Jim Rakete! Dass das ein Künstlername ist, merkt ja wohl jeder. Aber es hört sich einfach besser an, als sein wirklicher Name: Günther Rakete.

Und dann die Karriere: Als Jugendlicher schon und vor der Kamera gehabt! Heißt es immer. Das hört sich ja auch sehr gut an. Aber die Bilder, die er von diesen Größten der Pop Musik gemacht hat, entstanden auf Konzerten. Jim Rakete stand im Publikum wie zehntausend andere auch. Nur dass er sich bis an den Bühnenrand vorgearbeitet hat. Und aufnehmen durfte er die Bilder nur, weil sich der Fotograf einer Berliner Lokalzeitung zu alt für diese Art von Musik fühlte.

Als Schüler schon hatte Rakete fotografiert, immer häufiger den Unter- richt geschwänzt und immer mehr Zeit auf Terminen und in der Dunkel- kammer der Lokalzeitung verbracht. „Rakete ist siebzehn“, heißt im bio- graphischen Anhang seines ersten Fotobuchs, „als seine Lehrer und er in seltener Einmut beschließen, getrennte Wege zu gehen.“

Aber dann wurde er eben doch groß und großartig und fast schon visio- när. Musik und Fotografie wurden bei ihm zu einer Einheit, in seinem Büro, seinem Studio, „der Fabrik Rakete“ in -. Er trifft , managt sie und ihre Band und nimmt vor einer rau verput- zen Wand fast nebenher das Cover ihrer ersten Platte auf, das augen- blicklich zu einer Ikone der Pop-Fotografie wird. Er hört seine Sekretärin beim Staubsaugen ein Liedchen trällern und nimmt eine Platte mit ihr auf: ist geboren. Für das Bild der Plattenhülle schickt er die Band auf die Straße vor seinem Atelier und fotografiert sie von oben aus dem Fenster heraus. Noch so eine Ikone der Pop-Fotografie. Am Ende prä- gen diese Bilder die Ästhetik einer ganzen Epoche.

Alles geht damals sehr schnell. Spliff kommt dazu, dann die Ärzte, schließlich die halbe . Ist das Schlager, ist das Punk? Es ist ein neues Lebensgefühl, rotzfrech und kindlich-naiv, ein wenig Rebellion, ein wenig „Ich geb Gas, ich will Spaß“. Es ist aus der Straße erwachsen, verbreitet zunächst viel Freude, macht aber bald schon viel Arbeit. Irgendwann in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre bremst Jim die Rakete ab, bevor sie verglüht. Er geht nach Amerika, dreht Musikvideos und Werbefilmchen, und übernimmt Jobs, die man als Fotograf eben übernimmt. Ein bisschen verschwindet er auch in der Versenkung.

Wenn man Jim Rakete heute auf die Zeit der Neuen Deutschen Welle oder die Zeit in Amerika anspricht, winkt er ab. Nein, bitte, nein, sagt er, nicht dies alten Kamellen. Wie jeder große Künstler besinnt er sich lieber auf die jüngsten Arbeiten und auf die künftigen, als sich mit der Vergan- genheit im Kreis zu drehen.

Welch großer Künstler er ist, wurde mir in seiner Ausstellung „1/8 Sekunde“ binnen eines Wimpernschlags bewusst. Es war eine Bilder- schau vor vier, fünf Jahren in der Berliner Galerie Camera Work. Die Wände waren über und über mit schwarzweißen Porträtfotografien behängt. Es war wie ein Faustschlag ins Gesicht. Man wusste gar nicht, wohin man zuerst schauen sollte. Und keines der Bilder war zu viel.

In der Mitte des Ausstellungsraums stand in einer Glasvitrine die Kamera, mit der diese Aufnahmen entstanden waren: Es war ein Ungetüm von Großbildkamera, nicht unbedingt schön anzuschauen, aber so beeindruckend, dass man zu spüren meinte, wie verloren, viel- leicht sogar bedroht sich mancher Mensch gefühlt haben mag, den Jim Rakete vor dieser Kamera posieren ließ. Fotografieren, daran lässt dieser Respekt einklagende Apparat keinen Zweifel, ist eine ernste Angelegenheit.

