Das Kommunale Kino Wiens, Schwarzenbergplatz 7-8, 1030 Wien September 10 | #482

Semih Kaplanoğlu, Bal - Honig, ab 3. September 2010 im Stadtkino Luc Moullet, La terre de la folie, ab 3. September 2010 im Filmhaus Kino In memoriam , ab17. September 2010 im Stadtkino Ludwig Wüst, Koma ab 17. September 2010 im Filmhaus Kino Renzo Martens, Enjoy Poverty ab 17. September 2010 im Filmhaus Kino

Ein Wald für sich. Urtümliche Landschaften und ein Junge mit großen Augen: Der Berlinale-Siegerfilm „Bal - Honig“ kommt jetzt ins Stadtkino. Anlass für eine Reise zu den Drehorten. katja nicodemus

en Spuren eines Films zu folgen heißt, den Bil- Wer auf dem Weg zu diesen Bildern das Flugzeug besteigt und dern im eigenen Kopf hinterher zu reisen. Heißt, in der nordanatolischen Großstadt Trabzon wieder ausgespuckt Inhalt Dsich an einen Ort zu begeben, von dem man schon wird, findet sich zunächst in einem völlig anderen Film. Ein verführt ist, ohne ihn wirklich gesehen zu haben. Verführt ist brutales Schnellstraßensystem zerschneidet die Schwarzmeer- Schlingensief, revisited man von der zeitlosen, verwunschenen Stimmung in Semih küste. Die ehemals christliche Kaiserstadt Trapezunt kauert wie 7 Filme von Christoph S. im Stadtkino - Kaplanoğlus Bal - Honig. Der Film, der in diesem Jahr den ein graues Betonmonster am Meer. Und das Leben geht selt- Nachruf, Vorschau. 4/5/6 Goldenen Bären der Berlinale gewann und ab 3. September same Wege in dieser Hafenmetropole mit ihren 1,4 Millionen im Wiener Stadtkino gezeigt wird, spielt in der abgelegenen Einwohnern. Moullet im O-Ton Region des türkischen Kaçkar-Gebirges. Er handelt von der Ein Hafen ist Trabzon heute vor allem für russische, ukrai- Ein Interview über innigen, wortlosen Liebe eines kleinen Sohnes zu seinem nische und georgische Prostituierte, im türkischen Volksmund „La terre de la folie“ 9 Vater, einem Bienenzüchter. Und er erzählt in urtümlicher Nataschas genannt. Und für ihre anatolischen Freier, die aus Landschaft eine große Geschichte von Leben und Lernen, dem Hinterland zu Tausenden in die unzähligen Stundenho- „Koma“-Kino Kindheit und Vergänglichkeit. Mit den Augen des kleinen tels strömen. Man begegnet den durchweg blondierten Frauen Begegnung mit dem Regisseur Helden Yusuf entdeckt, man karge Hochalmen und tiefgrüne überall. Sie umlagern die Pools der teureren Hotels. Sie warten Ludwig Wüst 10 Wälder, blickt in Täler, auf deren Grund sich wilde Bäche auf Kundschaft in Restaurants mit russischen Namen und rus- hinabstürzen. Es ist eine Natur, in deren selbstvergessene Ma- sischen Menüs. Sie stehen am Straßenrand und an den Sammel- Zulassungsnummer GZ 02Z031555 jestät man eintreten möchte. Fortsetzung auf Seite 2 » Verlagspostamt 1150 Wien / P.b.b. 02 Semih Kaplanoğlu, „Bal – Honig“ StadtkinoZeitung

