschickt worden Am 11. März 1912 trat die unter Leitung von Song waren. 1914 wurde er Präsident des Obersten 12 Jiaoren (1882-1913) ausgearbeitete „Vorläufige Ver- Gerichts. Mitglieder der Kommission waren auch fassung der Republik China“ (Zhonghua minguo Ausländer: der Franzose Georges Padoux, der als linshi yuefa) in Kraft.7 Song Jiaoren war ein naher französischer Diplomat bereits in Thailand (Siam) Mitarbeiter Sun Yatsens seit der Gründung der in der Gesetzgebungsberatung tätig gewesen war Tongmenghui 1905 in Japan, wo Song u.a. Recht stu- und zwei Japaner, 1921 kam der Franzose Jean 13 diert hatte.8 Hier ist Song zu erwähnen, weil er im Escarra hinzu. Januar 1912 zum Direktor des neu etablierten Gesetzgebungsbüros (fazhiyuan) ernannt wurde. 2. Gewohnheitsrechtsforschung Diesem oblag die Aufgabe, das Rechtsmodernisie- Gegenstände der Kommissionsarbeit waren rungswerk der Späten Qing fortzusetzen, was aber neben der Umarbeitung der von der Späten Qing mit dem Machtantritt Yuan Shikais und der Rück- hinterlassenen Gesetzesentwürfe auf dem Gebiet verlegung der Hauptstadt nach Peking im März des Straf-, Zivil-, Handels- und Prozeßrechts die 1912 beendet war, bevor es beginnen konnte. Song Erforschung der lokalen Gewohnheitsrechte und befaßte sich nun mit der Umorganisation der Tong- Rechtsbräuche. Diese Tätigkeit hatte schon unter menghui in eine für die kommenden innenpoliti- der Gesetzesrevisionsbehörde Shen Jiabens begon- schen Auseinandersetzungen geeignete politische nen und wurde seit Anfang der 20er Jahre bis 1925 Partei, wodurch im August 1912 die GMD zustande fortgeführt. 1930 veröffentlichte die GMD-Regie- kam.9 rung den „Bericht über die Untersuchung von 14 Die Pekinger Zentralregierung richtete 1916 Gewohnheiten in Zivil- und Handelssachen.“ Für eine neue Kodifikationskommission ein (fadian bian- die Gesetzgebung ist er dadurch bedeutsam gewor- zuan hui, ab 1918 xiuding falü guan) mit Wang den, daß das 1929/30 schließlich zustande gekom- Chonghui (1881-1958) als Vorsitzendem. Wang, mene ZGB häufig auf Gewohnheiten insofern Sohn eines protestantischen Pfarrers, hatte seine Bezug nimmt, als die betreffende gesetzliche Rege- Schulbildung in Hongkong genossen, studierte spä- lung nur gilt, sofern keine Gewohnheit entgegen- ter Rechtswissenschaft in USA, England und steht. Etwa wenn es dort heißt: „Der Eigentümer Deutschland, übersetzte 1907 das deutsche BGB ins eines Grundstückes mit einem Wasserlauf darf das Englische und wurde unter Yuan Shikai Justiz- 10 minister im Kabinett Tang Shaoyi. Nachdem 11 BDRC, vol. 2, S. 438 ff. Luo schloß sich 1938 der 1934 von Zhang Jun- Tang schon im Juni 1912 wegen Yuan Shikais Miß- mai (Zhang Jiasen/Carsun Chang) in gegründeten Staatssozia- len Partei (guojia shehui dang) an. (Sie propagierte auf der Grundlage achtung der Verfassung zurückgetreten war, trat eines parlamentarischen Systems und dem Prinzip der loyalen Opposi- auch Wang zurück und übernahm den Posten eines tion ein Mehrparteiensystem und auf der Grundlage des Privateigen- Vizepräsidenten der Shanghaier Fudan-Universität. tums staatliche Kontrolle von Schlüsselindustrien). 12 In den zwanziger Jahren war er auch als Rechtsprofessor an der Su- Nach Yuan Shikais Tod kehrte er nach Peking zhou-Universität Law School in Shanghai tätig. Ab 1937 arbeitete er in Peking mit den Japanern zusammen. (Vgl. BDRC, 3 Bd., S. 340 f.). 13 Vgl. dessen Le droit chinois, Pékin, Paris 1936, S. 109. Kurz nach seiner 6 Statt vieler: Wu Keyou, Die zivil- und handelsrechtliche Gesetzgebung Berufung erstattete er der Kommission einen Bericht über Les Problèmes der Republik China und ihre beispielgebende Bedeutung (Jiu zhongguo Généraux de la Codification du Droit Privé Chinois, Pékin, 1922, in dem min-shang lifa ji qi jiejian yiyi), in: Min-shang-fa luncong, Bd. 10 (1998), er die Fragen erörterte, ob das Obligationsrecht vorab kodifiziert wer- S. 252 ff. den und ob darin das Handelsrecht enthalten sein sollte. Denn „dans leurs relations commerciales avec la Chine, c’est, avant tout, en matière 7 Dazu Robert Heuser, Der offene Weg: Ein Jahrhundert chinesischer Ver- d’obligations, que les étrangers ont besoin d’une législation moderne“. fassungsreform, JöR, N.F. Bd. 56 (2008), S. 655 ff., 658. 14 Minshang shi xiguan diaocha baogao. Eine Übersetzung der beiden 8 BDRC, 3. Bd., S. 192 ff. und Chün-tu Hsüeh, A Chinese Democrat: The ersten Teile durch Eduard Kroker erschien 1965 unter dem Titel „Die amt- Life of Sung Chiao-jen, in: ders. (Ed.), Revolutionary Leaders of Modern liche Sammlung chinesischer Rechtsgewohnheiten“, sie betreffen China, Oxford 1971, S. 248 ff. „Gewohnheiten zum allgemeinen Teil des bürgerlichen Rechts“ und 9 Ein halbes Jahr darauf erlag Song im Bahnhof von Shanghai einem von „Sachenrechtliche Gewohnheiten“. Zwei weitere – bisher nicht über- Yuan Shikai veranlaßten Attentat. setzte – Teile beinhalten „Schuldrechtliche Gewohnheiten“ sowie „Fami- 10 Vgl. BDRC, vol. 3, S. 376 ff. und Liu Baodong, Leben, Werk und Ideen lien- und Erbrechtliche Gewohnheiten“. Die im Titel des Berichts des Rechtswissenschaftlers Wang Chonghui (Faxueja Wang Chonghui: aufgeführten „Gewohnheiten in Handelssachen“ wurden nicht publi- Shengping, zhushu, sixiang), BFYJ 2005, Nr. 1, S. 127 ff. ziert.

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Wasser nach Belieben gebrauchen, es sei denn, daß neuen Gesetzesbezeichnung „Zivilrechtlicher Teil besondere Gewohnheiten bestehen“ (§ 781). Im des geltenden Strafgesetzbuchs” (xianxing xinglü Zusammenhang mit der Erörterung der Entstehung minshi bufen) fortgalten. des ZGB im Nanjinger Gesetzgebungsyuan wird 1926 wurde ein neuer ZGB-Entwurf veröffent- darauf zurückzukommen sein. licht, der als „Zweiter ZGB-Entwurf“ (di erci minfa 3. Strafrecht und Prozeßrecht cao’an) in die Gesetzgebungsgeschichte eingegan- gen ist.18 Dieser Entwurf zeichnete sich im Ver- Was in gesetzgeberischer Hinsicht während der gleich zum Entwurf von 1911 durch eine wesentlich frühen Republik geleistet wurde, war einerseits die knappere Regelung des Vermögensrechts (die Inkraftsetzung des unter Shen Jiaben erarbeiteten ersten drei Bücher) und größeren Detailreichtum und von den Konservativen aufgehaltenen Strafge- im Familien- und Erbrecht aus. Während die setzentwurfs als „Provisorisches Strafgesetzbuch Grundstruktur gewahrt bleibt (Allgemeiner Teil: §§ der Republik China“ noch durch Sun Yatsen am 1-223, Schuldrecht §§ 224-744, Sachenrecht §§ 775- 10.3.1912 in Nanjing. § 10 setzte fest, daß „eine 1054, Familienrecht §§ 1055-1297, Erbrecht §§ 1298- strafbare Handlung nicht vorliegt, wenn die betref- 1522), läßt er an manchen Stellen ein höheres (auch fende Handlung nicht im Gesetz als strafbar aufge- über die ausländischen Vorbilder hinausgehendes) 15 führt ist.“ Damit war die Geschichte des Maß an Wissenschaftlichkeit erkennen, z.B. wenn altchinesischen Strafrechts mit seiner spezifischen in den Allgemeinen Bestimmungen des Schuld- Ethikausprägung zum Abschluß gelangt. Es wurde rechts unter „Entstehung von Schuldverhältnissen“ versucht, das provisorische StGB in ein endgültiges Vertrag, Delikt und ungerechtfertigte Bereicherung fortzuentwickeln. 1916 erschien ein erster, 1919 ein hintereinander aufgeführt werden. Im Übrigen zweiter Entwurf; ernsthaft beraten wurden sie erst bewahrt er den traditionellen Ansatz des Familien- vom Gesetzgebungsyuan der Nationalregierung rechts und verlängert ihn dergestalt in das Erb- seit Dezember 1927. Im übrigen beschränkte sich recht, daß er die Erbfolge in den Ahnenkult eine abschließende gesetzgeberische Tätigkeit im (zongtiao jicheng) berücksichtigte. Eine Positivie- wesentlichen auf den Erlaß von stark am deutschen rung traditionellen Gewohnheitsrechts bedeutete Recht orientierten Strafprozeßregeln (xingshi susong auch die Einbeziehung des dian als ein Besitzgrund- tiaoli) im Jahre 1922 und Zivilprozeßregeln (minshi pfandrecht in die Regelung des Sachenrechts. Han- 16 susong tiaoli) im Jahr darauf. delsrechtliche Normen enthielt der zweite Entwurf ebensowenig wie der erste; man ging noch vom 4. Zivilrecht Prinzip der kodifikatorischen Trennung von Zivil- Der Präsident der Republik erließ am 10.3.1912 und Handelsrecht aus. ein Dekret, wonach die zivilrechtlichen Elemente des Qing-Kodex, „sofern sie nicht unvereinbar sind II. Die Funktion und Wirkung des Daliyuan mit der republikanischen Regierungsform“ weiter und des Pingzhengyuan in Kraft bleiben. Dies wurde von der Entscheidung Wichtiger als die Gesetzgebung dieser Epoche Nr. 304 des Obersten Gerichts (Daliyuan) bestätigt: war die damals beginnende Rechtsmodernisierung „Until the Civil Code of the Republic is promulga- durch höchstrichterliche Rechtsprechung. Schon ted, the laws of the Ching Dynasty except the penal das Gerichtsorganisationsgesetz von 1907 hatte das part and those that are repugnant to the existing 1906 gegründete Oberste Gericht (Daliyuan) (OG) 17 system of government continue to be in force“. mit der Kompetenz verbindlicher Gesetzesinterpre- Das heißt insbesondere, daß die familien- und erb- tation ausgestattet. Der Daliyuan, der bis zur Justiz- rechtlichen Regeln des Qing-Kodex unter der reform durch die GMD im Jahre 1928 bestand 19, übte eine wichtige Funktion in der Rechtsmoderni- sierung dadurch aus, daß moderne („westliche“) 15 Englischer Text in: A.M. Kotenev, Shanghai: Its Mixed Court and Rechtskonzepte als sog. allgemeine Rechtsprinzi- Council, Shanghai, 1925 (Reprint Taibei, 1968), S. 386 ff. 16 Da sie noch nicht vom Parlament angenommen worden waren, son- pien (tiaoli) in Form allgemein verbindlicher Ent- dern durch Präsidialerlaß vorläufig in Kraft gesetzt wurden, wurden sie scheidungen eingeführt wurden.20 Dabei ging man tiaoli genannt. Eine deutsche Übersetzung der Strafprozeßregeln sowie ein angefügtes „Chinesisch-deutsches Wörterverzeichnis zur chinesi- davon aus, daß „solchen für den Begriff der schen Strafprozeßordnung“ (beides von W. Trittel) finden sich in den Gerechtigkeit grundlegenden Rechtsprinzipien tat- Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen an der Friedrich- Wilhelms-Universität zu Berlin, 31. Jg. (1928), S. 105-174. In den Zivil- prozeßregeln ist allerdings – wie im alten China – die mögliche Arrestie- rung eines Beklagten vorgesehen, was sich daraus erklärt, daß es noch 18 kein Konkursgesetz gab (dazu unten B II/3.) und die Regeln über die Minguo minlü cao’an, chinesischer Text in: Yang Lixin, Die Zivilge- Registrierung von Immobilien nicht durchgeführt wurden (vgl. Depart- setz-Entwürfe der Qing-Dynastie und de Republik (Da Qing minlü ment of State, op. cit., unten Anm. 17, S. 43). cao’an, Minguo minlü cao’an), Jilin, 2002, S. 201 ff. 19 17 Zitiert nach Department of State (Ed.), Report of the Commission of 1920/21 war Wang Chonghui Präsident, Luo Wen’gang Vizepräsi- Extraterritoriality in China, Peking, September 16, 1926, Washington, dent. 1926, S. 40. 20 Dazu Jean Escarra, op. cit. (Anm. 13), S. 270 ff.

