Spezialausgabe zum 1. August Nummer 30/31 — 29. Juli 2021 – 89. Jahrgang Fr. 9.– (inkl. MwSt.) – Euro 6.90

Überleben in einer verrückten Welt Schwyzer Freiheits-Trychler, J. K. Rowling, Herbert Kickl, Loco Escrito, Michel Comte, Esther Vilar, Viktor Giacobbo, Fricktal, mon amour u. v. a. m. Cover: Gerry Hofstetter, Lichtkünstler v

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RZ_DEG_02_21089_Degussa_Weltwoche_Juli_230x300_C_V1.indd 1 21.06.21 15:26 Nummer 30/31 — 29. Juli 2021 – 89. Jahrgang

Überleben in einer verrückten Welt

ürzlich habe ich eine Biografie des römi- Bewohner, der Schweizer. Die Schweizer wie- Natürlich sind die Schweizer etwas schi­ Kschen Politikers, Redners und Schrift- derum haben sich im Laufe ihrer Geschichte zophren. Sie haben das merkwürdige Bedürf- stellers Marcus Tullius Cicero gelesen. Die Lek- darauf geeinigt, das, was sie alle verbindet, nis, von der ganzen Welt dauernd geliebt zu türe hatte etwas Tröstliches. Viel schlimmer als in ihrer speziellen, einzigartigen Staatsform werden. Vielleicht rührt es daher, dass wir als heute war damals, im letzten Jahrhundert vor zu erblicken. Schweizer zu sein, heisst von al- geborene Dienstleister und sensible, einfühl- Christi, die Politik. Leute wie Cicero lebten in ters her, sich mit der Verfassung, mit der Frei- same, mehrsprachige Zuhörer, die mit allen ständiger Gefahr. Die Verhältnisse waren un- heit und Unabhängigkeit unseres Landes zu ein Geschäft machen wollen, jede Art von Streit sicher. Mord galt als fast schon legitimes Mittel identifizieren. Die Schweiz ist ein permanen- und Reibung in unseren Aussenverhältnissen des Machterwerbs. Man wagt sich kaum vorzu- ter Willensakt. Sie besteht nur so lange, als sie tunlichst, geradezu panisch vermeiden möch- stellen, wie dreckig die weniger Mächtigen und von ihren Bürgern gewollt wird. Gefährlich ten. Möglicherweise ist ein Land, das sich im Begüterten dran waren. werden können der Schweiz deshalb nur die Innern so viel Freiheit, Vielfalt und Anarchie Rechtsstaat und Demokratie sind titanische Schweizer. gönnt, nach aussen hin besonders vorsichtig Errungenschaften. Nichts ist weniger selbst- Seit der Bundesrat mit Brüssel die Ver- bis ängstlich. Was ja auch nicht das Allerun- verständlich. Die Menschen neigen zur Hab- handlungen über ein institutionelles EU- vernünftigste ist. und Machtgier. Die Starken würden die Schwa- Rahmenabkommen abgebrochen hat, macht Möglicherweise ist es Gott. Vielleicht sind es chen umbringen oder ausbeuten, wenn man die EU auf kleinlichste Weise Druck. Es gibt auch nur unsere Institutionen. Allenfalls liegt es sie denn liesse. Ich staune jeden Tag, dass es Seitenhiebe. Die EU schikaniert unsere Ex- an beidem. Glückliche Fügungen walten über so etwas wie die Schweiz überhaupt gibt. Ein porteure. Sie droht den Universitäten. Nach der Schweiz. Wie der Bundesrat in diesem Jahr Land, in dem sich die Leute selber regieren. dem schwankenden Juncker wird die EU- im Grunde gegen seine Neigungen und Über- Eigentlich passiert hier nichts. Das ist als Lob Kommission nun von einer wegen Unfähig- zeugungen das Rahmenabkommen beerdigte, zu verstehen. Wir haben keine Terroranschläge, keit abgeschobenen ehemaligen deutschen Ver- die Rechte von Volk und Ständen damit fürs Erste keine Massaker und Amokläufe mit Dutzenden teidigungsministerin angeführt. Es ist traurig, sicherte, war eine Sternstunde der Eidgenossen- von Toten. Irgendwie ist die Schweiz normaler wie tief das europäische Friedensprojekt ge- schaft. Gleich darauf lehnten die Stimmbürger als andere Länder. sunken ist. Die Schweiz kann, darf und wird und Kantone überraschend das CO2-Gesetz ab, Warum? Ich habe keine Ahnung. Vermutlich bei dieser Diskriminierungsunion, die freie obwohl oder vielleicht gerade weil ihnen seit hat auch dies mit unserer Staatsform zu tun. Demokratien würgt und piesackt, niemals Monaten, ja seit Jahren von oben die Ohren voll- Mit der Art, wie wir uns regieren. Möglicher- mitmachen. gedröhnt wurden, wie wichtig und alternativ- weise spinnen wir hier ein bisschen weniger. los dieses so glorreiche, angebliche Gesetz zur Bleiben wir noch eine Sekunde beim Wunder ­Rettung des Planeten gewesen wäre. Schweiz. Es ist keine Kunst, mit guten Zutaten Die Schweiz ist für viele eine Hoffnung. Sie ein hervorragendes Abendessen zu machen. sehen darin zu Recht das gegen alle Wahr- Aber es erfordert höchste Kunst, aus so mangel- scheinlichkeit verwirklichte Versprechen, haftem Material wie dem Menschen einen Staat Kein Zirkus dass es auf der Erde doch noch wenigstens ein zu zimmern, der seinen Bewohnern Schutz, Land gibt, in dem die Bürger im umfassenden Sicherheit und vor allem die Freiheit bietet, Sinn des Wortes Staatsbürger einer Demokratie etwas aus sich und ihrem Leben zu machen. mit sind. Wie verwöhnte Erben drohen die Schwei- Die Schweiz gibt es nur einmal auf diesem zer das Wunder, das sie in gewisser Weise sel- Planeten. Es klingt verrückt, aber es ist wahr: ber sind, zu vergessen. Oder sie bekommen ein Noch kein anderes Land ist auf die Idee ge- dem Knie. schlechtes Gewissen. Und haben dann das Ge- kommen, das Offensichtlichste zu tun: näm- fühl, sie müssten die Schweiz neu erfinden, auf lich die Schweiz und ihre Staatsform zu ko- Gelenk- und Sportchirurgie. Eines der dass sie auch von denen geliebt werden, die der pieren, die doch so augenfällig den Beweis Fachgebiete in Ihrer Privatklinik für Schweiz nichts Gutes wollen. erbracht hat, dass Freiheit und Selbstregierung, Chirurgie und individuellen Service. Überleben in einer verrückten Welt: Die Neutralität und Föderalismus nicht nur Frie- pyramide.ch Schweiz schafft es seit 730 Jahren. Warum? den und Sicherheit, sondern auch Wohlstand Weil sie die Schweiz geblieben ist. Nichts bringen. Trotz ihrem Erfolg bleibt die Schweiz braucht mehr Kraft und Weisheit, als zu be- ein weltexklusives Wagnis der Freiheit. Nur die wahren, was sich bewährt hat. Sorgen wir Schweizer trauen sich zu, ihr Schicksal wirklich dafür, dass wir unseren Kindern eine Schweiz selber in die Hand zu nehmen. hinterlassen, in der zu leben wir nach wie vor Was ist die Schweiz? Sie ist zum einen die Spitze für Sie und oft zu unserer eigenen Verwunderung das Summe aller historischen Erfahrungen ihrer Privileg haben. R. K.

Weltwoche Nr. 30.21 3 Cover: Mike Kessler, Frank Schwarzbach, Céline Hofstetter, Henry Maurer INTERN Sommer-Doppelausgabe, Lichtkünstler Hofstetter, Schwyzer Trychler, Heinzmanns «Labyrinth», Albers’ Plateau Napoléon

Wir freuen uns, Ihnen das diesjährige Spezial- heft zum 1. August vorzulegen. Es soll eine Tischbombe zum Fest sein, eine Wundertüte, farbig, unterhaltsam, inspirierend. Dafür haben wir die bewährte Heftstruktur umgestossen. Auf den ersten Seiten finden Sie ein paar kürze- re Texte zur Aktualität, der Rest ­dieser Ausgabe widmet sich in vielfältigster Weise dem Motto «Überleben in einer ­verrückten Welt». Wer eine liebgewonnene Kolumne­ oder Rubrik vermisst: Die nächste Weltwoche erscheint am 12. August im gewohnten Kleid. Und wer nicht bis dahin warten mag: «Weltwoche daily» sendet bereits wieder ab dem 9. August.

Auch in diesem Jahr haben wir die Cover- gestaltung des Sommerhefts einem renom- mierten Künstler überlassen: dem Schweizer Lichtmagier Gerry Hofstetter. Seinen Durch- bruch schaffte Hofstetter am 1. August 2002, als er das Bundeshaus illuminierte. Seither hat er mit seinen Beleuchtungsaktionen weltweit für Urchige Freiheitskämpfer: Schwyzer Trychler, Reporter Zeller (2. v. l.). Aufsehen gesorgt. Das Kolosseum in Rom, das Brandenburger Tor in Berlin, die Nasa-­Raketen in Cape Canaveral dienten ihm schon als hörden. Wer sind diese urchigen Frauen und Anton Beck. Ohnehin versucht sie mehr denn Projektionsflächen. Die spektakulärsten Bilder Männer? Reporter Roman Zeller besuchte sie je, die Balance zu finden, und meint, dass das entstehen, wenn Hofstetter mit seinen Projek- im Muotatal und sprach mit ihnen über die am besten klappt, wenn sie «nicht immer alles toren in der Natur unterwegs ist. Dann ­erstrahlt Schweiz. Seite 20 so persönlich» nimmt. Seite 78 plötzlich Wilhelm Tell am Matterhorn oder die «Titanic» auf einem Arktis-Eisberg: ­lichte Seitdem Stefanie Heinzmann als Teenager eine Vor 200 Jahren starb Napoleon Bonaparte. Momente von eigentümlicher Faszinations- deutsche Castingshow gewann, gilt sie als das Zu den verrücktesten Episoden seines ausser- kraft. Wir haben den umtriebigen Hofstetter Stimmwunder aus dem Wallis. Davon, dass seit- gewöhnlichen Lebens zählt der sogenannte getroffen – in seinem fünfzigplätzigen Privat- dem aber auch bei ihr nicht immer alles rosig Adlerflug, die kurzzeitige Rückeroberung kino in Zumikon. Seite 56 war, singt sie auf ihrem neusten Album, «La- der Macht per Gewaltsmarsch von Südfrank- byrinth», das während der Pandemie entstand reich nach Paris. Ihren Anfang nahm die Kam­ Ihre Treicheln erzeugen den Sound des Wider- und doch so viele positive Gefühle verbreitet pagne auf einem Plateau oberhalb von Grasse. stands. Im Gleichschritt marschieren die wie kaum eines zuvor. «Weil ich das brauche, Der Zürcher Kulturunternehmer Lucas Albers Schwyzer Freiheits-Trychler in ihren weis- weil ich mich nicht selbst in ein Loch hinunter- konnte das Grundstück kaufen und hat dort sen Kutten durch die Städte des Landes und ziehen, sondern mir sagen will, dass ich das Grosses vor. Seite 72 protestieren gegen die Corona-Politik der Be- schaffe», sagte Heinzmann unserem Redaktor Ihre Weltwoche

IMPRESSUM Herausgeberin: Weltwoche Verlags AG, Förrlibuckstrasse 70, Postfach, 8021 Zürich. Die Weltwoche erscheint donnerstags. Redaktion und Verlag: Telefon 043 444 57 00, Fax 043 444 56 69, www.weltwoche.ch, E-Mail-Adressen: [email protected], [email protected], [email protected]. Abo-Service: Tel. 043 444 57 01, Fax 043 444 50 91, E-Mail: [email protected]. Jahresabonnement Inland Fr. 346.– (inkl. MwSt.). Schnupperabonnement Inland Fr. 38.— (inkl. MwSt.). Weitere Angebote für In- und Ausland unter www.weltwoche.ch/abo Chefredaktor: Roger Köppel. Verlagsleitung: Sandro Gianini. Betriebsleitung: Samuel Hofmann. Corporate Publishing: Florian Schwab. Anzeigenverkauf: Tel. 043 444 57 02, Fax 043 444 56 07, E-Mail: [email protected]. Online-Vermarktung: GLA United. E-Mail: [email protected] Druck: Print Media Corporation, PMC, Oetwil am See. Die Weltwoche wird gedruckt in der Schweiz auf schweizerischem Papier, das auf der Basis von hochwertigem Durchforstungsholz, Altpapier und Zellulose hergestellt wurde. Es schont Ressourcen, Energie und somit die Umwelt. Die Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion gestattet. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos wird keine Haftung übernommen.

4 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: Donato Resta dav_dominicana_kv_230x300mm_ch_de_id604511.indd 1 DES GEWÖHNLICHEN FERNAB DERKÜSTE EINE INSELDERAROMEN, DIE MUSIKUNDDENBODENFLIES SCHAFT, WELCHE DURCHDIEMENSCHEN,KUNST EINE DAVIDOFF DOMINICANASPIEGELT DIELEIDEN- DIE NEUEDAVIDOFF DOMINICANA ST WIDER · ,

06.07.21 10:57 #timebeautifullyfilled davidoff.com Heldenreisen: J. K. Rowling. Seite 38 Auf Napoleons Spuren: Lucas Albers. Seite 72 Kultur der Schweiz: Denise Tonella. Seite 100

DIESE WOCHE 29 Kurt W. Zimmermann 68 Ein Leben wie ein Grand Prix Historisch und hysterisch Tüftler Rudi und Töff-Engel Dane, 3 Editorial 30 Verliebte Roboter 71 Essen Sushi und die Guten 4 Intern Künstliche Intelligenz mit Gefühlen? 72 Plateau Napoléon 8 Eilmeldung 32 Viktor Giacobbo Der Coup des Zürchers Lucas Albers Achter Bundesrat im Machtrausch Die private Seite des Komikers 76 Geldpolitik in der Sackgasse 9 Peter Rothenbühler 36 Wo die Berge schrumpfen Orientierungslose Zentralbanken Liebe Jacqueline de Quattro Hubert Mooser wandert im Wallis 77 Objekt der Woche 10 Tagebuch 38 Der Fall J. K. Rowling 78 Stefanie Heinzmann, Musikerin 12 Regenbogen über der Bahnhofstrasse Julie Burchill über die Kultautorin «Es macht mir Spass, älter zu werden» Abstimmungspropaganda der ZKB 41 Lisa Bader «Sommelier des Jahres» 80 Nigel Biggar, Moraltheologe 13 Europas Nacht hat längst begonnen 42 «Niemand weiss, was ethisch ist» «Waffe für eine zeitgenössische Schlacht» Essay von Klaus J. Stöhlker Wirtschaftsrechtler Peter V. Kunz 82 Philipp Gurt, Bestsellerautor 14 Stationen einer Genossen-Karriere 44 Brigitte Bardot Sarah Pines über Ungeschliffener Diamant SP-Politiker Roberto Rodriguez die Leitfigur eines neuen Lebensstils 83 Nachruf Alfred Biolek (1934–2021) 16 Deutschland 46 Meine Blechschäden 84 Leben auf dem Lande Versagen in der Flutkatastrophe Linus Reichlins Automobil-Bilanz Raus aus der Stadt mit Cora Stephan 17 Kariem Hussein Der schnelle 47 Szenen einer Treibjagd 87 Königin der Spiele Hürdenläufer stolpert Hanno Berger in Auslieferungshaft Game-Designerin Philomena Schwab 18 Christoph Mörgeli 48 Moutier Was treibt die Gemeinde 88 Michel Comte, Künstler «Eingemitteter» FDP-Präsident in die Arme des Kantons Jura? Wie der Grossvater, so der Enkel 18 Personenkontrolle 50 Loco Escrito, Latin-Sänger 90 Bücher Sommer-Tipps von den Weltwoche-Autoren 19 Peter Bodenmann «Was das Herz sagt, ist das Wichtigste» Klimaneutrale Schweiz: ein Spaziergang 53 Herodot 94 Fricktal, mon amour Hommage von Christoph Grenacher 54 Pestalozzi als politischer Vordenker 96 Thor Kunkel, Kultschriftsteller Die unbekannte Seite des Pädagogen SPEZIAL ZUM 1. AUGUST Soda aus Gletscherwasser 56 Gerry Hofstetter, Lichtkünstler 20 Schwyzer Freiheits-Trychler 100 Denise Tonella Die neue Direktorin «Schön ist es, wenn man für sein Land 61 Beat Gygi Wunder Wirtschaft des Landesmuseums bis zum Umfallen kämpft» 62 Robert Brandenberger, Kosmologe 102 Claudio Zuccolini, Komiker 24 Unsere Frau in Moskau «Es gibt keinen Anfang der Zeit» «Die Rolle des Klassenclowns gefiel mir» Korrespondentin Luzia Tschirky 64 Auto Alfa Romeo Giulia GTA 104 Esther Vilar, Feministin «Im Grunde 26 Herbert Kickl, Parteichef 66 Freddy Burger, Gastronom haben wir ja das gleiche Programm» «Der Islam gehört nicht zu Österreich» Grosse Pläne nach der Monsterkrise 106 Körzis Hollywood

6 Weltwoche Nr. 30.21 Bilder: Ray Tang/Anadolu Agency/Getty Images, Rebecca Marshall/laif für die Weltwoche, Linda Pollari für die Weltwoche 8460 7 ½Zi.Einfamilienhäuserinkl.Parkierung Preis abCHF 1‘096‘000.- 8708 Miete ab2‘750.-p/Mt.,NK190.-,BezugnachVerein. Preis ab CHF 1‘611‘000.-,CHF Bezug ab Preis ab Herbst 2022 3 Zi 8955 3 ½-4Zi. Terrassenwohnungen Preis aufAnfrage, BezugaufAnfrage Preis abCHF 1‘377‘000.-,BezugabFrühling 2021 8484 5 ½Zi.Eigentumswohnung 8136 3 ½und4Zi.Eigentumswohnungen 8913 7 ½Zi.Doppel-Einfamilienhäuser 8457 3 ½-5Zi.Eigentumswohnungen Preis aufAnfrage, BezugaufAnfrage 8332 5 ½Zi.Eigentumswohnung Preis CHF 1‘007‘300.-,BezugabWinter2021/22 8610 2 ½-4Zi.Eigentumswohnungen Preis aufAnfrage, Bezug aufAnfrage 5 ½Zi.Doppel-Einfamilienhaus Preis CHF 1‘299‘200.-,BezugabWinter2021/22 8332 Preis aufAnfrage, BezugaufAnfrage Preis CHF 1‘363‘000.-,BezugFrühling 2022 8615 3 ½Zi.Gartenwohnung 8127 3 ½-5Zi.Wohnungen, 4½-6Zi.DEFH mmer Mietwohnung Weisslingen, Marthalen, RolfF Marthalen, Ottenbach, Rumlikon, L. Garcia Navarro Tel. 0443161342 Telefon 052/235 8000 8406 Winterthur Zürcherstrasse 124Postfach322 L. Garcia Navarro Tel. 0443161342 Rolf Flacher Tel. 0523380709 Rolf Flacher Tel. 0523380709 Ramona Schiesser Tel. 0443161321 L. G Ramona Schiesser Tel. 0443161321 Ramona Schiesser Tel. 0443161321 arcia Navarro Tel. 0443161342 zzgl. Parkierung, BezugaufAnfrage [email protected] oderper Telefon 05223580 00. Melden Sie sichbeiunserem Chef werdenverwirklicht können? Haben Sie einGrundstück aufdemImmobilienträume 1. -3.Oktober2021, LakeSideZürich SVIT Immobilien-Messe inZürich 3 ½-5Zi.Eigentumswohnungen 4 ½Zi.Eigentumswohnung Preis CHF 1‘071‘000.-,,BezugaufAnfrage 8615 2 ½-4Zi.Eigentumswohnungen Preis CHF 673‘400.-,BezugnachVereinbarung Preis CHF 891‘000.-,CHF Bezug Preis auf Anfrage 3 ½Zi.Eigentumswohnung Preis CHF 1‘873‘000.-,BezugabFrühling 2021 8103 4 ½Zi. Terrassenwohnung 8118 5 ½Zi.Eigentumswohnung Preis 1‘953‘000.-, Bezug abFrühling 2021 Preis ab CHF 668‘000.-,CHF Bezug ab Preis auf Anfrage Preis ab CHF 1‘136‘000.-,CHF Bezug ab Preis auf Anfrage 8545 3 ½-5Zi.Eigentumswohnungen 8308 3 ½und4Zi.Eigentumswohnungen 8152 3 ½-5Zi.Eigentumswohnungen Preis abCHF 1‘341‘000.-, Bezug abHerbst 2022 Preis aufAnfrage, BezugaufAnfrage 8309 3 ½und4Zi.Eigentumswohnungen Stadel/Winterthur, Seuzach, Saland, Pfaffhausen, Paul Späni Tel. 0523380709 Rolf Flacher Tel. 0523380709 L. Garcia Navarro Tel. 0443161342 Paul Späni Tel. 0523380709 Paul Späni Tel. 0523380709 Ramona Schiesser Tel. 0443161321 Ramona Schiesser L. Garcia Navarro Tel. 0443161342 Rolf Flacher Tel. 0523380709 Tel. 0443161321

Stand Juni 2021 EILMELDUNG Achter Bundesrat im Machtrausch Kanzler Walter Thurnherr will die Führung des Bundesrats in der Covid-Krise untersuchen. Überhaupt äussert sich der oberste Beamte ganz schön anmassend. Christoph Mörgeli

islang verstanden sich die Bundeskanzler als schwindigkeit sich auch in der Schweiz ganz heit» aus. Auch diese Behauptung scheitert Bdiskrete Administrativgehilfen der Landes- grundsätzlich Dinge ändern können». Exakt streckenweise am ­Faktencheck: So haben die regierung. Selbst wenn sie die Strippen zogen, diese Geschwindigkeit der Veränderungen Behörden weder bei der Ausschaffungs- noch taten sie es im Hintergrund und verkleinerten müsste eigentlich auch die Bundesverwaltung bei der Masseneinwanderungsinitiative die sich zu grauen Verwaltungsmäusen. Der gegen- in Schwung setzen und eine zeitnahe interne Mehrheitsmeinung umgesetzt. wärtige Bundeskanzler Walter Thurnherr (Die Untersuchung garantieren. Dass der «wohl Beim Nein des Souveräns zum CO2-Ge- Mitte) hingegen gibt sich nicht öffentlichkeits- mächtigste Beamte der Schweiz» angesichts der setz scheint alles in eine ähnliche Richtung scheu, sondern selbst- und machtbewusst. Im Impfstoffentwicklung dem Internationalismus der bundesrätlichen Ignorierung zu laufen. Interview mit den Tamedia-Zeitungen zieht das Wort redet, erstaunt insofern nicht, als der Da tönt es geradezu zynisch, wenn Thurnherr er höchstselbst die «grosse Bilanz zur Corona- meint: «Die echten Freunde der Verfassung Krise». Er sei vom Bundesrat beauftragt wor- akzeptieren dann auch das Resultat der Volks- den, «das ganze Krisenmanagement einer um- abstimmung.» Läge es nicht am Bundesrat, fassenden Evaluation zu unterziehen». Nun ist beim Akzeptieren von Volksabstimmungen nachvollziehbar, dass unsere Regierung ihr Tun mit gutem Beispiel voranzugehen? und Lassen möglichst selber oder doch durch eine ihr unterstellte, abhängige Instanz unter- Vielsagende Wortwahl suchen lassen will. So funktioniert das aber nicht Die Wissenschaft sei «am äussersten Orbit der in unserem politischen System, zumindest nicht Verwaltung angesiedelt», nämlich bei den ausschliesslich so. ausserparlamentarischen Kommissionen, fin- det Thurnherr. Tatsächlich rechtfertigt genau «Mehrheits-, nicht evidenzbasiert» diese Verwaltung ihre – in keiner einzigen Walter Thurnherr mag vorprellen, wie er will: Wirtschaftsbranche erreichten – Löhne mit Selbstverständlich wird die bundesrätliche der wissenschaftlichen Ausbildung so vieler Führung in der Covid-Krise in erster Linie Geradezu zynisch: Thurnherr. Bundesangestellten. Walter Thurnherr ist sel- durch die politische Aufsicht untersucht. Und ber ebenso Wissenschaftler wie die meisten diese ist nicht der Bundeskanzler, sondern das Mitarbeiter des Bundesamtes für Gesundheit Parlament beziehungsweise dessen Geschäfts- Bund zuliess, dass das hervorragende Schwei- (BAG). Wenn es dort heute an naturwissen- prüfungskommission. Möglicherweise wird zerische Serum- und Impfinstitut (Berna) ans schaftlicher, medizinischer oder epidemio- sogar eine parlamentarische Untersuchungs- Ausland verhökert wurde. logischer Kompetenz fehlt, müsste dieser kommission aufarbeiten, welche Fehler durch Thurnherr stellt als ausgebildeter Physiker Missstand umgehend behoben werden. Die wen gemacht wurden und welche Lehren daraus mit einem gewissen Bedauern fest, dass das Berufung der Politologin Anne Lévy sowie des gezogen werden müssen. Dass dies dem Bundes- politische System der Schweiz «mehrheits-, Juristen und SP-Karrieristen Thomas Christen rat nicht behagt, liegt auf der Hand. Viel lieber nicht evidenzbasiert» funktioniere. Passt dem an die BAG-Spitze geht jedenfalls exakt in die hätte es die Landesregierung, wenn sich der mit- Herrn Bundeskanzler die Demokratie nicht falsche Richtung. eingebundene, mitverantwortliche Stabschef mehr? Ganz sicher nicht evidenzbasiert war in Schliesslich spricht der munter politisie- mit den bundesrätlichen Unterlassungen be- der Corona-Krise die Aufrechterhaltung des öf- rende Verwaltungsmann Walter Thurnherr schäftigen würde. «Unsere Evaluation ist auf fentlichen Verkehrs bei gleichzeitiger Schlies- auch noch den Graben zwischen den «grösse- mehrere Jahre angelegt», betont Thurnherr. sung der Gastronomie. Mit Logik und Vernunft ren Städten» und dem «Hinterland» an. Am Auch das ist Musik in den Ohren des Bundes- ist nicht zu erklären, warum man sich in über- Gebrauch der Wörter erkennt man die Ge- rats. Denn nach «mehreren Jahren» ist fast alles füllten Trams oder Pendlerzügen weniger an- sinnung. Das Wort «Hinterland» sollte jeden- vergessen, und Gesundheitsminister Alain Ber- stecken soll als in Restaurants mit vorbildlichen falls ein Kanzler der Eidgenossenschaft nicht in set (SP) weilt genau wie die meisten seiner Kol- Schutzkonzepten. Auch der bundesrätliche den Mund nehmen. Als Nächstes folgen sonst leginnen längst nicht mehr im Amt. Atomausstieg oder die Verkehrs-, Energie- und ziemlich rasch die «Hinterwäldler». Oder die Angesichts seiner Ankündigung einer lang- Klimapolitik vermögen einer Überprüfung auf «Hinterletzten». Im eigenen Leben scheint jährigen Evaluation stellt sich die Frage, Evidenz wohl schwerlich zu genügen. Thurnherr jedenfalls das «Hinterland» durch- warum der Bundeskanzler als ersten sei- Der Bundeskanzler vertritt die Meinung, aus zu schätzen: Er wohnt im schönen Dorf ner Lernpunkte erwähnt, «mit welcher Ge- unser Land richte sich «nach der Mehr- ­Sigriswil hoch über dem Thunersee.

8 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: Gaetan Bally/Keystone PETER ROTHENBÜHLER Liebe Jacqueline de Quattro

ie und wir wissen, dass Sie die beste wie man Mitbewerber ins Leere laufen lässt. SWahl für das Parteipräsidium der FDP Darum lassen Sie auf Journalistenfragen wären. Eine(n) Bessere(n) gibt’s zurzeit nur ausrichten, Sie seien in den Ferien. Aber nicht. Alle, die sich jetzt freiwillig melden, nein gesagt haben Sie noch nicht. aber nur mit angezogener Handbremse, Was Sie auch auszeichnet, ist Ihre Über- sprich: nur für ein Co-Präsidium, haben zeugung, dass ein Co-Präsidium keine nicht Ihren Leistungsausweis: langjährige gute Sache ist, weil zu zeitaufwendig für Exekutiverfahrung als Regierungsrätin des die dauernden Absprachen. Und schon Kantons Waadt, beliebt bei allen Parlamen- haben Sie verlauten lassen, dass es wich- tariern als verlässliche Gesprächspartnerin. tiger sei, eine Strategie zu finden als eine Immer bereit, mutig in die Lücke zu sprin- neue Präsidentin, einen neuen Präsiden- gen, wenn kein anderer für eine knifflige ten. Ökologie ist für Sie übrigens kein Aufgabe zu haben war. Mit Bravour: Fremdwort, seit vierzehn Jahren predigen Ihnen, der «Blonden», wie Sie von Nei- FDP-Politikerin de Quattro. Sie, dass nicht Verzicht und Verbote der dern abschätzig genannt wurden, hat man richtige Weg seien, sondern eine innovati- oft die heissen Kartoffeln zugeschanzt, Mi- ve Wirtschaft, die Pro­bleme aktiv anpackt. litär, Polizei, Raumplanung, Umweltschutz, Französisch, Italienisch, Englisch) den Vor- Vielleicht schafft es die FDP ja noch, Sie für und zwar genau dann, wenn es schwierig teil, niemandem etwas beweisen zu müssen. das zeitraubende, undankbare Amt zu über- wurde. Alles haben Sie mit Bravour bewältigt, Sie sind glücklich und stehen gerade vor der zeugen. Gut wär’s. sich als perfekte Krisenmanagerin bewährt. Wiedereröffnung einer Anwaltskanzlei. Genau das braucht heute die FDP. Obendrein Als erfolgreiche Sportlerin und frühere Judo- Mit freundlichen Grüssen haben Sie neben der Viersprachigkeit (Deutsch, Schweizer-Meisterin wissen Sie auch bestens, Peter Rothenbühler

BARTAK

Weltwoche Nr. 30.21 9 Bild: Alessandro della Valle/Keystone; Illustration: Miroslav Bartak TAGEBUCH Anonymus

ir schreiben den 17. Juli 2021. Meine Freunden im Restaurant «Scorpios». Natürlich entstanden ist. Wir werden aufgeteilt, ge- WFamilie und ich geniessen Mykonos ohne Musik, aber die Stimmung ist gut und der spalten. Es wird eine Meinung indoktriniert, (ja, es gibt hier auch ganz normale Fami- Sonnenuntergang traumhaft. Um ein Uhr sind und wer eine andere hat, wird ausgegrenzt. lien). Bei der Rückkehr vom Strand sehen wir zurück im Hotel zum Schlummi. Blick-TV hat zum Beispiel eine Serie ge- wir den Direktor unseres Hotels ein Schild startet, um mit «Corona-Massnahmen- anbringen. Geschäfte, Bars et cetera seien für ontag, 19. Juli: Jetzt geht’s los. Ich Kritikern» zu sprechen. «Wir wollen ver- eine Woche von ein bis sechs Uhr morgens Mlese die Schlagzeilen in der Schweiz: stehen, wie diese Leute denken», sagt der geschlossen. Man dürfe in dieser Zeit auch «Corona-Chaos­ auf Mykonos», «Lockdown Moderator. Was meint er damit? Für mich nicht ausgehen. Zudem wird ein Musik- im Corona-­Chaos», «Mykonos versinkt im klingt das so: «Wir» sind die Guten, die es verbot verordnet. Chaos», «Fussballstars sitzen fest», «Myko- wissen, und «die» sind andersdenkende Der Hoteldirektor erklärt uns, ein Dut- nos muss in Lockdown». Querulanten, die es zu bekehren gilt. zend junge Italiener seien bei Stichproben Habe ich etwas verpasst? Nein, sämtliche positiv auf Corona getestet worden. Nun Artikel sind voll von falschen Informationen. ch glaube, wir befinden uns auf einem befürchte man, das Virus könne sich in der Mit reisserischen Titeln wird Panik verbreitet. Igefährlichen Weg. Gewisse Politiker Partyszene verbreiten. Krank sei niemand, Diejenigen, die in der Schweiz geblieben sind, verlangen ja bereits, dass Krankenkassen aber um das gehe es eh nicht. Er vermutet können sich hämische Kommentare nicht ver- für Ungeimpfte nicht mehr zahlen sollen. politischen Druck der EU und auch der Tür- kneifen und schimpfen über das üble Partyvolk, ­Andere fordern gar die öffentlich sichtbare kei. Man wolle das Partyvolk, das hier teils das es in unfassbarer und egoistischer Weise ge- Kennzeichnung der Ungeimpften. Wie in Massenschlägen wohne, weghaben. wagt hat, in die Ferien zu fliegen. Da ich vor kann einer so etwas Unfassbares öffentlich Nun gut, für uns als Familie nicht weiter Ort bin, fühle ich mich verpflichtet, einen Kom- fordern, ohne Empörung auszulösen? Die tragisch. Später fahren wir nach Mykonos-­ mentar zu schreiben, der die Fakten klarstellt. Zeiten, in denen man Leute gekennzeichnet Stadt, um in einem schönen Restaurant Der Kommentar wird nicht publiziert. Meine hat, liegen ja noch nicht weit zurück! zu essen. Am Tisch nebenan sitzen zwei Freunde machen dieselbe Erfahrung. Nicht das Virus, sondern die politisch und ­Pärchen aus den USA. Wir kommen ins medial geschürte Spaltung der Menschen Plaudern. uter Journalismus zeichnet sich durch sowie die Machtspiele zwischen den Län- Sie seien zum ersten Mal im Sommer in Gneutrale und objektive Berichterstattung dern in dieser Frage sollten uns Sorgen ma- Europa. Es gebe zurzeit sehr günstige Flüge, aus. Die Glaubwürdigkeit der Medien ist deren chen. Wir sind nicht in China, wir leben in ausserdem verlange die EU keinerlei PCR- höchstes Gut. In den letzten Monaten sind aber einer Demokratie. Toleranz und Solidarität Tests, Impfausweise oder Quarantäne von Tausende von Blogs mit Hunderttausenden haben uns gross gemacht. Allerdings sind Amerikanern. Dies, während uns Euro­ bis Millionen von Followern entstanden, die wir mit Vollgas dabei, wesentliche Grund- päern die Einreise in die USA nach wie vor alternative Informationen zu jenen der Main- werte unserer Gesellschaft zu zerstören. verweigert wird. Aber das scheint für Brüs- stream-Medien verbreiten. Die Glaubwürdig- sel und auch für Bern in Ordnung zu sein. keit und Unabhängigkeit der etablierten Me- ier sitze ich nun auf Mykonos, im dien wird offenbar von vielen Menschen in H­angeblich «wütenden Corona-Chaos», onntag, 18. Juli. Ich schaue die Schwei- Frage gestellt. Das hat gerade beim Thema Pan- und lese anstatt Zeitungen lieber ein gutes Szer Sonntagsmedien durch. Es wird demie zu vielen unterschiedlichen Meinungen Buch. auch über die Verordnung in Mykonos be- und zu Verhärtungen geführt. richtet. Wir verbringen einen schönen Tag Covid-19 ist heute nicht mehr die Bedrohung. Der Autor ist ein bekannter Schweizer am Strand. Am Abend treffen wir uns mit Die Bedrohung ist der Glaubenskrieg, der Unternehmensberater.

10 Weltwoche Nr. 30.21 Illustration: Lev Kaplan Advertorial Fünf Gründe für smartes Silber Elektromobilität, Medizinaltechnik, Digitalisierung: Die Megatrends der Zukunft brauchen Silber, was den Preis des Edelmetalls hochtreiben dürfte. Gut, dass sich mit dem S-Deposito von BB Wertmetall einfach und sicher in reines Silbergranulat investieren lässt. Von Stephan Lehmann-Maldonado

1. Silber ist immer Geld wert

Der Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman hat es auf den Punkt gebracht: Silber ist das wichtigste Geldmetall der Geschichte. Die frühste Silbertransaktion überliefert die Bibel. So erwarb etwa Glau- bensvater Abraham das Grab für seine Frau Sara mit Silber. Es handelt sich um den ers- ten Landerwerb im «gelobten Land» Kana- an. Notabene nennt die Heilige Schrift das Silber meist vor Gold. Zahlreiche Sprachen verwenden denselben Begriff für Silber wie für Geld. Tatsächlich hat Silber seine Kauf- kraft über Jahrtausende gehalten. Dem- gegenüber verlor der «harte Franken» seit Einführung der Schweizerischen National- bank anno 1907 über 90 Prozent an Wert.

2. Das S-Deposito erschliesst Innovation aus Silber: die Vermögensaufbau-Lösungen von BB Wertmetall AG Ihnen den Königsweg zu Silber Das S-Deposito von BB Wertmetall vereint Leihkasse Thun pleite. Zu einer sorgfältigen 5. Profitieren Sie vom Boom die Eigenschaften von physischem Silber Risikostreuung gehört daher auch, sich für mit jenen eines Kontos. Jede Einzahlung einen allfälligen Bankkonkurs oder gar ei- Schon heute stammt über die Hälfte der Sil- fliesst direkt in reines Silbergranulat. Die- nen Kollaps des Geldsystems zu wappnen. bernachfrage aus der Industrie. Boombran- ses wird vollumfänglich versichert in einem Die gute Nachricht ist da, dass das S-De- chen wie Medtech, Telecom und Elektromo- Zollfreilager in der Schweiz aufbewahrt. Je posito unabhängig von Banken und Staat bilität lechzen nach Silber. Je früher Sie ins nach Ihren Bedürfnissen eignet sich ein an- funktioniert. Das physisch vorhandene Sil- Edelmetall investieren, desto besser. deres Modell für Sie. Für Einsteiger ist das bergranulat gehört den Anlegerinnen und S-Deposito light konzipiert, der «kleine Bru- Anlegern. Es fällt also selbst im Worst-Case- der» des S-Deposito. Für professionelle An- Szenario nicht in die Konkursmasse. leger bietet sich das S-Deposito Pro an. Egal, Engagement für bleibende Werte wofür Sie sich entscheiden: Sie können Die BB Wertmetall aus Lenzburg entwickelt flexibel Silber erwerben – und es jederzeit 4. Setzen Sie bei Ihren Lösungen, um mit Edelmetallen systematisch wieder in Geld einlösen. Denn Silbergranu- Einkäufen auf wahre Werte Wohlstand aufzubauen und zu erhalten. CEO lat ist der Grundrohstoff für sämtliche Sil- ist der Anlage- und Rohstoffexperte Werner berprodukte und industrielle Anwendun- Wer ein S-Deposito besitzt, kann Waren und J. Ullmann, der zuvor börsenkotierte Gold- gen. Darum ist es äusserst liquide. Dienstleistungen bei anderen S-Deposito- Explorationsgesellschaften gegründet und ge- Teilnehmern einkaufen. Dabei tauschen leitet hat. Sie Silbergranulat gegen die gewünschte 3. Verschaffen Sie sich Unab- Ware, was man «Bartern» nennt. Dank di- bb-wertmetall.ch hängigkeit vom Bankensystem gitalisierter Prozesse geht das ganz einfach, Telefon +41 62 892 48 48 etwa übers Smartphone. Immer mehr Fir- E-Mail [email protected] Banken erfüllen wichtige volkswirtschaft- men schliessen sich dem S-Deposito-System liche Aufgaben. Doch wie jedes andere Un- an – vom Delikatessenladen bis zum Bau- ternehmen sind auch sie nicht unverwund- geschäft. So entstehen Partnerschaften, die bar. 1991 ging beispielsweise die Spar- und auf gemeinsamen Werten beruhen.

BB_Wertmetall_Weltwoche_Advertorial_290721.indd 1 22.07.21 18:14 Regenbogen über der Bahnhofstrasse Die Zürcher Kantonalbank finanziert Abstimmungspropaganda der «Ehe für alle»-Befürworter. Dabei müsste sie als Institut in öffentlichem Besitz politisch neutral sein. Marcel Odermatt

s gehört heute zum guten Ton und zum tember abstimmt wird: die «Ehe für alle». Die an diesen politischen Kampagnen beteilige, sei Selbstmarketing: Schweizer Grosskon­ Initianten des Anlasses haben das Ja zur Vor­ «nur noch enttäuschend und irritierend». Er Ezerne informieren in grossflächigen Inse­ lage buchstäblich­ auf ihre Fahne geschrieben: ­erwartet, dass die Bank offenlegt, mit wie viel raten, dass bei ihnen Personen unterschiedlicher Es ist das offizielle Motto des Events («Trau Geld sie die Zurich Pride unterstützt. sexueller Orientierung und Geschlechteridenti­ dich. Ehe für alle jetzt!»). Überhaupt machen die Gegner der «Ehe für tät arbeiten. Damit bekennen sie sich zur so­ Die Veranstalter teilen auf ihrer Website mit: alle» nicht die besten Erfahrungen mit den genannten LGBTIQ+-Bevölkerung. «Das Parlament hat am 18. Dezember 2020 Banken. Während diese nach aussen gerne Ob Swiss, Logitech oder Swisscom: Sie alle die ‹Ehe für alle› angenommen. Mehrere erz­ dem Zeitgeist frönen und sich als Kämpfer ­präsentierten sich in den letzten Wochen mit konservative Komitees haben jedoch das Refe­ gegen Diskriminierung und Intoleranz ver­ Regenbogenfarben, dem Symbol dieser Be­ rendum dagegen ergriffen.» Deshalb komme es kaufen, nehmen sie es selber mit diesen Wer­ wegung. Die Firmen nennen das Diversitäts- nun zur Volksabstimmung, «die wir gemeinsam ten nicht so genau. Der Trägerverein «Nein und Inklusionsstrategie. Etwas weniger ab­ zur Ehe für alle» bekundete grosse Mühe, ein gehoben bedeutet das: Die Unternehmen wollen Wer sich trotzdem getraut, in Konto zu eröffnen, wie die CH-Media-Zeitun­ die besten Mitarbeiter und Angestellten, ganz dieser Frage dagegenzuhalten, muss gen kürzlich berichteten. gleich, mit wem diese ins Bett steigen. Und um­ Nachdem sie bei mehreren Banken ab­ gekehrt sind in einer Marktwirtschaft alle ein­ gute Nerven und viel Mut haben. geblitzt war, erbarmte sich schliesslich die Post­ fach potenzielle Konsumenten und Kunden, un­ finance ihrer und eröffnete der Organisation abhängig davon, was sie sonst so treiben und gewinnen müssen». Ein «besonderer Dank» die Möglichkeit, ihre finanziellen Angelegen­ welche sexuellen Präferenzen sie haben. gehe «an alle Unternehmen, die auch in ausser­ heiten abzuwickeln. Gegen die Raiffeisenbank ordentlichen Zeiten weiterhin mit ihrer Unter­ Zug hat der Verein inzwischen Strafanzeige «Besonderer Dank» stützung zu unserem wichtigen Anlass halten», wegen Verstosses gegen das Diskriminierungs­ Ganz vorne an der LGBTIQ+-Front stehen die schreiben die Veranstalter weiter und meinen verbot eingereicht. Banken. Gleich drei Finanzinstitute – Credit damit auch die Zürcher Kantonalbank. Suisse, UBS und Zürcher Kantonalbank (ZKB) – Das stösst den Referendumsführern sauer auf. Opportunisten und Trittbrettfahrer sind offizielle Partner des Zurich Pride Festival. «Hier wurde eine klare Grenze überschritten», Am Hauptsitz der ZKB an der Zürcher Bahn­ Es wird wegen der Covid-Pandemie am 4. Sep­ sagt Anian Liebrand, Koordinator des gegne­ hofstrasse gibt man sich unterdessen bedeckt. tember statt wie üblich im Juni abgehalten. In rischen Komitees. Dass sich ein Unternehmen «Die Zürcher Kantonalbank ist seit 2020 Spon­ diesem Pride-Monat wird jährlich an die Sto­ wie die ZKB, das politisch neutral sein müsste, soring-Partnerin der ‹Zurich Pride›. Sie unter­ newall-Unruhen in New York erinnert – eine streicht damit ihr Bekenntnis zu Vielfalt und Serie von gewalttätigen Konflikten zwischen Inklusion. Auf das Motto der Pride – dieses Jahr: Homo- sowie Transsexuellen und der Polizei ‹Trau Dich! Ehe für alle jetzt!› – hat die Bank kei­ nach einer Razzia im Jahr 1969. nen Einfluss», sagt Sprecherin Johanna Stauffer. Eigentlich sollte man meinen, dass ins­ Gleichzeitig räumt sie ein, dass sich die Anstalt besondere die Credit Suisse nach einer Reihe nicht in politische Entscheidungen einmischen von milliardenteuren Flops ihre Prioritäten an­ darf. «Als öffentlich-rechtliches Institut hält sich ders setzen könnte oder müsste. Doch als priva­ die Zürcher Kantonalbank im Abstimmungs­ tes Unternehmen kann die Zürcher Traditions­ kampf zurück», erklärt Stauffer. bank selber entscheiden, ob sie mit solchen Dass die Bank glaubt, hier grosszügig die Sponsorings ihre Ziele besser erreicht. eigenen Standards nicht einhalten zu müs­ Problematisch erscheint dagegen das En­ sen, hängt mit dem Thema zusammen. Es gagement der ZKB. Die viertgrösste Bank ist die Stunde der Opportunisten und Tritt­ der Schweiz besitzt die Rechtsform einer brettfahrer. Die Befürworter stehen als Sie­ öffentlich-­rechtlichen Anstalt und befindet sich ger schon fest. Wer sich trotzdem getraut, vollständig im Eigentum des Kantons Zürich, in dieser Frage dagegenzuhalten, muss gute das heisst, sie gehört allen Zürchern. Mit der Nerven und viel Mut haben. Keine Attribute, Werbung für die Zurich Pride unterstützt die mit denen die Finanzinstitute in den letzten Bank jetzt ein Anliegen, über das am 26. Sep­ ­Jahren geglänzt hätten.

12 Weltwoche Nr. 30.21 Cartoon: Kai Felmy Europas Nacht hat längst begonnen Ein Konzept aus der Physik hilft, den Niedergang unseres Kontinents zu verstehen. Aufzuhalten ist die Entwicklung nicht mehr. Auch die Schweiz ist betroffen. Klaus J. Stöhlker

er zweite Hauptsatz der Thermo- gesunken. Verlorene Kriege in Afghanistan und dynamik stammt aus dem Jahr 1847. im Nahen Osten, die Tausende von Milliarden DDer legendäre deutsche Physiker Her- US-Dollar kosteten, haben den Niedergang der mann von Helmholtz hat diese zentrale Er- US-Infrastruktur begünstigt. kenntnis festgehalten. Die Entropie hat nicht nur Europa, sie hat Seine Kollegen Rudolf Clausius und Lud- auch die USA erfasst. Das war zu erwarten, denn wig Boltzmann haben daraus das Konzept ein neues Gesellschaftsmodell zeichnet sich auf der Entropie entwickelt, worin festgehalten beiden Kontinenten nicht ab. wird, wie viel Chaos in einem System steckt. Die politischen Eliten des Westens, sofern Der letzte bedeutende Wissenschaftler, der sich dieser Ausdruck noch angebracht ist, kommen mit dem Fortgang der Entropie beschäftigte, nicht mehr auf Touren. Vielmehr gilt: «Take war der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin. Brüsseler Mikromanagement. the money and run.» Er ­publizierte 1980 sein Buch «Entropie – ein Dem stehen China und andere aufstrebende neues Weltbild». Staaten Asiens gegenüber. Es ist vor allem Demnach unterliegt auch die Erde dem Osmanen, der Aufstieg eines österreichischen China, dessen strukturelle Stärke dem Wes- ­Gesetz der Entropie. Eines nicht allzu fer- Landstreichers zum deutschen Kanzler, die ten weit überlegen ist. Mao Zedong und Xi Jin- nen Tages werden auf unserem Planeten alle Eitelkeit der Franzosen und Italiener, alles trug ping ist es in knapp hundert Jahren gelungen, ­sozialen und biodynamischen Systeme zer- dazu bei, dass das «Haus Europa» zerbrach. das Riesenland China wie ein Phönix aus der fallen sein. Staub zu Staub, wie es im Alten Seither wird der Versuch gemacht, vor allem Asche steigen zu lassen. Die Annahme west- Testament heisst. im Rahmen der Europäischen Union, aus dem licher Politiker, Chinas nationales Denken zertrümmerten Palast einen modernen Zweck- liesse sich in der Säure westlicher Marktwirt- Die Entropie bleibt immer Siegerin bau zu retten. Doch die Entropie, der natür- schaft auflösen, erwies sich als Irrtum. Wer Europa als tausend Jahre erfolgreiches bio- liche Zerfall der irdischen Strukturen, lässt sich dynamisches System begreift, wird der Wahr- in Europa nicht mehr stoppen. Die Entropie Boden putzen für Beamte heit näherkommen. Während Jahrhunderten bleibt immer Siegerin. Und die Schweiz? Wer unsere zahllosen innen- fand auf dieser kleinen Halbinsel des asiati- Die EU, und damit Europa, ist kraftlos ge- wie aussenpolitischen Probleme lösen möchte, schen Kontinents eine Explosion des Wissens worden. Es gelingt ihr keine gemeinsame Ener- muss über herkulische Kräfte verfügen. Seit statt, wie dies die Erde zuvor nicht erlebt hatte. gie- und Klimapolitik, keine gemeinsame Ver- einer Generation sieht es eher so aus, als habe Es waren die dynamischen Machtstrukturen die Entropie auch bei uns zugeschlagen. Europas, der unbarmherzige Wettbewerb der Die politischen Eliten des Westens Dem grossen Verhinderungspolitiker Chris- Kaiser-, Königs- und Fürstenhäuser unter- kommen nicht mehr auf Touren. toph Blocher stehen nur Zwerge aus anderen einander, der diese Verdichtung hervorrief. Parteien gegenüber. Sie putzen den Boden für Dann, seit 200 Jahren, die liberal-demo- Es gilt: «Take the money and run.» übergrosse Verwaltungen von Bund, Kanto- kratische Revolution, der heute noch nicht be- nen und Gemeinden, für globale Konzerne, die endete Kampf um die individuellen Menschen- teidigungs- und Migrationspolitik und keine grosse Gewinne abwerfen, und ein blühendes rechte. Europa errang unter der Führung von abgestimmte Innenpolitik mehr. Der Brüs- Anwalts- und Treuhandgeschäft. Grossbritannien, gefolgt von Frankreich, Russ- seler Wasserkopf erschöpft sich im Mikro- Der Niedergang grosser Teile der Schweiz, land und vielen anderen Kleinstaaten, die Welt- management, ängstlich darum besorgt, nach mag er auch langsam vonstattengehen, ist Teil herrschaft. Es erlebte seine maximale Potenz den Briten könnten weitere Mitglieder ab- des entropischen Niedergangs Europas. Unse- im Guten wie im Bösen. springen. Die Schweiz hat der EU den Hand- re grosse Zeit liegt hinter uns. Lasst uns den Die während Jahrhunderten verhinderte schuh vor die Füsse geworfen; davon später. bunten Sonnenuntergang geniessen, wie er Entropie Europas schlug dann zu. In der ers- Derweil bricht die Filiale des weissen Man- auf Adolf Muschgs neuem Buch «Aberleben» ten Hälfte des letzten Jahrhunderts brach das nes im Westen, die USA, schneller als gedacht auf dem Titel zu sehen ist. Die Nacht Europas europäische Machtsystem zusammen. Die Angst zusammen. Wenig Produktivität und eine hat längst begonnen. des britischen Militärs vor den Deutschen, die immer grössere Verschuldung haben dort den masslose Dummheit von Kaiser Wilhelm II., der Lebensstandard des Volkes ruiniert. Das Durch- Klaus J. Stöhlker, Doyen der Schweizer kulturelle Niedergang der Habsburger und der schnittsalter des Amerikaners ist auf 77 Jahre Unternehmensberater, lebt und arbeitet in Zollikon.

Weltwoche Nr. 30.21 13 Bild: mikie11/iStock Stationen einer Genossen-Karriere Roberto Rodriguez war der Vorzeige-Secondo der Zürcher SP – bis er für seinen Abgang als Schulpräsident 652 000 Franken kassierte. Alex Baur

e grösser die Fallhöhe, desto lau- eine Vorlage in der Vernehmlassung, ter das Getöse. Diesem media- welche die Abfindung auf 2,8 Jahres- Jlen Grundgesetz konnte sich löhne beschränkt; zudem würde die auch Roberto Rodriguez nicht ent- Hälfte eines allfälligen neuen Loh- ziehen. Dabei war der Präsident des nes in Abzug gebracht. Doch für Ro- Schulkreises Uto nur einer von 34 driguez gilt dies nicht. Er schaffte gewählten Cheffunktionären der den Absprung noch rechtzeitig. Stadt Zürich, deren Rücktritt gemäss Reglement mit bis zu vier Jahres- Trend-Gastronom gehältern vergoldet wird, selbst Aus kapitalistischer Sicht handelte wenn sie freiwillig gehen. Insofern Roberto Rodriguez richtig. Er folg- waren die 652 000 Franken Abgangs- te den finanziellen Anreizen. Doch entschädigung nach elf Amtsjahren, für eine Partei, die den Kapitalismus die zurzeit die Gemüter erhitzen, für überwinden will und den Sozialneid Zürcher Verhältnisse nicht ausser- bewirtschaftet wie keine andere, ist gewöhnlich. Nur wird das normaler- der Fall mehr als peinlich. Zwar ist weise diskret abgewickelt. die SP schon lange nicht mehr die Es sind die Umstände, welche die Büezer-Partei, die sie einmal war. Abfindung selbst für rot-grüne Krei- Doch warum um Himmels willen, se zum Skandal machen. Da wäre so dürfte sich doch der eine oder an- zum einen die Tatsache, dass sich dere Genosse fragen, soll ein fak- der zurücktretende Schulpräsident tisch unkündbarer, hochbesoldeter Roberto Rodriguez von einem Kolle- und privilegierter Funktionär, dem gium, das er selber präsidierte, zum Rückstellungen für schlechtere Zei- neuen Leiter des Schulhauses Fal- ten ohne weiteres zuzumuten wären, letsche in Zürich Leimbach wählen präventiv gegen einen Einkommens- liess (für die Wahl trat er in den Aus- verlust geschützt werden, während stand). Die Schule gilt als Problem- jeder einfache Angestellte, der von herd. Doch es erscheint schleierhaft, der Hand in den Mund lebt, inner- wie Rodriguez jene Probleme, die er halb von bestenfalls drei Monaten mit als Schulpräsident nicht in den Griff leeren Händen auf der Strasse steht? kriegen konnte, als Schulleiter bes- Peinlich ist der Fall für die SP aber ser meistern sollte. Er verfügt nicht Weniger Arbeit, mehr Lohn: SP-Politiker Rodriguez. vor allem auch, weil Roberto Rodri- einmal über ein Lehrerpatent. guez als Prototyp eines Stadtzürcher Genossen gilt und von der Partei Rentable Degradierung Technisch gesehen hätte Roberto Rodriguez, als Vorzeige-Secondo jahrelang gehätschelt Theoretisch wäre seine Abstufung vom Schul- der am 6. September seinen 56. Geburtstag wurde. Ursprünglich stammt Rodriguez aus präsidenten mit einem Jahressalär von 186 000 feiert, seine rentable Degradierung nicht bes- Schönenwerd SO. Nach einer abgebrochenen Franken zum Schulleiter in Teilzeit mit einer ser arrangieren können. Denn das bisherige Lehre als Bauzeichner und einer Weltreise fand Lohneinbusse von jährlich 70 000 Franken ver- Reglement der Stadt Zürich will es, dass die Ab- er in den 1990er Jahren in der IT-Abteilung der bunden gewesen. Doch der springende Punkt findung bis zum 55. Altersjahr steigt und da- Bank Leu eine Stelle und bildete sich weiter. In liegt hier: Dank einer Abgangsentschädigung nach wieder sinkt. Zwar löste vor drei Jahren den nuller Jahren machte sich Rodriguez als von 650 000 Franken, die er steueroptimiert in die obszöne 850 000-Franken-Abfindung für trendiger Gastro-Unternehmer (Café «Plüsch», kleinstmöglichen Tranchen über mehrere Jahre alt Stadträtin Claudia Nielsen (SP) eine Revi- «Casablanca», «Schweighof») einen Namen in beziehen kann, käme er am Ende für weniger sion der Tarife aus. Doch der Stadtrat liess sich der linken Szene. Arbeit auf einen höheren Lohn. Nur ist das im mit der Kürzung seiner eigenen Privilegien Politisch profilierte sich Rodriguez bei Grunde kein Rodriguez-Skandal. viel Zeit. Mittlerweile befindet sich immerhin «Secondos Plus» insbesondere für das Aus-

14 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: stadt-zuerich.ch länder-Stimmrecht und die automatische Wer es in linken Kreisen zu etwas gebracht ­Einbürgerung von Ausländerkindern. Mit hat, findet sich hier unter seinesgleichen, mit Stolz verkündete er einst, er würde sich nicht relativ­ niedrigem Ausländeranteil. um die Schweizer Staatsbürgerschaft be- Wie sich Rodriguez in seinem Amt als Schul- mühen, sein spanischer EU-Pass sei ebenso leiter bewährte, lässt sich schwer objektivieren. gut. In den linksalternativen Kreisen fand Die Zahl der Konflikte, die unter seinem Vor- man diese trotzige Ablehnung lässig. Von gänger an der Tagesordnung waren, gingen ge- 2006 bis 2010 amtierte Rodriguez als politi- mäss der Auskunft von Lehrern zurück. Von scher Sekretär der SP Aargau. Er wohnte al- seinem wichtigsten Wahlversprechen, einer Re- lerdings die ganze Zeit mit seiner Familie in duktion der Bürokratie, habe man allerdings Zürich Wiedikon, wo er sich irgendwann doch nie etwas bemerkt. Eine ruhige Kugel hat Ro- noch diskret einbürgern liess. driguez als Chef von 32 Schulleitern und 1200 2010 dann der Karrieresprung: Roberto Rodri- Mitarbeitern allerdings kaum geschoben. guez wird zum Schulpräsidenten im Kreis Uto Die Zahl der Kinder stieg während seiner elf- gewählt. Schon sein Vorgänger, Andreas Rüegg, jährigen Amtszeit von rund 4500 auf 7000. ein Chaot im Che-Guevara-Look, der seinen Ses- Viele Sitzungen fanden am Abend statt, eine sel nach zwei Jahrzehnten widerwillig räumen Vierzig-Stunden-Woche reichte dafür ­sicher musste, war Sozialdemokrat. Böse Zungen be- nicht. Faulheit wirft ihm denn auch kaum haupten, dass in Zürich Wiedikon selbst ein einer vor. Orang-Utan gewählt werden würde, wenn er Schon eher wird bezweifelt, dass er als diplo- ein SP-Schild trüge. Ganz so einfach war es in- mierter Verbandsmanager mit Berufserfahrung des nicht. Es kam zu einer Kampfwahl mit drei in kleinen Gastrobetrieben und bei der SP Aar- Kandidaten, die in der ersten Runde praktisch gau über das Know-how verfügte, um einen zu einem Patt führte. Die Kandidatin der Grü- derartigen Betrieb zu schmeissen. Rodriguez nen ebnete Rodriguez den Weg, indem sie im wurde, wie alle Schulpräsidenten, als mittle- rer Manager entlöhnt. Doch gewählt wurde er Aus kapitalistischer Sicht handelte in erster Linie, weil er einer bestimmten Partei Roberto Rodriguez richtig. angehörte. Und anders als ein Manager musste er sich nie einer Qualifikation stellen oder eine Er folgte den finanziellen Anreizen. Entlassung befürchten. zweiten Wahlgang ihre Kandidatur zurückzog. Wachsendes Heer von Funktionären Doch es ist eine Tatsache, dass die SP in Zürich Hier liegt wohl auch der Kern des Problems. heute fünf von sieben Schulleitern und die mit Die Reformen und Reorganisationen der letz- Abstand grösste Delegation in den Kreisschul- ten Jahrzehnte haben zu einer gewaltigen Auf- behörden stellt. blähung des administrativen Apparates mit 2012 konnte sich Rodriguez auch wohnsitz- gutdotierten politischen Ämtern geführt. Wo mässig massiv verbessern: Er bezog mit sei- früher ein Lehrer im Nebenamt die Schule lei- ner Frau und den drei Kindern ein brandneues tete, sind heute Bürokraten am Werk. Wo einst Reihenhaus der genossenschaftlichen Sied- Schulpfleger für ein mageres Sitzungsgeld lung Grünmatt am Fuss des Uetlibergs mit be- das System überwachten, haben heute hoch- törender Fernsicht über Stadt und Berge. Das bezahlte Kreisschulpräsidenten das Sagen, die Friesenberg-Quartier, welches zu einem gros- wiederum ihren eigenen Apparat unterhalten. sen Teil im Besitz von Genossenschaften oder Und neben allen thront der Schulvorsteher Fi- der Stadt ist, gilt als eine Art Zürichberg der lippo Leutenegger (FDP) über seinem eigenen Genossen, ist allerdings viel preisgünstiger. Stab. Dieses wachsende Heer von Funktionä- ren kreiert immer wieder neue administrative Aufgaben, die nach neuen Funktionären rufen – ohne dass die Volksschule dadurch merk- lich besser geworden wäre. Vielmehr ächzen die entmündigten Lehrer unter der büro- kratischen Last. Doch darüber wird kaum gesprochen. Die SP der Stadt Zürich macht auf Schadens- begrenzung, kritisiert «die deutlich zu hohe Abgangsentschädigung» (die sie zu einem guten Teil selber zu verantworten hat) und die «unsensible» Wahl von Roberto Rodrigu- ez zum Schulleiter (die nun, anders als die Ab- gangsentschädigung von 650 000 Franken, rückgängig gemacht wurde). Rodriguez sel- ber hat sich vorübergehend ferienhalber ins heimatliche Spanien abgesetzt.

Weltwoche Nr. 30.21 Cartoon: Kai Felmy Deutsches Theater Wenn die Politik bei der Flut und der Pandemie versagt, schweigen die Medien. Frontbericht aus der Bundespressekonferenz in Berlin. Boris Reitschuster

s war ein Debakel: Nach der Hoch- In der Bundespressekonferenz in Hochwasser- Einmal fragte ich dazu den Chef des Robert- wasserkatastrophe in mehreren Tei- Zeiten lieferte die Regierung leere Phrasen, Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, und wollte Elen Deutschlands hatte die Bundes- statt klar Rede und Antwort zu stehen. Sie wissen, in wie vielen solcher Fälle ein Zweittest regierung auf der Bundespressekonferenz am stammelte, rettete sich in vage Ausflüchte, gemacht werde. Seine Antwort: «Herr Reit- 19. Juli auf ganz entscheidende Fragen und Vor- konnte kaum Konkretes sagen. schuster, tut mir leid, ich habe die Zahl nicht würfe keine Antwort. Sie konnte sich nicht äus- Leider ist das keine Ausnahme. Mir persön- im Kopf, also ich bin kein wandelndes Zahlen- sern zu den Klagen einer Mitentwicklerin des lich ergeht es regelmässig so, dass sich lexikon. Aber die Zahlen können wir Ihnen auf Europäischen Hochwasserwarnsystems (EFAS). Regierungssprecher und Behördenleiter oft Anfrage der Pressestelle geben, was wir an In- Die hatte angegeben, die Bundesregierung formationen haben.» sei schon am 10. Juli vor Hochwassern gewarnt Sie stammelte, rettete sich in Als ich dann die Pressestelle fragte, kam die worden; dabei seien auch die gefährdeten Re- vage Ausflüchte, konnte Antwort: «Hier gab es offenbar ein Missver- gionen aufgezählt worden. Und zwar 24 Stun- ständnis. Diese Daten liegen dem RKI nicht den bevor die Katastrophe durchschlug. kaum Konkretes sagen. vor.» Die Sprecherin des Berliner Verkehrs- Als ich kürzlich eine Sprecherin von Jens ministeriums, Lisa Herzog, antwortete auf mehr in der Kunst des Nicht-Antwortens üben Spahn fragte, was an Berichten dran sei, laut entsprechende Fragen auf der Bundespresse- als in der des Antwortens. Teilweise wird einem denen mehr Menschen immun seien gegen Co- konferenz wie folgt: «Erst einmal muss ich als kritischem Journalisten sogar fast schon rona als angenommen, kam die Antwort, ich dazu sagen: Die Information darüber, wie das demonstrativ die Antwort verweigert. solle doch beim RKI nachfragen. europäische Warnsystem jetzt konkret mit Sieben Mal fragte ich auf der Bundespresse- Ein anderer Spahn-Sprecher wollte auf die unserem zu tun hat, habe ich gerade nicht im konferenz, wie in Deutschland mit PCR-Tests Frage, welche wissenschaftlichen Studien es Kopf, muss ich zugeben. Ich kann gerne noch verfahren werde, bei denen der Getestete zwar zur Wirksamkeit des Lockdowns gegeben habe, einmal nachfragen. Insofern müsste ich mich ein positives Testergebnis bekommt, aber trotz zweifacher Nachfrage nicht antworten. eben erst einmal selbst darüber informieren, keinerlei Symptome einer Krankheit vorliegen. Zum Schluss sagte er dann: «Ich habe jetzt das wie dabei genau die Meldekette ist.» Sieben Mal verweigerten die Verantwortlichen gesagt, was ich dazu zu sagen hatte.» Warum das Ministerium sich nicht auf sol- eine Antwort. Meine Replik – «Also gar nichts!» – war kaum che kritischen Fragen vorbereitete, kann man zu hören, weil mein Mikrofon abgestellt war. nur ahnen. Die Liste solcher Antwortverweigerungen ­liesse Auch Sascha Lawrenz, Sprecher des Bundes- sich erschreckend lange fortsetzen. innenministeriums, konnte kaum Konkretes vorbringen, als es darum ging, warum die Sire- Mehrfach gesperrt nen im Lande nicht funktionierten. Das wusste Die Bundesregierung kann von Glück sagen, man zwar im Ministerium seit vergangenem dass die Bundespressekonferenz seit kurzem Jahr. Aber man hat es eben auch nicht geändert. nicht mehr von den grossen Sendern aus- gestrahlt werden darf. So erfolgte ihre Aus- Zu kuschelig kunftsverweigerung zumindest unter Aus- Die Bundespressekonferenz ist eine einmalige schluss der grossen Öffentlichkeit – abgesehen Einrichtung. Anders als in anderen Ländern von Youtube, wo aber etwa mein Kanal mehr- lädt nicht die Regierung die Journalisten ein, fach gesperrt wurde. sondern es ist umgekehrt: Die Hauptstadt- Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, dass die korrespondenten haben sich zu einem Verein zu Beginn der Corona-Krise eingeführten Live- zusammengeschlossen und laden ihrerseits die übertragungen pünktlich zum Wahlkampf für Regierungsvertreter ein. Damit sie Rede und die Bundestagswahl im September beendet Antwort stehen. wurden. Kritiker bemängeln aber seit einigen Jahren, dass die gute Idee heute nicht mehr richtig ver- Boris Reitschuster ist Journalist und Autor. fängt: zu kuschelig sei es geworden zwischen Er leitete von 1999 bis 2015 das Moskauer Focus-Büro Medien und Politik. und betreibt heute die Website Reitschuster.de.

16 Weltwoche Nr. 30.21 Cartoon: Kai Felmy Der schnelle Doktor Der Schweizer Hürden-Star Kariem Hussein stolpert über eine positive Dopingprobe. Es ist der erste Bruch in einem sonst perfekten Lebenslauf. Thomas Renggli

er schon mal das Vergnügen hatte, seinen Glauben und hält sich vorerst auch an ihn persönlich zu treffen, kann sich den Ramadan – bis er realisiert, dass das Fasten Wder Aura des 32-jährigen Thurgauers mit dem Leben als Hochleistungssportler nur schwer entziehen: klarer Blick, kräftiger Hände- schwer zu vereinbaren ist. druck, druckreife Zitate. Vor drei Jahren schloss Kariem Hussein das Medizinstudium mit dem Was bleibt hängen? Staatsexamen ab. Sportlich war er 2014 in die Gesellschaftlich und akademisch hat er sich in Herzen der Schweizer Öffentlichkeit gerannt – der Schweiz längst etabliert. Sportlich befindet als er an den Europameisterschaften im Zürcher sich Hussein seit einigen Jahren aber auf dem ab- Letzigrund die einzige Goldmedaille für den steigenden Ast – auch weil ihn immer wieder Ver- Veranstalter gewann. «Der König von Zürich», letzungen zurückwarfen. Im Januar 2018 kämpf- schrieb damals der Tages-Anzeiger, der Blick be- te er mit lädierten Muskeln im Gesässbereich und förderte ihn zum «Pharao aus Tägerwil». musste die Saison abbrechen. 2019 startete er wie- Am vergangenen Samstag nun, 24 Stunden der, doch immer noch unter Schmerzen und mit nachdem Hussein seine positive Dopingprobe einem Leistenbruch, den er vor knapp zwei Jah- an den Schweizer Meisterschaften am 26. Juni via ren operativ beheben liess. Im selben Jahr trennte Youtube-Botschaft bekanntgemacht hatte, stell- er sich von seiner Trainingsgruppe in den Nieder- te er sich in einer Online-Medienkonferenz der landen und verschob sein Zentrum nach Zürich Öffentlichkeit. Es war ein Auftritt, der an Profes- und St. Gallen. Dann kam Corona – und auch für sionalität nichts zu wünschen übrigliess. Hus- Hussein ein Jahr des Stillstands. Doch rechtzeitig sein wirkte gefasst, entschuldigte sich bei Fans, «Absurdität»: Sportler Hussein, 32. auf die Olympischen Spiele in Tokio hin schien Öffentlichkeit und Medien und nahm alle Schuld seine Form zu stimmen. Unlängst sagte er: «Ich auf sich – probierte so viel Transparenz wie mög- bin extrem motiviert und freue mich fast noch lich zu schaffen. Die Verpackung der Stellung- in Münsterlingen, wo er auch seine erste Ehefrau mehr auf den Sport als früher.» nahme war derart makellos, dass die wichtigste Verena (die Mutter von Kariem) traf. Nun wurden seine Ambitionen kurz vor dem Frage nicht gestellt wurde: Wie ist es, zu er- «Von meinem Vater habe ich die Leidenschaft Höhepunkt zerstört. Hussein erhielt die fata- klären, dass ein Arzt die Zusammensetzung eines für den Sport geerbt. Und den Ehrgeiz, etwas le Botschaft von Antidoping Schweiz vor zwei Medikaments nicht kennt, das von vielen Wan- zu erreichen», sagte Hussein in einem Inter- ­Wochen per E-Mail. «Es war für mich ein Riesen- derern und Hobbylangläufern gegen Müdigkeit view. Als er an einem Sporttag der Kantons- schock. Ich war zu 100 Prozent überzeugt, dass verwendet wird und auf dessen Packungszettel schule quasi aus dem Nichts im Hochsprung ich das Mittel einnehmen darf.» Nun ist er für explizit davor gewarnt wird, dass es wegen der 2,01 Meter überquerte, entdeckte er sein Talent neun Monate gesperrt. Dass sein Ruf – als Arzt leistungssteigernden Wirkung von Nikethamid für die Leichtathletik. Schliesslich entschied er wie als Sportler – damit erheblichen Schaden ge- eine positive Dopingkontrolle bewirken kann? sich für 400 Meter Hürden. Hussein steiger- nommen hat, will er nicht abstreiten. Er könne te sich kontinuierlich – und lief am 15. August die Stunden Schlaf in den vergangenen zwei Wo- Aus dem Nichts über 2,01 Meter 2014 – fünf Jahre nach seinem ersten Rennen – chen an einer Hand abzählen, sagte er an der On- Hussein hätte zweifellos auch auf diese Frage die zu EM-Gold. Seine persönliche Bestzeit (48,45 line-Medienkonferenz – und fügte an: «Es tut passende Antwort gefunden. Er musste sie aber Sekunden) stellte er im August 2015 an einem mir leid». Dabei wirkte er so glaubwürdig, wie nicht liefern, weil er in den Medien einen Bonus Meeting in Zug auf. Im selben Jahr siegte er an ein überführter Dopingsünder wirken kann. geniesst, von denen viele seiner Sportkollegen Weltklasse Zürich als erster Schweizer Athlet im Gleichzeitig bezeichnet er sein Vergehen als «Ab- nur träumen können – einen Bonus, den er sich Hauptprogramm seit vierzehn Jahren. surdität» und «Banalität» – und sagte kämpfe- mit seinem galanten Auftreten und seiner faszi- Hussein beherrscht nicht nur den Spagat risch: «In neun Monaten geht’s wieder los.» nierenden Lebensgeschichte durchaus verdient zwischen Spitzensport und akademischer Ob es so weit kommen wird, bleibt abzu- hat. Hussein ist der Sohn eines ägyptischen Va- Laufbahn; auch das Leben zwischen zwei Kul- warten. Denn der Zeit und dem Alter kann ters und einer Schweizer Mutter. Vor 41 Jahren turen gelingt ihm scheinbar mühelos. Obwohl selbst der smarteste Athlet nicht enteilen. Und wanderte Ehab Hussein, Volleyballprofi und ge- im konser­vativen Thurgau das Verständnis für ob hinter seinem Vergehen vielleicht nicht doch lernter Physiotherapeut und Osteopath, in die den Islam nicht überall gleich gross ist, bleibt mehr steckt als ein verhängnisvolles Miss- Schweiz ein. Bald erhielt er eine Stelle am Spital Hussein seinen Wurzeln treu. Er praktiziert geschick, weiss nur Kariem Hussein selber.