» Fortsetzung von Seite 1 stellen der Minibusse. Wenn man dann an der Küste entlang in Richtung Osten fährt, um nach etwa zwei Stunden in die Berge abzu- biegen, in die Natur, zur Idylle, wird man die traurig-verlebten Gesichter der Nataschas so schnell nicht los. Der Weg ins Kaçkar-Gebirge führt durch das lang gezogene, sich verengende Tal des Fırtına-Flusses. Die Straße scheint dem Wald mühsam abgetrotzt, mit Steinschlag, Lehmflu- ten und heruntergefallenen Ästen erobert die Natur sie zurück. Etwas oberhalb des Ortes Çamlıhemşin liegt das Hotel Doğa, eine fast romantisch anmutende Herberge. Es ist direkt am wilden Fluss gelegen, mit einer riesigen Glasveranda und Balkonen, auf denen man sofort in der Abenddämmerung lümmeln will. Hier wohnte das Filmteam von Bal während der dreimonatigen Dreharbeiten. Gebaut wurde das Hotel von Idris Duman, mit eigenen Händen, wie er betont. Früher reiste der 80-Jährige als Elektroingenieur um den Erdball. Dann trieb ihn die Sehnsucht zu- rück. Duman spricht Französisch und Englisch. Er ist ein Kosmopolit, der in der Ferne die Fürsorge für seine Heimat entdeckt hat. Leicht gebeugt steht er an der mit Kladden, Zetteln, Fotos und Prospekten überladenen Rezeption des Hotels. In seinem breiten Lächeln fehlen ein paar Zähne. “Wir haben schon auf Sie ge- wartet«, sagt er, »mögen Sie Fisch?“ Der Honig aus dem Kaçkar -Gebirge schme- ckt, als koste man den Wald. Man kann sich vorstellen, wie der Regisseur Semih Kaplanoğlu und seine Crew abends vom Set zurückkamen. Wie der Fluss die Erschöp- fung nach dem Drehtag mit seinem Rauschen überlagerte. Tatsächlich hat dieses beständige Natur und Veränderung aus der Kinderperspektive: Bora Altas in „Bal“. Geräusch etwas Meditatives. Es scheint, als verbinde sich das Wasser auf angenehme Weise Genau wie Yusufs Sippe zog Idris Duman den. Es ist ein mühsames, gefährliches Geschäft. von Bal kommt, springt er auf und tippt sich direkt mit den Gedanken. Idris Duman sagt, er mit seiner Familie im Sommer auf die Alm, Eine Ernte, die der Natur mit Seilen und Ba- an die Brust: „Ich bin in dem Film! In einer höre den Fluss gar nicht mehr. mit Sack und Pack und Vieh. Und genau wie lanceakten abgetrotzt werden muss. Als die Bie- Szene habe ich mich selbst gespielt! Die ganze Duman ist ein Hemşinli, Angehöriger einer im Film lebte die Familie zu einem Gutteil nen sich rar machen, muss der Imker im Film in Crew hat bei mir gegessen und getrunken!“ Für ethnischen Minderheit, um deren Geschichte vom Teeanbau. Bis heute werden die hoch ferne Wälder wandern. Sehnsüchtig wird seine einen Augenblick sieht Herr Bekiroğlu aus wie und Kultur sich viele Geheimnisse ranken. Ihre gelegenen Teefelder der Hemşinli von den Rückkehr von Frau und Sohn erwartet. ein türkischer General, der von einer Schlacht Wurzeln sind nicht genau erforscht. Fest steht, Frauen gehegt und abgeerntet. Kleine hand- Das Kaçkar-Gebirge ist berühmt für diesen erzählt. Im Film sieht man ihn freundlich grü- dass die Hemşinli Türken armenischer Prägung betriebene Seilbahnen bringen mit hellgrünen Honig. „Heutzutage stellen die meisten ihre ßend vor seinem Laden sitzen, während Yusuf sind. Obwohl sie zum Teil schon vor Jahrhun- Blättern gefüllte Säcke ins Tal. Bienenstöcke vor den Häusern auf“, sagt Idris vorbeischlendert. Die Szene dauert etwa fünf derten vom Christentum zum Islam konver- Am Morgen nach der Ankunft führt Duman Duman. „Da werden die Bienen mit Zucker Sekunden. Aber es ist ein Auftritt. tierten, haben sie sich nie ganz der muslimischen die Besucherin nach Yeşim, ins Dorf seiner gefüttert.“ Der echte Waldhonig hingegen sei Und was ist mit Boran Ataş, dem kleinen Umgebung assimiliert. Im Fırtına-Tal sprechen Kindheit, auf einen der Hügel über dem Fluss. sehr rein und daher sehr teuer. Am nächsten Hauptdarsteller von Bal? Angeblich soll er in die Hemşinli einen türkischen Dialekt mit ar- Es ist ein melancholischer Gang. Die meisten Morgen bringt Duman ein Schälchen der einem Dorf ganz in der Nähe wohnen. Am menischen Lehnwörtern. Noch heute tragen Häuser stehen leer und modern in stolzer goldbraunen Kostbarkeit an den Frühstück- nächsten Morgen sind wir schon im Auto un- ihre Frauen auch im Alltag eine farbenfrohe, mit Schönheit vor sich hin. Ihre Eigentümer sind stisch. Es ist, als schmecke man den Wald. terwegs nach Konaklar, ein paar Flussbiegungen Pailletten und Perlen bestickte Tracht. fortgezogen, nach Istanbul oder Ankara. „Frü- Heute führt die Suche nach den Filmbildern weiter. Dort hat Duman den Jungen, dessen Ihre Dörfer bauten die Hemşinli auf den her war eine Stadt wie Ankara die Zukunft“, in die Höhe. Auf zweieinhalb, dreitausend rührendes Gesicht einen ganzen Film trägt, umliegenden Hügeln über dem Fluss. Wie sagt Duman auf dem engen Weg zwischen Metern liegen die Hochtäler und Plateaus, in kürzlich auf einem Fußballplatz gesehen. riesige Schweizer Almhütten thronen die ge- Häusern und Hang, „das hat sich geändert.“ deren spröder Weite die Hemşinli früher die In Bai spielt Ataş ein schweigsames Kind, das räumigen, mit schwungvollen Schnitzereien Er hält einen kleinen Vortrag über die Back- Sommermonate verbrachten. Die Alm, auf in der Schule stockend vorliest und sich nur flü- verzierten Holzhäuser über den waldigen Tä- tradition der Hemşinli, die ihre honigsüßen der Semih Kaplanoğlu einige Szenen von Bal sternd mit seinem Imker-Vater unterhält. In der lern, aus denen immer wieder Nebel aufsteigt. Kuchen in die ganze Welt exportierten. Über drehte, heißt Elevit und wird immer noch be- Wirklichkeit des Fırtına-Tals sehen wir einen Auch Yusuf, der fünfjährige Held von Bal lebt seinen Großvater, der in Moskau eine Kondi- wirtschaftet. Endlos schlängelt sich der Weg verschwitzten Bengel, der gerade laut jubelnd mit Vater und Mutter in einem solchen Haus. torei besaß. Doch wegen der Industriebäckerei einen langen Bergrücken empor. Der Unter- sein drittes Tor schießt. Nur widerstrebend lässt Abends, wenn die kleine Familie zum Essen sei diese Kunst heute weniger gefragt. boden des Mietwagens ist gar nicht erfreut sich Boran Ataş an der Hand des alten Mannes zusammenkommt, ist die Leinwand erfüllt von vom Bolzplatz ziehen. Die Begegnung mit der der Gemütlichkeit knarrender Dielen und des deutschen Presse ist kurz, aber klar. Auf die ein- prasselnden Ofenfeuers. zige Frage, wie es ihm in Deutschland, in Berlin, Das Haus, in dem der Film gedreht wurde, Das Haus, in dem gedreht wurde, ist unbewohnt, auf den Filmfestspielen gefallen habe, antwortet liegt nicht weit vom Hotel. Es ist unbewohnt, der Kleine: „Das Essen war schlecht.“ der Garten verwildert, die Tür verrammelt. der Garten verwildert, die Tür verrammelt... Wahrend der Rückfahrt zur Herberge sagt Aber unten, im Erdgeschoss, kann man den Idris Duman: „Wie schön wäre es, wenn die Kuhstall betreten. In der Ecke liegt ein Joch, seit Kinder im Tal blieben.“ Er träumt von einem Jahrzehnten unbenutzt. Bilder aus Bal schieben maßvollen Tourismus, der die Region beleben sich vor die Leere. In diesem Stall umarmt der Vor Dumans Geburtshaus treffen wir eine über die Stein- und Schotterstrecke. Auch die soll. Tatsächlich ist das Kaçkar-Gebirge mit sei- von der Schule enttäuschte Yusuf eine Kuh. Gruppe von Frauen in Hemşinli-Tracht. Eine Tankuhr beginnt irgendwann zu protestieren. nen Almen, Bergpässen, Gletscherseen, Fluss- Auch Idris Duman wurde in einem sol- stickt, die anderen tratschen. Weggezogene Fa- Wie gut, dass ein freundlicher Ladenbesitzer läufen und Hochdörfern touristisch kaum chen Haus geboren. Wenn der alte Mann milienmitglieder auf Urlaub bei der alten Ver- aus der Tiefe eines Schuppens einen wohlge- erschlossen. „In den Häusern der Väter und mit jungenhaftem Lächeln von der Mühsal wandtschaft. „Die Jungen werden irgendwann füllten, von Spinnweben überzogenen Benzin- Großväter kann man wunderbar wohnen“, des Schulwegs spricht, vom leeren Bauch auf begreifen, dass sie hierher zurückkommen kanister herbeischleppt. sagt Duman. »Die Regierung müsste den dem Rückweg, muss man an den großäugigen müssen“, sagt Duman. Es klingt hoffnungsvoll. Die Nebelfelder werden dichter, die Vegeta- Rückzug fördern!“ Aber welche Familie will kleinen Helden aus Bal denken. Genau wie Aber wer ist schon so jung wie dieser 80-Jäh- tion wird spärlicher, die Luft dünner. An den heute noch wie in Bal leben, mit Holzofen, Yusuf wanderte der kleine Idris allmorgend- rige, der mit Mitte 50 wieder in die Heimat Wegbiegungen gibt es Ausblicke auf endlose Kühen und Hühnerstall? Und so sehr Semih lich vom Berg ins Tal, zur Schule. Eine Stunde kam und dort eigenhändig ein Hotel baute? blumengesprenkelte Talfluchten. Wie eine In- Kaplanoğlu diese Landschaft in seiner Kind- hin, eine Stunde zurück, bei Hitze und Regen, Zurück ins Tal geht es durch den Wald, über sel im Nebel liegt der Ort Elevit in der Höhe. heitsparabel feiert, geht er doch nicht so weit, Schnee und Eis. „Wir wollten einfach lernen“, Bachläufe, wieder vorbei an Teefeldern. Das Eine christliche Kirchenruine. Ein Café, in eine verschwindende Lebensweise zu verklä- sagt Duman, „deshalb war uns der Weg völlig Grün dampft, es ist schwül. Es scheint, als hät- dem Männer seit hundert Jahren bei Tee und ren. Bal offenbart sich durchaus als fragiles, von egal.“ In der zeitlosen parabelhaften Gegen- te man einen deutschen Wald in subtropische Backgammon zu sitzen scheinen. Ein Laden, vornherein bedrohtes Sehnsuchtsbild. wart von Bal verströmt der Schuljunge Yusuf Gefilde verpflanzt. Seine Vegetation wirkt ver- in dem von Schokocreme über eingelegte „Man kann die Häuser auch an Touristen einen ähnlichen Stoizismus. traut. Aber er ist gefüllt mit anderen Mythen, Gurken bis zu Pflastern alles für Ausflügler und vermieten«, sagt Duman. „Man kann sie mo- Folgt man den Lehmwegen, die immer wie- Geschichten, Lebensformen. Und da, an einer Bergwanderer zu haben ist. dernisieren, reparieren. Wir sollten das Erbe der von kleinen Bächen durchbrochen sind, Wegbiegung, hängt eine Art Holztonne in Der Besitzer ist ein etwa 80-jähriger Mann erhalten!“ Das Gegenteil seiner Vision findet hinab ins Tal, erlebt man die wilde Schönheit einem Baum. Ein Bienenbehälter. Ein Bild aus mit verschmitztem Gesicht. Sein Name, Ziya ein Tal weiter im nahe gelegenen Ayder statt. und Ruhe der Landschaft. Man bekommt aber dem Film. Auch in Bal-Honig hängt der Vater Bekiroğlu, prangt an der Ladenfront. Gemein- Bis vor Kurzem war der Ort noch eine ver- auch eine Ahnung von der täglichen Anstren- seine hölzernen Bienenstöcke in hohen Bäu- sam mit einem Bekannten lädt Herr Bekirog- schlafene Alm mit Thermalquellen. Jetzt wird gung der Kinder beim Gang zur Schule. men auf, dreißig, vierzig Meter über dem Bo- lu zum Tee. Als die Rede auf die Dreharbeiten Ayder von türkischen Ausflugsbussen über- StadtkinoZeitung Semih Kaplanoğlu, „Bal – Honig“ 03 rollt, deren Passagiere einen kurzen Blick auf die alpine Idylle werfen. Schneller Besuch und schnelles Geld. In Ayder wurde und wird un- Kommentare des Regisseurs und kontrolliert gebaut, ohne auf Straßenanschlüs- se und Abwasserentsorgung zu achten. „Ayder ist eine Katastrophe“, sagt Idris Duman. ‚ Das Fırtına -Tal schlitterte vor ein paar Jahren Schriftstellers Semih Kaplano lu nur knapp an einer anderen Katastrophe vorbei. ğ Durch ein geplantes Staudammprojekt wäre die einmalig schöne Landschaft beinahe zerstört DIE YUSUF-TRILOGIE wir in Bal/Honig klar sehen, dass er mit sei- von Kraftwerken zerstört werden. Das ist ein worden. Zum Glück gelang es einer Bürgerbe- Bal/Honig ist der dritte Film meiner Yusuf- nem Vater lebt und eine starke Beziehung zu Problem, das möglichst schnell in den Griff zu wegung, das Projekt zu stoppen. Vorerst. Trilogie. Die Idee dazu entstand beim Über- ihm hat. Der springende Punkt ist, wie Yusuf bekommen ist. „Der Plan war dumm, dumm, dumm“, sagt arbeiten eines Drehbuchs, das ich vor langer die spätere Abwesenheit des Vaters erlebt und Duman. Man merkt, wie sehr ihm die Em- Zeit geschrieben hatte und das die Geschichte wie er irgendwie Ersatz für ihn findet. Aus YUSUFS STOTTERN pörung noch in den Knochen steckt. „Der Yusufs als junger Student behandelt, die ich in psychoanalytischer Sicht könnte der frühe Als er in die Schule kommt, lernt Yusuf lesen Mensch braucht das Land, die Erde, die Natur. meinem Films Süt/Milch erzähle. Während ich Verlust des Vaters Yusuf dazu gebracht haben, und schreiben. Wenn er mit seinem Vater allei- Alles andere kann man kaufen. Man kann auch an der Figur des Yusuf arbeitete, begann ich sein Verhältnis zur Autorität über die Mutter ne ist, gelingt ihm das Lesen, indem er alle Sil- Elektrizität kaufen oder in kleineren lokalen mir Gedanken über die Zukunft dieses jungen zu entwickeln, siehe Süt/Milch. Vielleicht ist ben langsam ausspricht, aber in der Klasse wird Anlagen produzieren. Aber diese Natur hier, die Mannes als Erwachsener (Yumurta/Ei) und sei- darin der Grund für seine Zerbrechlichkeit, er nervös und stottert. Als ihn seine Freunde kann man nicht kaufen. Also muss sie bewahrt ne Vergangenheit als junger Knabe (Bal/Honig) Introvertiertheit, Unentschlossenheit und hänseln, zieht er sich zurück in Schweigen und werden!“ Das versucht Idris Duman. Genauso zu machen. Daraus entwickelte sich die Idee schließlich seine Wiederentdeckung zu se- Einsamkeit. So wie er in Süt/Milch nicht zum wie die junge Özlem Erol, die in Çamlıhemşin der Trilogie. Ich fing dann mit Yumurta/Ei an, hen, wie sie in Yumurta/Ei gezeigt werden. Militärdienst zugelassen wird, ist sein Versagen das Café Mòyy mit Gästezimmern eröffnet vielleicht weil ich die Figur langsam heraus- Aber all diesen psychologischen Aspekten beim lauten Vorlesen vor seinen Klassenkame- hat. Es wirkt wie eine kleine Lounge-Oase im schälen und zu ihrem Kern vordringen wollte. schenke ich in meinen Geschichten keine raden in Bal/Honig ein Wendepunkt für Yusuf. Fırtına - Tal. Neben gutem Kaffee, Wodkacock- Man hat mich gefragt, ob die drei Yusuf-Fi- Beachtung. Ich versuche, die Situation auf Eine Auszeichnung für gutes Vorlesen ist für tails und Beerenlikören gibt es hier ökologische guren ein und dieselbe Person sind. einer spirituelleren Ebene zu zeigen. Anstatt einen Erstklässler sehr wichtig. Hier zu versa- Produkte aus der Umgebung. Irgendwann habe Ich ziehe es vor, darauf nicht zu antworten, unsere Existenz im Labor der Psychologie zu gen und von seinen Klassenkameraden ausge- sie es in Ankara nicht mehr ausgehalten, sagt um die Geheimnisse der Figur, die direkten analysieren und das Leben in Beziehungen lacht zu werden führt Yusuf dazu, sich in sich Erol, während sie hinter der Theke einen Ku- und indirekten Bezüge zwischen den Filmen, von Ursache und Wirkung einzuschließen, selbst zurückzuziehen und in der Folge eine chen mit Obst belegt. „Ich brauche die Stille, ihr Rätsel nicht aufzulösen. versuche ich, mich auf eine größere Macht zu starke Beziehung zu Wörtern und Dichtung den Fluss.“ Sie ist mit Bauern und Bergführern beziehen. Ich würde die Yusuf-Trilogie lieber zu entwickeln. vernetzt, die sich für einen schonenden Touris- EIGENE ERFAHRUNGEN mus einsetzen. Idris Duman sei ein guter Freund Als ich die Figur des Yusuf entwickelte, habe von ihr, sagt sie. Aber er sei zu allein. Er brauche ich auch auf Erfahrungen aus meiner eige- junge Leute um sich, die denken wie er. nen Vergangenheit zurückgegriffen. Auch für Bal/Honig diente meine eigene Kindheit als Bezugspunkt. Meine Probleme und Nöte in der Schule, als ich lesen und schreiben lernte; Man entdeckt eine meine Fragen, die von den Erwachsenen un- beantwortet blieben; das Erleben der Natur Natur, die sich nahtlos in ihrer Grausamkeit und ihrem Reichtum... In gewisser Weise formt ein Kind seine Per- mit den Kinobildern sönlichkeit, während es mit Neugier die Welt erkundet. Ein zufälliges Missverständnis, das zu verbindet. naiven Fehlern, Träumen, Freuden und Nöten führt, hilft ihm, die Wahrheit zu entdecken. Ich hoffe, Bal/Honig erlaubt es uns, Yusufs Wahr- Was wird diese jungen Leute erwarten? Und heit zu entdecken. wie übersteht man die langen, schneereichen Winter des Kaçkar -Gebirges? Wahrend der KEIN GEWÖHNLICHER ORT kalten Monate arbeitet Özlem Erol als Mode- Für Yusuf und seinen Vater Yakup stellt der designerin in Istanbul. Im Sommer kehrt sie in Wald einen märchenhaften Ort dar, der viele die Landschaft ihrer Jugend zurück. Auch Du- Geheimnisse birgt. Der Wald ist ein magisches mans Hotel ist im Winter geschlossen. Er selbst Reich, in dem sie verschwinden und aus dem Spiritualität und Alltag: „Bal“. lebt dann in Ankara und Istanbul. sie wieder auftauchen. Es ist kein gewöhnlicher Schon merkwürdig. Man folgt einem Film an Ort, zu dem sie gehen und der die Grundlage aus der Perspektive des Propheten Jakob und DIE VERWANDLUNG einen Ort, der genauso und doch ganz anders ist. ihres Lebensunterhalts ist. Er stellt eine andere des Propheten Yusuf analysieren, deren Träu- VON BORA IN YUSUF Man entdeckt eine Natur, die sich nahtlos mit Welt dar, mit riesigen, alten Bäumen, mit ge- me auch von der Perspektive von Hoffnung Während der Dreharbeiten von Bal/Honig war den Kinobildern verbindet, und die Spuren ei- heimnisvollen Geschöpfen wie dem Esel und und Furcht bestimmt sind. Bora Altaş sieben Jahre alt. Er hat einen ganz ner Lebensform, die fast verschwunden ist. Über dem Falken, die sie in den Wald begleiten. Es anderen Charakter als der Yusuf, dessen Ge- allem schwebt der kleine Yusuf auf seinem Schul- war nicht leicht einen Ort zu finden, an dem SCHWARZMEERKÜSTE schichte ich geschrieben hatte, er ist sehr kon- weg, in der Zeitlosigkeit des Filmbildes. Und ir- es diese hohen, mächtigen, stämmigen Bäume Wir haben Bal/Honig in der Gegend der klei- taktfreudig. Er musste also tatsächlich jemand gendwo dazwischen sitzt Idris Duman auf seiner gibt, und der sowohl für das Aufstellen von nen Stadt Çamlihemşin gedreht, in der Pro- anderen spielen. Wir arbeiteten hart, mit groß- Veranda, in der Abenddämmerung am tosenden Bienenstöcken wie auch für die visuelle Welt vinz Rize an der Schwarzmeerküste im Nord- er Geduld. Ich erklärte ihm den Yusuf in Bal/ Fluss. Duman der einst wie Yusuf war und heute geeignet war, die ich in Bal/Honig schaffen osten der Türkei. Der Grund, in diese Region Honig Szene für Szene, so gut es mir möglich auf die Jugend von morgen wartet. Man wünscht wollte. Wir haben in verschiedenen Wäldern zu gehen, liegt in ihrer Natur; nur hier habe war. Wir entwickelten eine starke Bindung, die ihm sehr, dass er sie noch kommen sieht. • gearbeitet, vor allem in solchen, in denen seit ich die Wälder gefunden, nach denen ich ge- auf Vertrauen beruhte. Ich kann sagen, dass ich Jahrhunderten Bienenstöcke aufgestellt wer- sucht hatte. Die geografischen Gegebenheiten letztlich so mit ihm gearbeitet habe, wie ich es Der vorliegende Bericht erschien erstmals im den. Sie waren 30 bis 40 Kilometer voneinan- dort haben uns allerdings beim Drehen sehr zu mit erwachsenen Schauspielern tue. Ich habe Reisefeuilleton der „Zeit“. der entfernt, auf verschiedenen Höhen weit schaffen gemacht, vor allem bei den Waldsze- selbst viel gelernt bei dem Versuch, bei einem über dem Meeresspiegel und mit einem unge- nen. Mit den Fahrzeugen konnten wir nur bis so kleinen Kind die Konzentration auf seine heuren Reichtum an Baumarten. zu einem bestimmten Punkt kommen, dann Rolle herzustellen. Da ich selbst keine Kinder Semih Kaplanoğlu mussten wir aussteigen und mit der gesamten habe, fehlte mir die Erfahrung. Der Enthusias- Bal / Honig YAKUP DER IMKER Ausrüstung zu Fuß bis zum Drehort marschie- mus und das Engagement Boras und der an- (Türkei / Deutschland 2010) Yakup, Yusufs Vater, ist ein Imker, der den für ren, der ziemlich weit entfernt lag. Drehen deren Kinder wird mir immer unvergesslich die Region besonderen schwarzen Honig mussten wir dann an einem ziemlich steilen bleiben. Regie Semih Kaplanoğlu erntet, eine der erlesensten Honigsorten der Ort, wo man kaum stehen konnte. Zudem ist Drehbuch Semih Kaplanoglu, Orçun Köksal Welt. Dieser therapeutische Honig ist für die das Wetter an der Schwarzmeerküste sehr un- SPIRITUELLER REALISMUS Darsteller Bora Altaş, Erdal Beşikçioğlu, Bewohner der Region die Essenz einer alten vorhersehbar. Oft wechseln Regen, Sonne und Ich habe während der Arbeit an den drei Fil- Tülin Özen Welt, unberührter Natur und heiligsten Wis- Nebel innerhalb einer Stunde, was uns etliche men der Yusuf-Trilogie in den vergangenen Kamera Baris Ozbicer sens. Er wird von einer immer weiter schwin- Schwierigkeiten bei den Anschlüssen inner- Jahren viel gelernt und erfahren. Es war ein Schnitt Ayhan Ergürsel, Semih Kaplanoğlu, denden Zahl von Imkern produziert; Yakups halb der Szenen bereitet hat. Prozess, der mir dabei geholfen hat, meine S. Hande Güneri Handwerk wird bald ausgestorben sein. Zu Vorstellungen vom Filmemachen weiter zu Musik Tobias Fleig dieser harten Arbeit gehört auch das Aufhän- DIE KINDHEIT entwickeln, einen Stil, den ich versuchsweise Ton Matthias Haeb gen der speziell gefertigten Bienenstöcke in DER MENSCHHEIT „Spiritueller Realismus“ nenne. Produktion Kaplan Film Production den schwindelerregend hohen Baumkronen Wenn wir die moderne Zeit als das Erwach- Einen Film zu machen bedeutet, sich durch und Heimatfilm in den Gebirgswäldern. Dieser Beruf ist eben- senenalter der Menschheit begreifen, dann den Spiegel dieses Films selbst zu entdecken, Verleih Stadtkino Filmverleih so anstrengend wie gefährlich. kann ich sagen, dass die Orte, an denen wir sogar sich zu definieren. Das gilt nicht allein Länge 103 Min. Yusufs Bewunderung für seinen Vater hat Bal/Honig gedreht haben, noch die Kindheit für den Regisseur, sondern für jeden im Team. Technik 35mm / Farbe / 1:1,85 sicherlich viel mit dieser ungewöhnlichen der Menschheit erleben. Wir arbeiteten in Meine Mutter zum Beispiel stellte beim Haus Fassung Türkische Originalfassung mit Arbeit zu tun. In meiner Sicht der Dinge hat Bergdörfern, die bald ganz verlassen sein wer- in Yumurta/Ei große Ähnlichkeiten zu un- deutschen Untertiteln diese Arbeit viel mit Yusufs späterer Tätigkeit, den von den Menschen, die bis heute noch serem Haus fest, in dem ich meine Kindheit Auszeichnungen Goldener Bär 2010 für den der Dichtung, zu tun. versuchen, nach der alten Tradition zu ar- verbracht habe. Sie fing an zu erzählen, Details, besten Film beiten, unter Bedingungen und Regeln, die über die wir nie gesprochen hatten, Famili- DAS FEHLEN DES VATERS von der Natur bestimmt werden. In diesen engeschichten, die ich nicht kannte – einige Ab 3. September 2010 Wir können nicht sagen, dass es für Yusuf in Gegenden können wir beobachten, wie die davon habe ich später in Süt/Milch und Bal/ im Stadtkino am Schwarzenbergplatz der Yusuf-Trilogie keine Vaterfigur gibt, da natürlichen Wasserressourcen durch den Bau Honig verwendet. • 04 In memoriam Christoph Schlingensief StadtkinoZeitung „Erinnern heißt: Vergessen“ .. schrieb zuletzt Christoph Schlingensief. Dennoch wird - auch im Stadtkino - der Dialog mit ihm weitergehen. Ein ganz persönlicher „Nachruf“. CLAUS PHILIPP

