FDP – 04. WP Gemeinsame Sitzung des Bundesvorstandes und der Fraktion: 26. 09. 1963

26. September 1963: Gemeinsame Sitzung des Bundesvorstandes und der Fraktion

ADL, Bestand Wolfgang Mischnick, A40-754. Überschrift: »Kurzprotokoll der gemein- samen Sitzung von Bundestagsfraktion und Bundesvorstand am 26. September 1963«. Zeit: 10.10–18.15 Uhr. Vorsitz: Mende, später: Leverenz. Entschuldigte Fraktionsmit- glieder: 8.

Sitzungsverlauf: A. Geschäftliche Mitteilungen. B. Bericht des Partei- und Fraktionsvorsitzenden Mende über die allgemeine politische Lage. C. Bericht des Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages Dehler über seine Moskau- Reise. D. Bericht des hessischen Landesvorsitzenden Kohl über seine USA-Reise. E. Allgemeine Aussprache. F. Bericht über den Stand der Regierungsverhandlungen mit anschließender Aussprache. G. Bericht über die Verhandlungen über das Sozialpaket mit anschließender Aussprache. H. Bericht über die Mitteilung eines Verfassungsschutzbeamten über die Überwachung eines Mitarbeiters des nordrhein-westfälischen Landesverbandes der FDP mit anschlie- ßender Aussprache.

[A.] 1. Geburtstagsglückwünsche Schmidt 6.9.1922 (41 Jahre) Opitz 11.9.1920 (43 Jahre) Dr. Krümmer 17.9.1896 (67 Jahre) Dr. Atzenroth 22.9.1895 (68 Jahre) von Mühlen 26.9.1909 (54 Jahre) Dr. Ilk 9.9.1902 2. Entschuldigt Dr. Dörinkel berufliche Verpflichtungen Dr. Hellige Auslandsaufenthalt Mauk Ausschußsitzung des Europäischen Parla- ments in Rom Rademacher als Präsident Teilnahme am Deutschen Bau- erntag im Hamburg Sander Teilnahme am Deutschen Bauerntag in Hamburg Wächter private Verpflichtungen Walter Teilnahme am Deutschen Bauerntag in Hamburg Spitzmüller Auslandsaufenthalt

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3. Dr. Mende gibt bekannt, daß morgen erstmalig die Verhandlungskommission mit Prof. Erhard1 zur Behandlung von Sachfragen zusammentritt. Die FDP- Verhandlungskommission trifft sich anschließend an die Fraktionssitzung noch einmal in der Parlamentarischen Gesellschaft. 4. Die Sitzung wird für vertraulich erklärt. 5. Senatsdirektor Dr. Hartkopf2 wird als Gast begrüßt. [B.] TOP 1: Bericht über die allgemeine politische Lage Dr. Mende: Es fanden zwei Gespräche statt, und zwar einmal zwischen Dr. Dehler, Dr. Mende und Prof. Erhard über die Moskaureise Dr. Dehlers, und ein Gespräch, an dem neben Dr. Mende Dr. Achenbach als Vorsitzender des Arbeitskreises I teilnahm, mit Außenminister Dr. Schröder3 vor dessen USA-Reise. Im nächsten Jahr finden Präsidentenwahlen in den USA statt. Da Kennedy4 bisher keine großen innenpolitischen Erfolge verzeichnen kann, sucht er Erfolge in der Au-

