BRGÖ 2016 Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs

Martin MOLL, Graz Militärgerichtsbarkeit in Österreich (circa 1850–1945)

Military jurisdiction in Austria, ca. 1850–1945 This article starts around 1850, a period which saw a new codification of civil and military penal law with a more precise separation of these areas. Crimes committed by soldiers were now defined parallel to civilian ones. However, soldiers were still tried before military courts. The military penal code comprised genuine military crimes like deser- tion and mutiny. Up to 1912 the procedure law had been archaic as it did not distinguish between the state prosecu- tor and the judge. But in 1912 the legislature passed a modern military procedure law which came into practice only weeks before the outbreak of , during which millions of trials took place, conducted against civilians as well as soldiers. This article outlines the structure of military courts in Austria-Hungary, ranging from courts responsible for a single garrison up to the Highest Military Court in Vienna. When Austria became a republic in November 1918, military jurisdiction was abolished. The authoritarian government of Chancellor Engelbert Dollfuß reintroduced martial law in late 1933; it was mainly used against Social Democrats who staged the February 1934 uprising. After the National Socialist ‘July putsch’ of 1934 a military court punished the rioters. Following Aus- tria’s annexation to in 1938, German military law was introduced in Austria. After the war’s end in 1945, these Nazi remnants were abolished, leaving Austria without any military jurisdiction. Keywords: Austria – Austria as part of Hitler’s Germany –First Republic – Habsburg Monarchy – Military Jurisdiction

Einleitung und Themenübersicht allen Staaten gab es eine eigene, von der zivilen Justiz getrennte Strafgerichtsbarkeit des Militärs. Militärgerichtsbarkeit ist gegenwärtig in Mittel- Diese Sonderstellung betraf sowohl das materi- europa kein Thema mehr; sie erscheint als archa- elle wie auch das Verfahrensrecht und die Ge- isches, durch den Nationalsozialismus dauerhaft richtsorganisation. kontaminiertes Relikt einer überkommenen Zeit, Der folgende Beitrag setzt ein um 1850, als in ohne dass hinreichend reflektiert wird, ob nicht Österreich das zivile und militärische Strafrecht manches auch gegenwärtig für eine Sonderge- neu kodifiziert und deutlicher als zuvor vonei- richtsbarkeit für Soldaten spricht, da diese be- nander abgegrenzt wurden. Vergehen und Ver- sonderen Einsatzbedingungen unterliegen, die brechen von Angehörigen des Soldatenstandes von zivilen Richtern, die unter friedensmäßigen waren in Analogie zu zivilen Delikten definiert, Bedingungen ihres Amtes walten, kaum ange- sie wurden aber von Militärgerichten abgeur- messen beurteilt werden können. Wenngleich teilt. Hinzu kamen spezielle militärische Delikte sich eine solche Sichtweise gegenwärtig nicht (, Meuterei u.a.). 1912 wurde das ar- durchzusetzen scheint, kann der Militärge- chaische Verfahrensrecht, das dem längst über- richtsbarkeit für die Vergangenheit ihr wichtiger holten Inquisitionsprinzip folgte, durch eine Stellenwert nicht abgesprochen werden. In fast moderne Militärstrafprozessordnung (MStPO) http://dx.doi.org/10.1553/BRGOE2016-2s324 Militärgerichtsbarkeit in Österreich (circa 1850–1945) 325 ersetzt. Darzustellen ist neben dem materiellen nach sich zogen, war die Einleitung eines Mili- und prozessualen Militärstrafrecht der Aufbau tärgerichtsverfahrens obligatorisch. Vorsätzli- der Militärgerichte von den Garnisonen bis zum ches Handeln war nicht gefordert, für den Ein- Obersten Militärgerichtshof in Wien. tritt der Strafbarkeit genügte der Eintritt eines Beim Übergang von der Monarchie zur Repub- Schadens oder einer Gefahr.1 lik Ende 1918 wurde die Militärgerichtsbarkeit Eine Besonderheit des österreichischen Militär- abgeschafft bzw. im B-VG 1920 lediglich auf den rechts stellte die Funktion des Auditors dar, der Kriegsfall beschränkt. Die Regierung Engelbert die Aufgaben des Anklägers, des Verteidigers Dollfuß führte Ende 1933 im Zuge der Aufrich- und des Richters in seiner Person vereinte. Die tung eines autoritären Regimes das Standrecht daraus resultierende Problematik wurde durch- wieder ein, das während der Februarkämpfe aus erkannt; man versuchte ihr durch besonders 1934 gegen die Sozialdemokratie angewandt strenge Vorschriften betreffend die Urteilsfin- wurde, während für die Haupttäter des natio- dung zu begegnen. Beispielsweise war die Ver- nalsozialistischen Juliputsches ein neugeschaf- hängung eines Todesurteils lediglich auf Grund fener Militärgerichtshof zuständig wurde. Nach von Indizien untersagt.2 Neben dem ordentli- dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche chen existierte das außerordentliche Verfahren, Reich im März 1938 wurden die im Krieg stän- das auf Anordnung des Monarchen, eines Ge- dig ausgeweiteten reichsrechtlichen Regelungen richtes zweiter oder dritter Instanz sowie in betreffend die Wehrmachtjustiz eingeführt. bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Fällen eingeleitet wurde.3 Das Standrecht war für Situationen vorgesehen, 1848 bis 1866 in denen Verbrechen überhandnahmen, sodass durch ein betont schnelles Verfahren eine ab- Die Jahre zwischen 1848 und 1866 waren durch schreckende Wirkung erzielt werden konnte. eine ungemein aktive Reform- und Organisati- Solche Situationen waren etwa öffentliche onstätigkeit des Heerwesens gekennzeichnet. schwere Subordinationsverletzungen, Aufruhr, Davon war auch die Militärgerichtsbarkeit be- Plünderungen unter Kriegsverhältnissen, um troffen, deren Quelle der Monarch als Oberbe- sich greifende Desertionen und Spionagefälle. fehlshaber der Streitkräfte war, der seine Ge- Zur Verhängung des Standrechts war jeder mit richtsrechte an Truppenbefehlshaber in deren dem ius gladii betraute Kommandant befugt. Im Eigenschaft als Gerichtsherren delegierte. Der Notfall stand dieses Recht auch detachierten Militärgerichtsbarkeit unterstanden sämtliche Kommandanten unter Beiziehung eines Audi- Angehörige der Armee samt ihren Familien; tors zu. Das Standrechtsverfahren musste von dies galt sowohl für das Straf- wie auch für das der Einleitung an binnen 24 Stunden beendet Zivilrecht. Als Gerichtsherren erster Instanz sein; gelang dies nicht, kam das ordentliche fungierten die Inhaber der Regimenter und der Verfahren zur Anwendung.4 Extrakorps; ihre Jurisdiktion erstreckte sich auf Als letzte Instanz fungierte die vier Departe- alle Militärangehörigen vom Oberstleutnant ments umfassende Justizabteilung des Hof- abwärts. Zusätzlich bestanden die Gardegerich- kriegsrats; ihr oblag zudem die Justizverwal- te, ein Gericht für die Theresianische Militära- kademie in Wiener Neustadt sowie Gerichte der 1 WAGNER, Armee 268f. Invalidenhäuser. Bei sämtlichen gemeinen und 2 Ebd. 270. Militärverbrechen sowie bei jenen Vergehen, die 3 Ebd. 271. strengere als die erlaubten Disziplinarstrafen 4 Ebd. 271f. 326 Martin MOLL tung. Unter einem General amtierten vier Hofrä- Joseph die Abschaffung des Spießrutenlaufens te als Vorsteher dieser Departements. Auch nach an; eine weitere Verordnung regelte im März der Umwandlung des Hofkriegsrats in das 1855 die Anwendung der körperlichen Züchti- Kriegsministerium blieb die kollegiale Verfas- gung, die statt Kerker oder Arrest verhängt sung bestehen. Im Dezember 1848 wurden die werden konnte, sofern der Delinquent hierfür administrativen von den richterlichen Aufgaben körperlich geeignet war.9 getrennt, wobei der Justizsenat unter Leitung Einschneidende Veränderungen erfuhr das mili- eines Generals in richterlichen Angelegenheiten tärische Justizwesen durch das 1857 erlassene vom Kriegsminister unabhängig wurde und die Organisationsstatut für die Armee. Die Unab- Bezeichnung „Oberster Militärgerichtshof“ er- hängigkeit des Obersten Militärgerichtshofs hielt.5 wurde beseitigt; an seine Stelle trat der Oberste Mit Wirksamkeit ab Januar 1852 erfolgte eine Justizsenat als Organ des Armeeoberkomman- Neuregelung des Umfangs der Militärgerichts- dos. Er hatte von nun an die richterlichen Funk- barkeit.6 Im Jahr davor waren Disziplinarkom- tionen in letzter Instanz auszuüben. Bei der per- panien errichtet worden, in die man bereits sonellen Zusammensetzung des Senats wurde zweimal kriegsrechtlich bestrafte sowie als poli- das richterliche Element zu Lasten der Laienbei- tisch unzuverlässig geltende Personen aus dem sitzer gestärkt. Ungeachtet seiner Eingliederung Mannschaftsstand einreihte. Diese Zuweisung in das Kriegsministerium war der Justizsenat in konnte bis zum Ablauf der vorgeschriebenen richterlichen Angelegenheiten unabhängig.10 Gesamtdienstzeit der betroffenen Personen an- dauern. Die Leitgedanken dieser Regelung zeig- ten ein frühes Beispiel für das Konzept der Re- 1866 bis 1914 sozialisierung von Delinquenten.7 Im Kundmachungspatent des MStG von 185511 Tiefgreifende und langfristige Auswirkungen war eine neue MStPO angekündigt worden, hatte die Verabschiedung eines neuen Militär- deren Herausgabe sich allerdings lange verzö- strafgesetzbuches (MStG) im Januar 1855.8 In gerte, da seit den 1830er Jahren die möglichste ihm wurden nicht nur die in Geltung stehenden Übereinstimmung der militärischen mit den Vorschriften zusammengefasst, sondern darüber zivilen Normen vorgesehen war und sich letzte- hinaus die Delikte in Verbrechen und Vergehen re laufend änderten.12 Hinzu kam, dass die Ein- eingeteilt sowie Strafausmaß und Strafarten führung der allgemeinen Wehrpflicht 1868 so- genauer bestimmt. Das MStG hatte eine beinahe wie der staats- und verfassungsmäßige Umbau zwanzigjährige Vorgeschichte, doch erst das im des Staates im Zuge des Ausgleichs mit Ungarn Mai 1852 publizierte allgemeine Strafgesetzbuch massive Änderungen auch des ganzen Militär- (StG) beschleunigte die bis dahin langwierige justizwesens notwendig machten. Die neue Entwicklung hin zum neuen Gesetz, denn des- Staatsstruktur räumte den gesetzgebenden Kör- sen Vorläufer hatte außer den militärischen perschaften beider Reichshälften beträchtlichen Standesdelikten auch die allgemeinen Verbre- Einfluss ein, sodass der Weg bis zur Verabschie- chen und Vergehen behandelt. Zeitgleich mit der Herausgabe des MStG ordnete Kaiser Franz