hese days I seem to think about / How all the changes came about my Tways.“ – Nico auf YouTube in der Endlosschleife. Dazu Lektüre in den letzten Blogs auf www.schlingensief.com: Videoclips von Bestrahlungstorturen, Bilder aus dem Operndorf in Afrika, Einträge wie: „denke an die anderen, die dich ertragen müssen. die ha- ben mehr hölle auf erden als erlaubt ist. die müssen nicht nur deine chaotische art ertragen oder deinen großen pessimismus! nein, diese leute sehen jemanden, der sich schon auf dem abschiedsweg befindet. und der dann so redet, als müsse er nun halbwegs erträglich bleiben, damit er in guter erinnerung bleibt. dazu wür- de ich gerne später mal mehr schreiben. mal schauen, wann das geht. es geht nicht immer alles, wenn ich will.“ Finstere Tage. Dennoch das sture Gefühl, dass der Dialog mit Christoph einfach weiter geht. Weil es eine Schande wäre, wenn da et- was „abreissen“ würde. Selbst, wenn die Stör- geräusche im Hintergrund zunehmen, so wie im letzten, im allerletzten Eintrag, in dem je- der Rechtschreibfehler Wunde und Rettung zugleich ist. Keine Ahnung, ob Christoph sich noch ein weiteres vorletztes Fläschchen Wein genehmigt hatte oder ob er im Kopf ein wenig atemlos war, als er schrieb: „DIE BILDER VERSCHWINDEN AUTOMA- TISCH UND ÜBERMALEN SICH SO ODER SO! ERINNERN HEISST: VER- GESSEN! (Da können wir ruhig unbedingt auch mal schlafen!)“ Patti Smith betrachtet in Namibia eines ihrer Polaroids von Christoph Schlingensief. Foto: C.P. Überwach bis zum letzten „und“ und ohne Punkt am Ende: „Wie lange war es still... can Twin Towers“ vorantrieb, das hatte zu- geblieben. Wie in einem dieser trashigen Hor- Christoph, als ich ihm das ausrichtete, „super, lange stiill. stoße jetzt nach ca. 3 wochen nehmend etwas Quälendes. So als würde er rorfilme, in dem plötzlich ein Haus, in dem danke, das machen wir.“ auf das letzte video hier. habe ich gleich ge- mit jedem weiteren Bild, jeder weiteren Sze- der Held von mehreren Untoten umringt ist, Wer stieg also an besagtem Abend mit ei- löscht. wen soll das das interessieren? viel- ne diesen Film weiter verunmöglichen und keinen Ausgang mehr hat. ner riesigen Kamera, samt Kamerafrau, samt leicht sind solche vidoeblogs oder einträgen kaputt machen. Aber das ist nur die halbe Geschichte, oder Megastativ, Tonarm, Riesenmikro, Schein- nur dann von intererrägen, wenn die angst Ich verbinde diese Zeit noch heute mit ei- richtiger: Es ist nur eine Facette einer Ge- werfer vor Jelineks Haus aus dem Taxi, und zu gross wird. die angst, weil diese kleine il- ner großen Anspannung, Ermüdung, Desori- schichte, die immer weiter erzählt werden wird schmetterte der erbleichenden Dichterin ein lussion von --- aber nun nach den knapp 4 entierung, Melancholie. Es war im weiteren und in der Christoph weiterhin hier unter uns fröhliches „Hallo, da sind wir also!“ entgegen? wochen scheint es anderes zu sein. die bilder nur logisch, dass die folgende große Burg- sein wird und in der man sehr viel auch über Christoph. An die gewünschte reduzierte Le- (ixen) sich aus... da ist ja kein sentimentaler theaterinstallation AREA 7, die ursprünglich Heiterkeit und Großzügigkeit und „Durch- sung war nicht zu denken. Jelinek wurde an schmerz. die bausupsanz ist erstaunlich gut... als szenische Adaption von Bachs „Matt- geknalltheit“ (Fritz Ostermayer, „Im Sumpf“) die nächste Wohnzimmerwand gedrängt, mit und nun? wieder ein neues bild? wieder infos häuspassion“ angekündigt gewesen war, zu erzählen kann. Licht angeknallt, und von Christoph mit der zu neuen dingen, die ,...... ja eigentlich was einem finster irrlichternden Labyrinth, zu Meine Lieblingsepisode aus der AREA 7 Kamera in Minimaldistanz umkreist, als wäre ?..... alles sehr oberflächlich und rechtschrei- einer Abhandlung über einen beständig su- geht so: Eine Schutzgöttin auf der (Irr-)Fahrt sie ein sehr seltener Tiefseefisch. „Anspan- befehler häufen sich die dinge .... das baut chenden und gleichzeitig abgelenkten Blick nach Namibia war, neben Patti Smith, Elfrie- nung“ war für diese Situation ein drastisch läufz seit tmc auf. der appetetit läßt rasant geriet. Mochte man ihm auch die gesamte de Jelinek. Großzügig wie immer hatte sie harmloser Begriff, alles, was ich Jelinek ver- nach. - ARD- TATORTREKA7 ...(warum luxuriöse -Maschinerie zu Fü- Christoph einen hochkomplexen Text für die sprechen hatte müssen, war nicht eingelöst. werde ich icht nicht denn nicht wenigstes ei- Ich saß da auf einem der im Wohnzimmer ner meiner halbwegs siution normalererenen herumstehenden Designerplastikstühle und situatuin aufgeklärt. so macht es mich nur versuchte einfach unsichtbar zu werden, bis, ja, traurig, piasch und“ Es war damals viel von der Frage die Rede, bis eben dieser, ganz gewiss mit sehr viel Lie- Die Bilder ixen sich aus. Die letzte Geste: be und Kenntnis ausgesuchte Designerplastik- ein zarter Hieb auf die Löschtaste. Und wel- was das bedeuten könne: „Ins eigene Bild stuhl unter meinem Hintern mit einem lauten che Bilder bleiben dann übrig? Christoph, Knall explodierte. wie er in Island gemeinsam mit Klaus Beyer treten“. Sich dem, was man da angerichtet Die Selbstdisziplin und die Grandezza, die gegen einen Strauss und einen Wäschetrock- Jelinek bei der Lesung gezeigt hatte, wich ner kämpft. Die letzten Hobbits. Unheilbar hatte, selbst auszusetzen... blanker Fassungslosigkeit. Später meinte sie: verwundet. Abfahrt in die Grauen Anfurten. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Ja, heult nur. ein älterer und weniger geistesgegenwärtiger Das vorliegende Photo ist mir passiert: Patti ßen legen: Christoph konnte darüber nicht Reise geschrieben und mitgegeben, und als es Mensch auf diesem offenkundig längst ka- Smith begutachtet ein Polaroid, das sie gerade „meisterlich“ triumphieren. Er konnte nur nun später am Burgtheater darum ging, dass putten Stuhl gesessen wäre. Ich wiederum in einem Slum ausserhalb von Lüderitz/Na- ausstellen, wie sehr ihn dieses ganze Theater, dieser Text – sein Titel: „Parsifal: (Laß o Welt o muss unglaublich schuldbewusst dreingesehen mibia, der sogenannten AREA 7, gemacht hat. die Welterklärungssicherheit (Afrika!), die Schreck laß nach)“ – auch nur irgendwie Ein- haben, denn was tat Christoph? Er begann laut Man sieht auf meinem Bild die grauenhafte guten Texte und die richtigen Bilder und die gang ins Bühnengeschehen finden sollte, da zu lachen und sagte: „Jetzt schau bitte nicht Armut nicht, die dort quasi strikt geometrisch selbstsicheren Rufzeichen zweifeln und ver- befand Christoph nach langem Hin und Her, so, als ob etwas Schlimmes passiert wäre.“ Der in Form von Blechwohncontainern ins san- zweifeln ließen. dass eigentlich nur eine ihn wirklich adäquat Abend war gerettet. Auf einem Gruppenfoto, dige Niemandsland verwiesen und abgescho- Es war damals, auch weil Christoph sich in- lesen kann. Nämlich selber. Er das noch irgendwo in meinen Papierbergen ben worden ist. Also wirkt der Mann, der da tensiv mit seinen begehbaren Filmdrehbüh- wolle sie dabei filmen. Und ich, vorher „em- herumkugeln muss, sehen wir alle, inklusive auf ihrem Photo ein Tau über eine Bootsre- nen, den Animatographen beschäftigte, sehr bedded journalist“ in Namibia und jetzt dra- Elfriede Jelinek, so aus, als hätten wir viel Spaß ling wirft, erst recht aus der Zeit und aus dem viel von der Frage die Rede, was das bedeu- maturgischer Kollaborateur, sollte mit ihr dafür gehabt. Haben wir. Raum gefallen: Christoph. ten kann: „Ins eigene Bild treten“. Was soviel einen Termin bei ihr zuhause ausmachen. These days... Wie schrieb Patti Smith in Es ist nicht auszumachen, ob er mit dem bedeuten mochte wie: Sich nicht nach voll- Wer sich halbwegs ausmalen kann, welches einem Lied, das sie für Christoph geschrieben Tau etwas festzurren will, oder ob er jetzt die endeter Produktion feist vor die Leinwand, Unbehagen bei Elfriede Jelinek Besuche hat und das sie hoffentlich irgendwann einmal letzten Leinen kappen und quasi auf offene Bühne, Galerienwand zu flätzen und Applaus und/oder Ton- und Bildaufnahmen auslösen, auf einem Album veröffentlichen wird: „We See hinaustreiben wird. Auch wenn er in der aus den Vorder- und Hinterreihen zu kassie- ahnt: Das Unternehmen war schnell an Be- rose as children / To climb a ladder of gold Wüste festsitzt. Aber (und deswegen finde ich ren, sondern sich dem, was man da angerich- dingungen geknüpft. Erstens sollte der Be- / Our ship shall see no river / Yet hope shall wohl auch, dass mein Bild „stimmt“) diese tet hat, wirklich selbst auszusetzen. Mit allen such nicht lange dauern, zweitens sollte vor hold“. • Unklarheit begleitete uns in diesen Wochen gewünschten und unerwünschten Nebenwir- allem der Dreh nicht lange dauern, drittens im Oktober 2006 in Südwestafrika fortwäh- kungen. Als gut ein Jahr später das Mail von bitte mit ganz reduziertem Equipment, also Der vorliegende Text erschien erstmals am 28. Au- rend: Wie Christoph da die Dreharbeiten zu Patti Smith kam, „Christoph is very ill“ – da am besten eigentlich nur mit einem klei- gust 2010 in der Reihe „Ein Mensch im Bild“ in einem Film mit dem Arbeitstitel „The Afri- war die erste Assoziation: Er ist in seinem Bild nen Diktiergerät, und so weiter. „Jaja“, sagte der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“. StadtkinoZeitung In memoriam Christoph Schlingensief 05 „Genial obszön!“ „In erster Linie bin ich Filmemacher“, sagte Christoph S. bis zuletzt: Highlights seiner Kinoarbeit zeigt das Stadtkino ab 17. September.