125 Heuser, Modernisierung des chinesischen Rechts, ZChinR 2009 sächlich keine Nationalität zukommt“, daß sie nur dem Einfluß der damals aufkommenden Frauenbe- insoweit „westlich“ sind, als sie dort zuerst erkannt wegung (funü yundong)25 und der westlichen Kon- und formuliert wurden (ganz so wie das Gravitati- zepte der Personengleichheit (renge pingdeng) und onsgesetz durch Newton).21 Die Entscheidungen des Individualismus (geren benwei) dem Geist der des OG kamen so zustande, daß untere Gerichte neuen Zeit anpaßte.26 Auf diese Weise wurde erst- Rechtsfragen an das OG herantrugen, die dann ver- mals eine unabhängige Rechtspersönlichkeit der bindlich beantwortet wurden. Bei seinen Antwor- Frauen, einschließlich des Rechts auf Ehescheidung ten bediente sich das OG häufig der Regelungen und des Erbrechts anerkannt. der unter Shen Jiaben erarbeiteten Gesetzesent- Eine weitere durch eine Gerichtsgründung würfe, insbesondere des ZGB-Entwurfs von 1911. erbrachte Neuerung des chinesischen Rechts Seine erste Entscheidung (1913) stellte die Regel bedeutete die 1914 nach langer Kontroverse27 auf, daß Zivilrechtsfälle erstens nach den Gesetzen erfolgte Errichtung des Pingzhengyuan genannten entschieden wird, zweitens, wenn es keine gesetzli- Verwaltungsgerichts, dies als Konsequenz der Vor- che Regel gibt, nach dem jeweiligen Gewohnheits- läufigen Verfassung (linshi yuefa) von 1912. Darin recht und drittens, wenn auch diesem kein heißt es, daß „das Volk (renmin) berechtigt ist, beim einschlägiger Rechtssatz zu entnehmen ist, nach all- Pingzhengyuan Klage zu führen, wenn Beamte gemeinen Rechtsgrundsätzen (tiaoli) zu entscheiden (guanli) in rechtswidriger Weise Rechte (des Klä- ist.22 Diese Regelung hat das OG wortwörtlich dem gers) verletzen“ (Art. 10). Dies ist das erste Verwal- § 1 des Da-Qing-ZGB-Entwurfs von 1911 entnom- tungsgericht in der chinesischen Geschichte. Wenig men, der seinerseits eine (partielle) Entlehnung von bekannt ist, daß Lu Xun beim Pingzhengyuan Klage Art. 1 des schweizerischen ZGB von 1907 ist. Kurz geführt hat. Lu Xun war seit 1920 im Pekinger darauf wies das Gericht vier Bedingungen für die Erziehungsministerium tätig; 1925 kam es zu einem Geltung von Gewohnheitsrecht auf: Bei der betref- Konflikt zwischen den Studentinnen der Pädagogi- fenden Gewohnheit muß es sich um eine langan- schen Hochschule und dem Erziehungsministe- dauernde Übung handeln, diese Übung muß von rium (unter dem Minister Zhang Shizhao28), und einem Gefühl der rechtlichen Verpflichtung beglei- Lu Xun ergriff Partei zugunsten der Studentinnen, tet sein, für die betreffende Angelegenheit gibt es was zu seiner Entlassung führte.29 Seine dagegen keine passende Gesetzesnorm, und es darf sich erhobene Klage beim Pingzhengyuan hatte Erfolg: nicht um eine der gesellschaftlichen Moral wider- Noch vor Erlaß des formellen Urteils erließ das sprechende Gewohnheit handeln23. Ein anderes Ministerium einen „Wiedereinstellungsbescheid“ Beispiel ist eine Entscheidung aus dem Jahre 1916, (fuzhiling).30 Die Entwicklung der Verwaltungsge- wonach „die Ausübung von Rechten und die Erfül- richtsbarkeit ging weiter vonstatten; die Ankündi- lung von Verbindlichkeiten gemäß dem Grundsatz gung der Verfassung, daß zum Verwaltungsstreit- von Treu und Glauben (chengshi ji xinyong fangfa) geschehen muß“ 24, was eine Übernahme des zwei- ten Paragraphen des E-1911 bedeutet. Den gesell- 25 Kurz dazu Mechthild Leutner, in: Staiger, Fischer, Schütte (Hrsg.), Das schaftlichen Wandel förderte das OG durch seine Große China-Lexikon, Darmstadt, 2003, S. 228. Rechtsprechung (justizielle Auslegung) zum Fami- 26 Vgl. Xu Jingli, Die Tendenz des Wandels der Frauenrechte in der lienrecht, indem er die fortgeltenden zivilrechtli- Rechtsprechung zu Beginn der Republik (Minchu sifa panjue zhong nüxing quanli bianhua de zongti qushi), in: Shanxi shifan daxue bao, chen Elemente des Qing-Kodex, d.h. im wesent- 2008, Nr. 2, S. 108 ff. Für die Jahre 1915 und 1916 wird dargelegt, daß der lichen das durch Dominanz des Mannes gekenn- Daliyuan „has fulfilled its task of modernizing the law, adjusting legal conceptions to present conditions ... And the numerous times the inter- zeichnete traditionelle Familien- und Erbrecht pretations of the (Daliyuan) were invoked, seem to be a reasonable gua- sowie diesbezügliches Gewohnheitsrecht, unter rantee that in all parts of China the influence of modern ideals was very sensibly felt and understood” (M.H. van der Valk, Interpretations of the Supreme Court at Peking. Years 1915 and 1916, Batavia, 1949 (reprint Taibei 1968), S. 43 f. 27 Mehr über das Wie (Zuständigkeit der ordentlichen oder einer beson- 21 Vgl. F.T. Cheng (d.i. Zheng Tianxi) (Ed.), The Chinese Supreme Court deren Verwaltungsgerichtsbarkeit) als über das Ob einer solchen Neu- Decisions, Peking (Published by the Commission of Extra-Territoriality) gründung. Vgl. Li Qicheng, Die Kontroverse um die Errichtung der 1923, Einleitung. Verwaltungsgerichtsbarkeit am Ende der Qing und zu Beginn der Repu- 22 Ibid., S. 1. In einem Konkursrechtsfall stellte das Gericht insoweit klar: blik (Qing nuo min chu guanyu sheli xingzheng caipansuo de zhengyi), „As regards the bankruptcy of a business concern, if an area has a spe- XDFX 2005, Nr. 5, S. 163 ff. cial custom in insolvency cases, this practice should naturally be used 28 BDRC, 1. Bd., S. 105 ff. before any general principles of law“ (nach der Übersetzung von Thomas 29 Zu diesen Ereignissen kurz ibid., S. 107 und Raoul David Findeisen, Lu Mitrano, The Chinese Bankruptcy Law of 1905-1907. A Legislative Xun, Basel 2001, S. 644. History, in: Monumenta Serica, Bd. XXX, 1972/73, S. 259 ff., 304). 30 Nach Li Helin u.a. (Hg.), Biographische Angaben zu Lu Xun (Lu Xun 23 Diese Entscheidung ergab sich aus einer Streitigkeit über einen Kauf- nianpu), 2. Bd., Beijing 1981, S. 276 (worauf mich Raoul David Findeisen vertrag, dessen Gültigkeit bestritten wurde, weil ein auf eine in Jilin ver- aufmerksam machte). Falsch wiedergegeben wird dieses Geschehen von breitete Gewohnheit gestütztes Vorkaufsrecht ignoriert worden war. Yang Yuqing, Über den Verwaltungsprozeß vor der Befreiung, FXZZ Vgl. Huang Yuansheng, Studien zu den Präzedentien des Daliyuan der 1987, Nr. 6, S. 40, wo es heißt: „Der damalige Verwaltungsprozeß war frühen Republik bezüglich zivilrechtlicher Gewohnheiten (Minchu Dali- nichts als betrügerische Trickserei, der Pingzhengyuan war weit davon yuan guanyu minshi xiguan panli zhi yuanjiu), in: Zheng-Da faxue entfernt, Lu Xun bei der Artikulation seiner Beschwerde zu helfen, den pinglun (Taibei), Nr. 63, Juni 1999, S. 1 ff., 24 f. Entscheid von Zhang Shizhao aufzuheben und Lu Xun wieder in das 24 Ibid., S. 2 ff. Amt einzusetzen.“

126 Heuser, Modernisierung des chinesischen Rechts, ZChinR 2009 verfahren „besondere gesetzliche Bestimmungen das betreffende Prozeßgesetz ändern, nicht aber erlassen werden“ (Art. 49) wurde 1932 durch die durch Beschluß in die Rechtsprechung des OG ein- Nationalregierung realisiert. greifen.

III. Einschätzung des Reformniveaus Es wird des weiteren darauf hingewiesen, daß im Zuge des Gerichtsorganisationsgesetzes von Besonders wegen der Leistungen des Daliyuan, 1907 ein landesweiter Gerichtsaufbau erfolgt sei. Im aber auch wegen gesetzgeberischer Resultate gin- Jahre 1921 gebe es unter dem OG 44 Höhere gen chinesische und ausländische Kommentatoren Gerichte und 102 Distriktgerichte. der Mittzwanziger Jahre davon aus, – ich zitiere aus einem in den USA veröffentlichten Artikel Wang Daß die Rechts- und Justizreform nicht bloß auf Chonghuis –, daß „an examination of her new legal dem Papier stehe, sondern praktisch relevant sei, codes will convince anyone that China possesses wird an der schon erwähnten Rechtsprechung des laws quite as scientific and humane as any in the OG demonstriert. Auch in westlichen Fachkreisen West.“31 Im Vereinsblatt der Vereinigung Chinesi- ist diese Rechtsprechung als Ausdruck des Moder- scher Studenten in den USA, dem „Chinese Stu- nisierungswillens und der Modernisierungsfähig- dents’ Monthly“, wurde unter dem Titel „Legal keit aufgefaßt worden. Das ergibt sich z.B. aus einer Progress in China“32 die Ansicht vertreten, daß es Rezension, die im Yale Law Journal zu einer engli- schen Übersetzung von Teilen dieser Rechtspre- nun an der Zeit sei, das System der Exterritorialität 34 abzuschaffen, weil die Modernisierung des Geset- chung. Es heißt dort: „Liest man die zesrechts und der Justiz das erforderliche Niveau Entscheidungen, die das Oberste Gericht Chinas erreicht hätte. Daß China eine „unabhängige Justiz“ während des kurzen Zeitraums von sieben Jahren („independent Judiciary“) besitze, wird an zwei getroffen hat, ist man erstaunt, daß ein solcher Kontroversen zu demonstrieren versucht.33 In der Wandel des alten Regimes möglich geworden ist. ersten hatte Präsident Yuan Shikai 1915 beabsich- China hat sich von der Vergangenheit abgelöst und tigt, einen ihm unliebsamen Provinzgouverneur sich im Hinblick auf die Justiz auf die gleiche Stufe mit den am meisten zivilisierten Staaten der Gegen- mit Hilfe einer Anklage durch das Oberste Gericht 35 (OG) aus dem Amt zu entfernen. Das Gericht wart gestellt.“ konnte aber für die Anschuldigung der mißbräuch- Mag dies alles auch einen propagandistischen lichen Verwendung öffentlicher Mittel keine Anstrich im Dienste der Erreichung des Ziels der Beweise finden und lehnte den Verfolgungsantrag Abschaffung der Exterritorialität haben36, so ist ab. Der verärgerte Präsident suchte Druck auf den doch anzuerkennen, daß trotz aller Wirren der Zeit- betreffenden Richter und das OG auszuüben, was umstände Schritte zu einer gesunden Rechtsmoder- aber erfolglos geblieben sei. Hatte sich die Justiz nisierung erfolgt sind. hier gegenüber der Exekutive durchgesetzt, so in der zweiten Kontroverse gegenüber der Legislative. IV. „Neue Kulturbewegung“ und neues 1916 kam es zu einem Streit wegen behaupteter Rechtsdenken. Ungenauigkeiten bei Parlamentswahlen. Die Mehr- Wie groß der Ertrag der Rechtsmodernisierung heit der Parlamentarier war der Ansicht, daß eine auch gewesen sein mag, so ist die Beiyang-junfa- solche Streitigkeit nicht justiziabel sei, weil die Pro- Epoche aber doch nicht wegen der Modernisierung zeßgesetze keine entsprechende Zuständigkeit vor- des positiven Rechts von Bedeutung (dies setzt eine sähen. Das OG bejahte jedoch im Wege der gewisse sozio-politische Stabilität voraus), sondern Gesetzesinterpretation seine Zuständigkeit und eher wegen ihrer intellektuellen Anstöße (die viel- eröffnete den Rechtsweg in Wahlstreitigkeiten. leicht gerade dann stattfinden, wenn es an Stabilität Daraufhin führte das Parlament einen Beschluß mangelt). In diese Epoche fällt die „Bewegung des herbei, in dem sie die Entscheidung des Gerichts für nichtig erklärte. Das Gericht hielt seine Auffas- sung mit der Begründung aufrecht, daß es die 34 Durch Zheng Tianxi (oder Zheng Futing, daher F.T. Cheng) (geb. Interpretationskompetenz besitze und seine diesbe- 1884), damals Richter am OG und Mitglied der Kodifikationskommis- züglichen Entscheidungen endgültig und allge- sion, später Nanjinger Vize-Justizminister und von 1946-50 Botschafter in London. F.T. Cheng übersetzte auch die meisten der in der Kodifikati- meinverbindlich seien. Das Parlament könne zwar onskommission erarbeiteten Gesetzesentwürfe. 35 E.G. Lorenzen, Review of Cheng’s Chinese Supreme Court Decisions, Yale Law Journal, vol. 30, S. 184. 36 Die Raschheit der Entwicklung hin zum modernen Recht wird auch 31 Revision of the Chinese Criminal Code, in: Illinois Law Review, vol. damit erklärt, „daß die involvierten Grundprinzipien (wie Unabhängig- 13, S. 219 ff. keit der Justiz, nullum crimen sine lege, Schuldprinzip etc.) in Ost und 32 Von Shao-Hua Tan, vol. 21 (1925/26). West nicht so weit auseinander liegen wie landläufig angenommen 33 Vgl. auch bei F.T. Cheng, op. cit., Einleitung und Zhang Sheng, System wird“. (So Yun-Kuan Kuo, Some Oberservations on Chinese Legal und Praxis der Rechtsprechungsunabhängigkeit des Daliyuan der frühen History. As will throw light upon the questions of law reform and aboli- Republik (Minchu daliyuan shenpan duli de zhidu yu shijian), ZFLT tion of extraterritoriality in China, in: The Chinese Social and Political 2002, Nr. 4, S. 146 ff. Science Review, Dec. 1920, S. 253 ff.).