9 MALFÈR, Abschaffung der Prügelstrafe; WAGNER, 5 Ebd. 274. Armee 276. 6 DAMIANITSCH, Jurisdiktionsnorm. 10 Ebd. 276f. 7 WAGNER, Armee 275. 11 Vgl. LELEWER, Grundriß des Militärstrafrechts. 8 DAMIANITSCH, Militär-Strafgesetzbuch. 12 WAGNER, Armee 539. Militärgerichtsbarkeit in Österreich (circa 1850–1945) 327 dung einer neuen MStPO wegen der notwendi- in Wien sowie der Oberste Militärjustizsenat, gen Verhandlungen mit zwei Landesverteidi- der nach wie vor zum Kriegsministerium ressor- gungs- und zwei Justizministerien unendlich tierte.14 schwierig und langwierig wurde. Es wurden Da sich die Herausgabe einer neuen MStPO daher vorerst besonders dringliche Teilfragen in weiter verzögerte und noch nicht einmal geklärt provisorischer Form geregelt. So erklärte etwa war, ob sie als Verordnung oder als von der das Wehrgesetz vom Dezember 1868 nicht nur Reichsvertretung zu beschließendes Gesetz er- die körperliche Züchtigung und die Kettenstrafe gehen sollte, suchte das Kriegsministerium eine für abgeschafft, es legte zudem fest, dass künftig vorläufige Abhilfe darin, mittels einer Geset- aktive Militärpersonen hinsichtlich ihrer bürger- zesnovelle die gravierendsten Übelstände zu lichen Verhältnisse den zivilen Normen und beseitigen. Unter anderem sollte der Rechts- Behörden unterstellt waren. Am 20. Mai 1869 schutz durch die Einführung einer Berufungs- erschien dann ein Gesetz über den Wirkungs- möglichkeit, der Öffentlichkeit des Verfahrens, kreis der Militärgerichte, das die Militärge- der Zulassung von Verteidigern und andere richtsbarkeit auf aktive Militärpersonen, sofern Maßnahmen verbessert werden. Auch dieser sie gemeine und militärische Straftaten begin- Entwurf kam jedoch über das Beratungsstadium gen, sowie auf Militärverbrechen der Reserveof- nicht hinaus.15 fiziere und der mit Erhalt ihrer Charge ausgetre- Inzwischen bemühte man sich um eine fachliche tenen Offiziere beschränkte. Zivilpersonen wa- Verbesserung des militärischen Justizdienstes. ren lediglich im Kriegsfall wegen Ausspähung Da ein Auditor sowohl die Richteramtsprüfung (Spionage), Einverständnis mit dem Feind, un- als auch Kenntnisse des Heeresdienstes aufwei- befugter Werbung und anderen Delikten der sen musste, wurden vermehrt Reserveoffiziere, 13 Militärgerichtsbarkeit unterworfen. die ein Jurastudium absolviert hatten, zu Audi- Kaiser Franz Joseph verfügte Anfang Juli 1868, toren weitergebildet. 1879 wurde sämtlichen dass die bisherigen gerichtsherrlichen Befugnis- Infanterie-, Kaiserjäger- und Genieregimentern se der Regimentsinhaber auf die Generalkom- je ein Auditor beigegeben; die Regimentskom- manden übertragen werden sollten, das kriegs- mandanten bekamen das Straf- und Begnadi- rechtliche Verfahren jedoch unter Beibehaltung gungsrecht. Die Brigadegerichte, die sich nicht der Disziplinarbefugnis erhalten bleiben sollte. bewährt hatten, wurden in Garnisonsgerichte Das österreichische Disziplinarrecht war im umgewandelt, wobei jene in Wien, Budapest, Vergleich zu anderen Staaten recht streng, was Prag [Praha] und Lemberg [Lviv] zusätzlich in das Kriegsministerium mit dem geringen Bil- Sektionen unterteilt wurden.16 1881 wurde dann dungsstand eines Teils der Mannschaften sowie das bisherige Appellationsgericht in Militär- mit dem Wegfall der körperlichen Züchtigung Obergericht umbenannt.17 Der Oberste Militär- begründete. 1869 ersetzte dann eine neue Orga- Justizsenat erhielt wieder seinen früheren Na- nisation die bisherigen Truppengerichte durch men Oberster Militärgerichtshof. Beide Ände- Garnisonsgerichte am Sitz der General- bzw. rungen brachten die richterliche Unabhängigkeit Militärkommanden. Zusätzlich sollte bis auf der Gerichtshöfe deutlicher zum Ausdruck.18 Weiteres bei jeder Brigade ein zusätzliches erst- instanzliches Gericht geschaffen werden. Un- 14 Ebd. 543. verändert blieben das Militärappellationsgericht 15 Ebd. 544. 16 Ebd. 547. 17 Hierzu THIEL, Militär-Obergericht. 13 Ebd. 540f. 18 WAGNER, Armee 548. 328 Martin MOLL