TUNGUSKA – Buch, Regie, Kamera: Christoph Schlingen- fer gefallen sind. Als plötzlich wahre Liebe Filmproduktion, Mülheim, Länge: 84 min, For- DIE KISTEN SIND DA sief, Script: Volker Bertzky, Schnitt: Eva Will, die Eiseskälte zu brechen droht, sieht der mat: 16mm, 1:1.66, Farbe, BRD 1986 Musik: Helge Schneider, Darsteller: Helge wahnsinnige Blaublütler buchstäblich rot. „Ein grossartiges Kinodebüt!“ DIE ZEIT Schneider, Volker Bertzky, Dietrich Kuhlbrodt, Um die Liebe im Keim zu ersticken, scheut 19. September 2010, 21.30 Uhr EGOMANIA Alfred Edel, Reinald Schnell, Anna Fechter, Joe er vor nichts zurück... „Alfred Edel in seiner besten Rolle!“ Bausch, Annette Bleckmann, Thirza Bruncken, In Egomania scheint die Harmonie in der DIE WELT Wolfgang Schulte, Länge: 81 min, Format: 35 Welt zerbrochen, alle Hoffnung gescheitert. MUTTERS MASKE mm (Super-16mm blow-up), 1:1.66, Farbe: s/w Wüst ist das Land, und die See geht hoch. „Chaotisch und gemein. „ FR Produktion: DEM Filmproduktion, Oberhausen Schlingensiefs wahnhaft dunkle Insel ohne „Helge Schneider, so ekelhaft wie nie zuvor! / Hymen II, BRD 1985/86 Hoffnung ist ein Dorado für Schimmelreiter. Sehenswert!“ Tip „Avantgardeforscher am Rande des Nerven- Schlingensief sagt: „Handle, wie dir dein Dä- zusammenbruchs. Ein Pärchen auf der Suche 18. September 2010, 21.30 Uhr mon vorschreibt.“ Und wir hören Schiller: „Exaltiert, durchgeknallt und in entschie- nach Benzin und Alfred Edel, der sie alle MENÜ TOTAL „Gehorcht dem Dämon, der Euch sinnlos dener, aber entscheidender Schieflage.“ fertigmacht.“ C.S. wütend treibt.“ Er zeigt drei schwarzver- DIE ZEIT mummte Frauen, die wie verzweifelte Tiere INHALT EGOMANIA - die Leiche eines Märtyrers ins Eis schleppen, „Helges Musik ist göttlich. Der Film teuflisch. Einem eigenen und eigenwilligen Filmver- INSEL OHNE HOFFNUNG und wir denken an die Hexen aus Macbeth. Das passt und bringt eine Menge Spass.“ ständnis verleiht Schlingensief erstmals 1983/84 Natürlich treiben auch Schlingensiefs Eis- SPEX mit der Trilogie zur Filmkritik Ausdruck. Sie „Udo Kier und Tilda Swinton: grandios!“ schollen nicht vom Ozean, sondern von Cas- trägt den bezeichnenden Untertitel „Film als CINEMA par David Friedrich auf uns zu, und als wir „Dallas und Lindenstrasse, Baudelaire und Neurose“ und besteht neben zwei Kurzfilmen auf einer Schrifttafel in schwarzen Lettern Visconti, Harlan und Fassbinder, alles gut aus Schlingensiefs erstem Langfilm - Tungus- „Schlingensiefs traurigster, romantischster lasen „Ein Schiff wird kommen“ war die durchgeschüttelt = Mutters Maske!“ FR ka - Die Kisten sind da (1984). Ein im Vorspann und komischster Film.“ Frage nur, in welcher Variante der Holländer- des Films verlesenes Manifest formuliert die Der Spiegel Mythos erscheinen wird. Schließlich klebte INHALT Absicht, neue Aspekte von Zeitgeist und Film- eine fliegende Holländerin am segellosen Seinen Hang zum Ausverkauf gängiger Fließ- sprache zu entdecken und zu erforschen. Es „Ein Oratorium voller Hass, Mast einer elenden Rostschüssel. Durch bandformate beweist Schlingensief mit Mut- gelte, die Hysterie um einen in die Jahre ge- Intrige und Mord.“ DIE ZEIT dieses Chaos der schiefen Zitate, unter- ters Maske (1988), einer freien Adaption des kommenen Neuen Deutschen Film aufzude- Films Opfergang (1944) von Veit Harlan. Unter cken und seine aus politischen und ästhetischen Verwendung von Motiven aus Baudelaires Utopien bestehende Maskerade zu erkennen. Blumen des Bösen zeichnet er das Drama ei- Schlingensief verspürt den Drang zum Han- ner im Ruhradel angesiedelten Familie nach. deln, verspürt „die verbrecherische Lust, einen Das verhasste Erzählkino führt Schlingensief Film zu machen“. Dementsprechend ist seine mit Mutters Maske ad absurdum, indem er des- Trilogie weniger eine Kriegserklärung an die sen Regelhaftigkeit selbst anwendet und über- Vertreter eines stringenten Erzählkinos als viel- beansprucht. Ein wichtiges Moment, auch für mehr eine Aufforderung zum Befreiungskampf Schlingensiefs spätere Theaterarbeit: Er macht gegen die Vorschriften des filmischen Realis- Bekanntschaft mit dem für ihn prägenden Stil- mus. Die unmündige Position des ausgeliefer- mittel der Affirmation. Durch eine freiwillige ten Zuschauers soll bewusst gemacht werden. Lächerlichkeit reduziert er seine Tragikomödie auf das Niveau einer Daily Soap. Buch, Regie: Christoph Schlingensief, Kame- ra: Dominik(us) Probst, Tricks: Norbert Schlie- Buch (mit Mathias Colli), Regie und Kamera: we, Christoph Schlingensief, Schnitt: Barbara Christoph Schlingensief, Schnitt: Thekla von Lamsfuß, Orgel: Christoph Schlingensief, Mülheim (= Christoph Schlingensief), Ariane Trommel: Baba Yoro Diop, Christoph Gerozis- Traub, Musik: Helge Schneider & Menu total, sis, Mathias Colli, Jugendorchesterleitung: Hatte Grabe, Wally Böcker, Charly Weiss. Wolfgang Dehnert, Darsteller: Irene Fischer, Gesang (Titelsong): Eva Kurowski, Darsteller: Mathias Colli, Anna Fechter, Alfred Edel, Vladi- Brigitte Kausch, Karl Friedrich Mews, Helge mir Konetzny, Norbert Schliewe, Volker Bertzky, Schneider, Susanne Bredehöft, Anna Fechter, Christopher Krieg (= Christoph Schlingensief) Volker Bertzky, Dieter Lersch, Andreas Kunze, Produktion: DEM Film, Oberhausen, Conny Jurkait, Regina Stiplosak, Annastasia BRD 1983/84 Kudelka, Baronin Irmgard Freifrau von Bers- wordt-Wallrabe, Conny Fechter, Doris Kreis, 17. September 2010, 21.30 Uhr Uli Hanisch, Peter Jurkait, Dennis Koehnen, TUNGUSKA - DIE KISTEN SIND DA Udo Kier, Produktion: DEM Filmproduktion, Mülheim / Hymen II, Länge: 85 min, Format: 16mm, 1:1.33, Farbe, BRD 1987/88 MENU TOTAL 20. September 2010, 21.30 Uhr „Sein bester Film!“ EPD Film MUTTERS MASKE