"1/8 Sekunde" war Jim Raketes Einfall, als vermutlich letzter Fotograf mit einer altertümlichen Technik loszuziehen, um in kürzester Zeit ein Ge- samtbild der deutschen Kulturlandschaft zu schaffen. Was sich dahinter verbarg, war auch eine Neuauflage des großartigen Fotokonvoluts der Galerie contemporaine aus dem neunzehnten Jahrhundert, ein Mappenwerk, für das Fotografen die berühmtesten Schriftsteller und Komponisten ihrer Zeit fotografiert haben – und darüber selbst berühmt wurden: Nadar etwa oder Carjat. „1/8 Sekunde“ war aber zugleich der Abgesang auf eine Epoche, deren Begriff lange schon durch die Klein- bildfotografie in Frage gestellt wird, aber erst jetzt, mit der Digitalisierung, endgültig verloren sein dürfte. Kein Wunder, dass gleichsam als Wasserzeichen ein Moment von Wehmut durch die Serie schimmert.

Zuallererst aber eröffnet sie einen Bilderkosmos, den andere Fotografen kaum je als ihr Lebenswerk vorlegen könnten: eine Art „Who is who“ der Kinoleinwand und des Fernsehschirms, der Politbühne und der Mode- Laufstege, der Kunstmessen und der Literatur. Als die Serie als kilo- schwerer Bildband erschien, musste man viel Zeit über dem Register verbringen, um zwischen den etwa hundertfünfzig Namen die eine oder andere Lücke zu finden. Und ich staunte darüber, wie überflüssig es offensichtlich ist, angesichts von verblassten Stars im vermatschten Dschungelcamp und der Suche im Glitzerlicht nach den vermeintlichen Superstars von morgen in die Klagen vom Ausverkauf der Kunst einzustimmen. Was Jim Rakete gehoben und bewahrt hat, ist wahrhaft ein Schatz.

Dabei lag ihm mit der Serie nichts ferner, als Starkult zu betreiben. Fern von einem Ereignischarakter der Pop-Kultur suchte er stille Momente und ungeschminkte Gesichter.

Da hat es nicht geschadet, dass er viele dieser Personen seit Jahr- zehnten begleitet und sie oft schon fotografiert hat, als sie noch ganz am Beginn ihrer Karriere standen. Jetzt hingegen holte er sie ab im Erfolg, um eine "Gewebeprobe der Seele" zu nehmen, wie er es nennt. Deshalb versuchte er gerade durch den geringstmöglichen Aufwand Situationen zu schaffen, in denen ein Blick nach innen gerichtet ist oder, besser noch, der Blick die Leere im Nirgendwo fixiert. Das sind dann Momente von anrührender Eindringlichkeit, wenn eng aufs Gesicht beschnitten etwa , Jürgen Vogel oder Heino Ferch uns ansehen, aber selbst junge Frauen wie Floriane Daniel und Thea Dorn haarscharf am Fixpunkt des Objektivs vorbeischauen, oder wenn, die Hände in den Taschen, Martin Walser am Bodensee steht und Mario Adorf an einem der vielen Flüsse . Wasser, Tiefe, Zeit: Es bedarf mehr als nur handwerklichen Geschicks, um mit solchen Symbolen nicht baden zu gehen. Jim Rakete aber verbindet in diesen Motiven sein Gespür für plakative Kompositionen mit der ernsthaft gestellten Frage: Was soll denn noch kommen? Und tatsächlich scheinen die Stars umso mehr von Selbstzweifeln geplagt, je größer ihr Ruhm ist.

Auch Jim Rakete, 1951 geboren, scheint diese Erfahrung nicht fremd. Nicht ausgeschlossen, dass sich daraus die Konzentration aufs Wesent- liche erklärt, der Verzicht auf jegliche Gimmicks; geradeso, als müsse er sich auch selbst ein wenig leerräumen. Was soll denn noch kommen? Aber nichts Besseres hätte passieren können. Mit den Aufnahmen aus "1/8 Sekunde" hat Jim Rakete sich endgültig in die erste Riege der Port- rätfotografie katapultiert. Dabei widerstand er nicht nur dem Extrem der glamourösen Starparade, er verbat es sich auch, unter dem Vorwand der Psychologisierung, hinter den Gesichtern Fratzen freizulegen.

Es hat sich doch auch so, zeigt er uns, genug vom Leben eingeprägt in die Konterfeis. Deshalb das weiche Licht, deshalb so oft die graue Plane als neutraler Hintergrund - fast so, als verstünde sich Jim Rakete zu- nächst als Archivar und Sammler und erst dann, wie jeder Fotograf, als Jäger. Und vielleicht liegt genau darin auch das Geheimnis seiner besten Fotografien: in der Paradoxie, Nähe zu schaffen, indem man Abstand hält, unter die Oberfläche zu tauchen, ohne zu bohren.