Somit wies die österreichische Militärgerichts- herigen Regelungen beruhten im Wesentlichen barkeit in den 1880er Jahren folgende Struktur auf der Theresianischen Gerichtsordnung von auf: Als ständige Gerichte erster Instanz fungier- 1768, die einen nur mittelbaren und schriftlichen ten vor allem die Garnisonsgerichte am Sitz der Inquisitionsprozess mit starren Beweisgeboten Territorialbehörden bzw. Korpskommanden, in vorgesehen hatte. Da die zuständigen Kom- größeren Festungen und bedeutenderen Garni- mandanten zugleich als Richter fungierten, be- sonsorten. Ihnen zur Seite standen das Marine- stand eine Verflechtung von Exekutivgewalt gericht sowie Garde- und Akademiegerichte. und Jurisdiktion.23 Die erste Instanz konnte nur im Auftrag des Die in der MStPO von 1912 zur Geltung ge- zuständigen Gerichtsherrn aktiv werden, der brachten Grundprinzipien entsprachen im We- Instanzenzug an das Militär-Obergericht und sentlichen jenen, die bereits ein halbes Jahrhun- weiter an den Obersten Militärgerichtshof war dert zuvor festgelegt worden waren. Im Laufe gesichert. Von Spezialfällen (Marine, Garde) der Zeit war allerdings die Anpassung an die abgesehen, übten die Kommandierenden Gene- zivilen Regelungen noch deutlicher ausgefallen. rale und Militärkommandanten das Straf- und Alle Urteile ergingen im Namen des Monarchen, Begnadigungsrecht aus.19 dem ein absolutes Abolitionsrecht zustand, und Der Oberste Militärgerichtshof fungierte ab 1884 sämtliche Gerichte waren nur dem Gesetz ver- zusätzlich als Oberster Landwehrgerichtshof, pflichtet. Der im dritten Hauptstück der MStPO was eine mehrmalige Erhöhung des Personal- 1912 geregelte Instanzenzug war jetzt jeweils auf standes erforderlich machte. 1904 wurde er zwei Stufen beschränkt.24 Es gab Brigade- und dann auch administrativ aus dem Kriegsminis- Divisionsgerichte, wobei erstere lediglich Delik- terium ausgegliedert.20 1882 kam es in der Her- te von Mannschaftssoldaten mit einer angedroh- zegowina und in Süddalmatien zu einem Auf- ten Höchststrafe von sechs Monaten Arrest ver- stand, woraufhin die Militärgerichtsbarkeit handelten. In allen übrigen Fällen (also u.a. zeitweilig auf die Zivilbevölkerung ausgedehnt dann, wenn die Angeklagten Offiziere oder wurde. Betroffen davon waren in erster Linie diesen Gleichgestellte waren) fungierten die Verbrechen wider die Kriegsmacht des Staates.21 Divisionsgerichte als erste Instanz; sie waren Die jahrzehntelangen Verhandlungen über eine zudem Berufungsgerichte für die Urteile der MStPO mündeten erst 1911 in eine Kompro- Brigadegerichte. Der Oberste Militärgerichtshof misslösung, sodass das Gesetz im Juli 1912 unter entschied über Nichtigkeitsbeschwerden und Dach und Fach gebracht werden konnte.22 Es Berufungen gegen Urteile der Divisions- wurde in beiden Reichshälften in wortgleicher gerichte.25 Fassung verlautbart. Damit war endlich die Brigadegerichte waren den namengebenden jahrzehntelange Zersplitterung des Prozess- Einheiten (eine aus zwei Regimentern bestehen- rechts, das teilweise noch altertümliche Rituale de Brigade umfasste rund 7.000 Mann) und de- und Bestimmungen aufwies, beendet. Die vor- ren Kommandanten zugewiesen, sie hatten mit- hin keinen örtlich definierten Sprengel, sondern 19 Ebd. 548. 20 THIEL, Militär-Obergericht. 21 WAGNER, Armee 550. 23 PREUSCHL, Militärstrafgerichtsbarkeit 71. 22 Gesetz vom 5. 5. 1912 über die Militärstrafprozeß- 24 Die Regelungen für die Kriegsmarine (Matrosen- ordnung für die gemeinsame . RGBl. korpsgerichte bzw. Admiralsgerichte) bleiben hier 130/1912. Zur Vorgeschichte vgl. PREUSCHL, Militär- unberücksichtigt; siehe für Details PREUSCHL, Militär- strafgerichtsbarkeit 72 sowie LELEWER, Militärstraf- strafgerichtsbarkeit 79. prozeß-Entwürfe. 25 Ebd. 79f.; WAGNER, Armee 554f. Militärgerichtsbarkeit in Österreich (circa 1850–1945) 329 folgten den Brigaden, wohin diese auch immer einer Reserveübung, begangen hatten. Folgende verlegt wurden. Brigadegerichte waren also drei Personengruppen konnten niemals der aufgrund des in der Habsburgermonarchie häu- Militärgerichtsbarkeit unterliegen: Mitglieder figen Garnisonswechsels hochgradig mobil. des kaiserlichen Hauses, Angehörige gesetzge- Demgegenüber verfügten die Divisionsgerichte, bender Körperschaften im Rahmen ihrer Immu- welche bei Bedarf die Brigadegerichte zu Hilfs- nität sowie Personen, denen nach völkerrechtli- und Ermittlungsdiensten heranziehen konnten chen Bestimmungen Exterritorialität zukam. und die den Divisionskommandeuren zugewie- Ende 1912 wurde die MStPO durch das Kriegs- sen waren, über einen Ortssprengel, der sich aus leistungsgesetz29 auf alle der Armee in irgendei- den Standorten der ihnen unterstellten Brigade- ner Weise dienlichen bzw. ihr zuarbeitenden gerichte zusammensetzte. Da eine Division in Personen, zum Beispiel die Bediensteten der der Regel zwei Brigaden umfasste, war das Di- Eisenbahnen und landsturmpflichtige Arbeiter, visionsgericht folglich für rund 15.000 Mann ausgedehnt – eine Regelung, die während des zuständig.26 Die §§ 33ff. MStPO normierten, wer Weltkrieges von erheblicher Bedeutung sein als zuständiger Kommandant für jene Personen, sollte.30 die momentan keinem Truppenteil unterstellt Die außerordentliche Militärgerichtsbarkeit war waren, zu gelten hatte. Bei Unklarheiten betref- im Kriegsfall bzw. im Fall drohender Kriegsge- fend die eventuelle Zuständigkeit mehrerer fahr oder bei Beginn der Mobilisierung vorgese- Kommandanten entschied gemäß § 39 deren hen, sollte aber nur für bestimmte Delikte (unbe- gemeinsamer vorgesetzter Kommandant oder – fugte Werbung, Verleitung oder Hilfeleistung falls es einen solchen nicht gab – der Oberste zur Verletzung eidlicher Militärdienstpflichten, Militärgerichtshof, der zudem gemeinsam mit Ausspähung und sonstiges Einverständnis mit dem übergeordneten Zivilgericht in Kompe- dem Feind, Verleitung zur Nichtbefolgung eines tenzstreitigkeiten zwischen Zivil- und Militärge- Einberufungsbefehls) gelten.31 Nach § 14 des richten das letzte Worte hatte.27 Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung Die von der MStPO geregelte ordentliche Mili- vom Dezember 1867 konnte dieser Deliktskreis tärgerichtsbarkeit umfasste alle Personen, die allerdings durch kaiserliche Notverordnung zum Zeitpunkt der Tatbegehung aktive Militär- erweitert werden, wovon nach Kriegsausbruch personen, also Angehörige militärischer Einhei- reichlich Gebrauch gemacht wurde.32 Einen ten oder Gendarmen waren; ferner Militärhäft- Sonderfall der außerordentlichen Militärge- linge, Kriegsgefangene und die Insassen der richtsbarkeit stellte die sogenannte Ersatzge- Militär-Invalidenhäuser. Für die k.k. Landwehr richtsbarkeit dar, die dann zum Tragen kam, sowie für die königlich-ungarische Honved wenn in einem Gerichtssprengel der dort zu- wurde je eine separate Gerichtsbarkeit etab- ständige zivile Gerichtshof erster Instanz auf- liert.28 Nichtaktive Armeeangehörige unterstan- grund von Kriegsereignissen seine Tätigkeit den der MStPO nur in wenigen, genau definier- einstellen musste. In diesem Fall wurden bis ten Ausnahmefällen; Reservisten generell nur zum Wiedereintritt normaler Verhältnisse die dann, wenn sie das Delikt während einer militä- rischen Dienstleistung, insbesondere während 29 RGBl. 236/1912. 30 PREUSCHL, Militärstrafgerichtsbarkeit 75f. 26 PREUSCHL, Militärstrafgerichtsbarkeit 79; WEISL, 31 Ebd. 77f. Kommentar zu den Militärstrafprozeßordnungen. 32 RGBl. 141/1867; RGBl. 156/1914. Vgl. hierzu HASIBA, 27 PREUSCHL, Militärstrafgerichtsbarkeit 82. Notverordnungsrecht; HAUTMANN, Kriegsgesetze und 28 RGBl. 131/1912. Militärjustiz. 330 Martin MOLL

Verbrechen des Mordes, Totschlags, Raubes und reine Rechtsfragen entschieden werden musste. der Brandlegung von Militärgerichten abgeur- Die Beweiswürdigung unterlag keinen festen teilt.33 Regeln, sie erfolgte nach freiem Ermessen. Für Im Verfahren nach der MStPO 1912 herrschte alle Beschlüsse war eine einfache Stimmen- das Offizialprinzip: Der zuständige Komman- mehrheit erforderlich. Dem Beschuldigten konn- dant (Brigade-, Truppendivisions- oder Territo- te ab Anklageerhebung ein Verteidiger beiste- rialkommandant) war zur Anordnung eines hen, bei schweren Verbrechen musste ein sol- Verfahrens verpflichtet, sobald er von einer cher sogar von Amts wegen bestellt werden. strafbaren Handlung Kenntnis erlangte (§ 43). Dem Verteidiger stand das Recht auf unbeauf- Die Durchführung der Ermittlungen übertrug er sichtigten Verkehr mit seinem Mandanten sowie dem ihm unterstellten, vom Gericht unabhängi- auf Akteneinsicht zu.35 gen Gerichtsoffizier bei der Brigade bzw. dem Die Hauptverhandlung musste bei sonstiger Militäranwalt – dieser war ein Offizier für den Nichtigkeit mündlich, in Anwesenheit des An- Justizdienst – bei der Division. Beim Obersten geklagten und öffentlich stattfinden; alle er- Militärgerichtshof oblag diese Aufgabe dem wachsenen Männer hatten Zutritt, ausgenom- General-Militäranwalt. Die Gerichtsoffiziere men wenn der Angeklagte ein Offizier war. An bzw. die Militäranwälte waren für die Durch- Rechtsmitteln standen zur Verfügung: Be- führung der Ermittlungen, das Abfassen der schwerden gegen Beschlüsse und Verfügungen Anklageschrift und gegebenenfalls für das Er- sowohl des zuständigen Kommandanten als greifen von Rechtsmitteln im Auftrag ihres auch des Gerichts, gegen die Abweisung einer Kommandanten zuständig. Untersuchungsrich- Berufung durch das Divisionsgericht sowie Be- ter und Verhandlungsleiter konnten nur Offizie- rufung und Nichtigkeitsbeschwerde gegen Ur- re für den Justizdienst sein.34 teile.36 Auffällig sowohl bei den Brigade- als Bei der Brigade bestand das erkennende Gericht auch den Divisionsgerichten ist der Umstand, aus einem Stabsoffizier (Oberstleutnant oder dass die Urteilsfällung aufgrund der Zahlenver- Major) als Vorsitzendem, einem Hauptmann/ hältnisse (Unterzahl der rechtskundigen Offizie- Rittmeister als Beisitzer sowie einem Offizier des re) maßgeblich von den Laienrichtern (Schöffen) Justizdienstes als Verhandlungsleiter, dessen geprägt wurde. Aufgaben – auch wenn dies seltsam anmuten Lediglich beim Obersten Militärgerichtshof setz- mag – von denen des Vorsitzenden getrennt te sich der erkennende Senat mindestens zur waren. Das Divisionsgericht bestand aus dem Hälfte aus rechtskundigen Personen zusammen. Verhandlungsleiter (Offizier des Justizdienstes) Sowohl sein Präsident als auch die Vizepräsi- und vier Offizieren vom Oberleutnant aufwärts, denten hatten jeweils einen Generalsrang inne, von denen der älteste den Vorsitz führte. Sämtli- sie waren aber nicht etwa Generale des Justiz- che Offiziere durften keinen niedrigeren Dienst- dienstes, sondern Laienrichter – ein Umstand, grad als der Angeklagte haben. Fungierte das Divisionsgericht lediglich als zweitinstanzliches 35 Ebd. 555; PREUSCHL, Militärstrafgerichtsbarkeit 83f. 36 Berufungsgericht, so trat an die Stelle des rang- Ebd. 72–75. Sowohl das Brigade- als auch das Divi- sionsgericht Wien logierten am Hernalser Gürtel 6–12. niedrigsten Schöffen ein weiterer Offizier des 1916 übersiedelte das Brigadegericht in die Rossauer- Justizdienstes, da in diesen Fällen häufig über kaserne. Das Militär-Obergericht befand sich bis 1916 im Korpskommandogebäude (Universitätsstraße 7), 33 Kaiserliche Verordnung vom 4. 11. 1914, RGBl. der Oberste Militärgerichtshof am Minoritenplatz 4 307/1914. bzw. ab 1916 am Deutschmeisterplatz 3. WALDSTÄT- 34 WAGNER, Armee 555. TEN, Staatliche Gerichte 170, 185, 214. Militärgerichtsbarkeit in Österreich (circa 1850–1945) 331 der bei heutiger Einschätzung der Aufgaben nicht. War keine Kundmachung erfolgt, so un- und Funktionen eines Höchstgerichts höchst terlagen dem Standrecht lediglich die Militär- seltsam anmutet. Die Entscheidungen fielen in verbrechen der Meuterei, der Subordinations- Senaten, deren Vorsitz der Präsident innehatte verletzung, der Feigheit und der Störung von und denen neben dem Senatspräsidenten zwei Zucht und Ordnung. Als die einzigen Verbre- Generale oder Oberste sowie zwei Offiziere des chen, die sowohl im MStG als auch im zivilen Justizdienstes angehörten. Alle Beteiligten wa- Strafrecht normiert waren, fielen die Ausspä- ren unabhängig und nur dem Gesetz unterwor- hung und die unbefugte Werbung unter das fen. Wollte ein Senat von der bisherigen Recht- Standrecht ohne Kundmachung, sodass wegen sprechung abweichen, so musste er die Ent- dieser Delikte Zivilisten der Standgerichtsbar- scheidung dem Plenum des Obersten Militärge- keit unterstellt werden konnten. Nach § 435 richtshofs vorlegen.37 Bedeutsam erscheint für MStPO konnte das Standrecht für die militäri- die Schilderung des Verfahrensablaufs noch die schen Delikte Empörung und Desertion sowie Feststellung, dass die Beschlussfassung auf allen für Mord, Raub, Brandlegung, Verleitung oder drei Instanzenebenen mit absoluter Mehrheit Hilfeleistung zur Verletzung eidlicher Militär- der Stimmen erfolgte und dass über die Schuld dienstpflichten, Aufruhr, Plünderung und öf- des Angeklagten und die ihm aufzuerlegende fentliche Gewalttätigkeit immer dann verhängt Strafe stets getrennt abgestimmt wurde – wenn werden, wenn die genannten Straftaten in be- nötig für jede einzelne Tat, die dem Delinquen- drohlicher Weise um sich griffen und es zu einer ten zur Last gelegt wurde. Schädigung der militärischen Disziplin, der Die MStPO regelte auch das zur außerordentli- öffentlichen Sicherheit oder einer Bedrohung chen Militärgerichtsbarkeit zählende Standrecht, der Kriegsmacht des Staates gekommen war, das sowohl für Soldaten als auch für Zivilisten was ein abschreckendes Beispiel notwendig zur Anwendung kommen konnte. Das Stand- machte. Da für die Verhängung des Standrechts recht stellt in jeder Rechtsordnung, die dieses der Gedanke der Generalprävention von aus- Institut überhaupt kennt, die ultima ratio des schlaggebender Bedeutung war, sah es – neben Staates gegen verschiedene Formen von Anar- der Schnelligkeit des Verfahrens – im Falle eines chie und Gewalttätigkeit dar, bei deren Ein- Schuldspruchs ausschließlich die Todesstrafe dämmung bzw. Unterbindung die normalen vor. Aus diesen Erwägungen erklärt sich auch, Instrumentarien der Rechtsdurchsetzung versa- dass – von den erwähnten Ausnahmen abgese- gen bzw. zu versagen drohen. In Österreich- hen – das Standrecht nur auf jene Delikte an- Ungarn stand die gänzliche Aufhebung des wendbar war, die nach seiner Verkündung be- Standrechts keinen Augenblick zur Diskussion; gangen worden waren.38 da es jedoch mit dem erreichten rechtsstaatli- Über Verhängung und Aufhebung des Stand- chen Standard nur schwer in Einklang zu brin- rechts entschied der k.u.k. Kriegsminister, der gen war, wurde die Handhabung dieses Instru- allerdings ermächtigt war, diese Befugnis unter ments lediglich in engen Grenzen für zulässig – im Gesetz nicht näher definierten – besonde- erachtet. ren Verhältnissen auf ihm unterstehende Kom- Die dem Standrecht unterliegenden Delikte un- mandanten zu übertragen. Die Kundmachung terschieden sich danach, ob das Standrecht vor des Standrechts musste sich auf einen örtlich Tatausführung kundgemacht worden war oder und/oder persönlich definierten Geltungsbe-