„Genial obszön!“ DIE ZEIT 100 JAHRE ADOLF HITLER „Die grösste Sauerei aller Zeiten!“ Christoph Schlingensief (1960 - 2010), Foto: Patti Smith Die letzte Stunde im Führerbunker Tagesspiegel Berlin INHALT stützt von dröhnenden Geräuschen aus der „Genial!“ FR Helge Schneider, der auch die Musik zum Fim Tilda Swinton und Udo Kier im ewigen Punkzeit taumelt Schlingensief dem Ende gemacht hat, in einem widerlichen Film. Auf Eis. Gedreht auf einer Hallig in der Nordsee. der Illusion entgegen. Rette sich, wer kann, „Scheisse!“ FAZ der Berlinale 1986 ausgepfiffen. Wim Wenders Wetterchaos. Liebesdrama Swinton/Schlin- vor gebildeten Exegeten. Denn erst auf der ging nach 10 Minuten. Alfred Edel kotzt sich gensief. Musik von Tom Dokupil und natür- Flucht vor den Zitaten findet man in die Be- „Gefährlich!“ TAZ durch den ganzen Film. „Mein bester Film!“ lich kein Geld. wegung des Films, in der alles zu Ende geht. C.S. Auf einer trostlosen Ostseeinsel herrscht Noch spannender wird sein, was auf das Pa- „Es gibt noch Filme, die dich aus der Kurve der unheimliche, vampirähnliche Baron Tan- thos dieser letzten Vorstellung folgt. (Helmut tragen, dich und den täuschenden Vorschein Schlingensiefs Filme sind vor allem Familien- te Teufel. Wo früher Friede und Freude das Schödel in: DIE ZEIT) von Ästhetischen und politischen, intimen und Geschichtsalben, in denen sich jede Men- Leben der Inselbewohner bestimmte, walten und historischen Gewissheiten.“ TIP ge Ballast angesammelt hat, den man nicht ent- nun Hoffnungslosigkeit und Zwietracht. Als Buch, Regie: Christoph Schlingensief, Kame- sorgen kann, weil niemand darüber sprechen plötzlich eine wahre Liebe die Tristesse seiner ra: Dominik(us) Probst, Schnitt: Thekla von „Schlingensief hat schon viele Filme gemacht, will. Gerade deshalb sind seine Figuren so sehr Insel „bedroht“, dreht der Baron durch... Mülheim (= Christoph Schlingensief), Beatrice die bei den Mitwirkenden und Zuschauern damit beschäftigt, zu brüllen, zu bluten, zu kot- Früher lebten die Menschen auf der trost- Hasler, Musik: Tom Dokoupil, Christoph Schlin- die Schmerzgrenze berühren. Die Banalität zen. Menu Total (1986) verzichtet auf eine kon- losen Insel in der Ostsee in Frieden und Par- gensief, Helge Schneider, Ella Johnson des Bösen, hier wird sie zum Ereignis.“ ventionelle Handlung. Wieder geht es darum, tylaune, doch nun hat Zwietracht und Hoff- Darsteller: Udo Kier, Tilda Swinton, Uwe P. W. Jansen, EPD FILM die narrativen Ketten seriengeschädigter Zu- nungslosigkeit Besitz von der Gesellschaft Fellensiek, Anna Fechter, Anastasia Kudelka, schauerwahrnehmung zu sprengen, ohne dabei ergriffen. Der Herrscher des winterlich ver- Volker Bertzky, Dietrich Kuhlbrodt, Wolfgang Ein Licht, ein Tag, ein Führer. In 16 Stun- dem als selbstgefällig empfundenen Ernst einer wehten Eilands ist der verdächtig an einen Schulte, Ark Boysen, Melf Boysen; Sprecher: den in einem Bunker gedreht. „Laß Sie Dir besserwisserischen Avantgardekunst und ihrer Vampirgraf erinnernde Baron Tante Teufel, Werner Funke, Anna Fechter, Christopher Krieg schmecken, die Nüsse der Russen! Du Nazi- strapaziösen Theorielastigkeit zu verfallen. dem schon einige junge Mädchen zum Op- (= Christoph Schlingensief), Produktion: DEM fotze!“ C.S. 06 In memoriam Christoph Schlingensief StadtkinoZeitung

„Neun Personen, fünf Männer, vier Frauen, nigung und eine gelungene Antwort auf die Schnell, Udo Kier, Produktion: DEM FILM mit Schlingensief den zeitweiligen Anschein ver- von einem Handscheinwerfer aus dem Dun- Langeweile des deutschen Films.“ RHEWES FILMPRODUKTION GMBH, Länge: passt, dass sie keine Zukunft haben werde. kel herausgezerrt, belauern sich. Wir sehen Süddeutsche Zeitung 63 min., Farbe, BRD 1990 Die 12O Tagen von Bottrop sind erwartungs- die letzte Stunde im Führerbunker. In knapp gemäß verwirrend - auch oder gerade für 16 Std. an einem Stück gedreht, in einem „Jetzt oder nie! Das richtige Geschenk zum 24. September 2010, 21.30 Uhr seine Figuren -, thematisch überladen, ex- Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg. l00 Jahre 10. Jahrestag der Wiedervereinigung.“ DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER zentrisch bis exzessiv, aber auch lustig. Ein Adolf Hitler zeigt Inzest und Intrigen, Getöse Spiegel Haufen ehemaliger Fassbinderakteure (Margit und Krawall, Drogen, Selbstmord, Blasphemie. Carstensen, Irm Hermann, Kurt Raab, Volker Hier wird endlich klar: Die Zeit der pädago- „Alfred Edel, der beste Metzger seit Erfin- DIE 120 TAGE VON BOTTROP Spengler) plant, den letzten neuen deutschen gischen Hitlerbeschwörung ist vorbei. Hitler dung der Schlachtplatte.“ Konkret DER LETZTE NEUE Film zu drehen - ein Remake des Skandal- wohnt gleich nebenan und zeigt die große DEUTSCHE FILM films Salo oder Die 120 Tage von Sodom von Geste und den Abgrund und das Lachen, „Wir sind das Volk! Von wegen! Pier Paolo Pasolini. wenn alles gut gegangen ist. Das größte Ihr ward das Volk!“ Die letzten Überlebenden der alten Fassbin- Nicht die Figur des Christoph Schlingen- Geheimnis der Menschheit, hier wird es zum Helmut Kohl der-Zunft tun sich zusammen, um auf dem sief, gespielt von Martin Wuttke, der zum Auf- Ereignis: Wir selbst!“ FAZ Potsdamerplatz den wirklich allerletzten nahmeleiter degradiert wird, sondern der mit INHALT Neuen Deutschen Film, ein Remake von Bundesfilmpreisen überhäufte Sönke Buck- INHALT Im Deutschen Kettensägenmassaker (1990) zeich- Pasolinis „120 Tage von Bottrop“ zu drehen. mann (Mario Garzaner) übernimmt die Re- Der 60-Minuten-Film l00 Jahre Adolf Hit- net Schlingensief die erste Stunde der Wie- Schlingensief soll Regie führen, wird aber gie. Seine optische Ähnlichkeit mit Fassbinder ler (1989) wurde an einem einzigen Tag ge- dervereinigung als ein nationales Schlachtfest von einem gewissen „Sönke Buckmann“ er- hangelt wie ein Omen über dem Projekt. Der dreht und kommt damit einer Live-Ereignis nach. Die Nachricht von der Maueröffnung setzt, dem prompt Katja Riemann den Bun- Produzent (V. Spengler), ständig in Kontakt schon ziemlich nahe. Charakteristisch für versetzt eine westdeutsche Metzgerfamilie in desfilmpreis überreicht. Eine Hommage an mit seinem Agenten (C. Schlingensief) in das Schlingensiefsche Cinema direct ist der einen schier hemmungslosen Blutrausch. In , an die Exzentrik Hollywood, ist bemüht, den Visconti-Akteur lieblos wirkende und dabei doch sehr präzise einer verwahrlosten Hotelküche meuchelt sie und den Wahnsinn einer längst vergangenen Helmut Berger für den Film zu engagieren. Schnitt. Er kennt keine fließenden Übergän- ehemalige DDR-Bürger dahin. Zeit. C.S. Der Versuch, an Zeiten des Aufbruchs anzu- ge, sondern prägt den andauernd bruchstück- knüpfen, gerät mehr und mehr außer Kon- haften Charakter der Filmhandlung. Diesen trolle. Die gebeutelten Figuren pendeln zwi- finden wir später - beinahe identisch - in schen Tragik und Komik: Schlingensiefs Theaterarbeiten, insbesondere Der AIDS-kranke Kurt Raab kommentiert auch in seinen TV-Shows (TALK 2OOO, U Margit Carstensens Bemerkung zum Erhalt 3OOO) wieder. des Iffland-Ringes, dieser werde jedes Jahr an Die Leinwand ist für das Dargestellte un- den besten Schauspieler weitergereicht, mit weigerlich zu klein; ungenügend groß wer- den Worten: „Das erinnert mich an meine den bald schon Bühnen und Fernsehstudios Krankheit.“; Produzent Volker Spengler be- sein. Spätestens seit l00 Jahre Adolf Hitler ist springt Komparsen, während Bundesinnen- das Überschreiten von Konventionen, von minister Kanther in einer Einspielung von der Wert- und Moralvorstellungen, das schnell Bundesfilmpreisverleihung Katja Riemann ins Peinliche und Entblößende entgleiten und Till Schweiger - Heroen deutscher Film- kann, beständige Thematik von Schlingen- kunst - huldigt; Irm Hermann liefert sich, in siefs (Film-)Arbeiten. Erinnerung an gute, alte Fassbinder-Zeiten, Bloßgestellt wird jedoch niemals der Ein- eine Schlammschlacht mit Margit Carsten- zelne, es ist immer die Gesamtheit der Men- sen… Christoph Schlingensief (M. Wuttke im schen - auf und vor (!) der Leinwand - als Gewand des Dornen gekrönten Jesus Chri- zufällige gesellschaftliche Auswahl. stus) verzweifelt an seinen organisatorischen l00 Jahre Adolf Hitler ist Schlingensiefs bis Unfähigkeiten; die größenwahnsinnige Leni dorthin wichtigster Film. Er bringt ihm seitens Riefenstahl taucht auf dem Kamerabock auf; seiner Fürsprecher den Ruf ein, „der letzte Irm Hermann mutiert angesichts dieses Um- deutsche Heimatfilmer“ (G. Seeßlen) zu sein, standes zu Lieselotte Pulver… Und alle fragen der mittels Brüskierung Aufruhr entfacht, um sich, ob und wann denn Helmut Berger am Harmonie und schließlich Heimat zu finden. Set eintreffe. Gleichzeitig hetzt Agent Schlin- Mit der Hitlerfigur, die von nun an häufig in gensief mit Anzug und Handy durch das hei- seine Arbeit „einmarschiert“, legt Schlingen- ße Hollywood, trifft auf japanische Touristen, sief die Hand - sprich die Handkamera - in Udo Kier und Roland Emmerich. Das Film- die offenste aller deutschen Wunden. Hier ist Momentaufnahme in Namibia 2005..., Foto: C.P. projekt muss schließlich scheitern, stellvertre- Hitler keine vergangene Personalkatastrophe, tend für den von Schlingensief todgeweihten sondern die Fratze des absurden Menschen an Der Kommentator in der FAZ zur Urauf- „Laut, schrill, obzön - fernab von Sitte, Sinn Neuen Deutschen Film. sich, der sich als elternlos, als höheres Wesen führung: „Die chaotische Truppe parodiert mit und Ordnung... Herr Schlingensief, brauchen Hinter all diesen derben, manchmal auch begreift, dessen völlige Monstrosität jedoch nicht gerade feinsinnigen Mitteln die Hysterie Sie einen Psychiater“ Bild komischen Gags versteckt sich eine verbor- nicht in die Anstalt, sondern an die Macht der Horrorfilme, Motive aus Hitchcocks Psy- gene Sehnsucht nach jener Zeit des deutschen führt und drauflos wütet. cho sind in grobschlächtigen Bildern nachge- „Deconstructing Riefenstahl & Fassbinder: Films. Ihr entgegen steht die momentane Man begreift l00 Jahre Adolf Hitler weniger stellt. (...) Es ist eine chaotische Mischung aus Die deutsche Krankheit Film, der Triumph deutsche Film(chen)branche, die vor Wort- durch die Frage, wo der Film hin will, was Punk und Nonsens, die zu einem hämischen des Willens zur Kömödie, all das muß totge- manns und Bucks, vor Ben Beckers und Kai er „erreichen“ will, sondern eher durch die und gekonnt geschmacklosen Untergrundfilm macht werden. Einer mußte diesen schmut- Wiesingers - allesamt zu „Kunstschaffenden“ Frage, wovor sie weglaufen, vor wem sie flie- angerührt wurde.“ zigen Job erledigen. Er hat es für uns getan.“ stilisiert - nur so strotzt, und für die Bottrop nur hen - und dabei eine Spur der Verwüstung Das Kettensägenmassaker ist eine kurzfristige taz ein müdes, ein sehr müdes Lächeln erübrigen hinterlassen. Reaktion auf eine kurzfristige politische Ent- kann. Schlingensief gesteht seinem Abbild ak- wicklung. Die rasenden Kamerafahrten, das im „Wenn man Schlingensief sieht, weiß man tueller Erfolgsregisseure, Sönke Buckmann, Buch, Regie: Christoph Schlingensief, Ka- Hintergrund stets vernehmbare Geräusch ei- was dem deutschen Kino, so gefällig es da- zu, das höchst eigene Kettensägenmassaker mera: Foxi Bärenklau, Schnitt: Thekla von ner Kettensäge und ihre effekthaschende Dar- herkommen mag, zumeist abgeht: Eigenart.“ gedreht zu haben. Mülheim (= Christoph Schlingensief), Volker bietung im konkreten Einsatz am Menschen, Michael Althen, SZ Die schmutzig und kratzig wirkenden Bil- Bertzky, Ton: Günther Knon; Musik: Tom verwendet Schlingensief bewusst als Element der machen allerdings eines deutlich: Die dar- Dokoupil, Darsteller: Volker Spengler, Brigitte des Trashs. Als solchen interpretiert der Film „Natürlich verdient Christoph Schlingensief gestellte Zeit ist antiquiert, und Bottrop bildet Kausch, Margit Carstensen, Dietrich Kuhl- auch die deutsche Einheit, als bluttriefenden, allein den Bundesfilmpreis - für öffentlich ihren fulminanten Schlussstrich; ein sarka- brodt, Alfred Edel, Andreas Kunze, Udo Kier, kannibalistischen Akt der Einverleibung des gelebte, in Kunst verwandelte Dauerpuber- stischer Trip durch eine in ihrer Profillosigkeit Marie-Lou Sellem, Asia Verdi, diverse Kinder, Ostens durch den Westen. tät und die erfolgreiche Verschmelzung von und Narzissmus erstarrten deutschen Film- ein Hund, Produktion: DEM Filmproduktion, Unter dem Titel „Von Menschen und Metz- Selbstmitleid und ernsthaften Unernst.“ BZ landschaft, eine Assoziationskette wahnwit- Mülheim / Hymen II; Madeleine Remy Filmpro- gern“ schreibt Claudius Seidel im Spiegel: „Die ziger Szenen zu schmissigem Helge-Schnei- duktion, Berlin/West, Länge: 60 min, Format: Wut des Regisseurs treibt die Kettensägen an, „...Experimentalorgie die ihresgleichen sucht. der-Jazz. 16mm, 1:1.33, Farbe: s/w, BRD 1988/89 seine Verzweiflung färbt die Bilder düster, und Schlingensief‘s bester Film seit Jahren.“ Mit Pasolini hat Bottrop kaum etwas zu tun, weil Schlingensief in seiner Raserei nicht zu Der Standard allein die in Hundehaltung gezwungenen und 22. September 2010, 21.30 Uhr bremsen ist, wird er manchmal auch zur Ner- an der Leine geführten Menschen aus dem 100 JAHRE ADOLF HITLER vensäge. Der Mann ist ein Triebtäter, kein The- INHALT Film des italienischen Neorealisten sind ver- oretiker; er denkt in Bildern, nicht in Wörtern In den 12O Tagen von Bottrop (1996) wendet arbeitet - unkommentiert und als Detail unter - und wer nach Symbolen und Metaphern sich Schlingensief von der (Anti-)Analyse ty- vielen. Der Film ist auch nicht in 120, son- DAS DEUTSCHE sucht, wird sich an diesem Film verschlucken. pisch deutscher Krankheiten ab und setzt sich dern in nur fünf Tagen abgedreht worden. … KETTENSÄGENMASSAKER Denn Schlingensief frisst die deutschen Bilder kritisch, mit unter auch boshaft, mit `seinem´ Und - wen wundert es - Bottrop kommt auch Die erste Stunde der Wiedervereinigung und Geschichten einfach in sich hinein, und Medium - dem Film - auseinander. nicht darin vor. folglich ist Das Deutschen Kettensägenmassaker Vordergründig ist es ein Film über die „Kinotip der Woche!“ Bild weniger das Ergebnis eines Reflexions-, eher Hektik, die hässliche Ökonomie des Filme- Buch (mit Oskar Roehler) und Regie: Christoph eines Verdauungsprozesses.“ machens, ein Deutscher Tag als Pendant zu Schlingensief, Musik: Helge Schneider, Dar- „Ein riesiger Spass. Hart, laut, dreckig und Truffauts Amerikanischer Nacht. Gleichzeitig steller: Margit Carstensen, Irm Hermann, Volker ehrlich.“ DIE ZEIT Buch, Regie: Christoph Schlingensief, Re- ist es ein melancholischer Abgesang auf den Spengler, Udo Kier, Helmut Berger, Sophie gieassistenz: Udo Kier, Kamera: Christoph deutschen Film der späten 60er und 70er Jah- Rois, Martin Wuttke, Frank Castorf, Leander „Die ganze Wahrheit über die deutsche Wie- Schlingensief, Voxi Bärenklau, Schnitt: Ariane re, auf den sich Schlingensief berufen hat. Ein Haußmann, Kitten Natividad, Länge: 60 min, der- vereinigung. Sehenswert!“ TAZ Traub, Spezialeffekte: Thomas Göttemann, Abschied von gestern. Ton: lautes Mono!, Farbe und s/w, D 1997 Darsteller: Karina Fallenstein, Susanne Bredeh, In einer Reihe von Anspielungen, Spitzen „Mittlerweile zum Kultfilm avanciert. Eine Artur Albrecht, Alfred Edel, Brigitte Kausch, und Zitaten ist der Film auch ein Rückblick 25. September 2010, 21.30 Uhr Abrechnung mit Helmut Kohls Wiederverei- Dietrich Kuhlbrodt, Susanne Bredehöft, Reinald auf die deutsche Filmgeschichte als solche, der DIE 120 TAGE VON BOTTROP juliette binoche „Beste Schauspielerin“ der Filmfestspiele Cannes 2010 william shimell