ßenpolitik, d. h. er neigt zu einem Entgegenkommen in der Entspannung Ost-West. Die gleiche Tendenz ist in England zu verzeichnen. Anders steht de Gaulle5 dazu, der an der harten Linie festhält. Adenauer und de Gaulle sind der Meinung, daß man zunächst den Konflikt UdSSR – China weiter schwelen lassen sollte, damit Chruschtschow6 zu größerem Entgegenkommen bereit ist. Monnet7, mit dem Dr. Mende eine Aussprache hatte, teilt die amerikanische Auffassung, abwarten und nichts tun sei falsch. Das Atomstoppabkommen wurde von der FDP schon in der letzten Sitzung gebilligt. Das entscheidende Gremium in den USA hat sich ebenfalls mit 4/5-Mehrheit dafür ausgesprochen. Da auch SPD und CDU für das Atomstoppabkommen stimmen wer- den, ist mit einer großen Mehrheit im für das Ratifizierungsgesetz zu rech- nen. Die Verabschiedung soll bis Weihnachten erfolgen. Dr. Schröder will gegenüber Kennedy eine bewegliche Haltung zeigen. Zu dem Gespräch, das Dr. Adenauer mit CDU-Politikern in Cadenabbia führte, ist die FDP nicht eingeladen worden, da hier im Gegensatz zu den Presseberichten nur CDU-interne Differenzen ausgetragen werden sollten. Das am 9. August 1963 übergebene Memorandum wird nach wie vor im Botschafter- lenkungsausschuß beraten. Die Frage der Kontrollstationen spielt zur Zeit eine große Rolle. Diese sollen sich aber nicht nur auf den deutschen Raum beziehen. Ihr Bereich soll über Europa hinausgehen. Die Rede Kennedys vor der UNO am 20.9.1963 ließ ebenfalls eine Entspannungstendenz erkennen. Die Mondplanung ist nur eine Fortset- zung der gemeinsamen Planung, also keine Überraschung, wie es zum Teil in der Presse dargestellt wurde. Das Nichtangriffsabkommen wurde von Kennedy in seiner UNO- Rede nicht erwähnt. Die Berlin-Garantie wurde jedoch erneuert. Das Nichtangriffsab- kommen ist deshalb in den Hintergrund getreten, da völkerrechtliche Schwierigkeiten aufgetreten sind.

1 , MdB (CDU), Bundesminister für Wirtschaft, Vizekanzler. 2 Günter Hartkopf, Senatsdirektor für Bundesangelegenheiten des Landes Berlin in Bonn. 3 Gerhard Schröder, MdB (CDU), Bundesminister des Auswärtigen. 4 John Fitzgerald Kennedy, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. 5 Charles de Gaulle, Präsident der Französischen Republik. 6 Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, Erster Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU sowie Vorsit- zender des Ministerrates der UdSSR. 7 Jean Monnet, Vorsitzender des Aktionskomitees für die Vereinigten Staaten von Europa, 1952–1955 Präsident der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl.