37 PREUSCHL, Militärstrafgerichtsbarkeit 85. 38 Ebd. 146f. 332 Martin MOLL reich beziehen, womit in erster Linie eine politi- delt werden. Wie sehr der Gedanke der Schnell- sche Verwaltungseinheit (etwa ein Bezirk) bzw. justiz alle anderen Erwägungen überlagerte, ist ein militärischer Verband gemeint waren. Als an der Regelung zu ersehen, dass im Lauf der Publikationsform kamen Plakataushänge sowie Verhandlung etwa auftauchenden Hinweisen die mündliche Verlesung vor der betroffenen auf weitere Mit- oder Beitragstäter bzw. sonstige Einheit in Frage. Die Kundmachung hatte neben Helfershelfer nur dann nachgegangen werden der Art der Hinrichtung die dem Standrecht sollte, wenn sich dadurch die Urteilsfällung unterworfenen Delikte aufzuzählen und eine nicht verzögerte. Damit wurde in Kauf genom- Warnung vor deren Begehung zu beinhalten. men, dass solche Helfer möglicherweise unbe- Standrechtsfälle wurden ausschließlich von den kannt blieben und so der Strafverfolgung Divisionsgerichten verhandelt, was sich zwar entgingen. Waren die Hinweise auf sie hingegen schon aus der Strafdrohung (mehr als sechs konkret genug, war ein weiteres standgerichtli- Monate Freiheitsstrafe) ergab, im Gesetz aber ches Verfahren einzuleiten. Nach diesem sol- gleichwohl ausdrücklich festgeschrieben wurde. cherart beschleunigten Beweisverfahren hatte Nach Erhebung der Anklage durch den Militär- der Anklagevertreter die auf den erhobenen anwalt (nicht mittels Anklageschrift, sondern Fakten basierenden Anklagepunkte nochmals durch Übermittlung des Anklagebefehls an das zusammenzufassen, woraufhin der Beschuldigte zuständige Gericht) galt die Verteidigerpflicht: und sein Verteidiger Gelegenheit bekamen, sich Traf der Angeklagte keine eigene Wahl, so war hierzu zu äußern.40 ihm ein Pflichtverteidiger zu stellen. Maximal 72 Für das zu fällende Urteil standen drei Optionen Stunden nach Vorführung des Beschuldigten zur Verfügung: a) einstimmiger Freispruch, b) musste die Verhandlung stattfinden; für sie gal- einstimmiger Schuldspruch, der – sofern der ten keinerlei Vorgaben hinsichtlich Zeit und Ort, Angeklagte älter als 20 Jahre war – die Todes- es waren bloß unverzüglich alle erforderlichen strafe zur Folge hatte, oder c) die Eröffnung des Schritte zur Beweiserhebung und zur Vorberei- ordentlichen Verfahrens, falls die erwähnte 72- tung der Verhandlung zu setzen – einschließlich Stunden-Frist nicht eingehalten werden konnte jener, die für die Hinrichtung des Angeklagten und/oder hinsichtlich eines Schuld- bzw. Frei- nötig erschienen. In diesem Vorbereitungsstadi- spruchs keine Einstimmigkeit zu erzielen war. um kam eine Verfahrenseinstellung nicht in Das schriftliche Urteil wurde zusammen mit den Betracht.39 Prozessakten dem zuständigen Kommandanten Da es keine schriftliche Anklage gab, trug der zur Bestätigung übermittelt, der im Falle von Militäranwalt die Anklagepunkte bei der Ver- Bedenken ebenfalls das ordentliche Verfahren handlung, welcher der Beschuldigte zwingend einzuleiten hatte. Bestanden keine Bedenken, beizuwohnen hatte, mündlich vor. Betroffen ging das Urteil noch dem Kriegsminister zu, der waren nur dem Standrecht unterliegende Delik- eine eventuelle Begnadigung zu prüfen hatte. te; wurden dem Beschuldigten auch noch sons- Generell gab es im Standrecht keinerlei Rechts- tige Straftaten zur Last gelegt, so blieben sie mittel und Gnadengesuche hatten kurioserweise unberücksichtigt, was im Falle eines Schuld- keine aufschiebende Wirkung, sodass ein To- spruchs ohnedies keine Rolle spielte. Erging desurteil vollstreckt werden konnte, bevor über hingegen ein Freispruch, so konnten besagte ein solches – dann gegenstandsloses – Gesuch Straftaten in einem anderen Verfahren verhan- entschieden war. Unklar ist, warum sämtliche

