Ein Wald Für Sich. Urtümliche Landschaften Und Ein Junge Mit Großen Augen: Der Berlinale-Siegerfilm „Bal - Honig“ Kommt Jetzt Ins Stadtkino
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das kommunale kino Wiens, schwarzenbergplatz 7-8, 1030 Wien september 10 | #482 Semih Kaplanoğlu, Bal - Honig, ab 3. September 2010 im Stadtkino Luc Moullet, La terre de la folie, ab 3. September 2010 im Filmhaus Kino In memoriam Christoph Schlingensief, ab17. September 2010 im Stadtkino Ludwig Wüst, Koma ab 17. September 2010 im Filmhaus Kino Renzo Martens, Enjoy Poverty ab 17. September 2010 im Filmhaus Kino Ein Wald für sich. Urtümliche Landschaften und ein Junge mit großen Augen: Der Berlinale-Siegerfilm „Bal - Honig“ kommt jetzt ins Stadtkino. Anlass für eine Reise zu den Drehorten. katja nicodemus en Spuren eines Films zu folgen heißt, den Bil- Wer auf dem Weg zu diesen Bildern das Flugzeug besteigt und dern im eigenen Kopf hinterher zu reisen. Heißt, in der nordanatolischen Großstadt Trabzon wieder ausgespuckt Inhalt Dsich an einen Ort zu begeben, von dem man schon wird, findet sich zunächst in einem völlig anderen Film. Ein verführt ist, ohne ihn wirklich gesehen zu haben. Verführt ist brutales Schnellstraßensystem zerschneidet die Schwarzmeer- Schlingensief, revisited man von der zeitlosen, verwunschenen Stimmung in Semih küste. Die ehemals christliche Kaiserstadt Trapezunt kauert wie 7 Filme von Christoph S. im Stadtkino - Kaplanoğlus Bal - Honig. Der Film, der in diesem Jahr den ein graues Betonmonster am Meer. Und das Leben geht selt- Nachruf, Vorschau. 4/5/6 Goldenen Bären der Berlinale gewann und ab 3. September same Wege in dieser Hafenmetropole mit ihren 1,4 Millionen im Wiener Stadtkino gezeigt wird, spielt in der abgelegenen Einwohnern. Moullet im O-Ton Region des türkischen Kaçkar-Gebirges. Er handelt von der Ein Hafen ist Trabzon heute vor allem für russische, ukrai- Ein Interview über innigen, wortlosen Liebe eines kleinen Sohnes zu seinem nische und georgische Prostituierte, im türkischen Volksmund „La terre de la folie“ 9 Vater, einem Bienenzüchter. Und er erzählt in urtümlicher Nataschas genannt. Und für ihre anatolischen Freier, die aus Landschaft eine große Geschichte von Leben und Lernen, dem Hinterland zu Tausenden in die unzähligen Stundenho- „Koma“-Kino Kindheit und Vergänglichkeit. Mit den Augen des kleinen tels strömen. Man begegnet den durchweg blondierten Frauen Begegnung mit dem Regisseur Helden Yusuf entdeckt, man karge Hochalmen und tiefgrüne überall. Sie umlagern die Pools der teureren Hotels. Sie warten Ludwig Wüst 10 Wälder, blickt in Täler, auf deren Grund sich wilde Bäche auf Kundschaft in Restaurants mit russischen Namen und rus- hinabstürzen. Es ist eine Natur, in deren selbstvergessene Ma- sischen Menüs. Sie stehen am Straßenrand und an den Sammel- Zulassungsnummer GZ 02Z031555 jestät man eintreten möchte. Fortsetzung auf Seite 2 » Verlagspostamt 1150 Wien / P.b.b. 02 Semih Kaplanoğlu, „Bal – Honig“ StadtkinoZeitung » Fortsetzung von Seite 1 stellen der Minibusse. Wenn man dann an der Küste entlang in Richtung Osten fährt, um nach etwa zwei Stunden in die Berge abzu- biegen, in die Natur, zur Idylle, wird man die traurig-verlebten Gesichter der Nataschas so schnell nicht