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4. Mai“ (wu si yundong) und die „Bewegung für eine von „Neue Jugend“, neben Chen Duxiu, insbeson- neue Kultur“ (xin wenhua yundong).37 Diese Bewe- dere Li Dazhao (1889-1927), Lu Xun (1881-1936), gungen ließen sich von der Einsicht leiten, daß ein Wu Yu (1872-1949) und Gao Yihan (1884-1968), politischer Umschwung, die Ersetzung einer kor- unterzogen sie einer radikalen Kritik. So führt Wu rupten Monarchie durch eine sog. Republik, so Yu40 in einem mit dem Titel „Das Sippen-System lange ein Etikettenschwindel bleibt wie eine kultu- (jiazu zhidu) ist die Basis des Autokratismus relle Erneuerung ausbleibt, d.h. die fortwirkenden (zhuanzhi-zhuyi)“ aus, daß „die beiden Zeichen xiao- sozialen und moralischen Normen des traditionel- ti, Respekt gegenüber den Eltern und älteren Brü- len Systems nicht überwunden werden.38 Dies dern, die Wurzeln sind für die 2000-jährige Verbin- bedeutete vor allem eine erste Fundamentalkritik dung von autokratischer Politik und Klansystem“. des Konfuzianismus. Und es ist klar, daß eine Chen Duxiu41 kritisierte in einem Artikel über Modernisierung des Rechts, sollte sie mehr als eine „Verfassung und Konfuzianismus“42 das li-fa- Äußerlichkeit sein, eine Auseinandersetzung mit System als ein System „einseitiger Pflichten (pian- dem konfuzianischen Wertgefüge voraussetzte.39 mian zhi yiwu), eine Moral der Ungleichheit und der Die „Bewegung für eine neue Kultur“ ist natürlich Nichtachtung des Individuums.“ Die Grundwerte keineswegs primär eine Bewegung für eine neue ren-yi werden gar als „menschenfressende Bestien“ Staats- und Rechtstheorie (andere Stichworte sind: (chi ren de guaishou) angeprangert. Aufwertung der Umgangsprache, Volksbildung, Auch in den von den Reformern der älteren l’art pour l’art, strenge Wissenschaftlichkeit), Generation, den gailiangzhe – wie Liang Qichao, Staats- und Rechtstheorie sind aber, da es dieser Yan Fu, auch Sun Yatsen – gerne als Ausdruck für Bewegung doch um die Stärkung des Individuums einen in der chinesischen Tradition angelegten ging, wesentliche Elemente, die damals formuliert demokratieverwandten Geist herangezogene klas- wurden und bis heute von ihrer Relevanz nichts sische Wendungen wie min gui jun qing/„das Volk eingebüßt haben. ist das Wichtige, der Herrscher das Unwichtige“ War der Umsturz von 1911 lediglich ein Wech- oder min wei bang ben/„das Volk ist die Grundlage sel des Regierungssystems, so bedeuteten die Vor- des Staates“ sehen sie nicht einen Ausdruck der gänge, die nach den Studentendemonstrationen Subjektstellung, der Würde des Volkes, sondern vom 4. Mai 1919 benannt sind, eine Kulturrevolu- nur den Ausdruck der Besitznahme des Volkes: das tion. Die zentralen Schlagwörter waren minzhu und Volk als Privatvermögen, Verfügungsmasse des kexue, Demokratie und Wissenschaft; Losungen wie Herrschers. „Wandel der Beamtenherrschaft in Volksherr- Diese Fundamentalkritik wurde ausdrücklich schaft“ oder „Wandel des Prinzips der Familie in als Aufklärung qimeng – „die Verhüllung wegzie- das Prinzip der Rechte“ markierten das Feindbild. hen“, „den Schleier öffnen“ – verstanden. Und Die von Chen Duxiu (1879-1942) im September zwar: den Schleier über dem Konzept „Moral“ 1915 gegründete Zeitschrift „Neue Jugend“ (xin (daode) des Klansystems und den Schleier über dem qingnian) verfolgte mit großem Elan das Ziel, den Konzept des „das Volk als Basis“ (min ben zhuyi) „Konfuziusladen niederzuschlagen“ (Hu Shi). Die der Autokratie.43 konfuzianische Rechtsanschauung, die in Wendun- Es sind also die einseitige Erfüllung von Pflich- gen wie li-fa heyi („Identifizierung von Moral und ten (Frau gegenüber Mann, Jung gegenüber Alt, Gesetz“) und fa cong jun chu, fushu yu renzhi („das Volk gegenüber Herrscher) und die Ignorierung Gesetz geht vom Herrscher aus, es ist daher dem individueller Rechte, worin die zentralen Merk- Prinzip der Herrschaft durch Menschen unterge- male der traditionellen chinesischen Rechtskultur ordnet“) zum Ausdruck kommt, wirkte in der Bei- gesehen werden. Dem setzten die „Neue Kulturbe- yang-Epoche unvermindert fort, und die Autoren wegung“ und ihre Nachfolger das Konzept der Menschenrechte als eines „Merkmals moderner Zivilisation“ entgegen. Die Rechtstheorie der 37 Die beste Einführung ist immer noch Chow Tse-tsung, The May Fourth Movement. Intellectual Revolution in Modern China, Stanford 1960; fer- Neuen Kulturbewegung ist eine Theorie der Men- ner Daniel W.Y. Kwok, Die Bewegung für Neue Kultur, in: Peter J. Opitz schenrechte, ihre Staatstheorie ist eine Theorie der (Hrsg.), Chinas große Wandlung. Revolutionäre Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, München 1972, S. 187 ff. 38 Vgl. Kant, Was ist Aufklärung?: „Durch eine Revolution wird viel- leicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotismus ..., aber niemals 40 Zu ihm Wolfgang Franke, Der Kampf der chinesischen Revolution wahre Reform der Denkungsart zustande kommen ...“. gegen den Konfuzianismus, NOAG, Nr. 74 (1953), S. 3 ff. 39 Zum Folgenden Qiao Congqi/Yang Yifan, Die Bewegung vom 5. Mai 41 Zu ihm vgl. etwa Stephen C. Angle, Human Rights and Chinese Thou- und die chinesische Rechtskultur (Wusi yundong yu zhongguo falü ght. A Cross-Cultural Inquiry, Cambridge, 2002, S. 181 ff. wenhua), FXYJ 1989, Nr. 32, S. 17 ff. und Li Jin, Neueinschätzung des 42 Antitraditionalismus auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft in der Peri- „Xianfa yu kongjiao“, in: Dokumente zur Bewegung des 5. Mai (Wusi ode des 5. Mai. Zur Wiederkehr des 70. Jahrestags der Bewegung vom 5. yundong wenxuan), Beijing 1979, S. 49 ff. Mai (Dui wusi shiqi faxue shang fan chuantong de xin pingjia. Jinian 43 Der bekannteste belletristische Ausdruck dieser Kritik ist natürlich Ba wusi yundong qishi zhounian), ZGFX 1989, Nr. 3, S. 113 ff. Jins Roman Jia/Die Familie von 1931.

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Legitimierung des Staates qua Menschenrechts- Nanjing wieder zur nationalen Hauptstadt erklärt. schutz.44 In Anlehnung an Rousseaus Gesell- Waren es 1912 nur zwei Monate gewesen, so sollten schaftsvertrag (min yue lun) wird ausgeführt, daß es jetzt 22 Jahre sein. Allerdings standen davon der Staat zum Zweck der Vermeidung inneren kaum die Hälfte für eine geordnete Politik zur Ver- Kampfes und zum friedlichen Zusammenleben fügung, denn 1937 begann der ostasiatische Krieg. durch gegenseitiges Übereinkommen errichtet Die Jahre von 1927-1937 werden daher häufig als wurde, wobei „der Staat die Pflicht übernommen die „tatkräftige Dekade“ apostrophiert während hat, die Rechte der Bürger zu schützen“, „der der in Bereichen wie Landwirtschaft, Finanzen, Regierung Macht anvertraut wurde, um den Rech- Erziehung, Eisenbahn- und Straßenbau gewisse ten des Volkes zu dienen“ (Gao Yihan). Im Schutz Neuerungen vorbereitet werden konnten.48 Zu den von Bürgerrechten (gongmin quanli) liegt danach die Ergebnissen dieser Tatkraft zählt auch die Fertig- Rechtfertigung von staatlicher Macht. stellung eines auf Gesetzen beruhenden modernen Rechtssystems, des Systems der „Sechs Kodices.” Diese Funktionsbestimmung des Staates hat der Politikwissenschaftler Luo Longji (1896-1965)45 Schon im November 1927 wurde die Kodifikati- 1929 in einem für die Shanghaier Literaturzeit- onskommission in Nanjing reorganisiert und als schrift „Neumond“ (xin yue) verfaßten Artikel bianding fadian weiyuanhui dem Justizministerium besonders deutlich ausgedrückt. In dem „Über die angegliedert. Mit Inkrafttreten des auf der Grund- Menschenrechte“ (renquan lun) überschriebenen lage von Sun Yatsens Konzept einer aus fünf Text heißt es: „Der Staat existiert nur seiner Funk- Gewalten oder Funktionen (wu quan) bestehenden tion willen. Verliert er seine Funktion, so verliert er Regierung im Auftrag des Zentralexekutionskomi- gleichzeitig seine Existenzberechtigung. Die Funk- tees der GMD ausgearbeiteten49 Gesetzes über die tion des Staates liegt nun aber darin, die Menschen- Organisation der Nationalregierung im Oktober rechte zu schützen, darin, die notwendigen 1928 wurde die Gesetzgebung dem jetzt eingerich- Voraussetzungen zu garantieren, damit der Staats- teten lifayuan, Gesetzgebungsyuan, zugewiesen.50 bürger Mensch sein kann ... Vermag er dies nicht, Der lifayuan war einer der nach dem Verfas- verliert er seine Funktion und gleichzeitig erlischt sungskonzept von Sun Yatsen etablierten obersten die Gehorsamspflicht der Bürger gegenüber dem Regierungsämter (neben Exekutivyuan, Judikativ- Staat.“46 yuan, Prüfungsyuan und Kontrollyuan). Diese fünf Mit dieser Kritik der konfuzianischen Sozial- Ämter sollten zunächst als Erfüllungsorgane der und Rechtsanschauung und dem Bekenntnis zur GMD-Politik dienen. Auch dies hatte Sun in seinem Modernisierung des Rechts aus dem Geist von Konzept einer stufenweisen Entwicklung zu einer Konstitutionalismus und Menschenrechten waren Art Verfassungsstaat vorgesehen. Auf eine kurze die daran beteiligten Intellektuellen der 20er Jahre Phase der Militärregierung (junzheng) sollte eine weit dem voraus, was staatliche Rechtsmodernisie- Vormundschaftsregierung (xunzheng), dann die rer zu akzeptieren bereit waren. In der nun anbre- Verfassungsregierung (xianzheng) folgen.51 In den chenden durch die GMD bestimmten Periode im Oktober 1928 ergangenen „Grundsätze über gelangt die Gesetzgebung zur hohen Entfaltung, Vormundschaftsregierung“ (xunzheng gangling)52 steht aber im Dienst der Partei-Ideologie. heißt es: „In Durchführung der Lehre des zongli über die Drei Volksprinzipien unterweist die GMD B Die Nanjing (GMD)-Epoche und die „Sechs gemäß den ‚Grundlagen der Staatserrichtung’ (jian- Kodices“ (1927-1949) guo dagang) während der Periode der politischen Vormundschaft das Staatsvolk in der Ausübung I. Historisch-politische Grundlage der politischen Macht, solange bis die verfassungs- Noch bevor der im Juli 1926 von Guangzhou mäßige Regierung (xianzheng) beginnt und die Poli- aus initiierte Nordfeldzug (beifa) unter Leitung tik (der Beteiligung) des ganzen Volkes (quanmin Jiang Jieshis beendet war47, wurde im April 1927 zhengzhi) erreicht ist, wozu die folgenden Grund-