Weltwoche Nr. 30.21 17 Bild: Jean-Christophe Bott/Keystone PERSONENKONTROLLE MÖRGELI Neukom, Züsli, Neff, Frei, Indergand, Aiwanger, «Eingemitteter» Söder, Macron, Frébault FDP-Präsident Der Name «Marcel» kommt von «Mars» und bedeutet «Krieger». Marcel Dobler heisst der Krieger, der sich mutig – man- che meinen todesmutig – an die Spitze der FDP durchkämpfen will. Die Mitglie- der der Findungskommission seien zwar «verschwiegen wie die Agenten eines Geheimdienstes». Weniger verschwiegen gab sich Marcel Dobler, der lautstark sein Interesse am FDP-Präsidium markierte. Anders als der Freisinnige Hermann Hess, auch er ein Ostschweizer Unter- nehmer vom rechten Parteiflügel, zieht sich Dobler nicht desillusioniert über die Leerläufe in Bern aus der Bundespolitik zurück. Der St. Galler Nationalrat möch- te im Gegenteil mehr Verantwortung in der FDP übernehmen. Seine Voraus- setzungen sind gut: Er betätigt sich Dreifach-Triumph: Sina Frei, Jolanda Neff und Linda Indergand (v. l.). erfolgreich in der freien Wirtschaft, ist materiell unabhängig und hat ein selbst- verantwortliches, eher staatskritisches Martin Neukom, Demokrat, zeigt sich ein- zehn Monate später strahlt die 28-jährige St. Gal- Weltbild. sichtig. Der grüne Zürcher Baudirektor woll- lerin heller denn je. Im olympischen Mountain- Leider ritt sich Marcel Dobler schon te seinen Kollegen im Regierungsrat eigentlich bike-Rennen lässt Neff der Konkurrenz keine im ersten Interview bei CH Media in den seine Strategie dazu präsentieren, wie im gan- Chance und sorgt – zusammen mit ihren Team- Sumpf. Nämlich in den Sumpf der Mitte. zen Kanton der CO2-Ausstoss auf null gesenkt kolleginnen Sina Frei und Linda Indergand­ – Angesprochen auf seine «rechten» Über- werden könne. Nach dem Nein zum CO2-Ge- für einen grossen Sportmoment. Zuletzt waren zeugungen, meinte er: «Es liegt auf der setz hat er aber beschlossen, seinen Vorschlag vor 85 Jahren (durch die Kunstturner im Boden- Hand, dass sich ein Politiker als Parteiprä- zu schubladisieren. Man habe diesen «unter wettkampf) in einem olympischen Wettkampf sident in seiner neuen Funktion innerhalb der Annahme geschrieben, dass es ein Ja gibt», alle drei Medaillen in die Schweiz gegangen. der Organisation ein Stück weit einmitten sagte Neukom zum Tages-Anzeiger. «Es käme Neff ist im hiesigen Sport in jeder Beziehung muss.» Falsch. Ein guter FDP-Präsident bei den Leuten schlecht an, wenn wir sie jetzt eine Ausnahmefigur. Sie studierte an der Uni Zü- müsste seine Partei von seinen Überzeu- einfach veröffentlichen würden, als hätte es die rich Geschichte, Englisch und Französisch, ma- gungen überzeugen. Besteht seine Strate- Abstimmung nicht gegeben.» Übt sich Martin nagt sich selber und wird von ihrem Vater Mar- gie bloss darin, sich den Parteikollegen an- Neukom in Demut vor dem Souverän? Noch kus trainiert. (tre) zupassen, entblösst er sich als Karrierist, näher liegt die Begründung, dass seine Klima- dem es ums Ergattern eines Ämtchens strategie bei der bürgerlichen Regierungsmehr- Hubert Aiwanger, Bajuware, muckt auf. Der statt um die richtige Politik geht. heit ohnehin gescheitert wäre. (mö) Chef der bayerischen Freien Wähler attackiert Auch fordert Dobler ein Double im die harte Corona-Strategie seines Koalitions- Präsidium der FDP. Wieder falsch. Füh- Beat Züsli, Ferien-Stapi, hat seiner Luzerner partners Markus Söder, der Ungeimpfte be- rung und Verantwortung sind unteilbar. Stadtregierung eine lange Pause verordnet. nachteiligen will. «Wir wollen ein Deutschland Als Mehrkämpfer wollte Dobler auch Wer sich derzeit an den Stadtrat wendet, wird für alle», formulierte es der Vize-Minister- als Erster und Einziger durchs Ziel. Der automatisch darüber informiert, dass sich das präsident in bayerischer Grammatik. «Zu den sich abzeichnende FDP-Zweikampf im Gremium «ab 10. Juli 2021 in seiner Sommer- Allen gehören auch die Ungeimpften.» Aiwan- Bundesrat sollte ihm genügen. Marcel pause» befinde. Die erste Sitzung nach den Fe- ger hat sich noch nicht impfen lassen, sehr zu Dobler, Präsident des Spielzeugherstel- rien «findet am 18. August 2021 statt». Es könne Söders Missfallen. (ky) lers Franz Carl Weber, muss sich bald währenddessen «nicht garantiert werden», mit partei­internen Spielverderbern dass Fragen «auf operativer Stufe im üblichen Emmanuel Macron, Globetrotter, hat einen herumschlagen. Die FDP wird zu seinem Mass beantwortet werden». Die Lohnkosten neuen Titel. Bei einer Reise nach Französisch- gefährlichsten Spielzeug. Man wünschte von rund 220 000 Franken für jedes Stadtrats- Polynesien besuchte er als erster Präsident die sich in der Parteienlandschaft die FDP Mitglied fallen natürlich auch während der zum Archipel gehörenden Marquesas, wo man wieder unter den Viertausendern. Statt fünfwöchigen Pause an. (fsc) ihn unter dem traditionellen Blumenschmuck der heutigen Parteiparole: «Getrennt fast erstickte. Bürgermeisterin Joëlle Frébault blamieren, vereint klagen». Jolanda Neff, Selfmadefrau, lag am Weihnachts- ernannte ihn zum Te Hakaiki Taha’oa – «Gros- tag 2019 am Boden – im wörtlichen Sinn: Horror- ser Häuptling, der voranschreitet und weit Christoph Mörgeli sturz in den USA, gerissene Milz, gebrochene geht». Ziemlich weit. Von Paris sind es 15 000 Rippe, kollabierte Lunge. Lebensgefahr. Neun- Kilometer. (ky)

18 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: Jasper Jacobs/Belga Photo PETER BODENMANN Klimaneutrale Schweiz: ein Spaziergang Stattdessen faktenfreie Energiepolitik von rechts bis links.

ute Nachrichten: Deutschland kann innert Es war ein Fehler, dass der Bundesrat das chen würden. Das Problem: Wir haben keine Gzehn bis fünfzehn Jahren klimaneutral Rahmenabkommen und damit die Stromdreh- Strombarone mehr, sondern nur noch Strom­ werden, wenn es jedes Jahr fünfzig Milliarden scheibe Schweiz abgeschossen hat. Wir brauchen ballönchen. Auch weil Strahm mit seinem Kampf Franken in den ökologischen Umbau steckt. deshalb notgedrungen einen Plan B, damit wir gegen das Rahmenabkommen der Stromdreh- Allerdings beansprucht der Umbau 2 Prozent im Winter jene zusätzlichen 25 Milliarden Kilo- scheibe Schweiz in den Fuss geschossen hat. der Landfläche. wattstunden Strom selber produzieren können, Nichtschwimmerin _ Deutschland hat zehnmal mehr Einwohner die wir nach dem Abstellen der rostigen und auf Die zuständige Bundesrätin erweckt den Ein- als die Schweiz. Und mehr Schwerindustrie. Der Sand gebauten Atomkraftwerke benötigen. Der druck, alle andern hätten die letzte Abstimmung Gebäudebestand ist energetisch noch schlech- Zustand der Debatte bereitet noch Kopfweh. verloren. Sie will – obwohl sich Europa rasend ter als unserer. Und im Gegensatz zur Schweiz schnell bewegt – weitermachen, als sei nichts hat Deutschland keine nennenswerten Speicher- Nichtschwimmer Christian Imark _ Der geschehen. Sie ist inzwischen der grösste Stand- seen. Und keine Berge, in denen man mittels al- Jungspund will mit überflüssigem Sommer- ortnachteil für alle, die einen schnellen öko- piner bifazialer Freiflächenanlagen im Winter strom aus Wasserkraft Wasserstoff produzie- logischen Umbau wollen. Für SP und Grüne gleich viel Solarstrom wie im Sommer produzie- ren. Lächerlich. gilt offenbar: «Il faut pas tirer sur l’ambulance.» ren kann. Umgekehrt pfeift der Wind im Nor- Nichtschwimmerin Magdalena Martullo-­ den zu Land und zur See stärker. Blocher _ Papa Christoph Blocher hat Kaiser- ie Problembären Hans Weiss und Rai- Wir geben jedes Jahr direkt und indirekt augst mitversenkt. Und sich gemäss Franz Stein- Dmund Rodewald wollen trotz Gletscher- zehn Milliarden Franken für die Bauern sterben nicht wahrhaben, dass Klimaschutz der aus. Fünf Milliarden jährlich würden wegen Die klimaneutrale Schweiz beste Landschaftsschutz ist. Ohne solare Frei- der besseren Ausgangslage im Vergleich zu ist bis 2035 möglich, flächenanlagen schafft eine sich notgedrungen Deutschland ausreichen, um bis 2035 klima- selbst versorgende Schweiz den ökologischen neutral zu werden. wenn wir 2025 durchstarten. Umbau nicht. Niemand kann die beiden Die Autoindustrie macht uns vor, wie schnell Problembären waschen, ohne deren Fell end- das mit technischen Disruptionen so geht. Die egger erfolgreich mit fremden, weil freisinnigen lich nass zu machen. Verbrenner sind todgeweiht. Volkswagen und Federn geschmückt. Er war einfach schneller Das Nein zum EWR hat nichts verhindert. Mercedes bauen riesige Batteriefabriken. Und und frecher. Martullo-Blocher fordert jetzt für Weder die Personenfreizügigkeit noch die Renault wird ab 2025 Elektroautos günstiger den Fall des Falles den Bau eines neuen Atom- Vierzig-Tonnen-Lastwagen. Alles kam nur spä- anbieten als seine bisherigen Verbrenner. kraftwerks. SP und Grüne reagierten empört. Sie ter und wurde teurer. Beim Klimaschutz ist es Nächstens werden günstige Luft-Wasser- müssten den Spiess umdrehen: Wenn die Ems- anders. Mit jedem Jahr bis 2025 wird die Null- Wärmepumpen auch bereits bestehende Öl- und Chemie ein Atomkraftwerk bauen wolle, so sei Energie-Schweiz etwas günstiger. Genau wie Gasheizungen vom Markt blasen. Und Fern- dies möglich, allerdings müssten die damit ver- der Kauf eines Elektroautos. Die klimaneutrale wärmenetze unrentabel machen. Wer dies nicht bundenen Risiken von 3000 Milliarden Franken Schweiz ist bis 2035 möglich, wenn wir 2025 wahrhaben will, sollte sich einmal auf Alibaba. voll versichert werden. durchstarten. Wir sind immer etwas spät dran, com umsehen. Die Umstellung auf Elektroautos Nichtschwimmer Rudolf Strahm _ Der ehe- aber nie ganz zu spät. und Luft-Wasser-Wärmepumpen braucht aller- malige Preisüberwacher regt sich neu über die Der Autor ist Hotelier in Brig und ehemaliger Präsident dings mehr Strom. Strombarone auf, die nichts gegen Hacker ma- der SP Schweiz.

Weltwoche Nr. 30.21 19 Illustration: Fernando Vicente «Schön ist es, wenn man für sein Land bis zum Umfallen kämpft» Vier Schwyzer Freiheits-Trychler über Politik, den Stadt-Land-Graben, Frauen und Männer, die Natur und ihr Rezept gegen das Unglücklichsein. Roman Zeller

ie sind die schellenden Freiheitskämpfer. mit, weil es bequem ist: Sie ziehen etwa Masken und jetzt laufen bei uns alle so rum. Und sie Traditionell vertreiben sie die bösen Geis- an, nur damit sie keinen Ärger haben. Schlimm! lassen sich widerstandslos eine experimentelle­ Ster, heute lehnen sie sich gegen den Staat Christian Gwerder: Ja, am meisten stören Impfung spritzen. und das Corona-Regime auf. Sie tragen weisse die Masken, sogar Kinder werden damit ge- Weltwoche: Woher kommt Ihre Impfallergie? Kutten und nennen sich «Freiheits-Trychler». plagt. Und dann der faktische Impfzwang: Mächler: Wir wurden früher durchgeimpft, Cyrill Villiger, 32, von Lauerz in Schwyz, ge- Das geht in Richtung Freiheitsentzug. meine Tochter habe ich nicht impfen lassen. lernter Netzelektriker, gehörte mit Christian Weltwoche: Seit eineinhalb Jahren steuern Diana ist heute zwölf Jahre alt und kerngesund. Gwerder, 38, einem Landwirt aus dem Muo- wir durch die Corona-Pandemie: Was ist Ihre Villiger: Ich würde mich sofort impfen las- tathal, zu den rund ein Dutzend Trychlern, die wichtigste Erkenntnis aus dieser Zeit? sen – auch gegen Corona. Wenn es mich vor am 10. April in Altdorf zum Denkmal von Wil- Villiger: Persönlich fühle ich mich viel freier einer gefährlichen Krankheit schützen und helm Tell, ihrem Vorbild, durchdrangen – trotz als je zuvor: Ich weiss, ich kann auch ohne der Impfstoffhersteller für Nebenwirkungen ­Polizei mit Pfefferspray und Gummischrot. Maske rumlaufen, und ich weiss, ich kann die Verantwortung übernehmen würde; und Sie standen ein für Freiheit und die Schweiz. etwas bewirken, wenn ich hinstehe und mein wenn die Impfstoffe in der Normalzulassung «Ich hatte Hühnerhaut», sagt der eine. «Mir Gesicht zeige. getestet worden wären. Dann sofort! Aber das kam das Augenwasser», erinnert sich der ande- Therese Mächler: Ich fühle mich mutiger. trifft halt alles nicht zu. re. Seither begleiten sie schallend die Corona- Wer mir vor fünf Jahren gesagt hätte, ich stün- Weltwoche: Ganz generell: Ist das noch eine Demonstrationen, im Gleichschritt, für einen de mal vor Polizisten in Vollmontur, den hätte gute Schweiz, in der wir leben? «schönen Schlag und lauten Klang». ich ausgelacht. Heute laufe ich durch sie durch Gwerder: Eigentlich schon. Aber wir leben Aus dem Brauchtum, das ihnen von den Vor- und denke mir: «So, und jetzt weiter!» in einer Wohlstandsgesellschaft. Wir gehen nur fahren weitergegeben wurde, entwickelte sich Weltwoche: Wenn Sie die Leistung des noch den Weg des geringsten Widerstands, leider. auch für Daniel Schilter, 34, gelernter Metzger Bundesrates beurteilen müssten, was für eine Villiger: Ich weiss nicht, wie gut diese und Bauer aus Lauerz, ein politisches Instru- Note gäben Sie ihm? Schweiz noch ist. Warum wandern denn jähr- ment – «um ein Zeichen zu setzen». Villiger: Eine Zwei. lich so viele Schweizer aus? Therese Mächler, 32, eine Pflegerin aus Mächler: Ich wäre beim Einer . . . Weltwoche: Was müsste passieren, damit Sie ­Siebnen, war die erste Freiheits-Trychlerin, die Schilter: Von mir kriegen sie ein «besucht». auswandern würden? mit den Schellen ihren Unmut kundtat. «Wir Weltwoche: Und wie denken Sie über die Be- Villiger: Ich hab’s mir auch schon überlegt. lassen uns nicht bieten, dass man uns vogtet», völkerung? Enttäuscht es Sie, dass sich der freie Aber ich könnte es nicht, ich bin zu sehr Patriot. sagt sie. Mittlerweile äussern rund fünfzig Schweizer etwa einsperren liess? Mich hält das Heimatgefühl. Menschen trychlend ihre Meinung, der Verein Mächler: Ja, das ist unglaublich! Ich dachte Weltwoche: Was bedeutet Heimat? zählt mehr als zweihundert Mitglieder. immer, in Asien spinnen sie mit ihren Masken, Villiger: Die Gemeinschaft, die Menschen, Zusammen sitzen die vier Schwyzer Frei- die hier leben. Die Geschichte, die ich mit heits-Trychler in einer Muotathaler Alphütte, einem Ort verknüpfe. trinken Kaffee mit Schnaps, rauchen krumme Weltwoche: Was ist noch gut an der Schweiz? Zigarren. Draussen tobt das Wetter, als fiele uns Gwerder: Im Gegensatz zu anderen Ländern, der Himmel auf den Kopf. Nur die Glocken der zu Deutschland oder den USA, haben wir noch Kühe, kleine Trychlen, bimmeln hell. eine bessere – keine gute! – Regierung. Bei uns ist nicht nur einer zuoberst, wir haben sieben. Weltwoche: Unsere Ausgabe dreht sich um die Weltwoche: Wenn die Schweiz einen König verrückte Welt, in der wir leben. Wie beurteilen hätte, wer wäre das? Sie die Grosswetterlage in der Schweiz? Schilter: Das müssen Sie gar nicht fragen! Daniel Schilter: Nicht gut. Viele wissen gar Wir sind Schweizer, es kann gar kein Ober- nicht mehr, was sie überhaupt dürfen. Frei sein, haupt geben. seine Meinung frei äussern, ohne diskriminiert Weltwoche: Was macht den Schweizer aus? zu werden, das geht heute alles nicht mehr. Villiger: Er traut sich, politisch Verantwortung Weltwoche: Wo brennt es hierzulande? zu übernehmen, er steht hin und schiebt nicht Cyrill Villiger: Das Hauptproblem ist der alles ab. Er lehnt sich also nicht zurück und sagt: Opportunismus. Die Leute machen bei allem «Mit offenen Armen»: Christian Gwerder. «Das machen die da oben schon gut.»

20 Weltwoche Nr. 30.21 «Wir sind Schweizer, es kann gar kein Oberhaupt geben»: Cyrill Villiger, Therese Mächler, Daniel Schilter (v. l.).

Weltwoche: Wann sollte ihm, überspitzt ge- Unsere Türkin sagte mir kürzlich, sie stehe für Aber gut fände ich’s nicht! sagt, der Schweizer Pass entzogen werden? unsere Rechte ein, weil es ihr in der Schweiz ge- Weltwoche: Können Sie sich vorstellen, dass Schilter: Wer fürs Bürgerrecht nicht kämpft, falle, sonst könnte sie ja wieder zurückgehen. die Schweiz irgendwann der EU beitritt? könnte eigentlich verreisen. Sonst darf er ma- Weltwoche: Wäre toll, wenn eine solche Mi- Mächler: (Lacht) Nein, unmöglich. chen, was er will. Auch Zugewanderte, zum Bei- grantin abstimmen und wählen könnte. Oder? Weltwoche: Woher kommt Ihr Missmut Villiger: Das Ausländerstimmrecht steht gegenüber der EU? «Ich weiss, ich kann etwas nicht zur Diskussion. Schilter: Der schlummert doch in jedem ­bewirken, wenn ich hinstehe Weltwoche: Wie viele Menschen verträgt die Schweizer Herzen – neutral und unabhängig Schweiz? Maximal. zu sein. Das ginge in der EU nicht. und mein Gesicht zeige.» Gwerder: Es wäre gut, wenn bald fertig Gwerder: Der Wohlstand würde sich an- wäre. Man kann nicht noch mehr Kulturland gleichen, wir wären wie Italien, Spanien oder spiel Muslime, dürfen gleichberechtigt leben verbauen und Bauern mit ihren Werten und Frankreich . . . – solange sie die Gepflogenheiten akzeptieren. ihrer Tradition verdrängen. Weltwoche: Haben Sie die Fussball-EM Gwerder: Ja, wir stehen mit offenen Armen Weltwoche: Was löst die Vorstellung einer ­verfolgt? da. Wir haben mehrere Ausländer, die ­trychlen Zehn-Millionen-Schweiz bei Ihnen aus? Gwerder: Sicher, als Tschüteler! Ich spielte in – Deutsche, Bolivianer, Türken, Türkinnen. Gwerder: Ich denke, das wird kommen . . . der 2. Liga. ›››

Weltwoche Nr. 30.21 21 Bilder: Thomas Buchwalder für die Weltwoche, Donato Resta Weltwoche: Was ist Ihnen aufgefallen? Gwerder: Das mit dem Hymnen-Singen war so ein Punkt: Haben Sie gesehen, wie die Italiener patriotisch mitgesungen haben – volle Pulle! So etwas finde ich schön, wenn man für sein Land bis zum Umfallen kämpft. Weltwoche: Können Sie die Schweizer Hymne auswendig? Villiger: Wir singen sie sogar an den Kund- gebungen. Weltwoche: Frau Mächler, wie viele Trych- lerinnen gibt es ausser Ihnen? Mächler: Traditionell wenige, bei den Frei- heits-Trychlern sind wir aber vierzig Prozent. Weltwoche: Was braucht es, um als Frau mit- «Das Glück in die eigene Hand nehmen»: Villiger, Mächler, Schilter (v. l.). machen zu dürfen? Mächler: Es gibt Vereine, die nehmen keine Frauen, weil sie nichts durchmischen wollen. als Maler oder Bäcker, ist nach aussen nichts sagt, deswegen ein Rassist? Das Leitmotiv ist Bei uns passte ich rein, wir ziehen am glei- und wird belächelt. Aber es kann ja nicht jeder ein komplett anderes. chen Strick. Und ich war stolz genug, um zu ein Instagram-Star werden. Bei uns hiess es Weltwoche: Was wäre heute rassistisch? sagen, dass ich nicht wegen der Männer, son- früher: Lern einen rechten Beruf. Gwerder: Wenn man jemanden aus einem dern wegen des Schellens mitmache. Ich wurde Weltwoche: Was heisst das? Kulturkreis töten wollte, ganz schlimm! einstimmig angenommen. Mächler: Etwas Handwerkliches! Villiger: Oder wenn ich einem Schwarzen Weltwoche: Frage an die Männer: Was können­ Villiger: Heute kommen viele ohne Berufs- sagte, er dürfe in meinem Café nichts trinken, Frauen besser? Ganz allgemein. und Lebenserfahrung und direkt nach dem Stu- nur weil er schwarz ist. Das ginge nicht. Villiger: Sie sind feinfühliger, das Emotio- Weltwoche: Ist der Wolf bei euch ein Thema? nale liegt ihnen mehr. «Staat und Medien machen da Gwerder: Noch nicht, aber es ist eine Frage Gwerder: Mit Kindern können es Frauen bes- schon genug Theater, da müssen wir der Zeit, bis er unser Vieh schändet. ser, das merke ich daheim. Mütter haben einen Weltwoche: Was ist das grössere Übel: der starken Einfluss auf die Kinder. Das Kalb läuft nicht auch noch mitmachen.» Wolf, der eure Tiere bedroht, oder der Städter, ja auch immer der Mutter nach – wobei ich der den Wolf politisch schützt? nicht sage, das andere gehe nicht; jeder, der dium zum Kanton auf irgendein Amt. Das sind Gwerder: Beides gleich schlimm! will, kann ein super Vater sein. Aber die Natur Leute, die gar nicht merken, wie viel Bürokratie Villiger: Das Problem Wolf könnten wir ist so, dass das Junge der Mutter nachläuft und sie produzieren. ohne Städter einfach beheben. Und hier sind der Bock irgendwo ist. Weltwoche: Können Sie sich vorstellen, dass wir wieder beim fehlenden Naturbezug: Viele Weltwoche: Frau Mächler, wie denken Sie Zürich neun Fachleute für Velowege einstellte? Städter halten sich für wahnsinnig grün. Aber über Männer? Schilter: Ja, klar. Aber diese studieren dann in Abhängigkeit mit der Natur zu leben, ist Mächler: Sie haben mehr Kraft. Und ist es nur ums Zeug herum. Wer macht’s am Schluss? eine andere Geschichte. böse, wenn ich sage, dass wir cheibe vil gleich- Wir, die werken. Ohne uns ginge es nicht. Weltwoche: Wie denken Sie über die Grünen? zeitig studieren können und ihr nicht? Gwerder: Solche Fachleute müssten mal eine Schilter: Für mich sitzen grüne Städter in einer Weltwoche: Das Frauenstimmrecht jährt Woche Hunger haben, dann wären die meisten Parkallee und sehen zwei Bäume vor der Nase. sich zum fünfzigsten Mal. Ist das hier ein Probleme wie weggeblasen. Mächler: Am schlimmsten sind Grüne, die Thema? Weltwoche: Das Problem mit den Mohren- nur Vorschriften produzieren, aber nie etwas Villiger: Nein, das ist wieder so ein politisch köpfen zum Beispiel? Eine Riesen­diskussion. machen. Es sässe ja keiner bei Wind und Wet- korrektes Thema. Staat und Medien machen Gwerder: Ja, genau! (Lacht) ter hier oben und schaute zum Vieh. Würden da schon genug Theater, da müssen wir nicht Villiger: Das ist wieder so ein Beispiel, wie sie krampfen, wüssten sie, worum’s geht. Sie auch noch mitmachen. die Gesellschaft gesteuert wird: In die Spra- aber bringen Ideen, ohne dass sie jemals etwas Weltwoche: Sicher ein Thema ist der Stadt- che wird überall etwas Schlechtes hineininter- damit zu tun gehabt hätten. Land-Graben: Was ist das grösste Missverständ- pretiert. Jedem, der Mohrenkopf sagt, wird Gwerder: Grüne bewegen sich ins Extreme, nis gegenüber der Landbevölkerung? eine böse Absicht unterstellt – das geht doch und alles Extreme befürworte ich nicht. Gwerder: Dass wir Hinterwäldler sind. Und nicht! Es ist doch niemand, der Mohrenkopf Weltwoche: Können Sie sich vorstellen, eine Verschwörungstheoretiker. Man tut alles in Zeitlang vegan zu leben? eine Ecke, wie in der Politik: AfD und SVP Schilter: Das ist sehr streng und kostet. sind die Bösen, die macht man mundtot. Das Mächler: Meine Tochter lebt vegetarisch – ­Gleiche passiert mit uns, nur weil wir eine obschon sie mit Bratwurst und Landjäger auf- ­andere Meinung haben. wuchs, und zwar gehörig. Auf einmal sagte Weltwoche: Was läuft in den Städten schief? sie, sie esse kein Fleisch mehr. Mir fiel fast der Villiger: Das Geerdete ist weg. Viele haben ­Deckel runter, aber: Sie zieht es pickelhart den Bezug zur Natur verloren, weil sie nicht durch. Es geht ganz gut. mehr mit der Natur zusammenarbeiten müs- Weltwoche: Frau Mächler, was, wenn Ihre sen, sondern unabhängig davon leben können. Tochter mit Greta fürs Klima streiken würde? Mächler: Auch das handwerkliche Schaffen Mächler: Das wird nicht passieren. Dafür ist geht vielen Städtern ab. Wer dort sagt, er büeze sie zu fest in uns verwurzelt.

22 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: Thomas Buchwalder für die Weltwoche; Cartoon: Kai Felmy Weltwoche: Aber was würden Sie sagen? Villiger: Dann hätte ich etwas falsch gemacht. Schilter: Das sagst du richtig. Mächler: Wir hätten sicher Lämpe. Aber ver- Aber das wird nie der Fall sein. Gwerder: Kinder wissen im Herzen, wer der bieten könnte ich es ihr nicht. Ich will sie ja zu Weltwoche: Wer weiss. Vater und wer die Mutter ist. Für diese Gewiss- einer selbständigen Erwachsenen erziehen. Villiger: Aber dann würde ich den Fehler bei heit könnten zwei Männer oder zwei Frauen Weltwoche: Wie denken Sie übers Klima? mir als Vater suchen. nicht sorgen. Was sie aber könnten, ist, dem Gwerder: Das mit dem Klima ist schwierig. Gwerder: Ich glaube, es gibt schon Leute, Kind Liebe zu schenken. Vielleicht ist schon etwas da, was spinnt. die hormonell anders zur Welt kommen. Das Weltwoche: Was ist bei der Kindererziehung Mächler: Meine Familie bauerte generatio- toleriere ich. Gefährlich wird es, wenn es von essenziell? nenlang. Mein Urgrossdädi schrieb Tagebuch, aussen in die Familie kommt. Villiger: Zeit. er vermerkte jeden Tag das Wetter. Es steht, Weltwoche: Herr Gwerder, was, wenn Ihre Mächler: Und selbständig denken lernen. dieses Auf und Ab gab es immer. Ich mache Tochter auf Frauen steht? Gwerder: Respekt, Anstand und Glauben. mir keine Sorgen. Gwerder: Das wäre am Anfang hart. Schilter: Da kannst du noch Tradition an- Weltwoche: Und was tun Sie für die Umwelt? Mächler: Mich ginge das nichts an, ich will hängen, das ist ein Stück weit wie der Glaube. Villiger: Umwelt und Klima sind zwei ver- nur, dass meine Kinder glücklich sind. Weltwoche: Warum glauben Sie? schiedene Paar Schuhe: Das Klima kann man Weltwoche: Könnten Sie sich mit der «Ehe Villiger: Es braucht die Glaubensgemein- nicht schützen, die Umwelt schon. für alle» arrangieren? schaft, sie stärkt. Bei den Freiheits-Trychlern Gwerder: Ich gehe mit meinen fünf, sechs Villiger: Könnte ich dann meine Tochter ist keiner Atheist oder nicht gläubig. Kühen z Alp – wie vor Hunderten vor Jahren. heiraten? Weltwoche: Was, wenn Gott aus der Bundes- Das ist doch gut. Aber ich denke, die Schweiz ist Schilter: Nein! Es geht um gleichgeschlecht- verfassung verschwinden würde? nur ein kleiner Tropfen auf den heissen Stein. liche Paare. Gwerder: Das wäre gottlos. Es wäre, wie es Weltwoche: Herr Gwerder, als Muotathaler, jetzt schon bei Corona passiert: wie wenn alte wem glauben Sie: einem Wetterschmöcker oder Leute alleine sterben müssen, wie wenn Kin- dem Klimawissenschaftler, Professor Knutti? der eingesperrt werden – das ist unmenschlich, Gwerder: Das Problem ist: Es gibt Forscher gottlos eben. und Forscher, es gibt verschiedene ­Meinungen. Weltwoche: Gibt es ein Innerschweizer Re- Manche werden gehört, andere totgeschwiegen. * zept für ein gutes Leben? Weltwoche: Besonders laut sind auch Gleich- RAUCHEN Mächler: Einfachheit und Wertschätzung, stellungstheoretiker: Was sind Ihre wichtigsten für das, was man hat. Es braucht aber gar nicht Erkenntnisse aus der Gender-Debatte? H AT viel. Schilter: Was heisst Gender? AU CH Villiger: Ein offenes Herz, um der Natur und Mächler: Das wollte ich auch gerade fragen. dem Umfeld zuzuhören. Demut, aber auch wie- Weltwoche: Da geht es um das Geschlecht, EINE GUTE der nicht zu viel. mit dem man sich identifiziert; es geht mehr SEITE. Gwerder: Einen gerechten Umgang, nie- darum, wie man sich fühlt, als was man ist. manden vorverurteilen, auch wenn er schwul, BESUCHEN SIE Villiger: Die Identität der Menschen wird so UNSEREN NEUEN ONLINE-SHOP lesbisch, geimpft oder ungeimpft ist. Das ist zerstört. Man hat keinen Bezug, keine Bindung AUF WWW.MANUELS.CH. Toleranz! mehr, bis man irgendwann gar nichts mehr ist Weltwoche: Gibt es ein urchiges Gegen- – weder Mann noch Frau. mittel zum krampfhaften Unglücklichsein? Weltwoche: Dafür darf man sein, was man Villiger: Aufhören zu jammern, aufstehen will und wie man sich fühlt. und etwas dagegen machen. Der Sinn kommt Villiger: Ja, aber das verunsichert doch nur dann automatisch, du musst das Glück in die – vor allem Kinder. Es geht doch nicht, dass du eigene Hand nehmen. sein kannst, was du willst. Du bist von Natur Weltwoche: Was bedeutet Glück? aus etwas. Schilter: Gesundheit, Freiheit, Familie. Gwerder: Diese traditionelle Struktur – man Villiger: Das Zwischenmenschliche ist könnte wieder sagen, diese Hinterwäldler- Villiger: Gut, dann ist es aber keine Ehe für alle, für mich auch noch wichtig; dass man mit-

Struktur – finde ich gut für die Familie.Manuels_Weltwoche_66x90mm_002.indd Sie sonst könnte ich ja auch 4 eine Kuh heiraten. 07.04.21Und 11:23einander reden und sich in die Augen schau- funktioniert und gibt Festigkeit. so weit kommt’s noch. en kann. Weltwoche: Stört es Sie, wenn sich eine Frau Weltwoche: Die Homo-Ehe würde Sie stören? Gwerder: Dass man so leben darf, wie man als Mann fühlt? Villiger: Ja, moll. leben will. Gwerder: Gar nicht, das kann ja auch natür- Schilter: Jein. Weltwoche: Was wünschen Sie sich für die lich sein. Villiger: Sicher? Für mich geht das gar nicht. Zukunft? Villiger: Mich stört einfach, wie wir an das Die Ehe ist eine Bindung zwischen Mann und Villiger: Dass das Volk wieder einsteht; Thema herangehen: Es gibt sehr wenige Fälle, Frau. Auch die Familie ist Mann und Frau vor- zurück zu den Grundwerten, zur Eigenver- die genetisch nicht eindeutig sind. In den meis- behalten. Das hat die Schöpfung so eingerichtet. antwortung. ten Fällen ist es klar: Mann oder Frau. Bei vie- Weltwoche: Und wie reagieren Sie, wenn Gwerder: Um nicht in ständigem Zwang lem ist die Gesellschaft schuld. Die Leute, vor zwei Männer auf der Strasse Händchen halten? leben zu müssen. allem Teenager, sind verwirrt. Nicht mal Män- Villiger: Das stört mich null, das ist ihre Ent- Weltwoche: Was stimmt Sie optimistisch, ner dürfen heute noch stark, sondern müssen scheidung. wenn Sie vorwärtsschauen? weiblich sein. Das ist ja nicht normal! Weltwoche: Hätten Sie das Gefühl, zwei Gwerder: In der Schweiz ist es eben schon Weltwoche: Herr Villiger, Sie haben drei Kin- Frauen wären schlechtere Eltern? ­cheibe schön. Es ist das einzige Land, in dem der – zwei Töchter, einen Sohn. Was, wenn Ihr Villiger: Es gibt sicher solche, die gut sind. Aber man sein Schicksal noch in den eigenen Hän- Sohn plötzlich ein Mädchen sein möchte? dem Kind fehlte die männliche Bezugsperson. den hält.

Weltwoche Nr. 30.21 23 Unsere Frau in Moskau Luzia Tschirky hat den wohl aufregendsten Korrespondentinnen-Job beim Schweizer Fernsehen. In Minsk wurde sie verhaftet. Jetzt wartet sie auf ein Interview mit Wladmir Putin. Thomas Renggli

m Winter kann das Quecksilber auf minus zwanzig Grad Celsius sinken. Der eisige IWind raubt einem den Atem, die Schnee- berge türmen sich am Strassenrand. Moskau ist nicht immer ein Traumziel. Doch Luzia ­Tschirky lässt sich so leicht nicht unterkriegen – weder durch meteorologische Unannehm- lichkeiten noch durch politische Stürme. Blickt sie im Schatten der Kremltürme ent- schlossen in die Kamera, kann sich der Fernseh- zuschauer in der Schweiz auf präzise, fundier- te und unabhängige Einschätzungen freuen. Denn Tschirky, aufgewachsen in Sargans, sieht den Beruf der Journalistin als Berufung. Und seit sie 2010 als Delegierte der Europäischen Jugendpresse zum ersten Mal in die russische Hauptstadt reiste, wusste sie: «Hier will ich mal als Korrespondentin arbeiten.» Tschirky ist mit einem russisch-deutschen Journalis- ten verheiratet, der für eine deutsche Tages- zeitung arbeitet.

Weltwoche: Frau Tschirky, wo erreichen wir Sie? Luzia Tschirky: Ich bin in Moskau in unserer Wohnung. Neben unserer Kameraausrüstung haben wir hier auch noch einen Greenscreen. Vor diesem nahm ich einmal eine Einspielung für einen «Tagesschau»-Beitrag auf – als es während des Lockdowns im Frühling 2020 keine andere Option gab. Aber im Normalfall bin ich draussen vor der echten Kulisse. Wenn Sie im Hintergrund den Kreml sehen, stehe ich auch dort. Weltwoche: Aber zieht es Sie in den Sommer- «Die Russen nehmen die Dinge um einiges gelassener»: Korrespondentin Tschirky, 31. ferien nicht in die traute Schweizer Heimat? Tschirky: In der Schweiz war ich im März das letzte Mal. Doch in Zeiten der Pandemie sind Grenzbereich ein Überbleibsel aus der Sowjet- Tschirky: Die Überwachung ist nicht mehr staat- Auslandreisen mühsam. Deshalb erfüllte ich mir union seien. Doch dem ist nicht so. Seit Wladi- lich diktiert wie einst in der Sowjetunion oder, einen langen Wunsch und reiste nach Teriber- mir Putin an der Macht ist, wurden diese Zonen noch ausgeprägter, in der DDR – das höre ich von ka – einer kleinen Hafenstadt an der Barents- ausgeweitet – beispielsweise auch nach Norilsk Kolleginnen und Kollegen, die schon damals hier see, nordöstlich von Murmansk. Es ist der ein- in Sibirien. Dies wurde vor mehreren Jahren gearbeitet hatten. Ein früherer Korrespondent zige Ort in der Umgebung, in den ausländische einem Schweizer Fotografen zum Verhängnis. der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erzählte mir, Staatsbürger ohne Sonderbewilligung einreisen Er hatte sich ohne alle nötigen Bewilligungen dass er seine Artikel jeweils den Behörden vor- können. Sonst ist das Gebiet um Murmansk eine des Inlandgeheimdienstes in der Region auf- legen musste, dann wurden die Texte zensuriert. Sperrzone. Denn der örtliche Hafen ist der Stütz- gehalten und wurde festgenommen. Heute geschieht dies subtiler. Es sind vor allem punkt der nuklear betriebenen Eisbrecherflotte Weltwoche: Die Medienfreiheit gehört in ausländische Medien tangiert, die in russischer Russlands. Ursprünglich war ich immer der Mei- Russland nicht zur Staatstradition. Wie tangiert Sprache senden und sich an Russen wenden, bei- nung, dass diese «geschlossenen Gebiete» im dies Ihre Arbeit? spielsweise der russische Kanal der BBC – oder

24 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: Twitter das vom US-Kongress finanzierte RadioLiberty. ­ weg abspielen, an die Zentrale in Moskau ver- wurde die Übung etwas kompliziert. Der Gorki-­ Ein grosses Thema war auch das von Alexei Na- wiesen. Meine Aufgabe als Journalistin ist es, Park eignet sich ebenfalls nicht sonderlich gut walny verbreitete Video über den angeblichen dass ich fragen muss. Ich erhalte zwar keine für diesen Sport. Viel besser ist es im Sokolniki-­ Palast von Wladimir Putin an der Schwarzmeer- Antwort. Aber ich muss fragen. Wenn ich eine Park im Norden der Stadt. Aber, dass wir uns küste. Da schreitet der Staat ein. Wir Schweizer Mediensprecherin oder eine Beraterin eines nicht falsch verstehen: Ich bin noch nicht auf sind in gewissem Sinne zu klein, als dass wir Ministeriums wäre, würde ich von einer sol- dem Niveau von Dario Cologna . . . von den Russen als Bedrohung wahrgenommen chen Kommunikation abraten. Denn es ist Weltwoche: Wie bewegen Sie sich sonst in ­würden. Und unsere Neutralität in der Aussen- alles sehr willkürlich und unterminiert die der Stadt? politik wirkt sich ebenso deeskalierend aus – dies Glaubwürdigkeit. Beispielsweise habe ich Tschirky: Die U-Bahn ist das mit Abstand im Gegensatz zu der oft dezidierten Haltung der für Belarus während Monaten unter dem schnellste und effizienteste Verkehrsmittel – EU. Deshalb ist meine Berichterstattung weniger Vorwand der epidemiologischen Lage keine und für kürzere Strecken verwende ich das Velo. im Fokus der Behörden. Akkreditierung erhalten. Dann habe ich ein- Weltwoche: Das Velo in Moskau? Sie müssen Weltwoche: Ist ein Interview mit Wladimir fach jeden Tag angerufen – jeden Tag. Es gab gut versichert sein. Putin für Sie realistisch? Tage, an dem auch nach einer Viertelstunde Tschirky: Das ist tatsächlich ein eher un- Tschirky: Ich habe schon zig Anfragen an ihn Klingeln niemand antwortete. Da rief ich den gewöhnliches Verkehrsmittel in dieser Stadt – gerichtet – und immer eine Absage erhalten. Mediensprecher der belarussischen Botschaft obwohl in letzter Zeit einiges dafür gemacht Möglich wäre ein Interview wohl nur, wenn in Moskau an und fragte ihn, ob es noch eine wurde. Aber die Velowege enden meistens im Putin zu einem offiziellen Staatsbesuch in die andere Telefonnummer gebe. Nach mehreren Nirgendwo. Immerhin darf man als Velofahrer Schweiz reisen würde. Aber dann käme kaum die Monaten erhielt ich dann plötzlich die Akkre- in Moskau legal auf dem Trottoir fahren. Korrespondentin aus Moskau zum Zug. Putin ditierung – weshalb, kann mir bis heute nie- Weltwoche: Was können wir Schweizer von spricht nur mit den bekanntesten Aushänge- mand erklären. den Russen lernen? schildern von TV-Stationen. Im Fall der Schweiz Weltwoche: Das war die Reise, auf der Sie Tschirky: Die Russen leben im Hier und Jetzt. wäre dies eine Moderatorin oder ein Moderator festgenommen wurden? In der Schweiz kommt es mir manchmal vor, der «Tagesschau» oder von «10 vor 10». Tschirky: Offiziell wurde ich nie fest- als ob wir unser Leben wie die Abstimmungs- Weltwoche: Ihr Mann ist Russe und arbei- genommen. Auf jeden Fall erhielt ich nie ein termine schon bis ins Jahr 2028 festgelegt hät- tet als Korrespondent für eine grosse deutsche Festnahmeprotokoll. In einem Rechtsstaat ten. Die Russen sind spontaner und flexibler Tageszeitung. Wie frei ist er in seiner Bericht- braucht es dies aber, um von einer Festnahme – und sie nehmen die Dinge um einiges ge- erstattung? zu sprechen. Offiziell wurde einzig meine lassener, ja schon fast fatalistisch. Das ist auch Tschirky: Sein Risiko ist grösser als meines. Identität überprüft. Aber ich bin drei Stunden im Umgang mit Corona zu spüren. Ich habe Denn auf ihn hat der russische Staat einen di- mit anderen Personen im Keller einer Polizei- schon öfter das Argument gehört, die eigenen rekteren Zugriff, er hat bei ihm den grösse- station gesessen. Vorfahren hätten schliesslich den Zweiten Welt- ren Hebel. Grundsätzlich treffen wir gewisse Weltwoche: Wie verlief die Festnahme? krieg überlebt – und dass es nun kaum schlim- Sicherheitsvorkehrungen. Wir publizieren Tschirky: Ich stand mit einer Freundin aus mer kommen könne. keine gemeinsamen Fotos – und sagen auch Belarus und ihrem Mann als Fussgänger vor Weltwoche: Und was können die Russen von nicht öffentlich, wo wir wohnen. einem Rotlicht. Es war eine total alltägliche den Schweizern lernen? Weltwoche: Gibt es unabhängige TV-­ Situation. Es gibt Videoaufnahmen, die uns Tschirky: Ich weiss nicht, ob ich in der Posi- Stationen? tion bin, den Russen etwas zu raten. Vielleicht Tschirky: In der Fernsehlandschaft gibt es «Die Schiebetüre öffnete sich, und wäre es, mehr Eigenverantwortung zu über- nur einen unabhängigen Sender – doschd (rus- teils mas­kierte Männer in dunkler nehmen und gelegentlich etwas zu riskieren, sisch für Regen, die Red.). Bezeichnenderweise ohne auf den Befehl von oberster Stelle zu wurde dieser aber aus dem Pool jener Sender ge- Zivilkleidung sprangen heraus.» warten. Gerade Personen in Entscheidungs- strichen, die den Kreml eng begleiten dürfen. positionen könnten damit wohl auch eine Der Grund war die Berichterstattung über die zeigen, wie wir kurz vor der Festnahme durch entspanntere Haltung gegenüber dem Staat Verhaftung von Alexei Nawalny nach dessen die Innenstadt laufen. Dann hielt ein kleiner herbeiführen – dass man den Staat nicht zwin- Rückkehr aus Deutschland. Die anderen rus- Autobus. Die Schiebetüre öffnete sich, und teils gend als eine Kraft empfindet, die das Leben sischen Fernsehsender sprechen den Namen mas­kierte Männer in dunkler Zivilkleidung verkompliziert und den Menschen schwer Nawalny übrigens nie aus. Sie sprechen – wie sprangen heraus und sagten uns, dass wir mit- nachvollziehbare Regeln aufoktroyiert. Putins Kommunikationschef Dmitri Peskow – kommen müssten. Weltwoche: Wie lange werden Sie noch aus vom «Blogger» oder vom «Verurteilten». Wich- Weltwoche: Fürchteten Sie um Ihr Leben? Moskau berichten? tig ist der Regierung die Aussendarstellung. Tschirky: Nein. Ich war eher überrumpelt. Ich Tschirky: Ich habe das Gefühl, dass ich erst So wird der Auslandssender RT [früher Russia wollte meinen Pass zeigen und die Männer dar- begonnen habe. Normalerweise laufen die Today] mit einem grosszügigen Budget vom auf hinweisen, dass ich eine Akkreditierung des Verträge von Korrespondenten vier bis sechs Staat finanziert. Mit der Chefredaktorin Mar- Innenministeriums besass. Doch dazu kam ich Jahre – in meinem Fall noch bis 2025. Was da- garita Simonjan pflegt Putin eine persönliche gar nicht. nach geschieht, ist völlig offen. Ich kann mir Bekanntschaft. Und Simonjan hat auch schon Weltwoche: Die Schweizer Illustrierte schrieb, aber nicht vorstellen, in Russland alt zu wer- Auszeichnungen von ihm erhalten. dass Sie sich eine Langlaufausrüstung gekauft den. Es gibt noch ganz viele andere Orte auf Weltwoche: Ist es überhaupt möglich, in hätten. Dürfen wir Sie im kommenden Februar dieser Welt, die ich entdecken möchte. Viele Russland über offizielle Kanäle Auskunft zu an den Winterspielen in Peking erwarten? Russen übrigens tendieren am liebsten zum erhalten? Tschirky: (Lacht) Im vergangenen Winter Unaufgeregten und zum Ruhigen. Sie leben Tschirky: Bedingt. Ich richte immer wie- gab es ungewöhnlich viel Schnee – und dann oft genug in Extremen, so scheint das Durch- der Anfragen an Ministerien oder offizielle benutzte ich die Ski in der Innenstadt. Leider schnittliche verlockend. Wäre ich also eine ­Instanzen, aber Antworten erhalte ich selten musste ich zur Kenntnis nehmen, dass auf den Russin, würde ich meine Zukunft in Langen- – oder ich werde selbst für Dinge, die sich weit Zebrastreifen Salz verwendet wird. Deshalb thal planen . . . (Lacht).

Weltwoche Nr. 30.21 25 «Europa muss zu einer Festung werden» Der Chef der Freiheitlichen Partei Österreichs, Herbert Kickl, erklärt, weshalb er sein Land für Migranten so unattraktiv wie möglich machen möchte und was er an der Schweiz bewundert. Marcel Odermatt

uf dem Tisch in seinem Büro an der Wie- werden kann respektive das Asylverfahren ge- drohen seit Jahren den Westen. Europa scheint ner Reichsratsstrasse hinter dem Parla- stoppt wird. Leider konnte ich mich mit mei- wie paralysiert, macht einen hilflosen Eindruck. Ament steht eine offene blau-silberne ner Forderung nicht durchsetzen. Ist eine Korrektur noch möglich, oder ist es Energy-Drink-Dose, quasi das österreichische Weltwoche: Warum auf der europäischen schon zu spät, wie viele befürchten? Nationalgetränk. In der Light-Version, versteht Ebene? Hätten Sie das Regime nicht einfach in Kickl: Wenn es schon zu spät wäre, müsste sich, Herbert Kickl ist ein passionierter Sport- Österreich installieren können? ich jetzt aufstehen und gehen. Es ist tatsäch- ler. Mit der Schweiz verbindet der 52-Jährige Kickl: Nein, weil es die sogenannte EU- lich sehr spät, aber nicht zu spät. Viele hören das den Inferno-Triathlon in Mürren im Berner Statusverordnung verletzt hätte. Diese fusst nun nicht gern: Europa muss zu einer Festung Oberland – einen der härtesten Parcours der wiederum auf der Menschenrechts- und werden, die Aussengrenzen müssen geschützt Welt für Ausdauerathleten, den er schon selbst Flüchtlingskonvention. Deshalb hätte es einer werden, auch wenn das jetzt nicht besonders absolvierte. Seit knapp einem Monat amtet der Änderung auf europäischer Ebene bedurft. Ich populär klingen mag. Wir werden ansonsten ehemalige Redenschreiber und Vertraute der versuchte, Kriminelle auch in Sicherungshaft von diesem Problem überrollt werden. Ich ge- Rechtspopulisten-Legende Jörg Haider als Chef zu nehmen. Ich konnte leider auch hier unsere höre nicht zu denen, die sagen, dass der Islam der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). damalige Regierungskoalitionspartnerin – die zu Österreich gehört. Er ist bei uns existent, aber Seit Kickl die Rechtspartei führt, bleibt in ÖVP – nicht für diese Idee gewinnen. Es ist wie es würde uns nichts fehlen, wenn er nicht hier Österreich kein Stein auf dem anderen. Das ein Haus, das in Brand steht, und der Schlauch wäre. Das Kriterium muss sein, was wir als Gast- hängt weniger mit seinem politischen Geschick liegt ungenutzt da. Wir hätten gewusst, was wir gesellschaft erwarten. Nicht die Wünsche der als mit den Umständen zusammen. Ende Juni hätten tun müssen. Wären meine Vorschläge in Zugewanderten dürfen wie bisher im Zentrum schändeten und ermordeten in Wien mutmass- Kraft, wären diese Leute nicht mehr im Land stehen. Ich verstehe nicht, warum radikalisierte lich afghanische Flüchtlinge auf bestialische Art oder nicht mehr auf freiem Fuss. Mit den rich- Muslime überhaupt hier leben wollen. Ich habe und Weise die dreizehnjährige Leonie. Dies nur tigen Massnahmen hätte dieses Verbrechen ver- keine Lust, Muslime vor ihrer eigenen Religion wenige Monate nachdem ein zwanzig Jahre alter hindert werden können. zu retten. Es gibt genügend islamische Län- Islamist im November vier Menschen wahllos Weltwoche: Die europäische Flüchtlings- der, die sich dieser Leute annehmen könnten. getötet und mehr als zwanzig teils schwer ver- politik scheint heute in erster Linie eine Das Heimatrecht der anwesenden Bevölkerung letzt hatte. Aber nicht nur diese Wahnsinnstaten Möglichkeit der Migration zu bieten. heizen die Debatte an. Auch der richtige Um- Kickl: Es ist wie im Reisebüro. Sie wählen die «Es ist wie ein Haus, das gang mit dem Covid-19-Virus sorgt im östlichen schönste Destination aus und reisen dorthin. in Brand steht, und Nachbarland für hitzige, endlose Debatten. Wer den Migranten viel bietet und offeriert wie Österreich, hat viele Anträge und arbeitet der Schlauch liegt ungenutzt da.» Weltwoche: Herr Kickl, Sie waren von Ende den Schleppern in die Hände. Ein Paradigmen- 2017 bis im Mai 2019 selbst Bundesinnen- wechsel ist nötig. Österreich muss als Asyl- muss ins Zentrum rücken. Dieses zählt im Mo- minister und damit verantwortlich für das destination so unattraktiv wie möglich wer- ment überhaupt nicht. Die Menschenrechts- Flüchtlingswesen. Warum konnte diese Tra- den. Als Innenminister verfolgte ich zwei Ziele: debatte dreht sich nur um diejenigen, die von gödie mit dem geschändeten und ermordeten Auf der einen Seite wollte ich wie ausgeführt irgendwo zu uns herkommen. Mädchen nicht verhindert werden? Tragen Sie das System reparieren. Andererseits wollte ich Weltwoche: Nicht bedroht, aber bedrängt persönlich eine Mitverantwortung? den Zugang stoppen. Es nützt nichts, wenn ich wird die Schweiz von der EU. Der Grund ist das Herbert Kickl: Das Verbrechen hätte ver- dreissig Personen rausbringe, gleichzeitig ste- Rahmenabkommen, das die Eidgenossenschaft hindert werden können, verhindert werden hen aber schon wieder 300 neue vor der Türe. nicht unterzeichnete. Warum kann der Block müssen. Wir hatten leider in Österreich schon Als Bundesinnenminister sah ich es als meine nicht akzeptieren, dass ein Land aus freien ähnliche Fälle. Wir analysierten das damals. Aufgabe an, die eigene Bevölkerung zu schüt- ­Stücken nicht Mitglied werden will? Flüchtlinge beginnen oft mit Kleinkriminali- zen, nicht, dass es die Migranten möglichst an- Kickl: Ich bewundere die Schweiz, dass sie zu tät. Manchmal endet es dann leider mit einem genehm haben. Die Bevölkerung soll möglichst solchen Widerstandshandlungen in der Lage ist. furchtbaren Kapitalverbrechen wie bei der klei- wenig mit Kriminalität und Sozialmissbrauch Bei den österreichischen Politikern, mit denen nen Leonie. Als Innenminister machte ich auf konfrontiert und belastet werden. ich es zu tun hatte, wäre das ein Ding der Un- europäischer Ebene den Vorschlag, dass sol- Weltwoche: Die österreichische Hauptstadt möglichkeit. Da herrscht der Herdentrieb. Eini- chen Leuten schon bei einem Ladendiebstahl wurde im November auch das Ziel eines isla- ge marschieren voran, und die anderen rennen oder Ähnlichem der Asylstatus weggenommen mistischen Anschlages. Fanatische Muslime be- hinterher. Ich habe das auch als Innenminister

26 Weltwoche Nr. 30.21 «Der Islam gehört nicht zu Österreich»: Politiker Kickl. bei der Flüchtlingsverteilung erlebt, wie vor- handelt, der sich nicht zu benehmen weiss. Was zentralistischer, mit viel mehr Kompetenzen gegangen wird, wenn es darum geht, die Inte- es braucht, ist ein Umgang auf Augenhöhe mit ausgestattet. Eine zweite Volksabstimmung ressen der EU durchzusetzen. Da wird man ins gegenseitigem Respekt. Erwarten Sie das aber wäre der Sache angemessen. Die FPÖ hat die Gebet genommen, um Dinge voranzutreiben, nicht von der österreichischen Aussenpolitik! Position, dass wir um den guten Kern dieses die ich guten Gewissens ablehnte. Aber warum Weltwoche: Warum nicht? europäischen Projekts kämpfen. Wir versuchen, ist das so? Na ja, wenn Sie als Vertreter einer In- Kickl: Weil gemacht wird, was in Berlin vor- die EU zu redimensionieren auf das, was sie am stitution dastehen, die sich als Krönung und gegeben wird. Das ist ganz zuoberst auf der To- Anfang eigentlich sein wollte. Nämlich eine Ko- Vollendung der Zivilisationsgeschichte sieht, do­-Liste unserer Regierung. Kanzler Sebastian operation auf wirtschaftlicher Ebene, um damit dann kann man nicht damit umgehen, dass es Kurz ist es unglaublich wichtig, in Berlin bei- das Fundament zu schaffen für Wohlstand und auch eine Alternative gibt. Das erleben wir im spielsweise gut dazustehen. Ja nicht anecken, Frieden auf dem Kontinent. Das ist eine Er- Übrigen überall – dieses Dogma der Alternativ- immer schön den Musterschüler spielen. Ich rungenschaft, die man der Union zugestehen losigkeit. Die EU sieht sich selbst als das Wahre, habe auch kein Verständnis dafür, dass man den muss. Was halt fehlt, ist die Komponente Frei- Schöne, Gerechte – alles im selben politischen Ungarn hineinregiert. Wir haben solche Zu- heit, sprich: Selbstbestimmung. Wir wollen im Gebilde. Und es ist unerträglich, dass etwas stände in unserem Land, dass man glaubt, wir Verbund mit anderen Parteien dieses Europa der ausserhalb dieser Heilsvorstellung erfolgreich seien im tiefsten Balkan, wenn es um Fragen Vaterländer wieder zum zentralen Gedanken existieren kann. Deshalb tut man sich so schwer der Korruption und Ähnliches geht. Wir kön- der Europäischen Union machen. Früher stand mit der Schweiz. Die EU verklärt sich als End- nen uns nicht erlauben, mit dem Finger auf je- die EU für ein Wirtschaftskonzept, heute ist sie punkt der Weltgeschichte. Als ob das, was sie ma- mand anders zu zeigen. ein Misswirtschaftskonzept. chen, der Weisheit letzter Schluss wäre. Das ist Weltwoche: Wie sehen Sie die Zukunft Öster- Weltwoche: Ein Austritt ist für Sie also kein eine unglaubliche Überheblichkeit. Das merkt reichs im Block? Ist ein Austritt noch möglich? Thema? man als Mitglied, aber eben auch als kleines gal- Kickl: Das mit dem Austritt ist so eine Sache. Kickl: Ich würde es so sagen: Angesichts lisches Dorf wie die Schweiz. Die Schweiz hat nie den Fehler gemacht beizu- der Bedeutung sollte jede Generation wieder Weltwoche: Was kann Österreich tun, damit treten. In dem Moment, wo du drinnen bist, die Möglichkeit haben, darüber abzustimmen. es wieder zu einer Annäherung kommen kann? verwachsen die Dinge miteinander. Dabei dür- Es hat sich vieles verändert. Seid ihr zufrie- Kickl: Österreich sollte zu einer Art Anwalt fen wir nicht vergessen: Wir hatten 1994 einen den? Was sagt ihr? Wollt ihr weiter dabei sein der schweizerischen Interessen werden. Wir Volksentscheid über den Beitritt. Zwei Drit- oder nicht? haben eine ähnliche Grösse, sind schon seit tel stimmten dafür. Das kann man nicht igno- Weltwoche: Vielleicht gehen Ungarn oder ewigen Zeiten befreundete Staaten. Jetzt wird rieren, auch wenn wir damals hineingelogen Polen ja voraus. Diese Staaten geben sich sehr die Schweiz wie ein ungezogener Schüler be- wurden. Die EU ist heute eine ganz andere: viel selbstbewusst. ›››

Weltwoche Nr. 30.21 27 Bild: Barbara Gindl/APA/Keystone Kickl: Diese Länder haben ein ganz anderes hatten. Ich glaube nicht, dass das ein Spezi- Kickl: Bei der Impfung muss man sich die Frage Sensorium dafür, was Fremdbestimmung be- fikum der Freiheitlichen Partei im Vergleich stellen: Was ist das Risiko, was ist der Nutzen? trifft. Diese Staaten haben alle die Sowjetzeiten zu den anderen Parteien ist. Die FPÖ war not- Ich habe mich über das Thema mit meinem erlebt. Und nun kommen sie vom Regen in die wendig, um gegenüber einem System des Pro- Arzt unterhalten. Er kennt meinen Gesund- Traufe, weil jetzt Brüssel wie früher Moskau porzes, der logischerweise als Konsequenz der heitszustand. Wir kamen beide gemeinsam bestimmen will. Natürlich ohne Panzer. Aber schlechten Erfahrungen der Ersten Republik zum Ergebnis, dass es – wenn ich die Krank- mit einer unglaublichen strukturellen Gewalt. entstanden ist, einen oppositionellen Kontra- heit bekommen würde – bei meinem Gesund- Wir drehen den Geldhahn zu, um euch auf Kurs punkt zu setzen. Die Freiheitliche Partei wäre heitszustand de facto ausgeschlossen ist, dass zu bringen, wenn ihr nicht das tut, was wir deshalb auf jeden Fall entstanden und zu Stär- ich einen schweren Krankheitsverlauf habe. wollen. Das weckt natürlich den Widerstands- ke gekommen. Alles andere wäre de facto eine Warum sollte ich dann die Risiken einer Imp- geist. Das hat mir auch schon Viktor Orbán im fung eingehen? Ich werde auf jeden Fall einen persönlichen Gespräch erklärt. «Ich habe mich «Das Ziel müsste doch sein, den milden Krankheitsverlauf haben. Das ist für mit Moskau angelegt, warum soll ich mich vor ­Leuten die Angst zu nehmen, anstatt mich ein vernünftiger Zugang. Deshalb ver- Brüssel fürchten», sagte er mir. zichte ich auf den Piks. Weltwoche: Apropos Orbán. Wir sitzen hier ständig neue Ängste zu schüren.» Weltwoche: Der Druck auf ungeimpfte Per- im ehemaligen Büro von Jörg Haider. Er hat die sonen wird immer grösser. Sogar von Impf- rechten Parteien, die wir heute kennen, mass- Einparteienregierung geworden, auch wenn zwang ist die Rede wie bei Frankreichs Präsi- geblich geprägt. Wie viel von Haider steckt diese aus zwei Parteien – den Sozialisten und dent Emmanuel Macron. noch in der heutigen FPÖ? der Volkspartei – besteht. Immer liegt jene Kickl: Das ist ein absolutes No-Go. Ich bin Kickl: Unter meiner Obmannschaft der FPÖ vorn, die ein paar Stimmen mehr bekommt. kein Impfgegner. Es gibt viele Impfungen, ist es das Ziel, möglichst viel Haider wieder Das ist das Vakuum, in welches die Freiheit- die machen Sinn. Für einen Risikopatienten zum Leben zu erwecken. Haider bedeutet liche Partei hineingestossen ist. kann die Covid-19-Impfung durchaus rich- für mich bestimmte inhaltliche Schwer- Weltwoche: Reicht das wirklich als Er- tig sein. Er wägt ab und sagt sich: «Wenn ich punkte. Hier würde ich zwei erwähnen: Er klärung? Haider machte bis zum Schluss diese Infektion einfange, dann verliere ich viel- hat erkannt, dass wir ein grosses Ausländer- immer wieder fragwürdige Aussagen, um am leicht mein Leben oder trage schwere Schä- problem haben. Wenn wir damals gehandelt ganz rechten Rand zu punkten. den davon.» Dann sehe ich das ein, dass man hätten, würden Wien und Österreich anders Kickl: Das war sicher nicht eine strategi- sich impfen lässt. Aber wenn ich die Statisti- aussehen. Wir haben viele Jahre verloren, weil sche, durchdachte Koketterie in Richtung der ken anschaue, dann sehe ich, dass das beim nicht auf Haider gehört wurde. Der zweite Ewiggestrigen. Dafür war das Wählersegment überwiegenden Teil der Bevölkerung über- Punkt ist sein Kampf gegen das System. Der zu klein – so dumm war Haider nicht. Es war haupt nicht der Fall ist. Was bringt dann eine Kampf gegen die da oben. Die, die mit einer etwas anderes: die Lust am Tabubruch. Ich habe Impfpflicht? Die allermeisten Menschen hät- unglaublichen Brutalität glauben, für sie wür- Haider so erlebt, dass, wenn jemand ihm sagte, ten einen milden Krankheitsverlauf, wenn sie den andere Regeln gelten als für alle anderen. er dürfe das nicht tun oder sagen, er eine un- geimpft sind und sich anstecken. Den haben Vom Typus her war er der politische Angreifer, glaubliche Lust verspürte, genau das zu ma- sie aber sowieso. Was soll das bringen, ausser jemand, der keine Rücksicht nimmt, wenn es chen – wie ein Spitzbube. Das bereitete ihm dass es ein Riesengeschäft ist? Und dass es den um die Durchsetzung eines Anliegens geht. politische Freude und machte ihn zum ersten Regierungen hilft, ein riesiges Bedrohungs- Und der keine Angst hat, dann auch ein paar Populisten. Er spielte nicht nach den Regeln, szenario aufzubauen, um sich dann als Erlöser Treffer zu kassieren. Zu oft agiert die Politik die ihm die anderen vorgaben. aufzuspielen? Denn ohne Bedrohung gibt es nach dem Motto: «Ich tue dir nichts, tust du Weltwoche: Bei der Covid-Pandemie spielen auch keine Erlösung. Das ist das politische Pro- mir nichts». Das ist ein Verrat an denen, die Sie auch nicht so, wie viele andere es gerne möch- gramm, das im Moment alle fahren – von poli- die Politiker brauchen, um ihre Interessen ten. Sie lassen sich nicht impfen. Weshalb? tisch links bis politisch rechts. Es ist für Herr- durchzusetzen. Für den einzelnen Politiker schende sehr angenehm, mit Verordnungen ist das furchtbar bequem. Wir sind aber ge- zu regieren und das Parlament auszuschalten. wählt, um den Kopf hinzuhalten. Dafür sind Weltwoche: Ähnliches hört man von Ver- wir gewählt. Das habe ich von Haider gelernt. schwörungstheoretikern. Es entspricht dem Geist von Jörg Haider, sich Kickl: Ich glaube nicht an eine grosse Ver- aufzulehnen. schwörung. An den «Great Reset» oder Ähn- Weltwoche: Haiders Eltern waren bis zu liches. Nein, es ist der grosse Herdentrieb. Alle ihrem Lebensende überzeugte National- klinken sich ein. Wenn es gutgeht, lagen sie sozialisten. Er selber holte sich Stimmen, indem richtig, wenn es schiefgeht, sind die anderen er die österreichische Weltkriegsgeneration schuld. Es ist das gleiche Muster wie in der Asyl- einfach als harmlose Menschen darstellte, die politik. alle nur ihre Pflicht erfüllten. Als erster Partei- Weltwoche: Was ist dann Ihre Alternative? obmann der FPÖ fungierte 1956 Anton Reint- Kickl: Wir müssen wieder wie vor der Pan- haller, ein ehemaliger SS-Brigadeführer. Hätten demie die individuelle Eigenverantwortung Haider und damit auch Sie eine politische Kar- in den Vordergrund stellen. Was ich vermisse, riere machen können, wenn sich Ihr Land sei- ist die wissenschaftliche Diskussion. Das Ziel ner Mittäterschaft gestellt hätte, statt den – his- müsste doch sein, den Leuten die Angst zu neh- torisch falschen – Opfermythos zu zelebrieren? men, anstatt ständig neue Ängste zu schüren. Kickl: Sie hatten auch in anderen Parteien Dazu gehört die Anleitung, was jeder selber tun viele ehemalige Nationalsozialisten. Es gab kann, wie zum Beispiel sein Immunsystem zu beispielsweise hohe Regierungsmitglieder bei stärken oder Medikamente zu entwickeln, die den Sozialisten, die eine solche Vergangenheit Erkrankten helfen.

28 Weltwoche Nr. 30.21 Cartoon: Kai Felmy KURT W. ZIMMERMANN Historisch und hysterisch Journalisten kämpfen permanent gegen das Alltägliche. Jeder Tag ist ein historischer Tag.

ir leben in unglaublichen Zeiten. Jeden tung bis Basler Zeitung. Ist historisch, was jeder Medien wurden erfunden als die Sammel- und WTag wird vor unseren Augen Welt- seit Jahren kommen sah? Auffangbecken der permanenten Marginalien, geschichte geschrieben. Geschrieben wird sie Bevor wir uns der Erklärung für die histori- die da kommen und gehen. Journalisten sind von unseren Journalisten. sche Geschichtsbesessenheit zuwenden, wollen die Chronisten des Alltäglichen. Nehmen wir nur einmal die letzten paar Wo- wir uns noch etwas über die Lokaljournalisten chen. In Genf, so sagte uns das «Echo der Zeit», lustig machen. Hinter dem Wald und hinter iese Realität kontrastiert indessen stark mit kam es zwischen Biden und Putin zu einem den Hügeln, dort, wo die Berg-und-Tal-Medien Ddem Selbstbild der Branche. Journalisten «historischen Händedruck». Das Hochwasser sitzen, macht die Universalgeschichte leider möchten nicht die Begleiter des Alltäglichen, in Deutschland und der Schweiz, so sagte uns nur sehr selten halt. Aber auch dort haben die sondern die Geschichtsschreiber des Ausser- die NZZ, war von «historischem Ausmass». Die Redaktionen den Wunsch, an weltbewegendem gewöhnlichen sein. Alles, was einigermassen er- Nachfrage nach Immobilien hierzulande, so Geschehen teilzuhaben. kennbar von der Norm abweicht, wird darum in sagte uns die Schweiz am Wochenende, erreicht eine Wenn die Sanierung der lokalen Munot-Mau- die historische Dimension gehoben. Die Arbeits- «historische Dimension». er beendet ist, dann ist das «ein historischer losigkeit und die Zinsen sind dann nicht bloss Und nun kommen wir zu den zwei grössten Tag», so die Lokalzeitung Schaffhauser Nach- tief, sondern auf einem historischen Tief, der weltgeschichtlichen Erschütterungen der letzten richten. Wenn der TSV Jona Volleyballmeister Dow Jones und der Goldpreis sind nicht bloss Wochen. Zuerst einmal errangen die Schweizer hoch, sondern auf einem historischen Hoch. Fussballer gegen Frankreich einen «historischen Kein Beitrittsgesuch an die EU, ein Wenn wir wissen wollen, wie langlebig solch Sieg». Den Ausdruck des «historischen Siegs» be- paar Demos vor dem Bundeshaus, eine welthistorische Einordnungen sind, müs- schworen wörtlich, ich habe nachgezählt, über sen wir nur ein paar ältere Zeitungsausgaben hundert Redaktionen von 20 Minuten über Schwei- ­Gemeindefusion. Ist das historisch? durchblättern. Dann sehen wir schnell, wie all zer Illustrierte bis Radio Pilatus. diese epochalen Grossereignisse ohne Wider- Nun, ich will nicht Spielverderber sein. Aber wird, ist das ein «historischer Triumph», so die hall verpuffen. es war in der Geschichte der zwölfte Fussballsieg lokale Linth-Zeitung. Wenn ein Bündner Vize- Wenn wir beispielsweise fünf Jahre zurück- der Schweiz gegen Frankreich. Auch Dutzend- präsident des Schweizerischen Feuerwehrver- gehen, zog die Schweiz damals ihr EU-Beitritts- ware ist historisch. bandes wird, ist das «ein historisches Ereignis», gesuch zurück. «Ein historischer Entscheid», Und selbstverständlich war auch das Ende des so das Lokalblatt Bündner Zeitung. kommentierte die NZZ. Zugleich wurden Rahmenabkommens eine welthistorische Zäsur. Demonstrationen vor dem Bundeshaus nun auch Die bundesrätliche Beerdigung des Ab- olch historische Überspanntheit erklärt während der Sessionen zugelassen. «Ein histori- kommens war ein «historischer Entscheid». Das Ssich durch den üblichen Trott eines Jour- scher Entscheid», wusste die Berner Zeitung. Und sagten uns wörtlich und übereinstimmend der nalisten. Er ist durch Alltäglichkeiten geprägt. im Birrfeld schlossen sich die zwei Gemeinden Zeitungsverbund von Aargauer Zeitung, Luzerner Es geht um irgendwelche Politiker, die sich die Lupfig und Scherz zusammen. «Ein historischer Zeitung und St. Galler Tagblatt. Es beschrieben den Hände schütteln, es geht um irgendwelche Entscheid», deutete die Aargauer Zeitung. «historischen Entscheid» die «Arena» und die Abkommen, die gekündigt werden, es geht Kein Beitrittsgesuch an die EU, ein paar «Tagesschau». Den «historischen Moment» be- um irgendwelche Sportanlässe und irgend- Demos vor dem Bundeshaus, eine Gemeinde- schworen genauso die Blätter der Tamedia-Zei- welche Personalien, die schon morgen wieder fusion. Ist das historisch? Ich glaube, da waren tungsgruppe von Tages-Anzeiger über Berner Zei- vergessen sind. die Journalisten eher etwas hysterisch.