39 Ebd. 148f. 40 Ebd. 149. Militärgerichtsbarkeit in Österreich (circa 1850–1945) 333 im standgerichtlichen Verfahren ergangenen schen Delikten, unter die häufig neue, aber un- Urteile spätestens 14 Tage nach Vollzug dem definierte Taten wie Russo- oder Serbophilie Generalmilitäranwalt zur nachträglichen Prü- subsummiert wurden.47 Auf dem Feld dieser fung übermittelt werden mussten.41 politischen Delikte wurde die Militärgerichts- Diese – gemessen an den Standards ihrer Zeit – barkeit nicht selten von Akteuren der im Krieg moderne, den Rechtsschutz stark verbessernde keineswegs zum Erliegen gekommenen Ausei- Prozessordnung trat nach knapp zweijährigen nandersetzungen zwischen den Völkerschaften Vorbereitungen am 1. Juli 1914 in Kraft.42 Weni- des Reiches instrumentalisiert, sodass der aus ge Wochen später brach der Erste Weltkrieg aus. der Friedenszeit bekannte Kampf des Staates Schon unmittelbar vor der österreichisch- gegen als politisch unzuverlässig geltende, ins- ungarischen Kriegserklärung an Serbien (28. Juli besondere sozialistische und anarchistische 1914) wurde durch eine kaiserliche Verord- Gruppen durch eine ethnische Komponente bei nung43 vom 25. Juli die Militärgerichtsbarkeit für der Gegnerdefinition ergänzt, ja überlagert bestimmte, mit dem Krieg zusammenhängende wurde.48 Es war mehr die Regel als die Aus- oder als politisch geltende Delikte (Majestätsbe- nahme, dass auch und gerade die Militärgerich- leidigung, Aufreizung u.a.) auf sämtliche Zivil- te zum Adressaten einer Flutwelle von meist personen ausgedehnt, was die Militärgerichte so vollkommen haltlosen Denunziationen wur- kurz nach Einführung des neuen Prozessrechts den.49 vor zusätzliche schwierige Aufgaben stellte, Bei dieser Sachlage konnten unzählige Fehlgrif- denen sie schon personell kaum gerecht werden fe, die sich in einem extrem hohen Anteil an konnten.44 Verfahrenseinstellungen und Freisprüchen nie- 1912, als das Heer knapp 440.000 Mann umfass- derschlugen, nicht ausbleiben. Bei den Opfern te, fällten Militärgerichte knapp 11.000 Urteile und den Ethnien, denen sie angehörten – betrof- (darunter 37 Todesurteile, knapp 5.800 Kerker- fen waren vor allem Ruthenen, Tschechen, Süd- und rund 5.100 Arreststrafen).45 Über Nacht war slawen und Italiener – löste dies verständli- derselbe Justizapparat für eine rund 50 Millio- cherweise Verbitterung aus, sodass sich die Ein- nen Menschen zählende Bevölkerung zuständig führung der Militärgerichtsbarkeit für Zivilisten geworden.46 Es verwundert daher nicht, dass die als ausgesprochen kontraproduktiv und kei- schlagartig gestiegenen Verfahren nur langsam neswegs als das erhoffte „Schwert des Regimes“ abgearbeitet werden konnten, weshalb die Be- erwies.50 Als nach dem Thronwechsel von Franz schuldigten oft lange in Untersuchungshaft sa- Joseph zu Karl I. im November 1916 der Wie- ßen und insgesamt die erhoffte abschreckende derzusammentritt des seit März 1914 vertagten Wirkung ausblieb. Hinzu kam die Unerfahren- Reichsrats für Ende Mai 1917 angesetzt wurde, heit der Militärjustiz mit den gerade in der ers- ergoss sich alsbald eine Flut von parlamentari- ten Kriegsphase massiert auftretenden politi- schen Interpellationen auf die Regierung, wodurch sämtliche Missgriffe der Militärjustiz 41 Ebd. 149f. Zum hier nicht behandelten feld- bzw. seekriegsgerichtlichen Verfahren ebd. 151–159. 47 Vgl. allgemein HAUTMANN, Sozialprofil der Militär- 42 WAGNER, Armee 555–557. richter. 43 RGBl. 156/1914. 48 HAUTMANN, Prozesse 153–179. 44 FODOR, Österreichische Militärgerichtsakten; WAG- 49 Als Fallstudie MOLL, „Ich bekomme 200 Gulden“. NER, Armee 560. 50 MOLL, Österreichische Militärgerichtsbarkeit im 45 Statistische Central-Kommission, Österreichisches Ersten Weltkrieg. Als Fallstudien zu den politischen Statistisches Jahrbuch. Folgen MOLL, Kein Burgfrieden; ÜBEREGGER, Der 46 Vgl. HANISCH, Männlichkeit des Kriegers. andere Krieg. 334 Martin MOLL vor dem Forum einer breiten Öffentlichkeit aus- teilweise modifizierte Übernahme aus dem gebreitet wurden. Die Regierung sah sich unter MStG hinzugefügt (Meuterei, Empörung, Sub- diesem Druck zur Einsetzung einer Untersu- ordinationsverletzung, Desertion, Feigheit, chungskommission genötigt, deren erstaunlich Wachpflichtverletzung u.a.). Der Strafenkanon objektive Ergebnisse den Beschwerdeführern des MStG wurde grundsätzlich übernommen, weitgehend Recht gaben und der Militärjustiz allerdings um die Möglichkeit der Verhängung ein denkbar schlechtes Zeugnis ausstellten. Von von Zwangsarbeit und der Stellung des Verur- Standrechtsfällen abgesehen, wurde sie hinsicht- teilten unter Polizeiaufsicht erweitert. Wie um- lich Zivilpersonen Mitte 1917 aufgehoben. fangreich dies alles ausfiel, erhellt daraus, dass die Ergänzungen des StG mehr als 120 Paragra- phen (§§ 546–668) umfassten.54 Erste Republik (1918–1933) Auch im Verfahrensrecht brachte der Übergang zur Republik Neuerungen mit sich. Die MStPO Der Zusammenbruch der Monarchie im No- von 1912 wurde durch ein Gesetz vom 19. De- vember 1918 zeitigte weitreichende Folgen für zember 1918 über das Militärstrafverfahren ge- die Militärgerichtsbarkeit. Das Gesetz vom 5. ändert.55 Grundsätzlich war die MStPO nur Dezember 1918 über die Änderung des Militär- mehr in der Fassung für die Landwehr anzu- strafgesetzes (Militärstrafgesetznovelle) brachte wenden.56 Die bedeutendste Regelung bestand allerdings vorerst nur unbedeutende Eingriffe in im Ausscheiden der bisher der Militärgerichts- die bestehenden Normen.51 Die Ablegung eines barkeit unterstellten Gendarmen, die jetzt der Eides war von nun an nicht mehr für die Unter- zivilen Strafgerichtsbarkeit unterstanden. Struk- stellung einer Person unter das MStG erforder- tur und Arbeitsweise der Militärgerichte wur- lich. Ausdrücklich wurde normiert, dass für den gestrafft und vereinfacht, indem etwa bei Militärangehörige sämtliche zivilen Strafrechts- den Brigadegerichten ein Offizier des Justiz- normen gültig waren. Eine weitere Novelle vom dienstes als Einzelrichter zur Aburteilung von 14. Januar 1920 brachte vor allem die Abschaf- Delikten zuständig wurde. An der Spitze des fung des sogenannten Ehrennotwehrrechts für beibehaltenen Obersten Militärgerichtshofs Offiziere, das als nicht mehr zeitgemäß emp- musste nun zwingend ein Offizier des Justiz- funden wurde.52 dienstes stehen. Die Funktion des leitenden Se- Einen radikalen Einschnitt bedeutete das Gesetz natspräsidenten wurde abgeschafft, aus den vom 15. Juli 1920, welches die Militärgerichts- bisherigen Senatspräsidenten wurden die neuen barkeit und das MStG gänzlich aufhob: Alle Vizepräsidenten. Auch die leitenden Verfah- Soldaten unterstanden künftig ausschließlich rensgrundsätze wurden tiefgreifend verändert: der zivilen Strafjustiz.53 Folgerichtig wurde das Die Institution des zuständigen Kommandanten zivile StG um einen Anhang mit Sonderbestim- als Gerichtsherr wurde abgeschafft; seine Be- mungen für aktive Heeresangehörige erweitert; fugnisse wurden auf den Militäranwalt, das zudem wurden dem besonderen Teil des StG erkennende Gericht und den Disziplinarvorge- diverse Militärvergehen und -verbrechen durch setzten des Delinquenten aufgeteilt. Gegen

sämtliche Urteile konnten weiterhin alle verfüg- 51 StGBl. 89/1918. baren Rechtsmittel ergriffen werden; die hierfür 52 StGBl. 34/1920; PREUSCHL, Militärstrafgerichtsbar- keit 160f. 53 Gesetz über die Unterstellung der aktiven Heeres- 54 PREUSCHL, Militärstrafgerichtsbarkeit 161f. angehörigen unter die allgemeinen Strafgesetze. 55 StGBl. 137/1918. StGBl. 323/1920. 56 Gesetz vom 5. 5. 1912. RGBl. 131/1912. Militärgerichtsbarkeit in Österreich (circa 1850–1945) 335 geltenden Fristen wurden verlängert. Gleichzei- dungsbereich auf Sprengstoffanschläge – auch tig wurde der Kreis der vor Militärgerichten solche, die keine Personenschäden verursacht zugelassenen zivilen Strafverteidiger erweitert. hatten – ausgeweitet.60 Da militärische Gerichte Hinsichtlich der örtlichen und sachlichen Zu- nach deren Beseitigung 1920 kurzfristig nicht ständigkeit wurde eine klare Regelung getrof- mehr zur Verfügung standen, fand man eine fen, indem alle Einheiten der bewaffneten Macht Behelfslösung: Für die Abwicklung des stand- bzw. des Bundesheeres nach dem Territoriali- rechtlichen Verfahrens wurde ein vom Oberlan- tätsprinzip (Ortssprengel) einem bestimmten desgericht Wien zu stellender, aus vier Richtern Gericht zugeordnet wurden. Sämtliche bisher und einem Staatsanwalt bestehender „Fliegen- dem Monarchen im Militärstrafverfahren zu- der Senat“ gebildet, der in ganz Österreich tätig stehenden Rechte gingen auf den Staatsrat über. werden konnte. Er musste binnen maximal 72 Alle diese Regelungen, die eine weitgehende Stunden nach einer Anklageerhebung zu einem Angleichung der Militärgerichtsbarkeit an die Urteil kommen; im Falle eines Schuldspruchs zivile Strafrechtspflege bedeuteten, standen war dies einzig und allein die Todesstrafe. allerdings nur kurze Zeit in Geltung, da das Rechtsmittel waren nicht vorgesehen. Der Flie- B-VG vom 1. Oktober 1920 in seinem Art. 84 die gende Senat kam insbesondere nach den Febru- Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit fest- arkämpfen von 1934 zum Einsatz und verhängte schrieb; diese Regelung galt allerdings nicht für eine Reihe von Todesurteilen gegen Sozialde- Kriegszeiten.57 Für den Großteil der Ersten Re- mokraten und Schutzbündler, die teilweise voll- publik war somit die Militärgerichtsbarkeit ohne streckt wurden. Unter den neun Hingerichteten Relevanz. befanden sich prominente Schutzbündler wie Koloman Wallisch und Karl Münichreiter, der ungeachtet seiner während der Februarkämpfe Ständestaat (1933–1938) erlittenen schweren Verwundung zum Galgen verfrachtet wurde.61 Die im Ständestaat ab 1933 vollzogene Rückkehr Nach dem nationalsozialistischen Putschversuch Österreichs zur Militärgerichtsbarkeit ein- Ende Juli 1934, dem am 25. Juli Bundeskanzler schließlich des Standrechts erfolgte sowohl un- Dollfuß zum Opfer fiel, traf die Bundesregie- ter dem Eindruck der ab diesem Jahr zuneh- rung unter Dollfußʼ Nachfolger Kurt Schusch- menden Gewaltwelle als auch als Mittel der nigg eine andere Regelung, da anzunehmen Regierung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß war, dass der Fliegende Senat angesichts der zur Aufrichtung einer autoritären Staatsform.58 großen Zahl an Putschisten, darunter zahlreiche Nachdem bereits im Frühjahr 1933 die KPÖ, die Angehörige von Polizei und Bundesheer, über- österreichische NSDAP sowie der mit ihr liierte fordert sein würde und schnelle Urteile auszu- Steirische Heimatschutz verboten worden wa- bleiben drohten. Das Standrecht war schon un- ren, beschloss der Ministerrat am 10. November mittelbar nach Beginn des Putsches verhängt 1933 die Wiedereinführung des Standrechts worden; doch hatte die Regierung nicht die Ab- samt der Todesstrafe für schwere Delikte wie sicht, jene Standgerichte, die ab Februar 1934 die Mord, Brandlegung und öffentliche Gewalttä- Angehörigen des aufgelösten Republikanischen tigkeit.59 Am 12. Juli 1934 wurde dieser Anwen-