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Von den 120 UNO-Staaten haben nur 11 die DDR anerkannt. Eine Aufwertung der DDR durch das Atomstoppabkommen ist nicht erfolgt. Dr. Schröder will seine Ge- sprächspartner von der FDP, die er vor seiner Abreise nach den USA konsultiert hat, auch nach seiner Rückkehr wieder konsultieren. Dr. Mende dankt Dr. Dehler für die staatsmännische Klugheit, die er auf seiner Reise durch die UdSSR bewiesen hat. Dr. Dehler hat damit auch der Partei einen Dienst erwiesen. [C.] Dr. Dehler: Man sollte die Bedeutung seiner Reise nicht überschätzen. Die Einladung dafür lag schon seit 1955 vor. Das Bundestagspräsidium vertrat die Auffassung, daß es gut sei, jetzt eine solche Reise zu veranstalten. Auch die Engländer haben zugeredet. Die Reise war verbunden mit einer Einladung zum Präsidium der Unionskammer des Obersten Sowjets. Dr. Dehler konnte sich jedes Reiseziel wählen, das er wollte, und alles besichtigen, was er wollte, von einer Seidenspinnerei bis zur Sowchose. Er hat mit Professoren, Gelehrten, Technikern und nicht nur mit Parteibonzen gesprochen. Auch in den technischen Betrieben stellte er ein hohes Niveau fest, das von dem Niveau in unseren Betrieben nicht wesentlich abweicht. Von dem Polizeistaat hat er nichts ge- spürt. Auch die Haltung der Bevölkerung ist gelockert. Man kann nicht von einer revo- lutionären Stimmung sprechen. Insgesamt muß auch von einer ertragsreichen Wirt- schaft gesprochen werden, denn die wirtschaftliche Entwicklung ist gut. Er hat viele technische Schulen gesehen – es gibt nur 2 % Analphabeten. Es wäre eine Verkennung der Dinge, wenn man auf einen wirtschaftlichen Zusammenbruch spekulieren würde, selbst wenn durch die Planwirtschaft Rückschläge eintreten sollten. Trinkgelder werden wieder genommen, weil der Verbraucher wieder die Möglichkeit der Konsumwahl hat. Im ganzen muß das System Chruschtschow für sehr saturiert gehalten werden. Es be- steht ein großer Unterschied zur Stalin8-Periode. Der China-Konflikt wurde nicht als dringende Sorge empfunden. Dr. Dehler hat es aber vermieden, viel darüber zu spre- chen. Dr. Adenauer glaubt noch immer an eine politische Lösung als Folge einer starken Rüstung des Westens, wie er zu Dr. Dehler sagte. In der Sowjetunion klingt bei jedem Gespräch und bei jedem Tischspruch der Friedenswille an. Immer wieder ist die Sorge der Russen zu spüren, daß die friedliche Entwicklung durch Krieg gestört wird. Daraus ergibt sich, daß die Kriegsfurcht des Westens eine falsche These ist, jedenfalls soweit es die Haltung der russischen Bevölkerung betrifft. Natürlich wird nach wie vor eine Aus- dehnung der Ideologie angestrebt. Dr. Dehlers Reise war von ihm als eine politische Demonstration gewollt, gegen eine Politik, die auf das Wirken in den Osten verzichtet. So wurde es auch von den Sowjets aufgefaßt und diese Reaktion war auch in Deutsch- land zu spüren, wie er aus zahlreichen Leserbriefen erfahren hat. Eine harte Auseinan- dersetzung gab es von Anfang an über die Frage des Friedensvertrages. Dr. Dehler war kurz vor seiner Reise noch in Berlin gewesen, so daß er noch unter dem Eindruck der Mauer stand. Das Gespräch mit Gromyko9 war sehr hart, wenn auch konziliant in der Form. In der deutschen Frage, sagte Gromyko, sind wir hart wie Granit. Gromyko will zwei Frie- densverträge, da die Teilung Deutschlands eine Folge des Krieges ist. Hier gibt es für ihn keine Konzession. Dr. Dehler hat dagegen den Standpunkt vertreten, daß dieser Zustand gefahrvoll ist. Nur eine gesamtdeutsche Regierung kann einen Friedensvertrag unterzeichnen. Gromyko sagte, daß derjenige, der die Realitäten nicht anerkennt, nur

8 Josef Wissarionowitsch Stalin († 1953), 1922–1953 Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, 1941–1953 Vorsitzender des Rates der Volkskommissare bzw. des Ministerrates der UdSSR. 9 Andrei Andrejewitsch Gromyko, sowjetischer Außenminister.