Licht von oben, Blick von vorne, auf Augenhöhe. Mehr ist es nicht - sagt Jim Rakete und widerspricht vehement den Interpretationen, wonach die Fotografie ein Duell sei zwischen dem Modell und dem Fotografen. Und erst recht widerspricht er jeglichen Anspielungen an eine Exekution. Nein, nein. Beim Fotografieren kämen zwei Menschen zusammen, und daraus entwickele sich dann etwas, sagt er. Und dann hat er vor zwei Jahren er gleich noch einmal eine episch angelegte Serie begonnen: fürs deutsche Filmmuseum in Frankfurt. Mit hundert Porträts der wichtigsten Schauspieler, Regisseure, Drehbuchautoren und Kameraleuten des deutschen Films. Denken Sie sich aus, wen Sie wollen – er oder sie ist dabei.

Meist braucht Jim Rakete nur einige Minuten für ein Bild. Die erste Idee sei doch immer die beste, sagt er, beim langen Absuchen verheddere man sich nur in einer Diskussion mit sich selbst. Als Augenblicks- beziehungen bezeichnet er mittlerweile die Treffen mit den Stars. Und tröstet sich mit der Erkenntnis, nie falsch zu liegen, wenn man interes- sante Menschen fotografiere: "Da hat sich ja stets etwas eingegraben in die Gesichter." Wie er dabei Männer wie Frauen gleichermaßen stark und zerbrechlich und klug und attraktiv und sensibel und witzig und nachdenklich zeigt und kein einziges Adjektiv nur einem der beiden Geschlechter zuordnet, zählt zu den Geheimnissen seiner Arbeit.

Als ich Jim Rakete vor einiger Zeit in seinem Atelier besuchte, war ge- rade ein kleines Büchlein erschienen, für das er die Berliner Philharmo- niker fotografiert hatte. Jeden einzelnen Musiker. 116 Porträts von Mensch und Instrument. Und eines Von .

Und als wir vor einiger Zeit telefonierten, erzählte er mir von einer Serie, für die er aus der Club Szene von Berlin alle Bands zusammengesucht hat, denen er genug Potential für eine Karriere attestiert. Ich kannte kei- nen der Namen und amüsierte mich vor allem darüber, dass all diese jungen Menschen, wie er selbst ganz verblüfft erzählte, pünktlich auf die Minute zum Fototermin gekommen seien. Immerhin: Rock-Musiker! Und dann sagte er noch: „Und zum Rauchen sind sie auf den Hof gegangen!“

Wovon er nie erzählte, war die Serie für „Karuna“, die hier nun hängt und die in derselben Zeit entstanden ist. Und die natürlich von derselben Neugierde geprägt ist: Wissen zu wollen, was da draußen passiert. Die Bilder sind auch bestimmt vom selben Ansatz: von Jim Raketes Respekt für Menschen – und von einem höflichen Abstand.

Dass sich beim Fototermin immer nur einer wichtig machen dürfe, sagt Jim Rakete, und dass das besser nicht der Fotograf sein solle. Dass Aufdringlichkeit nicht funktioniere. Dass man wichtige Leute wie normale Menschen behandeln müsse, und dass man normale Menschen aber durchaus einmal wie Stars behandeln dürfe. Dass man an die Quelle gehen müsse. Keinen Aufwand betreiben dürfe. Und dass heute viel zu wenige Fotografen noch ihren Empathie-Reflex aktivieren wollten. Das sagt er alles so unprätentiös, dass man es für eine raffinierte Art von Understatement halten könnte. Abstand, sagt er, Abstand sei sein Geheimnis für Tiefe.

Und dann ist er diesen Jugendlichen, denen man auf der Straße lieber aus dem Weg geht, und denen man sich nicht in die Augen zu schauen wagt, und von denen man sich hin und wieder durch eine kleine Spende irgendwie frei kauft, dann ist er eben diesen Jugendlichen doch auf seine Weise ganz nah gekommen. Er habe diese Jugendlichen nur vom weg- gucken gekannt. Aber irgendwann wollte er wissen, wer diese Menschen sind, denen man ja genaugenommen durchs wegschauen zu verstehen gebe, dass man sie nicht braucht. Da war es für ihn eine wunderbare Fügung, dass ein Fotograf das Projekt von „Karuna“ kurzfristig abgesagt hat – und er einspringen konnte.