Weltwoche Nr. 30.21 29 Illustration: Fernando Vicente Verliebte Roboter Künstliche Intelligenz, die lernfähig ist, kann Maschinen zu Partnern der Menschen machen. Und wie sieht es aus mit Gefühlen? Jürgen Schmidhuber

ann man Roboter lieben? Natürlich. Manche Männer lieben sogar ihr Auto. KUnd etliche Senioren in Altersheimen lieben künstliche bepelzte Roboter-Robben- babys, mit denen sich gut schmusen lässt, auch wenn sie nicht besonders intelligent sind. Stichlinge sind interessante Fische. In der Paarungszeit bekommen die Männchen einen leuchtend roten Bauch. Die Weibchen finden das sehr attraktiv. In einem Experiment zeigte man Letzteren künstliche Stichlingsmännchen aus Plastik, deren Bauch noch röter war. Die ge- fielen den Weibchen noch besser. Ist es beim Menschen so viel anders? Heute schon kaufen sich viele Leute für Tausende von Euros halbwegs realistische Silikonpuppen, die kaum mehr können, als auf dem Sofa zu sitzen. Manche behaupten gar, sie liebten ihre Puppen. Es wäre erstaunlich, wenn mit zunehmender Gesprächsfertigkeit, ausdrucksvollerer Mimik und zusätzlichen motorischen Fähigkeiten nicht immer mehr Menschen diesen immer raf- finierteren Roboterpuppen verfallen würden.

Vorbild E.T.A. Hoffmann Der Kunst ist das Thema natürlich ein alter Hut. Vor ein paar Jahren erschien zum Bei- spiel der Film «Ex Machina». Worum geht es? Ein junger Mann verliebt sich in eine hübsche Er unterschied schon 1816 zwischen dem männlichen «Automaten» und der weiblichen «Automate». junge Frau, doch sie bewegt sich ein wenig me- chanisch, und bald stellt sich heraus: Das ist gar kein echtes Mädchen, sondern ein humanoi- der Roboter. Das Ganze geht natürlich schlimm aus, wie immer in diesen Filmen. Dieser Handlungsstrang ist mindestens zwei Jahrhunderte alt. E. T. A. Hoffmann publizierte schon im Jahre 1816 die Erzählung «Der Sand- mann». Worum geht es? Ein junger Mann ver- liebt sich in eine hübsche junge Frau, doch sie bewegt sich ein wenig mechanisch, und bald stellt sich heraus: Das ist gar kein echtes Mäd- Egoismus erklärt Altruismus.

30 Weltwoche Nr. 30.21 Illustration: André Carrilho für die Weltwoche chen, sondern ein humanoider Roboter. Das Und um gleichzeitig bestimmte unerwünschte Ganze geht natürlich schlimm aus, wie immer Eingaben zu vermeiden, etwa negative Hun- Spielregeln für in diesen Büchern. gersignale bei niedriger Batterieladung oder Hoffmann unterschied interessanterweise negative Schmerzsignale beim Anstossen an denkende Maschinen schon 1816 zwischen dem männlichen «Auto- Hindernisse auf dem Weg zur Aufladestation? maten» und der weiblichen «Automate». Wie Mit der Zeit werden unsere vorausdenkenden Wie ist ein Zusammenleben von Men- kam er überhaupt darauf? Er war ein Kind Roboter immer besser darin, ihre Ziele zu er- schen und Robotern zu regeln, wenn seiner Zeit. Bereits im 18. Jahrhundert gab es reichen, die Summe ihrer Belohnungen zu ma- die Maschinen zunehmend intelligen- zahnradgetriebene Automaten mit puppen- ximieren und die Summe ihrer Schmerzsignale ter werden? Solche Fragen hat der legen- zu minimieren. däre Science-Fiction-Autor Isaac Asimov Ein adaptiver Roboter kann mit der Was passiert nun, wenn wir zwei oder meh- früh in seinen Büchern behandelt, so in Zeit auch ganz konkret lernen, wer ihm rere Lernmaschinen dieser Art zusammen- «I, Robot» von1950; beim Bau von Robo- bringen? Schon im letzten Jahrtausend führten tern, etwa zur Kindererziehung oder für unter welchen Umständen wie hilft. wir Experimente mit Pärchen von lernenden Bergwerksarbeit, wurden den Maschinen künstlichen Belohnungsmaximierern durch. die folgenden Gesetze eingepflanzt: haftem Antlitz, die einfache Tätigkeiten aus- Wir gaben unseren KI-Agenten Aufgaben, – Das nullte Gesetz: Ein Roboter darf der führen konnten. In der Tat, sogar vor zwei Jahr- die sie nicht alleine, sondern nur durch Zu- Menschheit keinen Schaden zufügen tausenden gab es schon zumindest prinzipiell oder nicht durch Untätigkeit zulassen, Vergleichbares. dass der Menschheit Schaden zugefügt Die vielleicht erste programmierbare Maschi- wird. ne der Menschheitsgeschichte war im 1. Jahr- – Das erste Gesetz: Ein Roboter darf hundert ein automatisches Theater des Heron einem menschlichen Wesen keinen Scha- von Alexandria (der anscheinend auch die erste den zufügen oder nicht durch Untätig- bekannte funktionierende Dampfmaschine keit zulassen, dass einem menschlichen konstruierte – die Aeolipile). Die Energiequelle Klappmesser kiss rot / weiss mit 1291 gravur. Wesen Schaden zugefügt wird, es sei seines programmierbaren Automaten bestand denn, dies würde das nullte Gesetz der aus einem Fallgewicht, das eine Schnur zog, Robotik verletzen. die um die Stifte eines drehbaren Zylinders ge- – Das zweite Gesetz: Ein Roboter muss wickelt war. Komplexe Befehlssequenzen zur dem ihm von einem menschlichen Wesen Steuerung von Türen und Puppen über meh- gegebenen Befehl gehorchen, es sei denn, rere Minuten hinweg wurden durch komplexe dies würde das nullte oder das erste Ge- Umwicklungen kodiert. setz der Robotik verletzen. Interessanterweise kam Mary Shelleys – Das dritte Gesetz: Ein Roboter muss «Frankenstein» ebenfalls im Jahre 1816 heraus. seine Existenz beschützen, es sei denn, Aber das war eine Biotechnik-Geschichte – da dies würde das nullte, das erste oder das kam keine künstliche Intelligenz (KI) drin vor, zweite Gesetz der Robotik verletzen. keine denkende Maschine. limited edition - jetzt bestellen. Anfänglich galten die Gesetze eins bis Kann man also Roboter lieben? Klar. Inter- drei, aber dann gerieten Roboter so in un- essanter ist vielleicht die Frage: Kann auch ein lösbare Zielkonflikte. Da wurde das nullte Roboter lieben? Gesetz als Generalregel hinzugefügt. (gy)

Weniger Schmerzen Es spricht nichts dagegen. Lassen Sie mich mal sammenarbeit lösen konnten. Um eine Be- Unterstützung und Zuneigung entgegenzu- erklären, wie unsere lernenden Roboter funk- lohnung zu erhalten, mussten sie lernen, sich bringen, um vielleicht das Leben gemeinsam­ tionieren. Am Anfang sind sie ganz dumm und gegenseitig zu helfen. Das taten sie dann auch. zu meistern. wissen nichts über sich und die Welt. Sie wis- Wie auch in Gemeinschaften biologischer Glauben Sie also keinem, der behauptet, sen nicht einmal, dass sie Hände haben, dass Wesen war also der Egoismus des Einzelnen ­Roboter könnten grundsätzlich nicht lieben. sie damit wackeln können, dass das Video, das ein Motiv dafür, zu lernen, den anderen bei- über ihre Kamera-Augen einströmt, sich än- zustehen. dert, während sie auf ihre wackelnde Hand bli- Und da ist er auch schon, der Grundstock der cken und so weiter. Doch wie ich schon 1990 Liebe. Wer anderen hilft, hilft sich am Ende Jürgen Schmidhuber ist ein Pionier der künstlichen vorschlug, erlernen ihre künstlichen neuro- selbst oder wenigstens seinen Kindern, oder Intelligenz (KI). Er ist Professor der Universität ­Lugano, wissenschaftlicher Direktor des KI-Forschungs- nalen Netze mit der Zeit durch selbsterfundene wenigstens seiner Gesellschaft – und damit instituts IDSIA in Lugano sowie Mitgründer und Chef- Experimente, die sich ändernden sensorischen seinen Genen. Egoismus erklärt Altruismus. wissenschaftler der Firma NNAISENSE, deren Ziel die Eingaben immer besser vorherzusagen. Damit Dieses Prinzip ist keineswegs beschränkt auf erste praktische Allzweck-KI ist. Innovationen seiner Forschungsgruppen sind neuronale Netze zum maschi- erlernen sie wie kleine Babys ein Modell der biologische Lebewesen. Nein, es gilt selbstver- nellen Lernen in Milliarden von Handys und Geräten, Welt und ihrer selbst. ständlich genauso für Gesellschaften von ler- etwa für automatische Übersetzung, Spracherkennung, Dieses Weltmodell lässt sich nun verwenden, nenden Robotern. Oder für gemischte Gesell- lernende Roboter,­ Bildbeschreibung, KI-Assistenten, Finanzvorhersage, Gesundheitswesen, sodann auch um die Zukunft zu planen: Welche Aktions- schaften. meta-lernende Maschinen, die das Lernen selbst ler- sequenzen sollte der Roboter ausführen, um in Ein adaptiver Roboter kann mit der Zeit nen. Schmidhuber will, so seine Worte, seit seinem der Zukunft bestimmte wünschenswerte Ein- natürlich auch ganz konkret lernen, wer ihm 15. Lebensjahr eine sich selbst verbessernde KI bauen, die ­klüger ist als er selbst, um dann in Rente zu gehen. Er gaben zu erzielen, zum Beispiel positive Be- unter welchen Umständen wie hilft. Und auch, erhielt zahlreiche internationale Preise und berät auch lohnungssignale beim Aufladen der Batterie? dass es sich bei manchen besonders lohnt, ihnen ­Regierungen.

Weltwoche Nr. 30.21 31 Viktors Privatprogramm Bleifuss Harry Hasler verhöhnt alles, was seinem Erschaffer heilig ist. Nur eines teilt Viktor Giacobbo mit seinem Alter Ego: den Hang zum Subversiven. Alex Baur

st die Corona-Krise nicht ein Paradies der Gage schon nach wenigen Jahren ein Mehr- Casinotheater. Giacobbo hat die altehrwürdige Satire? All die Massnahmen, die Pirouetten faches betragen von dem, was das SRG-Lohn- Bühne inklusive Gastro-Betrieb vor zwei Jahr- Ivon Politik und Wissenschaft, die Ängste reglement erlaubt. zehnten zusammen mit Patrick Frey und ande- und Ungewissheiten, sie schreien doch förm- Seit Emil Steinberger hat kein Komödiant ren Kulturschaffenden gekauft. So etwas könne lich nach einer sarkastischen Auflösung. «Im mehr in der Schweiz so viele Menschen be- ausserhalb der Weltstadt Zürich nie funktionie- Prinzip, ja», meint Viktor Giacobbo etwas geistert. Seine Figuren – von Fredi Hinz über ren, monierten damals einige. Doch sie irrten zögerlich, «doch wer an Long Covid leidet, fin- Rajiv Prasad bis Debbie Mötteli und vor allem sich. Das Casinotheater entwickelte sich schnell det Witze über Long Covid wohl gerade nicht natürlich Harry Hasler – trafen einen Nerv. Sie zum Dreh- und Angelpunkt der Schweizer Ca- so lustig.» Gewiss. Aber haben wir nicht auch sind Ikonen, die jedes Kind kennt. Die Parodien baret-Szene. über den Drögeler Fredi Hinz gelacht – wohl auf Roger Schawinski, , Gaddafi wissend, wie verheerend Drogensucht für die oder Donatella Versace drehen als Evergreens Dorado für Start-ups Betroffenen sein kann? – «Fredi fühlt sich auf Youtoube. Dabei sind all diese Figuren in Die Stadt Winterthur gewährte den Käu- nicht als Opfer, sondern als selbstbestimmter ihrer anarchistisch anmutenden Unverschämt- fern einen zinslosen Kredit von zwei Millio- Drogenkonsument.» heit und Unberechenbarkeit untypisch für das nen Franken, verbunden mit der Auflage, ein Wir sitzen im Gartenrestaurant vor dem Ca- Schweizer Fernsehen. Giacobbo ist denn auch Kulturprogramm zu betreiben. Doch die gros- sinotheater in Winterthur. Sonnenschein, ent- alles andere als ein typisches SRF-Gewächs. sen Investitionen für den Umbau, insgesamt spannte Gesichter, ausser dem Servicepersonal Wenn es einen Fixpunkt gibt im mittlerweile dreizehn Millionen, mussten die Betreiber trägt kaum noch einer Maske. Im Theater wird 69-jährigen Leben des Künstlers, dann ist es die selber aufbringen. Und vor allem: Der Betrieb nach einem entbehrungsvollen Jahr wieder ge- Stadt Winterthur. Hier wurde er geboren, hier kommt ohne staatliche Hilfen aus, wie Gia- probt. Sogar auf Giacobbos Twitter-Account, ist er zu Hause, hier wird er wohl dereinst be- cobbo bei jeder Gelegenheit betont. Die Nähe wo es in den letzten Monaten wenig zu lachen graben. Was normalerweise ein Leben prägt – zum Zürcher Hauptbahnhof und die hervor- gab, stehen die Zeichen auf Entspannung. vorweg Familie und Beruf –, erscheint bei Gia- ragenden Verkehrsverbindungen in die Ost- cobbo unfassbar. Die Partnerinnen wechselten schweiz waren sicher hilfreich. Mit seinen Fredi Hinz, Rajiv Prasad, Harry Hasler alle paar Jahre. Ein Weiberheld war er nie, wie 110 000 Einwohnern bietet Winterthur aller- Er war beileibe nicht der einzige Comedian, man so hört, er hatte immer schön eine aufs dings auch einen soliden Heimmarkt. dem der Humor, so machte es zumindest Mal, keine Skandale. Aber einen gemeinsamen Grosszügige Parks und Bauten aus der den Anschein, während der Corona-Krise ab- Gründerzeit verleihen der Stadt sogar einen handengekommen war. Es hatten sich bald Die Frage war nur, ob sich einer eher Hauch von Weltläufigkeit. Historisch gesehen zwei Lager gebildet. Auf der einen Seite stan- den Leninisten, den Trotzkisten oder stand Winterthur bis zum Einmarsch von Na- den Andreas Thiel und Marco Rima, die sich poleon 1798 unter dem Joch der Zürcher. Mitte offen mit den Skeptikern solidarisierten. Sie den Maoisten verbunden fühlte. des 19. Jahrhunderts setzte dank Sulzer, Rieter wurden als Hetzer und Covidioten beschimpft. und den Lokomotivwerken eine Blüte ein, die Auf der anderen Seite stand das Duo Giacob- Haushalt gab es nie. Geschweige denn Kinder. über hundert Jahre lang andauerte. Die Stadt bo/Müller. Auch sie wurden mit Schmähungen Und was die Arbeit betrifft – es sind so viele schaffte den Sprung in die Neuzeit, die alten überhäuft, als Panidioten und Staatskomiker Berufe, dass einem schwindlig werden könn- Industriebrachen sind ein Dorado für innova- gebrandmarkt. Das war nicht mehr lustig. Und te: Schriftsetzer, Korrektor, Kolumnist, Doku- tive Start-ups. Die Industriebarone verewigten auch gemein. mentalist, Komiker, Moderator, Schauspieler, ihren Nachlass mit einer ganzen Reihe hoch- Wenig nervt Viktor Giacobbo mehr als die Regisseur, Autor, Unternehmer, Verleger, Pro- karätiger Kunstmuseen. Politisch geprägt Leier vom Subventionsjunkie (was seine Kri- duzent, um die wichtigsten Stationen zu nen- wurde Winterthur von den Demokraten, die tiker natürlich doppelt anspornt). Tatsächlich nen. Und was er ganz besonders erwähnt haben etwas mehr auf den Staat und den sozialen gibt es wenige Künstler in diesem Land, die mit möchte – sein langjähriges Engagement für Ausgleich setzten als der Zürcher Freisinn. Das eigener Initiative und ohne Staatshilfe so viel die Orang-Utans in Indonesien und als Ver- merkt man heute noch. Die Überwindung des erreicht haben wie er (was übrigens auch für waltungsrat beim Verlag Kein & Aber –, es ist Kapitalismus wird hier weniger verbittert aus- Mike Müller gilt). Gewiss, seine Bekanntheit in der Öffentlichkeit am wenigsten bekannt. gefochten als in anderen Städten, obwohl die hat der Mann mit den Segelohren vor allem Um den wahren Viktor Giacobbo zu er- Rot-Grünen auch hier in der Mehrheit sind. dem öffentlichen Fernsehen zu verdanken. gründen, versuchen wir es also mit einem Es war eine recht friedliche und prosperie- Doch auf einem freien Markt hätte Giacobbos Spaziergang durch Winterthur. Startpunkt: das rende Welt, in die Viktor Giacobbo 1952 als

32 Weltwoche Nr. 30.21 Langjähriges Engagement für Orang-Utans: Freiheitskämpfer Giacobbo.

Weltwoche Nr. 30.21 33 Bild: Vera Hartmann für die Weltwoche Sohn einer Verkäuferin und eines Metzgers eigene Sendung («Viktors Programm») bekam, die Klischee-Blondine Debbie Mötteli («Halli- hineingeboren wurde. Seine Grosseltern väter- blieb er während eines Vierteljahrhunderts der hallo»), den Waffenhändler Mehmet Örkan licherseits waren aus Italien zugewandert (sie unbestrittene Satire-Platzhirsch beim Schwei- («Heroin ist wie Kebab für die Seele») oder traten zur protestantischen Kirche über, doch zer Fernsehen. Der Start war harzig (wie nicht den integrationsresistenten Italo Gianfranco ihren scharfen Akzent bewahrten sie sich bis anders zu erwarten), es gab Beschwerden und Benelli («Gasche nigge magge»). Kein Klischee zum Ende ihrer Tage). Der Bursche begann scharfe Kommentare, rechte Kreise monierten ist dem Komödianten zu derb, um mit einem 1968 eine Lehre als Schriftsetzer, mit Aus- eine notorische Linkslastigkeit. Doch TV-intern schrägen Spruch nicht noch einen draufzu- bildung an der Kunstgewerbeschule. Und das war Giacobbo unantastbar. packen. Selbstverständlich geben die Karika- ging damals fast automatisch einher mit einer Und dafür gab es vor allem eine Erklärung: die turen die Gemeinplätze der Lächerlichkeit Konvertierung zur marxistischen Lehre. Die Quote. Der Mann traf in seiner verschmitzten preis. Doch sie versuchen nie, diese in irgend- Frage war lediglich, ob sich einer eher den Le- und unprätentiösen Art beim Schweizer Pub- einer Weise aufzulösen oder gar zu widerlegen. ninisten, den Trotzkisten oder den Maoisten likum einen Nerv. Zu seinen Verdiensten ge- Einen derartigen Spagat muss einer erst verbunden fühlte. Genosse Viktor mochte sich hörte auch seine Nase für neue Talente, denen schaffen. Fast-Vegetarier Viktor Giacobbo ist nie entscheiden. er neben sich stets grosszügig Platz einräumte. tief im linksliberalen Milieu eingebettet, wel- Giacobbo wusste die Publikumsgunst zu nut- ches in der Kunst- und Medienszene alternativ- Anarcho und Einzelgänger zen: «Ich habe bei SRF immer gemacht, was ich los das Sagen hat und nicht gerade für Tole- Aus der SP trat er schnell wieder aus. Die Sozis wollte, niemand hat mir dreingeredet.» Es gibt ranz gegenüber Andersdenkenden bekannt waren ihm zu rechts. Obwohl kerngesund, ent- nicht viele, die das von sich behaupten können. ist. Wer sich in diesen Kreisen über den eige- wischte Giacobbo, getarnt als eine Art Früh- Die grössten Erfolge erzielte Viktor Giacob- nen Schrebergarten mokiert, braucht eine ge- version von Fredi Hinz, dem Ruf der Armee. Ein bo mit Harry Hasler, einem halbstarken PS- hörige Portion Chuzpe. in der Wolle gefärbter Linker also? Wenn er heute Fetischisten aus Zürich Schwamendingen mit Harry Hasler kann auch als Antwort auf die sagt, er habe sich nie mit einer Bewegung identi- Thurgauer Migrationshintergrund. Ursprüng- «Political Correctness» gedeutet werden, die fiziert, der Dogmatismus und die Intoleranz ge- lich entstand die Figur aus einer Parodie auf in den frühen 1990er Jahren von den USA in wisser Linker seien ihm schon damals ein Gräuel den Opel-Manta-Fanklub. Harry ist die fleisch- die Schweiz überschwappte. Im Sommer 1996 gewesen, dann ist das durchaus glaubhaft. Prole- gewordene Antithese zu seinem Schöpfer: Frei hielt sich Giacobbo mit seinem Hasler-«Sa- tarische Dialektik und Humor, das passte nicht von jeglicher Bildung, wirft er mit rassistischen letti-Rap» während siebzehn Wochen in den zusammen. Weggefährten aus alten Zeiten haben und sexistischen Zoten nur so um sich, er defi- Schweizer Top Ten. Der Hitparade-Erfolg des niert sein Glück über die Pferdestärken seiner von SRF eher für den hausinternen Gebrauch Viktor Giacobbo hat sich den Titel aufgemotzten Karossen, Klimawandel, Öko- produzierten Jux-Videos überraschte die Ma- «Puffmutter des Schweizer Humors» strom oder Veganismus sind für ihn Fremd- cher selber. Man hätte die Figur ausbauen kön- wörter. Trotz allem kommt der Hardcore- nen, etwa mit einem Harry-Hasler-Film, ein (Gabriel Vetter) redlich verdient. Chauvinist mit der Föhnfriese und den zur garantierter Kassenschlager. Doch Giacobbo Schau gestellten Brusthaaren in seiner direk- entschied sich instinktiv dagegen. Giacobbo als kauzigen Anarcho und Einzel- ten Art grundsympathisch rüber. gänger mit einem Hang zum Subversiven in Er- Dasselbe gilt für den zwielichtigen Inder Lob und Hass innerung. Einer, der sich nirgends eingliedern Rajiv Prasad («I make you a verry special Den Ausschlag gab ein Auftritt im Glatt- liess und stets herumgemeckert habe (einer mur- price»), den Fixer Fredi Hinz («das ist Pana- zentrum, einer Mall am Zürcher Stadtrand. melte sogar etwas, was wie «Sozialphobiker» sche, mein Drogenspürhund»), die Ordens- Die «Saletti»-Manie stand in ihrem Zenit, klang). Der Hang zu Spektakel und Satire lag schwester Viktoria Morgenthaler («Rufen Sie Harry Hasler lud zur Autogrammstunde. Der ihm schon damals im Blut. einfach an, einhundertsechsundfünzig . . .»), Einkaufstempel wurde von Fans buchstäblich Die roten Seilschaften waren allerdings si- überrannt. Inmitten des brodelnden Tumults, cher kein Hindernis für seine Anstellung beim auf dem bedrohlich schwankenden Podest, so Schweizer Fernsehen. Die Abteilung Doku- erinnert sich Giacobbo, sei ihm der Spass an der mentation, wo er startete, galt als linke Hoch- Rolle nachhaltig abhandengekommen. Er legte burg. Nebenbei wirbelte Giacobbo seit den Harry Hasler für ein paar Jahre in die Kühlbox. späten 1970er Jahren in verschiedenen Come- Der eigene Erfolg wurde ihm ungeheuer. dy- und Theatertruppen (Stuzzicadenti, Zam- Fans können zu den ärgsten Feinden jedes panoo’s Variété, Haruls Top Service). Im linken Künstlers werden, wenn er ihnen nicht das Szenenblatt Tell brachte er sein eigenes Milieu liefert, was sie von ihm erwarten. Das lässt mit einer Klatschkolumne regelmässig auf sich gut auf Twitter beobachten, wo Giacob- die Palme – etwas, was es vor ihm nie gegeben bo deutlich mehr Follower (knapp 200 000) hatte und auch später nie mehr geben sollte. hat als die Bundesräte Parmelin, Sommaru- Fernseh-Talkmaster Ueli Heiniger holte Gia- ga, Amherd und Cassis zusammen (Berset cobbo schliesslich für kurze Sketches in seine schafft es dank Corona auf 160 000). Die Lob- Sendung «Medienkritik». Der Newcomer fiel preisungen («Danke, dass es Dich gibt») kön- schnell durch eine bei den SRG-Sendern unüb- nen indes schnell in eine Orgie von Hohn und liche Frechheit auf (Aficionados erinnern sich Hass kippen. Bisweilen reicht dafür ein falsches an das Wortspiel mit dem «Sack am Ständer»). Wörtchen. Für einen Freidenker, der seine Un- Alle bekamen sie ihr Fett ab, seine Arbeitgeber abhängigkeit über alles stellt, kann es schnell inklusive. sehr beengend werden. Viktor Giacobbo hat sich den Titel «Puff- 2001 traf ich Giacobbo während einer Recher- mutter des Schweizer Humors» (Gabriel Vetter) che in Santo Domingo zufällig auf einem Set, redlich verdient. Nachdem er 1990 seine erste wo er den Spielfilm «Ernstfall in Havanna»

34 Weltwoche Nr. 30.21 Cartoon: Kai Felmy Es gibt eine Reihe von Anekdoten in die- ser Währung. So galt während fast drei Jahr- zehnten beim öffentlichen Schweizer Rund- funk ein faktisches Auftritts- und Redeverbot für den Monopolbrecher und SRG-Kritiker Roger Schawinski. Giacobbo foutierte sich als Einziger um dieses ungeschriebene Gesetz. Er karikierte den Radiopiraten in seinen Sendun- gen und lud ihn auch mal als Stargast ins Stu- dio ein. Das gab Stunk. Giacobbo stellte die Di- rektion vor die Alternative: Wenn Schawinski nicht auftreten dürfe, werde er es auch nicht mehr tun. Damit war die Sache erledigt. Oder der Comedian Andreas Thiel. Obwohl Thiel aus seiner rechtskonservativen Grund- haltung nie ein Geheimnis machte, bot ihm Giacobbo stets eine Bühne im Casinothea- Giacobbo stellte das SRF vor die Wahl: Wenn Schawinski nicht auftreten dürfe, werde er es auch nicht mehr tun.

ter wie auch in seinen TV-Programmen. Mag sein, dass auch er, zumal als Unternehmer, den Kapitalismus heute etwas differenzierter sieht als auch schon. Doch im Herzen, da sprechen seine Tweets eine deutliche Sprache, ist Giacob- bo ein Linker geblieben. Nur hinderte ihn das nicht daran, Andreas Thiel aus dem Schlamas- sel zu helfen, als sich dieser – eine Todsünde für Komödianten – in einen bitterernsten Dis- put um den Islam verhedderte. Als im letzten Herbst das Casinotheater seine Tore vorüber- gehend wieder öffnen konnte, bekam auch Thiel als einer der Ersten wieder seine Bühne. Freiheitskämpfer Giacobbo reagiert empfind- lich auf Leute, die ihm zu nahe treten. Doch auf der Bühne kennt er keine Berührungsängste. Natalie Rickli ist bei ihm ebenso willkom- men wie ihre rot-grünen Kontrahenten. Der Unternehmer und SVP-Spitzenpolitiker Peter Spuhler gehört zu den treusten Freunden des Winterthurer Casinotheaters. Doch niemand (am wenigsten Peter Spuhler selber) würde von Viktor erwarten, dass er ihn deshalb schont.

Reif für ein neues Alter Ego? Der Comedian, Unternehmer und Filme- macher Giacobbo stand mit 68 Jahren in der Blüte seines Schaffens, als der Corona-Tsunami Meister der humoristischen Entspannung: Giacobbo in seinem Casino-Theater. übers Land rollte. Wirtschaftlich gesehen war es für ihn wie für jeden freischaffenden Künstler eine schwierige Zeit. Gravierender, so vermute drehte. Weil die kubanische Zensur die Erlaub- je gegeben habe, warf ich ein; dass ausgerechnet ich, war die politische und ideologische Ver- nis verweigert hatte, war man auf die Domi- sie, die Zensierten, dem Tyrannen huldigten, krampfung, die der Glaubenskrieg zwischen nikanische Republik ausgewichen. Trotzdem schlage dem Fass den Boden aus. Die Stimmung Panidioten und Covidioten nach sich zog. Das schwärmte die halbe Crew beim Apéro nach unter dem Tropenhimmel sank unter den Ge- brachte selbst den Meister der humoristischen dem Dreh in den höchsten Tönen von den an- frierpunkt. Ich war auf alles gefasst, von der Entspannung an seine Grenzen. Vielleicht wäre geblichen Errungenschaften der kubanischen Schlägerei bis zum Rauswurf, als plötzlich eine die Zeit reif für ein neues Alter Ego – zum Bei- Revolution. Mir platzte der Kragen. Das Cas- Stimme aus dem Hintergrund die Gemüter be- spiel in der Person der Genderbeauftragten Si- tro-Regime gehöre zu den übelsten Diktatu- ruhigte: «So ganz unrecht hat er ja nicht.» Es monetta Scharulla-Habicht, die an der myste- ren, die es auf dem amerikanischen Kontinent war die Stimme von Viktor Giacobbo. riösen Impfkrankheit «Long Vaccid» leidet.

Weltwoche Nr. 30.21 35 Bild: Vera Hartmann für die Weltwoche Wo die Berge schrumpfen Vergessen Sie das Fernglas nicht auf der Bergwanderung Kreuzboden–Almagelleralp– Saas-Almagell – es lohnt sich! Hubert Mooser

ei der Suche nach einer empfehlens- Oben lädt ein Bergrestaurant mit einer gros- Meter hoch war. Mit anderen Worten: Er war werten Bergwanderung im Wallis hat sen Sonnenterrasse zur ersten kulinarischen geschrumpft. So hatte der Grunder Gemeinde- Bman schon fast die Qual der Wahl. Der Verschnaufpause ein. Ein kleiner Warnhinweis rat 1988 die Schnapsidee, das «Fletschhoru» um Kanton ist in dieser Hinsicht das Land der vorweg: Das Preisniveau dieses Selfservice-Be- zwei Meter aufzustocken, damit es die magi- unbegrenzten Möglichkeiten. Nun, ich habe triebs entsprach Anfang Juli 2021 in etwa dem sche Grenze wieder erreicht. Es wurde ein mich für den Höhenweg zwischen dem Kreuz- der Zürcher Bahnhofstrasse; zwei Stück Ku- Baugesuch eingereicht, und die Bevölkerung boden und der Almagelleralp entschieden. Den chen, zwei Mineral und eine Butterbrezel kos- wurde vom Plan im Amtsblatt in Kenntnis ge- laufe ich fast jedes Jahr einmal ab, und zwar ten über 30 Franken, eine Bratwurst mit Rösti setzt. Und dann brach ein gewaltiger Medien- immer mit grosser Freude und Genuss. Er eig- und Zwiebelsauce Fr. 27.50 – das ist hart. So Tsunami über Saas-Grund herein. Der Ort war net sich nämlich gut für einen Tagesausflug ab viel zahlt man nicht einmal in einem Zürcher auf einen Schlag weltweit in aller Munde. Den Bern, steigt nur sanft an, die Aussicht ist atem- Zunfthaus. Vielleicht hat der Betrieb bei seinen­ Saastalern eilt zwar der Ruf voraus, sie seien be- beraubend und der Haselnussschnaps von Urs Gästen einen Zuschlag für den Alleinunter- gnadete Maurer, aber am Ende liessen sie das Anthamatten im «Berghotel Almagelleralp» mit der Aufstockung bleiben. Heute ist das ein Gedicht. Hin und wieder begegnen Fletschhorn nur noch 3985 Meter hoch. Aber aufgepasst! Es ist eine rot-weiss mar- mir nun auch ein paar kierte Strecke, die nur für geübte Wanderer ein Türkisfarben im Sonnenlicht Spaziergang ist. Der Weg ist überall gut aus- Murmeltiere. Der gutmarkierte Wanderweg beginnt etwas gebaut und nicht gefährlich, er führt über Ge- oberhalb der Bergstation. Er ist Teil einer röllhalden und Alpweiden. Aber ständig ent- halter kassiert, der auf der Terrasse das Pub- Höhenwegroute, die vom Simplonpass nach lang der Bergflanken laufen, mit freiem Blick likum mit gängigen Volksliedern und platten Visperterminen und von da weiter nach Gspon auf die Dörfer tausend Meter weiter unten, das Witzen über die Trinkfreudigkeit der Walliser und Kreuzboden führt. Schon beim Einstieg ist nicht für jeden das Höchste der Gefühle. unterhalten sollte. werden die Sinne verwöhnt. Bei schönem Andererseits sind die Einheimischen auch Wetter sucht einen immer wieder der unver- In acht Minuten auf den Kreuzboden bekannt dafür, dass sie hoch hinauswollen. wechselbare Geruch der Alpenflora heim, der Ausgangspunkt ist das Industriestädtchen Visp. Das zeigt die etwas skurrile Geschichte um ja in der Aromatherapie belebend wirken soll. Von hier gibt es regelmässige Verbindungen das Fletschhorn, den Hausberg Saas-Grunds Zahlreiche Schilder geben Auskunft über ins Saastal. Bereits die vierzigminütige Fahrt und Teil der Kulisse um den Kreuzboden. Das die Merkmale des Purpur-Enzians, der Spinn- mit dem Postauto gibt einem die Möglichkeit, Fletschhorn steht ein bisschen im Schatten der web-Hauswurz und vieler anderer. Sie sind sich auf die besondere landschaftliche Kulisse beiden imposanten Viertausender Weissmies aufschlussreiche Wegbegleiter für interessier- dieser Region einzustimmen. Kurve um Kurve und Lagginhorn. Dazu muss man wissen, dass te Naturliebhaber und Freizeitbotaniker. Ich kommt man den Bergen näher, die Hänge wer- dieser Berg zu Beginn des 20. Jahrhunderts zünde mir zuerst einmal eine Zigarette an: den steiler, und die Strasse schlängelt sich ge- ebenfalls als Viertausender galt. Später er- Laufen und rauchen, auch das klappt hier ganz schickt um und durch natürliche Hindernisse. gaben Messungen, dass er tatsächlich 3998 prima, weil der Weg nicht stark ansteigt. Je tiefer man ins Tal vordringt, desto mehr ver- Das Panorama mit der Mischabelkette und ändert sich auch der Baustil der Häuser. Sie ste- dem Mattmarkgebiet inklusive des grössten hen teilweise enger beieinander, um im Winter Erddamms Europas – des Mattmark-Stau- Schutz vor Wind und Wetter zu gewähren, und damms – ist zudem gewaltig. Mit diesem Stau- sind häufig mit den für die Gegend typischen see, der türkisfarben im Sonnenlicht glitzert, Schieferplatten bedeckt. Dort, wo die Strasse ist eine Tragödie verbunden. 88 Menschen, nach Saas-Fee abzweigt, in Saas-Grund, 1559 darunter 56 Gastarbeiter aus Italien, starben Meter über Meer, wechsle ich das Transport- während der Bauarbeiten. Am 30. August 1965 mittel und lasse mich mit den Hohsaas-Berg- brachen zwei Millionen Kubikmeter Eis des All- bahnen in nur acht Minuten auf den Kreuz- alingletschers ab und gingen auf die Baracken boden (2400 m ü. M.) hochschaukeln. Zu Fuss der Mattmark-Baustelle nieder. Es gab danach dauert der Aufstieg zwischen zwei und zwei- grosse Diskussionen, weshalb man die Unter- einhalb Stunden, dazu habe ich mich aber bis künfte ausgerechnet in die Gefahrenzone ge- heute noch nie überwinden können. pflanzt hatte, und auch einen Prozess. Am Ende

36 Weltwoche Nr. 30.21 Cartoon: Kai Felmy Atemberaubend: Almagellertal, Berghotel «Almageller Alp», Reporter Mooser. wurden aber alle Angeklagten freigesprochen. auch ein paar Murmeltiere. Sie lassen sich nicht Es gibt verschiedene Routen hinunter nach Eine kleine Gedenkkapelle in Saas-Almagell er- stören, und ich kann die quirligen Nagetiere in Saas-Almagell. Ich wähle jeweils jene, die über innert an das schlimmste Baustellenunglück in aller Ruhe beobachten und filmen. Mit etwas eine kleine Holzbrücke führt. Die Alternative den Alpen und die schwerste Naturkatastrophe Glück sieht man auch Gämsen und Steinböcke. ist etwas ausgesetzt. Nach kurzer Zeit schon der jüngeren Schweizer Geschichte. Der Damm Immer vor Augen hat man jetzt auch das urchi- verläuft der Weg durch märchenhafte Wald- ist inzwischen auch ein beliebtes Ausflugsziel. ge Berghotel, das gleich heisst wie die Alp. stücke mit knorrigen Baumstämmen und bi- Die ungefähre Wanderzeit bis zur Almagel- Hier muss man vor dem einstündigen Ab- zarren Felsbrockengebilden. Moosbewachsene leralp dauert etwas mehr als zwei Stunden. Die stieg nach Saas-Almagell einfach einkehren. Matten säumen das still plätschernde Bächlein, Schlüsselstelle erreicht man nach rund sechzig Authentisches Gebäude, gemütliche Garten- das einen über eine kurze Distanz begleitet und Minuten. Der Weg führt hier durch wuchtige beiz mit Steintischen und freundliche Be- der fantastischen Wanderung zum Schluss die Lawinenverbauungen und über Felsbänder. dienung. Vom Doppelzimmer bis zum Massen- Krone aufsetzt. Dann kommt schon die nächste Diese kurze Passage ist aber mit Handläufen aus schlag stehen zur Übernachtung verschiedene Abzweigung. Links geht es über einen Erlebnis- Draht gut gesichert. Gleich danach erreicht man Varianten zur Auswahl – telefonische Reserva- weg – das ist für Schwindelfreie. Ich bleibe auf einen kleinen Rastplatz mit einer Holzbank. Es tion ist allerdings empfehlenswert. Und noch dem gemütlicheren Teil. Am Ziel angekommen, ist ein wenig windig – gut, habe ich eine warme etwas: 200 Meter tiefer gelegen als der Kreuz- hat man bis zur Abfahrt des Postautos meistens Jacke eingepackt. Auf der gegenüberliegenden boden, wartet das «Berghotel Almagelleralp» noch ein bisschen Zeit, um sich im Dorf des frü- Talseite ist Saas-Fee mit seinem hässlichen Park- verblüffenderweise auch mit deutlich tiefe- heren Skistars Pirmin Zurbriggen umzusehen. haus gut sichtbar. Das Gletscherdorf ist das tou- ren Konsumationspreisen auf bei mindestens Ich kann diese Bergwanderung allen wärms- ristische Zentrum des Saastales. vergleichbarer Qualität. Der frühere Lehrer tens empfehlen. Sie besticht durch ihre Viel- Urs Anthamatten führt das Hotel seit vielen fältigkeit und bietet für jeden Geschmack «Almagelleralp»: unbedingt einkehren Jahren. Er ist ein geselliger Gastgeber und be- etwas. Hohe Berggipfel, steile Felswände, herr- Nach einer letzten kleinen Steigung biege ich kannt dafür, dass er jedem sofort ein Glas sei- liche Rundsicht, beeindruckende Flora und dann schon ein ins wildromantische Alma- nes Spezialgetränks Marke Haselnussschnaps Fauna, glasklare Bergbäche und wilde Wald- gellertal, und nun geht es nur noch abwärts. anbietet. Das macht zwar etwas Gummibeine, partien. Kurzum: ein Ort, den man immer wie- Und das bedeutet: die Schuhe wieder fest zu- aber von hier in den Talgrund ist es nicht mehr der gerne aufsucht. Also: hinfahren – nach- schnüren. Hin und wieder begegnen mir nun sehr weit. machen – geniessen. Viel Vergnügen.

Weltwoche Nr. 30.21 37 Bilder: zVg Der Fall J. K. Rowling Bis sie zur Persona non grata erklärt wurde, hatte ich mich nie für J. K. Rowling interessiert. Aber wer liebt nicht diese «Vom Tellerwäscher zum Millionär»-Geschichten? Julie Burchill

ch war überzeugt, dass das Einzige, was ich obdachlos zu sein», beschrieb sie ihr Scheitern Probe stellen: Als misshandelte Ehefrau und jemals tun wollte, das Schreiben von Roma- später gleichwohl als «befreiend», weil es ihr alleinerziehende Mutter hatte sie überlebt – Inen sei», sagte Rowling 2008 in einer Rede erlaubte, sich ganz dem Schreiben zu widmen. aber nun riet man ihr, ihren minderen weib- an der Harvard University. «Meine Eltern, die An dieser Stelle bekommt die eher all- lichen Status zu verschleiern, da Buben wohl beide aus ärmlichen Verhältnissen stammten tägliche Geschichte eines unscheinbaren kaum ein Buch von jemandem namens ­Joanne und beide nicht studiert hatten, hielten meine Provinzmädchens, das zu einer jungen Frau lesen würden. Männer lernen es wohl nie: Bei überbordende Fantasie lediglich für eine amü- heranwächst und vom Wohlwollen Fremder den zehn meistverkauften Autorinnen sind sante persönliche Marotte, mit der man weder abhängig ist, die ihr Sozialhilfe gewähren, weniger als ein Fünftel der Leserschaft Män- eine Hypothek bezahlen noch sich eine Rente einen Hauch epischer Grösse. Jeder, der mit ner; die Schriftstellerin mit der grössten männ- sichern konnte.» dem Konzept der Heldenreise vertraut ist – des lichen Leserschaft ist die Thriller-Autorin LJ Ich erinnere mich, dass ich meinen Fabrik- vom amerikanischen Mythenforscher Joseph Ross, die vermutlich nicht so beliebt wäre, arbeiter-Eltern mit zwölf Jahren sagte, dass ich Campbell populär gemachten Grundmusters, wenn sie sich «Louise» nennen würde. Als die Schriftstellerin werden wolle; meine Mutter ver- mit dem er Religionen dekonstruiert und ver- Brontë-Schwestern im 19. Jahrhundert unter stand einfach nicht, was ich meinte, und nahm gleicht –, wird erstaunt sein, wie sehr Rowlings den Namen der fiktiven Bell-Brüder – Cur- an, dass ich eine Schreibkraft werden wollte! Sie rer, Ellis und Acton – publizierten, wer hätte waren gute Menschen und kauften mir schliess- Was auch immer ihr an ­Begabung sich da träumen lassen, dass mehr als ein Jahr- lich eine gebrauchte Schreibmaschine, aber bis gefehlt haben mag, sollte sie an hundert später in den Buchhandlungen der zu dem Zeitpunkt, an dem mein Name im Alter freien Welt immer noch sexuelle Apartheid von siebzehn Jahren zum ersten Mal gedruckt Lebenserfahrung zulegen. herrschen würde? Gezwungen, ihr «schwa- erschien, wurde ich immer wieder belächelt, ches» Geschlecht zu verschleiern, als sie noch wenn sie sich aufmunternd erkundigten, wie Werdegang dem Archetypus ähnelt. In seinem ein Niemand war – dies sollte dem Gender- es mit dem «Tippen» vorangehe. Buch «Der Heros in tausend Gestalten», das Wirbel, der aufkam, als Rowling längst unver- Als solch unglücklicher Teenager, der an fast ein halbes Jahrhundert vor Rowlings Er- wundbar war, zu noch mehr Fahrt verhelfen. den niedrigen Erwartungen, die auf ihn folg verfasst wurde, schreibt Campbell: «Ein projiziert wurden, zu ersticken drohte, er- Held wagt sich aus der Welt des gewöhnlichen Generation von verblendeten Narren innerte sich Rowlings erster Englischlehrer Alltags in eine Region übernatürlicher Wunder. Aber wie sich herausstellte, wäre es nicht wei- an der Sekundarschule an sie als «nicht ausser- Dort begegnet er wundersamen Kräften und ter von Bedeutung gewesen, hätte sie sich «D. gewöhnlich [. . .], aber recht gut in Englisch». erringt einen entscheidenden Sieg: Der Held Duck Esq.» genannt. Allein die acht Harry- Was auch immer ihr damals an Begabung ge- kehrt aus diesem geheimnisvollen Abenteuer Potter-Bücher­ sollen ihr mehr als eine Milliar- fehlt haben mag, sollte sie bald an Lebens- mit der Macht zurück, seinen Mitmenschen de Pfund eingebracht haben, weitere 200 Mil- erfahrung zulegen. Wohltaten zu erweisen.» lionen Pfund kamen durch die Filme hinzu. Wenn ich das lese, denke ich nicht an die Ihr Nettovermögen wird auf 820 Millionen Epische Grösse eher langweilige Figur des Zauberlehrlings, Pfund geschätzt; allein im letzten Jahr hat sie Als Rowling fünfzehn war, wurde bei ihrer sondern an die aussergewöhnliche Reise von 34,8 Millionen Pfund Steuern gezahlt. Und – Mutter – selbst erst 35-jährig – multiple Skle- Joanne Rowling selbst. Denn als sie vor einem als wäre das nicht schon genug – ist ihr Beitrag rose diagnostiziert. Sie sollte zehn Jahre später, gewalttätigen Mann aus einem fremden Land an freiwilligen Spenden einzigartig für jeman- 1990, an dieser degenerativen Krankheit ster- in die Stadt Edinburg floh, um ihrer Schwes- den aus dem Bereich der kreativen Kunst. ben. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Rowling ter nahe zu sein – ihre Mutter war inzwischen Obwohl Romanautoren schnell darin sind, bereits in Portugal von ihrem gewalttätigen gestorben –, hatte die sanftmütige junge Mut- milliardenschwere Geschäftsleute wegen ihres Ehemann getrennt und war mit ihrer kleinen ter noch ein Ass im Ärmel. Oder besser gesagt: schlechten Benehmens abzuschreiben, lassen Tochter nach Edinburg geflohen – nur um dann drei Kapitel des ersten Harry-Potter-Romans sie Donald Trump oft wie eine Malala ­Yousafzai von ihrem Ex verfolgt zu werden und somit ge- in ihrem Koffer. erscheinen, wenn es um ihren Narzissmus in zwungen zu sein, eine einstweilige Verfügung Rowling stellte das Buch 1995 fertig; nach Sachen Eigenwerbung geht. Denken Sie an zu erwirken. Mit der Diagnose einer klinischen acht Absagen von Verlagen bot ihr Bloomsbu- Martin Amis, der 20 000 Pfund für neue Zähne Depression und Selbstmordgedanken, von der ry einen bescheidenen Vorschuss für «Harry ausgab und mit der besten Freundin seiner Sozialhilfe lebend und «so arm, wie man im Potter und der Stein der Weisen» an. Ein wei- Frau durchbrannte, oder an Salman Rush- modernen Grossbritannien sein kann, ohne teres Ansinnen sollte unsere Heldin auf die die, der seiner vierten Frau sagte, sie sei «eine

38 Weltwoche Nr. 30.21 Aussergewöhnlich grosszügig: Schriftsteller-Idol Rowling. schlechte Investition», als ihre schwere Krank- gante Frau mit einem Modigliani-Gesicht, die «Verbleib» in all seinen politischen Formen: heit Sex verhinderte. sich – ungewöhnlich für eine Schriftstellerin für den Verbleib Schottlands im Vereinigten Rowling war etwas ganz anderes, eine selbst- – als eine Art Wäscheständer entpuppte. Sie Königreich, für den Verbleib des Vereinigten lose Philanthropin auf einem Niveau, das mit schien in jeder Hinsicht zivilisiert zu sein; Königreichs in Europa und im Grunde für dem von Bill Gates vergleichbar ist; aufgrund manchmal ein bisschen zu sehr, denn trotz alles, was den Status quo aufrechterhielt. Bis ihrer aussergewöhnlichen Grosszügigkeit ge- ihrer Erfahrungen im Überlebenskampf und sie in die Frage verwickelt wurde, die das bri- lang ihr innerhalb weniger Jahre der Schritt trotz ihres Wohnsitzes in Edinburg (und nicht tische Kulturleben derzeit aufs grausamste, von einer Milliardärin zur blossen Multi- in der englischen Hauptstadt), war ihre politi- aber auch aufs groteskeste umtreibt: Kann ein millionärin. So wie es ihr lag, reich zu werden, sche Einstellung nahezu deckungsgleich mit Mann auch eine Frau sein? Im Sommer 2020 fiel es ihr auch leicht, berühmt zu sein; eine ele- jener der liberalen Londoner Elite. Sie war für wurde ausgerechnet dieses Muster an Mässi-

Weltwoche Nr. 30.21 39 Bild: Tolga Akmen/AFP gung als Heldin der freien Meinungsäusserung Unterschied zwischen Märchen und Fakten den Worten: «Immer, wenn jemand ein Potter- und des Feminismus wiedergeboren, als sie kannte und ebenjene nicht. Nicht wenige von Buch verbrennt, verschwinden die Tantiemen einer heftigen Online-Schmähung durch die ihnen beschwerten sich, dass sie ihre Kindheits- von meinem Bankkonto. Und wenn das Buch «Men’s Rights Activists (Frock Division)» aus- erinnerungen «ruiniert» habe – dieselbe Gene- auch noch signiert war, fällt mir ein Zahn aus.» gesetzt war – jene Incels in Tangas und ihre ration, die jammert, der Brexit habe ihre Zu- Der Hashtag hRIPJKRowling mag im Trend verräterischen transmaids, die glauben, dass kunft ruiniert. gewesen sein und so atemberaubend wackli- «woman» oder «Frau» ein Schimpfwort ist, Seit geraumer Zeit läuft eine Kampagne zur ge Tweets wie «Sie ist nicht tot, aber sie hat wenn nicht das scheusslich klingende «cis» Infantilisierung der britischen Bevölkerung – ihre eigene Karriere getötet, indem sie Trans- davor steht. («Cisgender» oder «zisgender» be- «Packt euch warm ein!» und «Bleibt hydriert!» personen hasst» mögen im Überfluss vor- zeichnet die Kongruenz von Geschlechtsidenti- zwitschern die TV-Wetterpropheten unent- handen gewesen sein, aber einmal mehr hatte tät und Geburtsgeschlecht.) wegt – und das war das Ergebnis: Ein Heer von Ich hatte Rowling immer für humorlos ge- stampfenden, selbstverliebten Riesenbabys, Rowling hatte sich aus den vor halten, aber ich sollte angenehm überrascht denen von ihren dicken Eltern seit ihrer Geburt Klischees klirrenden Fesseln werden, als sie nach der Lektüre eines Zeitungs- erzählt wird, wie perfekt sie seien, und denen artikels, in dem die Formulierung «Menschen, daher der kritische Geist, der Kunst und Kultur des woke-Sprech befreit. die menstruieren» verwendet wurde, twitter- inspiriert, völlig fehlt. Sie haben noch nie das te: «Menschen, die menstruieren. Ich bin mir Wort «nein» gehört, aber ironischerweise ist dieser monströse Mob – Violet Elizabeth Bott sicher, dass es früher ein Wort für diese Leute «nein» alles, was sie zur Welt beitragen. schliesst sich der Stasi an – nur ein schwaches gab. Kann mir jemand weiterhelfen? Wumben? Die woke-Bewegung ist eher reaktionär als Gespür für die Realität. Indem sie sich gegen Wimpund? Woomud?» revolutionär. Eines der Indizien ist, dass die- sie wandten, hatten sie Rowling nämlich güns- Der Groll der überprivilegierten, leistungs- jenigen, die historisch gesehen die Macht inne- tigerweise von den Kinderbüchern weg in die schwachen Bettnässer der woke-Bewegung ent- hatten – Männer, die Gebildeten, die Wohl- Welt der Erwachsenenliteratur katapultiert, spricht im Ausmass nur noch deren täglichem habenden –, so viel Zeit damit verbrachten, während sie in ihren gepolsterten Zellen in Massaker an der englischen Sprache, daher das Verhalten der Frauen, der Ungebildeten ihren übergrossen Windeln sassen und über passte es, dass der Kampf damit begann, dass und der Armen im Namen von wokeness zu eine Frau jammerten, die sich bereits aus ihrem Rowling für ihre Muttersprache eintrat. Das tadeln. Das zeigte sich prompt, als sich die klammen Griff befreit und in eine neue, an- vorhersehbare Gerangel folgte, aber sie wich mittelmässigen jungen Harry-Potter-Schau- gemessenere Laufbahn geflüchtet hatte. nicht zurück: «Wenn das Geschlecht nicht spieler gegen die Frau wandten, die ihnen 2013 erschien der erste ihrer Cormoran- real ist, wird die gelebte Realität von Frauen Weltöffentlichkeit verschafft hatte und deren Strike-­Krimis unter dem Pseudonym Robert funkelndem Gehirn sie alles verdanken, was Galbraith; es folgten vier weitere und Rowlings «Wenn das Geschlecht nicht real ist, sie nun umgibt. Dass sie aus privilegierten Ankündigung, dass sie zehn zusätzliche plane. wird die gelebte Realität von Frauen Verhältnissen stammen (Daniel Radcliffe, der Alle Bestseller sind exzellent, sowohl literari- privat erzogene Sohn eines Casting-Agenten – sche Triumphe als auch regelrechte Pageturner- auf der ganzen Welt ausgelöscht.» wird er seine Autobiografie «Mein Überlebens- Thriller, die an Graham Greene erinnern und kampf» nennen?), während sie als mittellose daran, dass er sowohl Unterhaltung als auch auf der ganzen Welt ausgelöscht [. . .]. Die Idee, alleinerziehende Mutter einst in Cafés schrieb, Romane schrieb – und wie beides schliesslich dass Frauen wie ich, die sich seit Jahrzehnten macht die Sache ziemlich surreal. ununterscheidbar wurde. In dieser Serie, die in Transmenschen einfühlen und sich ihnen Nach einer Phase, in der sie versuchte, jenen inzwischen völlig aus dem Ruder gelaufen ist, verwandt fühlen, weil sie auf die gleiche Weise Streberchor zu besänftigen, kam Rowling gab es unter anderem einen männlichen, als verletzlich sind wie Frauen – nämlich aufgrund schliesslich als widerborstiger Spassvogel zu- Transvestit verkleideten Frauenmörder und männlicher Gewalt –; dass wir Frauen Trans- rück und reagierte auf die empfohlene Bücher- eine Figur, die zwar vorgibt, ein Antizionist zu menschen ‹hassen›, weil wir denken, dass das verbrennung ihrer Harry-Potter-Bestseller mit sein, tatsächlich aber ein fanatischer Antisemit Geschlecht real ist und gelebte Konsequenzen ist. Rowling hatte sich aus den vor Klischees hat, ist Unsinn [. . .]. Ich respektiere das Recht klirrenden Fesseln des woke-Sprech befreit jeder Transperson, so zu leben, wie es sich für und war als aufgeschlossene Einzelkämpferin sie authentisch und angenehm anfühlt. Gleich- wiedergeboren, die einer Joseph-Campbell-Al- zeitig ist mein Leben davon geprägt, weiblich legorie würdig wäre. zu sein. Ich glaube nicht, dass es verwerflich Sie ist eine Heldin wider Willen und eine ist, das zu sagen.» Frau, die sich an die Regeln gehalten hat, bis sie gebrochen wurden und mit ihnen auch ihre Heldin wider Willen Geduld. Und sieh sie dir jetzt an – mit genug All die Jahre, in denen sie einfach zu beein- Geld, um neun Leben lang nicht mehr zu arbei- druckenden Kindern erzählte, dass Magie ten, und genug Kreativität, um nie aufzuhören. über die alltägliche Realität triumphieren Woke ist die Rache des Dummkopfs am Humor, könne, mögen sich ja für Rowling finanziell der Tratschtante am Schlagzeilenmacher, des ausgezahlt haben, doch sie hat eine Genera- Mauerblümchens am wirbelnden Tänzer. tion von verblendeten Narren aufgezogen, die Aber Rache ist auch ein Gericht, das man am glauben, dass das Denken einen Penis weib- besten kalt geniesst, und zwar öffentlich, für lich machen könne. Nun begann ein Social- eine grosse Summe Geld, wie J. K. Rowling so Media-Shitstorm enttäuschter Harry-Potter- triumphal beweist. Fans, in dem eine Horde von Nullen meinte, dass diese Selfmade-Supererfolgsfrau sich weiterbilden sollte, und das nur, weil sie den Aus dem Englischen von Thomas Wördehoff

40 Weltwoche Nr. 30.21 Cartoon: Kai Felmy Weinschmeckerin vom Zürichberg Als 26-Jährige begann sie im Luxushotel «The Dolder Grand» zu arbeiten. Vier Jahre später wurde sie zum «Sommelier des Jahres» gekürt. Doch Lisa Bader hat noch Grösseres im Sinn. Florian Schwab

n der hohen Lobby mit ihren geräumigen Mitte 2016 kam der Ruf nach Zürich. Nach ihrer man ja kaum woanders hinreisen konnte.» Die Sesseln geht Lisa Bader fast ein wenig unter. Ausbildung in Montreux hatte Lisa Bader sich letzte Flasche, die sie privat geöffnet hat, war ein IDie zierliche Deutsche ist seit viereinhalb zur Sommelière weitergebildet und in dieser Herrschäftler Chardonnay – «allzu häufig kommt Jahren Head-Sommelière des Hauses. Zu ihrem Funktion zunächst in verschiedenen Sterne- das aber nicht vor, ich lebe alleine». Ein weite- Treffen mit der Weltwoche am früheren Nach- restaurants in Frankfurt gearbeitet, darunter res Pflänzchen, das sie im «Dolder Grand» kul- mittag kommt sie direkt vom Mittagsservice in einem französischen Ein-Stern-Haus mit welt- tiviert, sind kalifornische Weine. «Während der «The Restaurant». In dem Gourmet-Etablisse- berühmter Bordeaux-Karte. «Wir hatten da teil- Schulzeit habe ich länger bei einer Gastfamilie ment sorgt sie an der Seite von Fine-Dining-Chef weise Raritäten aus den 1920ern und 1930ern in Kalifornien gelebt und reise seither fast jähr- Heiko Nieder (2 Michelin-Sterne, 19 Gault-Mil- – und die wurden auch fleissig getrunken», er- lich dorthin– vielleicht kommt das daher.» Und lau-Punkte) für die perfekte Weinbegleitung. innert sie sich. Dabei habe sie «sehr, sehr viel ge- einen guten Riesling gibt es bei Lisa Bader natür- Mit grossem Erfolg: Für das Jahr 2021 lich immer. «Ich bin Deutsche – alles andere wurde die Dreissigjährige vom «Gault Mil- wäre seltsam.» Man müsse zwar nicht jedem lau Schweiz» zum «Sommelier des Jahres» Länder-Trend hinterherhecheln, aber «von erhoben. dort, wo es qualitativ sehr gute Weine gibt, Hinter der gastronomischen Blitzkarriere sollte man dem Gast etwas anbieten können». der jungen Frau stecken viel Erfahrung, Arbeit und vor allem ein sehr delikater Auch die Zahlen müssen stimmen Gaumen. Letzterer ist eine unverzichtbare Was zeichnet einen guten Sommelier aus? Zutat, wenn man es in der Welt des Weines Neben dem Fachwissen und dem feinen ganz nach oben bringen will. Geschmacks- Gaumen sei auch das Betriebswirtschaft- nuancen erkennen und beschreiben – das liche wichtig, sagt sie. «Es bringt nichts, kann sie. «Die Sensorik lässt mich selten wenn man die schönsten Weinbegleitungen im Stich», sagt die Sommelière und blickt komponieren kann, aber die Zahlen nicht zufrieden auf das Glas Wasser, das vor ihr aufgehen.» Und dann sei es wichtig, dem steht. Ihre Antworten fallen schnell, präg- Gast zwar Möglichkeiten aufzuzeigen, ihn nant und präzise aus. Man spürt das Wissen aber nicht zu bevormunden. «Man sollte und den Ehrgeiz, die Lisa Bader hierherge- ihn zu nichts zwingen.» Meist sei das aber tragen haben, hoch über die Dächer Zürichs. auch nicht nötig. «Heutzutage sind viele «Sensationelle Entdeckungen»: weinbegeisterte Leute sehr aufgeschlossen «Montreux harmonierte am besten» Sommelière Bader. und lieben es, Neuheiten zu entdecken.» Aufgewachsen in Kuppenheim bei Karls- Die Sommelier-Ausbildung, erinnert sich ruhe, trank Lisa Bader schon früh gerne ab Lisa Bader, sei «ein bisschen wie der Führer- und zu ein Glas Wein. «Als Jugendliche war ich lernt». Die Liebe zu den Bordeaux hat sie mit an schein». Man lerne ein paar Grundsätze, müsse eher nicht der Red-Bull-Typ.» Zunächst wollte den Zürichberg genommen und das diesbezüg- sich den Rest aber dann in der Praxis erarbeiten: sie Medizin studieren. «Für meine Eltern war liche Angebot ausgebaut. «Die Jahrgangstiefe Wie wirkt sich ein Kalkboden auf verschiedene es bereits eine ausgemachte Sache, dass ich Ärz- ist mir sehr wichtig – lieber zwei oder drei Pro- Traubensorten aus? Wie altert der Bordeaux? tin werden würde.» Doch ein paar Praktika vor duzenten weniger, dafür mehr Jahrgänge.» Die Auszeichnung des «Gault Millau» sei natür- Studienbeginn zeigten ihr, dass es doch nicht Nach Lisa Baders fast fünf Jahren im «Dol- lich «sehr erfreulich», sagt sie. Was kann man das Richtige war. Also schrieb sie sich an der der Grand» tragen die Weinkarten des Zürcher noch erreichen, wenn man mit dreissig bereits Hotelfachschule in Montreux ein. «Ich habe Luxushauses zunehmend ihre Handschrift, vor «Sommelier des Jahres» war? Lisa Bader hat sich mir verschiedene Optionen angeschaut, aber allem die rund 750 Tropfen, die in «The Restau- das ultimative Ziel ihrer Zunft vorgenommen. Montreux harmonierte am besten.» Während rant « erhältlich sind. Neben Bordeaux setzt sie Am Court of Master Sommeliers in London ab- ihrer Bachelor-Ausbildung in Event-Marketing auch auf weniger bekannte Herkunftsregionen. solviert sie die Ausbildung zum «Master Somme- absolvierte sie ein Praktikum in «The Dolder «Aus Kroatien, Griechenland und Portugal gibt lier». In den vierzig Jahren der Existenz dieser Grand». «Von da an war mir immer klar, dass es sensationelle Entdeckungen.» Und auch die Institution haben nur 270 Sommeliers die Ab- ich sofort alles stehen- und liegenlassen würde, Bündner Herrschaft ist ihr ziemlich ans Herz ge- schlussprüfung bestanden. «Da ich sensorisch wenn ich hierher zurückkehren könnte.» wachsen. «Insbesondere im letzten Jahr, in dem recht gut bin, sollte ich es eigentlich schaffen.»

Weltwoche Nr. 30.21 41 Bild: The Dolder Grand «Niemand weiss, was ethisch ist» Soll man Firmen moralisches Verhalten vorschreiben? Der Wirtschaftsrechtler Peter V. Kunz nimmt Stellung zu Illusionen der Gesetzgebung und zur Staatsgläubigkeit der Vierzigjährigen. Beat Gygi

r zählt zu den profiliertesten un- moralisches Wohlverhalten – was immer das nehmen genau wissen, was sie tun dürfen und abhängigen Rechtsexperten in der sein soll – durch die Gesetzgebung erzwingen was nicht. Aber die Gesetzgebung der jüngeren ESchweiz, wenn Fragen zu Aktienrecht, zu wollen. Richtwerte zur Frauenvertretung Zeit war geradezu mehrdeutig. Im Schweizer Firmenübernahmen, Verhalten und Befug- in der Führung machen die Aktiengesellschaft Wirtschaftsrecht ist die legislative Qualität in nissen von Aktionären, Verwaltungsräten nicht frauenfreundlicher. den letzten zwanzig Jahren schlecht geworden. und Managern auftauchen. Peter V. Kunz ist Weltwoche: Ist der moralische Druck nicht Weltwoche: Wie kam das? Professor für Wirtschaftsrecht und Rechtsver- bereits ein Erfolg? Kunz: Die Neigung zur hektischen Ad-hoc- gleichung sowie geschäftsführender Direktor Kunz: Da gibt man sich grossen Illusionen Gesetzgebung hat enorm zugenommen. Ganz des Instituts für Wirtschaftsrecht an der Uni- hin. Schon der Umstand, dass es immer wie- deutlich wurde das beim Covid-19-Gesetz, aber versität Bern. Der 56-jährige Jurist ist eine allgemein führte im Wirtschaftsrecht alle nüchterne Stimme, wenn Skandale oder paar Jahre irgendein Skandal oder Skan- Skandälchen die Wirtschaft erschüttern dälchen zu parlamentarischen Vorstössen und die Gefahr besteht, dass Politik und und neuer Regulierung. Und zu neuer Un- Justiz überreagieren. Wir treffen ihn in klarheit. Damit verliert die Schweiz einen Bern in seinem Büro, wo er freimütig dar- wichtigen Wettbewerbsvorteil, nämlich die legt, welche neueren Strömungen und Ent- Rechtssicherheit. wicklungen im Recht ihm nicht behagen. Weltwoche: Welche Beispiele führen Ihrer Ansicht nach in diese Richtung? Weltwoche: Herr Kunz, Sie haben die Kunz: Etwa all die Vorgaben zu Ver- 2005 in Angriff genommene Aktienrechts- haltensnormen, Treue- und Sorgfalts- revision intensiv mitverfolgt. Ein Teil des pflichten, Ethik oder zum Berichtswesen neuen Aktienrechts ist jetzt gültig, etwa die bezüglich Menschenrechtssituation beim Vorgabe, dass grössere Aktiengesellschaften indirekten Gegenvorschlag zur Konzern- im Verwaltungsrat 30 Prozent Frauen an- initiative. Vieles bleibt da offen und be- streben sollen, in Geschäftsleitungen 20 deutet Rechtsunsicherheit für die Unter- Prozent. Sie haben das kritisiert. Wie be- nehmen wie auch für die Gerichte. urteilen Sie denn die Ansätze der Politik, Weltwoche: Aber in der modernen Welt das Wirtschaftsrecht auch auf aktuelle ge- muss doch ein Unternehmen immer viel- sellschaftliche Strömungen auszurichten? fältigere Beziehungen zur Gesellschaft Peter V. Kunz: Ich bin klar der Meinung, pflegen. dass sich das Aktienrecht in erster Linie auf Kunz: Ja, und viele wollen das jetzt ins Aktionärsschutz und Gläubigerschutz kon- Wirtschaftsrecht einbauen. Vor dreissig Jah- zentrieren soll. Für diese Haltung werde ich «Mangel an Rechtsstaatlichkeit»: Jurist Kunz. ren ging es noch stark um die Aktionärs- regelmässig kritisiert, aber das sind aus orientierung, den Shareholder-Value, dieser meiner Sicht die zentralen Themen in einer wurde dann verdrängt durch den Stake- Aktiengesellschaft. Aktionäre und Gläubiger der zu irgendwelchen Skandalen kommt, zeigt, holder-Value, also den Einbezug mehrerer an- sind die Hauptparteien. All die zusätzlichen dass solche Versuche zur Einflussnahme un- derer Anspruchsgruppen, insbesondere der Aspekte und Interessen anderer Gruppen, die tauglich sind. Man kann in der Wirtschaft nicht Gläubiger. Dann kam gesellschaftliche Ver- jetzt en vogue sind, betreffe dies Nachhaltig- alles und jedes von aussen vorgeben. antwortung dazu, die sogenannte Corporate keit oder eben Diversität, haben im Grunde Weltwoche: Soll Wirtschaftsgesetzgebung Social Responsibility von Unternehmen, und nichts mit dem Aktienrecht zu tun. denn quasi kalt und minimalistisch sein? jetzt ist die Dreierkombination ESG, also öko- Weltwoche: Wenn all das für die Firmen aber Kunz: Meiner Ansicht nach sollte die Gesetz- logisch, sozial, wirtschaftlich, gross in Mode. wichtiger wird, warum nicht nachhelfen? gebung eher minimalistisch ausgestaltet und Weltwoche: Ökonomie ergänzt durch Ethik. Kunz: Wir haben in der Schweiz gut 220 000 zumindest bei starken Eingriffen möglichst Das verspricht doch eine bessere Welt. Aktiengesellschaften, von Kleinunternehmen eindeutig sein. Es geht weniger um die Anzahl Kunz: Das sind doch Illusionen, entweder bis zu Grosskonzernen wie Nestlé oder Novar- Paragrafen als vielmehr um die Klarheit der Be- idealistisch oder ideologisch motiviert. Ein mo- tis. Ich halte es für falsch, von Unternehmen stimmungen. Am Schluss müssen die Unter- ralisches oder ethisches Verhalten gibt es nicht

42 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: Raphael Moser bei einer Aktiengesellschaft, übrigens auch bei ratungsindustrie. Moderne Entschädigungs- bald die Nachfrage abnimmt und Rating-­ keiner Genossenschaft, höchstens bei den Leu- modelle und immer komplexere Reportings Kosten wie auch Minderrenditen sichtbar ten, die dahinterstehen. Wenn der Gesetzgeber lassen eine neue Industrie entstehen. Berichte werden, wird es rasch vorbei sein. Die Markt- moralische Leitplanken setzen will, ist das zum schreiben, Präsentationen erstellen, das gibt kräfte werden wirken, keine Bank wird sagen: Scheitern verurteilt. Aufträge. Mehr Vorschriften führen auch zu Wir verdienen zwar nichts, aber wir tun es aus Weltwoche: Warum? mehr Rechtsverstössen und gerichtlichen Aus- moralischer Überzeugung. Kunz: Niemand weiss, was ethisch ist, was einandersetzungen. Weltwoche: Das Wirtschaftsrecht wird ja moralisch korrekt ist. Sollen allwissende Moral- Weltwoche: Heisst Verwaltungswirtschaft? stark durch internationales Recht und Richt- experten das vorgeben? Gelehrte? Moral ist ja Kunz: Wir erleben seit zehn Jahren tatsäch- linien internationaler Organisationen be- ein individuelles Konzept. Jedermann hat ein lich eine starke Veränderung von einer libera- stimmt, jetzt auch bei der EU-getriebenen separates, eigenes Verständnis davon, und vor len zu einer zunehmend antiliberalen, staats- Klassifizierung der Finanzinstrumente. Das diesem Hintergrund sage ich: Massstab für das orientierten Gesellschaft und auch Wirtschaft. geht doch an Schweizer Gesetzen vorbei. Verhalten der Unternehmen muss primär die Dass viele staatlich bezahlte Professoren das Kunz: In meinen Augen sind diese weichen Legalität sein. Das Gesetz muss also klar an- nicht als Problem erachten, sondern eher unter- Regulierungen, das sogenannte Soft Law, ein geben, was legal und was illegal ist. stützen, ist wenig erstaunlich. enormes Problem im Wirtschaftsrecht. Soft Law Weltwoche: Viele sagen, nur legal zu han- Weltwoche: Schlägt das Pendel je zurück? entsteht ja national wie auch international. Es deln, genüge heute nicht. Kunz: Davon bin ich überzeugt. Der heutige ist brisant: All die Rundschreiben oder Ver- Kunz: Ja, da kommen beliebte, aber völlig Zeitgeist wird jetzt geprägt durch die Vierzig- ordnungen der Finanzmarktaufsicht Finma offene Schlagworte wie legitim, fair, gerecht, bis Fünfzigjährigen in Wirtschaft, Politik und beispielsweise bilden Soft Law, das sich nicht sozial. Da werden Massstäbe angelegt, die ge- Medien, die sehr staatsgläubig sind. Aber ich aus Gesetzen ergibt, sondern Interpretationen fährlich sind. Meine zentrale Kritik an der Ent- sehe bei der jüngeren Generation, nicht zuletzt der Behörde darstellt, an die sich die Banken wicklung des schweizerischen Wirtschafts- dann aber halten müssen. rechts lautet denn auch, dass man sich nicht «Wenn der Gesetzgeber moralische Weltwoche: Und vom Ausland her . . . mehr auf die Kerngrundsätze fokussiert, im Leitplanken setzen will, ist das zum Kunz: Auf internationaler Ebene entstehen Gesellschaftsrecht also auf Aktionärsschutz die meisten Vorgaben als Soft Law. Da kommen und Gläubigerschutz. Stattdessen erhalten Scheitern verurteilt.» die G-7, die G-20, die OECD und so weiter zu- gesellschaftspolitische Anliegen, sachfremde sammen, ziehen irgendeinen Massstab heran Themen wie Nachhaltigkeits- oder Diversitäts- bei meinen Studierenden, dass ihnen wieder und legen Standards fest, an die sich die Staaten überlegungen immer mehr Platz. viel mehr bewusst ist, dass man nicht einfach und Unternehmen dann halten sollen. Das ist Weltwoche: Weil eine Nachfrage besteht. auf die Unterstützung des Staates warten kann. rechtsstaatlich ein riesiges Problem. Ich staune, Kunz: Befriedigen tut das zunächst die Poli- Ich bin ziemlich sicher, dass in vielleicht fünf- wie gering jetzt der Widerstand der Schweiz tiker, grossenteils der linken Seite, die sagen zehn Jahren heutige Minderheitsmeinungen gegen die Steuerpläne der OECD ist. Ein solcher können, sie hätten etwas unternommen, was wieder bestimmend sein werden. Mangel an Rechtsstaatlichkeit erinnert doch ihrer Klientel aus dem Herzen spricht und Weltwoche: Im Moment ist die Klimawelle eher an Bananenrepubliken. das Gewissen beruhigt. Sich über andere zu im Anrollen, die wahrscheinlich noch viel Weltwoche: Man fürchtet schwarze Listen. erheben, macht Spass. Nichts ist schöner als mehr Vorschriften bringen wird, Grenzwerte, Kunz: Es ist einfach erstaunlich, dass wir Kritik an Dritten, den bösen Konzernen Vor- Technikverbote, «Vergrünung» der Finanz- Schweizer nicht einsehen, dass derartiges inter- schriften für ihre Geschäfte zu machen. Und industrie, die Investitionen umlenken soll. nationales Soft Law schlicht die Macht des Stär- ganz attraktiv ist es, fremdes Geld nach eige- Kunz: Wahrscheinlich nimmt die Klima- keren ist, ohne staatsvertragliche Grundlagen. nen Vorlieben zu verteilen. All dies hat sich in regulierung noch stark zu, vielleicht jahre- Weltwoche: Oft wird relativiert, das treffe der Politik stark verbreitet. lang, aber man muss auch sehen: Kein Unter- vor allem ein paar internationale Konzerne. Weltwoche: Gelten Unternehmen als böse? nehmen macht so etwas aus moralischen Kunz: Genau das ist ein Trugschluss. Meist Kunz: Es gibt in der Politik und in vielen Me- Gründen oder aus Überzeugung, sondern kommt in der Politik das Argument, bestimmte dien eine fast schematische Unterscheidung in aus Opportunismus. Finanzinstitute machen Auflagen beträfen ja nur Nestlé, Novartis und Gut und Böse. Aktiengesellschaften sind eher die klimakorrekte Umpolung der Finanzen einige weitere Grosse. Und die können sich böse, Konzerne erst recht, Genossenschaften mit, weil sie erstens Angst vor Kritik oder natürlich neue Stellen für Nachhaltigkeit, Gut- dagegen gelten interessanterweise als gut. Geschäftsboykotten haben und zweitens die achten und schöne Berichte leisten. Aber Ach- Weltwoche: Das tönt nach Mitte-links. Nachfrage nach grünen Geschäften mit ESG tung, eher früher als später wird sich das auch Kunz: Die bürgerliche Seite wehrt sich jeden- jetzt boomt und sie gut daran verdienen. So- bei den KMU niederschlagen. falls nicht energisch gegen diese Strömungen. Weltwoche: Durch neue Gesetze? In der SVP ist der Widerstand zwar relativ gross, Kunz: Es kann sein, dass irgendwann die erheblich geringer aber in der FDP, bei der ich Gesetze erweitert, etwa Grenzwerte verschärft knapp dreissig Jahre lang Mitglied war. Früher werden. Vor allem aber können die Gerichte hätten FDP-Vertreter kritisch nach dem Sinn plötzlich einmal argumentieren, was für No- der Vorgaben zu Diversität oder Nachhaltig- vartis gelte, solle auch für KMU Standard sein. keits- und Menschenrechtsrapporten gefragt, Neben der Gesetzgebung ist eben auch die heute halten sie sich zurück aus Angst vor ne- Rechtsanwendung zentral, die Umsetzung gativem Echo. Die Partei orientiert sich seit ein durch Behörden und Gerichte. Etwas pointiert paar Jahren immer stärker in Richtung Staat. kann man sagen: Die Politiker als Vorhut der Weltwoche: In der Wirtschaft machen aber Regulierung können für die Rechtsstaatlich- auch etliche Gruppen auch gerne mit. keit gefährlich werden, aber fast noch schlim- Kunz: Ja, klare Gewinner sind zum Bei- mere Wirkungen können von der Nachhut, spiel die Rechtsanwälte und die ganze Be- nämlich den Richtern, ausgehen.