copie Photo : Laurent Thurin Nal - Design : AK / Réalisation : MK2 - Marion Dorel Marion Réalisation : MK2 - Design : AK / Nal - Thurin : Laurent Photo conforme Ein Film von Abbas Kiarostami DREHBUCH : ABBAS KIAROSTAMI - ADAPTION : MASSOUMEH LAHIDJI - KAMERA : LUCA BIGAZZI - SCHNITT : BAHMAN KIAROSTAMI - TON : OLIVIER HESPEL, DOMINIQUE VIEILLARD - AUSSTATTUNG : GIANCARLO BASILI, LUDOVICA FERRARIO - AUSFÜHRENDER PRODUZENT : GAETANO DANIELE - PRODUKTI- ONSLEITUNG : IVANA KASTRATOVIC, CLAIRE DORNOY - PRODUZENTEN : MARIN KARMITZ, NATHANAËL KARMITZ, CHARLES GILLIBERT UND ANGELO BARBAGALLO - KOPRODUZENTEN : BIBI FILM, FRANCE 3 CINÉMA - MIT BETEILIGUNG VON : CANAL +, FRANCE TÉLÉVISIONS, LE CENTRE NATIONAL DE LA CINÉMATOGRAPHIE, RAI CINÉMA - MIT UNTERSTÜTZUNG VON : REGIONE TOSCANA UND TOSCANA FILMCOMMISSION (LOGHI), LE PROGRAMME MEDIA DE LA COMMUNAUTÉ EUROPÉENNE - IN ZUSAMMENARBEIT MIT : ARTÉMIS PRODUCTIONS / PATRICK QUINET, COFINOVA 6, CINÉMAGE 4, SOFICINÉMA 5

Ab 24. September im Gartenbaukino Wien und im KIZ Royal Graz

StadtkinoZeitung Luc Moullet, „La terre de la folie“ 09 Anderssein: Wahnsinn? Luc Moullet, der heitere Altmeister der „Nouvelle Vague“, über sein jüngstes Meisterwerk, die dokumentarische Farce „La terre de la folie“. Richard Copans