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Krieg will. Es kam eine starke Animosität gegen Dr. Adenauer heraus. In Wirklichkeit, so meinte Gromyko, wollen Adenauer und die Westmächte den Status quo. Diesen Vorwurf hat Dr. Dehler abgewehrt. Er hat auf Österreich und die Haltung der Sowjets auf der 1958er-Konferenz verwiesen. Der Fall Österreich liegt aber laut Gromyko ganz anders. Auf die bei der 1958er-Konferenz von den Sowjets gezeigte Haltung zu einem gesamtdeutschen Friedensvertrag ist Gromyko nicht eingegangen. Das Gespräch dauer- te 70 Minuten. Aus der Sicht Dr. Dehlers gibt es keinen anderen Weg, als Gespräche dieser Art fortzu- setzen, um in der deutschen Frage weiterzukommen. Über eine Fülle von Problemen gäbe es aus Indien zu berichten. Nehru10 ist die zentra- le Figur auch gegenüber der Opposition im Parlament. Zu einer wirklichen Entspan- nung kann es nicht kommen, wenn die Krankheitsherde nicht beseitigt werden. Nehru war der Meinung, daß wir die Entspannung unserer nationalen Anliegen wegen verhin- dern wollen. Insgesamt kann festgestellt werden, daß Indien, wenn es auch unsere Wün- sche erfüllt (keine Anerkennung der DDR), unserem Anliegen doch sehr fern steht. [D.] Kohl11: Er war sieben Wochen auf Einladung des State Department in den USA und konnte seine Reise in Washington selbst zusammenstellen. Er hat die Luftfahrt- und Elektronenindustrie besichtigt und viele Gespräche geführt. Man bringt Deutschland großes Vertrauen entgegen. Kohl ist durch die gesamten Staaten gereist. Er stellte eine gute Ausbildung der Flugzeugführer in den USA fest. Hier wie überall fand er großes Entgegenkommen von seiten der Amerikaner. Verständnis hat er auch in der Hähn- chenfrage gefunden. Gefragt wurde, was die Deutschen gegen die Mauer tun. Man hat ihm Gelegenheit gegeben, selbst ein Flugzeug zu führen (Hercules), das bisher noch nie von einem Deutschen geführt wurde, und [er] konnte sich von den ausgezeichneten Flugeigenschaften dieser Maschine überzeugen. Von der deutschen Botschaft ist er gut betreut worden. Die deutschen Soldaten sind drüben besser angekommen, als mancher Diplomat. Die Amerikaner halten sehr viel von unserer Tüchtigkeit. Die Franzosen und de Gaulle dagegen mögen sie gar nicht. Auch für die deutsche politische Lage hat man viel Verständnis. Schließlich hat Kohl mit Bob Kennedy12 gesprochen. Mit dem Neger- problem fällt es den Amerikanern schwer, fertig zu werden. Wenn Kennedy die Wahl verliert, liegt es am Negerproblem. [E.] Dr. Mende: Es sollte in Zukunft mehr darauf geachtet werden, daß der Kauf von Flug- zeugen nach militärpolitischen Gesichtspunkten erfolgt (Hercules). Hoppe13: Das Zustimmungsgesetz zum Atomstoppabkommen wurde am 11.9. im Kabinett nicht abschließend behandelt, da darin keine Berlinklausel enthalten ist. Der Westen leistet gegen die Berlinklausel Widerstand. Dem sollten wir entgegentreten, zumal in Berlin die Vorbehaltsrechte der Alliierten nicht berührt werden. Sonst könnte damit eine gefährliche Entwicklung eingeleitet werden, da es präjudizierend für weitere Entspannungsschritte wäre, wenn beim ersten Entspannungsschritt in dem Zustim- mungsgesetz keine Berlinklausel enthalten ist. Das Ergebnis dieser Entwicklung könnte

10 Jawaharlal Nehru, Premierminister der Republik Indien. 11 Heinrich Kohl, MdL Hessen (FDP), Landesvorsitzender der FDP in Hessen, Mitglied des Bundes- vorstandes der FDP. 12 Robert Francis Kennedy, US-amerikanischer Justizminister. 13 Hans-Günter Hoppe, Senator für Finanzen von West-Berlin, stellvertretender Landesvorsitzender der FDP in Berlin, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP.