Weltwoche Nr. 30.21 43 Cartoon: Kai Felmy Ewig lockt das Weib Der Feminismus wurde nicht zwischen zwei Buchdeckeln geboren, sondern am Strand von Saint-Tropez. Brigitte Bardot wurde zur Leitfigur eines neuen Lebensstils. Sarah Pines

er moderne, von der Prüderie der ventionell, materialistisch, instinkthaft am sein, was sie wollte: Ironischerweise ist es ein Gegenwart überschattete Feminismus eigenen Vorteil interessiert. Heute würde man Leben als Ehefrau, jedoch «modernisiert» und Dbegann nicht, wie meist angenommen, ihn abfällig einen «Sugardaddy» nennen. An- an die Zeit angepasst, immerhin. mit Simone de Beauvoirs berühmtem Satz «Man toine wird vorübergehend ihr Liebhaber und Juliette und Michel unterscheiden sich in ihrer wird nicht als Frau geboren, sondern dazu ge- Michel schliesslich ihr Ehemann. Beziehungen erheblich von den konventionellen macht». Auch nicht mit den sechziger Jahren, Erstmalig, so de Beauvoir in ihrem Bardot- Paarkonstellationen ihrer Zeit, aber auch von zugespitzt auf den Mai 1968, auf Studentenun- Aufsatz, sehe sie mit Bardot in der Rolle der Ju- dem typischen Rebellenpaar der sexuellen Revo- ruhen, die sich, am Semesterende, beim Packen liette lebendig bestätigt, was bereits in «Le deu- lution, letztlich ein antifeministisches Klischee. für die Ferien, so schnell in Luft auflösten, wie sie xième sexe» angelegt war: Die Frau sei nicht nur Der 68er Feminismus war chauvinistisch. Schnit- begonnen hatten. Sondern er begann mit einem durch ihre Biologie, sondern vor allem durch ge- tige Godard-Typen mit guten Frisuren und guten Film, und er begann an einem südfranzösischen sellschaftliche Vorstellungen von Weiblichkeit Jeans nannten schöne Frauen, die sie als Kamera- Strand. konstituiert: «Jungfrau», «verheiratete Frau», dinnen bezeichneten, ­«Schlampe» oder «Alte». 1956 wurde Brigitte Bardot mit «Et Dieu . . . «Mutter», «Prostituierte». Und Frauen könnten Die Frauen traten vor allem als Zuspielerinnen créa la femme» (. . . und immer lockt das Weib), der die Welt verändernden Rebellenmänner auf, gedreht von ihrem ersten Mann Roger Vadim, Simone de Beauvoir nannte zwar mit eigenem Willen und neuen «Rechten», zur Leitfigur eines neuen fraulichen Lebens- Brigitte Bardot begeistert die erste aber letztlich passiv-schlaff.­ stils: natürlich, ohne Zwang, mit nur wenig Anders halten es Juliette und Michel in «. . . Moral. Simone de Beauvoir hatte ihr weg- wirklich sexuell befreite Frau. und immer lockt das Weib». Sie heiraten, doch weisendes Buch «Le deuxième sexe» («Das an- von vornherein ist alles anders: Michel weiss dere Geschlecht»), dem obiger Satz entstammt, die Wahl haben, diesen Rollen zu entsprechen um Juliettes Affäre und auch um ihren väter- bereits 1949 publiziert, allerdings ohne dass die oder sie zu durchbrechen. De Beauvoir, die mit lichen Freund Carradine – und er lässt sie ge- dort angestellten Beobachtungen zur Rolle der dem Schriftsteller Jean-Paul Sartre in einer of- lassen gewähren, ohne dadurch an Männlich- Frau an der Realität abzulesen gewesen wären. fenen Beziehung lebte, unter dieser aber auch keit zu verlieren. Am Tag der Hochzeit lässt Erst auf den Film hin schrieb sie für das ameri- litt, war der «bürgerlichen» Lebensform der Ehe Juliette das Brautbouquet und ihre Schuhe in kanische Magazin Esquire den begeisterten Auf- vehement abgeneigt. Doch Bardot, so de Beau- der Kirche zurück; sie verzichtet symbolisch satz «Brigitte Bardot and the Lolita Syndrome» voir weiter, habe in diesem ersten aller feminis- auf die für die traditionelle Ehe typischen In- und nannte die Schauspielerin die erste wirk- tischen Filme eben tatsächlich die Wahl, das zu signien – Jungfräulichkeit und Gebundenheit lich sexuell befreite Frau. – und geht mit Michel barfuss, ergo «frei» im Sinne von «gleichwertig», nach Hause. Eine Frau, drei Männer Auch das Hochzeitsessen deutet im Film Worum geht es in diesem bedeutsamen Film? eine neue Zeit an: Es gibt kein Bankett; kein Der Schauplatz ist Saint-Tropez. Juliette (Bri- Vater der Braut oder des Bräutigams sitzt der gitte Bardot) ist achtzehn Jahre alt und Waisen- Tafel vor, gibt das Fleisch aus und behält für kind. Sie ist lasziv, liegt, spärlich angezogen, sich selbst die grössten und schönsten Stücke. auf Terrassen herum. Sie arbeitet nicht, die Mei- Juliette und Michel lassen Michels Mutter nungen anderer sind ihr egal. Und sie hat gleich und Geschwister alleine am Tisch zurück, drei Männer: Eric Carradine (Curd Jürgens), ein nehmen die Fleischplatte mit und essen im älterer, wohlhabender Investor aus Paris, der Schlafzimmer. Danach geht Michel Wäsche fal- in Saint-Tropez ein Casino errichten möchte. ten, hilft dann der Mutter Wolle aufspannen. Antoine Tardieu (Christian Marquand), der Be- ­Juliette ruht indes. sitzer des kleinen Jachthafens, wo das Casino In der ersten Szene des Films ist bereits all das entstehen soll, und sein jüngerer Bruder Michel angelegt, was de Beauvoir an Bardot so faszi- (Jean-Louis Trintignant), attraktiv und naiv, nierte. Ein weisses Cabrio nähert sich auf einer ebenfalls nicht an Arbeit interessiert. kurvigen Strasse und hält vor einem Haus. Car- Es entspannt sich eine Ménage-à-quatre: Der radine, ein älterer Mann im Anzug, steigt aus, ältere «Freund» Carradine umsorgt Juliette geht um das Haus herum auf die Terrasse und und erkennt sie als Seelenverwandte: unkon- bleibt vor einem weissen Leintuch stehen, hin-

44 Weltwoche Nr. 30.21 Cartoon: Kai Felmy Teufel der nackten Eva in Gestalt der Schlange und bietet ihr einen roten «Apfel» vom Baum der Erkenntnis an: Das Spielzeugauto könnte als Vorspiel zu einem echten Auto verstanden werden, das Juliette erhält, wenn sie seinem Werben erliegt. Vor allem aber steht der kleine rote Plastiksportwagen für die Verlockungen materieller Besitztümer und Geld: Carradine kommt nach Saint-Tropez, dem noch relativ unberührt daliegenden «Garten Eden», um am Strand ein Casino zu bauen. Dieses neue, kapitalistische Frankreich wird über Juliette mit einem alten, unschuldigen Frankreich des Südens kontrastiert, das aber beginnt, sich zu verändern, wie auch die Frau sich verändert. Die «moderne» Frau ist an Be- sitz, Hedonismus und Geld mindestens eben- so interessiert wie der Mann. So nimmt Juliet- Es kommt nicht von ungefähr, dass Brigitte Bardot eine Bewegung wie #MeToo hypokritisch nennt.

te auch prompt das Spielzeugauto entgegen, das Carradine ihr entgegenhält, während sie die erste Zeile eines Liedes singt: «I’m a gold digger». Was bedeutet das? Bardot in der Rolle der Juliette verkörpert die Figur der jungen aufstrebenden Materialistin – und die grosse Feministin Simone de Beauvoir, in deren Tra- dition sich der heutige #MeToo-Feminismus aberwitzigerweise begreift, sah dies genau. Es kommt nicht von ungefähr, dass Brigit- te Bardot eine Bewegung wie #MeToo hypo- kritisch nennt. Der heutige Feminismus hat den Gedanken der freien Wahl pervertiert und sich im Wald des sozialen Konstruktivis- mus verlaufen: Allein die Gesellschaft gene- riert das Geschlecht, Erotik kommt ganz ohne Gewalt aus, «sich hochschlafen» oder oppor- tunistisch nach dem Bequemsten greifen ist inakzeptabel, da immer nur als Machtmiss- brauch seitens des Mannes zu verstehen. Das sind gefährliche Naivitäten, wie auch die von der gleichen Logik getriebene Annahme, nach Wonne, Lockerheit: Filmikone Bardot, 1956. der es wichtiger sei, Kindern vorzugaukeln, es gebe keine Unterschiede zwischen den ­Geschlechtern, als auf diese Unterschiede hin- ter dem die nackten Beine einer vermutlich ohne Schuhe zu Jukebox-Liedern wie «Je m’en zuweisen. schönen, auf dem Boden liegenden jungen fous pas mal» von Edith Piaf. Doch nicht nur das. Bardots Rolle als Ju- Frau zu sehen sind. Im Jahr 1959, drei Jahre nach der Entstehung liette erinnert daran, was dem in Prüderie ge- des Films, endete die Vierte Republik, und fangenen Feminismus heute fehlt, vielleicht Verlockungen des Geldes Charles de Gaulle wurde Präsident der Fünf- bis auf einen kurzen Moment im Sommer in Die Kamera schwenkt hinter das Laken. Von ten Republik. Trotz des wirtschaftlichen Auf- Saint-Tropez immer fehlte: Wonne, Laisser- hier aus sind der Schatten des Mannes und schwungs, der zwischen den Jahren 1946 und faire, Lockerheit. Barfusslaufen. Niemanden seine erhobene Hand wahrzunehmen: Carradi- 1958 stattgefunden hatte, war Saint-Tropez brauchen ausser sich selbst. Und vielleicht ne hält Juliette ein kleines rotes Spielzeugauto zur Zeit der Entstehung des Films immer noch sogar trotzdem oder gerade deswegen «Ehe- entgegen. «Sie haben die Füsse einer Königin», ein Dorf, dessen Bewohner einen agrarischen frau» sein. Den Mann nicht zum Urinieren im sagt er mit dem Lächeln des Fussfetischisten. Lebensstil pflegten. Sitzen zwingen, um irgendeine Illusion von Und tatsächlich wird sich herausstellen: Ju- Carradine aber ist als Inkarnation von Geld, Emanzipiertheit aufrechtzuerhalten, sondern liette tritt (buchstäblich und im übertragenen Gier und Investition der «Teufel» im Gewand vergnügt sein, so dass er – wie Michel – Lust be- Sinn) nach Männern, läuft barfuss und tanzt des Kapitalisten. Er nähert sich Juliette wie der kommt, ihr die Wäsche zu falten.

Weltwoche Nr. 30.21 45 Bild: Everett Collection/imago images; Koloration: Marina Amaral Meine Blechschäden Mit meiner Bilanz von sieben Autounfällen in dreissig Fahrerjahren­ bewege ich mich durchaus im statistisch relevanten Bereich. Linus Reichlin

Bis ich die Spur wechsle – und peng!

ach sieben Autounfällen habe ich heit zu erhöhen. Denn in den sechs illegalen Jah- überredete ich den anderen Fahrer auf Englisch, zwangsläufig einige Erkenntnisse ren hatte ich nur einen einzigen Unfall, 1978 in auf die Hinzuziehung der Polizei zu verzichten. Nüber Unfälle an sich und über mich Zürich. Schuld war natürlich ich, aber der an- Er war Tscheche, gleichfalls angeheitert und gewonnen. Mit Unfällen meine ich hier Blech- dere Fahrer war ein verständnisvoller Mensch, folglich einverstanden. Man muss bei Unfällen schäden – bei allen anderen Unfällen käme eine mit dem man auch über fehlende Versicherungs- einfach auch ein bisschen Glück haben und so- Dimension ins Spiel, die ich aus eigener Er- deckung reden konnte. zusagen den richtigen Partner finden. fahrung zum Glück gar nicht beschreiben kann. Jedenfalls begannen meine Unfälle sich Was die Unfälle mit Sachschaden betrifft, nach dem Erwerb des Führerscheins sig­ Mutter-Kind-Bindung weiss ich aber inzwischen, dass die Wahr- nifikant zu häufen: Es waren in 24 Jahren Zwei Jahre später stellte sich mir ein Kleinwagen scheinlichkeit, dass an meinem nächsten der- sechs Unfälle, durchschnittlich alle vier Jahre in den Weg, eine Mutter mit Baby auf dem Rück- artigen Unfall ich schuld sein werde, 95 Pro- einer und nicht nur alle sechs, wie vorher. sitz. Diesmal war ich nüchtern, aber das änderte zent beträgt. Ein Versicherungsangestellter Doch sie häuften sich nicht nur, sie nahmen nichts an meiner Farbenblindheit. Bremslichter sagte mir mal, es gebe Autofahrer, die fast auch an Heftigkeit zu. Bei meinem ersten Un- haben auf mich nicht die alarmierende Wirkung immer schuld sind und solche, die fast nie fall mit Führerschein tauchte nachts auf der wie auf normal Farbsehende – soll ich mich für schuld sind, aber es gebe nur wenige, die mal Seestrasse in Zürich vor mir aus dem Nichts diese Behinderung etwa auch noch schämen? schuld sind und mal nicht. Zu welcher Grup- ein anderer Wagen auf. Meine Unfallgegner Zum Glück fuhr ich jetzt nur noch einen Dritt- pe man gehört, findet man natürlich erst nach tauchen alle stets aus dem Nichts auf, das hand-Renault. einer statistisch relevanten Anzahl von Auf- ist ihre Kernkompetenz. Sie kündigen ihre Bei dem Unfall mit dem besoffenen Tsche- fahr- und Spurwechselunfällen heraus. Der Existenz nicht im Rück- oder Seitenspiegel chen war es noch ein neuer Jaguar S-Type ge- Versicherungsangestellte sagte, meine Bilanz­ an, sondern nähern sich mir unsichtbar. Ich wesen: Autokenner wissen, wie teuer bei einem – sieben Unfälle in dreissig Fahrerjahren – sei wechsle die Spur, und genau in diesem Mo- Jaguar die Reparatur der Motorhaube ist. Ich durchaus statistisch relevant. ment materialisieren sie sich. Mitsamt ihrem hatte zwar Vollkasko, aber was nützt einem General-Rommel-Geländewagen stehen sie das, wenn man angetrunken herumfährt! Aus Der Führerschein wird überschätzt mir urplötzlich im Weg. Doch die Feinheiten meiner Statistik waren dem Es ist, als würden sie in einer geisterhaften Man muss bei Unfällen einfach ein Versicherungsangestellten natürlich unbekannt: Zwischendimension warten, bis ich die Spur bisschen Glück haben und sozusagen­ Nämlich fuhr ich in meiner Jugend sechs Jahre wechsle – und peng! Ich habe diese akausa- lang ohne Führerschein. Man kann sich das an- len Materialisierungen schon so oft erlebt, den richtigen Partner finden. gewöhnen. Zuerst fährt man mit angehaltenem dass ich ein Buch mit dem Titel «Aliens of the Atem und fürchtet an jeder Ecke eine Polizei- Road – sie kommen aus dem Nichts» schrei- diesem Grund hatte ich mir danach den alten kontrolle. Am Schluss fährt man sorglos von Zü- ben könnte. Renault gekauft: Ich wollte einen Wagen, mit rich nach Schottland und zurück, danach von Natürlich reagierte ich bei jenem ersten Un- dem versicherungsrechtlich heikle Unfälle nur San Diego in Kalifornien nach Winnipeg in Kana- fall nach meiner Fahrprüfung vorbildlich mit geringe Kosten verursachen. da. Der Führerschein wird überschätzt: Im Alltag einer Vollbremsung. Aber im Endeffekt kann Ich hatte damals die Hoffnung schon auf- benötigt man ihn, wie ich beweisen konnte, sechs niemand rechtzeitig bremsen, wenn ein anderer gegeben, dass ich je einen Unfall haben würde, Jahre lang kein einziges Mal. Ausserdem scheint Wagen aus dem Nichts so dicht vor einem auf- den meine Versicherung bezahlt. Wie auch das führerscheinlose Fahren die Verkehrssicher- taucht. Da ich ein paar Biere getrunken hatte, immer, ich redete der Mutter ein, sie habe zu

46 Weltwoche Nr. 30.21 Illustration: Dmitry Natashin/Shutterstock brüsk gebremst, und sie glaubte es mir, denn sie war völlig auf ihr Baby fixiert. Sie war geflutet Treibjagd im Engadin mit dem Hormon Oxytocin, das die Mutter- Kind-Bindung hervorruft, und überglücklich, Der in Deutschland angeklagte Steueranwalt Hanno Berger dass dem Baby nichts passiert war. Sie schien ist in der Schweiz in Auslieferungshaft geraten. zu verdrängen, dass ihr Baby so dick war, dass Das Bundesamt für Justiz spielt dabei eine fragwürdige Rolle. es praktisch rundum von natürlichen Airbags geschützt war. Mein alter, klappriger Renault hingegen erlitt schwere Schäden am Kühler. Das ist immer so: Wer einem anderen hinten reinfährt, wird von irgendwelchen physikali- schen Gesetzen benachteiligt.

Nie mehr von der rechten auf die linke Spur Danach fuhr ich acht Jahre lang unfallfrei. Das war auch mal schön. Aber statistisch gesehen war ein Unfall nun überfällig. Er ereignete enn ein fremder Staat für eine Person sich 2010 in Clermont-Ferrand, auf der Fahrt aus der Schweiz die Auslieferung be- in die Ferien. Natürlich wieder ein Spurwechsel Wgehrt, geht das über den Tisch von beziehungsweise ein U-Turn an einer Stelle, Erwin Jenni. Seit Jahrzehnten versieht der bald an der man vernünftigerweise hätte gerade- 64-Jährige seinen Dienst als Chef Fachbereich aus fahren sollen. Zum Glück fuhr ich einen Auslieferung beim Bundesamt für Justiz. Kurz Mietwagen mit Vollkasko ohne Selbstbehalt. vor seiner Pensionierung nächstes Jahr hat Das französische Pärchen im anderen Wagen, Jenni nun einen Fall mit Sprengkraft vor sich: der ebenfalls dramatisch ramponiert wurde, Hanno Berger, 70, ehemaliger deutscher Finanz- war trotz meiner Schuld dermassen nett, dass beamter, später Steueranwalt und juristischer ich mich fragte, ob sie den Wagen vielleicht Urheber verschiedener sogenannter Cum-Ex- gestohlen hatten. Jedenfalls schwor ich mir, Anlageprodukte. Berger wohnt in Zuoz im En- Im Visier: Jurist Berger. nie mehr von der rechten Spur auf die linke gadin. Die deutschen Strafbehörden wollen zu wechseln. Denn immer dann – und nie von ihn vor Gericht stellen. Angeklagt ist er wegen links nach rechts – tauchen in meinem Leben Steuerhinterziehung bei Praktiken mit Cum- Bandenbetrug» um. Es ordnete an, dass der im falschen Moment die anderen Wagen auf. Ex-Konstruktionen, deren Legalität lange un- Haftbefehl um dieses Verbrechen, dessen ­Berger Vor zwei Wochen allerdings habe ich meinen bestritten war, bevor die deutsche Politik, die gar nicht angeklagt ist, zu ergänzen sei. Schwur in Berlin auf der Holzhauser Strasse Justiz und die Medien diese zum angeblich Das Kalkül ist: Betrug ist auch in der Schweiz gebrochen und mit meinem VW up! einen so- «grössten Steuerraub der Geschichte» (Die Zeit) rechtshilfe- und auslieferungsfähig. Der am- genannten wirtschaftlichen Totalschaden er- emporstilisiert haben. Brisant dabei: Steuer- tierende deutsche Bundesrichter Andreas Mos­ litten. Der andere Fahrer war ein türkischer hinterziehung ist in der Schweiz nicht rechts- bacher kommentierte dies in einer Fachzeit- Mitbürger. Strengere Einwanderungsgesetze hilfefähig. Das hat der Auslieferungsbeamte schrift so: Das Oberlandesgericht breche eine hätten das verhindern können, dann wäre näm- Jenni den Deutschen wohl mehrmals erklärt. «nahezu 100 Jahre alte ständige höchstrichter- lich die linke Spur im entscheidenden Moment liche Rechtsprechung», nach der die besonderen frei gewesen. Augen zu in Bern Regeln des Steuerrechts den allgemeinen Betrug Zwischen diesem Unfall und dem in Cler- Trotzdem: Am Mittwoch, 7. Juli, wird Berger in «verdrängen». Mit anderen Worten: In Deutsch- mont-Ferrand hatte ich zwei, vielleicht auch Zuoz verhaftet und in der Justizvollzugsanstalt land (sowie in der Schweiz) gibt es bei Steuerver- drei oder vier kleinere Unfällchen: einmal Park- Tignez bei Cazis GR in Auslieferungshaft ge- anlagungen – und diese stehen im Zentrum der schaden mit Fahrerflucht meinerseits, einmal steckt. Dies mit Abstechern ins Kantonsspital Cum-Ex-Vorwürfe – keinen gemeinrechtlichen endlich ein Spurwechsel, bei dem eine Frau Chur, da seine Gesundheit fragil ist. Als erste Zei- Betrug. Dieser Bruch mit der Rechtstradition schuld war und nicht ich, und drei oder vier tung berichtet das deutsche Handelsblatt über die habe eigentlich «das Auslieferungsverfahren Beulenunfälle, die ich unter «ferner liefen» ver- Verhaftung, worauf in deutschen Medien und in der Schweiz» zum Ziel. Mosbacher spricht bucht habe. Amtsstuben Jubel ausbricht. Die wahrschein- von «richterlicher Beliebigkeit» und «Willkür». liche Weitergabe der Information von der deut- Sogar die Süddeutsche Zeitung fragt: «Agiert die schen Justiz an die Presse ist nur ein Mosaikteil deutsche Justiz zu trickreich?» im Kampf um Bergers Auslieferung. Auch dem Bundesamt für Justiz dürfte klar Wie kam es so weit? Weil die vorgeworfenen sein, dass die deutsche Seite für die Auslieferung Delikte in der Schweiz nicht rechtshilfefähig das Recht beugt. Warum verschliessen die sind, versuchte die deutsche Botschaft in Bern Schweizer die Augen davor? Es gibt wohl mas- vor einem halben Jahr, Bergers Reisepass an­ siven diplomatischen Druck aus Deutschland, nullieren zu lassen. Ohne Ausweispapiere hätte Berger auszuliefern. Und Erwin Jenni will offen- Berger seinen Aufenthaltstitel in der Schweiz bar nicht kurz vor dem Ruhestand zur Ziel- eingebüsst und nach Deutschland abgeschoben scheibe der aufgestachelten deutschen Medien- werden müssen. Es wird noch abenteuerlicher: öffentlichkeit werden, die nach Bergers Kopf Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main verlangt. Zurzeit befasst sich das Bundesstraf- deutete kurzerhand die zur Anklage gebrachte gericht mit Hanno Bergers Beschwerde gegen Steuerhinterziehung in «gewerbsmässigen die Auslieferungshaft. Florian Schwab

Weltwoche Nr. 30.21 47 Bild: Simon Habegger/13 Photo; Cartoon: Kai Felmy «Wir haben im Kanton Bern nichts verloren» Marcel Winistoerfer ist Bürgermeister von Moutier. Was treibt eine Gemeinde in die Arme eines strukturschwachen Kantons? Hubert Mooser

outier, wirtschaftliche Kapitale des Weltwoche: Herr Winistoerfer, haben die Weltwoche: Stört es Sie als Bürgermeister Südjuras, vorläufig noch Territorium ­Separatisten geschummelt? nicht, dass einige Einwohner über einen Weg- Mdes Kantons Bern. Kaum hat man den Marcel Winistoerfer: Ich bestreite alle diese zug nachdenken? Bahnhof hinter sich gelassen, steht man bereits Anschuldigungen. Das Urteil ist für mich un- Winistoerfer: Es ist schon möglich, dass ei- im Zentrum des Widerstandes gegen die Berner haltbar. nige Moutier nach dem Kantonswechsel ver- Obrigkeit, auf der Place Roland-Béguelin. Der Weltwoche: Warum haben Sie es nicht an- lassen werden. Aber es werden sich neue Bür- 1993 verstorbene SP-Nationalrat Roland Bégue- gefochten? ger hier niederlassen. lin war der charismatische Kopf des Rassemble- Winistoerfer: Ich wäre dafür gewesen, aber ment jurassien, des «Pro Kanton Jura»-Lagers.­ der Gemeinderat wollte nicht. Wenn wir damit Mit dem Kantonswechsel findet ein leidiges Gleich dahinter steht das «Hôtel de la Gare», bis vors Bundesgericht gegangen wären, hätte Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte ein das Hauptquartier dieser Bewegung. «Hier hat uns dies viel Zeit gekostet. Wir wollten nach Ende. Am 23. Juni 1974 beschlossen die katho- sich alles abgespielt», sagt Marcel Winistoerfer dem Urteil den Urnengang so schnell wie mög- lischen Bezirke des Berner Jura an der Urne bei einem Kaffee und zeigt auf ein paar Fotos an lich wiederholen. Heute bin ich froh, dass wir die Trennung von Bern und die Gründung den Wänden. Der 63-jährige CVP-Politiker ist uns damals so entschieden haben. des 26. Schweizer Kantons. Die protestanti- seit 2016 Bürgermeister von Moutier und ein schen südjurassischen Bezirke La Neuveville, glühender Separatist. Die Wiederholung der Abstimmung fand letz- Courtelary und Moutier bestätigten dagegen Winistoerfer ist trotzdem kein politischer ten März statt. Und das Ergebnis war diesmal ein Jahr später in einer weiteren Abstimmung, Heisssporn und extrem beliebt im Ort. Das eindeutig. Knapp 55 Prozent stimmten für dass sie Teil des Kantons Bern bleiben woll- müssen auch seine Gegner im «Pro Kanton einen Kantonswechsel, daran gab es nichts ten. Moutier stimmte mit hauchdünner Mehr- Bern»-Lager, wie SVP-Gemeinderat Marc To- heit für den Verbleib, worauf es zu heftigen bler, neidlos anerkennen. Er hole bei den «Es ist schon möglich, dass Strassenschlachten kam. Polizeigrenadiere Gemeinderatswahlen sogar bei den Anti- einige Moutier nach dem mussten eingreifen und stürmten sogar das separatisten viele Stimmen, weiss Tobler. Er ge- «Hôtel de la Gare». 1977 marschierten tausend niesse als Sekundarlehrer grosse Wertschätzung Kantonswechsel verlassen werden. Ordnungskräfte auf, um Zusammenstösse unter den Schülern, er sei auch im lokalen Fuss- zwischen Separatisten und Antiseparatisten ballverein stark engagiert. «So etwas zählt bei mehr zu rütteln. Winistoerfer selbst hatte sich zu verhindern. In den darauffolgenden Jah- uns. Und all das macht ihn bei Wahlen beinahe diesmal im Vorfeld ein Schweigegelübde auf- ren veränderte sich Moutier. unschlagbar», so der SVP-Politiker. erlegt. «Ich wollte keinen Grund für einen wei- Zu Beginn der 1980er Jahre erlangten die Liegt es vielleicht daran, dass dem unschein- teren Rekurs liefern», sagt er. projurassischen Separatisten bei den Ge- baren Lehrer gelungen ist, was seinem illust- meindewahlen die Mehrheit. Einwanderer ren Vorgänger, dem lokalen Strippenzieher und Weltwoche: Wie erklären Sie sich, dass beim aus Portugal, Italien und Spanien krempel- Sozialisten Maxime Zuber, zwanzig Jahre ver- zweiten Urnengang deutlich mehr Stimm- ten auch die konfessionelle Struktur Moutiers wehrt blieb: den Anschluss Moutiers an den bürger ein Ja deponierten? komplett um. Jura? Schon die erste Abstimmung 2017 unter Winistoerfer: Viele haben wohl begriffen, Dazu muss man wissen: Die Grenzen des Bürgermeister Winistoerfer fiel knapp zu- dass die Gründe, die zur Annullierung der Ab- 1979 entstandenen Kantons Jura verlaufen gunsten der Separatisten aus, das Berner Ver- stimmung von 2017 führten, nicht fundiert und exakt entlang der konfessionellen Trennlinien. waltungsgericht annullierte jedoch 2019 diesen fadenscheinig gewesen waren. Die drei protestantischen Bezirke im Süden Urnengang. Die unterlegenen Pro-Bern-An- blieben bei Bern. Auch Moutier war zur Zeit hänger von SVP bis FDP hatten dagegen rekur- Der Bürgermeister hat jetzt zwar gewonnen, der ersten Jura-Plebiszite noch eine protestan- riert. Dem Gemeinderat wurde zur Last gelegt, wird aber in Zukunft mit zwei verfeindeten tische Gemeinde. «Das ist heute nicht mehr der er habe eine Art Abstimmungstourismus an- Gruppen regieren müssen. Die Antiseparatisten Fall», sagt Winistoerfer. gekurbelt: dass also Personen nur im Hinblick im Gemeindeparlament traten unmittelbar Winistoerfers Eltern zogen Anfang der 1960er auf die Abstimmung ihre Papiere in Moutier nach der Abstimmung zurück, einige Leute Jahre wegen der Arbeit nach Moutier. Die Wi- deponiert haben sollen. Dem Bürgermeister seien auch schon weggezogen, sagt Tobler. Er nistoerfers haben ihre Wurzeln in den solothur- wurde angekreidet, er habe unzulässige Be- selbst bleibe aber vorläufig in der Exekutive nischen Gemeinden Balsthal und Drei Höfe. hördenpropaganda verbreitet – und sie be- von Moutier. Ob er bei den Wahlen 2022 noch Der Vater arbeitete beim Werkzeugmaschinen- kamen vor Gericht recht. einmal antritt, lässt er indes offen. hersteller Tornos in Moutier. Er war Stadtrat,

48 Weltwoche Nr. 30.21 Winistoerfer: Ich kann nur für mich sprechen. Ich bin in Delémont geboren und habe mein ­ganzes Leben in Moutier verbracht. Ich sehe mich als Jurassier. Mein Herz schlägt hier, im Jura. Weltwoche: Was bringt es Moutier, in einen kleinen und wirtschaftsschwachen Kanton wie den Jura zu wechseln? Winistoerfer: Für den Kanton Bern sind wir doch fast inexistent. Wir haben keinen Einfluss. Moutier stellt einen einzigen Abgeordneten im «Ich habe mein ­ganzes Leben in ­Moutier verbracht. Ich sehe mich als ­Jurassier. Mein Herz schlägt hier.»

Kantonsparlament. Im Jura werden wir sechs Grossräte haben. Wir sprechen nicht die gleiche Sprache. Delémont ist dreizehn Kilometer ent- fernt, die Stadt Bern fast hundert. Wir haben in Bern nichts verloren.

Ganz so inexistent war Moutier für die Ber- ner allerdigs nicht. Immerhin verlagerten sie, wohl auch um den Einwohnern den Verbleib im Kanton Bern schmackhaft zu machen, ein paar Ämter in diesen Ort am Ende der Welt. Ein Betreibungsamt zum Beispiel, das Arbeits- amt und eine Strafanstalt.

Weltwoche: Die Versprechungen des Kantons Jura waren aber wohl verlockender? Winistoerfer: Es sind schon etwas mehr als Versprechen, es gibt feste Zusagen, dass der Jura Dienststellen nach Moutier verlagern wird. Es gibt Überlegungen, dass der Jura die Strafanstalt übernimmt und dass das Sport- sowie das Steueramt nach Moutier transferiert wird. Immerhin bringt unser Kantonswechsel dem Jura gegen 25 Millionen Franken mehr aus dem nationalen Finanzausgleich ein. Weltwoche: Und danach steigen die ­Steuern? Winistoerfer: Wissen Sie, man hat den Leu- ten mit allen möglichen Horrorgeschichten von einem Kantonswechsel abgeraten. Lange hiess es, sie würden ihre Jobs verlieren oder dass unser Spital geschlossen werde. Dies alles wurde in Expertengutachten widerlegt. Darin wurde aufgezeigt, dass man im Kanton Jura «Es werden sich neue Bürger hier niederlassen»: CVP-Politiker Winistoerfer. genauso gut leben kann wie im Kanton Bern und dass die Steuern nicht steigen werden.

Gemeinderat, Grossrat und Vorstandsmitglied Weltwoche: Maxime Zuber ist Sozialist, sie Spätestens ab dem 1. Januar 2026 soll Mou- des Rassemblement jurassien. Bürgermeister sind bei der CVP. Wie passt das zusammen? tier eine Gemeinde des Kantons Jura werden, Marcel Winistoerfer hat also die Jurafrage fast Winistoerfer: In Moutier ticken die Uhren so haben es die zwei Kantone nach der Ab- mit der Muttermilch aufgesogen. Als Maxime politisch anders. Das Parteibüchlein ist weni- stimmung abgemacht. Aber für Winistoerfer Zuber, dessen Vorfahren ebenfalls aus dem Kan- ger wichtig als die Einstellung zur Jurafrage. muss es schneller gehen, er würde gerne schon ton Solothurn stammten, nach zwanzig Jahren Ausserdem war die CVP eine treibende Kraft auf 2025 den Wechsel vollziehen. Dann wird Herrschaftszeit einen Nachfolger suchte, muss- bei der Gründung des Kantons Jura. die jurassische Fahne, die seit über dreissig te er nicht lange überlegen. «Er rief mich an Weltwoche: Ihre Familie stammt aus dem Jahren am Rathaus flattert, nicht mehr ein Akt und sagte: ‹Du wirst mein Nachfolger›», so Wi- Kanton Solothurn. Wie kommt es, dass ihr der Unbotmässigkeit gegenüber der Berner nistoerfer. Die Wahl war bloss noch Formsache. Vater und Sie für den Jura Partei ergriffen? Obrigkeit sein, sondern courant normal.

Weltwoche Nr. 30.21 49 Bild: Caspar Martig für die Weltwoche «Was das Herz sagt, ist das Wichtigste» Latin-Sänger Loco Escrito, 31, ist der Schweizer Musiker der Stunde. Seine Kunst ist es, pure Freude zu vermitteln. Roman Zeller

oco Escrito ist die Frohnatur im Schwei- Scheidung Ihrer Eltern. Wie konnten Sie die Stimme versagte. Trotzdem spürte ich: Was ich zer Musikzirkus. Wo immer Nicolas Her- Negativereignisse ins Positive drehen? mache, tut mir gut. Und so ist es heute noch. Lzig, wie er richtig heisst, mit seinem La- Herzig: Alles, was echt ist, sehe ich positiv. Viele sagen mir, dass ich irgendwann ein Burn- tin-Sound auftritt, kommt gute Laune auf. Mit Wichtig ist, transparent und aufrichtig mit sich out erleiden würde, wenn ich ununterbrochen seinen Sommerhits, die der Schweiz-Kolumbia- selbst zu sein. Man sollte die Eier haben, wirk- weiterarbeite. Ich antworte, dass ich nicht ner am Laufmeter produziert, lässt der 31-Jähri- lich grosse Eier, hinzuhören, was man will und kaputtgehen kann, weil ich liebe, was ich mache. ge nicht nur Teenager-Herzen höherschlagen. wie man sich fühlt. Und das dann umsetzen. Weltwoche: Mit vierzehn Jahren traten Sie Dreimal in Folge gewann er die Königskate- Und Schlechtes annehmen, denn unter dem der Rap-Gruppe LDDC bei: Weshalb starteten gorie «Best Hit» bei den Swiss Music Awards. Strich geht das Leben immer weiter. Sie anschliessend eine Solokarriere als Sänger? Dass er sich auch in Deutschland durchsetzen Weltwoche: Als Teenager kifften Sie und Herzig: In mir schlummerten immer schon wird, wie sein Vorhaben lautet, wäre zwar widersetzten sich Lehrern und Polizisten, wenn Melodien. Das ist mein Talent. Ich brauchte keine Überraschung, aber bloss ein Etappen- Sie sich nicht respektiert fühlten. Wie würden ziemlich lange, um zu checken, wie gut ich sin- ziel. Denn Loco Escrito träumt gross, vom Latin Sie sich als Jugendlicher beschreiben? gen kann. Ich musste es erleben, es spüren, dass Grammy und von den Billboard Music Awards Herzig: Schon rebellisch, aber nur, wenn ich mich der Gesang erfüllt. – Auszeichnungen, die bisher keinem Schwei- das Gefühl hatte, jemand am längeren Hebel Weltwoche: Wie kam die Latin-Musik in Ihr zer Künstler zuteilwurden. behandle mich schlecht. Ich sagte jedem meine Leben? Für unser Gespräch setzt sich Herzig auf die Meinung. Ich war laut, aber aufnahmefähig. Herzig: Latin war immer in mir. Das Problem Terrasse seines Büros in Zürich. Weil die Sonne war, einen Produzenten zu finden, der diesen brennt, entledigt er sich seines T-Shirts. Er setzt «Wer aus Unzufriedenheit Sound versteht. Latin geht nicht theoretisch, eine verspiegelte Sonnenbrille auf und sagt, ­böswillig mit dem Finger auf andere­ man muss es fühlen. Mit meinem Produzenten dass er bereit sei. «Fragen Sie, was Sie wollen.» begann ich dann 2016 zu arbeiten. zeigt, den toleriere ich nicht.» Weltwoche: Können Sie erklären, was Ihre Weltwoche: Herr Herzig, als Künstler nennen Musik ist: «Latin-Pop» oder «Latin Urban»? Sie sich «Loco Escrito». Wer sind Sie? Eigentlich alles, was in der Schule nicht gefragt Herzig: Reggaeton, ganz einfach. Es ist Nicolas Herzig: Jemand, der das Leben liebt war. Das führte damals zu Problemen, heute bin etwas, bei dem man pure Freude fühlt und und auf sein Herz hört, als einziges Gesetz. ich deswegen erfolgreich: weil ich extrovertiert diese ohne Angst rauslässt. Weltwoche: Ihr Vater ist Kolumbianer, Ihre bin, ein Leader. Weltwoche: Was ist guter Latin-Sound? Mutter Schweizerin. Geboren sind Sie in Me- Weltwoche: Was wäre aus Ihnen geworden, Herzig: Musik muss authentisch sein, das dellín, aufgewachsen in Wetzikon. Was war in wenn nicht Musiker? gilt für jedes Genre. Man muss sich im Leben ge- Ihrer Kindheit wichtig? Herzig: Keine Ahnung, es gab nie eine ande- funden haben. Und man muss hungrig nach Er- Herzig: Die Familie. Mein Vater verbrachte re Option, ich ging immer voll meinem Traum folg sein, auch wenn das Geld nicht im Fokus ste- viel Zeit mit mir und meinen Geschwistern. nach. Das grösste Geschenk, das einem Gott hen darf. Das kommt von alleine. Am Ende geht Das inspiriert mich für den Umgang mit mei- geben kann, ist, dass man weiss, was man im es um Leidenschaft, um Biss, um das Verlassen ner Tochter. Ich wuchs einfach auf, mit viel Liebe. Leben will. Dieses Hinhören, was das Herz sagt, der Komfortzone, immer und immer wieder. Weltwoche: Was war für Ihre Eltern bei der ist das Wichtigste. Und wenn das Herz Chine- Weltwoche: Wie definieren Sie Erfolg? Erziehung massgebend? sisch spricht, muss man halt Chinesisch lernen. Herzig: Erfolgreich ist, glücklich zu sein. Herzig: Anstand und Respekt. Sie lehrten Weltwoche: Wann sagte Ihr Inneres erst- Was das aber ist, muss jeder selbst wissen. Er- mich auch, nicht mit dem Finger auf Leute zu mals, dass es Sänger werden will? folg ist ein umgesetztes Ziel. zeigen, sondern mit ihnen zu reden, Verständ- Herzig: Ich bewunderte schon immer Leute, Weltwoche: Wie schreibt man einen Hit? nis zu haben, ohne alles zu tolerieren. die auf der Bühne stehen – zum Beispiel Zirkus- Herzig: Man muss viele, viele Songs schrei- Weltwoche: Was geht Ihnen zu weit? artisten oder Sänger. Davon träumte ich, traute ben, dann weiss man, wie es geht. Wissen Sie, Herzig: Alles, was mit Diskriminierung und es mir aber damals noch nicht zu. wie viele Songs ich in meinem Leben schon ge- Ausgrenzung zu tun hat. Wer aus Unzufrieden- Weltwoche: Können Sie sich an Ihren ersten schrieben habe? Es sind sicher über tausend. heit böswillig mit dem Finger auf andere zeigt, Auftritt erinnern? Weltwoche: Wie wissen Sie, was ankommt? den toleriere ich nicht. Herzig: Das war in Rüti, an einem ­Geburi, in Herzig: Das spür’ ich sofort. Es braucht Weltwoche: Sie erlitten Schicksalsschläge einem Jazz-Keller. Zwei Leute schauten mir zu. Leben, Gefühl. Klar, es gibt Tricks: Das Lied wie den Tod Ihres besten Freundes oder die Ich weiss noch, wie nach zwei Minuten meine sollte etwa drei Minuten lang sein, nach dreis-

50 Weltwoche Nr. 30.21 «Ich sehe die Schweiz als etwas Ausserirdisches»: Nicolas Herzig alias Loco Escrito. sig Sekunden muss der Refrain kommen. schreiben als ein trauriger Song. In diese Klän- Herzig: Ich habe mich zu wenig mit Schweizer Manchmal glauben Musiker, sie könnten das ge musst du deinen Stil reinbringen. Ich habe Musik auseinandergesetzt, sorry. Es gibt schon Rad neu erfinden. Ich sag immer: Wenn in der nie versucht, jemanden zu kopieren. Vielleicht diesen Berner Künstler – der Langhaarige, der Autoindustrie Ecken und Kanten dominieren, hilft mir, dass ich privat fast keine Musik höre. französische Lieder singt, ich weiss nicht mal kannst du kein rundes Design bringen – egal, Weltwoche: Gibt es einen Künstler, der Sie seinen Namen. Oder Patent Ochsner war auch wie schön es ist. trotzdem beeinflusst hat? revolutionär, aber halt nie mit so viel Tiefe wie Weltwoche: Sie schreiben nicht nur Hits, Herzig: Ja, Carlos Vives, ein kolumbianischer Vives. Das darf man den Schweizern nicht übel- sondern auch Sommerhits. Braucht es dafür Sänger. Er bringt am meisten Gefühl rüber, das nehmen. Die Lebensfreude kann gar nicht die- ein spezielles Sensorium? ist das A und O – nicht Perfektion. selbe sein, wenn man im Alien-Paradies auf- Herzig: Solche Songs müssen fröhlich sein. Weltwoche: Wer ist der Carlos Vives der wächst und alles hat. Ich sehe die Schweiz als Und ein fröhlicher Song ist viel schwieriger zu Schweiz? etwas Ausserirdisches. ›››

Weltwoche Nr. 30.21 51 Bild: Siggi Bucher/Blick Weltwoche: Wen finden Sie überbewertet? Herzig: Wieso sollte sie das nicht dürfen? Herzig: Nein, gar nicht! Es sind meist auch Herzig: Eigentlich niemanden. Aber was Weltwoche: Wegen der Gender-Polizei. nicht die Betroffenen, die am lautesten krä- ich krass finde, ist, dass die alten Hasen immer Herzig: Ich sage Ihnen etwas ganz Einfaches: hen. Mein Problem ist, es wird viel zu viel über noch so gefeiert werden. Bei den Swiss Music Der Grundgedanke ist meist okay, aber Extremis- Diskriminierung geredet. Angenommen, Sie Awards lobte man Büne Huber in den Him- ten vermasseln es auch gerne mal. Man soll sich kommen aus einer fremden Kultur, die ich noch mel, ohne einen Satz über die Rapper Loreda- unbedingt dafür einsetzen, wie man sich fühlt. nie zuvor gesehen habe. Wenn ich Sie dann an- na, Monet 192 oder mich zu verlieren. Weltwoche: Können Sie das erläutern? schaue und meine Tochter sogar auf Sie zeigt, Weltwoche: Sie sind ein supererfolgreicher Herzig: Kürzlich wurde ich für die Pride ist das überhaupt kein Problem. Würde ich mei- Latin-Musiker. Sie sind Schweizer und sind angefragt, für einen Auftritt – gratis. Ich sagte ner Tochter sagen: «Schau weg», dann wäre das sogar international auf dem Vormarsch. nein. Ich meine, warum sollte ich ja sagen? doch genau diskriminierend! Nähe klärt auf, Trotzdem mäkeln Feuilleton- und Kultur- Ich behandle alle Leute gleich, eine Spezial- nicht Distanz. Aber statt dass wir miteinander journalisten an Ihnen herum, wenn sie über- behandlung wäre ja diskriminierend. Es pro- reden, zeigen wir mit dem Finger auf die Leute. haupt über Sie schreiben. Woran liegt das? testierten auch schon LGBTQ-Leute mit Pla- Weltwoche: Es kommt also auf den Ton an? Herzig: Ich denke, den zu selbstsicheren katen an einem Konzert von mir. Damit habe Herzig: Genau. Wir sollten über alles reden Loco mag man nicht. Aber das ist menschlich: ich kein Problem, ich sage zu dir «Fick dich» – können. Wenn ich in Kolumbien in einen Laden Man pusht jemanden, bis er oben ist, und dann egal, ob du hetero, schwul, lesbisch oder weiss komme, lachen sie mir ins Gesicht und sagen: beginnt man, ihn runterzuziehen. Es liegt an ich was für ein Gender bist. Ich weiss nicht mal, «Hola blanquito!», Weisserchen, damit habe ich mir, dass ich nicht an mir rütteln lasse. was es alles gibt. Ich sage jedem, der mich doof null Probleme – ich bin ja weiss, nicht schwarz. Weltwoche: Lara Stoll, die gefeierte Slam- anmacht, meine Meinung. Egal, was für eine Mir ist die Haltung wichtig. Wer aggressiv sagt: Poetin, kritisierte bei den Swiss Music Awards Haar-, Haut- oder Zahnfarbe er hat. «Hey, du Weisser!», löst andere Gefühle aus. die Banalität Ihrer Musik. Können Sie erklären, Weltwoche: Ein SRF-Moderator sagte, in Weltwoche: In Ihren Songs geht es haupt- wodurch sich Ihre Kunst auszeichnet? Ihrem neuen Song «Mammacita» liessen Sie sächlich um Gefühle, um Liebe: Haben Sie den Herzig: Meine Kunst funktioniert, weil ich Frauen wie «Beigemüse» für sich tanzen . . . Zauber ergründet, den die Liebe umgibt? meinen Kopf ausschalte. Meine Lieder – und Herzig: Ja, und genau das ist sexistisch! «Bei- Herzig: Es geht darum, seine Unsicherheiten das tönt jetzt vielleicht eingebildet – sind meist gemüse» – aber mir sagen, das Video sei sexis- zurückzunehmen und blind zu vertrauen. Und in ein, zwei Stunden fertig. Ich überlege nichts, tisch! Das müssen wir gar nicht besprechen. lieben heisst Freiheiten geben. Wenn meine absolut gar nichts, sondern vertraue mir. Es Weltwoche: ...ich wollte fragen, wie es ist, Frau, die ich liebe, Scheisse baut, rede ich mit flowt einfach, das verdanke ich Gott. von Frauen umgarnt zu werden. ihr und schiesse sie nicht einfach in den Wind. Weltwoche: Ein Geschenk vom Himmel? Herzig: Okay, klar. Es gab eine Zeit, da kamen Weltwoche: Was braucht es für eine funktio- Herzig: In der Art. Ich sag immer, Gott ist und gingen bei mir die Frauen. Was mir blieb, nierende Beziehung? vorbeigekommen, wenn ich produziere. (Lacht) war die Einsamkeit. Ich genoss diese Zeit zwar, Herzig: Der Fehler ist, man schaut oft nach Sie können es sich so vorstellen: Ich sitze im Stu- merkte aber, es erfüllt mich null. Mittlerweile links und rechts, um zu sehen, wie es die an- dio, da laufen ein paar Akkorde, und ich trete vors deren machen. Man sollte kommunizieren. Mikrofon, dann lasse ich meine Emotionen raus. «Ich sage jedem meine Meinung. Man darf keine Angst haben, wenn die Freun- «Punto», der Sommerhit von 2019, entstand im- Egal, was für eine Haar-, din Lust auf einen anderen bekommt, wenn sie provisiert. Als ich das Lied einsang, dachten wir: einen anderen Typen sieht. Ist es so, sollte sie «Wow, so lassen wir es!» Manchmal bekomme Haut- oder Zahnfarbe er hat.» das sagen können – völlig okay. Genau in dem ich selbst Hühnerhaut, wenn wir aufnehmen, Moment, wenn man über alles spricht, wird und ich frage mich: «Von wo kam das jetzt?» habe ich eine Freundin und bin viel glücklicher der Partner krass attraktiv. Oder ist es nicht das Weltwoche: Ihnen fliegen auch die Herzen als vorher. Ich war damals unsicher und holte Geilste, über alles reden zu können? der Frauen zu: Was schätzen Sie, als Womani- mir Bestätigung – so machen es viele. Weltwoche: In einem Interview sagten Sie, zer, am anderen Geschlecht? Weltwoche: Können Sie sagen, wie ein Mann man kaufe es Latinos eher ab, dass sie für eine Herzig: Alles. Ihre Empathie, ihre Zärtlich- eine Frau heutzutage korrekt anzusprechen Frau sterben würden. Was können Schweizer keit, aber auch ihre Stärke – ihre ruhige Stärke, hat, um nicht als Sexist verteufelt zu werden? von dieser romantischen Ader lernen? die ich auch kritisiere: Frauen leiden oft, weil Herzig: Sich selbst sein, ganz einfach: Das Herzig: Wieder: den Kopf abstellen. Mir sie zu sehr im stillen Kämmerlein sitzen und heisst, wenn ich im Bus eine Frau anschaue, sie kommt es vor, als dächten die Schweizer stän- alles schlucken. Ihre Organisationsfähigkeit, aber nie zurückschaut, sendet sie mir ein Sig- dig nach. Wobei, Latinos müssten manchmal ihr Überblick beeindrucken mich. Und Frauen nal, dass sie nicht angesprochen werden will. ein bisschen die Vernunft walten lassen. motzen viel weniger als die Männer. Männer Wenn sie zurücklacht, kann ich hingehen und Weltwoche: Was kann die Schweiz generell jammern, kassieren dann aber die Lorbeeren, vielleicht sagen: «Hey, du hast mich geflasht.» von Kolumbien lernen? während die Frau im Hintergrund alles stemmt. Aber man sollte nicht zu viel erwarten und Herzig: Der Latino kann vom Schweizer Diese Rollenverteilung stört mich. gleich sagen: «Hey, gib mir deine Nummer!» mehr lernen: Struktur und Pünktlichkeit. Weltwoche: Sind Sie ein Feminist? Weltwoche: Was wäre komplett übersteuert? Wenn er das mit seiner Grundlebensfreude Herzig: Nein, ich bin einfach ein Mensch Herzig: Wenn ich etwas Sexuelles sagen verbindet, hat er aus beiden Welten das Beste. und wünsche mir ein Miteinander. Dass wir würde, zum Beispiel: «Boah, dein Arsch sieht Weltwoche: Der Kolumbianer ist viel stol- die Frauen stärken, statt nur ständig davon in diesen Hosen geil aus.» Das geht nicht, man zer auf sein Land. Würde uns Schweizern etwas zu reden. Je mehr mit dem Finger auf andere muss auf Augenhöhe miteinander reden. Wenn mehr Patriotismus guttun? gezeigt wird, desto mehr Ungleichheiten ent- ich aber merke, eine Frau fühlt sich wohl und Herzig: Mega! Und man sollte auch nicht stehen. Für Gleichberechtigung braucht es Ge- präsentiert sich gerne, dann kann man etwas gleich das Gefühl haben, dass das irgendwie mit duld, das geht nicht von heute auf morgen. zu ihrem Aussehen sagen. rechtsextrem oder so zusammenhängt. Null! Weltwoche: Was halten Sie von der Tendenz, Weltwoche: Dann sind Frauen in Wirklich- Man kann stolz sein, solange man niemanden dass eine Frau – je länger, je mehr – nicht mehr keit gar nicht so sensibel, wie sie dargestellt ausschliesst oder keine aggressive Haltung ver- Frau sein darf? werden? tritt. Stolz mit Freude ist die Lösung.

52 Weltwoche Nr. 30.21 HERODOT

ein Kontinent hat in absoluten und re- den einem aus Palästina stammenden Kommu- bei den Wahlen nächstes Jahr auch in Brasi- Klativen Zahlen so viele Corona-Tote zu nisten gute Chance eingeräumt. Peru wählte lien denkbar; vor allem falls das Wahlgericht beklagen wie Lateinamerika. Wie bei jedem einen bekennenden Marxisten zum Präsiden- die Kandidatur des wegen Korruption ver- Unheil gibt es innen- und aussenpolitische ten, ebenso Bolivien. In Kolumbien hat ein Ex- urteilten Ex-Präsidenten Lula zulässt. In Profiteure. Zusammengenommen entsteht Guerillero beste Chancen. In Ecuador gewann einem guten Jahr könnten so alle grösseren eine überaus gefährliche Kombination mit un- die Linke rund zwei Drittel der Parlaments- Staaten des Kontinents in linker Hand sein. absehbaren Folgen auch für den Rest der Welt. sitze. Mexiko und Argentinien wurden schon Weit schlimmer als die direkten Opfer der vor der Pandemie von Linkspopulisten regiert. hina nutzt und fördert diese Ent- Pandemie (ca. 0,2 Prozent der Bevölkerung) Trotz katastrophaler Pandemie- und Wirt- Cwicklung zur weiteren Schwächung der ist der soziale und wirtschaftliche Schaden, schaftsbilanz halten sich diese mit der breiten Demokratie und des westlichen Einflusses namentlich wegen der manchenorts über Verteilung von Geld an der Macht. Ob es noch auf dem Kontinent. Es tätigt seit Jahren mas- Monate verhängten Lockdowns. Die grosse sive strategische Investitionen und ist der Mehrheit der Menschen lebt von der Hand Schon in wenigen Jahren könnte bei weitem wichtigste Handelspartner fast in den Mund und hat kaum Reserven. Das China auch in Lateinamerika aller Staaten der Region. Der Wirtschafts- Sozialsystem ist unterentwickelt. Millio- abschwung in Europa und den USA auf- nen von Arbeitnehmern wurden entlassen die dominierende Macht sein. grund der von China verursachten Pandemie und haben kaum neue Perspektiven. Un- hat diese Position weiter gestärkt. Und wäh- zählige Kleinunternehmer mussten ihre freie Wahlen geben wird, wenn kein Geld mehr rend westliche Staaten mit der Bekämpfung Betriebe aufgeben. Ein beträchtlicher Teil zu verteilen bleibt, wird man sehen – das Bei- der Pandemie im Inland beschäftigt waren, der Menschen arbeitet im informellen Sek- spiel Venezuela, wo die Linkspopulisten einst hat China diese genutzt, um Lateinamerika tor ohne jegliche soziale Absicherung. Sie auch demokratisch gewählt wurden, weckt mittels Impfstoffverkauf und Krediten noch gehen hungrig zu Bett, wenn sie an einem wenig Hoffnung. stärker von sich abhängig zu machen. Die Tag nichts verdienen. Nach einem Monat Schwäche der mit sich selbst beschäftigten verlieren sie auch ihr Dach über dem Kopf, rasiliens Rechtsregierung hat sich wegen EU und die erratische Aussenpolitik von Do- sofern sie zur Miete leben. Bder sozialen und wirtschaftlichen Konse- nald Trump haben diese Entwicklung be- Diese von der Pandemie bewirkte soziale quenzen gegen einen Lockdown gestemmt, günstigt. Die neue US-Regierung scheint an- Katastrophe wurde von den im «Forum von wurde aber von Lokalregierungen und dem gesichts mannigfacher Herausforderungen São Paulo» vereinigten Linksparteien sowie Obersten Gericht mehrfach desavouiert. Ent- noch nicht die Zeit gefunden zu haben, sich den Linksdiktaturen Venezuelas und Kubas gegen dem Bild, das unsere Medien zeich- ihrem ehemaligen Hinterhof zuzuwenden. instrumentalisiert. Sie schürten in rechts nen, ist die Zahl der Corona-Toten propor- Wenn sie es denn tun wird, ist es vielleicht regierten Demokratien gezielt gewaltsame tional nicht wesentlich höher als anderswo in zu spät. Es droht ein böses Erwachen. Schon Protestbewegungen. Chile und Kolumbien Lateinamerika; beim Impfen und vor allem in wenigen Jahren könnte China nicht nur erlebten wahre Zerstörungsorgien fern- wirtschaftlich ist Brasilien besser aufgestellt als in Asien und Afrika, sondern auch in Latein- gesteuerter Chaoten. die meisten anderen Staaten. Trotzdem steht amerika die dominierende Macht sein und Wo immer es Wahlen gab, wurde die Linke der unkonventionelle und undiplomatische sich dort auf mehrheitlich linkspopulistische massiv gestärkt. In der verfassungsgebenden Präsident unter Dauerbeschuss der führenden und antiwestliche Regierungen stützen. Versammlung Chiles gewann die noch re- Medien und der meisten traditionellen Politi- Herodot ist ein der Redaktion bekannter gierende Rechte weniger als ein Drittel der ker. Weil das politische Zentrum zersplittert ­Weltreisender, seit Jahrzehnten wissenschaftlich Sitze; bei den Präsidentschaftswahlen wer- und diskreditiert ist, wäre ein Sieg der Linken und politisch tätig, unter anderem für die Uno.

Weltwoche Nr. 30.21 53 Illustration: Lev Kaplan Pestalozzi als politischer Vordenker Seine Pädagogik gilt heute als Vorbild für die meisten Lehrpläne der Volksschule. Übersehen wird, dass Johann Heinrich Pestalozzi ein früher Kritiker des Staatsglaubens war. Robert Nef

r wird in der Ideengeschichte als Be- gründer einer neuen kindzentrierten Eund praxisorientierten Pädagogik wahr- genommen. Johann Heinrich Pestalozzis Postu- lat der Verknüpfung von Kopf, Herz und Hand wurde in der Forderung nach der gleichzeitigen Förderung von kognitiven, affektiv-emotiona- len und sensomotorischen Fähigkeiten in die meisten gegenwärtigen Lehrpläne integriert. In der Pädagogik gehört er noch zum inner- disziplinären Kanon, in der Sozialphilosophie und in der Soziologie wird er höchstens noch als kurioser «Gutmensch» wahrgenommen und wohlwollend belächelt. Dass er auch ein höchst origineller Sozial- philosoph war und ein früher Kritiker des Etatismus und des Sozialismus, wird über- sehen, weil sein diesbezügliches Grundwerk in einer heute schwerverständlichen Sprache abgefasst ist. Schon der Titel der 1797 pub- lizierten Schrift ist umständlich und wenig einladend: «Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts».

Aussöhnung mit sich selbst Der Kerngehalt wird erst verständlich, wenn man ihn in grössere Zusammenhänge stellt und gleichzeitig in eine heute übliche Termino- logie überträgt. Pestalozzi hat mit seinen – in Anlehnung an Rousseau – als Selbstanalyse an- gelegten Überlegungen nichts weniger als eine friedliche Überwindung des vorrevolutionären ständischen Denkens vorbereitet. Anstelle von blutigen und stets regressionsgefährdeten Revolutionen sollen innere und gemeinsame Lernprozesse für die «not-wendenden» Ver- änderungen sorgen. Weder die bürgerliche noch die proletarische Revolution wären aus dieser Sicht «historisch notwendig» gewesen. Entscheidend für eine friedliche Zukunft ist die Bereitschaft des Men- schen als lernfähiges Individuum, seine histo- risch und ökonomisch bedingten Vorurteile zu überwinden und abzulegen und den äus- seren destruktiven Konflikt durch einen inne- ren konstruktiven Dialog zu ersetzen. Persönlichkeitsbildung statt Klassen- und Parteienkampf: Erzieher Pestalozzi.

54 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: IBA Archiv/Keystone Dies wäre der von Pestalozzi skizzierte und Wohlwollen. Die Menschen werden «durch den lernfähig sind und deren Zukunft offensteht. immer noch offenstehende Weg einer Über- Besitz bürgerlicher Rechte und Freiheiten zum ­Kinder sind stets etwas mehr als nur Produkte windung der ständisch gegliederten und durch Gemeingeist, zur Rechtlichkeit und zur Teil- der Natur und mehr als nur angehende Mit- den Klassenkampf zerrissenen Gesellschaft: nehmung» herangeführt. glieder der Zivilgesellschaft. Darin liegt wohl Persönlichkeitsbildung als Aussöhnung mit Das ist die begrenzte «Mission» des Homo ihr unbekanntes Wesen, chancenreich und sich selbst statt Klassen- und Parteienkampf. politicus, die eingemittet ist zwischen dem risikoträchtig, Evolution und Revolution, Im Altertum wurde eine ständische Gliederung Menschen als biologischem Wesen einerseits ­libertas, die Freiheit. der Gesellschaft propagiert und praktiziert, und als geistigem Wesen anderseits. Es hat und das Mittelalter unterschied klar zwischen aber nur aufgrund seiner kollektiven Basis und Lernen über den Kampf ums Dasein dem Nährstand, dem Wehrstand und dem durch seinen individuellen Überbau seine Be- Pestalozzis Konzept der zivilgesellschaftlichen Lehrstand und betrachtete diese Gliederung rechtigung. Als Homo oeconomicus produ- Bürgerlichkeit als «mittlerer Ebene», als Vor- als «gottgegeben». Ein- und Unterordnung ziert und konsumiert der Mensch, als geselliges stufe der Freiheit, ist zukunftsträchtig, und es hatten vor der Freiheit Vorrang, und die Privi- Wesen schafft er sich die Spielregeln einer funk- vermittelt zwischen dem Homo oeconomicus, legierten profitierten davon. Erst die bürger- tionierenden Ordnung, und als freies Indivi- dem Homo politicus und dem Homo liber, weil liche und später die kommunistische Revolu- duum verwirklicht er sich selbst. Aber, und er die drei «Zustände» nicht als Alternative, tion wollten diese hierarchische menschliche das ist entscheidend, diese Grundfunktionen Arbeits- und Funktionsteilung überwinden sollen weder arbeitsteilig wahrnehmbar noch Es ist ihm nicht gelungen, sein und die ständisch gegliederte Welt durch den delegierbar sein. ­«politisches Manifest» zur Grundlage Klassenkampf erlösen, um ein Reich der Gleich- Die Freiheit ist für das «Kind Gottes» in uns heit und Freiheit herbeizuführen. essenziell. Der Begriff ist schon aus damaliger einer Bewegung zu machen. Sicht nicht in erster Linie «religiös besetzt». Freiheit der Kinder Die Betonung liegt auf dem Kind als noch offe- sondern als Stufenbau darstellt. Bürgerlich- Pestalozzi entschied sich für eine grundlegend nem, lernfähigem Wesen, das nicht einfach als keit verlangt als «Zwischenschicht» oder als andere, «innere Revolution». Sein modernes Familienspross und genetischer und materiel- «Scharnier» allerdings überschaubare Rech- Konzept ist die individuelle Überwindung des ler Erbe, und auch nicht als künftige Arbeits- te und Pflichten, transparente Verhältnisse Stände- und Klassendenkens und das fried- kraft oder als Staatsklient und -träger, sondern bezüglich gemeinsamer Einnahmen und Aus- liche Zusammenleben unterschiedlicher, aber als einmalige und eigenständige Kreatur zu be- gaben und eine Vergleichbarkeit von persön- gleichwertiger Menschen, die sich selbst ihre trachten ist und niemandem gehört ausser sich lichen Nutzen und Opfern. Sie kann sich nur Ziele setzen und sich nicht gegenseitig bevor- selbst. Das Kind will «fortschreiten» und leistet in non-zentralen, menschlich überschaubaren munden. Er begründete es eine Generation oft auch Widerstand gegen das Vorgefundene, Strukturen entfalten. und es verkörpert so das «Prinzip Hoffnung». Politik ist weder die Basis noch der Endzweck Pestalozzi entschied sich Auch die Bezeichnung «sittliches Wesen» hat des menschlichen Lebens. Sie muss, nach Pesta- für eine grundlegend andere, mit «Sittlichkeit» nach einem heutigen mora- lozzi, als «vermittelnde» Zwischenstufe wahr- lischen und sozialpsychologischen Verständ- genommen werden, die das Leben und Wirt- «innere Revolution». nis nichts zu tun. schaften der Menschen keinesfalls beherrschen Um den Begriff zu verstehen, muss man sich und auch die kreativen «Gotteskinder» keines- bevor die kommunistische Linke den bluti- vom christlich-religiös gefärbten Terminus lösen falls steuern und bevormunden soll. Aus seiner gen Klassenkampf als unumgängliche kollek- und existenzialistische Deutungsmöglichkeiten Sicht ist der Staat lediglich ein Zwischenglied tive menschheitsgeschichtliche Entwicklungs- mit einbeziehen. «Ich besitze eine Kraft in mir zwischen ökonomischer Notwendigkeit und phase forderte und ein Jahrhundert bevor der selbst, alle Dinge dieser Welt mir selbst, un- geistiger Freiheit. Politik wird und soll gemäss konservative Rechte Carl Schmitt die Politik abhängig von meiner tierischen Begierlichkeit Pestalozzi nie ganz absterben. Mit diesem Ak- als unerbittlichen Kampf zwischen Feind und und von meinen gesellschaftlichen Verhältnissen, zeptieren vermeidet er die wenig einleuchtende Freund um die Macht im Staat definierte. gänzlich nur im Gesichtspunkt, was sie zu mei- sozialistische Prognose und Verheissung, der Die geniale Entdeckung, die Pestalozzi als ner inneren Veredelung beitragen, vorzustellen Staat und dessen Zwangsmonopol würden Alternative zum politischen Machtkampf pos- und dieselben nur in diesem Gesichtspunkte zu zwar früher oder später verschwinden, aber tulierte, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Er verlangen oder zu verwerfen. Diese Kraft ist im zunächst müsse dieser weltweit alles andere fand alle drei Stände in sich selbst verkörpert, Innersten meiner Natur selbständig; ihr Wesen durchdringen und beherrschen. nämlich als drei Zustände: den Naturzustand ist auf keine Weise eine Folge irgend einer andern Es ist zu bedauern, dass es Pestalozzi nicht (als ein für sich selbst bestehendes Tier), den ge- Kraft meiner Natur. Sie ist, weil ich bin, und ich gelungen ist, seine Ideen in einem «pädago- sellschaftlichen Zustand (als stimm- und wehr- bin, weil sie ist.» Das ist ein eindrückliches Be- gischen Manifest» zur Grundlage einer Be- fähiger Bürger) und den individuell sittlichen kenntnis zu einer rücksichtsvollen Selbstver- wegung zu machen, die über die klassische Zustand (als «Kind Gottes»). wirklichung –schon 175 Jahre vor 1968. Politik hinausreicht und das freie Lernen über Im heutigen Zusammenhang interessiert vor Mit dem Begriff «Kind» hat Pestalozzi einen den Kampf ums Dasein und die Einordnung allem die Tatsache, dass der bürgerliche Zu- weiten Horizont eröffnet und gleichzeitig an in eine Zwangsgemeinschaft setzt. Gesucht stand in jenem Zwischenfeld angesiedelt wird, eine alte Tradition angeknüpft. Die liberi, das wäre zunächst eine zeitgemässe passende Be- der zwischen dem Menschen als einem egoisti- sind im alten Rom die freien Menschen, es zeichnung für den Zustand des freien, kreati- schen Tier (das Pestalozzi durchaus auch posi- sind aber auch die erbberechtigten (und spä- ven, intrinsisch motivierten, lern-, leistungs- tiv beurteilt) und dem vom Geist der Hoffnung, ter wiederum erbverpflichteten) Kinder. Frei- und hilfsbereiten Menschen, den Pestalozzi in der Offenheit und der Lernbereitschaft gegen- heit als Ausdruck aktueller und oft auch nur sich selbst entdeckte und in der Sprache seiner über dem Unbekannten, Neuen beseelten und potenzieller Mündigkeit. Derselbe Begriff be- Zeit «Kind Gottes» nannte. getragenen «Kind Gottes» liegt. Der bürger- zeichnet Freie und Kinder, die die Chance der liche Zustand ist nach Pestalozzi geprägt vom Freiheit vor sich haben, die neugierig, fantasie- Robert Nef ist Publizist und ehemaliger Leiter Spannungsfeld zwischen Selbstsucht und voll, gelegentlich widerspenstig, lernbereit und des Liberalen Instituts.