los. Der Weg ins Kaçkar-Gebirge führt durch das lang gezogene, sich verengende Tal des Fırtına-Flusses. Die Straße scheint dem Wald mühsam abgetrotzt, mit Steinschlag, Lehmflu- ten und heruntergefallenen Ästen erobert die Natur sie zurück. Etwas oberhalb des Ortes Çamlıhemşin liegt das Hotel Doğa, eine fast romantisch anmutende Herberge. Es ist direkt am wilden Fluss gelegen, mit einer riesigen Glasveranda und Balkonen, auf denen man sofort in der Abenddämmerung lümmeln will. Hier wohnte das Filmteam von Bal während der dreimonatigen Dreharbeiten. Gebaut wurde das Hotel von Idris Duman, mit eigenen Händen, wie er betont. Früher reiste der 80-Jährige als Elektroingenieur um den Erdball. Dann trieb ihn die Sehnsucht zu- rück. Duman spricht Französisch und Englisch. Er ist ein Kosmopolit, der in der Ferne die Fürsorge für seine Heimat entdeckt hat. Leicht gebeugt steht er an der mit Kladden, Zetteln, Fotos und Prospekten überladenen Rezeption des Hotels. In seinem breiten Lächeln fehlen ein paar Zähne. “Wir haben schon auf Sie ge- wartet«, sagt er, »mögen Sie Fisch?“ Der Honig aus dem Kaçkar -Gebirge schme- ckt, als koste man den Wald. Man kann sich vorstellen, wie der Regisseur Semih Kaplanoğlu und seine Crew abends vom Set zurückkamen. Wie der Fluss die Erschöp- fung nach dem Drehtag mit seinem Rauschen überlagerte. Tatsächlich hat dieses beständige Natur und Veränderung aus der Kinderperspektive: Bora Altas in „Bal“. Geräusch etwas Meditatives. Es scheint, als verbinde sich das Wasser auf angenehme Weise Genau wie Yusufs Sippe zog Idris Duman den. Es ist ein mühsames, gefährliches Geschäft. von Bal kommt, springt er auf und tippt sich direkt mit den Gedanken. Idris Duman sagt, er mit seiner Familie im Sommer auf die Alm, Eine Ernte, die der Natur mit Seilen und Ba- an die Brust: „Ich bin in dem Film! In einer höre den Fluss gar nicht mehr. mit Sack und Pack und Vieh. Und genau wie lanceakten abgetrotzt werden muss. Als die Bie- Szene habe ich mich selbst gespielt! Die ganze Duman ist ein Hemşinli, Angehöriger einer im Film lebte die Familie zu einem Gutteil nen sich rar machen, muss der Imker im Film in Crew hat bei mir gegessen und getrunken!“ Für ethnischen Minderheit, um deren Geschichte vom Teeanbau. Bis heute werden die hoch ferne Wälder wandern. Sehnsüchtig wird seine einen Augenblick sieht Herr Bekiroğlu aus wie und Kultur sich viele Geheimnisse ranken. Ihre gelegenen Teefelder der Hemşinli von den Rückkehr von Frau und Sohn erwartet. ein türkischer General, der von einer Schlacht Wurzeln sind nicht genau erforscht. Fest steht, Frauen gehegt und abgeerntet. Kleine hand- Das Kaçkar-Gebirge ist berühmt für diesen erzählt. Im Film sieht man ihn freundlich grü- dass die Hemşinli Türken armenischer Prägung betriebene Seilbahnen bringen mit hellgrünen Honig. „Heutzutage stellen die meisten ihre ßend vor seinem Laden sitzen, während Yusuf sind. Obwohl sie zum Teil schon vor Jahrhun- Blättern gefüllte Säcke ins Tal. Bienenstöcke vor den Häusern auf“, sagt Idris vorbeischlendert. Die Szene dauert etwa fünf derten vom Christentum zum Islam konver- Am Morgen nach der Ankunft führt Duman Duman. „Da werden die Bienen mit Zucker Sekunden. Aber es ist ein Auftritt. tierten, haben sie sich nie ganz der muslimischen die Besucherin nach Yeşim, ins Dorf seiner gefüttert.