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die Isolierung Berlins sein. Partei und Fraktion müssen daher alles tun, die Berlinklausel in das Zustimmungsgesetz zum Atomstoppabkommen hinzuzubekommen. Darin sieht Hoppe einen Teil der deutschen Frage. Gelingt das nicht, so müßte man sich schwer überlegen, ob man unter diesen Umständen ratifizieren kann. Scheel: Hoppe hat recht und Scheel glaubt, daß man von gewisser Seite mit Absicht auf die Berlinklausel verzichtet hat, um die Dreiteilung zu dokumentieren. Im Kabinett wurde diese Frage besprochen. Die rechtliche Frage wird geprüft und das Kabinett ist auch weitgehend der Meinung, daß die Berlinklausel in das Ratifizierungsgesetz hinein muß. Dr. Hartkopf: In dem Abkommen mit Polen ist nur eine sehr weiche Berlinklausel enthalten. Auch bei dem Abkommen mit Ungarn besteht die Gefahr einer Aufwei- chung der Berlinklausel. Zu erreichen war lediglich die Hilfsklausel »Gebiet der DM West«. Diese Gefahr besteht nun auch bei dem Atomstoppabkommen. Die FDP sollte heute erklären, daß sie die Berlinklausel für selbstverständlich hält. Dr. Mende: Erst sollte man mit Dr. Schröder Verbindung aufnehmen, da wir uns ver- pflichtet haben, keine selbständigen Schritte in dieser Sache zu unternehmen. In der Sache haben Hoppe und Dr. Hartkopf recht. Es ist aber ebenso ein Problem von SPD und CDU, eine Lösung zu finden. Zoglmann: Ein Beschluß kann seines Erachtens, wenn man keine bestimmte Formel nennt, gefaßt werden. Natürlich muß man die Entspannung mitmachen, nur darf man dabei nicht gleich beim ersten Schritt eine russische Forderung erfüllen. Dr. Achenbach: Das Abkommen wird so ratifiziert, wie wir das für richtig halten, also mit Berlinklausel. Da brauchen wir gar keinen Beschluß zu fassen. Die Russen haben ihre Ausgangsposition nicht verändert, und wir werden das auch nicht tun. Ertl: Dr. Dehlers Bericht hat gezeigt, daß die Sowjets nicht bereit sind, ernsthaft zu verhandeln. Er fragt sich daher, ob nicht die Gefahr besteht, daß wir zu einem Status quo minus kommen. Hoppe: Er glaubt nicht daran, daß man allgemein die Berlinklausel für selbstverständ- lich hält. Wenn wir hier schwach werden und Berlin nicht vollwertig einschließen, ver- derben wir uns zukünftige Verhandlungen. Scheel: Es kommt darauf an, die Amerikaner davon zu überzeugen, daß die Berlinklau- sel hinein muß. Es ist aber gar nicht so sicher, daß das gelingt. (Zuruf Dr. Achenbach: Wenn der Bundestag den Ratifizierungsvertrag mit der Berlink- lausel beschließt, werden das die Amerikaner akzeptieren.) Dr. Rieger: Entweder man erreicht die Wiedervereinigung im Rahmen einer Entspan- nung oder man entscheidet sich für verstärkte Rüstung. Dr. Mende: Eine Verpflichtung zur Konsultation (Atomstoppvertrag) ergibt sich aus dem Deutschland-Vertrag, dem NATO-Vertrag und aus der moralischen Verpflichtung der Allianz (auf Frage Dr. Diemer). Dr. Mende stellt fest, daß wir in der Frage der Ratifizierung souverän sind und daß die FDP auch in der Frage der Entspannung an ihrer bisherigen Auffassung – auch am Deutschlandplan – festhält. – Er verliest die FDP-Presseerklärung von Baden-Baden. –