Weltwoche Nr. 30.21 55 Swiss made: Projektion am Matterhorn zur Mars-Mission des Nasa-Rovers, in dem auch Schweizer Technik steckt, im Juli 2020.

56 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: Mike Kessler, Frank Schwarzbach, Céline Hofstetter, Henry Maurer Das Licht der Hoffnung Gerry Hofstetter illuminiert spektakulär Sehenswürdigkeiten auf der ganzen Welt. Der Mann ist kaum zu bremsen. Daniel Weber

ein erstes Geld als Künstler verdiente weltweit Kunden und stillte seinen Hunger auf Gerry Hofstetter auf einem Bauernhof fremde Länder und Kulturen; als Hauptmann Sin Aesch im Kanton Zürich. Als Jugend- bei den Gebirgsgrenadieren und Mitglied im licher porträtierte er Pferde, die auf dem Hof Nationalkader des Militärischen Fünfkampfs eingestellt wurden, und verkaufte die Bilder bewies er Härte und Disziplin; und nebenbei ihren Besitzerinnen. So sparte er sein erstes erwarb er noch die Lizenz als Helikopterpilot. Motorrad zusammen, eine Leidenschaft bis heute – seine Sammlung umfasst über dreissig Dirigent, nicht Solist Ducati-Maschinen. Die knallroten Feuerstühle Nach vierzehn Jahren im Bankgeschäft hatte stehen in der Vorhalle zum fünfzigplätzigen der Betriebsökonom Hofstetter genug. Er Kino, das er sich im Untergeschoss eines Ge- schloss den eidgenössischen Marketingplaner bäudes in Zumikon eingerichtet hat. ab, machte sich mit einer Marketing- und Das Beschauliche an der Malerei reizte ihn Eventagentur selbständig und begann auch, damals; mit einem Van-Gogh-Hut auf dem Filme zu produzieren. Er organisierte schon Kopf und der Staffelei unter dem Arm zog er aufwendige Kundenanlässe, als ihm in einer hinaus in die Natur, malte Bauernhöfe und Bar, in der kleine bemalte Dias an die Wand Sonnenuntergänge. Aber letztlich hatte er für projiziert wurden, die zündende Idee zufiel: die Kunst wohl zu viel überschüssige Energie. «Das will ich auch, aber draussen», sagte er sich, Er war Kunstturner, Bergsteiger, Motocross- denn er suchte etwas, das schon von weitem fahrer – viele Disziplinen zu beherrschen, war die Aufmerksamkeit auf seine Events lenkte. immer «der Cocktail meines Lebens», sagt Hofstetter beschaffte sich lichtstarke alte Pro- Hofstetter, der mit seinen 59 Jahren jugend- jektoren, die er für seine Zwecke umbaute, und lich wirkt, kräftig, energiegeladen und topfit. begann Fassaden zu beleuchten, anfangs mit selbstbemalten Glasplatten, später auch mit Gebirgsgrenadier und Helikopterpilot Fotografien. Die Anfragen häuften sich. Als Lichtkünstler ist Hofstetter heute inter- Den Durchbruch brachte der 1. August 2002, national bekannt, er hat die Pyramiden von als Hofstetter zum Hundert-Jahr-Jubiläum das Giseh bestrahlt, das Brandenburger Tor in Ber- Bundeshaus in ein Meer von Schweizerkreuzen lin, das Kolosseum in Rom, den Hauptbahnhof tauchte. Kunst? Er zuckt mit den Schultern. von Washington, den Königspalast in Oslo, das Wie man seine Arbeiten nennt, ist ihm nicht Shell-Hochhaus in London und vieles mehr. so wichtig. Jedenfalls macht er nicht Kunst Doch bis er so weit war, brauchte er noch eini- im Sinne von L’art pour l’art. Er sieht sich als ge Zutaten zu seinem Lebenscocktail. Vermittler von Botschaften, mit denen er die Er machte die KV-Lehre bei der land- Menschen bewegen und begeistern will. Oft wirtschaftlichen Genossenschaft Volg, wo sind diese Botschaften auch kommerzielle. Mit er viel Verantwortung bekam und «unter- seiner ansteckenden Begeisterungsfähigkeit nehmerisches Geschick» beweisen konnte; gewinnt er Sponsoren, ohne die er seine auf- beim Schweizerischen Bankverein lernte er das wendigen Vorhaben nicht stemmen könnte. Bankgeschäft kennen; als Investmentbanker Schon früh begann er, nicht nur markante Swiss made: Projektion am Matterhorn zur Mars-Mission des Nasa-Rovers, in dem auch Schweizer Technik steckt, im Juli 2020. bei einer Privatbank besuchte er als 28-Jähriger Gebäude zu illuminieren, sondern auch die

Weltwoche Nr. 30.21 57 im Hafen von Ilulissat die Fischerboote zer- schmetterte. Dass die Expedition ein Erfolg wurde, war reines Glück: Hofstetter brauchte einen langen Eisberg mit einer glatten Wand – er wollte das Bild der «Titanic» in ihrer vollen Länge von 269 Metern projizieren. Und genau zum richtigen Zeitpunkt tauchte ein frisch abgebrochener Riese auf, 600 Meter lang und 70 Meter hoch. So schenkte ihm die Natur den flüchtigen Mo- ment, den er brauchte, um mit seinem Bild die «Titanic» zurückzuholen. Ein eigentümlich magisches Bild. «Für mich war diese Aktion eine Metapher der Versöhnung.» Auf der Rück- Erst durch die mediale Verwertung seiner Aktionen erreicht Hofstetter ein grosses Publikum.

fahrt gerieten sie erneut in den freezing fog und – Ironie des Schicksals – kollidierten frontal mit einem Eisberg. Sie kamen mit einem gros- sen Loch knapp über der Wasserlinie davon. Auf seinen Expeditionen hat Hofstetter ge- sehen, wie Gletscher und Eisberge schrump- fen. Seine wichtigste Botschaft lautet deshalb: «Wir haben nur einen Planeten Erde.» Auch in der Schweiz wählt Hofstetter mit Vorliebe spektakuläre Projektionsflächen für seine Botschaften, darunter schon öfter das Matterhorn. Im Covid-Shutdown im Frühling 2020 beleuchtete er den Berg für eine Solidari- tätskampagne von Zermatt Tourismus mit auf- munternden Parolen wie «Dream now – travel later» und «#hope», dem Sujet, das wir für das «Cocktail meines Lebens»: Lichtkünstler Hofstetter in seinem Privatkino. Titelblatt dieses Sommerhefts gewählt haben. Dank den neuen Webcams auf den Skipisten von Zermatt verbreitete sich die Botschaft Natur. 2003, im von der Uno lancierten Jahr des Ein Höhepunkt seiner Karriere war das Projekt übers Internet in die Welt hinaus. S¨üsswassers, unternahm Hofstetter seine erste «Titanic». Am 14. April 2012, genau hundert Nicht immer lassen sich die Projektionen Expedition in die Antarktis, um Eisberge zu be- Jahre nach der Katastrophe, wollte Hof­stetter vom Boden aus über eine Distanz von mehre- leuchten. Seine Projekte plant er mit general- das Bild des Luxusdampfers auf einen Eisberg ren Kilometern realisieren. Dann steigen Hof­ stabsmässiger Akribie, vom Einholen der nöti- projizieren. Nicht vor Neufundland, wo das stetter und sein Team mit dem Helikopter auf, gen Bewilligungen über die Logistik bis zu den Schiff mit einem Eisberg kollidierte, sondern in an dem unten der Dieselgenerator hängt, der Standorten für seine Projektoren. Unterwegs ist Grönland, dort, wo der Eisberg entstanden war. den Projektor im Helikopter mit Strom ver- der Perfektionist dann jeweils mit seinem Kern- Während sieben Tagen war er mit seinem Team sorgt. Solche Einsätze verlangen minutiöse Pla- team – Henry, Frank, Mike, Jack, seine ältere auf einem Boot im Eisfjord von Ilulissat unter- nung. Der Helikopter mit dem Projektor muss Tochter Céline –, in dem alle alles können müs- wegs. Dort befindet sich der aktivste Gletscher mit jenen, aus denen gefilmt und fotografiert sen: Fotografieren, Filmen, Projizieren. «Ich bin der Welt, der die grössten Eisberge der nörd- wird, sekundengenau abgestimmt werden. kein Solist», sagt Hofstetter, «ich bin nur der lichen Halbkugel kalbt. Denn erst durch die anschliessende mediale Dirigent.» So entsteht ein Gesamtkunstwerk, Verwertung seiner Aktionen erreicht Hofstet- bei dem das zusammenspielt, was Hofstetter «Nur ein Planet Erde» ter ein grosses Publikum. unverwechselbar macht: unternehmerisches Die Mission wurde zum Abenteuer. Das Team Exemplarisch dafür ist die Aktion anlässlich Flair, künstlerische Kreativität, militärisch prä- geriet auf dem Boot nicht nur in einen freezing der Landung des Nasa-Rovers «Perseverance» zise Organisation – und äusserste Flexibilität in fog, einen undurchdringlichen Nebel, der so und des Helikopters «Ingenuity» auf dem Mars der Umsetzung. eisig war, dass die Daunenjacken aufbrachen. im vergangenen Februar. Dabei verwandelte Und Hofstetter ist ein Dirigent, der auch Es erlebte auch einen Unterwasser-Tsunami, Hofstetter die Eigernordwand in eine riesi- selber anpackt. Zum 150-Jahr-Jubiläum des ausgelöst durch einen gigantischen Eisberg, ge Mars-Landschaft, auf der die Nasa-Geräte Schweizerischen Alpen-Clubs illuminierte er der sich im Fjord gedreht hatte, vor dem man zu sehen waren – in beiden steckte sinniger- 26 SAC-Hütten, für jeden Kanton eine. Den sich gerade noch in den Hafen retten konnte. weise Schweizer Technik. Angeregt hatte das 58 Kilogramm schweren Projektor buckelte er Mit blitzenden Augen schildert Hofstetter, ein Spektakel Thomas Zurbuchen, der Wissen- selbst die Berge hoch. leidenschaftlicher Erzähler, wie der Tsunami schaftsdirektor der Nasa, der im Berner Ober-

58 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: Paolo Dutto für die Weltwoche Kontakte zur US-Armee: Illuminierter Flugzeugträger «USS Yorktown» in Charleston anlässlich der «Light Art Grand Tour USA» von Hofstetter.

Gebirgstauglich: Abenteurer Hofstetter steigt mit Projektor zu einer SAC-Hütte auf.

Big Apple: Wilhelm Tell zu Besuch auf der König der Alpen: am Piz Palü zum 100-Jahr-Jubiläum der Wiederansiedlung des Steinbocks. einzigen privaten Insel in New York.

Weltwoche Nr. 30.21 59 Bilder: Mike Kessler, Frank Schwarzbach, Céline Hofstetter, Henry Maurer land aufgewachsen ist. Dank der weltweiten Nasa-Community, die die Bilder auf den sozia- len Netzwerken verbreitete, bekam die Eiger- Mars-Mission maximale Aufmerksamkeit. Manche seiner Projekte begleiten Gerry Hof­ stetter jahrelang. So auch die «Light Art Grand Tour USA», die er 2016 in Angriff nahm: Er will in jedem Bundesstaat ein historisches Monu- ment illuminieren, das gleichzeitig einen Bezug zur Schweiz hat. Im Grunde ist es eine Imagekampagne für die Schweiz in den USA, sagt der Patriot Hofstetter, der von der Einzig- artigkeit der Schweiz überzeugt ist. Nach- dem er intensiv recherchiert und schliesslich aus über 89 000 Monumenten fünfzig aus- gesucht hatte, kämpfte er ein Jahr lang um Be- willigungen, bevor er loslegen konnte. Zum Auftakt stellte er ein Replikat des Tell-Denkmals in Altdorf auf eine kleine, un- bewohnte Insel in New York, die im Privatbesitz von zwei Schweizern ist, und projizierte dar- auf die Werbebotschaft «I love NY». In Virgi- nia beleuchtete er das herrschaftliche Landhaus Schweizer und Amerikaner: Einstein vor dem Museum der Historical Society of Princeton. von George Washington mit gemalten Szenen aus dem Unabhängigkeitskrieg und Scheren- schnitten mit Bauernmotiven aus der Schweiz Er will in jedem US-Bundesstaat ein Monument illuminieren, das einen Bezug zur Schweiz hat.

– er hatte herausgefunden, dass Washington aus Glarus Werkzeug bezogen hatte, mit dem man beim Roden Wurzeln aus dem Boden ent- fernen konnte. In South Carolina übersäte er den Flugzeugträger «USS Yorktown» mit ame- Botschaft zum Schutz des Planeten Erde: Unterwegs zu Tell: Superman fliegt mit rikanischen und Schweizer Flaggen. Der Link Eisbär auf Eisberg. Schweizerkreuz durch die Berge. zur Schweiz: Es war der US-Navy-Leutnant Don Walsh, der 1960 das U-Boot steuerte, mit dem der Schweizer Jacques Piccard in den Marianen- graben tauchte. Wie Hofstetter es schaffte, die Bewilligung zu bekommen, ein amerikanisches Kriegsschiff zu illuminieren? Er liess seine mi- litärischen Kontakte spielen. Als Instruktor für Combat Search and Rescue (CSAR) im Gebirgs- kampf hat er auch ausländische Eliteeinheiten trainiert, darunter Navy Seals und Marines. Aber das ist eine andere Geschichte. In vierzehn Bundesstaaten hat die Grand Tour bisher Station gemacht, Corona hat das ehrgeizige Unterfangen verzögert, aber Gerry Hofstetter hofft, es bis 2024 abschliessen zu können. Er ist ein positiver Mensch, und das Medium, mit dem er arbeitet, das Licht, ist für ihn die positivste aller Energien. Licht ist Hoffnung, mit Licht Botschaften zu vermitteln, ist seine Mission. Dass sich dabei die Grenze zwischen Kunst, Kitsch und Kommerz nicht immer trennscharf ziehen lässt, trägt er mit Fassung. Zu Recht. Von den Gratwanderungen des Konzeptkünstlers lassen sich zahllose Men- schen weltweit verblüffen und verzaubern. Minutiöse Planung: Hofstetter (2. v. l.) mit Team vor der Eigernordwand im Februar 2021.

60 Weltwoche Nr. 30.21 Bilder: Mike Kessler, Frank Schwarzbach, Céline Hofstetter, Henry Maurer BEAT GYGI Wunder Wirtschaft Wenn die Menschen denken, es gehe nicht mehr, helfen ihnen die Märkte.

irtschaft ist mehr, kann mehr, bringt Es ist weitgehend so gekommen. Lieferanten men Belastung wird. Die Menschenmassen in Wmehr Neues, ist stärker, als man meis- und Abnehmer haben sich nach dem Schock Venedig, Paris oder Rom dürften nach Coro- tens denkt. Wird oft unterschätzt. Die Co- 2020 sofort wieder gesucht und grösstenteils na nicht geringer sein als vorher, was für viele rona-Krise kam für die grosse Mehrheit der gefunden, haben auch neue Verbindungen ge- ­andere Orte auch gilt. Ökonomen und Konjunkturbeobachter als un- knüpft, zerrissene Logistiknetze geflickt, Fa- Was tun gegen eine solch überbordende Kultur- vorstellbarer Schock, als Einbruch, den viele am briken drehten wieder auf. Allen voran ging nachfrage? Frey diskutiert mehrere Mass- Anfang für schlimmer hielten als die Finanz- China, das die Weltwirtschaft mitzog. nahmen zum Beeinflussen des Marktes. Der krise 2008/2009. Der Blitz traf alles, zerriss Und was ins Auge sticht: Die privaten An- Staat kann versuchen, mit Informationen, die Lieferketten, legte weltweit Produktions- triebskräfte der Wirtschaft waren es, die solche Marketing oder Appellen Besucherströme zu anlagen lahm und machte Verträge zunichte. Leistungen erbrachten. Die Dynamik kam nicht steuern. Griffiger sind zeitliche und örtliche Viele unterschätzten die Wirtschaft, aber von staatlichen Überbrückungshilfen, von be- Einschränkungen der Besuchsmöglichkeiten, nicht alle. André Kistler, Mitgründer des Ver- schwichtigenden Subventionen, nein, primär etwas Entlastung können auch erhöhte Ge- mögensverwalters Albin Kistler, sagte im die Märkte besorgten die Reparaturarbeiten. bühren oder Eintrittspreise bringen. Es gibt ­Februar 2020 kurz nach dem Corona-Aus- Kistler bekräftigte kürzlich in einem Markt- zudem die Rationierung durch Versteigerung bruch im Interview mit der Weltwoche: «Zur- kommentar: «Die Globalisierung kann nicht der Besuchsrechte. All dies soll die Nachfrage zeit wird viel über massive Störungen der rückgängig gemacht werden, denn die Markt- einschränken helfen. Mutet logisch an. Wirtschaft und einen drohenden Zusammen- und inhärenten Auftriebskräfte bilden die Frey aber schlägt eine radikal andere Lösung bruch geschrieben, ja bisweilen tönt es fast stärksten ökonomischen Kräfte überhaupt.» vor, nämlich eine Erweiterung des Angebots. Das nach Weltuntergang, aber man muss das mit Der Hintergrund: «Weil Menschen und Firmen ist der Ausbruch aus der Engnis, verschiebt Gren- etwas Distanz betrachten. Wir hatten in den langfristig immer aufwärts streben, immer klü- zen. Wirtschaftliche Überlegungen eröffnen vergangenen zwanzig Jahren mehrere Epi- ger, wissender und produktiver werden.» plötzlich ein viel grösseres Potenzial als in der demien, die weltweit bedrohlich erschienen, Bedrängung durch die Probleme vermutet. Kurz: die Vogelgrippe, die Schweinegrippe oder Sars. Neues Niveau im Tourismus Wirtschaft ist mehr, kann mehr, bringt mehr [...] Diese Epidemien waren wirtschaftlich nie Es gibt Situationen, da stösst man an Grenzen, Neues, ist stärker, als man meistens denkt. langfristig relevant, kurzfristig aber schon.» fühlt man eine Engnis, kann man sich kaum be- Frey schwebt eine Erweiterung des Touris- Er fügte an, der Markt sei grundsätzlich recht wegen. Auch in Märkten, die aus dem Gleich- musangebots um «neue Originale» vor. Das stabil, was viele erstaune. gewicht geraten, steht man plötzlich vor Mau- heisst: Man erstellt Kopien bekannter Monu- Wie kam er zu dieser Einschätzung? «Der ern, die unüberwindbar erscheinen, jedenfalls mente und Bauten an geografisch geeigneten Hintergrund ist, dass wir in einer enorm stabi- auf den ersten Blick. Der bekannte Ökonom Orten, ergänzt um moderne elektronische drei- len Welt leben», einer Welt, die gut vernetzt sei, Bruno S. Frey (Crema Research) befasst sich in dimensionale Darstellungen. Touristenströme viel Potenzial verspreche, und mit Einsetzen seinem Buch «Venedig ist überall» (2020) mit lassen sich zwischen den Original- und den der Digitalisierung stehe man am Anfang eines dem Übertourismus, mit dem Problem, dass nachgebauten Destinationen verteilen. Mehr langen Aufschwungs. Digitalisierung plus riesige Menschenmengen begehrte Tourismus- Menschen als bisher werden ihre kulturelle Internet würden global neue Arbeitsmärkte, orte überschwemmen, vor Sehenswürdigkeiten Nachfrage befriedigen können, die Marktaus- mehr Wirtschaftswachstum ermöglichen und lange Schlangen entstehen und der Zustrom weitung bedeutet in der Summe eine grosse die Demokratisierung voranbringen. für betroffene Orte und Einwohner zur enor- Wertsteigerung für die Gesellschaft.

Weltwoche Nr. 30.21 61 Illustration: Fernando Vicente «Es gibt keinen Anfang der Zeit» Der Schweizer Physiker Robert Brandenberger entwickelt eine neue Theorie über den Kosmos. Er sagt: «Das Universum hat schon vor dem Urknall existiert.» Pierre Heumann

as Universum und dessen Entstehung starke und die schwache Kernkraft. Sie sind ver- zum Beispiel die Rosinen-Kuchen-Theorie für faszinieren seit je Wissenschaftler und schiedene Facetten einer einzigen fundamenta- ein expandierendes Universum. DLaien. In den 1960er Jahren waren For- len Kraft. Die Vereinheitlichung sieht man nur Weltwoche: Können Sie das erläutern? scher davon ausgegangen, dass der Kosmos bei ganz hohen Energien – Energien, die im Brandenberger: Denken Sie an einen durch den Urknall entstanden ist, was in der frühen Universum vorhanden waren. Kuchenteig, in dem gleichmässig Rosinen ver- Folge in Filmen und Büchern populärwissen- Weltwoche: Welche neuen Erkenntnisse hat teilt sind und der im Ofen erhitzt wird. Da sich schaftlich dargestellt wurde. Doch inzwischen man aufgrund der neuen Daten gewonnen? der Kuchen während des Backens ausdehnt, rü- argumentieren viele Physiker, dass die Theo- Brandenberger: Wir haben jetzt den Nach- cken alle Rosinen immer weiter voneinander rie eines Urknalls nicht plausibel sei. Der ge- weis, dass das Universum relativ homogen ist, weg. Vom Standpunkt einer einzelnen Ro­ bürtige Schweizer Physiker und Kosmologe Ro- also in alle Richtungen fast dieselbe Dichte auf- sine aus betrachtet, scheinen sich alle anderen bert Brandenberger, der heute an der McGill weist. ­Rosinen mit einer bestimmten Geschwindig- University in Montreal doziert, gehört zu den Weltwoche: Sie sagen «fast»? keit zu entfernen. Die nahegelegenen ­Rosinen Pionieren eines neuen komplexen Erklärungs- Brandenberger: Weil die Schwankungen sehr entfernen sich langsamer, und die weiter ent- ansatzes zur Entstehung des Kosmos. klein sind. Sie führen zur Entstehung von Gala- fernten Rosinen entfernen sich schneller. Sie Brandenberger studierte an der ETH Physik xien. Wir wissen heute, dass Millionen, ja Mil- fliegen also nicht wie bei einer Explosion und setzte seine Studien mit einem Doktorat liarden von Galaxien existieren. Und wir wissen auseinander, sondern sie entfernen sich von- an der Universität Harvard fort. Seine Post-Doc- auch, dass es nicht in alle Richtungen die glei- einander, weil der Teig sich ausdehnt. Dieser Arbeit schrieb er bei Stephen Hawking in Cam- che Anzahl von Galaxien gibt. Es gibt Gebiete Mechanismus lässt sich auch bei den Galaxien bridge. Er hat zwei Forschungsschwerpunkte: mit vielen und solche mit weniger Galaxien. Das beobachten. Sie werden durch die Ausdehnung das Frühstadium des Universums und die Struk- ist wie auf der Erde. Auch hier ist die Verteilung des Raumes auseinandergetragen. Der so- tur des Kosmos. Seine Theorien veranlassen eini- der Landmasse nicht überall gleich. Im Norden genannte Urknall ist deshalb kein «Knall», ge Physiker, die bisherigen Vorstellungen vom gibt es mehr, im Süden weniger Landmasse. sondern die Verschiebung im Raum. Universum zu überdenken. Die Forschungen Als theoretischer Kosmologe suche ich nach Weltwoche: Worin besteht der Nutzen der führen den Schweizer auch in die Gefilde der einem Mechanismus, der die gegenwärtigen Weltallforschung? Philosophie und Theologie. ­Beobachtungen erklären kann. Das versucht Brandenberger: Ich würde ihn mit einem Wort zusammenfassen: «Wissen». Die theore- Weltwoche: Herr Brandenberger, Ihr Modell tische Kosmologie, die ich erforsche, hat keine besagt, dass der Urknall nicht der Beginn des direkten Konsequenzen für die Menschheit. Sie Universums war. verfolgt zwei übergeordnete Ziele. Erstens will Robert Brandenberger: Das Universum hat sie eine Erklärung für die beobachtete Struk- vielleicht schon vor dem Big Bang in der frühen tur im Universum auf grossen Skalen liefern. heissen Phase existiert. Es war also vielleicht Weltwoche: Will heissen? schon immer da. Brandenberger: Dass man zum Beispiel die Weltwoche: Immer? ungleichmässige Verteilung der Galaxien im Brandenberger: Ja. Es gibt Modelle, gemäss Raum erklären kann. denen das Universum immer existiert hat und Weltwoche: Und das zweite Ziel? auch in der Zukunft immer existieren und sich Brandenberger: Die Kosmologie-Forschung ausdehnen wird. Dann gibt es keinen Anfang will helfen, die Geschichte des Universums zu der Zeit. Von einem Urknall im wörtlichen Sinn verstehen. Mir geht es ja letztlich um die Frage, zu sprechen, macht deshalb keinen Sinn. wie das Universum entstanden ist. Weltwoche: Das neue Modell, das Sie ver- Weltwoche: Sie sagten soeben, es habe treten, heisst «String Gas Cosmology». Diese «immer» existiert . . . basiert auf einer Theorie, die alle Kräfte der Brandenberger: . . . oder wie es in der fernen Natur vereinheitlichen will. Was hat man sich Vergangenheit aussah. Das hat viel Bezug zur darunter vorzustellen? Philosophie . . . Brandenberger: Wir kennen vier Kräfte: die Weltwoche: . . . und wohl auch zur Theo- Gravitation, die elektromagnetische Kraft, die logie.

62 Weltwoche Nr. 30.21 Cartoon: Kai Felmy Entdeckung des ersten Planeten ausserhalb des Sonnensystems mit dem Nobelpreis aus- gezeichnet. Der sogenannte Exoplanet kreist um einen sonnenähnlichen Stern ausserhalb unseres Sonnensystems. Unser Planetensystem ist nicht das einzige im Universum. Weltwoche: Derzeit nimmt der Weltraum- Tourismus Fahrt auf. Was halten Sie davon? Brandenberger: Auch das ist nicht mein Forschungsgebiet. Aber ich habe dazu natür- lich eine Meinung. Weltwoche: Und die wäre? Brandenberger: Wenn die Reichen ihr Geld nicht sinnvoller ausgeben können – na ja, was soll man dazu sagen, ausser dass es eine Geld- verschwendung ist? Andererseits lassen sich im Weltraum wegen der Schwerelosigkeit natürlich «Denken Sie an einen Kuchenteig, in dem gleichmässig Rosinen verteilt sind und der im Ofen erhitzt wird.»

auch wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnen, die von Nutzen sind, zum Beispiel in der Medizin. Für mich als Kosmologen haben die Weltraum- flüge zudem einen wertvollen Erkenntnisgewinn. Weltwoche: Welchen denn? Brandenberger: Für die Erforschung des Universums sind Satelliten wichtig. Denn es gibt bestimmte Wellenlängenbereiche der elektromagnetischen Strahlung, die die Atmo- sphäre nicht durchlässt. Beobachtungen des Universums in diesen Bereichen ermöglichen uns grosse Fortschritte. Weltwoche: Inzwischen verfügen Wissen- schaftler über Daten aus dem Weltall. Wie wich- tig sind denn ihre Teleskope? Brandenberger: Ich bin ein Theoretiker. Meine fundamentale Theorie über den Kosmos entwerfe ich auf einem Blatt Papier. Aufgrund der Daten, die die Teleskope liefern, will ich er- «Ausdehnung des Raumes»: Kosmologe Brandenberger. klären, wie das Universum strukturiert ist. Weltwoche: Wegen der Zunahme der Flüge in den Weltraum, von denen Sie sich neue Brandenberger: Ich gebe darauf eine andere Menschen darüber nachgedacht, was das Daten versprechen, entsteht wohl in naher Antwort als viele meiner Kollegen. Im Vorder- Universum ist, was es bedeutet und woher es ­Zukunft ein Abfallproblem im Weltall. grund steht für mich die Kluft zwischen dem, kommt. Im Altertum waren deshalb Kosmo- Brandenberger: Das ist schon jetzt ein grosses was die Wissenschaft erklären kann, und dem, logie und Philosophie ein und dasselbe Gebiet. Problem. Seit sechzig Jahren werden sehr viele was sie nicht erklären kann. Dabei ist mir klar, Ich bin zwar weder Philosoph noch Theologe, Satelliten ins Weltall geschossen. Sie haben aber dass es stets Dinge geben wird, die man mit der bin aber im Gespräch mit ihnen. nur eine beschränkte Lebensdauer. Das ist dann Wissenschaft nicht aufdecken kann. Aber wir Weltwoche: Gibt es innerhalb der Galaxien eine Gefahr für andere Satelliten, die im Um- wissen nicht, wo diese Grenze verläuft. wie in Science-Fiction-Romanen Leben? lauf sind. Die Dichte der Atmosphäre nimmt Weltwoche: Wobei sich die Grenze un- Brandenberger: Das gehört nicht zu mei- ab. Und es kommt zu Bremswirkungen zwi- ablässig verschiebt. nem Forschungsgebiet. schen der Erde und den Satelliten. Auch wenn Brandenberger: Es gibt Physiker, die glau- Weltwoche: Es wäre aber spannend, Ihre Mei- der Bremsvorgang schwach ist: Irgendwann fällt ben, dass man eines Tages alles wird erklären nung dazu zu hören. Ist es denn ausgeschlossen, die Kapsel auf die Erde zurück. Die kleinen Kap- können. Die sind dann atheistisch. dass es irgendwo im All Leben gibt? seln verbrennen und verglühen dann vielleicht Weltwoche: Und was man nicht erklären Brandenberger: Nein, es ist nicht aus- – aber was ist mit den grossen? kann, das wäre dann Gott? geschlossen. In den letzten Jahren gab es wich- Brandenberger: Ich würde das nicht so tige Entwicklungen, um sich dieser Frage anzu- Mehr zum Thema: Eine Übersicht über Brandenbergers­ ­nennen. Wobei ich nichts dagegen habe, wenn nähern. Zwei Schweizer Astrophysiker, Didier ­Forschung ist auf seiner Internetseite zusammengestellt:­ andere das tun. Seit Jahrtausenden haben Queloz und Michel Mayor, wurden für ihre www.physics.mcgill.ca/~rhb/

Weltwoche Nr. 30.21 63 Bild: Thomas Buchwalder für die Weltwoche Im Feuerball unterwegs Der limitierte Alfa Romeo Giulia GTA überzeugt auf der Rennstrecke und auf normalen Strassen. Auch dank Schweizer Ingenieurskunst. Wir haben ihn getestet. Gabriel Lotti und Florian Schwab

ls Alfa Romeo vor fünf Jahren die Qua- Romeo ein relativ junges, bereits sehr schnel- beim Antritt. Die Lenkung kommt mit wenig drifoglio-Version seiner ohnehin schon les und starkes Modell wie die Giulia Quadri- Einschlag aus. Das Rennfeeling wird noch ge- Arecht temperamentvollen Giulia prä- foglio noch schneller und noch stärker macht: steigert durch die Super-Sport-Pilot-2-Reifen sentierte, war allen klar: Dieses Auto ist eigent- um die Rundenzeiten auf den Teststrecken des von Michelin, die sich in schnellen Kurven ein- lich ein Rennauto, für das man eine Strassen- Fiat-Konzerns in Balocco und Nardò (Apulien) deutig bezahlt machen. Gefühlsmässig ist man zulassung erhält, wenn man will. Mit dem noch weiter zu verbessern! nicht mehr allzu weit von den in der Formel 1 Selbstbewusstsein eines Latin Lovers hatte die Das Rennfahrerherz schlägt höher beim Ein- gebräuchlichen Slicks entfernt. Turiner Autoschmiede anfangs ganz auf die steigen ins Cockpit. Kimi Räikkönen und An- modernen Fahrassistenzsysteme verzichtet, tonio Giovinazzi vom Formel-1-Team haben Legendärer Leichtbau die das Leben vereinfachen sollen, es aber eben der «Renn-Giulia» den letzten Feinschliff ge- Die neue Giulia GTA kommt auch als GTAm- auch langweilig machen. geben. Man bildet sich ein, in der kompromiss- Version daher, das heisst als Zweiplätzer mit Es ist also nur folgerichtig, dass die Steige- los-aggressiven Linienführung der Armatu- Überrollbügel. Die Opferung der Rückbank rung der Giulia Quadrifoglio auf der wird belohnt durch eine höhere Steifig- Rennstrecke von Balocco, Piemont, keit des Automobils. Ein grosser Heck- erstmals das Licht der Öffentlichkeit spoiler aus Carbon sorgt für mehr An- erblickt. Mit der Giulia GTA schöpft pressdruck. Rennsportpuristen dürfte Alfa Romeo aus dem Erbgut der feuri- die Auswahl zwischen den beiden Mo- gen Giulia Quadrifoglio, züchtet die- dellen leichtfallen. Zumindest, wenn ses aber kompromisslos zur Höchst- sie rasch entschlossen sind. Die Stück- leistungsmaschine hinauf: Die Giulia zahl des GTA und des GTAm ist näm- GTA ist komplett in Leichtbauweise lich zusammen auf 500 limitiert, der gefertigt, mit einem grossen Schwer- Preis liegt bei 212 080 Euro für den punkt auf Carbon. Im Vergleich zur GTA, der GTAm schlägt mit zusätzlich Quadrifoglio bewirkt dies eine Ge- gut 5000 Franken zu Buche. wichtsersparnis von hundert Kilo- Das Buchstabenkürzel GTA steht für gramm. Hier ist viel Know-how aus der «Gran Turismo Alleggerita», was so viel Rennsportabteilung von Alfa Romeo wie «Gran Turismo in Leichtbauweise» eingeflossen, die sich im zürcherischen bedeutet. Bei Alfa Romeo geht die Be- Hinwil befindet und aus dem früheren zeichnung «Alleggerita» zurück auf Ingenieur- und Motorsportbetrieb von Das Rennfahrerherz schlägt höher. das von der Rennsportabteilung Auto- Peter Sauber hervorgegangen ist. Die 29 delta entwickelte Leichtbau-Coupé Jahre Formel-1-Erfahrung merkt man Giulia Sprint GTA, ein legendäres Fahr- auch den aerodynamischen Eigenschaften an. ren ihre Einflüsse zu erkennen. Der Klang des zeug der 1960er und 1970er Jahre. Mit ihm ge- Die Hinwiler Ingenieure von Alfa Romeo Ra- 540 PS starken Motors in Verbindung mit der wannen Rennfahrer wie Jochen Rindt, Harald cing Orlen haben Wunder vollbracht an dem Titan-Auspuffanlage von Akrapovic lässt die Ertl oder Jochen Mass wohl alles, was man ge- Auto, das seiner Karosserie nach auch als schö- brachiale Gewalt bereits beim Starten erahnen. winnen konnte! ne Reiselimousine durchgeht. Die sanfte Landschaft des Piemont verengt Was die Ausstattung angeht, ist der Alfa sich zu grünen Horizontstreifen, wenn man Romeo GTA durch und durch komfortabel Fast wie die Formel 1 das Gaspedal der Giulia GTA durchdrückt und und alltagstauglich gestaltet. Auf keine der Von der Giulia Quadrifoglio unterscheidet die das Gefährt in der Spitze auf bis zu 309 km/h liebgewonnenen Annehmlichkeiten muss Giulia GTA ein um 30 PS stärkerer Motor, die katapultiert. Vermutlich ist es eine vernünftige man wegen des Rennsport-Feelings ver- straffere Abstimmung des Fahrwerks und die Entscheidung der Alfa-Ingenieure, im «Dyna- zichten. Damit stellt das Auto eine nahezu un- Vergrösserung der Spurweite. Auch die Len- mic»-Modus das kurze Ausbrechen des Hecks verschämte Kreuzung aus Reiselimousine und kung wurde an diese adaptiert. Insgesamt er- elektronisch zu korrigieren. Im «Race»-Mo- Rennstrecken-Diva dar. Wenigen anderen Mar- geben sich grandiose Verbesserungen in der dus allerdings ist man auf sich selbst gestellt ken würde man eine so gewagte Kombination Kurvengeschwindigkeit. Womit man auch bei und sollte wissen, was man tut. Geübten Fah- durchgehen lassen. Den Fahrzeugbauern aus der Antwort auf die Frage wäre, warum Alfa rern ist es eine reine Freude, und das nicht nur Turin schon. Weil Alfa Romeo es kann.

64 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: zVg VIP-Spezialreise «Genussvolles Piemont» Trüffelzeit mit allen Sinnen Mit seinen kulturellen Sehenswürdigkeiten und kulinarischen Platin-Club-Spezialangebot Schätzen begeistert das Piemont alle, die das Schöne lieben. Die Weine Barolos, die Hügel von Asti und die weissen Trüffeln von VIP-Spezialreise «Genussvolles Piemont» Reisetermin: Alba – auf unserer 5-tägigen Exkursion geniessen Sie alle Facetten. 23. bis 27. Oktober 2021 Leistungen: Mächtige Berge, sanfte Hügel, blühende Täler Santa Maria Assunta. Auch kulinarisch • Flug Zürich–Mailand–Zürich und weite Ebenen: Inmitten dieser Land­ geniessen wir das Piemont in vollen Zügen, • Gebühren und Transfers • 4 Übernachtungen im 4-Sterne Hotel schaft locken verträumte Dörfer und altehr­ so etwa in einer typischen Trattoria. «Somaschi» in Cherasco, im Herzen würdige Städte. Wie könnte unsere Reise der Barolo Weinbauregion besser beginnen als mit einer Weindegusta­ Auch für eigene Erkundungen bleibt genü­ • 2 Abendessen im Hotel tion auf einem Landgut bei Asti. Sie wohnen gend Zeit, und auf Wunsch kann ein Ausflug • 2 Abendessen in Restaurants im 4­Sterne Hotel «Somaschi» in gepflegten nach Turin gebucht werden, wo die Geschäfte • Weindegustation • Ausflug Trüffelmesse in Alba, Barolo-Wein- Ambiente eines ehemaligen Klosters. Das an der Via Giuseppe Barbaroux oder die Kaf­ anbaugebiet und Castello di Grinzane Cavour Abendessen im Hotel krönt den ersten Tag. feehäuser zum Verweilen einladen. Nach dem • Ausflüge nach Asti und Mailand Abschieds­Abendessen in einem ausgesuch­ • Qualifizierte, Deutsch sprechende Als Nächstes erleben wir den Charme der Alt­ ten Restaurant verlassen wir das Piemont. Reiseleitung stadt von Alba. Faszinierende Bauten aus dem Letzte Station ist Mailand, die faszinierende Preis: Mittelalter und der Besuch der Trüffelmesse Metropole in der Lombardei. Der Palazzo Mit Weltwoche-Abo: Fr. 1750.– bringen uns zum Schwärmen. Danach geht Reale, der imposante Dom und das Teatro (pro Person im Doppelzimmer) Für Nichtabonnenten: Fr. 2050.– es nach Barolo, in die Heimat des weltbekann­ alla Scala hinterlassen bleibende Eindrücke. ten Weins. Die Fahrt durch die zauberhafte Optionen: • Einzelzimmerzuschlag: Fr. 240.– Hügellandschaft führt uns zur malerischen • Ausflug Turin: Fr. 85.– Ortschaft Grinzane Cavour. Dort besichtigen • Ermässigung Eigenanreise: Fr. 250.– wir das Schlossmuseum und erfreuen uns an Buchung: einer Weinverkostung. Reservieren Sie Ihr Arrangement über Telefon 091 752 35 20 oder per E-Mail an Zu den weiteren Höhepunkten zählt der [email protected] Rundgang durch Asti, die Stadt mit dem Veranstalter: berühmten Schaumwein und Sehenswürdig­ Mondial Tours MT SA, 6600 Locarno keiten wie der Kirche San Secondo, dem www.weltwoche.ch/platin-club Barock­Palazzo Alfieri oder die Kathedrale Grosse Pläne nach der Monster-Krise Der Zürcher Gastronom und Veranstalter Freddy Burger, 75, gibt wieder Gas – und bringt die Musik des Trio Eugster zurück auf die Bühne. Thomas Renggli

ls Freddy Burger Ende der 1960er Jahre die ersten Schritte im Showbusiness Amachte, war die Welt noch eine andere. Zürich galt als zwinglianisch streng. Zum Fei- ern ging man (wenn überhaupt) in den Keller. Musikalisch herrschte tote Hose. Freddy Bur- ger, der Arbeitersohn aus Schwamendingen und gelernter Hochbauzeichner, wollte dies ändern – «die Freizeit der Nachkriegsgeneration neu organisieren», wie er es beschreibt. Zum Mana- ger wurde Burger über seine Bekanntschaft mit Toni Vescoli, dem Frontmann von «Les Saute- relles», den Schweizer Beatles. Später gründete Burger den Zürcher Nachtklub «Blackout» und übernahm das «Mascotte», managte Pepe Lien- hard, Nana Mouskouri und Katja Ebstein. Seine vierzigjährige Zusammenarbeit mit Udo Jürgens ist sozusagen sein bedeutendstes Lebenswerk. Doch begonnen hatte die Karriere mit einem Verlustgeschäft. 1965 hatte Burger ein Konzert mit Cliff Richard im Zürcher Hallenstadion orga- nisiert – und ein Defizit von über 20 000 Franken eingefahren. «Es kamen nur 4000 Zuschauer», erzählt er. Seine erste Firma ging pleite. Es war eine Lektion, die Burger nie vergessen sollte. Es hinderte ihn aber nicht daran, seine Pläne kon- sequent weiterzuverfolgen und im nächsten hal- ben Jahrhundert einen Konzern mit zwanzig Fir- men im Show-, Gastro- und Eventbereich und 200 Festangestellten aufzubauen. Im Dezember 2019 feierte er im Theater 11 mit 600 Gästen sein Fünfzig-Jahr-Jubiläum im Showgeschäft. Das sei ein überwältigendes Erlebnis gewesen, denn zeit seines Lebens sei er den Platz hinter der Bühne gewohnt gewesen: «Ich bin dafür verantwort- lich, dass es den Stars an nichts fehlt und der or- ganisatorische und wirtschaftliche Rahmen op- timal stimmt. Als ich dann plötzlich selbst im Scheinwerferlicht stand, war dies wie ein klei- ner Schock.» Er habe sich davon erholen müssen, «Vielleicht so glücklich wie noch nie»: Unternehmer Burger. sagt er mit einem Lächeln. Im selben Jahr heirate- te er seine langjährige Partnerin Isabella Recker. Ausserdem konnte Burger als neuer Eigentümer «2019 war wohl das wichtigste und schönste Jahr verhängte der Bundesrat den Shutdown. Es war der Thunerseespiele das Musical «Ich war noch meines Lebens.» für Freddy Burger in doppelter Hinsicht ein niemals in New York» aufführen und das Fünf- Doch rund drei Monate später war alles an- schicksalhaftes Datum. An jenem schwarzen Frei- zig-Jahr-Jubiläum der Partnerschaft mit Pepe ders. Ein zuvor unbekanntes Virus aus China zog tag schleppte er sich unter schwersten Rücken- Lienhard feiern. Deshalb sagt Burger heute: dem öffentlichen Leben den Stecker. Am 13. März schmerzen in die Notfallaufnahme der Hirslan-

66 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: Joël Hunn/NZZ den-Klinik. Diagnose: Der zweite Lendenwirbel Projekt wieder runterfahren muss, ist dies emo- und ausserdem wissen wir nicht, ob das Publi- sei gebrochen – ein «Souvenir» eines Reitausflugs tional ein schwerer Schlag. Auch die Gastro- kum sofort wieder zurückkehrt. Besonders auf- auf der Hochzeitsreise in Südamerika. Doch nun betriebe sowie unsere Künstlervermittlungs- grund der neuen Virusmutationen ist die Ver- geht es Burger wieder deutlich besser. Zum Ge- agentur Andreas & Conrad wurden von den unsicherung noch gross. In der Gastronomie spräch über die aufwühlenden vergangenen Mo- Covid-Massnahmen schwer getroffen. Einzig war ein Bereinigungsprozess aber kaum zu nate und den freudigen Blick in die Zukunft emp- unsere Fernsehproduktionsfirma B & B Ende- verhindern. Schon vor der Pandemie schrieben fängt er an seinem Geschäftssitz an der Zürcher mol Shine blieb weitgehend verschont. 50 Prozent der Restaurants rote Zahlen. Carmenstrasse. Weltwoche: In der Eventbranche sind viele Weltwoche: Wird das Publikum wieder be- Arbeiter auf Abruf beschäftigt. Wie gingen Sie denkenlos an Grossevents strömen? Die Fuss- Weltwoche: Freddy Burger, wie geht es Ihnen? mit solchen Fällen um? ball-Euro deutet darauf hin. Freddy Burger: Danke, gesundheitlich wie- Burger: Für viele Teilzeitarbeiter und Künst- Burger: Das wird sich weisen. Uns macht aber der viel besser, und privat bin ich vielleicht so ler konnten wir ebenfalls Kurzarbeitsent- vor allem das sich abzeichnende Überangebot in glücklich wie noch nie. Geschäftlich blicken wir schädigung beantragen. Aber natürlich hat die der Eventbranche Sorgen. Bei den Veranstaltern auf die wohl schwierigste Zeit meines Lebens Krise diese Menschen besonders hart getroffen. besteht ein Nachholbedarf. Ob dies beim Pub- zurück. Die Corona-Krise hat uns wirtschaft- Insgesamt befanden sich bei uns 200 Mitarbeiter likum auch so ist, wissen wir noch nicht. Die lich hart getroffen. Von einem Moment auf in Kurzarbeit. Frage ist: Gibt es genügend Zuschauer für all den anderen waren wir ohne Einnahmen – für Weltwoche: Gab es Schliessungen und Ent- die Shows, die 2022 stattfinden werden? rund anderthalb Jahre. Glücklicherweise konn- lassungen? Weltwoche: Welches sind Ihre nächsten te durch die staatliche Unterstützung in Form Burger: Wegen Corona gab es keine Schlies- ­Projekte? von Kurzarbeitsentschädigungen für das Perso- sungen. Im Entertainment haben wir unser Burger: Die Schweizer Premiere von nal, Ausfallkompensationen im Bereich Kultur Personal aber um zwanzig Prozent reduziert. Mummenschanz im Theater 11 – exakt fünfzig und Härtefallgeldern für die übrigen Betriebe Den Entscheid, aus der Gastronomie auszu- Jahre nach meiner ersten Premiere. Das ist für der wirtschaftliche Schaden abgefedert werden. mich ein sehr emotionales Ereignis. Dazu kom- Aber es war eine Situation, mit der niemand ge- «Das nächste Jahr wird men die «Rocky Horror Picture Show», das Gast- rechnet hatte. Ich bin ein Mensch, der vorsichtig für viele Betriebe spiel der Perkussionsband Stomp sowie Disneys kalkuliert und nicht über die Stränge schlägt. «Die Schöne und das Biest» und weitere Shows, Auch deshalb besassen wir genügend Reserven, wegweisend sein.» die noch nicht im Vorverkauf sind. Unser gröss- um mit einem blauen Auge davonzukommen. tes Highlight ist aber eindeutig unsere erste Weltwoche: Apropos über die Stränge schla- steigen, fiel schon vor der Pandemie. In die- Eigenproduktion im Theater 11: das Trio-Eugs- gen: Gibt es für Showmanager auch so etwas wie sem Geschäftsbereich bin ich nur noch in zwei ter-Musical «Oh läck du mir». Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll? ­Projekten, in Partnerschaft mit Rudi Bindella, Weltwoche: Was darf man davon erwarten? Burger: Bei mir nicht. Ich habe nie im Über- involviert. Burger: Sozusagen ein Denkmal für die viel- mass getrunken und nie geraucht. Das heisst: Weltwoche: Sind Sie versichert? leicht erste Boygroup der Schweiz und eine ur- Einmal zog ich in meiner Jugend an einem Joint. Burger: Nur in kleinem Umfang. schweizerische Geschichte, die ewig gültig ist Danach war mir derart schlecht, dass ich für Weltwoche: Wie sind Sie mit dem Krisen- – eine unterhaltsame Milieustudie über die Ver- immer die Finger davon liess. Aber ich habe in management der Behörden zufrieden? rücktheiten des Alltäglichen und das Zusammen- meinem Berufsleben alle Dinge gesehen, die man Burger: Wie bereits erwähnt, haben uns leben verschiedenster Charaktere in einer Klein- eigentlich nicht sehen möchte. Auch deshalb war die Behörden mit den verschiedenen Unter- stadt: Diese Geschichte wird getragen von den es für mich klar, dass ich nie in einem Zustand stützungen wirtschaftlich sehr geholfen. Ohne grossartigen Liedern der Dübendorfer Brüder, sein möchte, in dem ich die Kontrolle verliere. diese Hilfsleistungen hätten wir diese Extrem- deren Texte in den Sprachgebrauch eingegangen Weltwoche: Corona allerdings brachte Sie zu- situation wohl kaum durchstehen können. und zum Schweizer Kulturgut geworden sind. mindest wirtschaftlich an den Rand des Kontroll- Weltwoche: Wie lange wird es dauern, bis die «Oh läck du mir» – der Titel ist Programm. verlusts. Welche Betriebe sind konkret betroffen? Branche wieder auf dem alten Stand ist? Weltwoche: Ab wann legen Sie damit los? Burger: Praktisch alle. Das Musical «Body- Burger: Schnell wird das kaum gehen. Im Burger: Die Show feiert am 24. September guard» hätte im März 2020 noch vier weitere Entertainment rechnen wir mit zwei bis drei 2022 Premiere in Oerlikon. Vorgesehen sind Wochen im Theater 11 gespielt werden sollen – Jahren, bis wir wieder auf einem ähnlichen rund sechzig Vorstellungen bis Ende November dieses musste dann aber noch am gleichen Abend Stand wie zuvor sein werden. des nächsten Jahres. Hinter dem Musical stehen den Betrieb einstellen. Ausserdem mussten wir Weltwoche: Gibt es auch Positives, das man Top-Leute: Charles Lewinsky als Autor, die Eugs- weitere Veranstaltungen wie beispielsweise ein aus dieser Zeit mitnehmen kann? ters mit ihrer Musik, Stefan Huber als Regisseur, Filmkonzert im Hallenstadion absagen und die Burger: Die Veranstaltungsbranche ist zu- sein Vater war übrigens quasi der vierte Eugster, «Rocky Horror Picture Show» sowie weitere Ver- sammengerückt. Solidarität und Loyalität waren der das Trio auf dem Klavier begleitete – sowie anstaltungen auf Ende des laufenden Jahres ver- keine leeren Worte. So konnte man gerade in der Kai Tietje als musikalischer Leiter. Dabei handelt schieben. Die Thunerseespiele mit dem Stück Zusammenarbeit mit den Behörden im virtu- es sich um eine Grossproduktion mit über zwan- «Io senza te» mussten wir sogar zweimal neu ellen Bereich einiges miteinander erreichen. Es zig Darstellern und einem elfköpfigen Orches- ansetzen. Das war für alle Beteiligten sehr zer- wäre schön, wenn dieser Zusammenhalt auch ter. Es ist eine Herzensangelegenheit – aber ich mürbend. Die Aufführungen werden nun aber nach der Krise bestehen bliebe. investiere auch viel Geld und gehe ein Risiko ein. im Sommer 2022 über die Bühne gehen. Was Weltwoche: War ein Bereinigungsprozess Weltwoche: Dabei könnten Sie eigentlich das uns besonders schmerzte: Wir hatten den Zu- nicht überfällig? Rentnerleben geniessen. Gibt es kein Pensions- schlag erhalten, das 150-Jahr-Jubiläum der Zür- Burger: Ob es im Unterhaltungsbereich alter für Showmanager? cher Kantonalbank zu organisieren. Da steckten einen Bereinigungsprozess geben wird, muss Burger: Ich sage immer: Mein Beruf oder eine dreijährige Vorbereitungszeit und ganz viel sich noch zeigen. Das nächste Jahr wird für besser meine Berufung ist es, andere Menschen Herzblut dahinter. Wenn dann am Schluss die viele Betriebe wegweisend sein. Denn nun fal- glücklich zu machen. Das mache ich seit über ganze Arbeit für nichts war und man das ganze len die staatlichen Unterstützungsgelder weg, fünfzig Jahren. Damit will ich nie aufhören.

Weltwoche Nr. 30.21 67 Bonnie und Clyde des Motorsports: Dane Rowe und Rudi Kurth Anfang der siebziger Jahre. Ein Leben wie ein Grand Prix Die Ballade von Tüftler Rudi und Töff-Engel Dane, die zwischen Motorenlärm und verbranntem Gummi die ewige Liebe fanden und jeden Tag ein bisschen die Welt verändern. Urs Gehriger

ane geht langsam durch das Fahrer- in wenigen Stunden fährt sie ihr allererstes nem CAT-Mobil. «Ein Schweizer», denkt Dane, lager in Bourg-en-Bresse. Auf dem internationales Rennen in der Seitenwagen- «die sprechen alle Französisch, das hat doch DCircuit heulen die Motoren, und in klasse. unsere Französischlehrerin in Lancashire oben der Luft hängt der Geruch von verbranntem «Geh rüber zu Rudi Kurth», sagte Pilot Bill gesagt.» Gummi. Dane schreitet an den Wohnmobilen Copson zu Dane, als er merkte, dass ihm das «Est-ce que vous avez de huile hydrauli- vorbei. Sie spürt die Blicke auf ihrem schlan- Bremsöl ausgegangen war. Auf der Rennpiste que?», fragt sie mit holprigem Akzent. ken Körper. Sie trägt ein abgewetztes Leder- herrscht ein unerbittlicher Krieg. Aber am Rudi dreht sich um und schaut unter sei- kombi, das eng anliegt wie der Catsuit von Streckenrand hilft jeder jedem, wie in einer ner braunen Mähne hervor. Seine dunklen Emma Peel. Lautlos ist sie in die Männer- grossen Familie. Augen weiden an Danes halbgeöffneten Lip- domäne eingedrungen, ist die einzige Frau Dane steht jetzt vor Rudis Camp. Er bemerkt pen, und er setzt ein breites Grinsen auf. «Was in dieser Welt der Machos und Motoren, und sie nicht, seine ganze Aufmerksamkeit gilt sei- ist denn?»

68 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: zVg Dane wird noch ein halbes Jahrhundert spä- Rudi und Dane sind das Dream-Team im Gabe, zu erkennen, wie man Dinge verbessern ter zittern, wenn sie an diesen Moment denkt. Rennzirkus. Bonnie und Clyde des Motor- kann. Schlanker, schnittiger, schneller wird Das Mädchen aus Blackpool, das von der Mut- rennsports. Sie reisen mit einem Citroën DS sein Renngefährt, «une bombe anatomique», ter mit dem eisernen Schürhaken geschlagen Kombi von Rennen zu Rennen. Er raucht Life, schwärmt ein Töffmagazin. Seine Rivalen spä- wurde, in die Obhut der Grossmutter kam, sie Benson &Hedges. Weil sie nicht die 55 Kilo hen in seine Werkstatt. Doch sobald sie ihm mit dreizehn beim lokalen Töff-Mech den Ge- Mindestgewicht auf die Waage bringt, baut auf die Schliche kommen, hat Rudi zehn neue ruch von Motorenöl atmete und sofort süchtig Rudi eine Bleiplatte in den Seitenwagen. Ideen ausgeheckt. wurde, sich Helm und Lederkombi besorgte Bei Rudi ergibt sich alles organisch, aus dem und an der Rennstrecke auf ihre Chance war- Schlanker, schnittiger, schneller Alltag heraus. Nachdem er sich einen Ranzen tete, ist jetzt wie vom Blitz getroffen. «Dieser Mit jedem Tag wächst Danes Bewunderung angefressen hat, kauft er ein Velo. Aber das Ge- Mann», weiss Dane, «wurde für mich in die für Rudi. Rudi, der in der Schule immer zu- fährt passt ihm nicht. Er entwirft einen aero- Welt gesetzt.» dynamischem Kohlenfaser­ Zehn Wochen später ist ihr epoxyrahmen und revolutioniert Flugzeug im Anflug auf Basel. kurzum die Rennradtechnik. Es ist der 20. Juli 1969. Die ganze «Cheetah» nennt er seinen Racer, Welt sitzt gebannt vor dem nach dem schnellsten Tier auf Fernseher. Als Neil Armstrong Erden. Natascha Badmann hört als erster Mensch den Fuss auf von der Raubkatze. Sie besucht den Mond setzt, betritt Dane Rudis Werkstatt und ist hin Rowe zum ersten Mal Schweizer und weg. Vier Mal wird sie auf Boden. Draussen auf dem Park- der «Cheetah» Weltmeisterin im platz wartet Rudi in einem Lotus Ironman. Elan, den er für diesen Tag aus- Rudi will immer weiter, höher. geliehen hat. Er will ein Flugzeug bauen. «Zu- In Bourg-en-Bresse hatte sie erst brauchen wir ein Haus», ihn abgehängt und auf Anhieb sagt Dane. Sie kaufen sich ein ihr erstes Rennen gewonnen, altes Bauernhaus in Busswil bei aber jetzt hat er sie. Er fährt Biel. Der Stall wird zur Werk- sie zu sich heim nach Jens im statt umgebaut. Seit einem hal- ­Berner Seeland. Der Wind weht ben Jahrhundert entstehen hier durch das offene Fenster, und die verrücktesten Modelle. Ein ihr schulterlanges, braunes Segel, das sich von selbst wen- Haar wallt wunderschön im det. Ein Snowmobil, das sich Wind. Rudi schwört sich, dass er in der Kurve neigt. Das «Spirit sie nie, nie mehr hergeben wird. of Biel», das beim World Solar Das kann auch Frau Weber aus Challenge durch Australien für dem Dorflädeli in seinem Kaff Furore sorgt. nicht verhindern, die zwei Mal Was Rudi anfasst, macht er zu die Fremdenpolizei anruft, Gold. Aber reich wird er dabei weil Dane die erlaubte Aufent­ nicht. Er ist gegen das Patentie- haltszeit überschritten hat. ren. «Wenn einer eine gute Idee Zwei Mal wird sie ausgewiesen. hat, soll sie der Allgemeinheit zu- Und immer kehrt sie wieder gutekommen», sagt der Mann, ­zurück. der wie ein Rohrspatz über Sozis Als sie heiraten, wirft Dane und Grüne flucht und nieman- ihren britischen Pass ins Feuer dem auf die Schultern stehen und brät einen Cervelat darü- will, um nach oben zu kommen. ber. «Ig liäbä das Land», wird sie Rudi und Dane sitzen auf der dereinst in breitem Berndeutsch Couch in ihrer einfachen Stube, die über die Schweiz sagen, «wenn «Meine absolute Nummer eins»: Dane und Rudi in Busswil. dunkel ist wie eine Räuberhöhle, würd ä Chriäg usbrächä, würdi- in der im offenen Kamin kalte mi sofort mäudä.» Asche liegt und es nach Rauch Von jetzt an fährt Dane an der Seite von hinterst sass, mit dem «Shit» der Klasse, wie riecht. Das Alter ist ihnen gnädig gestimmt. Der Rudi. Oder er an ihrer. So genau kann man er sagt, der in der Berner «Lädere» Spengler seidene Glanz ist aus ihrem Gesicht verblichen, das nicht sagen. Ihre Rollen sind perfekt auf- lernte, tüftelt pausenlos. Bereits als Teenager aber die feinen Züge sind geblieben. Er hat schloh- einander abgestimmt. Er drückt seinen Helm baut er eine superleichte Karosserie für den weisses Haar, und aus seinen tiefliegenden Augen tief unter die Windschutzscheibe, sie hängt Fiat-600-Sportwagen, er konstruiert Renn- funkelt flegelhafter Schalk. ihren Körper akrobatisch nur Millimeter über gespanne für Scheidegger Fritz, den Seiten- Was war es damals, vor 52 Jahren auf dem Cir- den Asphalt. Die beiden sind nicht mehr zu wagen-Champ aus Langenthal. Dann steigt er cuit de Bresse, als Dane bei Rudi das Bremsöl trennen. Als sie sich drei Tage nach der Hoch- selbst ins Rennen. Er baut einen Bootsmotor holen ging? zeit am Nürburgring überschlagen und sich in sein Mobil und schockt die Konkurrenz mit «Es war Liebe auf den ersten Blick», sagt sie. die Knochen brechen, legt man sie im Spital dem flachsten Seitenwagen der Welt. Rudi ist «Ich wollte einfach mit ihr ins Näscht», er- nebeneinander ins Zimmer. kein Erfinder im klassischen Sinn. Er hat die widert er trocken. ›››

Weltwoche Nr. 30.21 69 Bild: Remo Nägeli für die Weltwoche Zehn Ideen voraus: «Spirit of Biel».

«Gold-Katze» von Ironman-Siegerin Badmann. «Ein absolutes Sweetheart»: Dane mit Lemmy Kilmister von Motörhead.

«Männer!» Sie schüttelt den Kopf. Lemmy kannte Dane seit ihrer Kindheit. Die Mit über achtzig denkt Rudi keine Sekunde an Dann schweigen sie einander an und lächeln. beiden stammen aus derselben Ecke Englands. Pension. Stolz zeigt er sein neustes Projekt. Ein Und heute? Er wusste, dass sie ein sauberes Mädchen ist. Sie einspuriges Fahrzeug für zwei Passagiere mit «Wir sind zwei Einzelwesen, die zusammen- trafen sie sich im legendären «The 59 Club», Elektromotor und tausend Kilometer Reich- gehören», sagt Rudi. dem Rocker-Mekka in London. Später holte weite. Schlank wie eine Segelflugkabine, soll «Wie Toast and Marmelade», ergänzt Dane. Dane Motörhead und viele andere Metal-Bands es sich dereinst durch den Verkehr schlängeln Rudi verbringt sieben Tage die Woche in der in die Konzertfabrik «Z7» in Pratteln. – auf bloss zwei Rädern, und fällt bei Still- Werkstatt am Hirnen, Skizzieren und Pröbeln. stand an der Ampel trotzdem nicht um. «Es Dane beugt sich über ihr Mikroskop und ana- Lemmys Brief ist kreiselstabilisiert», sagt Rudi mit glänzen- lysiert römische Münzen. Vor wenigen Mona- «Er war ein absolutes Sweetheart», sagt den Augen. ten hat sie ein vierbändiges Standardwerk über Dane über Lemmy, der 2015 an Krebs starb. Und so dreht die Uhr ihre Runden. Zu- Bronzemünzen aus Lydien herausgegeben. Sie liebte seinen trockenen Humor. Er teilte sammen machen Rudi und Dane die Welt per- Die Summe jahrelanger Recherche. Dane hat ihre Faszination für Geschichte und das bri- fekter, jeden Tag ein bisschen. viele Talente. Sie spricht fünf Sprachen. Sie tische Königshaus. Sie hat noch einen Brief Wie sind sie so weit gekommen, zu zweit? übersetzt. Hat Englisch und Geschichte stu- von ihm, den sie hütet wie einen Schatz. Es Was ist ihr Geheimnis? diert. Eigentlich ist sie ausgebildete Foto- ist eine Verteidigungsschrift für Richard III., Schweigen. journalistin, hat Rockstars von Little Richard dem vorgeworfen wurde, er habe seine Nef- «Das mit dem Bumsen nimmt mit den Jah- bis Metallica fotografiert. «Du kannst dir nicht fen ermordet, um König zu werden. «Den ren ab», sagt Rudi in einem stillen Moment in vorstellen, wie anstrengend das ist für mich, seiner Werkstatt. Und irgendwann kommt die dauernd auf ihrem Niveau mitzuhalten», sagt Die Giganten am Metal- und Zeit, da sich die Begierde schlafen legt und der Rudi und lacht. Motor-Himmel – Dane und Rudi wahren Liebe Platz macht. Wenn er sich mit dieser begehrenswerten «Ich habe ungeheure Hochachtung vor Frau durch die Männerwelt bewegte – muss- haben sie alle gekannt. Dane», sagt er leise. te er nicht ständig die Typen mit einem «Er ist meine absolute Nummer eins», er- Schraubenschlüssel wegprügeln? Dane schüt- werde ich nie veröffentlichen», sagt sie. «Das widert Dane. telt den Kopf. «Die Männer waren immer an- ist mein Brief an Richard III., geschrieben in Hinter dem Haus braust ein Zug auf der ständig zu mir.» Selbst Lemmy Kilmister, der alter englischer Sprache, von Lemmy, auf gel- Bern-Biel-Strecke vorbei. Auf dem Herd ko- röhrende Frontmann von Motörhead, hielt bem Papier.» chen Rüebli aus dem Garten. Ein paar Häuser seine schützende Hand über Dane. Als sie ein- Die Giganten am Metal- und Motor-Himmel: weiter oben legen Tochter und Schwiegersohn mal im Tourbus der Band sass und Gitarrist Barry Sheene, Mike Hailwood, Phil Read, Va- das Grosskind ins Bett. Zwischen Prototypen Phil «Wizzö» Campbell eine Tüte mit Speed lentino Rossi und wie sie alle heissen – Dane und römischen Münzen hat sich hier vor einer aus der Tasche zog und sie Dane reichte, flippte und Rudi haben sie alle gekannt. Viele sind halben Ewigkeit das Glück eingenistet, und es Lemmy komplett aus. «Wage es ja nicht, Dane schon lange tot. Und an Veteranentreffen gehen sieht ganz danach aus, als möchte es noch eine so etwas anzubieten.» sie nicht. Ihr Blick ist in die Zukunft gerichtet. Weile bleiben.