Richard Copans Der Wahnsinn ist ein in deinem Werk immer wiederkehrendes Thema. Der Wahnsinn, der eine Person bedroht, die nicht wie die anderen ist: die nicht schwim- men kann, die eine Coca-Cola-Flasche auf 25 verschiedene Arten öffnen kann, die sich fragt, wo das Zentrum Frankreichs liegt... Ist der Humor deiner Verrücktheiten die freundliche Seite eines verborgenen krimi- nellen Wahnsinns? Luc Moullet Ja, vielleicht bin ich irgendwie verrückt (wenn es verrückt ist, nicht schwim- men zu können oder eine neue Hauptstadt für mein Vaterland zu suchen – aber dann wären die Brasilianer alle verrückt – oder die fünfundzwanzig Arten, eine Coca-Cola- Flasche zu öffnen, zu erforschen). Aber es ist eine milde Form des Wahnsinns. Eigentlich ist es eher ein Anderssein. Es stimmt, viele Leute halten jedes Anderssein für Wahnsinn. Dieses Anderssein hängt mit meiner Apraxie, meinem Autismus zusammen. Bei mir spielt sich alles (oder fast alles) im Hirn ab. Ich kann meine Schuhe nicht zubinden oder meinen Löffel bei Tisch halten, ich kann nicht Schi- laufen, habe keinen Führerschein, kann weder tanzen noch im Gleichschritt marschieren. Aber das Anderssein, in dem Wahnsinn steckt oder das als Wahnsinn gesehen wird, kann die Grundlage künstlerischen Schaffens bilden (Fuller, Gance, die japanischen Filme- „Es stimmt, dass ich wenig improvisiere“: Luc Moullet beim Dreh zu „La terre de la folie“. macher, Maupassant, Poe, Hölderlin, Walser, Nerval, Althusser, Hedayat, Van Gogh, Pollock, genen Landstriche. Während die Alpen mit chen, mehr oder weniger. Da sagt sie zu mir: Daher habe ich keine aufwendigen Bedürf- etc....). Viele große Künstler sind auch mit ihren Voralpen zweihundert Kilometer weit „Das werde ich mir aber merken...“. Diese nisse. Ich weiß gar nicht, welche neuen Dinge dem Gesetz in Konflikt gekommen: entweder sind. Gut, aber warum findet der Wahnsinn Aussage entbehrte nicht einer gewissen Ko- ich kaufen sollte. So sind auch meine Filme. aus politischen Gründen (Dostojewski, Cé- hier heute noch immer statt, während die mik, da ich wusste, dass sie nicht mehr lange Jedenfalls ist der teuerste Film eines Filme- line, Voltaire, Hugo, Brasillach, Chénier, Sol- Isolierung dank des Autos verschwunden zu leben hatte: sie starb einundzwanzig Tage machers fast immer auch der schlechteste, je- schenizyn, Drieu La Rochelle) oder schlicht ist? Zunächst, weil es weder Wander- noch danach. Gleichzeitig ist dieser Satz in diesem denfalls der enttäuschendste: Die zehn Gebote als Kriminelle (Villon, Marlowe, Malraux, Skigebiet ist, und es daher wenige Bewohner Zusammenhang auch äußerst tragisch. von De Mille, der 13 Millionen Dollar ko- Genet, Chessman, Godard, Truffaut und sogar gibt, also keine Zeugen oder einfach Men- Ich glaube, dass in der Welt alles auf binären stete, ist deutlich schlechter als sein Kindling, Scorsese). Man hält mich manchmal für ver- schen, die einschreiten könnten. Und dann Einheiten beruht, die zwar gegensätzlich der für 10.209 Dollar gedreht wurde. Das ist rückt, weil ich nie danach trachtete, Angestell- weil sich hier gewissermaßen eine Tradition sind, aber nicht voneinander getrennt werden normal, denn ein großes Budget ist schwierig ter zu werden, eine gute Pension zu erhalten. herausgebildet hat (da Herr Sowieso getötet können und die in dieser Form die einzige zu bewältigen und es gibt immer jede Menge Aber Leute, die gar kein bisschen verrückt hat, warum nicht auch ich?). Wahrheit darstellen: Religion und Atheismus, von Anforderungen zu erfüllen. Keine Regel sind, sind eigentlich recht traurige Gestalten, Und schließlich weil diese Wüste Aussteiger Kunst und Industrie, Pazifismus und Kriegs- ohne Ausnahmen: Tati, Ophüls. Ich erinnere oder? Wahnsinn, Verrücktheit ... ich halte all anzieht, was Konflikte zwischen den Ausstei- hetze, Judentum und Islam, Vernunft und mich, dass Jacques Doillon zu Jean-Claude die Leute, die nur danach trachten, ein Auto gern und den bodenständigen Einheimischen Wahnsinn, Liebe und Hass, Komik und Tra- Brisseau sagte: „Mach nie einen Film für oder einen Mikrowellenherd zu kaufen oder zur Folge hat. Es gibt auch das Tarifa-Syn- gik, etc.... Und vergessen wir nicht, dass die mehr als 10 Millionen Francs. Darüber wird so viel Geld wie möglich zu verdienen, für drom. Tarifa ist diese andalusische Stadt, in der Komik Tragik erfordert, sie ist ein Hindernis, man dich bis aufs Blut quälen“. völlige Spinner. In meinem Film sind ja nicht es viel Wind gibt und daher viele Verrückte. das die vis comica überwinden muss. Diese Geschichte mit dem Geld, das ist nur die Mörder verrückt, sondern manchmal Letztlich gibt es tausend Gründe. Ich zähle sie Copans Kannst du improvisieren? Blödsinn. Einer meiner Filme war bei einem auch die interviewten Zeugen, die zunächst auf, ohne einen bevorzugt zu behandeln. Was Moullet Es stimmt, dass ich wenig improvi- Festival ein Riesenerfolg. Und er hatte 56.000 ganz normal zu sein scheinen. uns hier interessiert, ist die Spurensuche, die siere. Diesbezüglich stehe ich in der Tradition Francs gekostet, also sehr wenig. Und der Copans In deinem vorangehenden Film Le von Rohmer und Hitchcock, wenngleich Film eines Kollegen hatte gar keinen Anklang Prestige de la Mort inszenierst du dein Begräb- einige Stufen darunter: ich habe gerne alles gefunden. Einer seiner Freunde hatte ihm nis, was filmst du in diesem Film? auf kariertem Papier vorbereitet. Aber dieser Vorwürfe gemacht. Und unser Filmemacher Was geschehen wäre, wenn du in dieser Mangel ist mir sehr bewusst. hatte geantwortet: „Na, was soll ich schon mit tödlichen Gegend geblieben wärst? Vergessen wir nicht, Das Kino (und die Kunst ganz allgemein) nur 300.000 Francs anfangen...“. Geldmangel Moullet Was ich in La Terre de la Folie filme? befindet sich in einem Stadium, in dem alles ist das Alibi des Dummkopfs. Sicherlich nicht das, was mir passiert wäre, dass die Komik immer gemacht und gesagt wurde, in dem Fortschritte Copans Ist La Terre de la Folie ein moralischer wenn ich dort geblieben wäre. Zunächst kam nicht durch Zufall erzielt werden können. Film? ich sehr selten in diese Gegend, bevor ich 14 Tragik erfordert. Aber da nahezu alles schwarz auf weiß festge- Moullet La Terre de la Folie ist ein moralischer Jahre alt war – es ist also eine Wahlheimat. legt ist, kann ich es mir auch einige Leerstellen Film, da er sich im Sinne von Rohmer „auf den Und dann wird man den Wahnsinn ja nicht erlauben, die ich füllen oder überspringen Geist bezieht“ (den Geistes der Wahnsinnigen). automatisch dadurch los, dass man fortgeht. kann. Im Rahmen des Dokumentarfilms ist die In diesem Film ist Luc Moullet ein MacGuf- Suche nach der Wahrheit. Improvisation natürlich notwendig. Die beste Aus dem Französischen von Werner Rappl fin, ein Ariadnefaden, der mir von meinem Komik, Tragik. Manche mögen über die Stelle in Genèse d’un Repas ist die sehr bewe- Produzenten und meinen Mitarbeitern vor- Komik in all diesen in Wirklichkeit tragischen gende Einstellung der Kinder, die vergnügt gegeben wurde (aber ich habe nichts gegen Geschichten erstaunt sein: über vierzig Tote. jauchzend vierzig Kilo Bananen am Rücken Luc Moullet Vorgaben). Sie fanden, dass das für den Film Diese Woge des Schreckens löst eine Abwehr- tragen. Fünf Minuten davor, hatte ich nicht La terre de la folie besser wäre. reaktion in Form von Lachen aus. Und die gewusst, dass ich das drehen würde. (Frankreich 2009) Was hier vor allem zählt, das ist die Be- Reaktionen der Mörder und der Verrückten Copans Du hast den Ruf eines „armen“ schreibung der Fakten und Gründe des sind so abseitig und skurril, dass sie unver- Filmemachers, der mit kleinen Budgets arbei- Regie Luc Moullet Wahnsinns in diesem Gebiet. Es ist das erste meidlich Lachen provozieren. tet...Ist es hilfreich, viel Geld für einen Film Drehbuch Luc Moullet Mal in der Geschichte des Kinos, dass man In der Lebensrealität sind Komik und Tragik zu haben? Kamera Pierre Stoeber versucht, dieses Thema zusammenfassend zu eng verbunden. Ich erinnere mich, dass meine Moullet Ich bin ein Filmemacher von nie- Schnitt Anthony Verpoort behandeln. Mutter mit 79 Jahren, am Ende ihrer Kräfte derer Herkunft. Mein Urgroßvater Fortuné Ton Olivier Schwob Der Wahnsinn hängt damit zusammen, dass einwilligte, das Spital, das sie nicht länger Moullet (1860-1945) besaß Hühner, einige Produktion les films d´ici der südliche Teil der Provenzalischen Voralpen behalten wollte, um in ein Heim zu ziehen. Schafe, einen kleinen Garten und ein Schwein. Verleih Stadtkino Filmverleih ein entlegenes, schwer erreichbares Gebiet ist. Der Übersiedlungstermin war am Montag, Mein Großvater war Briefträger. Mein Vater Länge 90 Min. Die Kretins der Alpen ... Alle unsere Bergre- aber sie meinte, dass das Spital noch einen Vertreter .... Eine Großmutter war Hausmei- Technik 35mm / Farbe / 1:1,66 gionen sind betroffen, außer den Pyrenäen. ganz besonderen, sehr schwierigen Eingriff sterin, eine andere Pfarrersköchin. Allesamt Fassung Französische Originalfassung mit Warum diese Ausnahme? Weil die Pyrenäen vornehmen müsse. In Wirklichkeit ging es finanziell sehr eingeschränkt also. Bis zum deutschen Untertiteln nicht wirklich entlegen sind... Sie stellen eine um einen Einlauf... Sie meinte, man könne sie Alter von 32 Jahren lebte ich in einer Einzim- sehr kurze Barriere dar, die in 30 km über- nicht einfach so hinauswerfen. Aber die Trage merwohnung mit einer einzigen Wasserstelle, Ab 3. September 2010 wunden werden kann. Daher keine entle- war schon da. Sie stand vor vollendeten Tatsa- ohne Kühlschrank. Das hat mich nie gestört. im Filmhaus Kino am Spittelberg 10 Ludwig Wüst, „Koma“ StadtkinoZeitung „Bis es licht wird...“ Ein ungewöhnlicher Film „über das Verstecken“: Der österreichische Ausnahmeregisseur Ludwig Wüst über „Koma“. Karin Schiefer

Sie haben sich für Ihren ersten Langfilm an ein führt den Täter da wirklich an den Punkt. Und Soukup als Ehefrau hatte ich drei Profis, die chen“, obwohl sie es weder mit ihrem Mann sehr heftiges Thema gewagt. Jenseits der Gewalt ich hatte das Gefühl, dass es unmöglich war, schon sehr lange im Geschäft sind. Anke Ar- noch mit ihrem Sohn einfach hat. Ich halte erzählt „Koma“ vor allem von Einsamkeit und diese Szene in Schuss/Gegenschuss aufzulösen. mandi ist eine hochbegabte Laiendarstellerin, ihr Verhalten für sehr vital und notwendig. emotionaler Hilflosigkeit. Was war für Sie der erste Ich wollte nicht schummeln. und auch Daniel, der Sohn, und sein Freund Sie macht das Beste aus ihrem Leben, das Themenimpuls, als sie begannen, am Drehbuch zu sind von keinen Profis gespielt. Ich würde nicht leicht ist. Hans und Gertrud haben schreiben? Sie bewegen sich thematisch wie formal gerne an sagen es war ungefähr halb-halb. Oberstes sich auf eine besondere Weise gefunden, Ludwig Wüst Es gab zwei: Das eine war den Grenzen und reizen diese auch aus. Damit Gebot ist bei mir Authentizität. Ich reagiere dazu kann ich jetzt wenig sagen. Es ist die Geschichte mit den jungen Burschen, geraten Sie wohl auch an die Frage, was den sehr situativ auf die Leute wie auch auf die kein Lebensmodell. Es ist so einmalig, dass die Snuff-Videos aus dem Internet sammeln. Schauspielern zumutbar ist? Orte und integriere die dortigen Gegeben- jemand sagt, ich übernehme die Verant- Das Internet bedient das hervorragend. Ich Wüst Nenad Smigoc kenne ich sehr gut aus heiten in die Handlung. Ich liefere den Anlass, wortung und kümmere mich nur noch um hab mir die Frage gestellt, welche Menschen unserer Theaterarbeit. Ich hab mit ihm vor aber sobald ich weiß, wo und mit wem ich diesen Menschen. Wovon sie leben werden, mit welchen Geschichten da dahinter stehen? zwei Jahren im Hotel Orient Die Traumnovelle arbeite, explodiert das Ganze. weiß man nicht, das bewegt sich im Bereich Der erste Gedanke, den ich verfolgte, war der, gemacht. Ich habe damals schon vom Filmpro- der Utopie. Sie können meiner Meinung was passiert, wenn der Sohn ein Snuff-Video jekt gesprochen und angekündigt, dass es, falls Es wird bei den Szenen in den Innenräumen sehr nach nicht alt werden, dazu ist die Sache herunterlädt und im Laufe des Films drauf- wir zusammenarbeiten, keine Grenzen geben wenig Licht verwendet, auch hier haben Sie wahr- zu extrem. Ich halte es aber für wichtig, die kommt, dass sein Vater da im Spiel ist. würde. Ich versuche von Beginn an ab, Klarheit scheinlich die Grenzen des Machbaren ausgereizt? Geschichte zu erzählen, ausgehend vom ur- Den eigentlichen Auslöser lieferte mir ein Mann, den ich vor Jahren flüchtig kannte und der eine Frau, die im Wachkoma lag, zu Hause gepflegt hat und ich wusste, dass sie auch ein Liebespaar waren. Da wollte ich weitergehen.

Beziehen Sie den Titel in erster Linie auf das Wachkoma der Frau oder spielt es auch ans emoti- onale Koma mancher der Figuren an? Wüst Es gab bei der Uraufführung in Moskau eine interessante Interpretation: Ein Journalist im Saal meinte, der Titel beschreibt den Zustand einer Gesellschaft, in der solche Dinge möglich sind. Es wird kaum miteinan- der kommuniziert, alles bleibt sehr ober- flächlich, daneben existiert die Gewalt und es gibt überhaupt keine Auseinandersetzung. Alle sind in einer Art von Koma oder blind. Das Eigentliche wird nicht thematisiert, was überall bleibt, ist die große Einsamkeit.