47 44 Dies war erst mit der Eroberung Pekings und der Verbindung mit Ma Jianchong, Die Ideen der „Menschenrechts-Gruppe“ über Mei- dem mandschurischen Marschall Zhang Xueliang der Fall. nungsfreiheit und ihre Begrenztheit („Renquanpai“ de sixiang yanlun 48 Paul K.T. Sih (Ed.), The Strenuous Decade: China’s Nation-Building ziyou ji qi juxianxing), in: Shandong daxue xuebao, 2000, Nr. 2, S. 19 ff. 45 Efforts. 1927-1937. New York 1970; Jürgen Domes, Vertagte Revolution. In den 1920er Jahren studierte er in den USA und England (dort unter Die Politik der Kuomintang in China. 1923-1937, Berlin, 1969. Harold Laski); 1930 brachte ihm seine Kritik an der Nationalregierung 49 Von Dai Jitai, Hu Hanmin und Wang Chonghui. Gefängnis ein, 1957 führte sein Versuch, im Zuge der „100-Blumen- 50 Bewegung“ der „Demokratischen Liga“ (einer der acht Blockparteien) Jean Escarra, op. cit. (Anm. 13), S. 112. eine größere Unabhängigkeit zu verschaffen, zu seiner Verurteilung als 51 Zuerst festgelegt in den „Grundlagen der Staatserrichtung“ (jianguo „Rechtsabweichler“ (vgl. BDRC, 2. Bd., S. 435 ff.). dagang) vom 12.04.1924. Englisch/chinesisch in: Sun Yatsen, Fundamen- 46 Eine deutsche Übersetzung dieses Textes findet sich bei Sven-Uwe tals of National Reconstruction, Taibei 1953, S. 9 ff. Müller, Konzeption der Menschenrechte im China des 20. Jahrhunderts, 52 Chen Hefu, Klassifizierte Sammlung chinesischer Verfassungen Hamburg (MIA Bd. 274) 1997, S. 288 ff. (Zhongguo xianfa leibian), Peking 1980, S. 447.

129 Heuser, Modernisierung des chinesischen Rechts, ZChinR 2009 sätze erlassen werden.“ Die wichtigsten sind: „(1) Die Entwurfsarbeit begann am 01.02.1929 und Mit Eintritt der Republik China in die Periode der nach 30 Sitzungen innerhalb dreier Monate war der politischen Vormundschaft vertritt der National- Allgemeine Teil (in sieben Kapiteln mit 152 Para- kongreß der GMD die Nationalversammlung (guo- graphen) fertig, er wurde am 20.04. vom lifayuan min dahui) in der Führung des Staatsvolks bei der angenommen, am 23.05. per Regierungserlaß ver- Ausübung der politischen Macht. (2) Während der kündet und am 10.10.1929 in Kraft gesetzt. Schuld- Sitzungspausen des Nationalkongresses der GMD recht und Sachenrecht traten am 05.05.1930, wird die politische Macht vom Zentralexekutivko- Familien- und Erbrecht am 05.05.1931 in Kraft. mitee der GMD ausgeübt. (3) Bei der Durchführung a) Das so zustande gekommene ZGB weist wichtiger Staatsangelegenheiten wird die National- gegenüber den beiden Entwürfen von 1911 und regierung (d.h. die fünf Regierungsgewalten) von 1925 insbesondere den Unterschied auf, daß das der Politversammlung (zhengzhi huiyi) des Zentrale- Handelsrecht integriert wurde. Vorher hatte man xekutivkomitees angeleitet und kontrolliert.“ sich auch insoweit an japanisches und deutsches Hieraus wird deutlich, daß die von der GMD Recht gehalten, als man das Zivil- und Handels- beherrschte Republik China sich an einem recht in getrennte ZGB und HGB unterbringen bestimmten ideologischen Konzept orientiert, Suns wollte. „Drei Volksprinzipien“ und daß die Regierung in In europäischen Rechtssystemen ist diese Tren- allen wichtigen Angelegenheiten von den leitenden nung im Gefolge der Napoleonischen Gesetzge- Organen der GMD kontrolliert wird. Dies gilt bung zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Code de natürlich auch und besonders für die Gesetzge- Commerce von 1807) häufig vollzogen worden.55 bung. So traten z.B. in Deutschland BGB (das allgemeine II. Die Tätigkeit des lifayuan bürgerliche Recht) und das HGB (das Sonderprivat- recht der Kaufleute) gleichzeitig im Jahre 1900 in Mit Gründung der Nationalregierung in Nan- Kraft. Man glaubte, auf diese Weise den Erforder- jing verschwand also die Kodifikationskommission nissen des Handelsverkehrs besser gerecht zu wer- und ihre Aufgaben wurden vom Gesetzgebungs- den. So etwa, wenn das Handelsrecht auf yuan übernommen. Präsident des lifayuan war in Vorschriften verzichtet, die im allgemeinen Zivil- der für die Erstellung der großen Gesetzgebungs- recht dem Schutz des mit dem Geschäftsleben werke entscheidenden Jahre von 1928-1931 ein alter weniger vertrauten Personen dienen, wie z.B. der Mitstreiter Sun Yatsens, der Kantonese Hu Hanmin Verzicht auf die Schriftform bei Bürgschaft oder (1879-1936), auf den weiter unten zurückzukom- Schuldanerkenntnis (§ 350 HGB), der Verzicht auf men ist. Für die diversen Gesetzgebungsbereiche die Einrede der Vorausklage, die einem Bürgen wurden jeweils Fachausschüsse eingerichtet. nach BGB zusteht (§ 771), dem kaufmännischen Bürgen nicht (§ 349 HGB) oder der Verzicht auf den 1. Das Zivilgesetzbuch und seine Merkmale Schutz vor überhöhter Vertragsstrafe (§ 343 BGB Erste Priorität genoß die Ausarbeitung des einerseits, § 348 HGB andererseits. ZGB. Der am 29.01.1929 etablierte Ausschuß für Als Begründung für die jetzt erfolgte Einheitslö- Zivilrechtskodifikation (minfa qicao weiyuanhui) sung (minshang heyi) wurde angegeben56, die bestand aus dem Vorsitzenden Fu Bingchang und Unterscheidung von Zivil- und Handelsrecht ent- den Mitgliedern Jiao Yitang, Shi Shangkuan, Lin 53 stamme der europäischen Rechtsgeschichte, wo ein Bin und Frau Zheng Yuxiu (Soumi Cheng) , mit Kaufmannsstand mit eigenen Bräuchen und Wang Chonghui (Präsident des Justizyuan), Dai Gerichten vorhanden gewesen war (Ständerecht); Jitao (Präsident des Prüfungsyuan) und Georges 54 auch dort verschwinde diese Unterscheidung Padoux als Beratern. Für die Ausarbeitung der immer mehr (Schweizer Obligationenrecht von Allgemeinen Regeln des ZGB gab die Zentrale Poli- 1912) und sei zu einer rein technischen Frage tische Versammlung (zhong yang zhengzhi huiyi) der geworden.57 Für China bestünden solche histori- GMD gewisse Gesetzgebungsprinzipien (lifa schen Gründe nicht. Die chinesischen Kaufleute yuanze) vor, am wichtigsten das Prinzip, das seien zwar in Gilden und Handelskammern zum Gesetzbuch für Gewohnheitsrecht zu öffnen. Es sollte die uns schon bekannte Regel übernommen werden, daß lokales Gewohnheitsrecht dem Geset- 55 Dazu Peter Raisch, Die Abgrenzung des Handelsrechts vom Bürgerli- zesrecht vorgeht, solange der Richter diese nicht für chen Recht als Kodifikationsproblem im 19. Jahrhundert, Stuttgart, 1962. 56 Dazu Jean Escarra, op. cit. (Anm. 13), S. 172 ff. „ungesund“ (buliang) hält. 57 „Selbst wenn ein Recht, wie etwa das Handelsrecht, vom Kaufmann ausgeht (vgl. § 1 ff. HGB) handelt es sich nicht um ein Recht für den Kaufmannsstand. Zu Recht hat daher das Schweizer Obligationenrecht, das Handelsrecht in das Zivilrecht mit einbezogen.“ (Thilo Ramm, Ein- 53 Zu ihr BDRC, 1. Bd. S. 278 ff. führung in das Privatrecht / Allgemeiner Teil des BGB, Bd. 1, München. 54 Jean Escarra, op. cit. (Anm. 13), S. 169. 1969, S. 40.

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Schutz ihrer beruflichen Interessen zusammenge- c) Ein drittes Merkmal des ZGB gegenüber den schlossen, bildeten aber keine besondere Kaste oder früheren Entwürfen liegt in der Abschaffung der Klasse und hätten von jeher demselben Zivilrecht beschränkten Rechts- und Handlungsfähigkeit der und derselben Gerichtsbarkeit unterlegen wie Ehefrau und Töchter. Im Allgemeinen Teil des ZGB Nichtkaufleute; es habe niemals besondere Han- sind alle Vorschriften verschwunden, die die delsgerichte gegeben. Zudem sei es das politische Ungleichheit der Geschlechter betreffen (vgl. §§ 13, Ziel der GMD, innerhalb des Volkes eine politische 15). Dazu gehört auch und insbesondere die Garan- und soziale Gleichheit herbeizuführen, womit sich tie des Erbrechts der Ehefrau am Vermögen ihres eine Differenzierung nicht vertrüge, wie sie durch Mannes und der (auch verheirateten) Töchter am die Schaffung eines besonderen Handelsrechts her- Vermögen ihrer Eltern. beigeführt werde. d) Ein viertes Merkmal liegt in der Abschaffung Es sei dahingestellt, inwieweit die hier unter- gewisser traditioneller Rechtsinstitute, die in frühe- breiteten sozialhistorischen Zusammenhänge ren Entwürfen und in der Rechtsprechung des Dali- zutreffend sind, auch im chinesischen ZGB finden yuan noch akzeptiert wurden: So die Erbfolge in sich gewisse Sondervorschriften für Kaufleute: So den Ahnenkult, die von der Erbfolge in das Vermö- das besondere kaufmännische Zurückbehaltungs- gen getrennt war (und noch im damaligen japani- recht (§ 929); die Vorschriften über Prokura und schen ZGB geregelt war). Nicht erwähnt im neuen Handlungsvollmacht (§§ 553-564), die ausdrücklich ZGB wurden auch die Rechtsverhältnisse der eine Handelsfirma voraussetzen und das Institut Nebenfrauen (qiezi). der Kommission (§§ 576 ff.), das nur für „Handels- e) Schließlich ist das ZGB auch dadurch geschäfte“ zugelassen ist. Dies bleibt auch handels- gekennzeichnet, daß es – wenn auch sehr wenige – rechtliches Sonderrecht, wenn es Teil des Reminiszenzen an überliefertes Rechtsdenken ent- allgemeinen ZGB ist. Außerdem finden sich außer- hält. So finden wir im Schuldrecht Reste des alten halb des ZGB eine Reihe von Sondergesetzen, die chinesischen Gedankens, wonach der Gläubiger auf nur für den Handelsverkehr bestimmt sind, wie die wirtschaftliche Lage des Schuldners Rücksicht etwa das Handelsmarkengesetz von 1930, das Bör- zu nehmen hat, daß er ihn also nicht ins Elend stür- sengesetz von 1929, das Bankgesetz von 1931 und zen darf. Im modernen europäischen Recht pflegt das Gesetz über Handelsgesellschaften von 1929. die Rücksichtsnahme auf die wirtschaftliche Lage b) Ein weiteres Merkmal des ZGB ist die Mög- des Schuldners im Urteilsverfahren ausgeschlossen lichkeit, lokalen Gewohnheiten Vorrang vor dem und dem Verfahren der Zwangsvollstreckung vor- Gesetzesrecht des ZGB einzuräumen. Dies betrifft behalten zu sein. Das ZGB ermöglicht es demge- insbesondere das Sachenrecht (Grundstücks- genüber dem Gericht, einem Schuldner recht).58 Wir finden z.B. folgende Regelungen: „Der Teilleistungen und Zahlungsaufschub zu gewäh- Eigentümer eines Grundstücks mit einer Quelle, ren, wenn dies bei Berücksichtigung der finanziel- einem Brunnen, einem Bach oder einem anderen len Verhältnisse des Schuldners und des Gläubigers Wasserlauf darf dieses Wasser nach Belieben angemessen erscheint (§ 318, anders § 266 dt. BGB). gebrauchen, es sei denn, daß besondere Gewohn- Es ist bemerkenswert, daß die chinesischen Kodifi- heiten bestehen“ (§ 781). Oder: „Der Eigentümer katoren in diesem Zusammenhang ausdrücklich kann die Zuführung von Gasen, Dämpfen, Gerü- den Satz „summum ius, summa iniuria“ anführ- chen, Rauch, Wärme, Ruß, Geräusche, Erschütte- ten.59 Eine ähnliche Ausprägung des Gedankens rung und ähnliche Einwirkungen von einem der Rücksichtnahme findet sich in der Regel, fremden Grundstück verbieten, es sei denn, daß wonach eine Herabsetzung des Schadensersatzes diese Einwirkungen gering sind oder nach ... örtli- für leichte Fahrlässigkeit zulässig ist, wenn der cher Gewohnheit als gewöhnlich angesehen wer- Schuldner andernfalls in finanzielle Not geraten den“ (§ 793) (actio negatoria). Oder: „Der würde (§ 218, wie § 44 II schweizerisches OR).60 Grundstückseigentümer kann das Erbbaurecht kündigen, wenn der Erbbauberechtigte mit dem Betrag eines zweijährigen Grundzinses im Rück- stand ist, sofern nicht eine andere Gewohnheit besteht“ (§ 836). 59 Über das „Wichtignehmen sozialer Interessen“ im ZGB vgl. Foo Ping- Sheung, Soziale Gesichtspunkte des bürgerlichen Gesetzbuchs der chine- sischen Republik, in: Blätter für Internationales Privatrecht, 1931, S. 268 ff. 60 § 44 II des schweizerischen Obligationenrechts lautet: „Würde ein Ersatzpflichtiger, der den Schaden weder absichtlich noch grob fahrläs- 58 Wie auch in der deutschen Rechtsordnung im Nachbarrecht das letzte sig verursacht hat, durch Leistung des Ersatzes in eine Notlage versetzt, Residuum des Gewohnheitsrechts anzutreffen ist. (Zum „örtlichen Her- so kann der Richter auch aus diesem Grunde die Ersatzpflicht ermäßi- kommen“ vgl. etwa Franz Pelka, Das Nachbarrecht in Baden-Württem- gen.“ (Abs. I führt Herabsetzungsgründe auf, die aus einer Mitschuld berg, 7. Aufl., Stuttgart 1974, S. 21). des Geschädigten an dem eingetretenen Schaden resultieren).