70 Weltwoche Nr. 30.21 Bilder: zVg Das Sushi und die Guten Selbst ökologisch Bewusste sind überzeugt, dass sie ab und zu etwas rohen Tunfisch verdient haben. Das ist falsch. Wir sollten uns mehr Gedanken übers Essen machen. Vor allem muss es teurer werden. Marius Frehner

ir leben gesund, fahren Velo, er- Gipfel nähren uns vorwiegend vegeta- der Absurditäten. Wrisch, kaufen Bio-Gemüse, aber etwas Sushi darf es dann ab und zu schon sein. Ich möchte niemandem vorschreiben, was er zu essen und wie er zu leben hat, aber in der Schweiz Sushi zu essen, ist für mich der Gipfel der kulinarischen Absurditäten. Dabei geht es gar nicht in erster Linie um öko- geben durchaus Sinn: Wenn wir sie in unserer dukte mit hohem technischem Aufwand schein- logische oder moralische Fragen, sondern um Evolution nicht entdeckt hätten, würden wir bar zu Gerichten zu veredeln, sondern unseren qualitative und geschmackliche Aspekte. Ich immer noch mit Keulen aufeinander losgehen. Gästen konsequent die besten Karotten der Sai- habe einige Jahre in Valencia gearbeitet, Fisch Vegetarier sollten wissen, dass Bio-Eier oft von son oder nur Fleisch von Tieren zu servieren, von haben wir jeweils direkt am Hafen von den Hochleistungshühnern stammen, die ein hal- denen wir genau wissen, was sie gefressen haben. Fischern gekauft. Während meiner Lehre im bes Jahr unter Volllast produzieren und dann Wenn sie gut sind, gibt es für mich keine ver- Hotel «Greulich» wurde uns etwa ein Mal im geschreddert als tierischer Abfall enden. Für botenen Produkte, man kann alles servieren, Jahr ein ganzer spanischer Tunfisch geliefert. mich ist das kein Musterbeispiel fleischfreier wenn es nach allen Regeln der Kunst nachhaltig Das war mein erster Kontakt mit diesem Pro- Ernährung. produziert wurde. Mein Gemüse beziehe ich dukt, und wenn ich das vergleiche mit dem, was Viele Leute können es nicht besser wissen, von einem Bauern, der seit vierzig Jahren nach heute als Sushi-Tunfisch verkauft wird, weiss aber wir Profis haben die Verantwortung, Demeter-Regeln arbeitet. Ich kaufe nur ganze ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. genau hinzusehen. In meinem Restaurant Tiere, die nur mit Gras und Heu verfüttert wer- gibt es fast nie Fisch. Vom Fischer Braschler den. Zurzeit servieren wir ein Rassenhuhn, das Das Warten ist der wahre Luxus aus Hurden bekomme ich manchmal eine La- so schmeckt wie zu Zeiten von Auguste Escof- Die meisten Leute mögen es gar nicht, wenn dung Krebse, die sich invasiv im Zürichsee ver- fier, dem Erfinder der französischen Haute Cui- Tuna nach Meer riecht, an den Sushi-Theken breiten und von dort eigentlich wieder ent- sine Ende des 19. Jahrhunderts. Die Brust hat werden stattdessen charakterlose Fischstücke fernt werden sollten, weil sie heimische Arten festes, nicht allzu zartes und helles Fleisch, und in Reis und Algen verpackt, oder man kaschiert verdrängen. Aus den Krebsen koche ich mit die Schenkel sind dunkel und erst geniessbar, die Geschmacklosigkeiten als «California Roll» meinem Kollegen Markus Burkhard Bisque, wenn man sie lange geschmort hat. mit allerlei Zutaten. Fisch zu essen, ist eine Ent- die wir unter dem Label «Le Torchon bleu» Mir ist bewusst, dass ich wohl nie einen Stern scheidung, aber oft scheint mir, es stecke dahin- verkaufen. bekomme mit der Art, wie ich koche. Ich möchte, ter eine irgendwie egoistische Grundhaltung: Die Natur liefert nicht jedes Produkt zu jeder dass mein Essen den Gästen schmeckt. Und vor Man lebt gesund, verantwortungsbewusst und Zeit in perfekter Qualität. Die zwei Wochen, in allem will ich zeigen, dass man sich von einem ge- moralisch integer, da kann man sich auch mal denen es wirklich guten Spargel gibt, sind eine wissen äusseren Druck befreien, verantwortungs- Nigiri oder Sashimi leisten, schliesslich hat kurze Zeit, auf die ich mich jedes Jahr wie ein klei- voll und gleichzeitig profitabel arbeiten kann. man es sich verdient. nes Kind freue. Denn eigentlich ist das Warten der Das hat vielleicht mit etwas Verzicht zu Dogmatismus liegt mir fern, mir geht es um wahre Luxus in der Küche. Das Grundproblem tun, aber nicht jedes Wachstum ist grundsätz- Qualität. Viele Ernährungstrends kippen schnell bei dem ganzen Thema ist der Preis. Lebensmittel lich gut und notwendig. Es gibt vieles, was ich ins Extreme. Wer vegan isst, wird dadurch nicht waren im Verhältnis zu den Löhnen noch nie so schön finde, aber es ist mir nicht wichtig genug. automatisch zum besseren Menschen. Denn die günstig in der Schweiz wie heute. Während sich Einen Porsche aus den sechziger Jahren zu fah- Frage, ob die unter hohem Energieeinsatz in- seit meiner Lehre die Preise für Immobilien fast ren, fände ich toll, aber mein Glück ist nicht dustriell hergestellten Proteine aus Erbsen oder verdoppelt haben, ist ein Menü heute immer abhängig davon. Mein Antrieb ist, dass mein Soja wirklich besser sind als eine glückliche, fur- noch etwa gleich teuer wie 2003. Ich bin kein Geschäft nachhaltig ist in dem Sinne, dass es zende Kuh, scheint mir nicht restlos geklärt. Ökonom, aber das kann eigentlich gar nicht sein. langfristig funktioniert. Es ist gut, wenn das Bewusstsein für die Er- nährung grösser wird, aber es braucht eine Ein Huhn wie zu Escoffiers Zeiten Marius Frehner ist seit fünf Jahren Inhaber und differenzierte Betrachtung. Bio- und Deme- Lebensmittel müssen teurer werden, Essen im Küchenchef des Restaurants «Gamper» in Zürich und ist ter-Produkte vom Grossverteiler sind nicht Restaurant hat seinen Wert. Wir Köche sind dafür ausgezeichnet mit 15 Punkten im «Gault Millau». automatisch besser. Und tierische Eiweisse er- verantwortlich, nicht bloss mittelmässige Pro- Aufgezeichnet von David Schnapp

Weltwoche Nr. 30.21 71 Bild: mashe/Adobe Stock In Frankreichs heiligen Hainen Der Zürcher Lucas Albers hat das geschichtsträchtige Plateau Napoléon in Grasse gekauft. Wie ist ihm dieser Coup gelungen? Und was hat er dort nun vor? Erik Ebneter

ir stehen auf einem Aussichtspunkt schlossen sich dessen Truppe an. Drei Wochen len 1798 im Land ein und versetzten der alten an der Riviera, hoch über der Parfüm- später betrat Napoleon den Palais des Tuileries Eidgenossenschaft den Todesstoss. Fünf Jahre Wstadt Grasse. Das blonde Licht Süd- und herrschte noch einmal über Frankreich. und zwei Verfassungen später überliess Napo- frankreichs fällt auf jahrhundertealte Eichen. Der sogenannte Adlerflug («vol de l’Aigle») leon die Schweizer genervt sich selber. «Glück- In unserem Rücken ruht ein mächtiges Stein- zählt zu den grossen Comebacks der Welt- liche Ereignisse haben mich an die Spitze der haus, vor uns entfaltet sich ein Panorama von geschichte, auch wenn dieses Comeback nur französischen Regierung berufen», erklärte er, fast surrealer Schönheit: Cannes wirkt von hier hundert Tage währte. Im Juni 1815 verlor Na- «und doch würde ich mich für unfähig halten, wie eine weisse Spielzeugburg. Dahinter schim- poleon die entscheidende Schlacht von Water- die Schweiz zu regieren.» Wenn man so will, mert das Mittelmeer. loo gegen die Briten und Preussen. Seine letz- räumte er damit erstmals eine Niederlage ein. An diesem erhabenen Ort versammelte Napo- leon Bonaparte am 2. März 1815 seine Männer Wie ein englischer Bohémien zum Marsch nach Paris. «Der Adler mit der Tri- Dass der Ausgangspunkt seiner Wiederkehr, der kolore wird von Kirchturm zu Kirchturm flie- grandiose Aussichtspunkt oberhalb von Grasse, gen bis zu den Türmen von Notre-Dame», ver- heute einem Schweizer gehört, ist so gesehen kündete der abgesetzte empereur, eben aus dem eine schöne List der Geschichte. Vor fünf Jah- Exil in Elba zurückgekehrt, ungebrochen selbst- ren kaufte Lucas Albers das 30 000 Quadrat- bewusst, ungebrochen optimistisch. meter grosse Grundstück, genannt Plateau Na- poléon. Dort baut er nun mit einem Partner Napoleons blanke Brust ein Dörfchen, einen hameau, wie es auf Franzö- Die Wirklichkeit war weniger prächtig. Die sisch heisst, für Kulturmenschen, Künstler und tausend Mann, die er aus Elba mitgebracht Sache der nationalen Ehre: Lebenskünstler, also für Leute wie ihn selber. hatte, waren ausser Form. Der letzte Einsatz, An diesem Punkt stand Napoleon. Albers, 60, war Manager des Zürcher Foto- die Schlacht bei Paris, lag fast ein Jahr zurück. grafen Michel Comte, arbeitete auch für Franca Wenn die Truppe in der Nacht weiterzog, meist Sozzani, die ehemalige Chefredaktorin der Vogue auf Nebenstrassen, um weniger Aufmerksam- ten Jahre verbrachte er in Verbannung auf der Italia, die in den neunziger Jahren das Konzept keit zu erregen, zerfiel sie bald in kleine Grüpp- Atlantikinsel St. Helena. Einsam starb er 1821. der Supermodels erfand und Mode als Kunst chen. Jeder ging in seinem Tempo. Nur wenige inszenierte. Er reiste um die Welt, besuchte Glückliche hatten ein Pferd. Besatzer oder Befreier? ­Kunden und Freunde aus der Mode- und Kunst- Einem ersten Hindernis begegnete diese Kara- Zwei Jahrhunderte später ist Napoleon all- szene und lebte zwischendurch immer wieder wane der Hasardeure am 7. März in Laffrey, rund gegenwärtig. In Frankreich hat er längst auf einem alten Holzschiff vor Cap Ferrat, «low 270 Kilometer nördlich von Grasse, in der Nähe Heiligenstatus. Seine Gebeine werden im key», wie er sagt, «zum Runterfahren». von Grenoble. Eine Infanterieeinheit des neuen ­Invalidendom zu Paris aufgebahrt, doch sein Im Auftreten erinnert Albers an die englischen Königs Louis XVIII hatte den Weg abgeriegelt Ruhm reicht weit über Frankreich hinaus. Mehr Bohémiens, die an der Riviera hier und dort an- und sollte Napoleon am Weiterkommen hin- als eine Million Bücher soll es über Napoleon zutreffen sind: nachlässig-elegant, unterhalt- dern, notfalls mit Gewalt. geben. Kein anderer Mensch hat mehr Schrift- sam, ausnehmend freundlich. In Wirklichkeit Was nun passierte, war selbst für dieses un- steller zu Biografien, Romanen und Theater- stammt er aus bester Zürcher Familie, mit Vor- ruhige Zeitalter dramatisch: Napoleon ritt vor, stücken inspiriert. Allein im Jubiläumsjahr fahren aus Preussen und den Niederlanden. hielt eine kurze Rede, erntete aber nur Schwei- 2021 sind unzählige Werke erschienen. Es gibt sogar eine Verbindung zu Napoleon:­ gen. Da riss er seinen Mantel auf, öffnete sein Dass Napoleon die Menschen immer noch Ein Vorfahre mütterlicherseits, der Bankier Hemd und rief, mit blanker Brust auf seinem fasziniert, liegt auch an seinem widersprüch- Pierre César ­Labouchère aus Amsterdam, ge- Pferd sitzend, die Soldaten sollten ihn, ihren lichen Wirken. Rücksichtslos eroberte er frem- noss das Vertrauen des französischen Kaisers Kaiser und Souverän, hier und jetzt erschiessen de Länder und setzte dort bürgerliche Rechte und reiste in dessen Auftrag nach London. Dort – worauf sie noch warten würden, allez-y! durch. War er Besatzer oder Befreier? Sowohl sollte er die britischen Bedingungen für einen Innert Sekunden schlug die Stimmung um. als auch? Weder noch? Die Historiker streiten Frieden mit Frankreich sondieren. Der Pass, der Die Infanteristen, gerade noch treue Verteidiger sich bis heute. dafür nötig war – unterzeichnet von Napoleon der königlichen Ordnung, brachen in Jubel aus, Auch die Geschichte der Schweiz ist eng persönlich –, gehört heute zum Familienschatz huldigten dem Kaiser («Vive l’empereur!») und mit Napoleon verknüpft. Seine Truppen fie- der Barrier­ (so der Ledigname der Mutter). ›››

72 Weltwoche Nr. 30.21 Diskreter Universalismus der Schweiz: Kulturunternehmer Albers.

Weltwoche Nr. 30.21 73 Bilder: Rebecca Marshall/laif für die Weltwoche «Gute Leute, gute Zeit»: Albers (r.) mit Mediterrane Stimmung des Lebens: Marineoffizier und Ehrenlegionär: Pierre Barrier (l.), Jean-Luc Galantini. Steinhaus auf dem Plateau Napoléon. Vorbesitzer Jean-Paul Guitry.

Inzwischen sind die preussischen Albers und Der Mann hiess Jean-Paul Guitry und hatte in davon einzuhalten. «Guitry dachte sich wohl, die niederländischen Barrier längst schon in eine alte Parfümeur-Familie aus Grasse ein- der Schweizer wird es schon recht machen.» der Schweiz ansässig, wo sie erfolgreich im geheiratet. Diese war seit Jahrhunderten im Be- Offenbar war sich Guitry der Sache sicherer als ­Immobiliengeschäft tätig sind. Und diese sitz des Grundstücks. Ein Vorfahre hatte Napo- Albers selber. Ein paar Tage nach diesem Tref- Schweizer Herkunft sollte sich für Lucas leon und dessen Soldaten noch persönlich das fen im Mai 2016 erhielt Albers einen Anruf – er ­Albers beim Kauf des Plateau ­Napoléon als ent- Tor geöffnet. war gerade auf seinem Schiff vor Cap Ferrat. Der scheidend herausstellen. Inzwischen lebte Guitry allein auf dem Makler teilte ihm mit, er würde nun den Verkauf ­Plateau. Die Ehe mit der Parfümeur-Tochter in die Wege leiten. Das ging Albers dann doch «Wir Schweizer sind die Besten!» war unglücklich verlaufen, irgendwann hatte etwas schnell. «Lassen Sie mich das bitte noch- Schon lange trug er sich mit dem Gedanken, er das Grundstück übernommen. Nach zehn mals überlegen», sagte er. in Südfrankreich einen hameau zu bauen. Die ­Minuten wollte er von Albers wissen: «Und, «Wenn Sie sich das nochmals überlegen wol- Grosseltern Barrier besassen ein Ferienhaus in nehmen Sie es?» len, zieht sich Guitry zurück – das gebe ich Ihnen La Roquette-sur-Siagne, zwischen Cannes und «Was nehmen?», fragte Albers. schriftlich», erwiderte der Makler. «Er wäre in Grasse. Dort verbrachte Albers von frühester «Das Grundstück.» seinem Stolz verletzt. Er will Ihnen das Plateau Kindheit an die Sommerferien. Er bezeichnet «Ja, ich würde es gerne nehmen.» Napoléon verkaufen, das ist für einen Patrioten­ sich als «Kind der Côte d’Azur», kennt die «Gut, dann ist ja alles besprochen. Es hat mich wie ihn eine Sache der nationalen Ehre, verstehen ­Gegend so gut wie seine Zürcher Heimat und gefreut, Sie kennenzulernen, Monsieur.» Sie? Sie müssen sich entscheiden, und zwar jetzt.» fühlt sich ihr mindestens so verbunden. Albers erinnert sich: «Ich ging zurück zum Albers erbat sich fünf Minuten Bedenkzeit, Irgendwann machte er sich auf die Suche Makler und sagte ihm, wir hätten einen Deal. setzte sich mit einem Kaffee auf das Deck seines nach Bauland, liess seine Kontakte spielen, Der Mann meinte, ich mache einen Witz. Schiffs und schaute auf die Küste – mediterrane ohne etwas zu finden, was ihn überzeugte. Stimmung des Lebens. Dann nahm er das Tele- Dann, im Mai 2016, rief ihn ein Mann an, der Eines Tages erschien fon in die Hand: «Also gut, ich kaufe es.» sich als Immobilienmakler vorstellte. Ob er der ein Niederländer. Er sei bereit, «Gratulation, Sie sind der neue Besitzer des Schweizer sei, der ein Grundstück suche? Plateau Napoléon.» Ein paar Tage später betrat Albers das Plateau das Dreifache zu bezahlen. Napoléon und war überwältigt: diese Weite, der Hotel, Restaurant, 42 Häuser Ausblick! «Ich kenne mich hier wirklich gut aus. Normalerweise scheuchte Guitry die Interes- Bald sprach sich die Sache herum. Eines Tages Du findest zwischen Nizza und Saint-Tropez senten sofort vom Hof, obwohl er seinen Besitz erschien ein Niederländer bei Guitry. Er sei be- keine drei Parzellen, die so etwas bieten.» ja verkaufen wollte.» reit, das Dreifache zu zahlen. Noch könne man Auf dem Rundgang über das Gelände fiel ihm Guitry hatte Karriere in der französischen den Verkauf an den Schweizer abblasen, das ein alter, verwitterter Mann mit einer Hacke in ­Marine gemacht, bekleidete zuletzt den Rang Ganze sei ja erst mündlich vereinbart. Guitry der Hand auf. «Ist das der Gärtner?», fragte eines Kapitäns zur See. Darüber stehen nur noch belehrte ihn, was das Wort eines französischen ­Albers den Makler. die Admiräle. Ausserdem war er Mitglied der Offiziers und Mitglieds der Ehrenlegion wert «Nein, das ist der Besitzer», sagte der Makler. Ehrenlegion und Napoleon-Verehrer. Aus seiner sei, und wies ihm die Tür. Albers ging auf den alten Mann zu. «Ent- Sicht konnte es kaum einen besseren Besitzer für Mit der Zeit entwickelte sich zwischen dem schuldigen Sie, Monsieur, erlauben Sie mir eine diese heiligen Haine der Bonapartisten geben verschlossenen Guitry und dem offenen Albers ehrliche Bemerkung: Dieses Grundstück zu ver- als ihn selber. eine Freundschaft. Die beiden trafen sich regel- kaufen, ist verrückt!» Der Makler wollte von Albers wissen: «Was mässig, tranken Wein, sprachen über das Leben Der Besitzer musterte Albers. «Wer sind Sie? haben Sie zu ihm gesagt?» und das Bauprojekt. Manchmal schwiegen sie Woher kommen Sie?» Albers anwortete: «Ich sagte ihm, ich sei auch einfach. «Ich bin Schweizer.» Schweizer.» Schliesslich entschied sich Albers, ein Stück «Schweizer? Das ist nicht schlecht.» der Parzelle auszuweisen, ein Haus darauf zu «Was heisst ‹nicht schlecht›? Wir Schweizer Anruf auf dem Schiff bauen und es Guitry zu schenken. Er sollte ein sind die Besten!», sagte Albers grinsend, und Die Schweizer, so erzählt es Albers nun fünf Teil des neuen Dörfchens werden, «weil er ein- man muss sich seinen jungenhaften Charme Jahre später, hätten an der Côte d’Azur einen fach auf das Plateau gehört», wie es Albers in dazu denken. ausgezeichneten Ruf. Sie gälten als ehrlich und der Gegenwartsform formuliert. Noch ist es für Der Besitzer, kein Mann überschäumender zuverlässig. Die Gegend leide unter Bausünden ihn schwer zu fassen: Jean-Paul Guitry starb am Gefühle, erlaubte sich ein Lächeln. Das Eis und Missmanagement. Oft hätten Immobilien- 24. Juni 2021 im Alter von 82 Jahren. war gebrochen. Man kam miteinander ins entwickler den Leuten vor Ort das Blaue vom Immerhin hat der alte Mann noch mit Genug- ­Gespräch. Himmel versprochen, ohne einen Bruchteil tuung erleben dürfen, was Albers auf seinem

74 Weltwoche Nr. 30.21 Bilder: zVg ter und Andy Warhol. Zum Museum gehört auch ein Malatelier, was Künstler Honegger­ ein besonderes Anliegen war. Dieses Vermächtnis will Lucas Albers auf dem Plateau Napoléon weiterführen: Ein Haus soll jungen Künstlern zur Verfügung stehen. Drei Monate werden sie dort ihrer Arbeit nachgehen können – malen, schreiben, komponieren. Früh schon kam Albers mit dieser Welt der Kunst in Kontakt. Er, der in Zürich beim Vater aufwuchs, war oft bei seiner Mutter und ihrem Partner in Frankreich zu Gast. Dort gingen Künstler ein und aus, vor allem «die beiden Maxe», wie Albers sie nennt, der Schriftsteller Max Frisch und der Bildhauer Max Bill. Albers übernahm später einen Teil der Kunstsammlung und wird sie auf dem Pla- teau ­Napoléon voraussichtlich im alten Stein- haus ausstellen. Zudem plant er ein ganz- jähriges Kulturprogramm für die Besucher und ­Bewohner der Anlage. Wichtig sei ihm, das Erbe der Region mit sei- ner Herkunft zu einem stimmigen Ganzen zu vereinen: die Sammlung der Mutter und den diskreten Universalismus der Schweiz mit der faszinierenden Geschichte Napoleons und der einzigartigen Pflanzenwelt, die Grasse zur Welt- hauptstadt der Parfümindustrie werden liess. «Etwas schaffen, was 200 Jahre überdauert»: Dieser Reichtum der Natur ist auf den ers- Albers im Malatelier des «Espace de l’art Concret». ten Blick sichtbar. Wer nach den Spuren Napo- leons sucht, muss schon genauer hinsehen. Eine Eiche ist dem Kaiser gewidmet («le chêne impé- ­geliebten Plateau plant: ein hameau mit 42 Häu- zen Grundstück. Andernfalls würde man die rial»). An anderer Stelle steht ein Figürchen auf sern. Das alte Steinhaus, wo Guitry wie ein Ein- Baubewilligung verhindern. einem Strunk. Es zeigt Napoleon hoch zu Ross, siedler lebte, wird zum Hotel und Restaurant Albers kam den kostspieligen Wünschen nach. mit ­wehendem Mantel, nach dem berühmten umfunktioniert. Ein Park und ein Pool ergänzen Die Zisternen und die Strasse sind bereits ge- Gemälde von Jacques-Louis David. die Anlage. «Mein Konzept ist einfach», sagt Al- baut, zur Freude der Feuerwehr. Sie lobt das bers: «Gute Leute sollen hier oben eine gute Zeit Projekt auf dem Plateau Napoléon in ihrem Rat des Yogi miteinander verbringen können.» Jahresbericht als vorbildlich. Solche Beispiele Inzwischen ist es Abend geworden, Zeit für letz- Die Häuser werden vermietet, an Feriengäste, dürfte Albers gemeint haben, als er sagte, die te Fragen. Was will Albers erreichen? Weshalb teils auch an Dauerbewohner. Baubeginn ist Schweizer hätten an der Côte d’Azur einen aus- steckt er so viel Zeit, Energie und wohl auch Geld im September. Im Frühjahr 2023 soll das Dörf- gezeichneten Ruf. in das Plateau Napoléon? chen stehen. Albers wird dann selber ein Haus Albers überlegt einen Moment. Er gehe jedes ­beziehen und seinen Lebensmittelpunkt auf Kunst im Schloss Jahr zu einem Yogi nach England. Einmal habe dem Plateau haben. In seinem Fall geht die Sache noch weiter. Die er diesen gefragt, was der Sinn des Lebens sei. Lange hat er an seinen Plänen gefeilt, unter- ­Familie Albers ist in der Gegend von Grasse Der Yogi antwortete, ohne zu zögern: «Etwas stützt von seinem Onkel Pierre Barrier, einem ­ähnlich bekannt wie in Zürich, wo sein Vater Uli zu schaffen, was 200 Jahre überdauert.» Schweizer Immobilienunternehmer mit viel Albers einmal Mitbesitzer des Schweizer Fuss- Albers lächelt. «Das kann man natürlich un- Auslanderfahrung, und dem Grassois Jean-Luc ball-Rekordmeisters GC war. In Südfrankreich sinnig finden. Allein schon diese Zahl, 200 Jahre, Galantini, einem Baufachmann mit besten steht der Name ­Albers für Kunst. ist willkürlich. Trotzdem ist mir der Satz in Er- ­Kontakten vor Ort. Die beiden haben das Projekt­ Sybil Albers-Barrier, die Mutter von Lucas innerung geblieben. Wenn ich mir vorstelle, dass mitgestaltet. und seinen drei Geschwistern, lebte lange in 200 Jahren hier oben Menschen miteinander Albers konnte jeden Rat gebrauchen. Der mit dem Zürcher Maler und Plastiker Gott- ins Gespräch kommen und an ihrer Kunst arbei- Weg durch die französische Bürokratie war fried Honegger zusammen. Vor dreissig Jah- ten, dann motiviert mich das, gibt meinem Tun abenteuerlich wie ein Adlerflug und entwickelte ren vermachten die beiden einen Grossteil ihrer einen Sinn.» sich zur Vollzeitaufgabe: Achtzehn Ämter muss- Kunstsammlung dem französischen Staat. Der Zufall will es, dass Napoleon vor genau ten ihr Einverständnis zum Bau geben. ­Dieser stellte das ­Château de Mouans-Sartoux 200 Jahren starb. Zuvor hatte er die Geschichte Am wichtigsten war die Zustimmung der bei Grasse als Museum zur Verfügung. noch einmal herausgefordert, zum Adlerflug an- Feuerwehr. Sie hat im waldbrandgefährdeten Die Collection Albers-Honegger, auch als gesetzt, auf diesem berückend schönen Plateau, Südfrankreich faktisch das letzte Wort in Bau- Espace de l’art Concret bekannt, umfasst be- wo jetzt die Dämmerung einsetzt. Nun liegt die fragen und verlangte Zisternen auf dem Plateau, deutende Werke moderner und konkreter Zukunft dieses französischen Kulturguts in den damit im Notfall genügend Wasser vorhanden Kunst, darunter von Jean Arp, Joseph Beuys, Händen eines Schweizers. Und das wiederum ist, zudem eine befahrbare Strasse auf dem gan- Max Bill, Sam Francis, Man Ray, Gerhard Rich- ist kein Zufall.

Weltwoche Nr. 30.21 75 Bild: Rebecca Marshall/laif für die Weltwoche Die Zentralbanken schiessen erneut aus allen Rohren. Geldpolitik in der Sackgasse Zentralbanken bringen mit ihrer Dauerstimulierung Unsicherheit in die Wirtschaft. Ihre Orientierungslosigkeit verhindert eine Rückkehr zur Normalität. Ernst Baltensperger

it der Finanz- und Wirtschaftskrise oder fliesst in bereits bestehende Vermögens- Finanzkrise viel zu lange an ihr festgehalten. Es vor gut zehn Jahren sind die Zentral- werte wie Immobilien und Aktien. Den Weg sieht alles danach aus, dass dies nach der Coro- Mbanken weltweit enorm gefordert zu Investitionen und Konsum und damit zur na-Krise erneut der Fall sein wird. Die Zentral- worden. Sie haben mit einem historisch ein- laufenden Produktion findet es aber nicht. Die banken haben sich in eine Sackgasse verrannt, zigartigen Mitteleinsatz reagiert. Ihre Geld- Volkswirtschaften sind scheinbar endlos auf mo- aus der sie den Ausweg nicht finden. Sie haben politik ist zum Tummelplatz der Experimente netäre Dauerstimulierung angewiesen. Was ist Erwartungen geschaffen, die sie auf Dauer geworden. Sie haben die Zinsen auf historische hier schiefgelaufen? nicht erfüllen können. Das untergräbt ihre Tiefstwerte gesenkt und eine fast beispiellose Meine These ist, dass es der Geldpolitik Glaubwürdigkeit. Kaum jemand kann glauben, monetäre Expansion geschaffen: Zentralbank- der Gegenwart an langfristiger Konsistenz bilanzen, Geldmengen, Liquiditätsversorgung und Glaubwürdigkeit mangelt. Politik muss Meine These ist, dass es sind weltweit explosiv angestiegen. Die Coro- glaubwürdig sein, will sie erfolgreich wir- der Geldpolitik der Gegenwart na-Krise der Gegenwart hat diese Tendenz noch ken. Ihre Handlungen müssen in einen kon- verstärkt. Schüchterne Versuche, aus der Krisen- sistenten Rahmen eingebettet sein, der nicht an Konsistenz mangelt. politik endlich auszusteigen, hat sie im Keim er- nur heute, sondern auch in der Zukunft gilt. stickt. Die Zentralbanken schiessen erneut aus Sonst trägt sie den Keim langfristiger Un- dass ein dauerhaftes Zinsniveau von null und allen Rohren. sicherheit und Zweifel in sich. Diese belasten zunehmend aufgeblähte Zentralbankbilanzen auch die Wirksamkeit der Politik in der kur- konsistent mit ihrem zentralen Auftrag für Was ist schiefgelaufen? zen Frist. Die Wirtschaftspolitik der Gegen- Geldwertstabilität sind. Mit dem Ergebnis ist trotzdem niemand so recht wart, auch jene der Zentralbanken, wird dieser Die Wirtschaftsteilnehmer spüren, dass diese zufrieden, nicht zuletzt die Zentralbanken sel- Grundeinsicht nicht gerecht. Sie ist auf Dauer Politik über kurz oder lang korrigiert werden ber. Zwar haben sie bewirkt – oder zumindest nicht vereinbar mit den Zielen, denen sie ver- muss. Zeitpunkt und genaue Form solcher Kor- dazu beigetragen –, dass aus den beiden Krisen pflichtet ist. rekturen bleiben aber bis heute ungewiss. Die nicht schwere Depressionen geworden sind. Die extrem expansive Geldpolitik der Gegen- Zentralbanken lassen dazu kaum etwas Ver- Doch ein anhaltender Aufschwung und eine wart lässt sich nicht endlos weiterführen. Das bindliches verlauten. Sie sprechen zwar gerne Rückkehr zu wirtschaftlicher Normalität sind weiss im Grunde jeder. Während der eigent- von «Forward Guidance», mit der sie die Märk- daraus nicht entstanden. Das viele Geld bleibt lichen Krisen war diese Politik ohne Zweifel te über eine geschickte Kommunikation auf die bei den Banken und auf anderen Konten liegen richtig. Doch die Zentralbanken haben nach der Zukunft vorbereiten und lenken wollen. Doch

76 Weltwoche Nr. 30.21 Illustration: John Holcroft für die Weltwoche ihre «Forward Guidance» beschränkt sich prak- Volkswirtschaft. Wenn allein die unverbind- tisch ausnahmslos auf die kurze Frist. Sie er- liche Aussage einiger weniger Fed-Repräsen- schöpft sich darin, die Märkte davon zu über- tanten, dass sie sich bis Ende 2023 (also über zeugen, dass die derzeitige Politik noch sehr die nächsten zweieinhalb Jahre!) einen oder lange weitergeführt werden wird. Eine Perspek- vielleicht zwei kleine Zinserhöhungsschritte tive für die lange Frist bietet sie kaum. vorstellen könnten, die Märkte in Aufruhr Der Strategiewechsel, den die amerikanische ­versetzen kann, so spricht dies Bände. Die Zentralbank im letzten Herbst angekündigt hat und dem jetzt auch die Europäische Zentralbank Die Marktteilnehmer spüren, dass nacheifern will, liegt ganz auf dieser Linie. Die die Zentralbanken die Kraft nicht Fed will ihr Inflationsziel von 2 Prozent künftig «symmetrisch» implementieren, so dass eine finden, Korrekturen durchzuführen. «zu tiefe» Inflation in gewissen Phasen durch ein Überschiessen des 2-Prozent-Ziels in ande- Marktteilnehmer spüren, dass die Zentral- ren Jahren ausgeglichen wird. Das Inflations- banken die Kraft nicht finden (wollen), die ziel soll also nicht mehr für jedes Jahr einzeln notwendigen Korrekturen durchzuführen. Sie gelten, sondern nur noch als Durchschnitt über fürchten deren Konsequenzen, nämlich Zins- OBJEKT DER WOCHE einen gewissen (bisher nicht einmal näher be- erhöhung und Zerfall jetzt aufgeblähter Ver- stimmten) Zeitraum. mögenspreise, und deren Folgen für die Ban- Gesprächsstoff ken, den Finanzsektor und die Staatsfinanzen. Inflation oder Deflation Sie fürchten auch (mit guten Gründen) Vor- garantiert Die Fed will sich damit die Freiheit schaffen, stellungen künftiger Formen der Geldpolitik, Bond-Frottee-Einteiler ihren extrem expansiven Kurs auch dann fort- die in gewissen Kreisen zunehmend salon- Online für 345 Pfund erhältlich setzen zu können, wenn ihr Inflationsziel von fähig werden und die Geldpolitik verstärkt fis- 2 Prozent eigentlich erfüllt oder gar über- kalischen Motiven unterwerfen würden, wie troffen ist. Sorgen darüber, dass dadurch die die «Modern Monetary Theory» (MMT) und Das Baby-Hellblau und die Form die- Inflationserwartungen von ihrer Verankerung «Helikoptergeld». ses flauschigen Sommeranzugs erinnern gelöst und eine gefährliche Inflationsspirale eigentlich mehr an einen Strampler. Zur verursacht werden könnte, macht sie sich Wo bleibt die Glaubwürdigkeit? richtigen Zeit am richtigen Ort vom rich- keine. Vor noch nicht allzu langer Zeit galt es Unsicherheiten dieser Art stellen für die Volks- tigen Mann getragen, ist ihm eine ge- als Binsenwahrheit, dass Geldpolitik voraus- wirtschaft eine schwere Belastung dar. Deren wisse Virilität aber nicht abzusprechen. schauend handeln muss. Sie unterliegt schwer Akteure wissen nicht, für welche Zukunft sie Selbst wenn Sean Connery (in «Gold- vorhersehbaren und teilweise langen Ver- planen. Vertrauen kann so nicht entstehen. finger», 1964) darin auftaucht, fragt zögerungen. Diese historisch vielfach belegte Für Konsum und Investitionsbereitschaft ist man sich, ob diese Frottee-Mode nun Einsicht wird heute in den Wind geschlagen. ein solches Umfeld Gift. Die zunehmende Ver- einfach nur zum Lachen oder doch un- Man glaubt, eine Beschleunigung der Infla- quickung der Zentralbank- und der Finanz- widerstehlich sei. Stilsicherheit ist auch tion jederzeit leicht kontrollieren zu können, politik der Staaten ist besonders heikel, macht die Kunst der Irritation. Auf Bond-Girl auch wenn sie bereits in Gang ist. sie doch die Gefahr einer Dominanz der Fiskal- Jill Masterson (Shirley Eaton) wirkte In krassem Gegensatz dazu befürchtet die über die Geldpolitik sehr real. der Einteiler mit der goldenen Schnal- Fed, dass schon die geringste Zielabweichung Es ist nicht überraschend, dass die Geld- le beim nachmittäglichen Treffen im nach unten eine unheilvolle Deflations- politik in einem solchen Umfeld trotz aller Hotel «Fontainebleau» unter der Sonne dynamik auslösen könnte, die nur schwer wie- Anstrengung und milliardenschwerer Wert- ­Miamis jedenfalls magisch. der eindämmbar wäre. Dass ausufernde Infla- papier-Kaufprogramme nicht in der Lage ist, die Jetzt ist das extravagante Bademäntel- tion historisch weit häufiger aufgetreten ist Volkswirtschaft zur wirtschaftlichen Normali- chen an die Strände dieser Welt zurück- als Deflation, wird ignoriert. Angesichts dieser tät zurückzuführen und einen Zustand voller gekehrt. Man kann durchaus von einem Asymmetrie in der Gewichtung von Inflations- Kapazitätsauslastung wiederherzustellen, der kleinen Kult sprechen, denn der «Gold- und Deflationsgefahren ist klar, dass die neue ohne permanente Stimulierung durch eine ex- finger Onesie – 007 Riviera Towelling Strategie wohl nur für die gegenwärtige Phase zessive Geld- und Finanzpolitik bestehen kann. All-in-One» der britischen Marke Orlebar «zu niedriger» Inflation gedacht ist. Sollte die Es ist auch kein Wunder, dass in diesem Umfeld Brown (orlebarbrown.com) ist seit der Inflation in Zukunft einmal erneut während ei- die von den Zentralbanken geschaffenen riesi- Neulancierung hochgefragt und immer niger Jahre über dem Zielwert liegen und sich gen Geldbestände ihren Weg nur schwer in die wieder ausverkauft. Beim Schreiben die- diesem trotz restriktiver Politik nur langsam Realwirtschaft finden und eine Inflation der ser Zeilen hatte es gerade noch ein Stück wieder nähern, wird die Fed kaum geneigt sein, Güterpreise deshalb bisher ausgeblieben ist. auf Lager – in XXL –, und auf E-Bay bot zum Ausgleich später eine Inflation unter dem Die Rückkehr zu einer bescheideneren, dafür ihn jemand für 1500 Dollar an. Mit etwas Ziel anzupeilen. Die neue Strategie wird dann aber langfristig konsistenten und vertrauens- Glück erhalten Sie ihn vielleicht gera- rasch wieder vergessen sein. würdigen Zentralbankpolitik wäre höchst de noch rechtzeitig für die letzte Ferien- Was hier als Strategieänderung angekündigt wünschenswert. Sie gäbe der Geldpolitik woche. Gesprächsstoff wäre garantiert. wird, ist leicht durchschaubar als plumpes die Glaubwürdigkeit zurück, die sie für ihre Frauen, die sich am Pool an einen hell- Mittel dazu, den Toleranzzeitraum für die ­Wirksamkeit braucht. blauen Frottee-Herrn schmiegen, müs- gegenwärtige Politik auszudehnen und un- sen einfach aufpassen, dass sie nicht angenehme Entscheide in eine unbestimmte plötzlich vergoldet im Hotelbett liegen. ­Zukunft zu verschieben. All dies schafft enor- Ernst Baltensperger ist emeritierter Professor Benjamin Bögli me Unsicherheit für die Finanzmärkte und die für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bern.

Weltwoche Nr. 30.21 77 Bild: zVg «Es macht mir Spass, älter zu werden» Seit die Walliserin Stefanie Heinzmann 2008 eine deutsche Castingshow gewann, ist sie im Musikgeschäft präsent. Was ist ihr Rezept? Anton Beck

er sich ihre neusten Talkshow-Auf- sich Termin an Termin reiht und die Emotio- Beim ersten Lockdown wusste man nicht, was tritte ansieht, hört Stefanie Heinz- nen im Stundentakt wechseln. Adrenalin vor passieren würde, ich glaubte noch, dass ich im Wmann oft über die Hochs und Tiefs dem Auftritt, Müdigkeit danach, dann wieder Sommer wieder auf Tour sein würde.» Tat- der letzten Jahre sprechen, über ihre Jugend, auf Reisen, Leute treffen, auftreten, im Rampen- sächlich gab sie jedoch nur zwei von geplanten die Therapien, den steilen Erfolg, den Trott von licht stehen, schlafen gehen. Auch wenn es noch vierzig Shows. «Ich versuchte aber nicht, den Album für Album. Auch über ihre neue Frisur, immer wenige Auftritte seien, sagt Heinzmann Shows nachzutrauern, die ich nicht machen kurzgeschoren und blondiert, spricht sie gerne. und bestellt einen Salat, sei sie seit Januar eigent- konnte. Ständiges Trübsalblasen ändert die Si- Dieses Selbstbewusstsein passt so gar nicht zur lich immer unterwegs. tuation nicht und hilft niemandem.» Also ging Zerbrechlichkeit, von der sie erzählt, und wo- Stört es sie, dass alles so getaktet ist? «Es ist Heinzmann ins Studio. Im Dezember erschien möglich schafft genau das die Faszination, die einfach so, wie es ist, ich hinterfrage das auch ein ­Unplugged-Album und im Mai dann eben Heinzmann dieser Tage ausstrahlt. nicht. Die Müdigkeit, die ich beispielsweise «Labyrinth». Dazu kamen die Vorbereitungen Zugegeben war diese Ambivalenz ein Prozess, heute spüre, ist nicht schlimm, weil ich ja trotz- für die TV-Show «Sing meinen Song», ein For- der erst daraus erwachsen musste. 2008 war sie, dem zufrieden bin.» Klingt «Labyrinth» deshalb mat, das es in mehreren Ländern gibt: Die teil- gerade mal achtzehn Jahre alt, vor allem das so enthusiastisch? «Ja, weil ich das brauche, weil nehmenden Musiker covern gegenseitig ihre immer strahlende Stimmwunder aus dem Wal- ich mich nicht selbst in ein Loch hinunterziehen, Lieder. So war Heinzmann auch erstmals auf lis, das eine Castingshow von Talkmaster Stefan sondern mir sagen will, dass ich das schaffe.» Deutsch zu hören – sie coverte «Signal» des Raab gewann. «My Man Is a Mean Man» ist noch Ein Konzeptalbum ist «Labyrinth» trotzdem Popsängers Joris. Ein deutschsprachiges Heinz- heute ein Song, den selbst die erkennen, die sich nicht, dafür aber gewissermassen ein Pandemie- mann-Album ist so bald trotzdem nicht zu er- wenig mit der Sängerin befasst haben. «Wenn album. «Ich hatte gar kein Konzept, weil ich gar warten, die Sprachbilder, die sie auf Englisch man achtzehn ist und etwas passiert, denkt man, finde, überzeugten sie mehr. Doch so leichtfüssig die Welt geht unter. Mit der Zeit pendelt sich das «Der Mensch braucht eben sie erzählt: Die Probleme­ schimmern durch, mit aber ein, und ich arbeite auch viel daran. Frü- nicht nur Essen und Schlaf, denen viele in der Musikbranche im Jahr 2020 her waren es Therapien, heute gehe ich zur Aku- zu kämpfen hatten. «Die Kulturbranche hatte punktur, und ich schaue mir genau an, warum sondern viel mehr.» keinen Stellenwert mehr, und gleichzeitig stie- ich auf gewisse Dinge so reagiere, wie ich reagie- gen die Depressionsraten. Der Mensch braucht re», sagt sie, als wir uns in Zürich treffen. kein Album geplant hatte. Ich ging ins Studio, eben nicht nur Essen und Schlaf, sondern viel weil ich nichts zu tun hatte, und wir wussten ja mehr. Kultur wurde als nicht systemrelevant Verdächtig tanzbar und mitreissend alle nicht, wie lange das alles dauern würde.» dargestellt, das finde ich sehr fahrlässig.» Sie wirkt ruhig, fast entspannt. Etwas müde Mit «das alles» meint sie das vergangene Jahr, Heinzmann erwähnt, dass sie die Aktionen von sei sie, sagt Heinzmann an jenem Mittag vor eine Zeit, die sie als ein «Auf und Ab» bezeichnet. «Alarmstufe Rot», einer Kulturprotestaktion in dem «Kaufleuten». Der Hoodie, den sie trägt, «Es waren alle Emotionen dabei. Grundsätzlich Deutschland, die unter anderem Theater rot be- ist hell, aber nicht ganz weiss, als sei er von den bin ich ein Mensch, der die Sachen so nimmt, leuchtete, interessant gefunden habe. «Aber von Turbulenzen einiger Waschgänge geprägt. Tat- wie sie sind. einer Woche Medienpräsenz leben die Leute in sächlich aber gehört sich das so, es ist Absicht, der Kulturbranche trotzdem nicht. Ich will nicht der Pulli ist weder verwaschen noch verwittert, sagen, dass solche Aktionen unnütz seien, aber vielmehr liegt im Trüben eine gewisse Ästhetik grundsätzlich gibt es zu wenig Respekt­ der Kul- – wie auch in «Labyrinth», Heinzmanns neus- tur gegenüber.» Sie erzählt von einem Dienst- tem, sechstem Studioalbum. Dafür, dass das leister, der mit ihr zusammenarbeite und in Album während einer der grössten Krisen der Deutschland die Unterstützungsbeiträge be- jüngeren Zeit entstand, wirkt die Stimmung, antragt, aber nie bekommen habe mit der Be- die es transportiert, verdächtig tanzbar und mit- gründung, er könne doch auf Messen arbeiten. reissend. Nur zwischen den Zeilen versteckt sich Wie geht man damit um? «Weiterarbeiten und der Trübsinn. «Is it human nature to think the ab und zu mal anrufen und fragen, wo man hel- mirror hates ya?» Oder: «Try and make it to the fen kann. Ich hätte mir eine Aktion gewünscht, weekend without waking up my demons.» dass beispielsweise während des Lockdowns im Gerade im Musikgeschäft ist es wichtig, diese TV oder im Radio mal eine Woche Konzerte zu Dämonen immer im Auge zu behalten. Wenn hören oder sehen gewesen wären. Wir konsumie-

78 Weltwoche Nr. 30.21 Cartoon: Kai Felmy Spiel mit der Identität : Popstar Heinzmann. ren ständig Musik, aber vielen ist nicht bewusst, wo die Fotografin auf uns wartet. Heinzmann Heinzmann hört seit sechs Monaten nur ein dass die ja irgendwo entstehen muss.» sagt, es sei tatsächlich interessant, wie «Laby- einziges Album: «Bury the Moon» des islän- Wie zäh das sein kann, wurde ihr 2019 bei der rinth» eine Art Fortsetzung des vorherigen Al- dischen Singer-Songwriters Asgeir, eine sanfte Aufnahme zu ihrem vorletzten «All We Need bums war, dieses sei gar nicht geplant gewesen. Stimme, die zu einer Akustikgitarre schwebt. Is Love»-Album bewusst: «Ich habe dafür sehr Sie sagt auch, sie sei kein Mensch, der Ziele ab- Die Sängerin liest auch viel, kramte vorhin am lange gebraucht, und ich begann alles zu hinter- arbeiten wolle; die Vorstellung, dieses und jenes Tisch Robert Galbraiths «Der Seidenspinner» fragen. Mir wurde alles zu viel, ich hatte das noch machen zu müssen, stresse sie nur. aus ihrem Rucksack. Galbraith ist ein Pseudo- Gefühl, ich lasse die Musik sein.» Drei Mona- nym der «Harry Potter»-Schöpferin J. K. Row- te lange hat Heinzmann nicht gesungen, auch «Meine besten Freunde» ling, unter dem diese Krimis veröffentlicht keine Musik gehört. Was half, war die Ruhe, eine Wer Heinzmann trifft, bekommt den Eindruck, werden, eine Art Spiel mit der Identität – wie Auszeit, mehr Fokus auf das Privatleben. All das dass es ihr jetzt, in dieser Lebensphase, mehr alles in den Künsten ein ständiges Spiel ist, eine hört man dem Album an, bereits die erste Zeile denn je darum geht, das Gleichgewicht zu hal- Entwicklung und Veränderung, weil ohnehin ist eine Kampfansage an die schwierigen Jahre ten, sich nicht aus der Bahn werfen zu lassen. nichts jemals wirklich lange bleiben wird. Oder davor: «Hello, it’s me again, sorry I took so long.» Freundschaften geben ihr Stabilität, ihre Teenie-­ wie Stefanie Heinzmann sagt: «Es macht Bock, Das Album klingt schlichter, die Melodien sind Clique etwa, die Heinzmann noch immer zu- sich weiterzuentwickeln. Darum macht es mir klarer, als sei jeglicher Ballast abgeworfen wor- sammenhält. «Das sind nach wie vor meine bes- auch Spass, älter zu werden, weil ich merke, dass den. Man glaubt ihr, wenn sie singt: «It’s like ten Freunde. Die habe ich alle so mit vierzehn das Leben einfacher wird.» Wie geht das kon- coming up for air after diving for a lifetime.» oder fünfzehn kennengelernt», sagt sie. «Meine kret? «Als Musikerin ist man definitiv sensibel, Sie hat noch einige weitere Medientermine, Musik spielt bei ihnen nicht so eine grosse Rolle. und es hilft, wenn man nicht alles so persön- wir zahlen und machen uns auf ins nahe Grüne, Sie sind aber sehr supportive.» lich nimmt.»

Weltwoche Nr. 30.21 79 Bild: Vera Hartmann für die Weltwoche «Waffe für eine zeitgenössische Schlacht» Der britische Moraltheologe Nigel Biggar misstraut den Kolonialismuskritikern. Es gehe ihnen um die Gegenwart, nicht um die Vergangenheit. Rolf Hürzeler

er Theologe und Ethikprofessor Nigel Weltwoche: Wo sind Ihres Erachtens die Weltwoche: Es war eine Art Schuldbekennt- Biggar von der Oxford-Universität ­positiven Aspekte des Kolonialismus? nis für die Taten deutscher Urgrossväter, wenn Dist ein Mann, der keine Auseinander- Nigel Biggar: Statt einer Antwort möchte ich auch kein offizielles. setzung scheut. So setzt er sich derzeit mit den afrikanischen Nationalisten Chinua ­Achebe Biggar: Der amerikanische Politologe Bruce Mitstreitern wie dem konservativen Publizis- zitieren. Er schrieb ein Jahr vor seinem Tod Gilley von der Portland University hat ja ver- ten Toby Young für die Freiheit im Jahr 2013 in seinem Essay schiedentlich festgehalten, dass sich die Deut- der akademischen Forschung «There Was a Country: A Perso- schen keineswegs so schuldig fühlen müssten, und Lehre ein, die er durch die nal History of Biafra»: «Es tönt wie sie das gerne tun. Ich habe den Eindruck, Cancel-Culture zusehends be- nach Häresie. Aber die Briten dass sich eine linksliberale Elite dazu ver- droht sieht – «auch wenn es verwalteten ihre Kolonie Ni- pflichtet fühlt, schuldig zu sein. Ich sehe das hoffnungsvolle Zeichen der geria mit angemessener Sorg- in Grossbritannien täglich. Die Verantwort- Besserung gibt». falt. Ein hochkompetentes Be- lichen des National Trust [Stiftung für den amtenkader wusste genau, wie Schutz kultureller Güter], in den Museen Streit um Rhodes man ein Land führen muss.» und an den Universitäten sehnen sich gerade- Er selbst musste schon den Weltwoche: Was meinte zu nach Schuldgefühlen. Das sei ihnen ja zu- ­Unmut und die Drohungen Achebe damit? gestanden, aber sie verlangen das leider auch aktivistischer Studenten an der Biggar: Eine Reihe von Er- von allen anderen. Heutzutage lässt sich fast Universität Oxford erfahren. Pflicht zur Schuld? rungenschaften, die neben den überall und von allen sehr schnell ein Schuld- Als diese eine Statue in Er- Nigel Biggar. negativen Seiten des Kolonialis- bekenntnis einfordern. innerung an den Kolonialisten mus vergessen gehen. Die Euro- Weltwoche: Es gibt ja gute Gründe, sich mit Cecil Rhodes im Oriel College päer versuchten zumindest der kolonialen Vergangenheit auseinander- niederreissen wollten, stellte er sich dem An- immer wieder, die innerafrikanischen Konflik- zusetzen. sinnen mutig entgegen. Denn Rhodes habe sich te einzudämmen. Mancherorts gingen die Biggar: Natürlich, und das ist immer wie- bei der Entwicklung Südafrikas bleibende Ver- Kolonialisten im 19. Jahrhundert gegen die der geschehen. Eine differenzierte und tie- dienste erworben und sei kein Rassist gewesen. Sklaverei vor und verhinderten den Menschen- fer gehende Debatte über den Kolonialismus Das betrifft einen der Kernpunkte des neuen handel. Dazu kommen Erneuerungen wie der Buchs «Colonialism – The Moral Reckoning» Ausbau einer Infrastruktur, etwa die Eisen- «Die Europäer versuchten immer («Moralische Abrechnung mit dem Kolonialis- bahn in Ostafrika. Die Europäer verbesserten wieder, die innerafrikanischen mus») des 65-jährigen Oxford-Professors. Das zudem das Gesundheitswesen in weiten Tei- im kommenden Frühjahr erscheinende Werk len Afrikas und trugen zur Ausbildung der ­Konflikte einzudämmen.» konzentriert sich auf die Debatte rund um den Einheimischen bei. britischen Kolonialismus. Bei diesen Streite- Weltwoche: Ist die Vergangenheit für wäre weiterhin angezeigt. Aber das geschieht reien gehe es nur vordergründig um die Ver- Kolonialismuskritiker ein Vorwand, um aktu- ja nicht. Das akademische Urteil ist an den gangenheit, sagt Biggar. Vielmehr stehe die elle politische Ziele umzusetzen? meisten britischen Universitäten längst ge- unterschiedliche Bewertung der politischen Biggar: Viele Kritiker setzen den Kolonialis- fallen – der Kolonialismus war durchwegs ver- Weltordnung nach 1945 unter westlicher Füh- mus mit Sklaverei gleich. Sie karikieren damit brecherisch. Konservative Medien führen zwar rung zur Diskussion. Der britische Kolonialis- die Vergangenheit und missbrauchen sie, um diese kritische Debatte; bei der BBC fehlt sie mus war laut Biggar eine Vor­aussetzung für ihre aktuelle politische Agenda durchzu- gegenwärtig leider. die politische angloamerikanische Dominanz setzen. Die koloniale Vergangenheit dient Weltwoche: Die konservative Regierung in der Nachkriegszeit. ihnen als Waffe für eine zeitgenössische von Boris Johnson will jetzt «Ethnische Ge- Nigel Biggar hat seit 2007 den prominen- Schlacht. schichte» als Schulfach einführen. Finden Sie ten Lehrstuhl Regius Professor of Moral and Weltwoche: Die Deutschen bezahlen Nami- das eine gute Idee? Pastoral Theology am Christ-Church-Colle- bia Geld wegen ihrer kolonialen Vergangenheit. Biggar: Es kommt darauf an. Wenn damit ge inne. Das Amt geht auf einen Parlaments- Biggar: Ich habe von der deutschen Ent- wirklich eine intensive Auseinandersetzung beschluss im Jahr 1840 zurückgeht und gilt in schädigung für die Herero gehört. Aber gab mit der Vergangenheit ethnischer Minder- der ­Anglikanischen Kirche als wegweisend in es darüber wirklich eine breite politische De- heiten verbunden ist, kann das wertvoll sein. theologischen Fragen. batte? Aber ich vermute, dass die historischen Be-

80 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: Twitter funde zum Vornherein klar sind. Wahrschein- Vorfahren. Wir Briten tragen Verantwortung chen Familie für die Abschaffung der Sklave- lich geht es vor allem darum, unsere kolonia- für mehr als 150 Jahre Sklaverei; das lässt sich rei eingesetzt haben, gerade weil sie um die le Vergangenheit zu verurteilen. Immerhin nicht wegdiskutieren. Herkunft ihres Familienbesitzes wussten. Es lohnt es sich, diesem Schulfach eine Chance Weltwoche: Warum sollte ich heute für lässt sich schlicht nicht rekonstruieren, wer zu geben, vielleicht kommt es ja doch zu wert- politische Entscheidungen im 19. Jahrhundert bei wem in welcher Schuld steht. vollen Debatten. verantwortlich sein? Weltwoche: Sehen Sie das auch so bei der Weltwoche: Man hat oftmals den Eindruck, Biggar: Wenn Sie zu einer Nation gehören, Kunst, die jüdischen Familien im letzten Jahr- dass viele moderne Staaten gerne Schuld suchen. sind auch die negativen Seiten ihrer Geschich- hundert geraubt wurde? Biggar: Das ist richtig und trifft vor allem te zu akzeptieren. Man darf ruhig stolz sein Biggar: Keineswegs. Da sind die Verhält- für akademische Institutionen zu. Ich führe auf die eigene Herkunft, muss aber auch deren nisse oftmals klar, weil die Geschehnisse nicht dieses Phänomen zum Teil auf eine ver- negative Seiten akzeptieren. Als Brite kann ich so lange zurückliegen. Man weiss häufig, wem breitete Ignoranz zurück. Viele, die sich schul- mich mit den politischen Leistungen eines was gehört, und kann sogar rekonstruieren, dig fühlen wollen, haben keine Ahnung von Winston Churchill identifizieren. Gleich- wie ein Objekt zu den heutigen Besitzern ge- unserer historischen Vergangenheit. Sie wis- zeitig muss ich anerkennen, dass die Sklave- kommen ist. sen aber, dass eine differenzierte Aus- Weltwoche: Gibt es ein moralisches einandersetzung schnell zum Vorwurf Konzept, das sich für einen verantwort- des Rassismus führt, und dem wollen lichen Umgang mit der Vergangenheit sie sich unter keinen Umständen aus- eignet? setzen. Denn das ist rufschädigend. Biggar: Die Vergangenheit ist un- Kommt hinzu, dass solche Diskussionen veränderbar. Aber wir sollten mit den meist sehr aggressiv geführt werden, da Folgen der Vergangenheit würdig um- lenkt man lieber ein. gehen. Es ist wenig sinnvoll, dem heu- Weltwoche: Sie konstatieren eine tigen Grafen von Harewood eine Rech- politische Polarisierung in der akade- nung für die Ausbeutung der Menschen mischen Debatte? auf den Zuckerplantagen von Barba- Biggar: Ja, aber bei einseitigen Kräfte- dos zu schicken. Viel besser wäre es, verhältnissen. Ich schätze, dass 90 Pro- die britische Verantwortung für diese zent der universitären Lehrkräfte links frühere Kolonie anzuerkennen, wenn sind. Das beeinflusst unsere Studenten es beispielsweise um die Verteilung seit Jahren und hat all die Führungs- von Geldern für die Entwicklungs- persönlichkeiten geprägt, die unsere zusammenarbeit geht. akademischen Institutionen führen. Die Weltwoche: Gemeinsam erlebte Ge- bewegen sich in den gleichen Kreisen schichte als moralischer Link zwischen und lesen täglich den linken ­Guardian, den Europäern und den früheren Ko- der ihre Vorurteile bestätigt. Sie suchen lonien? gar nicht erst die Auseinandersetzung Biggar: Ja, sicher, das gilt nicht nur mit Andersdenkenden. für Grossbritannien. Frankreich steht Weltwoche: Diese gemeinschaft- genauso in der Verantwortung, zum lichen Schuldgefühle zeichnen west- Beispiel in Westafrika. Wir können ja liche Gesellschaften aus. Menschen in nicht die ganze Welt retten, müssen Ländern wie Bangladesch werden sich aber den Bedürfnissen der früheren kaum Gedanken über ihre Vorfahren Bleibende Verdienste: Kolonialist Rhodes (1853–1902). Kolonien entgegenkommen und dür- machen. fen Interventionen nicht scheuen. Die Biggar: Da haben Sie sehr recht; nur Briten mussten im Jahr 2000 in Sierra wir können uns diese historische Form von rei schrecklich war, auch wenn ich nach 200 Leone aktiv werden, um einen Bürgerkrieg Schuld leisten. Dazu kommt die verbreitete Jahren nicht mehr viel dagegen unternehmen zu beenden. Die Franzosen hätten in Ruanda Meinung der Marxisten, dass es uns gutgeht, kann. früher und energischer intervenieren müssen. weil wir die Dritte Welt ausbeuten. Das wiede- Weltwoche: Fühlen Sie sich auch für die Weltwoche: Warum sollen die Europäer rum bedeutet, dass wir bei den Afrikanern in von den Engländern ermordeten Franzosen noch immer eine moralische Verantwortung der Schuld stehen. Ich bin kein Ökonom, aber im Hundertjährigen Krieg vor 600 Jahren ver- für die früheren Kolonien tragen? diese Annahme hat sich als falsch erwiesen. antwortlich? Biggar: Der Kolonialismus ist ja auf unter- Trotzdem wird sie laufend verbreitet. Man Biggar: Nein, natürlich nicht, die zeitliche schiedliche Motive zurückzuführen. Neben lehrt das an den Universitäten und verbreitet Distanz von Geschehnissen bleibt wichtig – den wirtschaftlichen Interessen gab es huma- sie in den Medien. wie etwa bei der Sklaverei. Tatsächlich lässt nitäre Ziele. Als die Europäer im 18. und 19. Weltwoche: In der Bibel, im Neuen und im sich im Fall von einzelnen feudalen Anwesen Jahrhundert durch Afrika zogen, stiessen sie Alten Testament, spielt Schuld eine wichtige auf dem Land nahtlos belegen, dass sie etwa im auf Menschen, die entwicklungspolitisch um Rolle. Wir leiden angeblich unter der Erb- 18. Jahrhundert mit dem Profit aus der Sklave- Jahrhunderte zurücklagen. Man wollte die- sünde. rei gebaut wurden. Daraus folgt für viele, dass sen Menschen helfen, dass sie wie die Europä- Biggar: Ich bin ein Christ, und ja, ich glaube, die heutigen Besitzer in der Schuld der Men- er leben können. Es ist kein Zufall, dass Gross- dass jedermann eine Form von Schuld mit sich schen der Karibik stünden. Das kann man so britannien heute eines der führenden Länder bei trägt, die Erbsünde eben. Sie formt das Leben sehen, man muss aber auch anerkennen, dass der Entwicklungszusammenarbeit ist. Das ist der Menschen, und insofern trage ich Mit- Familiengeschichten viel komplizierter sind. eine direkte­ Folge unserer Kolonialgeschichte, verantwortung für die Verfehlungen meiner So können sich andere Mitglieder der glei- was oft ebenfalls nicht anerkannt wird.

Weltwoche Nr. 30.21 81 Bild: Wikipedia Ungeschliffener Diamant Wenige Schriftsteller verkaufen in der Schweiz so viele Bücher wie Philipp Gurt. Das Feuilleton hat den Bündner bisher ignoriert – ein Fehler. Alex Baur

ein «Schattenkind» (2016) hielt sich wäh- rend vierzig Wochen auf der Schweizer SBestsellerliste (davon sagenhafte drei- zehn Wochen lang auf Platz eins) und ging 150 000-mal über den Ladentisch. Bei den Kri- mis waren die Auflagen tiefer, jeweils einige zehntausend Exemplare. Doch auch «Bünd- ner Alptraum» stand letztes Jahr 39 Wochen lang auf der Liste der zwanzig meistverkauften Bücher. Das sind Zahlen, von denen selbst arri- vierte Schweizer Schriftsteller auf ihrem Heim- markt nur träumen können. Doch wer ist dieser Philipp Gurt? Wer sich in der Literaturszene umhört, wird von vielen die Antwort erhalten: «Philipp who? – Nie gehört.» Gurts Beliebtheit bei der Leserschaft steht in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu seinem Renommee bei den Kritikern. Seine Romane werden bestenfalls in der Bündner Regionalpresse besprochen. Dabei ist der 53-jährige Gurt nun doch schon seit einigen Jahren im Geschäft. National wurde er 2017 einer breiteren Öffentlichkeit durch einen SRF-Dok-Film bekannt. Zu die- sem Zeitpunkt hatte Gurt mit seinem Best- seller «Schattenkind», den er ursprünglich im Eigenverlag lanciert hatte, bereits alle Rekorde­ gebrochen. Es handelt sich um die Biografie eines Burschen, der im Bündner Schanfigg in eine kinderreiche Bauernfamilie hineingeboren wird und schon als Kinder- gärtler eine fast unglaubliche Odyssee durch Heime, Pflegefamilien, Junkie-Kommunen, Sprudelnde Seele: Bestsellerautor Gurt. psychiatrische Kliniken, Jugendknast und Er- ziehungsanstalten antritt. Es ist die Autobio- grafie von Gurt. wenig passte, räumt Gurt heute selber ein. von der Lokalpresse berichteten wohlwollend. Von den meisten Verlagen erhielt er nicht ein- Normalerweise wäre die Geschichte an dieser Bündner Krimis mal eine Antwort. So legte er die Schriftstellerei Stelle zu Ende. Mit den Büchern hatte er allerdings viel früher siebzehn Jahre lang auf Eis. Doch Gurt machte weiter, er schrieb und angefangen, er schrieb schon als Zögling. Gurt 2005 startete er den zweiten Versuch mit schrieb, einen Roman nach dem anderen, trieb war gerade zwanzig geworden, als er 1988 mit «Der Schnitter» – und diesmal wurde er fün- immer wieder irgendwo Geld auf. 2009 landete seinem ersten Buch bei den Verlagen hausieren dig. Der Verleger zeigte sich sogar begeistert. er mit «Die Tochter des Scharfrichters» einen ging. Der Titel – «Der Schnitter», ein altertüm- Ein Honorar allerdings bot er ihm nicht an. ersten Achtungserfolg (Platz fünf der Best- licher Begriff für den Sensenmann, im wört- Vielmehr sollte der Autor 7500 Franken für den sellerliste). Gegenüber einem Journalisten der lichen wie im übertragenen Sinn – war ver- Druck bezahlen. Die übliche Geschichte. Zuerst Südostschweiz klagte Gurt, dass ihn die Kritiker mutlich das Beste an der Geschichte um eine lehnte Gurt entrüstet ab, dann fand er einen in den grossen Blätter ignorierten. Die Antwort mittelalterliche Hexenjagd. Dass historisch Sponsor. Er veranstaltete Lesungen, Freunde war vernichtend: «Sei froh – du lieferst zwar

82 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: Kampa Verlag super Storys, doch dein Deutsch ist so mies, dass auf offene Türen stiess. Daniel Kampa persön- NACHRUF du bestenfalls mit einem gnadenlosen Verriss lich habe ihn angerufen, erzählt Gurt, und er rechnen darfst.» habe gleich als Erstes klargemacht: «Es wird Alfred Biolek (1934–2021) So brutal es klingt, völlig unrecht hatte weh tun!» Bei Kampa fand sich sein Name nun der Mann nicht. Nach seinem Erfolg mit neben Autoren wie Georges Simenon oder der «Schattenkind» lancierte Gurt eine Reihe von Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Und in Krimis, die alle im Bündnerland spielen und dieser Liga wird um jeden Satz so lange ge- sich gut verkauften. Während der eine Held, rungen, bis er wirklich sitzt. der Landjäger Walter Caminada, in den Nach- 600 000 Zeichen habe er für seinen neusten kriegsjahren Mörder zur Strecke bringt, spie- Caminada-Roman «Der Puppenmacher» ur- len die Geschichten um dessen Enkelin Giulia sprünglich in seinen Computer gehauen, erzählt de Medici in der Gegenwart. Das entspricht Gurt. Beim Manuskript, das ihm die Lektorin ganz dem simplen Erfolgsrezept, nach dem von Kampa – dieselbe Cornelia Künne, die auch der Kölner Emons-Verlag jedes Jahr Hunder- Simenon überarbeitet hatte – zurückschickte, te von Büchern herausgibt: aus der Region für hätte rund ein Drittel gefehlt: für überflüssig die Region. Die Masse geht allerdings auf Kos- bis störend befunden und gekübelt. Zwei Tage ten der Klasse. lang habe er sich schmollend und deprimiert Die Kritik, dass die bisherigen Bücher des verkrochen. Dann habe er das Buch während Autodidakten Gurt schlecht lektoriert und vier Monaten Zeile um Zeile überarbeitet. Das Grosser Ermöglicher: Moderator Biolek. redigiert seien, erscheint eher untertrieben. Schleifen eines Diamanten ist nicht nur eine Man hat den Eindruck, sie seien vom Verlag schmerzvolle, sondern auch eine mühselige überhaupt nicht überarbeitet und tel quel in Knochenarbeit. Aufwendiger als das Erfinden ür seine Kritiker war er eine Plaudertasche, den Druck gegeben worden. Die Bücher er- von Geschichten, die aus Gurts Seele sprudeln. Ffür mich war er der wichtigste Inspirator für Die Mühsal habe sich gelohnt, versichert Phil- die eigene Fernseharbeit: Alfred Franz Maria National wurde er 2017 einer ipp Gurt. Wir werden es demnächst sehen. «Der Biolek, Doktor der Rechtswissenschaft, le- breiteren Öffentlichkeit durch einen Puppenmacher» kommt Ende August auf den gendärer Fernsehmoderator, Kochbuchautor, Markt. Vier Nachfolgewerke sind bereits in Menschenfreund. Er war ein Leben lang der SRF-Dok-Film bekannt. der Pipeline, vertraglich vereinbart. Nur muss grosse Ermöglicher, der höchst kultiviert die Gurt nun kein Geld für Druckkosten mehr vor- Fernsehlandschaft veränderte. 1978 in «Bio’s innern an ungeschliffene Diamanten, deren strecken, der Vorschuss geht an den Autor. Bahnhof» gelang ihm ein völlig neues Format, wahren Wert man vielleicht erahnt, aber Auf der Churer Quaderwiese wird in die- in dem er über den vielbeschworenen Graben nicht sieht. Die Plots sind oft genial, aus der sen Tagen sein Caminada-Erfolgskrimi «Chur zwischen U- und E-Kultur eine Brücke baute. eigenwilligen, mit Mundartbrocken durch- 1947» als Drama aufgeführt, adaptiert von Ger- Er hatte den Mut, unbekannte Talente wie setzten Sprache schimmert eine eigentüm- hard Meister und unter der Regie von Marco Anke Engelke oder die junge Nina Hagen neben liche Urkraft. Doch eine barocke Fülle von Luca Castelli. Anlass ist das Vierzig-Jahr- Weltstars wie Sting, Sammy Davis jr. oder Tina nutzlosen, oft klischeehaften Adjektiven, Jubiläum der Freilichtspiele. Neben zwanzig Turner auftreten zu lassen. Bei ihm hatte die Ausschweifungen und schwerfälligen Rede- Laien stehen drei professionelle Schauspieler Tanzerneuerin Pina Bausch mit einer schrägen wendungen drosselt das Tempo und verstellt auf der Bühne. Feuilleton hin oder her: In sei- Performance neben einer Travestiegruppe aus den Blick aufs Wesentliche. ner Heimat hat Philipp Gurt das Schattenkind Paris Platz, ein Schuhputzer neben einer Bild- «Schattenkind» wurde zum Bestseller, weil längst hinter sich gelassen und wird als erfolg- hauerin. Das war damals eine Revolution. die unglaublich bewegende und authentische reicher Autor gefeiert. Genauso wie seine Kochsendung «Alfredissi- Geschichte aus dem tiefsten Bodensatz der Ge- mo», die Mutter aller Kochsendungen. Damals sellschaft alle handwerklichen Mängel über- hiess «bio» noch «öko», und «Bio» – wie ihn alle strahlte. Das nächste Buch, «Blätterflüstern», nannten – hat das Kochen in die Gesellschaft erzählt, wie sich Philipp Gurt trotz denkbar gebracht. Lange vor all den Küchenschlachten schlechtester Startbedingungen mit eigener konnte man bei ihm noch etwas lernen, wenn er Kraft zu einem selbstbestimmten Leben durch- mit seinen Gästen in der Küche werkelte, plau- kämpft. Es war schon weniger erfolgreich. Für derte und Weisswein trank, was fast schon die Gurt war die Aufarbeitung seiner eigenen Bio- Hauptsache war und allen die Zunge lockerte. grafie damit abgeschlossen. Er wollte nicht Das Hochamt der gepflegten Unterhaltung ein Leben lang als Schattenkind, sondern als zelebrierte er mit «Boulevard Bio». Und weil er Schriftsteller wahrgenommen werden. Mit den – geprägt durch seine katholische Erziehung – Krimis, bei denen das Lokalkolorit das wich- bei sich und seinen Gästen stets zwischen privat tigste Verkaufsargument ist, bediente er einen und persönlich, zwischen offen und öffentlich Markt, in dem literarische Qualität nicht im unterschied, sassen ihm Kohl, Putin und Schrö- Vordergrund steht. Doch Gurt wollte mehr. der gegenüber. Sein grenzenloses Harmonie- bedürfnis wurde ihm oft vorgeworfen. Aber Ein Drittel weniger mit seinem Gefühl zur Vermittlung entlockte Vielleicht war es ein Glück, dass sich die er seinen Gästen manche Äusserung, die Un- Massenware zwar gut verkaufte, aber wenig erwartetes offenbarte. Nun ist der grosse Ver- einbrachte. So kam es, dass Philipp Gurt im mittler tot. Und ich koche zu seinen Ehren ein Frühling 2020 auf den Rat eines erfahrenen Gericht aus einem seiner Kochbücher. Verlegers beim Kampa-Verlag anklopfte – und Kurt Aeschbacher

Weltwoche Nr. 30.21 83 Bild: United Archives/Getty Images; Cartoon: Kai Felmy Hart und spartanisch. Leben auf dem Lande Auguren munkeln bereits von einem weltweiten Trend: Raus aus den Städten, rein in die Provinz. Doch Vorsicht: Die Provinz ist kein zu kolonialisierendes Siedlungsgebiet. Cora Stephan

em Irrsinn der Welt entkommen? gibt es immer), oft sowohl weltläufig als auch te die Rede ist. Wahrscheinlich sind wir alle Ganz einfach! Am besten dort, wo ich bodenständig, in der Gewissheit, dass nicht immun, dank reichlich Kontakt zu tierischem Dlebe, in einem Dorf, in dem es mehr ganz dicht sein kann, wer ständig offen ist. Rindvieh. frei laufende Hühner als fest verwurzelte Tatsächlich munkeln die Auguren bereits Bewohner gibt. Das erdet ungemein. Nicht Pest und Cholera von einem weltweiten Trend: Raus aus den nur bei der Arbeit im Garten, der der eige- Das man hier gut lebt, hat sich herum- Städten, rein in die Provinz. Wer sehnt sich nen Subsistenz dient, dem Vorübergehenden gesprochen. Seit der Panikpandemie hat es noch nach den vollverglasten Angestellten- eine Freude ist und, ja!, auch den Bienen, erneut Konjunktur, das Landleben. Bei uns silos, wenn er seine Büroarbeit auch zu Hause Schmetterlingen und Vögeln ein Refugium lebt es sich gesünder: Man kann potenziellen erledigen kann? Im vergangenen Frühsommer bietet. «Il faut cultiver notre jardin» ist in Vol- Virenträgern locker aus dem Weg gehen, falls hat angeblich bereits eine Million Pariser der taires «Candide» der ebenso banale wie tröst- man sich vor ihnen fürchtet, an viel frischer Stadt den Rücken gekehrt. Aus den USA hört liche Abschluss eines schweren Schicksals. Luft anstelle des gesundheitsschädlichen städ- man, dass zwei von fünf Stadtbewohnern ihre Gärtnern hilft fast immer gegen Verzweiflung. tischen Miasmas. Die empfohlenen 1,50 Meter Metropole verlassen wollen. Und mehr als Dabei helfen auch die Nachbarn, die ver- Abstand kriegen wir mühelos hin, zumal wir die Hälfte der Londoner Angestellten könn- körperte Vernunft. Bei uns wird nicht gegen- angstfrei sind. Die medizinisch-technischen ten ihren Job auch im Home-Office erledigen, dert, hier bleibt man unmaskiert, ist grund- Assistentinnen beim Landarzt schwanken heisst es in einer aktuellen Studie. Wenn das vernünftig (meistens) und unaufgeregt. Nein, zwischen Wut und Lachanfall, wenn von einer auch nur 20 Prozent aller Bürobeschäftigten nicht verhockt und verstockt (Ausnahmen neuen, noch viel bösartigeren Corona-Mutan- täten, würden 128 Millionen Menschen kein