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Borm14: Er stellt die Frage, ob man damit rechnen kann, daß die Fraktion den Vertrag nicht ratifiziert, wenn die Berlinklausel nicht in das Atomstoppabkommen hinein- kommt. Dr. Mende: Ein Beschluß ist hier nicht notwendig, da es sich um eine Selbstverständ- lichkeit handelt. Dr. Achenbach: Wir müssen sagen, daß wir bereit sind, das Atomstoppabkommen mit Berlinklausel zu ratifizieren. Er warnt vor einer Negativaussage. Dr. Mende: Er möchte vermeiden, daß wir plötzlich Seite an Seite mit denjenigen aus der CDU stehen, die die Ratifizierung aus ganz anderen Motiven ablehnen. Dr. Mende stellt fest, daß die hier versammelten Gremien einstimmig akzeptiert haben, daß der Geltungsbereich des Atomstoppabkommens selbstverständlich Berlin einschließt. Dr. Leverenz15: Er beantragt, den Bericht über den Stand der Regierungsverhandlun- gen vorzuziehen. Dr. Mende: Morgen findet eine erste Fühlungnahme über die Sachfragen, nicht aber über personelle Fragen statt. Hammersen: Auch er tritt für ein Vorziehen des Berichtes über den Stand der Regie- rungsverhandlungen ein. Dr. Mende: So beschlossen. [F.] TOP 3: Bericht über den Stand der Regierungsverhandlungen von Kühlmann: Die Besprechungen in Bad Wiessee dienten der Klärung, was die Re- gierungskoalition in dieser Legislaturperiode noch erreichen kann. Agrarpolitik: Die Arbeitsunterlage aus der Regierungsbildung 1962 soll auch für die Zukunft gelten. Von Kühlmann hat eine Erklärung zur Getreidepreisfrage abgegeben. An der Sitzung nahmen von uns noch Dr. Effertz und Mauk teil. Sozialpolitik: Hier galt es, den Verhandlungsspielraum festzulegen. Von Kühlmann glaubt, daß man hier noch zu einer Einigung kommen kann. Allgemein sollten die eingesetzten Kommissionen versuchen, die Meinungen zwischen CDU und FDP bis Anfang Oktober zu koordinieren. Innenpolitik: Eine Kommission hat sich mit dem Parteiengesetz befaßt. Die erarbeitete Konzeption soll uns durch die zwei Säulen der Parteienfinanzierung die Möglichkeit geben, den Wahlkampf 1965 zu finanzieren. Von Kühlmann hat die Hoffnung, auf eine baldige Verabschiedung des Parteiengesetzes. Wirtschaftspolitik: Bei dem Aktiengesetz gilt es, die nennwertlose Aktie herauszubrin- gen, damit das Gesetz verabschiedet werden kann. Bei der Aussprache über die Mehr- wertsteuer hat sich die Luda16-Konzeption nicht bestätigt. Es fand ein fruchtbares Gespräch statt. Wir sollten mit Angriffen gegen Höcherl17 zurückhalten und auf der sachlichen Ebene bleiben. Je stärker Höcherl von uns angegriffen wird, um so sicherer bleibt er. Das zu- künftige Kabinett soll nicht vergrößert, aber auch nicht verkleinert werden. Wenn die

14 William Borm, MdA (FDP), Landesvorsitzender der FDP in Berlin, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP. 15 Bernhard Leverenz, Minister für Justiz des Landes Schleswig-Holstein, stellvertretender Bundesvor- sitzender der FDP. 16 Manfred Luda, MdB (CDU). 17 Hermann Höcherl, MdB (CSU), Bundesminister des Innern.