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2. Strafrecht unter dem Einfluß Sun Yatsens zunehmend stärker empfundene Bedürfnis einer Anknüpfung an tradi- Nachdem 1916 und 1919 Revisionsentwürfe zu tionelle Methoden erörtert und berücksichtigt wer- dem 1912 in Kraft getretenen „Vorläufigen StGB“ den konnten, begann der Gesetzgebungsyuan vorgelegt worden waren, wurde im Dezember 1927 schon 1931 mit einer grundlegenden Novellierung der Präsident des Justizyuan, Wang Chonghui, des StGB. Das am 1. Januar 1935 verkündete Straf- angewiesen, die Entwurfsarbeit fortzusetzen. Mit- gesetzbuch hat Escarra als „la meilleure production glieder des entsprechenden Ausschusses waren u.a. du législateur chinois contemporain“ bezeichnet.63 der Präsident des Exekutivyuan, Tan Yankai (1879- Die Mitglieder der Kommission (Liu Kejun, Luo 1930), der Präsident des Kontrollyuan, Yu Youren Ding, Shi Shangkuan, Zou Chaojun, Cai Yi, Lin (1879-1964), der Justizminister und später Nachfol- Bing, Zhao Chen, Sheng Zhenwei, Qu Huize, Xu ger Hu Shis als Botschafter in den USA und Dr. en Yuangao), durchweg Fachleute ohne politische droit (1926 Paris), Wei Daomin (geb. 1899), der frü- Karriere64, „ont apporté à leur tâche une compet- here Beida-Professor für vergleichendes Verfas- ence exceptionelle et un intérêt passionné.“65 Eine sungsrecht, dann Direktor des Legislativbüros (und Neuerung liegt in der Übernahme der sog. Zwei- spätere Erziehungsminister, zuletzt Nachfolger Hu spurigkeit des Sanktionensystems, die in dieser Shis als Präsident der Academia Sinica), ebenfalls Zeit auch in europäischen Ländern eingeführt Dr. en droit (1920 Paris), Wang Shijie (geb. 1891) wurde. Zweispurigkeit deshalb, weil das neue StGB und Wu Chaoshu (1887-1934), ein Sohn Wu Ting- neben den auf Schuldvergeltung gerichteten Stra- fangs, der in London Recht studiert hatte und kurz fen sog. „Maßregeln der Sicherung und Besserung“ Botschafter in den USA gewesen war. Die Kom- vorsieht (§§ 86ff.). Sie dienen der Gefahrenabwehr mission arbeitete auf der Grundlage des von Wang und werden angewandt, wenn Strafen wegen Min- Chonghui unter der Beiyang-Regierung erstellten derjährigkeit, Geisteskrankheit oder Geistesschwä- Entwurfs, so daß das StGB schon am 10.3.1928 ver- che (also wegen fehlender oder verminderter kündet werden konnte.61 Vor dem Hintergrund der Schuldfähigkeit) nicht verhängt werden können; es chinesischen Tradition liegt seine vorrangige erfolgt dann eine zeitlich begrenzte Unterbringung Errungenschaft im Sieg des Rechtspositivismus, in in Erziehungsanstalten. Bei Taten im Zustand von der Durchführung des durch das Provisorische Trunkenheit oder Bewußtseinstrübung kann nach StGB von 1912 vorgeprägten Grundsatzes, daß Strafverbüßung Einweisung zur Durchführung moralische Vergehen als solche nicht geahndet einer Entziehungskur erfolgen. Für Gewohnheitstä- werden können, nicht die moralisch-soziale Wert- ter kann nach Strafverbüßung eine Unterbringung ordnung die Strafbarkeit von Handlungen in ein Arbeitshaus bis zu drei Jahren erfolgen. Was bestimmt, sondern allein das Strafgesetz: nulla die Berücksichtigung traditioneller Elemente anbe- poena sine lege. So beginnt das StGB mit dem Satz: trifft, so beschränkt sie sich auf die obligatorische „Erklärt das zur Zeit der Handlung geltende Gesetz Strafmilderung, wenn der Täter sich vor Entdek- diese nicht ausdrücklich für strafbar, ist diese kung der Tat angezeigt hat (sog. Selbstanzeige/zi- Handlung keine Straftat“ (§ 1). shou). Andererseits rückt das Gesetz von der noch Da durch die rasche Übernahme des frühen im StGB von 1928 anzutreffenden traditionellen Wang-Entwurfs weder die neuesten Erkenntnisse Regel ab, wonach nur der Ehebruch der Frau von Strafrechtswissenschaft, Kriminologie und aus- bestraft wird. Die Einführung der Strafbarkeit des ländischer Strafrechtsgesetzgebung62, noch das Ehebruchs verheirateter Personen schlechthin (§ 239) war in der Kommission hochumstritten. Ent- scheidend war schließlich das Prinzip der Gleich- 61 Chinesischer Text in He Qinhua/Yin Xiaohu (Hrsg.), Strafgesetz der heit der Geschlechter gemäß dem Statut der GMD Republik China (Zhonghua minguo xingfa), Beijing; 2006, S. 35 ff.; fran- zösische Übersetzung durch Jean Escarra, Code Pénal de la Republique und der Verfassung von 1931 (Art. 6). de Chine, Paris, 1930. 62 Ein zeitgenössischer Kommentar bringt dies zum Ausdruck: „Inhalt- 3. Weitere Gesetzgebungsprojekte lich zeigt das Reformwerk rein repressiven Charakter. Es ist der Geist des europäischen Klassizismus, von dem die Kriminalpolitik der chine- Andere Gesetzgebungsprojekte betrafen das sischen Gesetzgeber diktiert wurde konsequent durchzieht das neue Gesetz die Idee des strengen, einseitigen, durchaus generalpräventiv Prozeßrecht, Wirtschafts-, Arbeits- und Verwal- 66 gedachten Tatprinzips; die Strafe ist ‚Vergeltung’: tatbezogene und tat- tungsrecht. Das auf der Grundlage der Beiyang- proportionale Reaktion des Staates auf das Faktum des Verbrechens. ... Auch wenn sich einzelne Vorschriften finden, die die Person des Täters Regeln von 1922 ausgearbeitete Strafprozeßgesetz psychologisch zu erfassen versuchen (etwa bei der Strafbemessung), so tut dies dem Leitgedanken des Gesetzes, die begangene Tat entschei- dend in den Vordergrund zu schieben, keinen Abbruch ... Die Fragen 63 Le Droit Chinois, op. cit. (Anm. 13), S. 215. Für eine deutsche Überset- der Sicherung und Besserung, des Berufsverbrechertums, des Stufen- zung vgl. Chang Chungkong/H. Herrfahrdt, Das chinesische Strafgesetz- strafvollzugs, der kriminalbiologischen Erfassung der Täterpersönlich- buch vom 1. Januar 1935, Bonn, 1938. keit usw. haben in die chinesische Praxis noch keinen Eingang 64 gefunden.“ (Bruno Steinwallner, Chinesische Strafrechtsreform, in: Weswegen sie in den einschlägigen biographischen Werken nicht Monatszeitschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform, Okto- figurieren. ber 1931, S. 597 ff.). 65 Jean Escarra, Le Droit Chinois, op. cit. (Anm. 13), S. 215.

132 Heuser, Modernisierung des chinesischen Rechts, ZChinR 2009 wurde bereis 1928 verkündet, 1930/31 folgte das wirtschafts- und verwaltungsrechtlichen Einzelge- Zivilprozeßgesetz, das ebenfalls eine Fortentwick- setze gestaltete sich das System der „Sechs lung von Beiyang-Regeln aus dem Jahre 1923 ist. Die Gesetze“ (liu fa), wie es in Anlehnung an das japani- wirtschaftsrechtliche Gesetzgebung betraf Materien sche roppo genannt wurde.69 wie Boden-, Bank- und Versicherungsrecht, dazu Damalige europäische Beobachter haben dieses den intellektuellen und gewerblichen Rechts- Resultat sehr positiv gewürdigt, teilweise über- schutz.67 Das Verwaltungsrecht wurde durch ein schwenglich gelobt. So heißt es z.B.: „Eine an euro- Verwaltungswiderspruchs- und ein Verwaltungs- päischen Vorbildern orientierte Gesetzgebung prozeßgesetz einbezogen. brach mit der chinesischen Tradition und stellte in Als letztes gesetzgeberisches Ergebnis der kurzer Zeit ein Rechtssystem auf, das europäischer GMD-Epoche kam 1935 das Konkursgesetz (po- Begrifflichkeit kommensurabel ist.“ „In dieser Ent- chanfa) zustande. Darüber berichtete damals die wicklung liegt eine Revolution, welche weitaus tie- „Kölnische Zeitung“ wie folgt: fer in den geistigen Bau der chinesischen Kultur eingreift, als eine lediglich politische Revolution „Die chinesische Nationalregierung hat jetzt dies vermöchte.“ „Die Rechtsentwicklung des den Entwurf einer Konkursordnung bekanntge- neuen China gehört zu den gewaltigen geistigen geben und damit die umfangreiche Gesetzge- Revolutionen, in denen sich ein wahrer Umsturz bungstätigkeit der letzten Jahre ... zum der Werte offenbart und vollzieht...“. 70 Es gab aber Abschluß gebracht. Der Einführung einer Kon- auch Stellungnahmen, in denen eine tiefere Einsicht kursordnung standen in China erhebliche in die Komplexität des Modernisierungsvorganges Schwierigkeiten gegenüber, da der Gedanke – wenn auch nicht ohne „völkischen“ Beige- eines weitgehenden staatlichen Eingriffs in die schmack – zum Ausdruck kommt: Befugnisse einzelner Personen zugunsten ihrer Gläubiger der chinesischen Auffassung bisher „Und so haben wir denn den erbitterten Streit fremd geblieben war. In der Tat besteht bis in kategorischer Rechtsforderung der Fremden die Gegenwart hinein in China, auch in Welt- gegen ein zurückgebliebenes China, so haben städten von der Bedeutung Shanghais, die für wir ein Jung-China, das alle Hemmungen über den Europäer gewiß erstaunliche Tatsache, daß Bord wirft, und im Bewußtsein, restlos „pro- die Liquidierung überschuldeter Vermögen gressiv“ zu sein, auch seine Handlungsfreiheit durch gesetzlich geregelten richterlichen Ein- fordert; so haben wir die rügenden Berichte griff nicht möglich war. Hierdurch ergaben sich einer Exterritorial-Kommission und auf dem selbstverständlich mancherlei Nachteile, deren flachen Land die Herrschaft des Lü und der Auswirkungen sich mit der schwindenden alten Landrichter, die noch immer ein Herkom- Geschäftsmoral nur verschärfen mußten. Um so men haben, wo der Oberste Gerichtshof (Dali- größere Beachtung findet nunmehr die Ent- yuan) schon längst zu westlichen Rechtsgrund- schließung der Regierung, diesen lang empfun- sätzen greifen zu können und zu müssen denen Mangel durch ein Gesetz zu beseitigen, glaubt. Ein Chaos der Willensäußerungen und das in Inhalt und Fassung modernen Anforde- wenig Frieden unter dem Recht.“71 rungen nicht nur genügt, sondern als eine recht gute Lösung des schwierigen Konkursproblems III. Gesetzgebungsideologie 68 betrachtet werden muß.“ Der durch die Gesetzgebung angestrebte und Aus ZGB, StGB, Strafprozeßgesetz, Zivilprozeß- eingeleitete Wertewandel war aber nicht gleichbe- gesetz, der Verfassung (yuefa) für die Periode der deutend mit einer Rezeption des westlichen Libera- politischen Vormundschaft von 1931, dazu die lismus und Individualismus, wie sie den europäischen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts (und noch dem deutschen BGB) zugrunde lagen. 66 Eine Aufstellung der Gesetzgebungsakte findet sich bei Jean Escarra, Der amerikanische Rechtsvergleicher John Henry op. cit. (Anm. 13), S. 194 ff. Merryman hat die diesbezügliche Ideologie so 67 Mit der Entwicklung der Urheberrechtsgesetzgebung von dem die Zukunft prägenden Gesetz der Späten Qing von 1910 über das Gesetz zusammengefaßt: „Das hervorstechende Merkmal der Beiyang-Regierung von 1915 bis zum Urheberrechtsgesetz von 1928 dieser Ideologie war die starke Betonung des Indi- befaßt sich Wang Langping, Drei Urheberrechtstesetze im Verlauf der Modernisierung des chinesischen Rechtssystems (Zhongguo fazhi jin- viduums und seiner Selbstbestimmung (Autono- daihua guocheng zhong de san bu zhuzuoquanfa), BFYJ, 2005, Nr. 3, S. 44 ff. 68 Zitiert in Deutsche Justiz 1935, 1. Halbjahr, S. 944 f. Nach Jean Escarra, 69 Le Droit Chinois, op. cit. (Anm. 13), S. 201, berücksichtigt dieses Gesetz Die japanischen „Sechs Gesetze“ kamen zwischen 1889 und 1899 umfassend „die Gewohnheiten und Mentalität des Landes“, indem es zustande; sie beruhen ihrerseits auf den französischen, die zwischen neben dem gerichtlichen Konkursverfahren ein allein vom Gesamt- 1791/1804 und 1810, und den deutschen, die zwischen 1871 und 1900 schuldner einleitbares Vergleichverfahren ermöglicht, das entweder geschaffen wurden. unter Leitung eines Gerichts oder einer Handelskammer durchgeführt 70 Stephan Kuttner, Altes und neues Strafrecht in China, Sinica, 7. Jg. werden kann. (1932), 135.