84 Weltwoche Nr. 30.21 Illustration: Masha Manapov für die Weltwoche Vollzeitbüro mehr benötigen, hat man bei wertungszusammenhang des Kapitals» aus- dig über dem Zaun hängen, während meine der OECD geschätzt. Manch ein Zukunfts- steigen, halbverfallene bäuerliche Anwesen Eltern, die nach 1945 aus Thüringen in den prophet sieht in seiner Glaskugel den Nieder- waren ideal für «Landkommunen», zum Er- Westen gegangen waren und jahrelang «ein- gang der Städte voraus – als von bürgerlicher staunen (und nicht immer zur Freude) der Ur- quartiert» leben mussten, sich hier ihren einst Öffentlichkeit entkernter Leerraum, in dem einwohner, die die Sitten und Gebräuche der unerreichbar geglaubten Traum vom eigenen nur noch die drei A anzutreffen sind – Alte, Kommunarden possierlich bis abstossend ge- Haus erfüllten. Heute verstehe ich sie. Und Arme und Ausländer. Und vielleicht noch ein funden haben dürften. Nicht nur der damals dass es ausgerechnet ein altes Bauernhaus war paar Akademiker in ihren geräumigen Altbau- beliebten Selbsterkundungsrituale wegen – vielleicht war das ein Versuch, eine Kontinui- wohnungen? oder angesichts nackerter Mondanbeter unter tät zur Vergangenheit herzustellen, die es Nun ist das ja nicht gerade neu, der Zug zum Drogeneinfluss. Mit schadenfroher Anteil- nicht mehr gab? Landleben, wenn es eine Krise gibt, sei es die nahme wird man auch die Versuche im öko- Ich jedenfalls wollte in die Stadt, zum Stu- Pest oder ein Krieg. Man denke an Giovanni logischen Gartenanbau beobachtet haben. dium ausgerechnet nach Frankfurt am Main, Boccaccios Erzählungen von den jungen Leu- das damals als kriminellster Ort Deutsch- ten, die um 1350 vor der Pest aus Florenz in Gemüse streicheln lands verschrien war. Dabei war die «Main- die Toskana fliehen. Im 15. Jahrhundert gab Die Hippies hatten die Bibel des bio- metropole» auch bloss eine Ansammlung ehe- es in Italien einen regelrechten Bauboom für dynamischen Gemüsestreichelns studiert, maliger Dörfer mit einem ziemlich grossen Fluchtorte auf dem Land. Wenn Pest und Cho- John Seymours «Das grosse Buch vom Leben Loch in der Mitte, das der Krieg hinterlassen lera die Stadtbevölkerung in ihren engen Vier- auf dem Lande», pflanzten mit dem Mond, hatte. teln dezimierten, zogen sich alle, die es konn- um in Harmonie mit den Planeten zu ge- Wie es dann trotzdem zu einer abrissreifen ten, in ihre Villen in der Toskana zurück und raten, und erlitten ihre Niederlagen dank Hütte auf dem Land kam, nicht etwa im rela- warteten gemütlich ab, bis sich die Seuche er- bodenschonendem Verzicht auf mechani- tiv weitläufigen Norden Deutschlands, son- ledigt hatte. Gewiss, Villen sind aus der Mode sche Unterstützung beim Hacken und Säen dern in Oberhessen, eingepfercht zwischen gekommen, Landhäuser mit sechzig Zimmern mit heroisch ertragenen Rückenproblemen. zwei grösseren Bauernhöfen, typisch für das, und vier Meter Deckenhöhe sind schlecht zu Hauptsache, chemiefrei. Nur aus den weni- was der Fachkundige als südwestdeutsche heizen, im Übrigen fehlt das Dienstpersonal. gen Zähen unter den vielen Idealisten wurden Gemengelage erkennt? Das ist da, wo sich Doch auch in bescheidenen Fachwerkhäusern richtige Biobauern, manche sogar erfolgreich. Häuser, Scheunen, Tiere und Menschen an- kann man sich feudal fühlen – Michel de Mon- Immerhin: Einige der néoruraux in Frankreich einanderkuscheln, was nicht immer Freude taigne hatte eine anständige Bibliothek in sei- vermarkten noch heute durchaus erfolgreich stiftet. Und auch noch in einer Gegend ohne nem Schlossturm, unsereins hat Internet. ihren Ziegenkäse, das selbstgebackene Brot den Vorzug römischer Einflussnahme, der die oder Biogemüse, erkennbar an den krum- Regionen südlich von Frankfurt erstklassige Thoreaus Blockhütte men Möhren. Man trifft sie auf den lokalen Weinlagen verdanken? In den zwei Weltkriegen, insbesondere im Wochenmärkten, die altgewordenen Hippies Nun: Ich hatte als arbeitslose Akademikerin von der Hungerblockade der Kriegsgegner ge- und ihre ebenso hippiesken Nachkommen. mit Doktortitel kein Geld und keine Ahnung. troffenen Deutschland, wurden die Städter zu Nichts Neues also: Alle Jahre wieder ent- Das Ganze war ja sowieso eine städtische Bettlern bei den Bauern, die dank Selbstver- decken Menschen die Freuden des Landlebens, Schnapsidee. Freunde hatten eine Land- sorgung so viel besser dran waren. Auch das was regelmässig jene verblüfft, die seine Nach- kommune ein paar Dörfer weiter gegründet könnte, übrigens, ein Grund für die wechsel- teile kennen. und wollten den Vogelsberg zu einer Hoch- seitige Animosität sein. Auch mich hat eine der vielen Landleben- burg intellektueller Vernetzung machen und Konjunkturen der Landliebe, auch ohne Konjunkturen dorthin gespült, in ein Dorf in fanden, das kleine Hexenhaus passte prima Krise: Die industrielle Revolution mach- Oberhessen, am Rande des Vogelsbergs, des zu mir. Das stimmte. Und da dem Besitzer te die Städte mit ihren Arbeiterquartieren grössten zusammenhängenden Vulkangebiets das Abreissen zu teuer und er sicher froh war, zu weniger mondänen als trostlosen Orten; Mitteleuropas. Und das mir, die ich nichts wie eine Dumme gefunden zu haben, war der Preis jetzt suchten die Bürger das Naturschöne an wegwollte, als meine Eltern mich einst aufs nicht allzu hoch. Ich wusste ja nicht, was ich frischer Luft ausserhalb der grauen Mauern im Laufe der Jahre noch hineinstecken würde. der Stadt. Mannigfaltig ist vor allem die Sehn- Mittlerweile gibt es Aber ich wusste bald, dass das kleine, nicht sucht von Schriftstellern und Künstlern nach einen Zaun ums Grundstück. wirklich hübsche Haus gut für meinen Seelen- dem, was ihnen dort verheissen ist: «I will frieden war, ich flüchtete dorthin vor einer arise and go now, and go to Innisfree, / And Zäune verbinden. scheiternden Ehe und einem Job in Bonn, da- a small cabin build there, of clay and wattles mals noch Bundeshauptstadt. made; / Nine bean-rows will I have there, a hive Land verfrachteten! Das war Mitte der sech- for the honey-bee, / And live alone in the bee- ziger Jahre, als es im niedersächsischen Osna- So wenig weltoffen! loud glade.» William Butler Yeats. Und Henry brück schick wurde, einen leeren Kotten auf Es ist noch immer nicht die Zierde des Dorfes, David Thoreau zog auf der Suche nach dem dem Land zu erwerben und wieder bewohn- es posiert nicht mit freigelegtem Fachwerk, «eigentlichen, wirklichen Leben», das er «hart bar zu machen. Ich war dreizehn und wollte in die Balken hübsch angestrichen. Die Balken und spartanisch» führen wollte, für immer- die Disco, nicht in die ziemlich menschenleere liegen nur innen frei, wo wir erst mal alles ent- hin mehr als zwei Jahre in eine 1845 gebaute Gegend am Nordhang des Wiehengebirges. fernt haben, womit man in ärmeren Zeiten die Blockhütte an einem See in Concord, Massa- Ein Kotten bestand meist aus einer grossen Heizkosten reduziert hatte: abgehängte De- chusetts. In Europa und den USA entstanden Tenne und einem eher kleinen Wohnbereich, cken oder Styropor an den Wänden. Immer- zu der Zeit um die achtzig Künstlerkolonien hier lebten die «Kötter», die für den Meyer- hin zeugt ein Garten davon, dass ich es irgend- auf dem Land, man denke an das deutsche hof arbeiteten. Ein Dorf mit einem Dorfkern wann dann doch gelernt habe, das Gärtnern, Worpswede. gab es nicht und gerade mal eine eher trauri- auch wenn der Bauerngarten meiner Nachba- In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ge Kneipe an der nächsten Strassenkreuzung. rin weit imposanter ist. Und mittlerweile gibt wollten insbesondere viele 68er aus dem «Ver- Kurz: Dort wollte ich weder tot noch leben- es auch einen Zaun ums Grundstück, also so

Weltwoche Nr. 30.21 85 ziemlich das Spiessigste, was man sich vor- keinen blassen Schimmer. Immerhin kann ich mit Windkraft- und Biogasanlagen, also Boden- stellen kann. So wenig weltoffen! mir anrechnen, dass ich nicht eine Sekunde lang verdichtung und Maismonokultur, oder mit Das Gegenteil trifft zu: Zäune verbinden. So daran dachte, krähenden Hähnen den Hals um- ihrer sehr speziellen Vorstellung von genfrei, jedenfalls war das bei uns, als Rudolf 1993 das zudrehen oder mich über den Duft aus Nach- chemiefrei und CO2-frei, was die Lebensmittel- schmale Grundstück umzäunte, das seit Jahren bars Schweinestall zu beschweren. Bis heute ver- produktion betrifft. Auf dem Land empfindet keine klar ersichtliche Kontur gehabt hatte. Es stehe ich nicht, wie man aufs Land ziehen kann, man als ebenso dumm wie skandalös, was die war lange sozusagen vogelfrei gewesen, von ohne auch das zu akzeptieren, was manch einer, grüne Politikerin Renate Künast im Bundestag jedem begeh- oder befahrbar. Und mit einem der es nicht gewohnt ist, als störend empfindet. behauptet hat: Der Grund für Corona sei «die Mal ein Zaun? Welch Affront! Mittlerweile vermisse ich den Auf- und Abtrieb falsche Art und Weise, wie wir unsere Nahrungs- Denkste. Den Nachbarn im Dorf gefiel das, der Milchkühe, die wurden vor einigen Jahren mittel produzieren, Landwirtschaft betreiben sie standen um Rudolf herum und gaben abgeschafft. und mit der Umwelt umgehen». Eine besonders Ratschläge. Warum? Weil wir damit Besitz- Als ich schliesslich begann, Krimis zu schrei- fortschrittliche Berlinerin hat schon mal erklärt, ansprüche angemeldet hätten? Die waren ja eh ben, die in einem Dorf namens Klein-Roda sie kaufe nichts mehr, was Bauern produziert geklärt. Vielleicht weil wir mit dem definierten spielen und von einem städtischen Aussteiger hätten, seit sie dank einer Demonstration der Drinnen das Draussen anerkannt haben. Und und einer Frankfurter Staatsanwältin handeln, Landwirte zu spät zu einer Hochzeit gekommen weil wir eine Verpflichtung sichtbar gemacht mochten die einen pikiert sein, weil sie glaubten, war. Guten Appetit! haben: Das hier ist etwas, um das wir uns küm- in manch boshafter Schilderung etwas wieder- mern. Wir haben Haus und Grundstück adop- erkannt zu haben, während ich bei anderen Akademikerblasen tiert. spöttisch die «Donna Leon des Vogelsbergs» «Ich hab das Gefühl, Politik findet in den Städ- In den Anfangsjahren scholl uns noch ein hiess. Einer meiner Nachbarn hat mir immer- ten und für die Städte statt», meint die Schrift- aufmunterndes «Na, reisst ihr endlich ab?» hin bescheinigt, dass ich die Dinge doch recht stellerin Juli Zeh, die das Leben in der branden- entgegen, wenn wir Haus und Grund Schritt lebensnah beschreiben würde, was ein nicht zu burgischen Provinz offenbar ebenfalls geerdet für Schritt eroberten. Doch wer arbeitet, macht übertreffendes Kompliment war. hat. Nicht nur die Politik: auch die Moden aus etwas richtig. Das versteht jeder, da kann man Und so sitze ich heute, umgeben von mei- einem akademischen Milieu, das überwiegend ruhig so schlecht Deutsch sprechen wie der von nen Katzen, mit dem Notebook auf der Ter- in und um sich selbst kreist. allen geliebte Haydar, ein Kurde, denn der kann rasse und schreibe. Anregung gibt es um mich Und deshalb sind auch wir noch nicht gar so anpacken. Wer das nicht kann, ist auf dem Land herum genug. lange hier Lebenden nur mässig begeistert vom verloren. Ausserdem wird die Chose dann teuer. Das hat mich nicht nur in meinen Krimis be- neuen Trend zum Land. Etwa, wenn «Digital- Das Haus jedenfalls passte zu mir, aber passte schäftigt: der Unterschied und der Gegensatz arbeiter» das urbane Konzept des Co-Working ich auch in das Dorf? zwischen Stadt und Land. Der Konflikt hat und damit «Innovationen» aufs Land bringen sich abgeschwächt, einerseits, seit Bauern eine wollen – und vor allem «Lebensqualität für ge- Projektionsfläche der grünen Städter Minderheit geworden sind – im Jahr 2017 lag meinwohlorientierte Städter, die Gemeinschaft Ich denke im Nachhinein, dass ich damals, 1982 der Anteil der Erwerbstätigen in der Landwirt- suchen». Sie wollen uns mit all den tollen Ideen ff., alles falsch gemacht habe, was man nur falsch schaft nur noch bei 1,4 Prozent. Und er ist stär- beglücken, die, danke bestens, prima in den städ- machen kann. Das grosse Wunder: Die meis- ker geworden – mit der städtisch-grünen Ar- tischen Akademikerblasen aufgehoben sind? ten Nachbarn haben mir verziehen, sogar jene, roganz gegenüber anderen Lebensentwürfen. Ohne uns. Die Provinz ist kein zu koloniali- denen ich anfangs Abend für Abend glühend Wie bei den «Tributen von Panem» benutzt die sierendes Siedlungsgebiet. Bleibt, wo ihr seid! empfahl, den bäuerlichen Betrieb auf ÖkoBio dekadente städtische Blase die Provinz für ihre Dafür sorgen schon wir, die bereits etwas länger umzustellen. Auch davon hatte ich selbstredend eigenen Zwecke – sei es bei der «Energiewende» Hinzugezogenen. Eifersüchtig.

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Die Grünschnäbel kommen Was ist los in Amerika? Corona schlägt zurück Linke Jungpolitiker ohne Berufserfahrung erobern die Schweiz. Stanford-Historiker Victor Davis Hanson über ein Land in Aufruhr. Schweizer Viren-Abwehr zwischen Angst und Augenmass. Christoph Mörgeli Alex Baur Probeabo: Gölä über Glück Anleitung zum Fremdgehen Schweiz ohne Gletscher Treue ist gut, ein Seitensprung oft besser. Alex Baur Warum das Leben grossartig ist. Roman Zeller Das Eis schmilzt weg. Muss uns das traurig machen? Christian Schlüchter

Heavy Metal ist das Grösste Warum Frauen Literatur und Kunst Myanmars Das Impfdebakel Schriftstellerin Elif Shafak Sören Kierkegaard Otto Böhmer über den Warum Shakespeare über die Ehrlichkeit 8 Ausgaben nur Fr. 38.– grossen dänischen heisst Alain Berset die besseren Spione sind ein Gigant ist gefangene Prinzessin Gottesdenker der Gefühle Wie der Bundesrat die Chance seines Lebens vergeigte. Die starken Waffen des angeblich schwachen Geschlechts. Aung San Suu Kyi galt als Heilige, dann als Teufelin. Telefon 043 444 57 01 Roger Köppel und Hubert Mooser Pierre Heumann Das eine war so falsch wie das andere. Francis Pike [email protected] www.weltwoche.ch/abo Königin der Spiele Sie hat sieben Vornamen – und demaskiert manches Klischee. Wie die Zürcherin Philomena Schwab zur erfolgreichsten Game-Designerin der Schweiz wurde. Thomas Renggli

ideospiele besitzen – gelinde gesagt Idee gekommen, Game-Designerin zu wer- sche Wirtschaftsmagazin Forbes wurde auf die – einen steigerungsfähigen Ruf. Die den, sagt Schwab. Obwohl sie mit neun Jahren Zürcherin aufmerksam. Vor vier Jahren zähl- VWeltgesundheitsorganisation (WHO) einen Gameboy erhalten habe und durch das te es Schwab zu Europas dreissig wichtigsten anerkennt die Game-Sucht als offizielle Krank- Spiel «Pokémon» quasi mit dem Game-­Virus Technologie-Cracks unter dreissig. Die Bilanz heit. Der amerikanische TV-Sender ABC be- infiziert worden sei. adelte sie 2020 zur «Queen of Games». richtete unlängst von einem Jungen, der der- Schwab wuchs im Zürcher Aussenquartier art von einem Spiel absorbiert war, dass er trotz Schwamendingen auf. Dass sie aus einem eher Begeisterung für Biologie Tornado-Warnung das Haus nicht verliess. unkonventionellen Umfeld kommt, lässt sich Dabei war ihr Bildungsweg von Zufällen ge- Wer Philomena Schwab zuhört, erhält an ihrem Geburtsschein ablesen. Schwab hat prägt. Schwab erfuhr in der Oberstufe bei- ein anderes Bild. Die 31-jährige Zürche- läufig, dass man an der Zürcher Hochschule rin aus Schwamendingen ist die erfolg- der Künste Game-Design studieren kann. reichste Game-Designerin des Landes. Sie Es war für die eher mediokre Schülerin entkräftet das Vorurteil, dass Computer- eine Motivation, sich mehr anzustrengen spiele allein zur Gewaltverherrlichung und die Matura zu machen. Die Abschluss- und Aggressionssteigerung beitragen, mit arbeit ihres Studiums war gleichzeitig ihr überzeugenden Argumenten und nennt beruflicher Durchbruch: das Spiel «Niche das Beispiel der serious games (seriösen – a Genetics Survival Game», das von der Spiele), die auch im medizinischen Kon- Züchtung einer überlebensfähigen Tier- text verwendet werden. So werde derzeit art handelt. Es verbindet Schwabs Be- an Spielen geforscht, die Alzheimer vor- geisterung für Comics mit derjenigen für beugen sollen. In einem verwandten Be- Biologie. Die Finanzierung des Projekts si- reich bewegen sich die sogenannten edu- cherte die Zürcherin über ein Crowdfun- cational games, also die edukativen Spiele. ding. Dies hat sich mehrfach ausbezahlt. Diese können etwa im Schulumfeld ein- Mittlerweile kann Schwab von den globa- gesetzt werden, um Sachverhalte besser len Online-Einnahmen von «Niche» leben. verständlich zu machen. Hier komme eine Auf die Avancen aus dem Silicon Valley entscheidende Stärke dieses Mediums zum ging sie bisher nicht ein. Stattdessen grün- Tragen: «Man kann selbst in die Rolle des dete sie 2016 ihr eigenes Studio (Stray Fawn) Protagonisten schlüpfen», sagt Schwab. und baute es kontinuierlich aus. Zurückblickend auf ihren schon jetzt er- Von «Pokémon» infiziert staunlichen Werdegang stellt die junge Frau Wenn sie ihren Beruf erwähne, werde sie auch das Schweizer Ausbildungssystem in oft erstaunt angesehen, erzählt sie: «Game- Frage: «Weshalb ist nie ein Berufsberater Entwickler sind doch männlich, kommen Erstaunlicher Werdegang: Philomena Schwab. auf die Idee gekommen, mich auf die Hoch- nie aus ihrem Kellerzimmer heraus und er- schule der Künste hinzuweisen?» Sie ver- nähren sich ausschliesslich von Pizza und mutet, dass einer Realschülerin schlicht Chips.» Dieses Stereotyp scheint sich wacker zu sieben Vornamen: Philomena, Naomi, Om- nicht zugetraut wurde, dass eine solche Option halten. Es stimmt allerdings, dass die Game-In- Chanti, Cosma, Ruben, Rahel, Anastasia. für sie relevant sein könnte. Immerhin braucht dustrie männlich dominiert ist. Nur 22 Prozent Auch deshalb wurde sie in der Gamer-Sze- man dafür eine Matura. der Spieleentwickler sind weiblich. ne schon mit übernatürlichen Fähigkeiten Deshalb appellierte sie im Rahmen ihrer Doch mit dem Aufkommen der Smartphones in Verbindung gebracht. Der Tages-Anzeiger «Winterrede», die sie im Januar 2020 am Gross- und Mobile-Games fand sich eine neue Ziel- schrieb über sie: «Schwab scheint überall zu münsterplatz gehalten hat, an jene Menschen, gruppe: Frauen verschiedenster Altersklassen. sein. Sie reist von Kongress zu Ausstellung, gibt die den Jungen Leitplanken setzen können: Spiele wie «Candy Crush» verbreiteten sich in Interviews und referiert an Konferenzen. Ihre «Liebe Eltern, Lehrer und Berufsberater: Bitte Windeseile. Dank diesem Zuwachs an Spie- Hyperaktivität machte sie in den letzten Jah- steckt Kinder nicht anhand ihrer Schulnoten in lerinnen sind nun zirka 45 Prozent der Spie- ren zur wichtigsten Botschafterin der Schwei- eine Schublade! Glaubt an sie und zeigt ihnen ler weiblich. Sie selbst wäre aber nie auf die zer Game-Designer.» Auch das amerikani- Wege auf!»

Weltwoche Nr. 30.21 87 Bild: Dan Cermak Wie der Grossvater, so der Enkel Alfred Comte war der jüngste der ersten Schweizer Piloten und ein Draufgänger. Sein Enkel Michel war als Starfotograf frühreif und als Künstler ein Spätzünder. Mark van Huisseling

enn man älter wird, nimmt die Be- deutung von Geschichte zu; Ge- Wschichte im Allgemeinen und die Geschichte der Familie im Besonderen. So geht es auch Michel Comte, dem 67-jährigen Schweizer Künstler. Er brachte deshalb ein Buch heraus über seinen Grossvater, «Comte Aviator» heisst die bei Steidl vergangenes Jahr erschienene visual biography mit 250 Bildern auf 308 Seiten über Alfred Comte (1895–1965). Alfred Comte war der «jüngste der ers- ten Schweizer Piloten», schrieb Erika Comte, ­Alfreds Frau. Und berichtete in einem Text, den Michel Comte für das «Aviator»-Buch be- arbeitet hat, von Schlagzeilen in Pariser Zei- tungen aus dem Jahr 1913: «Grossartiger als Pégoud!» Der Achtzehnjährige aus Delsberg, heute Kanton Jura, habe über dem Flugplatz Villacoublay Luftkunststücke gezeigt, die Dar- bietungen des grossen einheimischen aerobatic-­ Piloten Adolphe Pégoud übertrafen. Tyler Gross denken: Flugpionier Alfred Comte, um 1915; Michel Comte mit Gattin Ayoko, 2020. Brûlé, ein kanadischer Verleger und Werber, wiederum beschreibt Alfred Comte als «ausser- gewöhnlichen Mann, der eine Ausnahmezeit ten, verrückter Kerl, ich schreibe seiner Witwe cke St. Moritz–London, mit einem Gast, der sei- veranschaulicht sowie mitverantwortlich ist Erika noch immer . . .» Oder fünfzehn Jahre nen Zug verpasst hatte; der Brite habe Alfred dafür, wie wir heute die Welt bereisen». später, im Airport von Alice Springs in Austra- als «daredevil», Draufgänger, bezeichnet, sei lien, 24 Flugstunden entfernt von New York, aber nichtsdestotrotz eingestiegen. «Ah, from » wo Michel damals wohnte, habe er ein stark Nachdem er von Ad Astra entlassen wurde «Ich erinnere mich an seine Stimme, seine vergrössertes Foto einer AC-4 «Gentleman» (wegen Nichterscheinens an einem Arbeitstag), Hände und sein weiches Frühstücksei», sagt an der Wand der Ankunftshalle erblickt, eines machte er sich selbständig – 1923 begann das Michel Comte, der elf war, als sein Grossvater Flugzeugs, das sein Grossvater entwickelt Unternehmen «Alfred Comte, Luftverkehrs- & starb. Der wortkarge alte Mann habe mit ihm hatte und von dem elf Stück gebaut wurden Sportfliegerschule» in Oberrieden Flugzeuge Modellflieger aus Holz gebaut, «er ist mir (zwischen 1928 und 1930). und Flugzeugteile herzustellen, drei Jahre spä- nahe». Nach dem Ersten Weltkrieg – Alfred Comte ter entstand «Alfred Comte, Schweizerische Was wohl auch damit zusammenhängt, dass diente von 1914 bis 1916 als Pilot der Schwei- Flugzeugfabrik», die erste private Flugzeug- Michel als Jugendlicher und Erwachsener zer Luftwaffe, die folgenden zwei Jahre als fabrik der Schweiz. Comtes Erzeugnisse seien immer wieder auf Spuren von respektive Er- Militärfluglehrer – gründete er mit Wal- über die Landesgrenzen hinaus geschätzt wor- innerungen an Alfred stiess: Im Jahr 1971 etwa ter Mittelholzer die Firma «Comte, Mittel- den, doch geschäftlich musste er Rückschläge habe er am Stadtrand von Edinburgh den Dau- holzer und Co., Luftbildverlagsanstalt und hinnehmen (Wikipedia), 1935 wurde Konkurs men in den Regen gehalten, damit ein Auto Passagierflüge», damit sollte der Luftverkehr angemeldet. Während des Zweiten Weltkriegs ihn mitnehme ins weitentfernte Oxford, wo zwischen Zürich und St. Moritz abgewickelt diente er erneut der Luftwaffe, Comte brach- er zur Schule ging. Nach langem Warten habe werden. Wenige Monate später taten sich die te es zum Hauptmann, danach leitete er eine der Fahrer eines Aston Martin DB4 gehalten. beiden mit der finanzstärkeren Ad Astra Aero Flugschule in Spreitenbach. Der Mann habe sich vorgestellt, «John», und zusammen, dem Vorläuferunternehmen der In seinem Atelier in Uetikon am See nimmt sich erkundigt, woher der lad, Junge, denn sei. Swissair. Comte flog in der Folge als Erster von Michel Comte an einem regnerischen Nach- «Ah, from Switzerland», er habe einen sehr Zürich nach London (Quelle: Wikipedia). Und mittag diesen Juli Walter Mittelholzers «Alpen- guten Freund von dort gehabt, «einen Pilo- laut Michel Comte ebenfalls als Erster die Stre- flug» vom Bücherregal (Comte wohnt seit eini-

88 Weltwoche Nr. 30.21 Bilder: zVg macht einfach, was er machen will. Und denkt gross dabei. Was in unserem kleinen Land nicht bei allen gleich gut an- kommt respektive immer ver- standen wird. Michel und ich kennen uns seit fünfzehn Jahren. Ich habe gelernt, dass er viel verspricht und manchmal Geschichten erzählt, die man als zu gut, um wahr zu sein, hören kann. Ich habe aber auch gelernt, dass er das meiste hält. Und die Geschichten, wenigstens im Kern, stimmen. Während Erde als primäres Medium: Land-Art-Projekt bei Harran (links), archäologische Fundstätte in einer Höhle dort. eines Gesprächs kürzlich sagte er beispielsweise: «Ich war einer der most frequent Con- gen Jahren mit seiner japanischen Frau Ayako, die Gletscherschmelze an verschiedenen Orten corde-flyers [des Überschall-Passagierjets]. Ich die auch seine Muse ist, sowie zwei Hunden der Welt fotografisch festzuhalten. Und Sedi- habe amerikanische Präsidenten getroffen, mit und drei Katzen in Küsnacht). Er blättert durch mente – Ablagerungen, die von schmelzenden Miles Davis gearbeitet, Louise Bourgeois, Geor- das 1928 erschienene Buch mit 191 Fliegerauf- Gletschern hinterlassen werden – zu sammeln. gia O’Keeffe . . .» Aufschneiderisch? Kann man nahmen von Gipfeln, Spitzen und Hörnern der Auf die Kunstrichtung Land Art war er in meinen. Doch gelogen ist es nicht. Nicht mal Alpen. Berge hätten ihn begeistert, solange er den 1980er Jahren in Kalifornien aufmerksam übertrieben. zurückdenken könne, sagt er. Das liege in der geworden. Dort hatten fünfzehn Jahre zuvor Die Sedimente, Ablagerungen, die die Familie. Im von ihm herausgegebenen «Avia- einige amerikanische Künstler (darunter Ro- Gletscherschmelze hinterlässt? Sammelt er tat- tor» gibt es ein Bild seiner Eltern, es zeigt Mut- bert Smithson, Walter De Maria oder Michael sächlich seit Jahrzehnten, in den vergangenen ter Sylvia und Vater Alfred (wie der Grossvater) Heizer) begonnen, Werke herzustellen, für die Jahren erst stellte er diese in Glaskästen aus auf einem Gipfel, aneinandergeschmiegt und die Erde als primäres Medium diente. Das In- wie Bilder, etwa im Maxxi-Museum in Rom lächelnd, das war 1953; Alfred, 94, arbeitete frü- teresse für Land Art, die als radikales Genre oder bei einem seiner Galeristen, Urs Meile in her für einen Verlag, er ist noch rüstig, besucht gilt, da Werke jahre-, manchmal jahrzehnte- Luzern. Sein Film «The Girl from Nagasaki» Vernissagen seines Einzelkinds Michel, Sylvia lange Produktionsprozesse benötigen, habe (2013), bei dem es sich um eine Neuauflage von starb vor sechs Jahren. ihn seither nicht mehr losgelassen, sagt er. Puccinis «Madama Butterfly» handelt und der Aus Michel wurde kein Pilot, er habe die Aus- 2015 erschien «Troublemakers. The Story of ihn Millionen gekostet habe? Bekam gute Be- bildung im Militärdienst abbrechen müssen, Land Art», Michel Comte war Co-Produzent wertungen von Kritikern und bei IMDb, der nach einem Reitunfall; was er jahrzehntelang des Dokumentarfilms. Online-Filmdatenbank, 7,7 Punkte (von 10 war immerhin: Vielflieger. Und ein Kletterer. möglichen). Und nun also Land Art in Nord- Mitte der 1980er Jahre – nachdem er zuerst Res- Zu gut, um wahr zu sein mesopotamien, die man auf Satellitenbildern taurator gelernt und etwa für Karl Lagerfeld ge- Vor zirka zweieinhalb Jahren schliesslich wurde erkennen kann . . . Ich denke, dass er auch die- arbeitet hatte, fotografierte er zur Hauptsache er auf ein Gebiet bei der antiken Stadt Harran ses Werk abschliessen wird. Mode und Porträts für Vogue Italia oder Interview am äusseren Rand der Türkei aufmerksam. Alfred Comte, der Grossvater und daredevil, Magazine sowie Reklameauftraggeber; er ging In dieser recht unwirtlichen, nicht leicht zu- war frühreif, er holte sich die Pilotenlizenz aber auch auf Reportage für das Rote Kreuz in gänglichen Gegend nahe der Grenze zu Syrien­ nach sechseinhalb Flugstunden als Achtzehn- pachtete er 2500 Quadratkilometer Land für 59 jähriger. Alfred junior, Michels Vater, nahm’s Aufschneiderisch? Kann man Jahre. Und ist seither an einem Land-Art-Pro- ein wenig gemütlicher im Leben; erst neuer- ­meinen. Doch gelogen ist es nicht. jekt, das man, wenn es fertiggestellt sein wird, dings, er wird bald 95, begeistere er sich für die auch auf Satellitenbildern erkennen könne, Kunstwerke seines Sohns. Und Michel, der aus Nicht mal übertrieben. sagt er. Es erinnere an die Nazca-Linien in seiner ersten Ehe zwei erwachsene Söhne hat, Peru, die zwischen 800 v. Chr. und 600 n. Chr. war/ist ein Draufgänger auf seine Art: als Foto- Krisengebiete – habe er eine Zeitlang in Tibet entstanden, stand in der Neuen Zürcher Zeitung: graf ein Frühreifer, als Künstler ein late bloomer, gelebt. Und geplant, den K2 zu besteigen (er «Aus zwanzig bis fünfundzwanzig Meter brei- Spätzünder. Oder wie Frank Sinatra, mit dem brach die Übung ab, nachdem ein Kletter- ten Kreisen aus hellem Stein besteht die Vision. Michel vermutlich auch gearbeitet hat oder we- freund abgestürzt war). Einzelne davon sind als Kanäle angelegt und nigstens bekannt war, sagen würde: «The best Dort habe er eine Gruppe chinesischer mit Wasser gefüllt, andere mit Solarpaneelen is yet to come.» Wissenschaftler getroffen, die das Schmelzen versehen, die in der Dämmerung Licht ab- von Gletschern erforschten. «Zu einer Zeit, als geben.» Die NZZ-Kritikerin beschrieb das Vor- es hiess, der Rückgang betrage vielleicht fünf- haben als gigantisch, waghalsig sowie verrückt, Ende Mai/Anfang Juni 2022 eröffnen in der Villa Panza zig Zentimeter jährlich», sagt er, «vermutlich meinte das wohl als Kompliment, fragte aber: in Varese beziehungsweise im Old Royal Naval College waren es aber schon damals eher 150 Meter «Ist dieser Mann grössenwahnsinnig?» in London-Greenwich zeitgleich zwei im Dialog im Jahr.» Die Chinesen hätten eine mögliche Wäre die Frage an mich gegangen, hätte ich miteinander stehende Retrospektiven/Ausstellungen von Michel Comte. Sie zeigen seine ­Gletscherbilder, Wasserknappheit erforscht, die sie ab zirka geantwortet: «Nein, ist er nicht. Oder jeden- die neuen Arbeiten «Red Water/Red Rain» sowie seine 2030 befürchteten. Worauf er angefangen habe, falls nicht mehr, diese Phase ist vorbei.» Er ­«Erosion»-Installationen.

Weltwoche Nr. 30.21 89 Bilder: zVg Bücher Je länger der Abend, desto kürzer die Weile Die gute Lektüre versüsst uns den verspäteten Sommer. Tipps von den Weltwoche-Autoren.

Sexy und berührend Millennium-Trilogie beginnt eben damit: Sa- Bootsfahrt ins Innere lander verweilt nach einer Schönheitsoperation Madeline Miller: Das Lied des Achill. in der Karibik und tut, was ganz normale Men- Virginia Woolf: Die Fahrt zum Leuchtturm. Eisele. 416 S., Fr. 25.90 schen so tun. Für die Spannung verhindert sie Hofenberg. 184 S., Fr. 26.90 natürlich auch einen Mord, ehe sie im Verlauf Kürzlich bekam ich von meiner des Buches nach Schweden zurückkehrt und Die britische Schriftstellerin Tochter ein Buch geschenkt, das sich mit ihrem kriminellen Vater und mehre- Virginia Woolf berichtet in ich mir selber nicht ausgesucht ren Institutionen anlegt. Lesenswert ist das, diesem 1927 erschienenen hätte. Das Leben von Achill, neu weil alle diese Erlebnisse – ob ein gewalt- Roman von ihren Kindheits- erzählt. Staubig, befürchtete samer Kampf, eine sexuelle Beziehung oder erinnerungen. Die Autorin er- ich. Und was passierte? Ich die Morgenroutine – auf eine immer seltenere zählt sie aus der Sicht einzel- konnte es nicht weglegen und Art beschrieben werden: völlig ohne Wertung, ner Protagonisten wie etwa musste mir immer hastig Tränen wegwischen, mit nihilistischer Gleichgültigkeit. Anton Beck der dominierenden Mutter, Ms Ramsay, die wenn die Familie ins Wohnzimmer kam. Am mit ihrem Mann in einer konfliktreichen Be- Schluss weinte ich. Die Geschichte­ ist aus der ziehung steht. Auftakt der Handlung ist die Sicht von Patroklos erzählt, einem scheuen Fröhliche Dolce Vita geplante Bootsfahrt zu einem Leuchtturm in Knaben, der mit zehn Jahren an den Hof von den Gewässern der Hebrideninsel Skye. Die König Peleus geschickt wird. Dort wächst er mit Françoise Sagan: Bonjour Tristesse. Expedition wird vorerst abgeblasen und erst Achill auf, dem strahlenden, starken und schö- Ullstein. 176 S., Fr. 26.90 zehn Jahre später, nach dem Ersten Weltkrieg, nen Sohn von ­Peleus. Die beiden werden mit nachgeholt, so dass Rückblenden die frühe- der Zeit Freunde, später Liebende; dies nicht Frankreich im Sommer 1953. ren Geschehnisse in einem anderen Licht er- zur Freude von Achills Mutter Thetis, einer Der umtriebige Pariser Werbe- scheinen lassen. «Die Fahrt zum Leuchtturm», Meeresgöttin. Als nach dem Raub der Helena fachmann Raymond, 40, mietet übersetzt von Karl Lerbs, ist ein literarisches alle Helden Griechenlands in den Krieg gegen irgendwo zwischen Saint-Rapha- Meisterwerk, das einen gedanklich jahrelang Troja ziehen, will Achill mit, und Patroklos ël und Cannes eine Villa, um dort begleitet. Es perfektioniert die Erzähltechnik folgt ihm. Das Buch ist wunderbar geschrieben; mit seiner lebenshungrigen Toch- des stream of consciousness, der erlebten Rede, es ist eine Coming-of-Age-Geschichte ebenso ter Cécile, 17, und dem Partygirl die dem Leser das Innere einer Romanfigur wie ein Superheldenspektakel, brutal und sexy Elsa, 29, sorglose Ferien zu verbringen. Ein glaubhaft erschliesst. Rolf Hürzeler und berührend. Daniela Niederberger paar Tage feiert das Trio fröhlich die Dolce Vita. Doch dann taucht Raymonds alte Freun- din Anne, 42, auf, die neben ihrem Beruf als Ausgerechnet St. Ives Karibisch gelassen Modedesignerin noch dieses altmodische Fai- ble für Treue und Verantwortung anstelle von Rachel Elliott: Bären füttern verboten. Stieg Larsson: Verdammnis. schnellem Sex und genusssüchtiger Eskapaden Mare. 336 S., Fr. 33.90 Heyne. 751 S., Fr. 31.90 hat. Als Anne und Raymond eines Tages ver- künden, dass sie heiraten wollen, beginnt die Wieso ist es ausgerechnet in St. Mit Lisbeth Salander und Mika- kleine Cécile ein mörderisches Spiel, um das Ives, dass Sydney von einem el Blomkvist schuf der schwedi- zu verhindern. Was wie ein banales Sommer- Flachdach stürzt – die besessene sche Journalist und Autor Stieg märchen aus den goldenen Jahren der Nieren- Freerunnerin, die bisher noch Larsson nicht nur eines der be- tisch-Ära an der Riviera klingt, ist immer noch jede Wand hochgerannt ist und kanntesten Ermittlerduos, son- die pure Provokation. Ein brillanter Psycho- jeden Sprung gemeistert hat? dern beschrieb auch die Aspekte thriller der damals erst achtzehnjährigen Au- Und wieso ist es Maria, die sie des Lebens im 21. Jahrhundert – torin, der gegen Moral und Engagement das beim abendlichen Hundespaziergang fin- ob Banküberweisungen, Einkaufen im Super- Hohelied der Lust singt – cool wie Chet Baker, det? Manchmal scheint es so, als könnten die markt, die Arbeit im Büro oder zu Hause, die zynisch wie Michel Houellebecq und süffig wie Koinzidenzen des Lebens nicht einfach Zu- verregneten Tage auf vollen Strassen oder die ein Martini on the rocks unter der Sonne des fall sein. Dass sich mit Sydney und Maria zwei Ferien in Hitze-Regionen. Der zweite Teil der ­Südens. Dagmar Just Lebensgeschichten begegnen, die jeweils von

90 Weltwoche Nr. 30.21 einem traumatischen Verlust in jungem Alter gezeichnet sind, bringt plötzlich für gleich zwei Familien umwälzende Entwicklungen in Gang. Auf selten gesehene kunstvolle Art erzählt Rachel Elliott, wie sich in der Ver- schränkung zweier Familiengeschichten fest- gezurrte Verhältnisse auf eine Art lockern, die niemand mehr für möglich gehalten hätte: Kann es wirklich sein, dass nicht die Untröst- lichkeit, zu bitterem Groll erstarrt, das letzte Wort zwischen Sydney und ihrem Vater Ho- ward hat? Rachel Elliott hat ein geheimnis- volles, ein durch und durch staunenswertes Buch geschrieben. Bernadette Conrad

Komplex und fordernd

Lucinda Riley: Die verschwundene Schwester. Goldmann. 832 S., Fr. 29.90

Beste Sommerlektüre ist «Die verschwundene Schwester» – Band 7 der Plejaden-Saga der irischen Bestsellerautorin. Das über 800 Seiten dicke Werk ist komplexer und fordernder als frühere Romane über die Adoptivschwestern d’Aplièse. Vielleicht des- halb, weil Lucinda Riley sich in ihrer Heimat West Cork bewegt und ihre Vergangenheit mit aufarbeitet. Sie zeichnet, historisch zu- gespitzt, den irisch-britischen Konflikt um Irlands Unabhängigkeit im 20. Jahrhundert nach und stellt, wie stets, starke, engagierte Frauen in den Mittelpunkt, die vor allem eines suchen: sich selbst und Frieden. Eineinhalb Jahre arbeitete die an Krebs erkrankte Autorin an dem Buch, diktierte zuletzt im Kranken- haus. Im Juni verstarb sie leise. Den über- raschten Fans hinterliess sie Passagen eines Folgebands, der das Rätsel um den myste- riösen Adoptivvater Pa Salt endgültig lösen soll. Mit Band 7 setzte Riley sich ihr Denkmal. Band 8 ist ihre Testamentseröffnung – Sohn Harry erhielt den Auftrag, die Saga zu voll- enden. Bettina de Cosnac

Femme fatale

Pauline Delabroy-Allard: Es ist Sarah. FVA. 192 S., Fr. 33.90

Ich wünschte, ich könnte die- ses Buch noch einmal zum ers- ten Mal lesen: Mit «Es ist Sarah» (übersetzt von Sina de Malafosse) gelang der Französin Pauline De- labroy-Allard im Jahr 2018 nicht nur ein atemberaubendes, ein be- törendes Debüt, sondern auch ein literarischer «Süffig wie ein Martini on the rocks unter der Sonne desSüdens.» ­ Wurf: Sie schaffte es in die zweite Runde des

Weltwoche Nr. 30.21 91 Illustration: Oleg Oprisco renommierten Prix Goncourt. Der Roman der gegen den rigiden Kolonialismus, die ihnen stündigen prickelnden Filmhit «Once Upon damals dreissigjährigen Autorin bringt das immerhin die schamfreie Entdeckung ihrer a Time in Hollywood» (2019) kurzerhand zu Sujet der Femme fatale auf ein neues Level. Lust beschert. Wie sehr sie ihn liebt, begreift 400 Seiten Lesefutter. Er schreibt, wie er in- Entstanden ist eine grosse Beschwörung, eine das Mädchen erst viel später klar. Ihre Fami- szeniert: brillant auf den Punkt. Weil er einem soghafte Erzählung voller Sätze, in denen es lie, emotional und finanziell verwahrlost, ver- seine ganz persönlichen Leidenschaften aber um alles geht. Für mich eine der schönsten und achtet den dreckigen Chinesen, nimmt aber fast schon zwanghaft aufdrängen möchte, dunkelsten Liebesgeschichten der letzten Jahre bereitwillig sein Geld. Der reiche Vater des sind manche Passagen auch im Buch zu ge- – genau das Richtige für einen fieberheissen Chinesen würde den Sohn lieber tot sehen als schwätzig. Das bedeutet: Wer sich nicht fürs Lesetag am Strand. Claudia Schumacher verheiratet mit der «kleinen weissen Hure». Filmgeschäft oder für Western interessiert, Über die quälenden politischen Verhältnisse wird sich langweilen. Für alle anderen ist der wird nach Möglichkeit geschwiegen. Nur ein- Roman ein wahrer Genuss, eine Goldgrube, Leichtfüssig mal warnt die Erzählerin nach ihrer Rückkehr gefüllt mit Anekdoten, Gemeinheiten und nach Frankreich vor dem Aberglauben, «an Betrachtungen, die von genialen Analysen Jordi Punti: Messi – Eine Stilkunde. eine politische Lösung des persönlichen Prob- des Werks Akira Kurosawas bis zur sexuellen Kunstmann. 184 S., Fr. 31.90 lems zu glauben». So illusionslos erinnerte ich Verspieltheit der Hippies reichen. Die gröss- das Buch nicht. Aber bei der zweiten Lektüre­ te Überraschung für «Once Upon a Time in Lionel Messi, das argentinische war es noch berührender als bei der ersten. Hollywood»-Fans: Der feurige Schluss des Fussball-Genie, ist faszinierend. Beatrice Schlag Films findet im Buch als Randbemerkung «Der Fussballer, für den die Ad- bereits im ersten Drittel statt. Benjamin Bögli jektive nicht ausreichen», so hul- digt ihm Jordi Punti, sein Biograf. Kurztrip ins Zauberland Seine «Stilkunde» ist wie der be- Wer geht, sieht mehr schriebene Spieler: leichtfüssig. Gregor von Rezzori: Maghrebinische Das Buch ist eine Aussenbetrachtung des Fuss- ­Geschichten. Rimbaud. 185 S., Fr. 44.90 Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach ballfans Punti im Camp Nou, in Messis Stadion, Syrakus im Jahre 1802. Insel. 455 S., Fr. 17.90 seinem zweiten Zuhause. Das macht Sinn; über Sind Sie es leid, in Socken durchs den privaten Lionel Messi weiss man wenig, Minenfeld politischer Korrekt- Der Titel ist irreführend. Es war der 34-Jährige gibt praktisch keine Interviews. heit zu trapsen? Kommen Sie ein Gewaltsmarsch, den der Also analysiert der Autor den Dribbelkönig aus nach Maghrebinien, wo Männer 38-­­jäh­rige Seume von Leipzig der Ferne und zoomt auf das «Wunder der Bio- noch Männer, Frauen hochbusig bis Syrakus absolvierte. Aber der mechanik», fast nie verletzt, praktisch ohne und Transgender Zwitter sind ehemalige Hauslehrer und Kor- Schwächen, trotz seiner 1,70 Meter. Er ver- und die Gesetze auf zwei Säulen rektor war hellwach unterwegs. gleicht ihn mit den ganz Grossen seines Fachs: ruhen: Gelassenheit der Seele und Bakschisch. Anders als viele Bildungsreisende mit Cristiano Ronaldo, seinem ewigen Rivalen; Als die «Maghrebinischen Geschichten» 1953 des 19. Jahrhunderts, die in Italien vom Kunst- mit Ronaldinho, seinem brasilianischen Men- erschienen, waren sie Berichte aus einem bi- und Kulturerlebnis beseelt waren, interessier- tor, der dem Newcomer Messi in der Kabine den zarren Landstrich. Heute erscheinen sie wie te sich Seume für die Lebensbedingungen der Spind neben sich anbot; mit Maradona, Argen- ein nostalgischer Sehnsuchtsort früherer Menschen, denen er begegnete. Die Armut in tiniens ewigem Fussballgott. Dieses Buch über Normalität – pralles, reiches, krummes Leben. Sizilien empörte ihn, gegen die dortigen Bettler die Gründe, warum auch gegenwärtig keiner Auf einer Karte ist Maghrebinien nicht zu kamen ihm die römischen wohlhabend vor. Als an Messi herankommt, empfehle ich wärms- finden, doch seine Grenzen decken sich mit Verfechter von Vernunft, Gerechtigkeit, Frei- tens als Sommerlektüre. Denn nach der EM ist Südosteuropa – weshalb das Buch Pflicht- heit und Humanität kritisierte er soziale Miss- vor der WM. Es könnte Messis letzte sein, viel- lektüre sein sollte für alle Westeuropäer in stände ebenso wie das «Religionsunwesen». leicht. Roman Zeller Brüssel und auch anderswo, die Ungarn, Nicht den ästhetischen Rausch suchte er, son- Griechen oder Bulgaren partout nicht verstehen. dern den realen Alltag. Das macht seine nüch- Ein Kurztrip in dieses fehlerhafte Zauberland ternen Beobachtungen im Vorbeigehen bis Noch berührender würde Wunder wirken. Wolfgang Koydl heute lesenswert. «Wer geht», schrieb er wäh- rend einer späteren Reise, «sieht im Durch- Marguerite Duras: Der Liebhaber. schnitt anthropologisch und kosmisch mehr, Suhrkamp. 218 S., Fr. 16.90 Goldgrube für Anekdoten als wer fährt.» Daniel Weber

Die im damaligen Indochina auf- Quentin Tarantino: Es war einmal in Hollywood. gewachsene Französin Duras Kiepenheuer & Witsch. 416 S., Fr. 38.90 Liebe aus der Zukunft war bereits ­siebzig, als sie den «Liebhaber» schrieb. Konserva- Der erste Roman des be- Giuseppe Gracia: Der Tod ist ein Kommunist. tive schmähten den Roman als rühmten Filmregisseurs Quen- Fontis. 128 S., Fr. 23.90 unmoralische Lolita-Autobio- tin Tarantino, Anfang Juli er- grafie, die Jury des Prix Goncourt schienen, stieg in die New York Eine wahre Liebe aus der Zu- verlieh ihr Frankreichs höchsten Literatur- Times-Bestsellerliste direkt auf kunft, eine anständige Weltver- preis. Fast vierzig Jahre nach Erscheinen liest Platz eins ein. Das ist kaum schwörung mit Geheimloge, sich der berühmte Roman über das fünfzehn- verwunderlich, denn wo Ta- ein heruntergekommener und jährige französische Mädchen in Saigon und rantino draufsteht, ist saftige, verwegene ahnungsloser Journalist (natür- seinen scheuen, fast doppelt so alten chinesi- Unterhaltung drin. Jetzt auch in Buchform. lich!), der Professor, der in der schen Liebhaber wie eine private Auflehnung Tarantino verarbeitete seinen knapp drei- Irrenanstalt landet, weil er vor

92 Weltwoche Nr. 30.21 haben wie er. Es war, als ob ich mich eine Zeitlang in seinen Worten, Sätzen und Ge- schichten auflöste. Er gab mir, wie kein ande- rer, glaube ich, eine Ahnung vom Schreiben, vom Trinken ebenfalls, und eine Gier nach einem mittlerweile furchtbar unmodern ge- wordenen Männerleben auch. Ich schrieb tat- sächlich in Paris in seinen Cafés mit Bleistift in Notizbücher, ging im Golfstrom hochsee- fischen und auf den grünen Hügeln Afrikas auf ­Safari. Ich habe alles von ihm gelesen in dieser Zeit, das meiste mehrmals, dann kamen andere Schreiber und meine eigene Tipperei, und gelegentlich vermisste ich ihn, meist dann, wenn ich keine Worte fand, die mir mein ­Dasein erklärt hätten. Vor sechzig Jah- ren und ein paar Tagen hat er sich erschossen, 62-jährig,­ wortlos, wenn man so will, und ich sass an seinem diesjährigen Todestag zu Hause, es war nachts, ich wollte weg, konn- te aber nicht fort. Ich stand auf, stellte mich vor meine ­Hemingway-Sammlung und nahm «Paris, ein Fest fürs Leben», seine Er- «Genau das Richtige für einen fieberheissen Lesetag am Strand.» innerungen an jene Zeit, in der mehr Worte flossen als Alkohol und in der einen Satz an der Angel zu haben mehr wert war als einen einem Impfstoff warnt, und eine schreck- sen der römischen Republik, deren Unter- Marlin. Es sind seine letzten Sätze, so grad- liche Prophezeiung über den Untergang der gang in Bürgerkrieg und Tyrannei Cicero linig präzise wie Kugeln aus einer Schrot- Menschheit – nicht umsonst trägt der herr- nicht nur brillant beschrieb, sondern als täti- flinte. Michael Bahnerth lich rasante satirische Roman gegen die akute ger Beobachter hautnah miterlebte. Das Buch Corona-Depression von Giuseppe Gracia den ist gleichzeitig tröstlich und eine Warnung: Untertitel «Ein Fiebertraum». Eine nicht un- Tröstlich deshalb, weil es zeigt, dass es früher Ahnungslos in Afrika erhebliche Rolle spielen auch ein lachsfarbenes viel schlimmer zuging in der Politik. Eine War- Höschen und ein paar glattrasierte, queer-vega- nung insofern, als uns Ciceros Geschichte vor Evelyn Waugh: Scoop. ne Hohepriesterinnen als Hüterinnen der Er- Augen führt, wie schnell eine jahrhunderte- Diogenes. 320 S., Fr. 18.90 lösung, die sich zwar emanzipatorisch, aber alte republikanische, an den Zeitumständen doch ein bisschen verrannt haben. Ähnlich- gemessen freiheitliche und demokratische Früher war der Journalismus keiten mit den gegenwärtigen Weltgescheh- Ordnung zuschanden geritten werden kann ­besser, lautet eine beliebte Klage nissen, einer Überdosis James-Bond-Filmen von machtgierigen, herrschsüchtigen Figuren, in diesen Pandemiezeiten. Doch und gängigen Verschwörungstheorien nicht die sich für Götter halten, um alle andern zu stimmt das wirklich? Schon 1938 ganz ausgeschlossen. Mit diesem Plot hat das bevormunden, herumzukommandieren und veröffentlichte der britische Buch reale Chancen, von der WHO als Fake zu versklaven. Das Personal und die Bühnen- Schriftsteller Evelyn Waugh eine News klassifiziert zu werden. Man sollte sich bilder haben gewechselt, aber das Theater- brillante Satire auf das Nach- rechtzeitig ein Exemplar sichern. Birgit Kelle stück ist geblieben. Es wird immer wieder auf- richtengeschäft. Er kannte es aus eigener An- geführt, leider. «O tempora, o mores», wie es schauung, als Kriegsreporter für die Daily Cicero ausdrückte. Wer mehr als 250 Seiten Mail in Äthiopien. In seinem Roman «Scoop» Märtyrer der Freiheit über diesen Giganten lesen möchte, dem sei schickt das Daily Beast den braven Landadligen die absolut brillante Biografietrilogie von Ro- William Boot in ein afrikanisches Krisen- Wolfgang Schuller: Cicero oder Der letzte bert Harris empfohlen. Roger Köppel gebiet. Normalerweise schreibt Boot die Natur-­ Kampf um die Republik – Eine Biographie. Kolumne auf der letzten Seite. Sein blumig-­ C. H. Beck. 255 S., Fr. 36.90 naiver Stil – «Leichtfüssig durchs glucksende Sätze wie Kugeln Moor schweift die pirschende Wühlmaus» – Diese Biografie des heraus- ist das Gegenteil des abgebrühten Reporter- ragenden Römers Marcus Tul- Ernest Hemingway: Paris, ein Fest fürs Leben. Sounds. Tatsächlich ist das Ganze ein Miss­ lius Cicero (106–43 v. Chr.) – Rowohlt. 336 S., Fr. 14.90 verständnis: Eigentlich hätte ein Namensvetter, Anwalt, Politiker, Philosoph, der Lieblingsschriftsteller des Premiers, nach Redner, literarische Hoch- Hemingway hat mich ein paar Afrika reisen sollen. Stattdessen stolpert nun begabung, Märtyrer der Frei- Jahre meines Lebens gekostet, William Boot ahnungslos durch die Geschich- heit – ist für mich die Sommer- aber es waren nicht die schlech- te, ausgerüstet mit grotesk viel Gepäck. Trotz- lektüre schlechthin. Der Historiker Wolfgang testen. Ich war damals jung, dem gelingt ihm zufällig ein Scoop, eine grosse Schuller hat Ciceros Leben kompakt und ver- wollte schreiben wie er, leben Story. Zu Hause ist er ein gefeierter Mann. Seien ständlich aufgeschrieben. Es ist ein Leben in wie er, verwundet sein wie er, wir ehrlich: Journalismus war schon immer ein einer der blutigsten und turbulentesten Pha- F. Scott Fitzgerald zum Freund windiges Gewerbe. Erik Ebneter

Weltwoche Nr. 30.21 93 Bild: Allstar/imago Wildschweine, Krähen, fremde Fötzel. Fricktal, mon amour Nach der Pubertät auf und davon und später wieder zurück: Wo unser Autor eine Heimat fand – und immer noch etwas fremdelt. Christoph Grenacher

ls Nebenberufs-Bergbauer im Entle- schweizweit bekannten Baugeschäft. Als die «Zwei Rowdys, die sich einen Spass daraus ma- buch war die Tierwelt Pflicht für mich. Gastarbeiter nach der Pension mit Sack und chen, mal eben ein paar Italiener abzuknallen.» AUnd ein Glücksbringer, als mir nach Ge- Pack von Laufenburg heimwärts nach Leon- Da war ich nun also, in dieser fremden Hei- wehrsalven bäurischer Neidhammel auf mein forte zogen, waren sie auch in Sizilien plötz- mat. «Im Fricktal fühlen sich Wildschweine und Haus am Fuss des Napfs polizeilich empfohlen lich die Anderen – so wie ich mich nun back im Krähen sauwohl», notierte unlängst, mit Blick wurde, die Gegend zu verlassen: Im Anzeigen- Fricktal nicht mehr daran erinnerte, dass sich auf die Jagdstatistik, die Aargauer Zeitung. teil der Zeitschrift fand ich meine neue Bleibe fremd gewordene Fötzel zu jener Zeit schleu- Die Gegend zwischen dem Kernkraftwerk im Fricktal – zwei Dörfer weg vom Ort, in dem nigst den Gepflogenheiten der Einheimischen Leibstadt und dem nie gebauten Atommeiler ich geboren wurde. anzupassen hatten. Kaiseraugst, vom restlichen Aargau durch die Meine dreissig Schafe blökten fortan ein paar Staffelegg abgeschirmt und im Lebens- und Hügel weiter auf den Wiesen eines international Saurier und Römer Arbeitsraum eher Richtung Basel oder dem Zur- gesuchten Waffen- und Drogenhändlers, den Das hatte ja auch Adamo Franchina erfahren. zibiet und Baden zugewandt, ist ein wahrhaft Wohnwagen als Zuflucht während des Haus- Wie er am 22. April 1968 mit drei Kollegen in sonderliches Stück Schweiz. umbaus fand ich beim Vater meiner ersten rich- Kaisten auf dem Heimweg war, tauchten plötz- Das Fricktal beherbergt nämlich nicht nur tigen Liebe, und die Bretter, Steine, den Mörtel lich zwei junge Schweizer auf und feuerten meh- Wildschweine und Krähen. Zwar wurde die und die Farbe für die erste Instandstellung gab’s rere Schüsse auf das Quartett. Der Römer Jour- Region östlich von Basel mit gut 80 000 Ein- für D-Mark günstig ennet der Grenze. nalist Concetto Vecchio schildert in seinem Buch wohnern in 36 Gemeinden zuerst tatsächlich Welcome home! Alles paletti? «Jagt sie weg!», wie Franchina am Unterarm ge- auch auf vier Pfoten entdeckt – durch die Sau- Von wegen: Ich kam mir vor wie die ersten troffen wird, seine Kollegen aber die Angreifer rier. Später sorgten die Römer für etwas Ord- Saisonniers, die bei Erne chrampften, dem heute verfolgen und für deren Verhaftung sorgen: nung, bevor die Gegend ein paar Schlachten

94 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: Dennis Kalt/Aargauer Zeitung später von machtbewussten Habsburgern ein- ser Rind aus dem Hofladen in Zeiningen, zwei aus Life-Sciences und Pharma – beispielsweise verleibt wurde. 1801 reichten die Österreicher oder drei Tage lang sanft eingekochte Früchte Ciba-Geigy, Sandoz, Novartis, Roche, Syngenta, die knapp 300 Quadratkilometer an Frank- aus der Konfi-Manufaktur von Markus Kunz in Tillotts, Solvias oder DSM. Der Arbeitseifer der reich weiter; es blieb ein Landstrich, dessen Be- Herznach, die fangfrischen Forellen aus Rhein- Einheimischen blieb in den goldenen sechziger wohner im Gegensatz zu den Wildschweinen sulz, die Spargeln vom Söhrenhof ob Bözen, und siebziger Jahren nämlich auch dem Basler und den Krähen nie so genau wussten, wo sie die Trüffel vom Kornberg ob Frick oder die fri- Daig nicht verborgen– die Fricktaler waren will- hingehörten. Da half auch ein eigener Kanton schen Shrimps aus der Farm bei der Rheinsaline fährige Partner dabei, ihr brachliegendes Land (1802–1803) wenig – Napoleon Bonaparte setz- in Rheinfelden: Es gibt was, in diesem Fricktal! zu einem prosperierenden Hotspot der Chemie te mit der Mediationsakte der Eigenständigkeit Aus der kinderreichen Gegend, wo sich die zu machen. ein Ende; der Kanton Fricktal verschwand im Menschen noch in den Nachkriegsjahren in Das grenzenlose Potenzial der Region, die Kuddelmuddel der Helvetischen Republik: aus, engen häuslichen Wohnverhältnissen, mit heute über alle Branchen verteilt 33 000 Arbeits- fertig, amen. primitiver Hygiene, magerer Kost und dürfti- plätze bietet und auch vielen Grenzgängern aus ger Kleidung mehr schlecht als recht über die dem Elsass und Südbaden Brot und Lohn si- Reservat der einstigen Habenichtse Runden brachten, ist dank einer stürmischen chert, hatte übrigens schon vor dem Krieg der Die Gegend zwischen Schwaderloch und Kaiser- wirtschaftlichen und industriellen Entwicklung tschechische Industrielle Tomas Bata erkannt. augst am Rhein, dem Möhlintal im Westen ein Hort der Begehrlichkeit geworden, wenn- Im Strassendorf Möhlin, in dem Anfang der und dem Mettauertal im Osten, dieser magere gleich mit ein paar tollkühnen Ausreissern. 1930er Jahre als Folge der Weltwirtschaftskrise Strich Land, durchlitt Missjahre und Hungers- So entschieden die Oberen der regionalen über hundert Arbeitslose hausten, wollte der nöte, zwang zur Auswanderung oder produ- Schuhhersteller seinen Traum einer natürlichen zierte Wanderarbeitslose wie Karl Alois Deiss Napoleon Bonaparte setzte Verbindung zwischen Wohnort und Arbeits- (1886–1960), dessen Schicksal Gerhard Trott- mit der Mediationsakte der platz fortschreiben: Er kaufte, für einen Franken mann in einer wunderbaren Dokumentation pro Quadratmeter, 24 Hektaren bestes Land dem («Im Irrgarten des Lebens») festgehalten hat: Eigenständigkeit ein Ende. Rhein entlang; im Mai 1932 erfolgt der Spaten- Deiss’ gottesfürchtige Mutter schleppt den klei- stich für die erste eingeschossige Fabrikhalle, nen Alois unentwegt in die Kirche, während Raiffeisenbank bar jeder Vernunft, in Zeihen die bereits nach zwei Monaten bezugsbereit sein verschrobener Vater mit einem Geschäft in nicht nur ihr Beraterbüro zu schliessen, sondern ist. Bata will am 12. Juli 1932 zur Eröffnung mit Mumpf verlumpt. So kommt auch Alois vor lau- gleichzeitig auch noch den einzigen Bancoma- seinem Privatflugzeug in die Schweiz fliegen, ter Knien in den Kirchbänken nie auf die Beine ten im Dorf abzuwracken. Nach lautstarkem doch die Maschine stürzt kurz nach dem Start des Lebens, heuert in der Fremdenlegion an, be- Protest war die Bank wieder bereit, einen Geld- in seiner Geburtsstadt Zlin ab – trotzdem wer- schafft sich als Kleinkrimineller Geld und arbei- spucker zu installieren – falls die Gemeinde die den einen Monat nach Batas Tod in Möhlin die tet schweizweit kurz hier und da. Vor allem aber Kosten für den Einbau eines Occasions-Banco- ersten Schuhe hergestellt. schreibt er, so er nicht gerade im Gefängnis sitzt maten mit 20 000 Franken alimentieren sowie oder in einem Arbeitslager, während 44 Jahren jährlich 1000 bis 1500 Franken für den Strom Tonstudio in der Direktorenvilla und immer in Gedichtform an den Gemeinde- blechen würde. Der Souverän lehnte an der letz- Als der Park schliesslich fertiggebaut ist, ste- rat und bittet um Unterstützung – was so wenig ten Gemeindeversammlung das dumpfe An- hen dort sechs Fabrikhallen für die bis zu 700 nützt wie seine exakte Anleitung zur eigenen gebot entrüstet ab – was nichts daran ändert, Angestellten, ein Lager‐ und Administrations- Beerdigung oder seine Erfindungen, wie etwa dass das Fricktal seit Jahren eine der schweiz- gebäude, Garagen, rund zwanzig Zwei- und das «kombinierte dreirädrige Ruder-, Land- und weit am schnellsten wachsenden Wirtschafts- Vierfamilienhäuser in Sichtbackstein mit Flach- Wasser-Velo-Boot». regionen ist. dach sowie zwei geschlechtergetrennte Ledigen- In diesem Irrgarten einer wunderbaren Land- heime für die Angestellten – und ein Direktoren- schaft bin nun also auch ich sesshaft geworden, Hotspot der Chemie haus samt Pool und Tennisplatz. so wie die Musikerin Sol Gabetta (Olsberg), der Diesen Umstand verdankt die Gegend mehreren Doch dann, 1990, wieder aus, fertig, amen. Der Fussballer Xherdan Shaqiri (Rheinfelden, Um- illustren und teils bereits verblichenen Namen Plastikschuh erobert die Welt, die Produktion bau mit sechs Badezimmern im Villenviertel wird eingestellt. Das prächtige Areal verkam Kapuzinerberg), Schriftsteller Christian Hal- und wurde 2001 verkauft. ler (Laufenburg), Underberg-Erbin Hubertine Seither wird die Anlage mit einem Mix aus Underberg-Ruder (Frick), ETH-Präsident Joël Wohnen und Arbeiten neu belebt. Auch Sebas- Mesot (Gansingen), Medienunternehmer Bern- tian Bürgin aka Baschi arbeitet inmitten dieser hard Burgener (Zeiningen), Orientierungslauf- wunderbaren Parklandschaft. Zusammen mit Weltmeister Matthias Kyburz (Möhlin) oder dem Gitarristen Philippe Merk betreibt er das Eisenplastikerin Gillian White (Leibstadt, das Tonstudio Rebel-Inc – in der Direktorenvilla, grosszügig bemessen ebenfalls dem Fricktal zu- please! geschlagen wird). «Wir sind nicht bemüht, anders zu sein. Wir Sie alle hat es auch in dieses Reservat der eins- sind es», sagen die beiden Musiker. Drum pas- tigen Habenichtse verschlagen, in diese leicht sen sie, der eine zwar aus dem Oberbaselbiet, der verschlossene, der Restschweiz abgewandte Ge- andere vom Bodensee, so perfekt ins Fricktal. gend: Bei uns gibt es den Cheisacherturm mit Neben Wildschweinen und Krähen gedeihen seinen 109 Stufen und der grandiosen Aussicht hier eben auch fremde Fötzel. bis in die Vogesen, die längste gedeckte Holz- brücke Europas zwischen Stein und Säckingen, einen tüchtigen Schluck auf dem Dornhof zwi- Christoph Grenacher war Chefredaktor und Blattmacher bei Blick, Sonntagsblick, Sonntagszeitung und Radio24. schen Magden und Olsberg oder direkt beim Er führt im Fricktal die Kommunikationsagentur Feldschlösschen, das wunderbare Piemonte- Mediaform.