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CDU eines der zwei zusätzlichen Ministerien an die FDP abgeben soll, kann die FDP kein klassisches Ministerium zusätzlich fordern. Entscheidungen über einzelne Minister sind bisher noch nicht gefallen. Wir sollten uns weniger um die Veränderungen in der CDU als um unsere eigenen Personalwünsche kümmern. Zwischen der Kanzlerwahl und der Vorstellung des Kabinetts sollen nicht mehr als zwei Tage liegen. Ausgangs- punkt der Verhandlungen sind die Beschlüsse von Bundesvorstand und Bundestags- fraktion. von Mühlen: Prof. Eschenburg18 hat Erhard geraten, sich personell freie Hand zu hal- ten. Wir sollten hier aber auf Klarheit dringen. Dr. Rutschke: Er stellt die Frage, ob sich in der Angelegenheit Lenz wegen Präsident- schaft im Bundesrechnungshof etwas getan hat. Dr. Mende: Wir haben ein Gespräch mit Erhard darüber abgelehnt, da Lenz nicht da war. Ob mit Lenz später ein solches Gespräch stattgefunden hat, ist ihm nicht bekannt. Dr. Leverenz: Ihm liegt eine Meldung vor, wonach Erhard es abgelehnt hat, vor seiner Wahl über Personalfragen zu sprechen. Das soll er Scheel gegenüber erklärt haben. Er bemängelt, daß bisher noch nicht einmal von unserer Seite mit Lenz gesprochen wurde. Zoglmann: Er hat gewisse Bedenken gegenüber den geführten Informationsgesprächen, da wir hier zu einer Meinungsbildung kommen, von der wir nachher nicht wieder her- unterkommen. Zoglmann bestätigt das Scheel-Erhard-Gespräch, wonach Erhard nicht einmal die Verhandlungskommission empfangen wollte. Wir haben aber am Montag erklärt, daß wir verhandeln müssen, worauf die Einladung für morgen erfolgte. Zu den Sachfragen gehört aber auch, daß Erhard seine personellen Vorstellungen entwickelt. Dr. Mende: In der Tat haben bisher noch keine offiziellen Verhandlungen stattgefun- den, weil die CDU – insbesondere aber Dr. von Brentano19 – in der Neubildung den Vollzug der 61er Vereinbarung sieht. Dr. Adenauer wird den vereinbarten Brief am 15.10. schreiben. Die CDU hat bis zur Stunde keine Verhandlungskommission ernannt; der Vollzug sollte nach ihrer Auffassung durch den Vorstand bzw. im Koalitionsaus- schuß erfolgen. Die Sachberatung ist durch Fachleute auf verschiedenen Gebieten zu- stande gekommen. In bezug auf den personellen Bereich hat Erhard am Tegernsee Dr. Mende und von Kühlmann gegenüber erklärt, daß er erst einmal die Vorstellungen der CDU erfahren müsse. Im übrigen will Erhard von seinen ihm mit dem Grundgesetz gegebenen Möglichkeiten Gebrauch machen und nicht wieder eine Wahlkapitulation eingehen. Zoglmann hat Erhard erklärt, daß er ja schließlich gewählt werden will und daher gezwungen ist, mit offenen Karten zu spielen. Wir haben versucht, Erhard von der Meinung der Theoretiker (Eschenburg) zu lösen. Die Praxis sieht anders aus, denn ein zweiter Wahlgang würde auch an Erhard nicht spurlos vorübergehen. Nunmehr hat Erhard erklärt, daß die FDP seine personellen Vorstellungen schon vor der Wahl erfah- ren wird. Die SPD hat erklärt, daß sie nach wie vor bereit ist, unter Schröder eine Große Koalition einzugehen. Ertl: Er kann nur dann Erhard wählen, wenn er weiß, was sachlich und personell ge- schehen wird. Müller-Link20: Wir sollten uns nicht immer Dinge vornehmen, die wir nachher nicht halten können. Wir können auch nicht einfach sagen, daß wir Erhard nicht wählen, da dieser ja schließlich unser Mann ist.

18 Theodor Eschenburg, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen. 19 , MdB (CDU), Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. 20 Peter-Heinz Müller-Link, Senator der Baubehörde der Freien und Hansestadt Hamburg (FDP), stellvertretender Landesvorsitzender der FDP in Hamburg, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP.