60 Bundesgesetz vom 12. 7. 1934 zur Abwehr politi- 57 PREUSCHL, Militärstrafgerichtsbarkeit 163. scher Gewalttaten. BGBl. II 119/1934. 58 Vgl. BOTZ, Gewalt in der Politik. 61 Vgl. POLASCHEK, Februar 1934; SAFRIAN, Standge- 59 NEUGEBAUER, Standgerichtsbarkeit. richte. 336 Martin MOLL

Schutzbundes bzw. der Sozialdemokratischen Schuschnigg, sei die ideologische Affinität zahl- Partei abgeurteilt hatten, auch gegen die Juliput- reicher Richter und Geschworener zur nationa- schisten einzusetzen. Folglich ist es müßig, len Opposition – damit war die NSDAP gemeint wenn von Seiten eines der wenigen Historiker, – hinlänglich bekannt.64 die sich mit der justiziellen Behandlung der Um aber überhaupt militärfremde Personen – Putschisten beschäftigt haben, bemerkt wird, es die eigentlichen Putschisten wie auch die Draht- hätten „jene ordentlichen und standgerichtli- zieher im Hintergrund waren überwiegend Zivi- chen Rechtsmittel, die schon vor dem 25. Juli listen – vor ein Militärgericht stellen zu können, verfügbar waren, zur Aburteilung der am Kanz- bediente sich die Regierung eines Kunstgriffs: leramtsputsch Beteiligten durchaus genügt.“62 Sie stufte die Zeit des Putsches als Kriegszu- Der Lageeinschätzung der Regierung folgend, stand ein und rechtfertigte diese eigenartige wurde schon am zweiten Tag des – mittlerweile Konstruktion mit dem Argument, dass schließ- in Wien bereits niedergeschlagenen – NS- lich das Bundesheer eingesetzt worden sei und Putsches, am 26. Juli 1934, durch ein Bundesver- die Erhebung niedergeschlagen habe.65 Dies war fassungsgesetz ein Militärgerichtshof als Aus- zwar richtig, es traf allerdings auch auf die Feb- nahmegericht eingerichtet; das Gesetz trat am ruarkämpfe zu, die nicht als Kriegszustand gal- selben Tag in Kraft.63 Damit wurden – wie schon ten. im Ersten Weltkrieg – militärfremde Personen Die alleinige Zuständigkeit des Militärgerichts- vor ein Militärgericht gestellt, wenngleich die hofs erstreckte sich auf folgende Delikte, sofern Regierung davon ausging, dass nicht wenige sie im Zusammenhang mit dem Juliputsch be- Angeklagte aus den Reihen von Bundesheer gangen worden waren: Hochverrat, Störung der und Polizei stammen würden; dies bestätigte öffentlichen Ruhe, Aufstand und Aufruhr, öf- der Wiener Polizeipräsident Eugen Seydel bei fentliche Gewalttätigkeit, Mord, Totschlag, der kurzen Beratung des Gesetzes im Minister- Brandlegung, Raub, schwere körperliche Be- rat am Vormittag des 26. Juli. Bundeskanzler schädigung, jegliche Beitragsleistung zu den Schuschnigg verwies darauf, dass ein Militärge- vorgenannten Straftaten, Sprengstoffverbrechen, richt in der Lage sein würde, möglichst schnell Verletzungen militärischer Dienst- oder Stan- möglichst strenge Strafen zu verhängen – so despflichten, Begünstigung eines Deserteurs könne der eigenen Bevölkerung sowie dem Aus- sowie sämtliche Beitragsleistungen zu Militär- land demonstriert werden, dass die Regierung verbrechen.66 Im Vorfeld der Verhandlungen vor wieder Herr der Lage sei. Noch schwerer wog diesem Gericht unterschieden die Ermittlungen für Schuschnigg freilich der Sühnegedanke: Im der Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaf- Umgang mit den Putschisten müsse die absolut ten, die sich auf mehrere tausend Personen er- sichere Gewähr für eine gerechte Sühne gegeben streckten, zwischen schwerer und minder Betei- sein. Diese Gewähr biete nur ein Militärgericht, ligten; zur ersten Gruppe rechneten Anführer, denn ihm als bisherigem Justizminister, so aktive Kämpfer und Kuriere. Ein Teil dieses Personenkreises hatte sich in den Wochen und 62 HOLTMANN, Zwischen „Blutschuld“ und Befriedung Monaten nach dem Putsch vor dem Militärge- 37. Als neuere Studie zum Thema existiert lediglich richtshof zu verantworten – selbst dann, wenn BRUCKMÜLLER, Aufarbeitung des Juliputsches. 63 Bundesverfassungsgesetz über die Einführung eines Militärgerichtshofes als Ausnahmegerichtes zur 64 HALBRAINER, Was sich heute noch ereignet 304f. Aburteilung der mit dem Umsturzversuch vom 25. 65 Ebd. 307 mit Zitaten aus den Ministerratsprotokol- Juli 1934 im Zusammenhang stehenden strafbaren len. Handlungen. BGBl. II 152/1934. 66 PREUSCHL, Militärstrafgerichtsbarkeit 165. Militärgerichtsbarkeit in Österreich (circa 1850–1945) 337 gegen einzelne Beschuldigte bereits ein ordentli- Aufgrund von Urteilen des Militärgerichtshofs ches oder ein standgerichtliches Verfahren ein- wurden 13 NS-Putschisten hingerichtet, darun- geleitet worden war. ter jene, die man als Mörder von Bundeskanzler Der Militärgerichtshof bestand aus einem Präsi- Dollfuß identifiziert hatte. Der Prozess gegen die denten (ein vom Bundesminister für Landesver- beiden Führer des Überfalls auf das Bundes- teidigung ernannter General), Offizieren als kanzleramt, Otto Planetta und Franz Holzweber, Senatsmitgliedern und Berufsrichtern als Ver- begann bereits am 30. Juli in Wien und endete handlungsleitern, wobei ein Senat aus einem am folgenden Tag mit der Verurteilung zum Berufsrichter und drei Offizieren bestand, von Tode wegen Hochverrats (Planetta zusätzlich denen der ranghöchste den Vorsitz führte. Offi- wegen der Ermordung von Dollfuß); die Urteile ziere und Berufsrichter wurden von den Bun- wurden umgehend vollstreckt. Schon dieser desministern für Landesverteidigung bzw. für erste Prozess, dem eine hohe Symbolwirkung Justiz ernannt, womit der Regierung weitrei- zukam, wurde – wie sich allein aus dem Zeitab- chende Möglichkeiten zur Lenkung der Verfah- lauf ergibt – oberflächlich und hastig durchge- ren offenstanden. Die Anklage vertrat ein vom führt, weshalb die bis heute nicht restlos geklär- Justizminister bestellter Staatsanwalt. Da auch ten Fragen rund um die Hintergründe des Put- das allgemeine Justizpersonal dieses Militärge- sches nicht einmal ansatzweise erörtert werden richtshofs vom Justizministerium zur Verfügung konnten. In den folgenden Wochen wurden gestellt wurde, zeigt sich hierin die improvisier- noch fünf weitere Kanzleramtsputschisten (vier te Natur dieser Lösung sowie deren eigentümli- Polizeibeamte und ein Bundesheerangehöriger) che zivil-militärische Mischform. Das Verfahren zum Tode verurteilt; die übrigen Todesurteile lief grosso modo nach dem Vorbild des Stand- betrafen führende Putschisten in den Bundes- rechts ab: Die Verhandlung beschränkte sich auf ländern. Am 22. Oktober 1934 legte der Präsi- die oben aufgezählten, dem Militärgerichtshof dent des Militärgerichtshofs dem Justizministe- zugewiesenen Delikte und wegen der angestreb- rium eine Statistik der bis dahin durchgeführten ten Schnelligkeit der Aburteilung, die general- Verfahren vor; daraus ergibt sich, dass in ganz präventiv wirken sollte, waren Rechtsmittel Österreich 213 Fälle mit 527 Angeklagten vor nicht vorgesehen – vielmehr waren Todesurteile den Senaten des Gerichts, die neben Wien in binnen drei Stunden nach ihrer Verkündung zu Linz, Innsbruck, Klagenfurt, Graz und Leoben vollziehen, sodass Gnadengesuche keine auf- zusammentraten, rechtskräftig abgeurteilt wor- schiebende Wirkung hatten. Der Hauptunter- den waren. Den Schwerpunkten der Kampf- schied zum Standrecht lag darin, dass dieses bei handlungen entsprechend, gab es in Kärnten einem Schuldspruch lediglich die Todesstrafe und der Steiermark die meisten Verfahren. Wei- vorsah, während das dem Militärgerichtshof zur tere Verfahren gegen 672 Personen waren zum Verfügung stehende Strafenspektrum zwar die Berichtszeitpunkt noch anhängig. Von den 24 Todesstrafe für eine Reihe ihm zugewiesener ausgesprochenen Todesurteilen waren 13 voll- Taten (Mord, Aufruhr, Brandstiftung, Spreng- streckt worden.68 Die offizielle Justizstatistik für stoffdelikte), aber keineswegs für alle vorsah, 1934/35 meldete im Zusammenhang mit dem sodass auch andere Strafen verhängt werden 67 konnten. 68 Bericht des Präsidenten des Militärgerichtshofes Wien an das Bundesministerium für Justiz (MJv 298- 17/34), 22. 10. 1934, ÖStA Wien, AVA, Justiz, 67 Ebd. 166. Kart. 3790/1934. 338 Martin MOLL