133 Heuser, Modernisierung des chinesischen Rechts, ZChinR 2009 mie). Privateigentum und Vertragsfreiheit gelten denken sich seit einigen Jahrzehnten von dem als die fundamentalen Rechtsinstitute, die so wenig extremen Individualismus des 19. Jahrhunderts wie möglich begrenzt werden sollten. Nach unserer hinwegentwickelt und sich zunehmend huma- heutigen Empfindung war es eine Periode eines nistischen und sozialen Positionen zugewandt übertriebenen Individualismus.“72 Von dieser hatte, Positionen, die im Geiste, wenn auch „Übertreibung“ war man allerdings seit Ende des nicht in den Einzelheiten, höchst ähnlich sind 19. Jahrhunderts und besonders seit Ende des 1. mit der der chinesischen Philosophie des inte- Weltkriegs – in Deutschland unter der Weimarer grierten Individuums, das sich seinen Pflichten Verfassung –, allmählich abgerückt. Das deutsche mehr verbunden weiß als seinen Rechten.“74 Reichsgericht hatte 1923 in einer Entscheidung aus- Die Mitglieder des von der GMD geprägten geführt: „Das BGB steht ..., den Verhältnissen sei- Nanjinger Gesetzgebungsyuan waren der Auffas- ner Entstehungszeit entsprechend, auf einem sung, daß die Zivilrechtsgesetzgebung der Ver- individualistischen Standpunkt. Inzwischen hat wirklichung von Sun Yatsens „Lehre von den drei aber der Gedanke der sozialen Arbeits- und Volksprinzipien“ (sanmin-zhuyi) zu dienen hat. War Betriebsgemeinschaft Ausbreitung und Anerken- die Frage nach der Gesetzgebung gleichsam vorge- nung gefunden ...“.73 In China wurde darin so schalteten ideologischen Grundsätzen in den bei- etwas wie ein Entgegenkommen in Richtung auf den vorangegangenen Gesetzgebungsperioden das Sozialmodell gesehen, wie es die GMD vertrat. kaum gestellt worden, so wurde sie nun ganz Wu Jingxiong (1899-1986), der Mitte der 1930er bewußt aufgeworfen. Es war Hu Hanmin, der Prä- Jahre selbst im lifayuan tätig gewesen war, hat dies sident des Gesetzgebungsyuan selbst, der als aus- später wie folgt ausgedrückt: gebildeter Jurist und politischer Theoretiker „Es ist richtig, daß zahlreiche Vorschriften (des (übrigens auch Kenner des Marxismus und der ZGB) aus modernen europäischen Gesetzbü- Sowjetunion, wo er sich 1925/26 aufgehalten chern übernommen wurden ... Der chinesische hatte)75 die „Übersetzung“ der sanmin-zhuyi in Gesetzgeber hat dies jedoch nicht blindlings, Rechtstheorie vornahm. Wie, so können wir fragen, sondern auswählend getan. Er hat gerade die begriff er den rechtstheoretischen Gehalt von Suns neuen Prinzipien westlichen Rechts ausge- Lehre und damit deren Funktion als Leitgedanke wählt, die dem Geist der chinesischen Tradition der Gesetzgebung?76 am meisten entsprechen. Durch ein glückliches Zusammentreffen ist das chinesische ZGB zu 1. Gesetzgebungstheorie der sanminzhuyi einer Zeit entstanden, als das westliche Rechts- Zunächst legte er dar – dies in klarer Opposi- tion zu der „Rechtstheorie der 5. Mai-Bewegung“ – daß eine den sanmin-zhuyi entsprechende Gesetzge- 71 Gustav Amann, Chinas neue Gesetzgebung, in: Zeitschrift für Geopoli- bungstheorie nicht die Einzelperson, sondern tik, 6. Jg. (1929), S. 596 ff., 602. Es heißt dort weiter: „Im ganzen schreitet bei allem der Einbruch in die Familienkonstitution bedenklich fort. Lan- Gesellschaft, Volk und Staat zum Ausgangspunkt desfremder Geist sickert ein. Nach einem Berufungsurteil der höchsten nehmen muß, nicht geren-benwei, sondern shehui- Instanz soll für Eheschließung jetzt nicht mehr das Wort des Ältesten der Familie heilig sein; die Eheschließung bedarf zur Rechtsgültigkeit benwei, minzu-benwei und guojia-benwei. Die Gesetz- auch der Zustimmung der heiratenden Kinder. Die väterliche, absolute gebung hat damit der Lösung der praktischen Pro- Gewalt über die Kinder ist aufgehoben. Der Oberste Gerichtshof erkennt grundsätzlich nur noch ein gesetzlich geregeltes väterliches bleme von Volksmacht (minquan), Nation (minzu) Erziehungsrecht bis zur gesetzlichen Mündigkeit der Kinder an, und er und Volkswohlfahrt (minsheng) zu dienen. Die aus schütz selbsterworbene Vermögen der Familienangehörigen als persön- liches Eigentum. So lösen sich die alten Familienketten ... So fallen die den sanmin-zhuyi resultierenden Gesetzgebungs- Axtschläge landesfremder Kräfte in die religiösen Wurzeln des alten prinzipien (lifa yuanze) werden wie folgt bestimmt: China. Die Heiligkeit der ungeschriebenen Familiengesetze geht dahin. Im Strafgesetz des Herrn Wang Chunghui ist diese Aushöhlung der hei- (1) „Das Prinzip der Ausbalancierung der poli- ligen Grundlagen der hergekommenen Familienverfassung des alten China zum System erhoben. Der Artikel 254 verordnet strengste Mono- tischen Kräfte“ (zhengzhi liliang de pingheng yuanze): gamie, die Artikel 361, 368 und 378 heben die Autorität des Familienälte- In der Politik existieren Freiheitskräfte (ziyou sten und damit die Familiendisziplin endgültig auf, denn sie schützen Mißappropriation von Eigentum, Unehrlichkeit in der Vermögensver- liliang) und Bindungskräfte (yueshu liliang). Werden waltung und Erpressung unter Familienmitgliedern vor Strafe. Zuge- standen: China war zurückgeblieben. Aber bei aller Zurückgeblieben- heit hatte es einen festen inneren Frieden. Jetzt hat es den ‚Fortschritt der Menschheit des Westens’. Der westliche, diktatorische Fortschrittswille 72 The Civil Law Tradition, Stanford, 1969, S. 69. schleuderte seine Gärstoffe in diese kläglich-friedliche Dreihundertmil- 73 Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen, Bd. 106, S. 272. lionenmasse. Er wollte die Erde gleichmachen für seinen Fortschritt, für 74 John C.H. Wu, The Status of the Individual in the Political and Legal Warenabsatz, für Industrie und Kapital. Wir hören seine Stimme noch Tradition of Old and New China, in: Chinese Culture, vol. VIII (1972), an gesetzlicher Ordnung, nach Sicherheit für Handel und Geldeswerte S. 1 ff., 23. rufen durch das Getöse des Krieges in China, den er entfachte. Schafft 75 Ordnung und Friede aus den Gärstoffen, die wir euch gaben, – dann, Vgl. BDRC, 2. Bd., S. 159 ff. und Melville T. Kennedy/Hu Hanmin, His aber erst dann wollen wir euch auch das Glück borgen, Geld und Indu- Career and Thought, in: Chün-tu Hsüeh (Ed.), Revolutionary Leaders of strie! Indessen aber muß China, zerrissen in seiner inneren Konstitution, Modern China, London, Toronto, 1971, S. 271 ff. zerfetzt am nationalen Leibe, unvermerkt, aber unvermeidlich fort- 76 Nach Chun Yang, Zu Hu Hanmins Tätigkeit der Leitung der Gesetzge- schreiten auf das Endziel aller Auflösungsprozesse zwischen den Men- bung (Lue Hu Hanmin zhi lifa zhuchi huodong), FXPL 2000, Nr. 6, schen, zum Bolschewismus.“ S. 152 ff.