Weltwoche Nr. 30.21 95 Cartoon: Kai Felmy Soda aus Gletscherwasser Kultschriftsteller Thor Kunkel ist wieder aufgetaucht: hoch oben im Wallis, sardonisch lachend, brillant wie eh und je. Matthias Matussek

lso, wenn ich Melanie Amann vom kuren Pornoproduktionen der «Sachsenwald­ ding ist eine Gaspatrone für die Sodamaschine­ Spiegel wäre – ich weiss, eine total ver­ filme» – geradezu rührend dieses Schwarzweiss- und Kunkel kein Terrorist. Arückte Idee, und ich hätte ja auch gar Geflacker im Vergleich zu dem, was sich Schüler Nicht, dass er den Gedanken an Selbstmord je nichts zum Anziehen –, aber wenn, dann würde heutzutage auf dem Schulhof auf ihren Han­ ausgeschlossen hätte, aber davon später. ich mich angesichts dieses wettergebräunten dys vorführen –, aber auch vieles mehr, was Hü­ Und was den Vornamen Thor angeht, Kunkels Typen, der da gerade einen silbernen Druck­ ter*Innen der reinen antifaschistischen Lehre Vater war kein Nazi, sondern eher Fan der ande­ behälter aus der Umhängetasche zieht, zu wie Melanie Amann in Schreikrämpfe trieb. ren Fraktion, nämlich der Spiessgesellen von der Boden schmeissen und «Achtung, Bombe!» Es ist ein Roman auch über den Afrikafeldzug, Rote-Armee-Fraktion (RAF), seine Mutter hatte schreien, ohne darauf zu kommen, dass ich viel­ über Wüstendelirien und die Endzeitkabaretts im Wochenbett die Nibelungensage gelesen, des­ leicht halluziniere, hier oben auf der Riederalp, im zerbombten Berlin, gemalt wie irre Tableaus halb «Thor», sein anderer Bruder heisst Thomas, schliesslich in 2000 Meter Höhe. von Otto Dix, über sexuelle Obsessionen, über da war wahrscheinlich für die durchaus fromme Wir beide, Melanie Amann und ich, wissen die Jeunesse dorée der SA und die Spassgesell­ Katholikin die Apostelgeschichte dran. von diesem Typen, dem Schriftsteller Thor Kun­ schaft am Starnberger See, über alles – nur nicht kel, immerhin, dass er «fesselnd» erzählen kann über den Holocaust! Lunge einer Bergziege und über «sehr grosse schriftstellerische Quali­ Damit hatte Thor Kunkel ein Tabu zu viel Der Verfemte holt mich mit seinem Lastenfahr­ täten» verfügt, aber hier hören die Gemeinsam­ ­gebrochen. rad ab, hier oben sind Autos verboten, ja, wenn keiten schon auf, weil die Spiegel-Journalistin mit Vielleicht war er auch einfach drei Jahre zu einer bereits in der grünen Zukunft lebt, dann den wadenlangen Röcken in Kunkels Romanen früh damit. Denn nach ihm betrat Jonathan Lit­ ist es dieser Thor Kunkel auf der Riederalp mit schmallippig «gewisse politische Botschaften tell die Bühne der Feuilletons mit seinen «Wohl­ ihren steilabfallenden Blumenwiesen und har­ der Rechten» entdeckt und ihn daher für ge­ gesinnten», der ebenfalls unschuldig aus der zigen Tannen. Weiter oben gab es Sturmbruch, fährlich hält, während ich nicht aufhören kann, Perspektive der Nazis erzählte, und er war buch­ er hat seinem Freund, dem Gemeinderat, aus­ zu lachen und zu staunen, wenn ich ihn lese, stäblich der Darling der Salons – ich erinnere geredet, die Stämme abtransportieren zu las­ denn seine Romane erschliessen einen Pop-Kos­ mich an einen Abend bei der Literaturagentin sen, die Natur, sagte er ihm, kümmert sich mos aus Lust und Witz und Provokation, eine Karin Graf und ihrem Mann, dem Lyriker Joa­ schon darum, aber die Graffiti, die irgendein hinreissend struppige und zynische Anarcho- chim Sartorius, ich war mit beiden befreundet, Idiot dort oben auf die Natursteinmauer ge­ Authentizität und genau jene Liebe zum Trash, grosser Bahnhof, mein buddy Gary Fisketjon, der sprayt hatte, die hat er auf Kunkels Wunsch mit der Quentin Tarantino seine Filme dreht. Cheflektor von Knopf aus New York, war dabei, entfernen lassen, bei aller Liebe zum Pop, aber Vor allem ist er ein Fall. Der Fall Kunkel. mit dem ich für einen Videoblog herumalberte, diese rohen grossstädtischen Inbesitznahmen, daneben ein einstiger Kultursenator sowie die diese Schändungen durch Zeichensalate, sind Ein Tabu zu viel ihm, dem Naturfreund, Ekel und Ärgernis. Über seinen Erstling rhapsodierten die Feuil­ Wenn einer bereits in der grünen Ja, Thor Kunkel, der geächtete Künstler und letons, Thor Kunkel sei die deutsche Antwort Zukunft lebt, dann ist es dieser gleichzeitig preisgekrönte Werbefachmann, auf Tarantinos «Pulp Fiction». Und der Guar- hatte einst für den World Wildlife Fund eine dian nannte ihn «den heissesten Jungautor der Thor Kunkel auf der Riederalp. Kampagne zum Schutz von Wildtieren ent­ deutschen Literatur». worfen, beklemmende Montagen, in denen Und dann der jähe Sturz aus der Höhe der An­ Prominenz der deutschen Feuilletons – und Nashörner und Eisbären mit rot und blau auf­ betung in die Hölle der allgemeinen Ächtung. Littells Tabubruch, Massenmord und homo­ gesprühten Elendskrakeln durch ihre Habitate Damit wurde der Fall Kunkel allerdings zu sexuelle Obsessionen ineinanderzublättern, ziehen – eindringlicher kann man wohl kaum einem des Betriebs, der ja zunehmend den Zu­ wurde über Suppe und edlem Fisch als enorm unsere Geringschätzung der Natur anprangern! schnitt einer woken Sekte annimmt, «erwacht» prickelnd und mutig empfunden. Eigentlich bin ich ja wegen seines aller­ wie die rasenden Wiedertäufer der ­Lutherzeit, Aber zurück zur weniger mondänen Melanie neuesten Romans hier oben, der noch in der bei denen die Verdammung so hell loderte wie Amann, die hier stellvertretend für die neue Ge­ Schublade schmort und – wie zu erwarten ihre Scheiterhaufen. neration der Sprachregelungen und der poli­ bei einem wie Kunkel – absoluter Sprengsatz Ja, er hatte einen monumentalen, in Passa­ tisch korrekten Prüderie stehen mag, welche Li­ ist, und jetzt erlebe ich ihn als sanften Natur­ gen haarsträubend-witzigen, in anderen be­ teratur nach «Stellen» scannt – wir müssen sie schwärmer, als grünen Wandervogel?! klemmend-träumerischen Roman vorgelegt, erst mal wieder abholen dort oben an der Berg­ Er ist einen Kopf kleiner, zwanzig Kilo leich­ «Endstufe» hiess er, über Nazis und ihre obs­ station; Entwarnung!, Frau Amann, das Metall­ ter und unfassbar durchtrainiert, nur Muskeln

96 Weltwoche Nr. 30.21 frau und Matterhorn, unter uns der schwin­ delnde Abgrund des Rhonetals, und gegen den schwindelnden Kopf hilft Wasser und Warten, bis der Puls sich beruhigt hat. Über sein neues Leben in den Bergen hat Kun­ kel das wundervolle Büchlein «Wanderful» ge­ schrieben, ursprünglich (und stimmiger) sollte es «Bergmeditationen» heissen, aber dem Eich­ born-Verlag war das nicht schmissig genug; es schildert den Sprung aus dem gleichzeitig blei­ Seine Mutter hatte im Wochenbett die Nibelungensage gelesen, deshalb «Thor».

ernen und brodelnden Berlin mit einer letzten Lesung in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg- Platz (mit Natalia Wörner, der heutigen Frau von Aussenminister Heiko Maas, in meinen Augen Inbegriff des Betroffenheitstrottels) in die – Stille, also aus der Hysterie ins Elementare. Gibt viel zu besprechen, denn gleich drei Bü­ cher sind aktuell, und das vierte, brandaktuelle und unfassbar witzige, liegt auf der Rampe.

Freundschaft im Wüstenflimmer Zunächst ist da das «Wörterbuch der Lügen­ presse», eigentlich eine Übersetzungshilfe aus dem Jargon der links-grünen Sekten mit ihrem Genderquatsch und den Kulturklischees, bei denen die Marke Spiegel hervorsticht: «Ihr Pro­ dukt: Pflegen des erlaubten Meinungskorridors bei gleichzeitiger Empörungsbewirtschaftung gegen Verstösse.» Dann, tatsächlich, eine trotzige Neuausgabe der monumentalen «Endstufe», diesmal als Director’s Cut im Eigenverlag Edition Kun­ kelversum, also bereichert um die damals vom Rowohlt-Lektorat unter affigem Medienlärm gestrichenen Kapitel, bevor Verleger Alexander Fest öffentlich und heldenhaft beschloss, den Wie befreit: Autor Kunkel. Roman nicht zu drucken. Eichborn übernahm den Satzspiegel und veröffentlichte. Schliesslich sein ebenfalls letztes Jahr er­ und Sehnen, man sieht ihm an, dass er Kampf­ Fest steht: Radikaler kann ein Neustart nicht schienenes «J’accuse», eine Abrechnung unter sport treibt, seine Lunge ist die einer Bergziege, aussehen. dem Titel «Zum Abschuss freigegeben». Es ist und so informiert er mich in groben Zügen wäh­ eine Chronik der Fledderung seiner «Endstufe» rend des Steigens: Seit seiner Ausmusterung aus Wundervolles Büchlein und deren Verengung auf die Zielscheibe des Re­ dem Betrieb, seit 2009, arbeitete er als Werbe­ Ihr Holzhaus liegt hinter einem kleinen, grün­ negaten: «Es scheint, als ob es hier eine neue ag­ berater in der Schweiz, in Luzern und Ascona, schwarzen Sumpf, tatsächlich noch aus der Eis­ gressive Lumpen-Intelligenzija gibt, die nur dar­ und er zog bald hier hoch auf die Alp, mit sei­ zeit, am Rande einer stark abschüssigen Wiese, auf wartet, irgendeinen, der aus der Reihe tanzt, ner niederländischen Frau Gerda hat er sich ganz an der Klippe, in einem bunten und duf­ zu zerfetzen. Diese Linken sind tatsächlich dre­ ein Haus hier oben gebaut, das wir nach einem tenden Meer aus Blumen, gelbem Hahnen­ ckige (soll heissen ‹ungewaschene›) Spiesser.» dreissigminütigen Gewaltmarsch erreichen, ich fuss und blauem Vergissmeinnicht und weis­ Man muss ihn verstehen: Im Eifer der mora­ eher schnappatmend, er das Rad mit dem Ge­ sen Margeriten und wenigen roten Tupfen des lisierenden Jagdgemeinschaft verlor die Kritik päck schiebend und fröhlich erzählend, seine Mohns. Und, direkt unter der Veranda, seine zunehmend aus den Augen, wie virtuos und un­ Frau leitet Yogakurse, er selber verdingte sich als meterhohen Lupinen, für die Thor Kunkel als erschrocken Kunkel auch die Geschichte einer Wanderführer der Unesco in der Sektion Welt­ bester Züchter des Wallis benannt wurde. sexuellen Obsession erzählt, auch delirierende erbe für die Arena des Aletsch, des grössten euro­ Mit der frischen Gaspatrone sorgt Kunkel nun Szenen einer Freundschaft im Wüstenflimmer, päischen Gletschers gleich in der Nähe – «Ist das für Soda aus Gletscherwasser, was für ein Luxus, da ist dieser geheimnisvolle Junge Kornel, der hier nicht eine Pracht!» gegenüber der Gipfel des Weisshorns, «der dem Autor «irgendwie zugeflogen ist, so halb Ich japse Zustimmung. schönste im Wallis», dahinter in der Ferne Jung­ im Traum», ein Kerl mit einem Stück Erz im

Weltwoche Nr. 30.21 97 Bild: zVg Schädel, der Minenexplosionen auslösen kann Auf einem frühen Autorenfoto ähnelt Thor Amin und Bokassa und Playboy-Centerfolds über und später mit Fussmann ein Frontkabarett für Kunkel dem Strassenbandenchef Alex aus Stan­ Wasserschäden. die Sieger betreibt, diesem also damit trotz fort­ ley Kubricks «A Clockwork Orange» – ebenfalls Er schreibt über den verrückten Freak Fuss­ schreitender Nekrose aus dem Inferno hilft, ein ein Muss-Film. Er studierte an der Kunsthoch­ mann – ein Enkel des SA-Mannes, der in «End­ magisch-realistisches Übergangswesen hin zum schule bei Thomas Bayrle, dem Star des Pop und stufe» nach einem Malariamittel forscht. Der Maschinenmenschen – und plötzlich reden wir der seriellen Kunst, ging für drei Jahre ans San Nachkomme, Künstler, stellt Experimente um über Science-Fiction und über Rainer Werner Francisco Art Institute, wo er Siebdruck und das halluzinogene Mutterkorn an, für die er den Fassbinders somnambules Meisterwerk «Welt Creative Writing lernte, und absolvierte nach jungen Rio als Versuchstier braucht, der wiede­ am Draht» mit Klaus Löwitsch, ein Typ wie seiner Rückkehr ein Praktikum in der Werbe­ ­Daniel Craig, der mit dem Kran in seinen An­ agentur Young & Rubicam. Für eine Jeep-Werbung zug gehoben werden muss. Und er wusste bald den Blasebalg für die ka­ erfindet er das preisgekrönte Auch nach der «Endstufe»-Hetze gegen ihn pitalistische Warenwelt zu bedienen und sie mit schrieb er weiter, zum Beispiel den Roman knappen Botschaften zu befeuern. «Snow what?!» «Subs», der von Oskar Roehler mit Katja Rie­ Das Glück in drei Worten. mann verfilmt wurde, und unter dem Pseudo­ Der Schock in einem. rum, ein Disco-Plattenaufleger, poly­toxikoman nym Cord Hagen den voluminösen Öko-Thril­ Der Reiz durch ein Bild, direkt ins Hirn. wie alle hier, von einer Astronautenkarriere ler «Aquagene» für Heyne. Flash. träumt. Bloss raus hier. Er ist Schriftsteller, das ist sein Beruf. Für eine Jeep-Werbung erfindet er das preis­ Nach vier Jahren ist das «Schwarzlicht- gekrönte «Snow what?!» Terrarium» fertiggeschrieben und bereit, auf Glück in drei Worten Auf Vermittlung seines Freundes Bertel wech­ Reisen zu den Verlagen zu gehen, rund vier­ Kunkel redet wie befreit an diesem sonnigen selte er für fünf Jahre zur GGK nach London, zig, die wenigsten antworten überhaupt, bis Mittag, wie einer, der es einfach geniesst, sich wirbt für Lois Jeans und Apple und Muratti, die krebskranke Silvia Bovenschen in einem mit einem Kritiker über Literatur und Pop zu danach zieht er weiter nach Amsterdam, sei­ Karton in der Frankfurter Verlagsanstalt sein begeistern, statt einem Verhör wegen ideo­ ner Freundin wegen – er blättert mir auf dem Manuskript sieht, sich festliest und diesen un­ logischer Verfehlungen unterzogen zu wer­ Sofa neben dem Kamin seine Kampagnen auf, bekannten Ekelvirtuosen für den Klagenfurter den, denn nicht nur das Verlagswesen bildet man wirbt nicht mehr für Produkte, sondern Dichterwettbewerb protegiert. seine Abfangjäger aus, auch das Kritikerwesen Gefühle, und der «Electric Kool-Aid Acid Test»- Er gewinnt einen Sonderpreis, Martin Wal­ hat sich in Cliquen aufgespalten. Eigentlich war Stil Tom Wolfes ist unverkennbar. ser rühmt seine Virtuosität, und die Verlage ste­ das schon zu Balzacs Zeiten so, ich empfehle ihm Kunkel damals: erfolgreich und angeödet; da hen Schlange, und Rowohlt macht das Rennen. «Verlorene Illusionen», in diesen Zeiten aller­ schiesst einer durchs All und erkennt die Leere Dann der Absturz mit «Endstufe». dings hat sich der grün-linke Kult zur dominie­ und sich selbst «als Bazille auf einer Klobrille, Doch heute ist es wahrscheinlich eher sein renden Welterklärung aufgeschwungen. ohne Bedeutung», und so stürzt er in eine exis­ Engagement für den AfD-Wahlkampf vor Jah­ Und dann stehen wir in seiner offenen Küche tenzielle Krise, welcome to the club, und auch wenn ren, das als schwerste seiner Vorstrafen gewertet und reden über Pop, und Kunkel schiebt Pepe­ er kein Selbstmord-Attentäter wird, so erscheint wird, dabei hatte er sich dort lediglich um eine roni in den Ofen, und über den Gipfeln gegen­ ihm doch der Freitod als durchaus plausible popkulturelle freche Lockerung aus der rechten über ziehen Wolken auf, bald prasselt Regen ­Option. Steifheit bemüht, etwa wenn er Trachtenfrauen hernieder, und wir braten uns Steaks, und ich Aber stattdessen, zum Glück für uns, schreibt plakatieren liess zu dem Spruch «Bunte Vielfalt? singe leise John Lennon vor mich hin: «Words er. Er zieht eine Art Bilanz. Kein Problem für uns». Auch einigen in der AfD are flowing out like endless rain into a paper cup. war das zu locker. They slither wildly as they slip away across the Idi Amin, Bokassa, Playmates Nun ist der Abend hereingebrochen, seine universe . . .» Er schreibt über die verrückten Jahre der Adoles­ Frau ist aus Luzern angekommen, und ich ver­ Klar, die Beatles gehen in Ordnung, aber zenz in Frankfurt-Kamerun, diesem Niemands­ abschiede mich zum Spiel der Deutschen gegen natürlich auch MC5 aus Detroit, die ersten Pun­ land westlich des Gallusviertels, «Angstgegend, die Ungarn vorm Hotelfernseher. Die deutsche ker, mit «Kick Out the Jams» von 1969, Kunkel leere Fabrikhallen, Wellblechdepots», er ist Mannschaft tritt an diesem Abend nicht gegen hatte sich ein T-Shirt zugelegt mit dem Auf­ Kuhl, der nachts ein Parkhaus bewacht und tags­ die Ungarn an, sondern gegen alle möglichen druck des Gitarristen Wayne Kramer – «Free über im Bett über die in seiner Absteige hau­ Gegner: gegen Orbán und die Homophobie und Kramer». Er lacht und schüttelt den Kopf, geile senden Milben sinniert, die ihn «bei lebendi­ den Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit, Zeit damals. gem Leibe fressen» zwischen Plakaten von Idi und als Leon Goretzka zehn Minuten vor Schluss Er ist im Jahrzehnt nach mir gross geworden, zum Ausgleich einnetzt und damit das Achtel­ aber wir teilen unsere ziemlich begeisterten Er­ finale sichert, rennt er auf die ungarische Kurve innerungen an die Comics von Robert Crumb, zu und formt ein Herz, gestisch für «Liebe», und an «Fritz the Cat», und an Gilbert Sheltons streckt es dem Ungarn-Block hin, wie man in «Freak Brothers» aus den frühen Siebzigern des Horrorfilmen Vampiren das Kreuz entgegenhält, vorigen Jahrhunderts, und an alles, was damals nach dem Motto: Nehmt das, ihr fiesen Dreck­ geballert hat, zu dem nicht nur Haschisch, LSD säcke, love, aber so was von in die Fresse! und Pillen gehörten, sondern auch die Bücher­ Vielleicht lässt sich unsere ideologische Wahr­ tische vor den Mensen, in Berlin genauso wie nehmungsstörung ja tatsächlich als GAU der in Frankfurt, für Artaud und Bataille, bei Kun­ Werbung beschreiben, aber da die deutsche kel kamen dann noch Lyotard und die Post­ Nationalmannschaft auf Drängen Oliver Bier­ modernen dazu, und dort, am Büchertisch, lief hoffs auf das Nationale verzichtet und aus ihr er Bertel Schmitt in die Arme, der später Chef das Premium-Produkt «Die Mannschaft» ge­ der kultigen GGK-Werbeagentur in Düsseldorf prägt hat, verhielt sich Goretzka ebenso markt­ wurde. gerecht wie die ganze Mannschaft, die am Tag

98 Weltwoche Nr. 30.21 Cartoon: Kai Felmy nach dem Massaker von Würzburg nicht etwa Die Eloi sind klein und blondgelockt und süss Allerdings ist Becki nicht ganz so blöde, wie sie Trauerflor trug, sondern sich zur «Black Lives und werden von den Morlocks als Schlachtvieh sich stellt. Sie handelt nicht aus Liebe zu den Matter»-Liturgie hinkniete. gehalten – in mondlosen Nächten greifen sie morgenländischen Neubürgern. Sie weiss viel­ Der Fussball als moralische Anstalt. Auch die nach ihnen, um sie zu fressen. mehr, dass Grünchen mit einem Prozess genau Werbung verkauft keine Waren mehr, sondern Man kann sie sich gut als grüne Baerbock-Jün­ jenes willkommensfreundliche, kapitulations­ Tugenden. Audi und Mercedes präsentieren sich ger vorstellen, die korrekt gendern, vegan leben, bereite, links-grüne Establishment verärgern wie eine neue Kirche. Bliss, salvation and happiness als luxurierende Kinder alle Vorzüge eines finan­ wird, das der Familie den Lebensstandard sichert. – we lead the way! ziell abgesicherten Unternehmerhaushalts ge­ «Kapierst du das nicht? Alle in dieser Stadt niessen und sich in der grünen «Netzfeuerwehr» sind wieder Hordenwesen, die Rudelzugehörig­ Silbern glänzt die Zunge gegen «Menschenfeindlichkeit» engagieren. keit entscheidet, ob du es hier zu etwas bringst. Nur abschütteln diesen Albtraum, Kunkel hat In Kunkels Groteske führt der Familien­ Es geht um Stammesloyalität. Wer nicht spurt, schlecht geschlafen wegen des Vollmonds und ernährer Grünchen das rechtschaffene Leben den schicken sie in die Wüste. Bis jetzt haben sich in Heiner Müllers «Gesammelte Irrtümer» eines Werbers für Ökoprodukte, während sich wir aber alles richtig gemacht.» geflüchtet – ich mich auf Youtube noch einmal seine Frau Becki in einem ganzen Konglome­ Und in einem grandiosen Finale, das so nur im in die Torflut des Brasilien-Spiels bei der WM rat von NGOs eine goldene Nase verdient und «Kunkelversum» hergerichtet werden kann, er­ 2014, und jetzt, an diesem prächtig sonnigen dafür sorgt, dass Töchterchen Ikea und Sohn lebt sich Grünchen mit einer drogenerfahrenen Vormittag, lassen wir uns von der Gondel hoch Atomfried im schönsten Viertel der Stadt auf­ Psychotherapeutin auf einem Mescalin-Trip, der zum Bettmerhorn tragen, um nachzuschauen, wachsen können und keine Probleme bei der ihn zurück auf jene Domplatte befördert, auf wie es dem Aletschgletscher geht. Beschaffung ihrer Lieblingsdrogen haben. der das Elend begann. Normalerweise, erzählt Kunkel, erklettere Das geht so dahin, bis Töchterchen Ikea am Im Untertitel nennt sich Kunkels beissende er das Gebiet über die Ziegenbart-Zacken dort Morgen nach Silvester ziemlich aufgelöst zu Satire «Die Geschichte einer hochsensiblen Fa­ drüben jenseits des steilabfallenden Ge­ milie», und Kunkel macht überhaupt röllfeldes. «Schade, dass ich meine Steig­ keinen Hehl daraus, dass es sich dabei eisen vergessen habe», sage ich mit fla­ um die schwer gestörten Thunbergs han­ chem Atem, «das wäre sicher ein schöner deln könnte. Ausflug geworden.» Dieser Roman ist so schwarz und so Silbern glänzt die geschwungene anarchisch, dass der bisher vorgesehene Zunge des Gletschers in der Sonne. Er­ Verleger Angst hat, dass ihm die Anti­ habene Bergwelt – mit dem Wörtchen fa die Fenster einschmeisst, und das «erhaben» hatte der Katholik C. S. Lewis, Schlimme in den heutigen Zeiten ist, Autor der «Narnia»-Chroniken, einst dass diese Angst berechtigt ist, denn einen schlüssigen Gottesbeweis geliefert die linken Prügelhorden sind tatsäch­ und den Relativismus vom Tisch gefegt. lich so was wie eine HJ (Hitlerjugend) Der Grosse Aletschgletscher ist immer im höheren Auftrag. noch 21 Kilometer lang und 1000 Meter tief, aber er wird bis zur nächsten Jahr­ «Schade, dass ich meine Steigeisen vergessen habe»: Vorerst in Sicherheit hundertwende sicher fünf Kilometer Autoren Matussek, Kunkel auf dem Aletschgletscher. Anderntags verabschieden wir uns an verlieren. «Man könnte auf der Mittel­ genau der Stelle vor dem Coop-Laden moräne rauf bis zum Konkordiaplatz an der Bergstation, an der ich zwei . . .», sinniert Kunkel. «Wäre richtig schön», Hause erscheint und sich schluchzend in ihrem Tage zuvor Melanie Amann vom Spiegel herbei­ unterbreche ich ihn, meine Kopfschmerzen Zimmer einschliesst. Sie hat gefeiert. Auf der beschworen hatte. hämmern, «vielleicht beim nächsten Mal!» Domplatte. Und ist dort vergewaltigt und von Während mich die Gondel weich talabwärts Sein jüngster Roman belebt fortan unsere Hand zu Hand und Mann zu Mann weiter­ schwingen lässt, also hinab in jene Regionen, Gespräche – neben einem Intermezzo in der gereicht worden. in denen das Atmen leichter fällt, aber der ge­ runden, Ufo-artigen Jausestation über Plancks Selbstverständlich will Grünchen diese Un­ sunde Menschenverstand bisweilen pausiert, Quantenphysik, deren neueste Befunde, so viel geheuerlichkeit zur Anzeige bringen. Und stösst denke ich mir, dass Kunkel in seinem Schwei­ gibt Kunkel zu, eine Art «intelligent design» damit auf Beton in der eigenen Familie. zer Exil dort oben vorerst in Sicherheit ist, eine der Schöpfung vermuten lassen. Und damit «Ein gewisser Doktor Blüthner rief mich gepiercte und karottenhaarige Antifa mit ihren C. S. Lewis und mir recht geben. heute an», informiert er seine Tochter. «Klin­ kruden Vorstellungen könnte in dieser klaren gelt da was bei dir?» Höhe nicht überleben. Screwball-Witz «Du bist ja so ein Arsch», schluchzte Ikea. Wir leben in ideologischen Zeiten, und die Ge­ Über Kunkels Roman lässt sich nicht ohne zu­ «Wie unsensibel kann einer sein . . .» fechtslage ist klar: Früher haben die Ideologen stimmendes, prustendes Gelächter reden. Er ist «Und was ist mit deinem Arsch, liebstes mit der Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit die gleichzeitig eine Abrechnung mit der Werbe­ Kind?» Massen hypnotisiert, heute tun sie es, nicht we­ welt und dem grünen Wahn. Der Titel «Im Gar­ Mit diesem trockenen Screwballwitz ge­ niger skrupellos, mit der Angst vor dem Welt­ ten der Eloi» bezieht sich auf H.G. Wells’ Roman winnt Grünchen zunehmend die Kontur eines untergang. «Die Zeitmaschine» , in der es zwei Rassen gibt: Mannes, der, wie Kevin Spacey in «American Und das einzige friedliche Mittel gegen die­ die Eloi auf der Erdoberfläche, eine harmlose, Beauty», tatsächlich aufwacht aus einem ent­ sen totalitären Sektenwahn, der uns zu neuen zur Verblödung neigende, mit Spielen und Fort­ fremdenden Wahn, der alle um ihn herum be­ Menschen erziehen will und der so plumpe und pflanzung beschäftigte Spezies, und die ande­ fallen hat. Besonders Gemahlin Becki ist davon unwissende Illustriertenfiguren wie Annalena re Rasse der Morlocks im Inneren der Erde, die betroffen, die tatsächlich sagt: «Der Tathergang Baerbock produziert, ist, so scheint mir, das sar­ arbeiten und Maschinen bestücken und die Eloi lässt sich nicht ohne fremdenfeindlichen Bei­ donische Gelächter von Autoren wie Thor Kunkel. mit Nahrung und Kleidung versorgen. geschmack schildern.» Gut, dass er wieder aufgetaucht ist!

Weltwoche Nr. 30.21 99 Bild: zVg «Glückliche Erinnerungen» Die neue Nationalmuseum-Direktorin Denise Tonella feiert den 1. August in einem Maiensäss. Was bedeutet ihr dieser Tag? Erik Ebneter

oeben ist im Landesmuseum ­Zürich die warum der Pass und später der Tunnel so wich- Ausstellung «Frauen.Rechte» zu Ende tig für die Schweiz waren und es bis heute sind. Sgegangen. Für Denise Tonella, 42, war Kurz gesagt: Der Gotthard ist der schnells- es ein doppelter Abschied: Sie hatte die Aus- te Weg über die Alpen und verbindet zwei stellung gestaltet, zudem war es ihre vorerst ­Gewässer, die im Mittelalter für den Waren- letzte Arbeit als Kuratorin. transport bedeutsam waren – den Vierwald- Seit 2010 ist sie für das Schweizerische stättersee und den Lago Maggiore. Als man Nationalmuseum tätig, seit vier Monaten im 13. Jahrhundert die Schöllenenschlucht er- wirkt sie als dessen Direktorin. Gewählt vom schloss und damit den Gotthard für Lasttiere Bundesrat, ist Tonella nun verantwortlich für passierbar machte, lag die abgeschiedene Inner- das Landesmuseum in ­Zürich, das Château schweiz plötzlich im Zentrum einer europäi- de Prangins bei Nyon, das Forum Schweizer schen Handelsroute. Geschichte in Schwyz und das Sammlungs- Weltwoche: Der 1. August bezieht sich auf zentrum in Affoltern­ am Albis. den Bundesbrief von 1291 und den Rütli- Aufgewachsen ist Tonella in Airolo. Zu Hause schwur. Wie deuten Sie diese Urkunde, diese «Die Geografie prägt das Land»: Historikerin Tonella. sprach sie Italienisch, heute redet sie auch Geschichte? ­perfekt Französisch und Schweizerdeutsch Tonella: Wahrscheinlich ist der Bundesbrief mit Bündner Färbung. Sie besuchte das Gym- etwas jünger. Die Waldstätte, also Uri, Schwyz nisse mit ­Bistümern oder Städten, die heute nasium in Bellinzona, studierte­ Geschichte und und Unterwalden, versprachen sich gegenseitig zu Deutschland­ oder Frankreich gehören.­ Kulturwissenschaft in Basel und arbeitete zu- Schutz und setzten einheimische Richter ein, ­Allerdings spielten wirtschaftliche Aspekte nächst in der Filmbranche. um Konflikte zu lösen und Frieden zu sichern. bei der Ausarbeitung des Bundesbriefs sicher Wir treffen Tonella in ihrem neuen Büro, Auch der aufblühende Handel am Gotthard hat eine Rolle. einem Turmzimmer im Landesmuseum, das damit zu tun. War es in der Innerschweiz un- Weltwoche: Wenn Sie den Brief auf einen eine filmreife Kulisse abgibt. Es ist Ende Juli, ruhig, wählten die Kaufleute andere Routen. ­Begriff bringen müssten, wofür steht er? Was kurz vor ihren Ferien. Dadurch entgingen den Waldstätten gute Ge- ist die Grundaussage dieses Dokuments? schäfte, zum Beispiel als Säumer. Vom Rütli- Weltwoche: Frau Tonella, was bedeutet Ihnen schwur selbst ist im Bundesbrief keine Rede. «Die Schweiz entstand nicht 1291. der 1. August? Wie verbringen Sie diesen Tag? Ein Hinweis darauf findet sich erst im so- Im 13. Jahrhundert sagte niemand: Denise Tonella: Der 1. August ist in meiner genannten Weissen Buch von Sarnen um 1470. Familie immer ein grosses Fest. Wir kommen Weltwoche: Die Schweiz entstand aus einem ‹So, jetzt gründen wir einen Staat.›» in unserem Maiensäss oberhalb von Airolo zu- merkantilen Geist des Geldverdienens – lässt sammen und feiern mit Höhenfeuer und Feuer- sich Ihre Rede so zusammenfassen? Tonella: Das ist schwierig zu beantworten. werk. Als mein Vater noch lebte, stiessen wir auch Tonella: Nein, das wäre ein falscher Schluss. Wenn ich nur einen Begriff wählen darf: Si- auf seinen Geburtstag am 31. Juli an. Gefühls- Niemand hatte damals die Absicht, einen cherung des Landfriedens. mässig dauerte der 1. August für mich immer län- Staat zu gründen. Man schloss auch Bünd- Weltwoche: Andere würden sagen: Freiheit, ger als einen Tag. Ich bin als Tochter von Berg- Selbstbestimmung. Die alten Eidgenossen dul- bauern aufgewachsen. Die Tage um den 1. August deten keine fremden Richter mehr über sich. waren bei uns die Zeit zwischen dem ersten und Tonella: Das sind Vorstellungen, die auf das zweiten Grasschnitt. Als Kinder war das unsere 19. Jahrhundert zurückgehen. Man behauptete einzige wirkliche Sommerferienwoche. Statt zu damals, die Schweiz sei 1291 gegründet wor- heuen, hatten wir Zeit zum Spielen und mach- den. Im 13. Jahrhundert sagte aber niemand: ten Bergwanderungen mit unseren Eltern. Das «So, jetzt gründen wir einen Staat.» Das Zu- sind glückliche Erinnerungen. Dieses Jahr halte sammengehörigkeitsgefühl entstand über ich in Airolo erstmals eine 1.-August-Rede. Das Jahrhunderte. Allgemein gilt: Wir neigen dazu, macht den Tag für mich besonders. einzelne Ereignisse zu überschätzen. Nehmen Weltwoche: Worüber werden Sie sprechen? wir die Schweizer Neutralität: Die populäre Er- Tonella: Mein Thema ist der Gotthard: klärung lautet, sie beginne 1515 mit der Nieder-

100 Weltwoche Nr. 30.21 Cartoon: Kai Felmy Tonella: Die Schulen setzen heute vermehrt Schwerpunkte. Die Zeitgeschichte mit Themen wie dem Zweiten Weltkrieg oder den sozialen Bewegungen haben einen höheren Stellenwert. Das ist normal: Jede Generation interpretiert die Vergangenheit auf ihre Weise. Das ist auch eine Bereicherung: Man gewinnt so neue Per- spektiven. Allerdings hat Geschichte als Schul- fach tatsächlich an Bedeutung verloren. Ich wünschte mir, das würde sich wieder ändern. Weltwoche: Sie haben die Führungen im Museum angesprochen – dass Sie den Kindern erklären müssten, was der Rütlischwur war. Als Co-Kuratorin haben Sie die Dauerausstellung über die Schweizer Geschichte im Landes- «Mein Grossonkel wanderte nach Amerika aus und fiel im Zweiten Weltkrieg in der Normandie.»

museum mitgestaltet. Welches Ausstellungs- stück zeigen Sie besonders gern? Tonella: Mein Lieblingsexponat ist der ­sogenannte Allianzteppich, ein 25 Quadrat- meter grosser, wunderschöner Gobelin. Er zeigt eine Szene aus dem Jahr 1663 in der ­Kathedrale Notre-Dame de Paris. Es geht um die Erneuerung der Allianz zwischen der Eid- genossenschaft und dem französischen König «Die Geografie prägt das Land»: Historikerin Tonella. Louis XIV. Diese erlaubte dem König, weiter- hin bis zu 16 000 Schweizer Söldner in seinen Diensten zu haben. Der Teppich enthält auch lage bei Marignano. Dabei war sie eher ein Weltwoche: Welche anderen Erkenntnisse Details, die weit über das Politische hinaus- Ergebnis von internen Konflikten im konfes- haben Sie aus der Beschäftigung mit der gehen. Er ist kulturhistorisch hochbedeutsam. sionellen Zeitalter, weniger ein bewusster Ent- Schweizer Geschichte gewonnen? Weltwoche: Was erzählen Sie den Kindern scheid. Am Ende haben ausländische Mächte­ Tonella: Die Geografie prägt das Land. zu diesem Teppich? der Schweiz die Neutralität verordnet, 1815 am Einerseits befindet sich die Schweiz im Zent- Tonella: Ich spreche mit ihnen über die Wiener Kongress. Wenn man genauer hinsieht, rum Europas. Das macht sie seit Urzeiten zu ­Kleidung und deren Symbolik – oder über die lässt sich kaum je sagen, dass eine historische einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt zwi- Frauen, die im Bild zu sehen sind. Und ich er- Entwicklung nur eine Ursache habe. schen Nord und Süd. Andererseits zwangen kläre ihnen die Bedeutung des Söldnerwesens Weltwoche: Gibt es trotzdem ein ­Ereignis, die bergige Lage und der karge Boden die Be- für die Geschichte der Schweiz. Es war vom das unterschätzt wird, das kaum präsent ist in völkerung dazu, sich auf Dienstleistungen 15. bis 17. Jahrhundert der zweitgrösste Wirt- der Erinnerung, obwohl es wichtig ist, um die und die industrielle Veredelung importierter schaftszweig nach der Landwirtschaft. Das Schweiz von heute zu verstehen? Güter zu konzentrieren. Damit ist die Schweiz führte auch zu einem stärkeren Zusammen- Tonella: Dass plötzlich ein neues Doku- inzwischen sehr erfolgreich. Lange Zeit war wachsen des Landes. Die alten Eidgenossen ment auftaucht und die Geschichte der Schweiz sie allerdings ein armes Land. Viele Menschen mussten sich häufiger treffen, um dieses Ge- neu geschrieben werden muss, ist sehr un- verliessen die Schweiz aus wirtschaftlichen schäft zu koordinieren. Das zeigt, wie sehr die wahrscheinlich. Es gibt aber Ereignisse und Gründen. Noch mein Grossonkel wanderte Schweiz immer schon von ihren Beziehungen Entwicklungen, die wir – aus der Sicht späterer in die USA aus und kämpfte als amerikani- zum Ausland geprägt war. Ich glaube, das wird Generationen – wahrscheinlich unterschätzen. scher Marinesoldat im Zweiten Weltkrieg. Er in der Bevölkerung nach wie vor unterschätzt. Weltwoche: Was waren denn die blinden fiel in der Normandie. Dass die Schweiz jahr- Weltwoche: Sie führen nun seit vier Mo- ­Flecken der Vorgängergeneration? hundertelang ein Auswanderungsland war, naten das Nationalmuseum. Welche Schwer- Tonella: Zum Beispiel die Bedeutung der geht heute oft vergessen. punkte wollen Sie in Ihrer Amtszeit setzen? Frauen für die Geschichte der Schweiz. Heute Weltwoche: Was ist Ihr Eindruck: Wie gut Tonella: Das immaterielle Kulturerbe der wissen wir: Frauen waren sogar in klassischen kennen die Schweizer ihre Geschichte? Schweiz interessiert mich, zum Beispiel die Mehr- Männerdomänen wie dem Söldnerwesen Tonella: Die Jüngeren wissen weniger über sprachigkeit. Wie hat uns das geprägt? Wie funk- tätig. Es gab erfolgreiche Unternehmerinnen die Entstehungszeit der Eidgenossenschaft als tioniert die Schweiz als mehrsprachiges Land? in dieser Branche. Oder die wirtschaftliche Be- die Älteren. Da muss man bei Führungen schon Um grosse Ausstellungen zu realisieren, braucht teiligung der Schweiz am Kolonialismus: Dafür einmal erklären, was der Rütlischwur war und es allerdings zwei bis drei Jahre. Das Programm gab es früher kaum ein Bewusstsein. Man be- was am Morgarten geschah. des nächsten Jahrs stammt deshalb noch von mei- trachtete die Schweizer Geschichte zu einseitig Weltwoche: Woran liegt das? Ist das ein Ver- nem Vorgänger Andreas Spillmann. Meine Hand- aus der nationalen Binnenperspektive. säumnis der Schulen? schrift wird erst ab 2023 erkennbar sein.

Weltwoche Nr. 30.21 101 Bild: Linda Pollari für die Weltwoche «Die Rolle des Klassenclowns gefiel mir» Für den Komiker Claudio Zuccolini, 50, eröffneten sich in der Pandemie unerwartete Chancen. Der Bündner trat im Opernhaus auf und reiste auf die Azoren. Thomas Renggli

Weltwoche: Wir befinden uns in der wohl habe ich Mühe. Mir muss es bei einem Thema sagte Christian Berner, der kaufmännische Lei- sonderbarsten Zeit der jüngeren Geschichte. wohl sein, sonst funktioniert es nicht. Ich orien- ter des Opernhauses, dass wir kommen könn- Das müssen für einen Komiker schon fast para- tiere mich an der Komik des Alltags und an der ten. Das war das Grösste für mich – allein diesische Zustände sein. Verhaltensweise der Menschen. Das kommt in aufgrund der Arbeitsbedingungen und der Claudio Zuccolini: Das trifft dann aber auf der Regel gut an, weil sich die Zuschauer wieder- Infrastruktur. Als Mann der Kleinkunstszene alle Komiker zu. Man muss aufpassen, dass man erkennen. Für mich ist dies eine Art von Thera- bin ich es gewohnt, alles selbst zu machen. Und den Bogen nicht überspannt. Wir behandeln mo- pie. Ich habe viel Zeit – und ich nehme mir Zeit, plötzlich hast du praktisch für jeden Schein- mentan ein Thema, das alles dominiert. Aber die Menschen zu beobachten. werfer einen Verantwortlichen. Und nur schon, irgendwann haben die Leute genug davon. Lus- Weltwoche: Beobachten Sie auch sich selbst? dass man zig verschiedene Möglichkeiten be- tig ist, dass ich in meinem aktuellen Programm Zuccolini: Selbstverständlich. Und ich kann sitzt, den Vorhang zu öffnen, war für mich «Darum!» viele Szenen spiele, die man mit ein, auch bestens über mich selbst lachen. Ich mache etwas völlig Neues. zwei Sätzen auf Corona umleiten kann – sei dies selbst auch ganz komische Dinge. Weltwoche: Zurück zu Corona: Einige Ko- beim Arztbesuch, beim Einkaufen oder bei den Weltwoche: Zum Beispiel? miker fühlten sich berufen, eine politische Bot- diversen Jubiläen, die man feiern könnte. Mit Zuccolini: Kleinigkeiten: dass ich mit er- schaft zu überbringen. Was halten Sie davon? Übergängen lässt sich das bequem anpassen, und schütternder Konstanz immer den falschen Zuccolini: Das ist nicht meine Sache. Die Si- man wird der Situation gerecht. Lichtschalter bediene. Oder der ständige tuation, in der wir uns im Moment befinden, ist Weltwoche: Darf man sich über alles lustig Kampf mit der Waschmaschine, ein grosses für uns sehr schwierig: Neben der Gastronomie machen? Schlamassel . . . (Lacht) Für manche ist es sehr wurde die Kultur wohl am härtesten getroffen. Zuccolini: Die Frage ist: Macht man sich simpel. Aber letztlich ist es unser Leben im Klei- Natürlich war ich glücklich, als wir wieder auf- über das Thema lustig – oder über das teil- nen, das zählt. treten durften. In gewissen Momenten war es weise recht absurde Verhalten der Menschen? Weltwoche: Aber ganz ausklammern lässt wohl auch schlauer, dass man nicht auftreten Letztlich geht es immer um alltägliche Dinge: sich die Politik in Ihren Nummern doch nicht? konnte. Mühe hatte ich mit der Panikmache – etwa beim Abstandhalten, bei der Hygiene oder Zuccolini: Nein – nur schon, weil das Publi- und im Zusammenhang mit der Delta-Variante beim Einkaufsverhalten. Ich bin der Meinung, kum Masken trägt. Das ist relativ gspässig. Dann dass man solche Aspekte fein in die Komik ein- gibt es immer noch Theater, in denen man vor «Wir alle haben doch in jungen bauen kann. Die Motivation, ein neues Pro- nur fünfzig Leuten spielen kann. Auch das wird Jahren Dinge getan, die wir heute gramm rund um Corona zu schreiben, habe ich automatisch zum Thema. Gegen politisches aber nicht. Da wird es viele Komiker geben, die Kabarett habe ich nichts, aber es sollte ohne nicht mehr tun würden.» dies machen. Und in den Comedy-Sendungen, Politik auskommen. (Lacht) die während des Shutdowns liefen, haben sich Weltwoche: Gab es auch positive Aus- läuft die gerade wieder. Das gibt mir ein ungutes diverse Kolleginnen und Kollegen dieses The- wirkungen der Pandemie? Gefühl – weil man sich fragt, ob der nächste mas angenommen. Zuccolini: Ja, indirekt. Ich hatte das grosse Herbst wie der letzte sein wird. Das würde für Weltwoche: Unterstehen Komiker heute dem Glück, dass ich im Juni 2020, nach dem Ende uns bedeuten, dass wir wieder ein paar Monate Anspruch der politischen Korrektheit? des ersten Shutdowns, im Opernhaus spielen zur Untätigkeit verurteilt wären. Zuccolini: Ich denke schon. Aber es hängt konnte. Das war gigantisch. Ausserdem gewann Weltwoche: Konkret gehörte Marco Rima zu auch davon ab, wie resistent man selber ist – und ich 2020 zwei Swiss Comedy Awards. Schlecht den lautesten Massnahmenkritikern. Konnten das bin ich nicht in hohem Mass. Es gibt gewisse war das Jahr nicht. Sie dies nachvollziehen? Themen, die ich nicht anschneide, weil ich mich Weltwoche: Zuccolini im Opernhaus? Zuccolini: Ja, durchaus. Und es müsste auch nicht dafür rechtfertigen möchte. Zuccolini: Das war wirklich eine spezielle Ge- möglich sein, dass man eine andere Meinung zu- Weltwoche: Welche? schichte. Eigentlich wären die Aufführungen lässt. Aber momentan ist das sehr schwierig. Des- Zuccolini: Religiöse beispielsweise. Letztlich im Hechtplatz-Theater vorgesehen gewesen. halb halte ich mich zurück – vor allem in den so- geht es immer darum, wie man etwas erzählt. Doch dort war es praktisch unmöglich, die Ab- zialen Medien. Da kann man sich zu Aussagen Auch die Gender-Thematik ist heikel. Doch für standsregeln einzuhalten. Dann wollten wir verleiten lassen, die man kurze Zeit später bereut. solche Themen habe ich zwei Figuren kreiert, ins Bernhard-Theater. Doch dort wurde kurz- Auf der Bühne ist es anders. Da kann man das Erika und Kurt, die ungeniert über alles spre- fristig umgebaut. Und dann meinte die Leite- Thema mit einem Augenzwinkern aufgreifen. chen dürfen. Aber rausgehen und bei einem poli- rin Hanna Scheuring halb im Scherz, dass wir Wenn die Menschen ein Ticket kaufen, erwarten tischen Thema auf den Tisch klopfen – damit doch ins Opernhaus gehen sollten. Und prompt sie, dass sie eine pointierte Aussage hören.

102 Weltwoche Nr. 30.21 Zuccolini: Man kann vielleicht lernen zu schrei- ben und sich das Timing, eine Pointe zu setzen, aneignen. Die Grundvoraussetzung, dass man eine Bühnenpräsenz besitzt und vom Publikum angenommen wird, beruht aber auf Talent. Weltwoche: Was machen Sie, wenn das ­Publikum nicht lacht? Zuccolini: Das ist bei mir glücklicherweise kaum mehr der Fall. Natürlich gibt es immer gewisse Abende, an denen es schlechter läuft. Aber das muss man abhaken. Denn zuvor hatte es hundertmal funktioniert. So schlecht kann ich nicht sein, dass ich an einem Abend plötz- lich alles verhaue. Weltwoche: Sie sind Familienvater – und haben die Klippe des 50. Geburtstags elegant umschifft. Zuccolini: Dieses Ereignis hätte ich eigent- lich gross feiern wollen. Aber Corona war da- gegen. Immerhin konnte ich so die Kosten tief halten. (Lacht) Weltwoche: Was planen Sie für die nächsten fünfzig Jahre? Zuccolini: Ich würde gerne weiter mit mei- nem Programm durch das Land touren. Ausser- dem würde mich das Filmgeschäft reizen. Ich «Ich würde mich freuen, wenn die Menschen wieder lernten, ­andere Meinungen zu akzeptieren.»

hatte schon ein paar Kurzauftritte in Filmen. «Viele Menschen reagieren zornig, wenn man ihren Humor nicht bedient»: Komiker Zuccolini. Jetzt würde es mich interessieren, ob ich auch in einer grösseren Produktion bestehen könnte. Weltwoche: In der Ukraine wurde der Ko- Weltwoche: Sie waren Moderator und Jour- Schauspieler nach Zürich gezogen ist; aber das miker Wolodymyr Selenskyj zum Staats- nalist. Wie kamen Sie auf die Idee, Komiker zu war schon fast suspekt. Bei uns machte man eine präsidenten gewählt. Wäre die Politik auch werden? Lehre, das KV, oder ging ans Gymnasium. Dass eine Bühne für Sie? Zuccolini: Nach meiner Zeit bei Roger Scha- es Möglichkeiten gab, das Leben anders zu be- Zuccolini: Weniger. Ich bin hin und wieder winskis Tele 24 ging ich zum Schweizer Fern- streiten, war damals kaum vorstellbar. gerne nach Bern an eine Session gereist und habe sehen und moderierte dort eine Sendung mit Weltwoche: Eine Trapeznummer hinterfragt mich auch in der Wandelhalle umgeschaut. Es humoristischen Werbespots. Irgendwann wurde niemand, aber beim Komiker fühlt sich jeder gibt schon sehr viele langweilige Momente im dieses Format eingestellt. Aber ich wollte eigent- Zuschauer wie ein Experte. Empfinden Sie dies Leben eines Parlamentariers. ­Zudem ist man als lich beim Fernsehen bleiben – weil es mir un- als ungerecht? Politiker heute stark exponiert und man muss glaublich Spass machte und ich sehr motiviert Zuccolini: Humor ist etwas sehr Schwieriges. eine extrem dicke Haut haben. war. Das Fernsehen war meine Leidenschaft. Viele Menschen reagieren auch zornig, wenn Weltwoche: Wenn Sie einen Wunsch frei Aber plötzlich war Schluss damit, und das konn- man ihren Humor nicht bedient. Bei meinem ­hätten, wie sähe der aus? te ich nur schwer akzeptieren. Also musste ich Publikum habe ich aber schon das Gefühl, Zuccolini: Dass die Menschen wieder etwas mich sozusagen neu erfinden. dass es den meisten gefällt; sonst würden die normaler miteinander umgehen – und mehr Weltwoche: Wer sagte Ihnen, dass Sie lustig Zuschauer wohl kaum ein Ticket kaufen. Im ­Toleranz und Respekt zeigen. Ich habe das Ge- sind? Gegensatz dazu ist Comedy am Fernsehen viel fühl, dass dies in den vergangenen anderthalb Zuccolini: Das begann in der Schule. Ich war schwieriger – weil man dann von Zuschauern Jahren verlorengegangen ist. Die Sängerin Bil- der Klassenclown, der meistens einen Spruch gesehen wird, die kein Ticket kaufen würden. lie Eilish musste sich für eine Aussage ent- auf Lager hatte und die Mitschüler zum Lachen Und dann kommt die Kritik schnell, wenn man schuldigen, die sie mit dreizehn Jahren gemacht brachte. Diese Rolle gefiel mir. Aber ich hätte mir ihren Geschmack nicht trifft. Beim Fussball ist hatte. Müssen wir in Zukunft schon bei fünf- nie vorgestellt, dass dies je mein Beruf werden es ähnlich: Alle glauben zu wissen, wie es besser- jährigen Kindern schauen, was sie sagen? Wir alle könnte. Damals gab es auch die Plattform der geht, alle reden mit. Der Unterschied ist viel- haben doch in jungen Jahren Dinge getan, die sozialen Medien nicht, auf der jede und jeder leicht: Die wenigsten können richtig Fussball wir heute nicht mehr tun würden. Grundsätzlich seine Auftrittsmöglichkeit erhält. Und bei uns spielen. Aber beim Humor denkt jeder, dass es hat die Pandemie die öffentliche Stimmung un- in Scharans im Domleschg gab es bezüglich Me- einfach ist, auf die Bühne zu stehen und einen angenehm gemacht. Ich habe gerne Frieden und dien und Unterhaltung eigentlich gar nichts. Witz zu erzählen. würde mich freuen, wenn die Menschen wieder Man hatte vielleicht von einem gehört, der als Weltwoche: Kann man lernen, lustig zu sein? lernten, andere Meinungen zu akzeptieren.

Weltwoche Nr. 30.21 103 Bild: Linda Pollari für die Weltwoche «Im Grunde haben wir ja das gleiche Programm» Mit dem Pamphlet «Der dressierte Mann» stellte Esther Vilar 1971 den Feminismus auf den Kopf. Ein Rückblick der Erfolgsautorin fünfzig Jahre danach. Alex Baur

Weltwoche: Frau Vilar, vor einem halben Jahr- hundert sind Sie angetreten mit der Forderung nach einer radikalen Emanzipation, sowohl der Männer als auch der Frauen. Sind die Menschen heute freier, als sie es damals waren? Esther Vilar: Objektiv sind sie freier. Die Kir- chen sind liberaler geworden, die Scheidungen leichter, die Diktaturen seltener, die Gerichte humaner. Die Frage ist eine andere: Wollen wir überhaupt frei sein? Wir fordern unsere Freiheit, wir schwärmen von ihr, wir töten für sie, wir las- sen uns für sie töten – doch mit der Freiheit zu leben, von Tag zu Tag selbst zu entscheiden, was mit uns geschehen soll, das ertragen wir in der Regel schlecht. Wir suchen nach Pflichten und Aufgaben, die uns unsere Freiheit wieder abnehmen, rennen von einer fehlgeschlagenen Bindung in die nächste – bis dass der Tod uns scheidet –, retten uns von einer Partei in die an- dere, gebären uns Kinder und Kindeskinder, kurz: Wir benehmen uns so, als gäbe es nichts, was wir so sehr fürchten wie die gloriose Frei- heit, auf die wir dauernd unsere Lieder singen. Weltwoche: Die «Lust an der Unfreiheit» zieht sich wie ein Leitmotiv durch Ihr Lebens- werk. Sie stellten dabei alles in Frage, was heilig erschien – haben Sie auch Antworten gefunden? Vilar: (Lacht) Das wäre vermessen. Es ist schon erstaunlich, dass die meisten unserer grossen Denker die Lust an der Unfreiheit, die für so viel Glück und Unglück in unseren Leben ver- antwortlich ist, kaum thematisiert haben. Weltwoche: Als Sie 1971 erstmals in die Schweiz kamen, bekamen die Frauen gerade das Stimmrecht zugesprochen. Hat das Frauen- stimmrecht die Welt verändert? «In der Regel fühlte ich mich enorm bevorzugt»: Feministin Vilar. Vilar: Leider haben die Frauen wenig dar- aus gemacht. Mit der Wahlberechtigung, die es in meiner Heimat Argentinien ja schon seit Verzicht auf die Verwaltung des Familienein- sich je benachteiligt gefühlt als Frau – beruf- 1946 gab, anderswo seit dem Ersten Weltkrieg, kommens, Verzicht auf jede Art von Freizeit lich, sozial, politisch? waren die Frauen im Westen in einer relativ und so weiter und so fort. Von alledem woll- Vilar: In der Regel fühlte ich mich enorm guten Position. Doch das haben sie wohlweis- ten die Frauen nichts wissen. Der Mann durf- bevorzugt. Als ich mit meiner Ausbildung zur lich nicht an die grosse Glocke gehängt. Denn te den Titel Familienoberhaupt behalten und Ärztin fertig war, brachte mich ein Stipendium Gleichberechtigung bedeutet auch Gleich- obendrein ein paar Kasten Bier. Aber das ist ja nach Deutschland. Als Mann hätte ich zunächst verpflichtung: Militärdienst, Berufstätigkeit, schliesslich auch etwas, nicht wahr? einen ewig langen Militärdienst absolvieren eventuell auch Verzicht auf die Kinder bei Weltwoche: Sie sind in Argentinien in pre- müssen. Nach der Ankunft fiel mir dann erst der Scheidung, damit Verzicht auf das Heim, kären Verhältnissen aufgewachsen. Haben Sie einmal auf, dass die Frauen bei der Bahn we-

104 Weltwoche Nr. 30.21 Bild: Muir Vidler/13 Photo niger bezahlten als die Männer. Und dass sie Chaos in der argentinischen Wirtschaft in Ord- tur. Das Geschlecht wir damit wieder zum ent- trotz einer um mehrere Jahre längeren Lebens- nung brächte. scheidenden Kriterium für die Karriere. erwartung um Jahre früher pensioniert wur- Weltwoche: An Schweizer Universitäten ist Vilar: Ich hätte gerne Quoten, wenn auch aus den. Oder dass sie schon drogensüchtig sein «Gendersprech» mittlerweile Pflicht. Wer sich einem ganz anderen Grund. Mir dauert es ein- mussten, damit man ihnen bei der Scheidung nicht danach richtet, erhält einen Abzug bei der fach zu lange, bis die politischen Ämter auf Män- die Kinder und damit auch die Wohnung weg- Note. Bringt uns das der Gleichstellung näher? ner und Frauen halbwegs gleichmässig verteilt nehmen konnte. Und so begann ich dann all- Vilar: Hier kann ich nun genau sagen, was sind. So viel Kraft, so viel Energie geht durch mählich zu fragen: Warum ist das eigentlich so? man anstatt der Verhunzung der deutschen diese Streitereien um Posten und Pöstchen ver- Sind wir Frauen etwa die besseren Menschen? Sprache zunächst einmal in Ordnung brin- loren, während überall so viel Arbeit wartet. Weltwoche: Wie erklären Sie sich die Klagen gen sollte. Nämlich all das, was über die letz- Verteilt die Ämter so schnell und so gut wie über die Unterdrückung und Benachteiligung ten Jahrzehnte mit grösster Selbstverständ- möglich, hört endlich auf zu klagen und wer- der Frau? lichkeit auf der weiblichen Seite angerichtet det aktiv. Liebe Frauen, diese Bettelei um beruf- Vilar: Ich halte das für eine Art Geschäfts- wurde. Jedes Schulkind weiss, dass ein Lehrer liche Geschenke ist der Frauen unwürdig. Bringt gebaren, und ich habe mich zeit meines Lebens auch eine Lehrerin sein kann – und meistens das hinter euch. Und, liebe Männer, kein Amt dafür geniert. Das hat keinen Stil. Natürlich gibt sogar ist. Wenn man hier unbedingt deutlicher ist so wichtig, dass es nicht auch von einer gut- es Frauen, die in entsetzlichem Unglück leben, sein will, schreibt man halt «Lehrer und Lehre- ausgebildeten Frau ausgeübt werden könnte. auch noch mit Kindern. Doch das ist nicht die Weltwoche: In der Schweiz werden staat- Regel. Vieles könnte mit dem richtigen Gebrauch «Die Frauen sind intoleranter­ liche Frauenmuseen gefordert, die uns Män- des Wahlrechts abgemildert werden. Im Grunde ­geworden – oder die Männer nern die historische Erbschuld gegenüber den ist die Justiz in demokratischen Ländern ja fast Frauen bewusst machen sollen. immer auf der Seite der Frauen. ­ängstlicher? Ich weiss es nicht.» Vilar: Vielleicht werden die Männer dann frei- Weltwoche: Ihr 1971 veröffentlichter Erst- willig weniger arbeiten und zu Hause bleiben? ling «Der dressierte Mann» war ein Superseller, rin» oder umgekehrt. Was man dem Schulkind Vielleicht könnte man sich bei der festlichen Ge- der zwar wütende Ablehnung provozierte, aber verschweigt: Der Mann, der es gezeugt hat, legenheit auch einmal all der Schweizerinnen er- trotzdem jahrelang heftig diskutiert wurde. sein Vater, wird seit Jahrzehnten ungehemmt innern, die noch vor wenigen Jahrzehnten das Heute wird nicht mehr gestritten, die Opferrolle benachteiligt – durch die Militärdienstpflicht, Angebot des Frauenstimmrechts entschlossen der Frau scheint in Stein gemeisselt. durch die spätere Pensionierung, bei der Mit- abgelehnt haben? Wäre doch mal etwas Neues? Vilar: Die Frauen sind womöglich intoleranter bestimmung bei der Fortpflanzung und der Weltwoche: 1976 sind Sie nach einer Serie geworden – oder die Männer ängstlicher? Ich Erziehung der Kinder, um nur ein paar Bei- gewalttätiger Angriffe aus Deutschland ge- weiss es nicht. Mein Kernanliegen war immer spiele zu nennen. Es gäbe einiges an Auf- flohen. Seither haben Sie sich kaum mehr oder eine echte Gleichberechtigung. Es gibt schon ein klärung nachzuholen, dazu braucht es keine nur noch sehr zurückhaltend zu Genderfragen paar Unterschiede zwischen den Geschlechtern, Gendersprache. geäussert. Haben Sie kapituliert? doch diese sind nicht so gross, dass es vernünftig Weltwoche: In der Schweiz wird wohl dem- Vilar: Ich wollte etwas anderes machen, habe wäre, ein Geschlecht für das andere arbeiten zu nächst über die «Ehe für alle» abgestimmt. Um- mehrere Romane und Sachbücher geschrieben, lassen. Bei den meisten Paaren ist es nach wie vor stritten ist vor allem das Adoptionsrecht. Ein über Intelligenz, Religion oder Kunst. Ich so, dass die Männer Geld verdienen müssen und Kind sollte statt Vater und Mutter auch Mutter schrieb Bühnenstücke, bisher achtzehn an der die Frauen dürfen. und Mutter oder Vater und Vater oder Transgen- Zahl, «Die amerikanische Päpstin» und «Speer» Weltwoche: Inwiefern sind die Geschlechter- der und Transgender in allen Varianten haben wurden sogar zu einer Art Klassiker, die bis rollen anerzogen oder eben doch angeboren? können. Kommt das gut? heute immer wieder mal aufgeführt werden. Ge- Vilar: Es gab eine Zeit, als man jedes Rollenver- Vilar: Nicht gut genug, fürchte ich. Weil die wiss, nichts war so erfolgreich wie «Der dressier- halten als angeboren betrachtete. Darauf folgte Mehrheit der Kinder wohl noch lange bei El- te Mann», doch die Auflage allein war für mich die Korrektur: Alles anerzogen! Jetzt ist es eine tern unterschiedlichen Geschlechts aufwachsen nie ein Kriterium. Kurioserweise war mein An- Mischung. Doch in einem Punkt scheint man wird. Kinder wollen immer das Gleiche wie ihre fangserfolg eher ein Hindernis für meine spätere sich einig zu sein: Keiner der Unterschiede zwi- Freunde. Das gibt Probleme. Trotzdem bin ich Karriere als Schriftstellerin. Viele hatten mich in schen den Geschlechtern ist so heftig, dass man für die «Ehe für alle». Eine andere menschlich eine Schublade versorgt, die nicht die meine war. deswegen dem einen oder andern die Ausübung vertretbare Lösung gibt es wohl nicht. Und Weltwoche: Gibt oder gab es eine Gesellschaft eines bestimmten Berufes verbieten dürfte. letztlich wird man sich daran gewöhnen. oder eine Kultur auf dem Erdball, welche Ihren Weltwoche: In den Schulen wird heute auf Weltwoche: Sie haben einst mit dem Buch Idealen irgendwie nahegekommen wäre? genderneutrale Erziehung geachtet. Keine Spiel- «Heiraten ist unmoralisch» für die Abschaffung Vilar: Seltsamerweise die DDR. Eine fürchter- zeugtraktoren mehr für Jungs, keine Puppen für der Ehe plädiert. Ehe für keinen statt Ehe für alle. liche Diktatur, leider, doch dort hatte man die Mädchen. Wird das die Menschen verändern? Vilar: (Lacht) Ich halte an meinem Vorschlag Frauen auf einen neuen Weg geschoben. In der Vilar: Ein wenig schon, fürchte ich. Bald fest. Aber die Abschaffung des Ehemodells, das DDR waren sie in das Erwerbsleben von Anfang werden nicht einmal mehr die Mädchen einen auf die alten Prinzipien der Prostitution baut, an integriert. Darauf hätte man in Deutschland Knopf an ihrem Mantel annähen können. Ist werde ich wohl nicht mehr erleben. Es ist schwer nach der Wende aufbauen können. Hier hätten das ein Drama? Nein. aus der Mode zu bringen. Wir fürchten uns zu sich die Feministinnen bewähren können. Denn Weltwoche: Die Identität der Geschlechter sehr vor der Freiheit, möchten lieber einem im Grunde haben wir ja das gleiche Programm. steht zur Disposition. Ihr Heimatland Argen- Menschen unsere ewige Gefolgschaft schwören. tinien hat soeben eine Quote für Transgender- Und manchmal funktioniert es ja sogar. Menschen in der öffentlichen Verwaltung er- Weltwoche: Man könnte meinen, das Ge- lassen. schlecht spiele überhaupt keine Rolle mehr. Tat- Vilar: Ach wirklich? Höre ich zum ersten sächlich ist das Gegenteil der Fall. Allenthalben Alex Baur: «Unerhört», die bisher ­unbekannte Biografie Mal. Vermutlich wäre es auch für Transgen- werden Quoten gefordert – Quoten für Frau- von Esther Vilar. Kürzlich erschienen der-Leute vorteilhafter, wenn man erst mal das en in der Politik, in der Wirtschaft, in der Kul- bei Elster & Salis. 144 S., Fr. 24.90

Weltwoche Nr. 30.21 105 KÖRZIS HOLLYWOOD Norbert Körzdörfer

os Angeles trägt wieder Masken – drin- Kinofan ist längst eine Spezies, die durch viele halten konnte – aber ich werde alles bes- Lnen. 61 Prozent der Kalifornier sind ge- Screens screent. ser machen 2022! Ich wünsche Dir einen impft. Hollywood trägt gelassen und cool genussvollen Sommer und hoffe, Dich shades (Sonnenbrillen) und Optimismus. ur James Bond hat sich durch ein nächstes Jahr an meinem 19. Dinner zu Die ewige Hoffnung: das gute alte kli- N500-Millionen-Angebot von Amazon und sehen!» matisierte Kino als wiederentdeckte Sehn- Co. nicht online locken lassen. Weltpremiere Aye, aye, Captain, Sir! suchtserlebnis-Höhle? Die Nummer eins von «No Time to Die» ist nach fünf (!) Lock- in den USA ist der überraschende Horror- down-Absagen der 30. September – in Lon- ollywood ist in sich immer unglaub- Thriller «Old» des amerikanisch-indischen don. Es ist Daniel Craigs fünfter und letzter Hlich. Das ist die Ur-Story des L.-A.- Filmgenies M. Night Shyamalan, 50 («The «007». Eine Ära killt sich selbst. Craig ist 53 und Lebens. Aus dem europäischen Nichts Sixth Sense»). Story: Eine glückliche Fa- war nach «Spectre» fix und fertig und schwer kam Wolfgang Puck, der Österreicher, der milie auf einer Trauminsel altert an einem ­verletzt. heute Hollywoods Koch-King ist. Er sieht Tag zu Greisen – mit einer twist (20 Millio- Produzentin Barbara Broccoli suchte schon aus wie 51, ist aber alterslos lachende 72. Ein nen Dollar am ersten Wochenende). Selbst- Ersatz. Dann ein letztes Comeback: «Ich woll- wunderbares Filmporträt gibt es jetzt auf finanzierte Produktionskosten: 18 Millio- te meine Story abschliessen.» 007 ist jetzt seit Disney+: «Wolfgang» von Kult-Koch-Regis- nen Dollar. Der Mini-Spielberg hatte mit seur David Gelb («Chef’s Table» und «Jiro «The Exorcist» sein Kino-Erweckungs- Der wunderbarste Dreams of Sushi»). erlebnis und hat sich bei Philadelphia auf Brief erreicht mich einer Riesenranch sein privates Hollywood n der kinolosen Zeit gab es heimliche On- von Arthur Cohn. geschaffen – mit Tochter Ishana als Action- Iline-Helden wie Action-Legende Bruce Second-Unit-Assistentin. Willis, 66 («Die Hard 1–5»). Er ist immer noch Der Erfolgsgag: Horror funktioniert fast fünf Jahren in Rente – auf Jamaika. Ein letz- ein Idol und dreht blitzartig für Millionen- nur im geschlossenen Kino – inmitten in tes Mal rettet er unsere Welt – 2 Stunden und gagen B-Movies für DVD-Premieren. Schrecken geratender Filmfans. 43 Minuten lang. Nicht gerührt online, nur im Das macht auch Oscar-Star Robert De Der Marvel-Blockbuster «Black Widow» Kino, natürlich geschüttelt. Niro, weil eine Woche actor’s action in Costa mit Superheldin Scarlett Johansson, 36, Rica immer gleich eine Million Cash wert («Lost in Translation») war ein Jahr im Safe er wunderbarste Brief nach den ent- ist. Hollywood ist eine Geldfabrik. eingefroren. Er funktioniert eigentlich auch Dtäuschenden Video-Oscars 2021 erreicht nur auf der Riesenleinwand – 322 Millionen mich von Hollywood-Legende Arthur Cohn er unbekannteste und meistunter- Dollar Kasse weltweit. (sechs Oscars!): «Lieber Körzi, ich hoffe, dieser Dschätzte US-Politiker ist vielleicht der Nach der Pandemiepause startete Disney Brief trifft Dich in guter Gesundheit an. [. . .] Bürgermeister der Traum-Metropole Los den Action-Thriller zweigleisig – im Kino Es gibt ein jüdisches Sprichwort: ‹Der Mensch Angeles: Eric Garcetti, 50. US-Präsident Joe (auf 4250 amerikanischen Leinwänden) tracht und Gott lacht›! Ich entschuldige mich, Biden hat ihm jetzt angeboten, Botschafter und online auf Disney+ mit Extra-Ticket dass ich mein traditionelles Pre-Oscars-Dinner in Indien zu werden. für €21.99. Ist das die Zukunft? Ja. Der im «Beverly Hills Hotel» diesmal nicht ab- Auf nach «Bollywood».

106 Weltwoche Nr. 30.21 Illustration: George Townley 29. Juli 2021 Denkanstoss Nr. 728 Anzeige

Lösung zum Denkanstoss Nr. 727

Waagrecht _ 1 LOS 5 KINDERTELLER 8 KLA[MOTTEN]KISTE 14 GOPHER: engl. Taschenratte, aus dem Kultfilm «Cad- dyshack» 15 ULNAR: zur Ulna (Elle) gehö- rig 16 Der HIDE Park in London mit dem Speakers’ Corner 17 PEDELECS 19 Auf ANHIEB 22 OLBACOV: rückwärts «voca- blo» (span. Vokabel) 24 LOBLIEDER: Ana- gramm von «Oelbilder» 26 IHM 27 MARI- TIM 28 AN (und für sich) 29 ETAPE: franz. Etappe (z.B. bei der Tour de France) 30 UN - SPORTLICH 31 SH (Schaffhausen): der ein- zige Kanton mit einer Stimm- und Wahlpflicht

Senkrecht _ 1 LETHE trinken: poet. ver- gessen (wollen) 2 ORTE 3 STEREO 4 CLIN d’œil: franz. Augenzwinkern (übertragen Lösungswort _ Riecht nach Schnaps und Bier von hier. auch Andeutung) 5 [KLEIN]LAUT 6 IAGD- Die rosa eingefärbten Felder ergeben waagrecht fortlaufend das gesuchte Lösungswort. HORN 7 DOPPELT 9 MOE: Betreibt Moes Taverne in Springfield (aus «Die Simp- sons»). 10 Die Anzahl NULLEN in 1002 ist zwei. 11 KLEBREIS 12 SASCHA … ein auf- Waagrecht _ 4 Womit legendäre Urgenossen ihren Bund eidlich beschlossen. rechter Deutscher: Lied der Toten Hosen 12 Grosser, grösstenteils blosser Teil eines Wettkampfsportlerduos. 14 Dabei ist 13 (Arc de) TRIOMPHE: franz. Triumph jemand weder gelb vor Neid noch rot vor Wut, sondern gelb wegen einer Flut von 16 (Nach jedem Stroh)HALM (greifen) 18 Carpe DIEM: lat. pflücke (geniesse) den Gallenrot im Blut. 16 Eine ganz entsetzlich zugerichtete Beule. 17 Nicht im Mittel- Tag 20 IBIS: Vogel oder Hotelkette punkt, doch nicht weil weitgehend zurückhaltend. 19 Fachlich recht trocken, dafür 21 BIIOU(tier) 23 (H)AITCH: engl. H 25 Bis wörtlich echt saftig. 21 Der, der es es, es doof. 22 Podophile stehen darauf, andern- DATO falls ebenfalls nahezu alle andern. 23 Dazu sach ich nur: Mein lieber Kokoschin- ski, der hat aber einen schicken Fuchsschwanz an der Antenne. 26 Erreicht, bestim- Lösungswort _ LEERKOSTEN mend besinnend, vielleicht beginnend mit «Denk daran, dass» oder «Vorsicht vor» das Ohr. 28 Ein prinzipieller Rückstosser für individuelle Rücken. 30 Zum Beispiel zu einem bestimmten Vehikel passender Artikel. 31 Diesem Gebräu oder Saft fehlt es zu stark an Gehalt oder Kraft. 32 Unter dem Strich: der Bruchteiler-Bruchteil.

Senkrecht _ 1 Wird als Hilfe verfasst oder zur Strafe verpasst. 2 Run away! Das ist kein Floh, das tönt nur so. 3 Wo der bouillon der, ist der der Süden. 4 Normaler- weise treiben die modernen Schreiben ihr «Umwesen» in Gruppen. 5 Lux vel ignis dei, nicht etwa Erik von Fiat Lux. 6 Was das, was darunter steht, bestenfalls beschrei- bend oder jedenfalls bezeichnend darüber steht. 7 Gefragt ist, wie man so sagt, ein typischer Fall von denkste. 8 Neben der fährt, wer neben sich steht. 9 Vgl. wie cp. 10 Solche benehmen sich wie die Sirenen. Unwiderstehlich? Deutlich vernehmlich! 11 Kolos sale, zentrale Figur in allen Industriesektoren. 13 Das körnige, ringförmige Ufer eines Saucensees. 15 Früher noch im Wildwutzhatz-Einsatz, heutzutage nur mehr in primitiven Invektiven. 18 Der beurkundet für Kunden Urkunden. 20 Zum Miss- wird der Brauch an Ab. 22 Nachrichtlich, wohl da absichtlich unaufrichtig, wahrlich nicht richtig. 24 Der Neue in der Crew der matriziellen Rebellen. 25 Kurz für den erstnächsten Kurzen nach dem Kürzesten. 27 Abscheulich gräulich oder wider- wärtig niederträchtig. 29 Fremd(aus)sprachlich macht das Das mit dille sa, so, sü aus ca, co, cü. I=J=Y © Andri Martinelli – Rätselfactory omegawatches.com

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Alle Athleten haben einen Traum. Er lebt in ihren Herzen und lässt sie nach dem Sieg greifen. An den Olympischen Spielen in Tokio wird diesen Träumen eine Bühne gegeben. Es ist der Moment, an dem Inspiration auf Leistungskraft trifft, Ehrgeiz auf Präzision, und an dem der Offizielle Zeitnehmer OMEGA dies alles festhält.

Omega_HQ • Visual: OLY92_X301_522.30.42.20.04.001 • Magazine: Weltwoche (CH) • Language: English • Issue: 29/07/2021 • Doc size: 230 x 300 mm • Calitho #: 07-21-148077 • AOS #: OME_03423 • FP 14/07/2021