Sie arbeiten immer wieder mit Einstellungen, die so gewählt sind, dass man als Zuschauer nicht sofort ein klares Bild darüber hat, was gerade passiert. Es entsteht der Eindruck, dass Sie das Publikum irritieren bzw. ihm einiges an freier Assoziation überlassen möchten. Wüst Wir haben neun Monate am Schnitt gearbeitet und mich hat immer die Sorge begleitet, ob ich schon zu viel verraten habe. Offensichtlich doch nicht, wenn Sie mir diese Frage stellen. Ich denke schon, dass bei mei- nen Filmen viel im Kopf des Zuschauers ent- steht und dass er grundsätzlich nachwirkt, weil „Alle sind in einer Art Koma oder blind...“ (Ludwig Wüst) Fragen offen bleiben: Wie viel Zeit ist seit der Tat vergangen? Welches Verhältnis hat Hans zu schaffen, was ich vorhabe. Natürlich hatte Wüst Das Haus, in dem wir gedreht haben, sprünglichen Gedanken dieses Sado Maso- zu seiner Frau? Eine wichtige bildtechnische ich Bedenken bei der Liebesszene zwischen aber auch das Haus, in dem ich aufgewach- Aspektes. Ich glaube, dass der Film ganz Entscheidung war auch, eine Handkamera zu den beiden. Beim Dreh war es so, dass es bei sen bin; sie alle haben etwas Düsteres. Das gewaltig an einigen Tabus in dieser Rich- verwenden. Ich wollte aber kein wackeliges der Waschszene, der Essszene und der Bettszene Haus von Koma mit seinen dunklen Möbeln tung rührt: Wie darf man in dieser Pflegesi- Bild, sondern ein Bild, das atmet. Alles sollte jeweils nur einen Take gab. Ich hab mit dem und Teppichen vermittelt etwas nicht sehr tuation mit jemanden leben? Ist Sexualität fließend und schwebend und nicht starr sein. Kameramann vorher besprochen, dass ich keine Lebensfrohes. Natürlich mussten wir auch zwischen den beiden erlaubt? Es passieren Ich habe sehr lange mit meinem Kameramann der Szenen wiederholen wollte und gleichzei- Scheinwerfer zu Hilfe nehmen, auch wenn in diesen Szenen ja unheimlich zärtliche, diskutiert, ich wollte, dass der Kader nicht tig wusste ich aber nicht, was die Schauspieler es mir am liebsten gewesen wäre, keine zu phantastische Dinge. unbedingt ganz perfekt ist und es war mir stets machen würden. Ich war absolut sicher, dass die verwenden. Ganz pur hätte ich natürlich ein Anliegen, nicht allzu viel zu verraten. Kollegen aufs Ganze gehen. Insgesamt haben vorgezogen. Gleichzeitig habe ich nicht das unsere Dreharbeiten nur acht Tage gedauert Gefühl, dass die Bilder so besonders düster Ludwig Wüst Eine der markantesten Elemente ist eine Einstel- Koma lung, die zehn Minuten dauert. Was hat Sie zu (Österreich 2009) „Du musst nur erscheinen, aber es ist dieser Plansequenz veranlasst. Was heißt es vor allem für die Schauspielerin, diesen langen Mono- Ich wußte bei allen Szenen, dass ich sehr Regie Ludwig Wüst verboten, dich so zu zeigen, wie du bist.“ log zu spielen? Drehbuch Ludwig Wüst Wüst Ich liebe Plansequenzen, weil sie Zeit lange nicht „Cut“ sagen würde... Darsteller Nenad Šmigoc, Claudia Martini, zulassen. In Koma bestand die Notwendigkeit Roswitha Soukup, Anke Armandi, Stefan zu sagen, wir sind am Ort des Verbrechens Mansberger, Daniela Gaets, Werner und die Kamera wurde wie eine Überwa- Landsgesell, Heinrich Herki, Manfred Stella, chungskamera eingesetzt. Man sieht auch kurz, und davor haben wir eine Woche geprobt. Ich aussehen. Eines der Hauptthemen im Film ist Casaluce/Geiger, Francesca Geiger, Marcus dass sie wie ein Spion in der Tür montiert ist wusste bei allen Szenen, dass ich sehr lange das Verstecken. Dieser Mann versteckt alles, er Geiger, Lukas Zahner, Georg Peter Raab, und es ist durchaus vorstellbar, dass so etwas nicht „Cut“ sagen würde. Auch meine Schau- versteckt sich selbst und er verstummt. Es ist Otmar Schöberl, Thom in solchen Etablissements wirklich existiert, spieler wissen, dass sie alle Zeit der Welt haben. eigentlich ein katastrophaler Lebenszustand, Kamera Klemens Koscher zumindest in den Gängen. Deshalb konnte nur Durch die langen Gespräche, die ich mit ihnen bis er endlich wegfährt und es licht wird und Schnitt Samuel Käppeli eine Echtzeit-Sequenz in Frage kommen. Die im Vorfeld führe, entstehen eine solche Energie er sich seinem Leben stellt. Musik Sounddesign: Jochen Petri Szene hatte ich ganz bewusst für eine Fränkin und ein solcher Sog. Es ist ein Luxus, einen Ton Gregor Rašek geschrieben, weil das Fränkische im Vergleich Schauspieler zu haben, der bereit ist, sich ein Wenn es eine Liebe zwischen Hans und Ger- Produktion film.planet.net zum Wienerischen eine Qualität hat, wo man halbes Jahr vor dem Dreh jede Woche mit mir trud geben kann, so wird es eine sonderbare Liebe Verleih Stadtkino Filmverleih ganz wilde Geschichten formulieren kann, zu treffen. Das möchte ich auch beibehalten. bleiben, die Ehefrau hat einen neuen Liebhaber, der Länge 82 Min. ohne dass sie obszön, schmutzig oder grauslich wiederum schweigend auf der Couch liegt. Trotz Technik HD / Farbe / 16:9 klingen, wie das beim Wienerischen durch- Arbeiten Sie auch mit nicht-professionellen des friedlichen Endes ist das kein sehr rosiger Blick Fassung Originalfassung kommt. Ich habe Anke Armandi vor einigen Darstellern? auf die Verhältnisse zwischen Mann und Frau. Jahren entdeckt und dann die Szene geschrie- Wüst Mit Nenad Smigoc, der Hans spielt, Wüst Die Ehefrau halte ich für eine extrem Ab 17. September 2010 ben. Gertruds ehemalige Kollegin (Armandi) Claudia Martini als Gertrud und Roswitha positive Figur, sie ist ein „Stehaufmänn- im Filmhaus Kino am Spittelberg StadtkinoZeitung Renzo Martens, „Enjoy Poverty“ 11 „The Horror...!“ Bilderproduktion und -suche im Kongo: Renzo Martens’ kontroversiell diskutierter Filmessay „Enjoy Poverty“ ab 17. März im Filmhaus Kino am Spittelberg.

ls ginge es darum, ein Äquivalent balisierten Welt aufmerksam, die zwischen für Joseph Conrads Herz der Finster- versagter Emanzipation, getäuschter und Anis oder für die Weltrettungsmanien inszenierter Medienwahrheit und konstru- eines Fitzcarraldo zu finden: Der belgische ierter Dokumentationen Empathie heu- Filmemacher und Videokünstler Renzo Mar- cheln. Wann berühren Bilder einer anderen tens sorgt seit dem Kunstenfestival des Arts ärmeren oder kriegsgeschüttelten Welt? Ist in Brüssel 2009 für nachhaltige Kontroversen es distanzierte Fernsehunterhaltung? Wen in der Kunst- und Filmwelt. Im dokumenta- bemitleidet man beim Betrachten dieser rischen Filmessay Enjoy Poverty begibt er sich Bilder? Die dargestellten Leidenden, oder in den von Hungersnöten und Kriegswirren sich selbst, weil man diese Bilder eigentlich verwüsteten Kongo, setzt sich real existie- nicht ertragen will? Muss ich mir das an- renden Verwahrlosungen bis an den Rand tun? Martens Filme verlangen nach einer zur Selbstverwirrung aus und provoziert mit ernsthaften, durchgehenden Rezeption, sie folgender Frage: Was, wenn man die Hono- erlauben kein Kommen und Gehen, wollen rare für Kriegsfotos nicht länger westlichen von Anfang bis zum Schluss gesehen wer- Reportern überließe? Hier zwei Statements den. Die scheinbare Oberflächlichkeit, mit aus der laufenden Debatte - entlang von Vor- der sich Renzo Martens in den Filmen in führungen im Rahmen der diesjährigen Ber- den Mittelpunkt rückt, verdeutlicht den liner Kunstbiennale und einer Ausstellung im grenzenlosen Exhibitionismus einer sensati- Grazer Kunsthaus: onsgeilen Berichterstattung. „Genießen Sie die Armut“, schreibt er in Neonbuchstaben „Einer der Höhepunkte der Biennale ist der zum Fest in die Nacht. Nicht weil er sich lu- 90-minütige Spielfilm Enjoy Poverty des Bel- stig macht, sondern weil Hilfsorganisationen giers Renzo Martens, der eine Art von sati- Ein Slogan hinein ins große Elend im Kongo... niemals glückliche Armut abbilden. Für gute rischem Dokumentarismus betreibt – ausge- Bilder sind Tränen gefragt, nicht wirklich hend von Jonathan Swifts Modest Proposal von ter anderem versucht er, zwei Dorffotografen wirklich ungewöhnlichen Dokumentarfilm, ein selbstbestimmtes Leben. Das Leid der 1729, in dem der Autor vorschlägt, dass man beizubringen, selbst die Bilder ihrer eigenen der unter anderem ahnen lässt, dass die gros- anderen betrachten heißt, dass es Leute gibt, doch irische Armenkinder als Nahrungsmit- Misere zu verkaufen (anstatt dieses lukrative sen Konzerne und internationalen Organi- die vom Leid der Anderen leben und em- tel nutzen könnte, um einer durch Überbe- Geschäft den Reportern aus dem Westen zu sationen nicht nur die reichen Bodenschätze pathisch Position beziehen. Renzo Martens völkerung verursachten Hungersnot beizu- überlassen). Ein Versuch, der ausgerechnet am in Kongo verwalten, sondern letztlich auch fordert die Opfer auf, sich selbst leidend so kommen. Von einem solchen Geist beseelt, Widerstand der Ärzte ohne Grenzen schei- noch aus seiner Armut ihren Profit zu ziehen zu inszenieren, dass sie damit Geld verdie- reist Martens nach Kongo, um die Bewohner tert, die den Bildern der Dorfknipser quasi wissen.“ NZZ nen. Wer ist für wen und wofür verantwort- der ärmsten Gegenden davon zu überzeugen, den Kunstwert aberkennen. Der satirische lich? Wie bewältigt man das Leben? Wie be- ihre Armut endlich zu geniessen – oder we- Ansatz, gemischt mit höchstem persönlichem Martens ist ein Grenzgänger. In aller Di- wältigt man Bilder? nigstens selbst Profit daraus zu schlagen. Un- Engagement, macht Enjoy Poverty zu einem rektheit macht er auf Phänomene einer glo- Kunsthaus Graz

„Crazy Heart“ Thomas Bernhard Die OmU, jetzt im Filmhaus Kino

em Stadtkino bescherte Oscar-Preis- sängers und Alkoholikers einer der größten Heldenplatz träger Jeff Bridges trotz Fußball-WM Publikumserfolge in den Arthouse Kinos: D und Hitzewelle einen der besten Kinosom- Crazy Heart wird also in der untertitelten Premiere am 9. September 2010 mer aller Zeiten. Und immer noch ist Scott OV ab 3. September im Filmhaus Kino am Coopers gelassenes Porträt eines Country- Spittelberg gezeigt. • im Theater in der Josefstadt

mit Michael Degen, Sona MacDonald, Elfriede Schüsseleder, Gertraud Jesserer, Siegfried Walther, Wolfgang Pampel, Marianne Nentwich u.a.

Infos und Karten unter 01-42700-300 oder unter www.josefstadt.org

Jeff Bridges und Maggie Gyllenhall in „Crazy Heart“.

Impressum Telefonische Reservierungen Kino 712 62 76 (Während der Kas- saöffnungszeiten) Büro 522 48 14 (Mo. bis Do. 8.30–17.00 Uhr Fr. 8.30–14.00 Uhr) 1070 Wien, Spittelberggasse 3 www.stadtkinowien.at / [email protected] Stadtkino 1030 Wien, Schwarzenbergplatz 7–8, Tel. 712 62 76 Herausgeber, Medieninhaber Stadt- kino Filmverleih und Kinobetriebsgesellschaft m.b.H., 1070 Wien, Spittelberggasse 3 Graphisches Konzept Markus Raffetseder Redaktion Claus Philipp Druck Goldmann Druck, 3430 Tulln, Königstetter Straße 132 Offenlegung gemäß Mediengesetz 1. Jänner 1982 Nach § 25 (2) Stadtkino Filmverleih und Kinobetriebs- gesellschaft m.b.H. Unternehmungsgegenstand Kino, Verleih, Videothek Nach § 25 (4) Ver- mittlung von Informationen auf dem Sektor Film und Kino-Kultur. Ankündigung von Veranstal- tungen des Stadtkinos. Preis pro Nummer 7 Cent / Zulassungsnummer GZ 02Z031555 Verlagspostamt 1150 Wien / P.b.b.

MVBKHOGHQSODW]BLQVHUDWLQGG  Ein Film von BRILLANTE MA. MENDOZA

The Match Factory präsentiert eine SWIFT produKtion in Zusammenarbeit mit CENTERSTAGE PRODUCTIONS - BRILLANTE MA. MENDOZA film “LOLA” ANITA LINDA RUSTICA CARPIO TANYA GOMEZ JHONG HILARIO KETCHUP EUSEBIO ton ALBERT MICHAEL IDIOMA ADDISS TABONG STEPHANE DE ROCQUIGNY schnitt KATS SERRAON ausstattung DANTE MENDOZA kamera ODYSSEY FLORES Musik TERESA BARROZO Line producer AURORA CRUZ koproduzenten CONNIE GO-ALCANTARA ANTONIO DE GUZMAN Jr. ANTONIO DEL ROSARIO FERDINAND LAPUZ ausführender produzent DIDIER COSTET drehbuch LINDA CASIMIRO regie BRILLANTE MA. MENDOZA

Ab 1. Oktober 2010 im Stadtkino