134 Heuser, Modernisierung des chinesischen Rechts, ZChinR 2009 erstere zu stark betont, entsteht Anarchie, werden Lebensunterhalt der Armen zu gewährleisten. Zum letztere übertrieben, Despotie. Nur wenn zwischen „Problem der Arbeit“ vertrat er die Meinung, „am beiden eine Balance hergestellt wird, entsteht ein wichtigsten sind die Arbeitsbedingungen, und von Zustand, in dem sich die Politik in stabiler Weise diesen sind Arbeitslohn und Arbeitszeit am wich- entwickeln kann. tigsten.“ Der Staat könne es nicht zulassen, daß Unternehmer und Arbeiter die Arbeitsbedingun- (2) An die Verfassungsgesetzgebung richtete gen unter sich vereinbaren, sondern sei aufgerufen, sich das „Prinzip der Unterscheidung von Macht am Maßstab der gesellschaftlichen Interessen Gren- (quan) und Fähigkeit (neng)“ (quan neng qufen zen einer solchen „Tarifautonomie“ durch Gesetz yuanze). Anknüpfend an die Vorstellung Sun vorzugeben. Yatsens, wonach „das Recht eine den Lebensver- hältnissen (renshi, den menschlichen Angelegenhei- Schließlich äußerte sich Hu zu den Abweichun- ten) immanente Maschine ist“, war Hu Hanmin der gen der sanmin-zhuyi-orientierten Gesetzgebung Auffassung, daß „Macht“ (quan) die Kraft ist, die gegenüber der Gesetzgebung des alten China und die Maschine in Gang setzt, „Fähigkeit“ (neng) die des Westens. Der Unterschied gegenüber dem alten Arbeitsleistung der Maschine bezeichnet.77 China liege darin, daß die Gesetzgebung des alten „Macht“ konkretisiert sich in den Volksrechten China auf der Basis des Klansystems (jiazu) (Wahl, Abberufung, Initiative, Referendum), die beruhte, die monarchische Autokratie schützte, die politische Macht (guanquan oder zhengquan) ist des wirtschaftlichen Verhältnisse einer landwirtschaft- Volkes. Die Regierungsfunktion (zhineng), d.h. die lichen Familiengesellschaft im Blick hatte, und das Verwaltungsfähigkeit (guanneng) steht der Regie- Privatrecht79 ganz im öffentlichen Recht aufgegan- rung zu, die sie durch fünf Ämter ausübt. gen ist, während die sanmin-zhuyi-Gesetzgebung auf der Basis der Interessen der Nation (minzu) (3) „Das Prinzip des Zusammenhangs von beruht, den Bedürfnissen einer aus Landwirtschaft Rechten und Pflichten“ (quanli yiwu de yuanze). Hu und Industrie bestehenden Volkswirtschaft ent- schätzt den Gedanken Suns, daß „die Menschen spricht und zwischen Privat- und öffentlichem sich das Dienen (fuwu) und nicht den persönlichen Recht unterscheidet. Gewinn (das Ergreifen, Erlangen, duoyu) zum Ziel setzen sollen.“ Hu war der Ansicht, daß Leben, Was den Unterschied gegenüber der modernen Vermögen und Interessen des Einzelnen als Teil Gesetzgebung des kapitalistischen Auslands des Lebens, Vermögens und der Interessen der betrifft, so sei dort das Individuum Grundlage der Gesellschaft aufzufassen sind, so daß der Einzelne Gesetzgebung, Gegenstand des Rechts. Diesen nicht beliebig verfügen darf. Was die Anerkennung Rechtsordnungen ginge es nur darum, die Rechte von individuellen Rechten durch die Gesellschaft und Freiheiten der Individuen voneinander abzu- anbetrifft, „so können Rechte nur in dem Maße grenzen, soziale Interessen außer denen des Indivi- anerkannt werden wie gegenüber der Gesellschaft duums kennten sie nicht. Hu ist der Ansicht, daß Pflichten erfüllt werden.“ Werden diese vernach- eine solche das Individuum zum Maßstab neh- lässigt, kann ein Recht nicht bestehen. mende Gesetzgebung (geren benwei) noch rückstän- diger sei als die Gesetzgebung des alten China mit Hu befaßte sich besonders mit der Frage von ihrem Familien-Standard (jiating benwei). Daher ist Eigentum (Kapital) und Arbeit. Für die Frage des seiner Ansicht nach die sanmin-zhuyi-Gesetzgebung Vermögenseigentums (caichan suoyouquan) zieht er mit ihren Standards (Orientierungspunkten) das Sunsche Prinzip der „Volkswohlfahrt“ (min- Gesellschaft, Nation (Volk) und Staat nicht nur der sheng-zhuyi) heran, worin er überhaupt das wichtig- Gesetzgebung des Familismus, sondern auch der ste der sanmin-zhuyi sah. Die von Sun betonte des Individualismus überlegen. Beschränkung privaten Kapitals ziele auf eine Überwindung der Unausgewogenheit zwischen 2. „Soziale Richtung“ des ZGB Arm und Reich. Immer wenn Eigentumsrechte in unangemessener Weise ausgeübt werden, müsse Diese Rechtstheorie wandte Hu auch auf das der Gesetzgeber Schranken ziehen.78 Die Anhäu- ZGB an. In der Einleitung der englischen Ausgabe 80 fung von Vermögen sei zu beschränken und der des „Zivilgesetzbuches der Republik China“ führte er aus: „Das neue ZGB folgt den Prinzipien, die die moderne Rechtswissenschaft über die ganze Erde verbreitet und die eine Art universales gemei- 77 Sun hatte den Staat mit einer Maschine verglichen, wobei er das Volk als Ingenieur sah, der über die Verwendung der Maschine im ganzen nes Recht darstellen, um so die Entwicklung der bestimmt, während die Beamten die Räder der Maschine sind. 78 So heißt es dann auch in der Provisorischen Verfassung der Republik China für die Periode der Vormundschaftsregierung (xunzheng shiqi 79 yuefa) von 1931, daß „die Ausübung des Vermögensrechts an Privatei- Im Sinne des positiven Gesetzesrechts. gentum den Schutz des Gesetzes insoweit genießt, als dadurch das 80 The Civil Code of the Republic of China (translated into English by öffentliche Interesse (gonggong liyi) nicht verletzt wird“ (Art. 17). Ching-Lin Hsia u.a.), Shanghai, 1931.

135 Heuser, Modernisierung des chinesischen Rechts, ZChinR 2009 internationalen Beziehungen zu erleichtern...“. Beschleunigung erfuhren. So hat Jürgen Domes bei Andererseits stellte er klar: „Durch die Einbezie- einer Durchsicht der Ausgaben der Shanghaier hung der Prinzipien der GMD erhält das Gesetz- Shen-Bao nur für die Zeit von drei Monaten (1931) buch eine spezifisch soziale Richtung. Die Tätigkeit fast 1000 dort gemeldete Scheidungsprozesse fest- der Bürger lenkt das Gesetzbuch dahingehend, daß gestellt, von denen über die Hälfte von Ehefrauen sie (d.h. die Tätigkeit) sich als vorteilhaft für die angestrengt wurden und zu über 90% mit Schei- Gemeinschaft erweist, deren Teil der Einzelne ist. dungsurteil endeten. Es waren die kontinuierlich Dieses Merkmal unterscheidet das neue Gesetz- von der GMD kontrollierten Provinzen Jiangsu, buch sowohl von den individualistischen Gesetz- Zhejian, Anhui, Hubei und Guangdong, wo die büchern Europas und Amerikas, als auch von den neue Gesetzgebung bis zum Ausbruch des chine- Gesetzen des Familien-Typs im alten China.“ sisch-japanischen Krieges (1937) Wirkung entfal- Ebenso äußerte sich Fu Bingchang, der Vorsitzende tete.83 Dazu gehörte auch, wie Wu Jingxiong des Zivilrechtsausschusses: „Der neuen chinesi- feststellte, daß Frauen ihr Erbrecht am Teil des schen Gesetzgebung kommt ein bewußt sozialer elterlichen Nachlasses gegenüber ihren Brüdern Charakter zu. Die Lehre der GMD sieht die Men- geltend machten. Dies habe zwar manchen Vater schen nicht als unabhängige, isolierte Wesen, son- veranlaßt, testamentarisch zu verfügen, den Pflicht- dern in ihren Beziehungen zu der von ihnen teil (die Hälfte des gesetzlichen Erbteils) jedoch gebildeten Gesellschaft. Sie weist ihnen nur inso- konnte den Töchtern nicht entzogen werden.84 weit Rechte und Pflichten zu, als die Ausübung sol- Schließlich bleibt festzustellen, daß die Aufhe- cher Rechte und Pflichten dem friedlichen und bung des Regimes der Exterritorialität nicht unmit- geordneten Fortschritt der Gesellschaft dienlich telbare Folge der Inkraftsetzung der Sechs Kodices ist.“81 war, diese Vorrechte vielmehr über das Ende des 2. IV. Durchführung Weltkrieges hinaus fortgegolten haben. Als sie dann aufgehoben wurden85, hatte dies weniger mit Das rechtswissenschaftliche akademische Publi- der Modernisierung des chinesischen Rechts als mit kationswesen, insbesondere die Herausgabe von der durch Entkolonialisierung gekennzeichneten Periodika, hatte sich seit Beginn des Jahrhunderts, Weltlage zu tun. besonders seit der 4.-Mai-Bewegung kontinuierlich entwickelt und auch die Gesetzgebungsvorgänge V. Revisionismus und Verteidigung der und die Justizreform kommentierend begleitet.82 Reform Trotzdem verwundert es nicht, daß die neuen Mitte der 1930er Jahre war das 30 Jahre zuvor Gesetze, insbesondere das ZGB und hier insbeson- begonnene Projekt der Rechtsmodernisierung zu dere das Familien- und Erbrecht, das soziale Leben einem formalen Abschluß gelangt. Nun wäre es nicht sofort prägen und bestimmen konnten. darauf angekommen, die Justizorganisation fortzu- Jedoch wäre es zu einfach, wollte man die Gesetzes- bilden und das neue Recht durch praktische reform von 1929/30 schon deshalb als gescheitert Anwendung dem gesellschaftlichen Leben nahe zu ansehen, weil sie sich bis zu Beginn des Krieges bringen und damit den Vorgang der Inkulturation 1937 für 80% des chinesischen Volkes nicht ausge- in Gang zu setzen. Dies hätte aber erfordert, daß wirkt hatte. In den westlichem Einfluß ausgesetzten durch Industrialisierung allmähliche Reduzierung Küstenstädten schuf sie eine Rechtsgrundlage, mit der Naturalwirtschaft und Aufbau eines modernen deren Hilfe die dort schon seit Ende des 19. Jahr- Erziehungssystems die Gesellschaft ihrerseits für hunderts begonnenen sozialen Veränderungen eine die Akzeptanz dieses neuen Rechts hätte vorberei- tet werden können, so daß die weitumfänglich tra- ditionellen Anschauungen und Lebensweisen 81 Fu Binchang, Das neue Zivilgesetz und Gesellschaftsstandard (Xin minfa yu shehui benwei), in: He Qinhua/Li Xiuqing (Hrsg.), Rechtswis- verbundene Gesellschaft die Relevanz des neuen senschaftliche Aufsätze der Republikzeit (Minguo faxue lunwen jing- Rechts hätte erfahren können. Krieg (seit 1937) und cui), 3. Bd., Beijing 2004, S. 26 ff.; Foo Ping-Sheung (d.i. Fu Bingchang), Soziale Gesichtspunkte des bürgerlichen Gesetzbuchs der chinesischen neuerlicher Bürgerkrieg (seit 1945) ließen ein sol- Republik, in: Blätter für internationales Privatrecht, 1931, S. 268 ff. ches geduldiges und beständiges Vorgehen aber 82 Dazu gehörten nicht nur die eigentlichen juristischen Fachzeitschrif- ten (die früheste war die 1918 in Peking gegründet „Fazheng xuebao“, gefolgt 1922 von „Faxue likan“ der Dongwu-Universität, von „Falü Pinglun“ der Zhaoyang-Universität u.a.), sondern auch allgemeine Uni- 83 Vgl. auch Domes, op. cit. (Anm. 47), S. 405. versitäts-Zeitschriften wie die 1919 unter dem Rektorat von Cai Yuanpei 84 gegründete „Monatsschrift der Peking-Universität“ (Beijing daxue yue- John C.H. Wu, op. cit., (Anm. 70), S. 24. kan), die 1915 gegründete „Qinghua xuebao“ oder die im Jahr darauf 85 Zwischen 1943 (USA, Großbritannien ) und 1950 (Sowjetunion). Im gegründete „Qinghua zhoukan“, in denen nach Liu Xiang, Die während entsprechenden Vertrag mit den USA heißt es: „All those provisions of der Republik-Periode hrsgg. universitären akademischen Periodika und treaties or agreements in force between the Republic of China and the die rechtswissenschaftliche Forschung (Minguo shiqi gaodeng yuan- United States of America which authorize the Government of the United xiao xueshu qikan de chuban yu faxue yanjiu), BFYJ 2005, Nr. 3, S. States of America or its representatives to exercise jurisdiction over 132 ff., so gut wie in jeder Nummer rechtswissenschaftliche Artikel nationals of the United States of America in the territory of the Republic erschienen sind. of China are hereby abrogated ...“ (Art. 1).