Die ursprüngliche Idee, auf dem Dach des ICC zu fotografieren, lehnte er allerdings ab. Er holte knapp dreißig Jugendliche im Laufe von drei Tagen in sein Atelier und verbrachte dort den Tag mit ihnen – und mit ihren Hunden. Er ließ sich ihre Tagesablauf erzählen und manchmal auch ihre Lebensgeschichte. Und als wir dieser Tage am Telefon über die Bilder miteinander sprachen, war er noch immer erschrocken darüber, wie wenig es bei manchen gebraucht hatte, aus der Spur zu geraten. Er nannte es „Wegrutscherlebnis“. Eine Kleinigkeit nur, dann trauen sie sich nicht mehr nach Hause. Leben bei Freunden. Ziehen auf die Straße. Ernähren sich plötzlich vom Abfall der Supermärkte und wurschteln sich mit Spenden irgendwie durch. Sie leben mit ihrem Hund als neuer Familie. Und irgendwann wird ihnen all das ihr normales Leben. Und dann sagte er tatsächlich: „Das hätte mir doch auch passieren können. Ich bin doch auch ein labiler Mensch.“ Und dann fiel mir ein, dass er einmal Günther Rakete hieß und nicht Jim Rakete, und dass er die Schule abgebrochen hat.

Vielleicht kommt auch daher seine Sympathie für diese Jugendlichen. Und ein Moment von Verantwortung. Nun schaut er sie an. Und er fragt sich, wie dieses Mädchen wohl ohne Ring in der Nase aussähe. Oder dieser Junge in einem Anzug. Seine Bilder sind nicht Teil einer drastischen Sozialreportage. Sie sind keine romantisierenden Ab- bildungen von Wilden. Und sie folgen keinem anthropologischen Impetus. Sie sind einfach nur Porträts von Menschen, die man als Passant in den Großstädten nur im toten Winkel wahrnimmt.

Diese knapp dreißig Jugendlichen werden von „Karuna“ betreut. Man hilft ihnen, zurück zu finden in die Gesellschaft. Sich in einem geregelten Tagesablauf zurechtzufinden. Einen von ihnen hat Jim Rakete neulich auf der Straße gesehen, im Vorbeifahren – und sich gedacht: Ein Glück, er lebt noch. Und eine hat eine Lehre als Fotografin begonnen und ihm ihre erste Serie gezeigt. Sie sei durchaus talentiert, sagt Jim Rakete.

Aber so ganz konnten viele von ihnen im Atelier ihre Verunsicherung nicht ablegen. Manche drückten sich in der Ecke herum und ließen anderen den Vortritt vor der Kamera. Andere versteckten sich bis zum Schluss unter ihren Kapuzen oder drehten der Kamera den Rücken zu. Die haben ja auch was zu verlieren, nimmt Jim Rakete sie in Schutz. Die könne man auf den Bildern ja für immer erkennen, wenn die Serie nun von Stadt zu Stadt weiterreist, um auf die Situation dieser Menschen und auf die Arbeit von „Karuna“ aufmerksam zu machen. Aber wie die sich im Atelier dann auch wechselseitig Mut gemacht haben, das hätte ihm schon sehr gefallen. Er hatte ihnen ganz einfach gesagt, sie sollten der Kamera einfach so gegenübertreten, wie sie den Menschen auf der Straße gegenüber treten wollten.

Und nun gibt es diese Bilder, die sich nahtlos einfügen in ein Werk, das man bisher vor allem mit prominenten Namen verbunden hat. Und alles, was sich über Jim Raketes große Serien und seine große Porträts sagen lässt, trifft in gleichem Maße auf die Serie „Wir & ich“ zu. Aufgenommen mit dem gleichen Ernst und Respekt und Aufwand. Erarbeitet auf Augenhöhe. Mit dem Ergebnis, dass diese jungen Menschen nicht Teil einer Typologie wurden, nicht Stellvertreter einer Subkultur und auch nicht irgendwelche Stars der Obdachlosenszene – sondern mit dem Resultat, dass sie dargestellt sind als Individuen.

Er sei ein Auslaufmodell, sagt der Fotograf Jim Rakete von sich. Und meint damit seine Arbeit. Seinen Ansatz. Vielleicht auch seine Empathie. Aber durch den TÜV wird diese Rakete noch eine ganze Zeit lang kommen. Da bin ich mir sicher. Ganz sicher.