Juliputsch 861 rechtskräftig verurteilte Personen; Der Wehrmachtjustiz ging es eigenem Bekunden 40 Prozent von ihnen waren Steirer.69 nach nicht um eine abstrakte und objektive Der Tendenzcharakter der Prozesse vor dem Rechtsfindung, sondern um die „Aufrechterhal- Militärgerichtshof ist nicht zu übersehen. In den tung der Manneszucht“, wobei man bemüht Verhandlungen kam immer wieder die Vorein- war, Lehren aus der angeblich zu laxen Hand- genommenheit der Richter zum Ausdruck. Re- habung der Militärjustiz im Ersten Weltkrieg zu gelmäßig wurden nur anklagekonforme Zeugen ziehen. 1991 urteilte das deutsche Bundessozial- geladen. Die Verteidiger, die selten genügend gericht, dass die NS-Militärjustiz von einer Zeit für ihre Vorbereitungen gehabt hatten, rechtsstaatswidrigen Entartung der Todesurteil- wurden weitestgehend behindert; der Entlas- spraxis geprägt gewesen sei.70 tung der Angeklagten dienende Beweisanträge Das NS-Regime, das mit Wirkung vom 1. Januar fanden kaum Gehör. Für den Tathergang wich- 1934 die im Reich 1920 abgeschaffte Militärjustiz tige Fragen wurden nur selten geklärt; vorran- wieder eingeführt hatte, setzte ziemlich bald gig ging es darum, so schnell wie möglich ein nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deut- Urteil zu fällen. Gemessen an den begangenen sche Reich vom März 1938 das – zu dieser Zeit Straftaten waren die verkündeten Urteile fall- bereits stark von der NS-Ideologie geprägte – weise von drakonischer Härte, weil die Prozesse Wehrmachtstrafrecht in der nunmehrigen als abschreckendes Exempel wirken sollten. Die „Ostmark“ in Kraft. Eine erste Einführungsver- im Eilzugstempo abgewickelten Verfahren hal- ordnung erging bereits Mitte Mai 1938, eine fen jedenfalls sicherzustellen, dass die auf Seite weitere im Juni 1939.71 Anders als auf sonstigen der Regierung und der Exekutive während des Rechtsgebieten wurde hier der österreichische Putsches zu Tage getretenen Mängel, Pannen Normenbestand komplett durch den deutschen und Ungereimtheiten unter den Teppich gekehrt ersetzt. Durch diese Transformation erlebte die werden konnten und auf diese Weise der Öf- in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg abge- fentlichkeit verborgen blieben. schaffte Institution des Gerichtsherrn, der Urtei- le von Militärgerichten bestätigen musste, sie aber auch aufheben bzw. abändern konnte, eine NS-Zeit (1938–1945) Renaissance.72 In materieller Hinsicht beruhte die Wehrmachtgerichtsbarkeit auf dem aus dem Nach dem Zweiten Weltkrieg schwankten die Jahr 1872 stammenden Militärstrafgesetzbuch Einschätzungen der NS-Militärjustiz zwischen für das Deutsche Reich in der für den größten den extremen Polen „ausgesprochen milde“ und Teil des Zweiten Weltkriegs gültigen Fassung „extrem grausam“, heute hat sich die letztere vom 10. Oktober 1940.73 Hinzu kamen die Variante durchgesetzt. Es besteht Einigkeit, dass Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) so- diese zunehmend instrumentalisierte Justiz fol- gende Tendenzen aufwies: Abbau formaljuristi- 70 Abrufbar bei scher Abläufe, Beschleunigung der Verfahren, [https://www.jurion.de/Urteile/BSG/1991-09-11/9a- Wegfall der meisten Rechte des Beschuldigten, RV-11_90] (28. 3. 2016). des Instanzenweges sowie der Beiziehung eines 71 Verordnung über die Einführung des Wehrmacht- Verteidigers (nur wenn die Todesstrafe drohte). strafrechts im Lande Österreich vom 12. 5. 1938. dRGBl. I 135/1938. Zweite Verordnung über die Ein- führung des Wehrmachtstrafrechts in der Ostmark 69 Bundesamt für Statistik, Statistisches Handbuch vom 28. 6. 1939. RGBl. I 127/1939. (1936) 157; Bundesamt für Statistik, Statistisches 72 PREUSCHL, Militärstrafgerichtsbarkeit 166. Handbuch (1937) 173. 73 dRGBl. I 181/1940. Militärgerichtsbarkeit in Österreich (circa 1850–1945) 339 wie im Prozessrecht die Kriegsstrafverfahrens- Altreich bekannte Struktur der Wehrmachtjustiz ordnung, die beide schon im August 1938 (ge- etabliert.75 Ab 1934 bestanden im Reich Kriegs- heim) erlassen worden waren, aber erst Ende gerichte als erste und Oberkriegsgerichte als August 1939, unmittelbar vor Kriegsbeginn, Berufungsinstanz, gegen deren Urteile eine Re- durch Publikation in Kraft traten.74 Damit stan- vision vor einem speziellen Senat des zivilen den der Militärjustiz praktisch unbegrenzte Reichsgerichts in Leipzig vorgesehen war.76 Möglichkeiten zur Verfügung, gegen innere und Oberste Instanz zur Ahndung aller Fälle von äußere Gegner des NS-Regimes vorzugehen. Die Hoch- und/oder Landesverrat wurde ab strafrechtlichen Normen wurden bis Kriegsende 1. Dezember 1934 der neu errichtete Volksge- ständig verschärft; so stieg etwa die Zahl der mit richtshof.77 Mitte 1936 wurde als oberstes Ge- der Todesstrafe bedrohten Delikte von drei im richt der Wehrmacht das Jahre 1933 auf 44 elf Jahre später, darunter das geschaffen. Dieses war bis Kriegsbeginn ein durch § 5 KSSVO eingeführte Auffangdelikt der reines Revisionsgericht, danach war es aus- „Zersetzung der Wehrkraft“. schließlich für Staatsschutzdelikte zuständig.78 Mit Kriegsbeginn erfolgte auf der Grundlage der Bei gleichen Rechtsgrundlagen unterhielten Mobilmachungsvorbereitungen der Wehrmacht- Heer, Luftwaffe und Kriegsmarine eigene Jus- justiz ein vielgliedriger Ausbau von deren Ge- tizorganisationen, denen – abgesehen vom samtorganisation, die an die Anforderungen des Reichskriegsgericht – die Rechtsabteilung im Feldheeres angepasst wurde. Während des Oberkommando der Wehrmacht gemeinsam Krieges wurde das Militärrecht ständig ausge- war. Bei Kriegsbeginn bestanden auf ehemals weitet bzw. verschärft, parallel dazu wurde österreichischem Gebiet Gerichte der dort stati- jedoch der Kreis der der Wehrmachtjustiz un- onierten Ersatztruppen: Im Wehrkreis XVII terworfenen Personen nicht unerheblich einge- (Ostösterreich) in Wien mit Außenstellen in Linz schränkt. Im Krieg gegen die Sowjetunion soll- und im böhmischen Karlsbad (Reichsgau Sude- ten Straftaten von Landeseinwohnern gegen die tenland) sowie im Wehrkreis XVIII in Salzburg Wehrmacht nicht mehr vor deren Gerichten mit Außenstellen in Graz und Innsbruck.79 verhandelt, sondern die Täter bzw. die Verdäch- Mit Kriegsbeginn wurden Kriegsgerichte bei tigen durch die Truppe eliminiert werden, was den größeren Verbänden der Wehrmacht, meist in der Praxis zu wahllosen „Sühnemaßnahmen“ von der Division aufwärts, etabliert; die Divisi- gegen meist Unschuldige führte. Gleichzeitig onskommandeure bzw. die ihnen gleichstehen- wurde im Vorfeld des Russlandfeldzugs der den Befehlshaber fungierten als Gerichtsherren Verfolgungszwang für Straftaten von Wehr- mit sehr weitgehenden Befugnissen hinsichtlich machtsangehörigen aufgehoben, sodass die Ein- Einleitung und Niederschlagung der Verfahren leitung eines Strafverfahrens oder dessen Unter- sowie der Bestätigung, Abänderung oder Auf- bleiben vollständig im Ermessen der Gerichts- hebung der Urteile.80 Beim Heer und bei der herren lag. Luftwaffe wurden sie als Feldgerichte bezeich- Mit der Eingliederung des österreichischen Bundesheeres in die Wehrmacht bzw. aufgrund 75 Vgl. jetzt THEIS, Wehrmachtjustiz; KALMBACH, der Dislozierung von Wehrmachtseinheiten, - Wehrmachtjustiz; TUIDER, Wehrkreise XVII und XVIII. schulen, -truppenübungsplätzen usw. auf dem 76 dRGBl. I 127/1933. Gebiet der „Ostmark“ wurde hier die aus dem 77 dRGBl. I 129/1934. 78 dRGBl. I 61/1936. 79 MESSERSCHMIDT, Wehrmachtjustiz 69. 74 dRGBl. I 147/1939. 80 DERS., Gerichtsherr. 340 Martin MOLL net; eine parallele Struktur bestand bei den Er- nen.84 Dabei wurden gegen Wehrmachtsangehö- satztruppenteilen im Heimatgebiet sowie bei rige mindestens 30.000, unter Einrechnung der den in den okkupierten Gebieten stationierten verurteilten Zivilisten und Kriegsgefangenen Besatzungstruppen. Die Wehrmachtgerichtsbar- insgesamt etwa 50.000 Todesurteile gefällt, von keit erstreckte sich auf Angehörige der Wehr- denen wenigstens die Hälfte vollstreckt wurde.85 macht (Soldaten), Wehrmachtbeamte, Kriegsge- Ab April 1938 wurde die „Ostmark“ in die fangene sowie das Wehrmachtgefolge (insbe- Wehrkreise XVII und XVIII eingeteilt; dem sondere die Organisation Todt und die Wehr- Wehrkreisbefehlshaber unterstanden sämtliche machthelferinnen). Personell verfügte dieser Dienststellen und Einheiten seines Sprengels, Apparat mit seinen mindestens 1.300 Gerichten deren Gerichtsherr er zugleich war. In seinem aller drei Wehrmachtteile während des Welt- Stab existierte hierzu die für Rechtsfragen zu- krieges über rund 3.000 Juristen (Ankläger, ständige Abteilung III. Die Wehrmachtkom- Richter oder Gutachter). Sie waren als Justizbe- mandantur Wien unterhielt ein eigenes Gericht amte eingestuft und wurden im Mai 1944 einem mit mehreren Unterabteilungen. Die Luftwaffe „Truppensonderdienst“ unterstellt.81 schuf den – mit dem Wehrkreis XVII nicht de- Der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, dem ckungsgleichen, um Kärnten und die Steiermark unmittelbar nach dem gescheiterten Umsturz- erweiterten – Luftgau XVII, dessen Befehlshaber versuch vom 20. Juli 1944 der Oberbefehl über Gerichtsherr für alle Luftwaffenangehörigen das Ersatzheer übertragen worden war, ordnete dieses Gebiets war.86 Am 11. April 1944 wurde am 26. Februar 1945 die Errichtung von Sonder- ein Zentralgericht des Heeres eingerichtet und standgerichten in frontnahen Gebieten an, deren dem Wehrmachtskommandanten von als Aufgabe in der rücksichtslosen Unterdrückung Gerichtsherr unterstellt; es etablierte umgehend der zu dieser Zeit allerorten bemerkbaren Auf- eine Außenstelle in Wien.87 Dieser Außenstelle lösungserscheinungen bestand. Diese aus einem unterstanden beim Ersatzheer eingeteilte Kriegsrichter und zwei Offizieren als Beisitzer Wehrmachtsangehörige (beispielsweise in Laza- bestehenden Gerichte konnten nur auf Frei- retten, Arbeits- oder Ausbildungseinheiten). spruch oder Todesstrafe erkennen.82 Schließlich Außerdem amtierte in Wien das Feldkriegsge- wurde mit Führererlass vom 9. März 1945 zu- richt der Division 177.88 Insgesamt bestanden in sätzlich ein Fliegendes Standgericht geschaffen, Wien rund 20 Orte der NS-Militärjustiz ein- das von einem Exekutionskommando begleitet schließlich Haftanstalten und Hinrichtungsstät- wurde und die schon zuvor weit fortgeschritte- ten.89 ne Auflösung jeglicher rechtsstaatlicher Stan- dards zum Abschluss brachte.83 Die Zahl der Verfahren vor Kriegsgerichten der Wehrmacht 84 HORNUNG, Denunziation 41. 85 HENNICKE, WÜLLNER, Barbarische Vollstreckungs- betrug laut der bis zum vierten Quartal des Jah- methoden 74. res 1944 geführten Kriminalstatistik rund 86 LICHTENWAGNER, Fehlende Jahre 17–19. 625.000. Der Gesamtanfall bis Kriegsende stieg 87 Allgemein zur Wehrmachtjustiz in Österreich MA- schätzungsweise auf mindestens 700.000, ande- NOSCHEK, Opfer der NS-Militärjustiz. 88 ren Schätzungen zufolge auf bis zu drei Millio- Die Überlieferung dieser Gerichte findet sich im ÖStA, AdR, Zentralgericht des Heeres 1939–1945, Außenstelle Wien bzw. Gericht der Division 177, 81 HORNUNG, Denunziation als soziale Praxis 44–51. 1939–1945. 82 PÄUSER, Rehabilitierung von Deserteuren 46. 89 Diese Orte behandeln BOLYOS, LICHTENWAGNER, 83 MOLL, Führer-Erlasse 483, Nr. 390. Vgl. auch FRIT- Orte der NS-Militärjustiz; HORNUNG, Denunziation; SCHE, Entziehungen 269. LICHTENWAGNER, Jahre; MESSERSCHMIDT, Zersetzer. Militärgerichtsbarkeit in Österreich (circa 1850–1945) 341