136 Heuser, Modernisierung des chinesischen Rechts, ZChinR 2009 nicht zu. Als dann 1948/49 die GMD-Regierung genheit zu überdenken und „ein Rechtssystem auf vor den Trümmern ihrer Herrschaft stand und sich der Grundlage unserer Kultur zu errichten, um so nach Taiwan absetzen mußte, wurden Stimmen unseren Absichten besser zu entsprechen.“ Unter wach, die in der Rezeption europäischen Rechts den von ihm propagierten „Leitprinzipien für Chi- einen falschen Weg zu erkennen glaubten. Es nas neues Rechtssystem“ sind hier zwei von Inter- wurde die Ansicht geäußert, daß das neue Recht esse: 1. Errichtung einer durch die Regeln der den chinesischen sozio-kulturellen Verhältnissen Sittlichkeit (li) ergänzten Rechtsherrschaft (fazhi) nicht angemessen sei, insbesondere das System der und 2. Unterordnung des Individuums unter die subjektiven Rechte für Chinas angestammte Kultur Interessen der Nation. der Pflichten ungeeignet, ja selbstzerstörerisch sei. Ju ging zwar davon aus, daß das neue Rechts- Manche Äußerungen gingen so weit, in der – system den Geist der Herrschaft des Gesetzes angeblich auch durch das neue Recht geförderten – umfassen muß, dieser sollte aber durch die Regeln Zerrüttung der traditionellen Moral den Haupt- der Sittlichkeit ergänzt werden. Das lijiao-System89 grund für den Sieg der Kommunisten zu sehen. ganz aufzugeben, sei verfehlt. „Li-Normen sind Statt oder neben dem fremden Recht sollte der kon- ebenso gute Sozialnormen wie Religion und fuzianischen Moral wieder stärker sozialkontrollie- Brauchtum, und zusammen mit dem Recht (den rende Wirkung beigemessen werden. Gesetzen) wahren sie die Interessen der Individuen 1. „Umbau des chinesischen Rechts“ wie der Gesellschaft.“ Sie zur Aufrechterhaltung der Sozialordnung heranzuziehen, sei um so nahe- Als Beispiel für einen solchen Gegenreformer liegender, wenn man bedenke, daß sie, nachdem sie sei auf den 1876 in Hubei geborenen, 1951 in Taibei von Konfuzius und seinen Schülern formuliert 86 gestorbenen Ju Zheng (Chü Cheng) verwiesen. worden waren, das Denken, Fühlen und die Seit Tokyoter Tongmenghui-Zeiten ein Mitarbeiter Lebensart der Chinesen tief geprägt hatten. Er Sun Yatsens, war er, obwohl kein studierter Jurist, nennt die acht (konfuzianisch „geladenen“) Tugen- von 1932-1948 Präsident des Justizyuan (sifayuan) in den der Loyalität (zhong), Kindespflicht (xiao), der Nanjinger Nationalregierung. Die von der Wohlwollen (ren), Liebe (ai), Vertrauen (xin), GMD veranlaßte Rechts- und Justizreform hatte er Gerechtigkeit (yi), Harmonie und Friede (heping). 87 durchaus unterstützt und sich besonders mit Pro- Diese Moralnormen sollen die Gesetzesnormen im zeßrecht und der Gerichtsorganisation befaßt. In Sinne einer stabilen Sozialordnung ergänzen. Ju einer 1947 in Nanjing veröffentlichten Schrift for- hatte wohl die Vorstellung, daß die Moralnormen derte er jedoch einen „Umbau des chinesischen sich gegen die emanzipatorische Tendenz des 88 Rechts“. Er führte dort aus, daß „die beinahe modernen Rechts auswirken (sollen). Dies zeigt das uneingeschränkte Rezeption des kontinentalen „Leitprinzip“ der Unterordnung des Individuums Rechtssystems“ in mancher Hinsicht (er meinte unter die Interessen der Nation, der Gesellschaft. wohl primär die Überwindung des Systems der Das neue Rechtssystem „wird keine Spur indivi- Exterritorialität) hilfreich gewesen sei, zu bezwei- dualistischer Anschauungen aufweisen, sondern feln sei jedoch, „ob sie für das chinesische Volk von durchweg deutlich machen, daß Kollektivinteres- bleibendem Wert sein wird.“ Die Erfahrung, die sen Privatinteressen stets vorgehen.“ Ju legte nicht man seit den letzten Jahren der Qing-Dynastie mit dar, wie dieses Ziel erreicht werden soll: durch eine der Übernahme europäischen Rechts gemacht radikalere gemeinschaftsorientierte Interpretation habe, habe gezeigt, daß „dadurch nicht alle Pro- als sie schon Hu Hanmin betont hatte? Wie andere bleme zu unserer Zufriedenheit gelöst werden Guomindang-Ideologen sah Ju in Sun Yatsens Leh- konnten.“ Es sei deshalb an der Zeit, die Angele- ren eine Art Kontinuität verwirklicht, wie sie sich bis auf die legendären Herrschergestalten der vor- historischen Zeit (Yao, Shun) zurückverfolgen läßt. 86 BDRC, 1. Bd., S. 469 ff. Ju wird auch in der gegenwärtigen chinesi- „Daher“, so Ju, „ist es für ein Land unpassend und schen Rechtswissenschaft wahrgenommen. Vgl. etwa Chun Yang, Ju unpraktisch, das Recht eines anderen Landes zu Zheng und der Wandel des modernen chinesischen Rechtssystems (Ju Zheng yu zhongguo jindai fazhi biangeng), FXJ, 2000, Nr. 4, S. 47 ff.; imitieren.“ Qiao Congqi, Ju Juesheng, d.i. Ju Zheng, Werk und Rechtsidee (Ju Jue- sheng de zhushu yu fazhi sixiang), ZGFX 1989, Nr. 4, S. 121 ff. 2. Wang Boqis Verteidigung der Rechtsreform 87 Im Sinne der damals geltenden „Verfassung der Republik China für die Periode der Politischen Vormundschaft“ vom 01.06.1931, wonach die Staatsmacht durch Organe der GMD auszuüben war (vgl. unten Gegen eine solche rezeptionskritische und kon- Kapitel 7/II,2), vertrat er durchaus im Sinne eines Modernisierungsim- fuzianische Moral rekultivierende Haltung wand- pulses das Konzept der „Verparteilichung der Justiz“. Vgl. Ju Zheng, Das ten sich wohl die meisten der Rechtswissenschaftler Problem der Verparteilichung der Justiz (Sifa danghua wenti), in: Dong- fang zazhi, Bd. 32 (1935), S. 6 ff. 88 Sie erschien zuerst 1944 unter dem Titel „Warum ist das chinesische Rechtssystem neu zu errichten?“ (Wei shenmo yao chongjian zhongguo 89 Das heißt die Integration konfuzianischer Moralvorstellungen in das faxi), in: Zhongguo falü zazhi, 1947, in englischer Übersetzung unter Rechtssystem. Ausführlich dazu Robert Heuser, Einführung in die chine- dem Titel „On the Reconstruction of the Chinese System of Law“. sische Rechtskultur, 3. Aufl., Hamburg 2006, S. 106 ff.

137 Heuser, Modernisierung des chinesischen Rechts, ZChinR 2009 der auf die Nanjing-Gesetzgebungsperiode folgen- Wang Boqi propagiert den anderen Weg, den den Generation. Ein markanter Vertreter dieser die der allmählichen Anpassung der Moral an das Rezeption verteidigenden Juristen ist Wang Boqi moderne Recht. Er sieht darin eine „notwendige (1908-1961). 1931 Absolvent der politikwissen- Tendenz“ und führt aus: schaftlichen Abteilung der Dongwu-Universität in „Die Gesellschaft ist im Fortschritt begriffen, Suzhou und 1936 Dr. en droit der Pariser Universi- und es ist völlig unmöglich, auf frühere Pfade tät, veröffentlichte er 1956 als Professor für Zivil- zurückzukehren. Betrachten wir sie nur von recht an der Taiwan-Universität eine Abhandlung den beiden Punkten der Gleichheit der über „Modernes Rechtsdenken und die überkom- Geschlechter und des allmählichen Zerfalls des mene chinesische Kultur.“90 In der Einleitung weist Sippensystems (dajiazhidu), so können wir einen er das Problem auf: Aspekt ihrer Entwicklungstendenz schon „Was wir auf legislatorische Weise übernom- erkennen.“93 men haben, ist ganz und gar vom Neuesten des Wang geht von einer erzieherischen Wirkung westlichen Rechtssystems; was wir jedoch auf der Gesetzgebung aus. Er ist der Ansicht, daß die der Ebene des Volksbewußtseins erfassen, ist ... moderne chinesische Gesetzgebung zwar dem immer noch das alte, gar restaurierte ethische gesellschaftlichen Bewußtsein „vorauseile“, dieses System (lijiao zhidu), wozwischen es so gut wie Bewußtsein aber allmählich umforme. Er nennt keine Vermittlung gibt.“91 dies „Rechtserziehung“, ein Vorgang, der durchaus Zur Verringerung dieses Abstandes lehnt er Ergebnisse zeige. Er führt aus: aber die eine der beiden denkbaren Methoden, das „Wenn der Gesetzgeber unsere Verhaltensnor- Recht der Moral anzupassen, ab. Diese Methode, so men auch nicht schaffen kann, so hat das vom führt er aus, Gesetzgeber geschaffene Recht für das Volksbe- „wurde gelegentlich schon propagiert, so wenn wußtsein doch eine äußerst intensive aufkläre- dargelegt wurde, daß während der letzten Jahre rische und inspirierende Wirkung und die chinesische Gesellschaft von der Moral- beschleunigt so die Reifung dieses Bewußt- Herrschaft (lizhi) zur Gesetzesherrschaft (fazhi) seins.“94 übergegangen sei, in den Kontakten der Men- Eine erste Wirkung dieser „Erziehung“ erkennt schen untereinander mehr das Gesetz (fa) als er in Folgendem: die Sittlichkeit (li) betont werde, die Menschen untereinander ... ihre Unbekümmertheit einge- „Das Erbrecht des Ehepartners und der Töchter, büßt hätten. Da sie vergessen hätten, daß im die Ausübung der Rechte und Pflichten der menschlichen Umgang die li-Regeln bestim- minderjährigen Kinder durch Vater und Mut- mend sein sollten, sei das Leben freudlos und ter, die Unabhängigkeit des Vermögens – all sinnlos geworden, die Gesellschaft habe keinen diese Rechtsinstitute rufen, auch wenn sie bis Mittelpunkt und die Kommunistische Partei sei heute und über 30 Jahre nach Inkrafttreten des dadurch noch intensiver bestrebt, die traditio- Zivilgesetzbuches immer noch fremd anmuten, nelle Ethik (li-yue) zu untergraben und den jedenfalls nicht mehr Ablehnung hervor. Dies Geist der Geschichte zu zerstören, weshalb wir macht deutlich, daß die großen Prinzipien des uns heute besonders um das Studium der Frage geltenden Rechts allmählich gesellschaftliche des Wiedererstehens der traditionellen Ethik Akzeptanz finden können und zu Normen bemühen sollten.“ unseres tatsächlichen Rechts werden.“95 Nach dieser Ansicht, so Wangs Kommentar, Er fügt hinzu: „hat unsere gegenwärtige Gesellschaft deshalb „Wenn unsere großen Kodifikationen auch gro- keinen Mittelpunkt, kennt das menschliche ßenteils anderen Ländern entstammen, so ist es Leben deshalb keine Freude und treibt die doch keineswegs so, daß ein transplantiertes Kommunistische Partei deshalb ihr Unwesen, Gesetzessystem keine Wurzeln treiben kann. weil die chinesische Gesellschaft die Sünde des Natürlich besitzt jedes Volk eine eigenständige allmählichen Übergangs von der Moral- zur historische Kultur, und sein Rechtssystem kann Gesetzesherrschaft begangen hat. Das heißt auch nicht mit dem anderer Völker völlig iden- soviel wie das gegenwärtige Rechtssystem völ- tisch sein, daraus aber zu folgern, daß die ver- lig zu verwerfen.“92 schiedenen Völker ein jeweils verschiedenes

90 Jindai falü-sichao yu zhongguo guyou wenhua, Taibei, 1956. 93 Ibid., S. 3. 91 Ibid., S. 2. 94 Ibid., S. 51. 92 Ibid., S. 3. 95 Ibid., S. 51.

138 Heuser, Modernisierung des chinesischen Rechts, ZChinR 2009

Rechtssystem haben sollten, entspricht offenbar nicht den Tatsachen.“96 Wang verweist auf Japan, auch auf Vorgänge der Rechtsrezeption anderswo. „Somit“, so resümiert er, „brauchen wir uns nicht vorzuhalten, daß unser Recht eine Imita- tion des Rechts anderer Staaten und nicht ein Produkt der Geschichte unserer Nation darstellt und es somit geringzuschätzen. Die Verbindun- gen unseres Globus werden immer enger, nir- gends ist es länger möglich, eine völlig eigenständige Kultur zu bewahren.“97 Für Wang konnte der einzig vernünftige Weg nur darin bestehen, dem per Gesetzgebung geschaffenen Recht durch richterliche Anwendung und rechtswissenschaftliche Bearbeitung allmäh- lich Anerkennung und Geltung zu verschaffen. Diese Ansicht hatte kurz zuvor schon einer der damals einflußreichen westlichen Rechtstheoreti- ker, der langjährige Dekan der Harvard-Law- School, Roscoe Pound (1870-1964) zum Ausdruck gebracht. In einem 1948 – als er sich als Berater der Regierung in Nanjing aufhielt – veröffentlichten Aufsatz über „Comparative Law and History as Bases for Chinese Law“98 führte er aus: „The Chi- nese codes are excellent, they are Chinese codes, to be applied to the Chinese people, to govern Chi- nese life.“99 Für Pound war die Übernahme auslän- dischen Rechts eine in der Geschichte überall anzutreffende Erscheinung. „Die Geschichte eines Rechtssystems“, so schrieb er 1938, „ist weitgehend eine Geschichte der Anleihe bei anderen Rechts- systemen und der Einverleibung von Materialien außerhalb des Rechts.“100 Die Frage, ob und inwieweit europäisches Recht in eine chinesische Umwelt „transplantier- bar“ ist, ist damit noch nicht ausreichend beantwor- tet. Aus der Sicht der Entwicklung nach 1950 betrachtet scheint sie eindeutig negativ auszufallen; aus heutiger Sicht stellt sie sich aber neu.

96 Ibid., S. 51. 97 Ibid., S. 52. 98 Harvard Law Review, vol. 61 (1948), S. 749 ff. 99 Ibid., S. 752. 100 The Formative Era of American Law, Boston, 1938, S. 94.

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