“ Der echte Waldhonig hingegen sei Und was ist mit Boran Ataş, dem kleinen Umgebung assimiliert. Im Fırtına-Tal sprechen Kindheit, auf einen der Hügel über dem Fluss. sehr rein und daher sehr teuer. Am nächsten Hauptdarsteller von Bal? Angeblich soll er in die Hemşinli einen türkischen Dialekt mit ar- Es ist ein melancholischer Gang. Die meisten Morgen bringt Duman ein Schälchen der einem Dorf ganz in der Nähe wohnen. Am menischen Lehnwörtern. Noch heute tragen Häuser stehen leer und modern in stolzer goldbraunen Kostbarkeit an den Frühstück- nächsten Morgen sind wir schon im Auto un- ihre Frauen auch im Alltag eine farbenfrohe, mit Schönheit vor sich hin. Ihre Eigentümer sind stisch. Es ist, als schmecke man den Wald. terwegs nach Konaklar, ein paar Flussbiegungen Pailletten und Perlen bestickte Tracht. fortgezogen, nach Istanbul oder Ankara. „Frü- Heute führt die Suche nach den Filmbildern weiter. Dort hat Duman den Jungen, dessen Ihre Dörfer bauten die Hemşinli auf den her war eine Stadt wie Ankara die Zukunft“, in die Höhe. Auf zweieinhalb, dreitausend rührendes Gesicht einen ganzen Film trägt, umliegenden Hügeln über dem Fluss. Wie sagt Duman auf dem engen Weg zwischen Metern liegen die Hochtäler und Plateaus, in kürzlich auf einem Fußballplatz gesehen. riesige Schweizer Almhütten thronen die ge- Häusern und Hang, „das hat sich geändert.“ deren spröder Weite die Hemşinli früher die In Bai spielt Ataş ein schweigsames Kind, das räumigen, mit schwungvollen Schnitzereien Er hält einen kleinen Vortrag über die Back- Sommermonate verbrachten. Die Alm, auf in der Schule stockend vorliest und sich nur flü- verzierten Holzhäuser über den waldigen Tä- tradition der Hemşinli, die ihre honigsüßen der Semih Kaplanoğlu einige Szenen von Bal sternd mit seinem Imker-Vater unterhält. In der lern, aus denen immer wieder Nebel aufsteigt. Kuchen in die ganze Welt exportierten. Über drehte, heißt Elevit und wird immer noch be- Wirklichkeit des Fırtına-Tals sehen wir einen Auch Yusuf, der fünfjährige Held von Bal lebt seinen Großvater, der in Moskau eine Kondi- wirtschaftet. Endlos schlängelt sich der Weg verschwitzten Bengel, der gerade laut jubelnd mit Vater und Mutter in einem solchen Haus. torei besaß. Doch wegen der Industriebäckerei einen langen Bergrücken empor. Der Unter- sein drittes Tor schießt. Nur widerstrebend lässt Abends, wenn die kleine Familie zum Essen sei diese Kunst heute weniger gefragt. boden des Mietwagens ist gar nicht erfreut sich Boran Ataş an der Hand des alten Mannes zusammenkommt, ist die Leinwand erfüllt von vom Bolzplatz ziehen. Die Begegnung mit der der Gemütlichkeit knarrender Dielen und des deutschen Presse ist kurz, aber klar. Auf die ein- prasselnden Ofenfeuers. zige Frage, wie es ihm in Deutschland, in Berlin, Das Haus, in dem der Film gedreht wurde, Das Haus, in dem gedreht wurde, ist unbewohnt, auf den Filmfestspielen gefallen habe, antwortet liegt nicht weit vom Hotel. Es ist unbewohnt, der Kleine: „Das Essen war schlecht.“ der Garten verwildert, die Tür verrammelt. der Garten verwildert, die Tür verrammelt... Wahrend der Rückfahrt zur Herberge sagt Aber unten, im Erdgeschoss, kann man den Idris Duman: „Wie schön wäre es, wenn die