Ein 2003 abgeschlossenes Forschungsprojekt leme des zunehmend als eigene rechtswissen- erstellte eine Datenbank, die 3.001 Verfahren der schaftliche Fachdisziplin verstandenen Militär- Militärjustiz gegen 2.534 Österreicher beiderlei rechts lebhaft diskutiert wurden – von militäri- Geschlechts zwischen 1938 und 1945 erfasste.90 schen Praktikern ebenso wie von Vertretern der Schätzungen zufolge verhängten Wehrmachtge- akademischen Lehre. richte auf österreichischem Boden zwischen Das Militärstrafgesetz verfolgte vor allem fol- 1.000 und 2.000 Todesurteile; die häufigsten gende Ziele: Es sollte die bis zu seiner Erlassung Delikte waren Fahnenflucht und „Wehrkraftzer- zersplitterten Normen in einem Gesetz zusam- setzung“.91 Auf dem Papier wurden diese NS- menfassen, auch Delikte von Soldaten an Zivilis- typischen Urteile bereits durch das Aufhebungs- ten ahnden und so die Zivilbevölkerung schüt- und Einstellungsgesetz vom Sommer 1945 besei- zen und drittens dem Erhalt der inneren Diszip- tigt.92 Die Debatte über die vollständige Rehabi- lin der Truppe dienen. Geprägt war das Gesetz litierung sämtlicher Opfer der NS-Militärjustiz von der zeittypischen Auffassung, dass Soldaten setzte sich freilich ungeachtet eines Anerken- in vielerlei Hinsicht, nicht zuletzt im Falle des nungsgesetzes von 2005 bis in die jüngste Ver- Begehens von Straftaten, anders als Zivilisten zu gangenheit fort.93 behandeln seien, da bei ihnen der Gesichtspunkt der Ehre, des Kaisers Rock tragen zu dürfen, berücksichtigt werden müsse. Folgerichtig regel- Zusammenfassung te das MStG sämtliche Delikte, die Soldaten begehen konnten – auch jene, die in keinem Während der letzten 70 Jahre der Habsburger- Zusammenhang mit ihrer militärischen Dienst- monarchie standen Fragen der Militärgerichts- leistung standen. barkeit ständig zur Diskussion; die einschlägi- Von diesen Grundsätzen wurde nach dem Ers- gen rechtlichen Bestimmungen wurden zwar ten Weltkrieg Abstand genommen. Zu Beginn nicht allzu oft reformiert, dies lag aber an jenen der Ersten Republik wurde die Militärgerichts- Blockaden, die sich aus der komplizierten dua- barkeit vor allem auf Betreiben der bis 1920 mit- listischen Struktur dieses Staates ergaben und regierenden Sozialdemokraten abgeschafft bzw. weniger am durchaus erkannten Reformbedarf. auf den Kriegsfall beschränkt. Mit dem Über- So entstammte bis 1918 das materielle Militär- gang zum autoritären Regime des Ständestaates strafrecht weiterhin dem 19. Jahrhundert und wurden 1933/34 jedoch sowohl das Standrecht enthielt veraltete Bestimmungen, das Prozess- inklusive der Todesstrafe als auch ein besonde- recht wurde 1912 jedoch in einer bahnbrechen- rer Militärgerichtshof wieder eingeführt und den Weise modernisiert. Bezeichnend für den nach dem Februaraufstand bzw. dem NS- hochentwickelten, modernen Tendenzen gegen- Juliputsch 1934 gegen oppositionelle Sozialde- über aufgeschlossenen Zustand des österrei- mokraten und Nationalsozialisten angewandt. chisch-ungarischen Militär(straf)rechts ist nicht Das NS-Regime übertrug nach dem „Anschluss“ zuletzt der Umstand, dass 1910 eine einschlägi- 1938 sofort das deutsche Wehrmachtstrafrecht ge Fachzeitschrift ins Leben gerufen wurde, in auf Österreich und praktizierte es im Zweiten der die Weiterentwicklung sowie aktuelle Prob- Weltkrieg als regimestabilisierendes Terror- instrument. 90 LICHTENWAGNER, Jahre 9, Fußnote 15. 91 HORNUNG, Denunziation 57. 92 StGBl. 48/1945. 93 HORNUNG, Denunziation 40f. 342 Martin MOLL

Korrespondenz: Abkürzungen:

Univ.-Doz. Dr. Martin MOLL MStG Militärstrafgesetz Universität Graz, MStPO Militärstrafprozessordnung Institut für Geschichte Siehe auch das allgemeine Abkürzungsverzeichnis: Attemsgasse 8/Parterre (Neuzeit) [http://www.rechtsgeschichte.at/files/abk.pdf] 8010 Graz [email protected]

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