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Ein Wechsel zwischen Dr. Mende und Mischnick scheint dem Landesverband Hamburg der einzig mögliche Wechsel zu sein, da Mischnick offenbar einverstanden ist. Lenz sollte man nicht auswechseln. Der Landesverband Hamburg fragt sich aber nach wie vor, ob es zweckmäßig für Dr. Mende ist, ins Kabinett einzutreten. Es ist der einstim- mige Wunsch, nicht aber ein Beschluß des Landesverbandes Hamburg, daß Dr. Mende auf einen Eintritt ins Kabinett verzichtet. Eine weitere Frage ist, was über die Fortset- zung der Koalition 1965 vereinbart wurde. Dr. Menne: Prof. Erhard kann uns die Diskussion über die Leute, die Minister werden wollen, nicht verweigern. In bezug auf die SPD ist Dr. Menne nicht so ängstlich. Ein 6. Minister erscheint ihm erreichbar. Gelingt das nicht, soll sich die Verhandlungskom- mission eine Lösung überlegen. Hoppe: Er glaubt, daß es für die nächsten zwei Jahre genausowenig eine gute Koalition geben wird, wie in den 1. beiden Jahren dieser Legislaturperiode. Wir sollten nicht war- ten, was Erhard sagt, sondern wir sollten mit klaren eigenen Vorstellungen in die Ver- handlung gehen. Wenn wir keine eigenen Vorstellungen haben, wird es auch schwer, den Hauptausschuß auf unsere Seite zu bringen. Schultz: Die FDP hat sich in der Öffentlichkeit bisher noch nichts vergeben. Es hat auch keinen Sinn, so zu tun, als wenn wir alles erreichen könnten. In der Tat kommt es darauf an, zu hören, was sich die andere Seite vorstellt. Dr. Kohut: Wir sollten handeln und nicht so sehr zurückhaltend sein. Dr. Stammberger: Er glaubt, daß Erhard deshalb nicht verhandeln will, weil er sich nicht entscheiden kann. Deshalb sollte man Erhard drängen. Dr. Starke: Die Vizekanzlerfrage ist klar, darauf aufbauend kann man die anderen For- derungen entwickeln. Dr. Starke spricht sich gegen eine parlamentarische Puppe neben einem Mann à la Seeckt21 im Verteidigungsministerium aus. Man kann auch nicht im- mer mit der schwarz-roten Koalition drohen, wenn ein klarer Beschluß kommen soll. Auch mit unseren Ministern sollte man nicht so sehr lavieren. Dr. Mende: Die Formel, einmal Minister immer Minister, gilt nicht. Unsere Minister haben 1961 bei der Amtsübernahme gewußt, daß bei der Kanzlerwahl 1963 Verände- rungen eintreten. Dr. Leverenz: Er glaubt nicht an einen 6. Minister, wenn wir es auch versuchen werden. Deshalb sollte der Beschluß, an einem 6. Minister festzuhalten, nicht aufrecht erhalten werden, damit die Kommission etwas mehr Freiheit hat. Außerdem sollte die Frage geklärt werden, wer von den 5 Ministern für einen Rücktritt in Frage kommt. Dr. Aschoff: Mit der CDU sollte man nur darüber sprechen, was man in dieser Legisla- turperiode noch machen kann. Natürlich muß Erhard seine sachlichen und persönli- chen Auffassungen noch vor der Wahl darlegen. Über den 6. Ministersitz sollte man jetzt gar nichts sagen. Dr. Achenbach: Ausdiskutiert ist, daß Dr. Mende als Vizekanzler in die Regierung geht. Ausdiskutiert ist auch, daß man versucht, einen 6. Ministersitz zu erreichen, sich aber notfalls mit 5 Ministerien begnügt. Zoglmann: Man wird mit Erhard morgen über die Sache sprechen und dann die Frage nach den Personen stellen. Wenn gesagt wird, daß das Auswechseln eines Ministers ein Politikum ist, so muß man sagen, daß es auch ein Politikum wäre, wenn man Dr. Mende nicht ins Kabinett schicken würde. Wir sollten diese Frage also von der Person weg- nehmen und sehen, wo wir etwas ändern können.

21 Hans von Seeckt († 1936), 1920–1926 Chef der Heeresleitung, 1930–1932 MdR (DVP).

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Mischnick: Der Spielraum 6 von 21 muß bleiben. Wenn es bei 5 Ministern bleibt, ist es aber auch keine Katastrophe. Lenz: Es hat kein Gespräch über die Funktion des Präsidenten des Bundesrechnungs- hofes gegeben. Lenz bittet die Verhandlungskommission, über die Kompetenzen des Forschungsmi- nisteriums in den Sachverhandlungen zu sprechen. von Kühlmann: Zum Sachlichen ist noch zu sagen, daß in den Arbeitskreisen gute Arbeit geleistet wurde. Personell ist es selbstverständlich, daß wir versuchen werden, unsere 5 Minister zu halten. Geht das nicht, weil für Dr. Mende etwa nur das Innenmi- nisterium frei ist und das Bukett der 5 Minister dafür aufgewertet wird, müssen wir auf einen Minister verzichten. Über die Personenfrage muß natürlich schon jetzt verhandelt werden, das wünscht auch die CDU. Es besteht aber kein Grund, jetzt schon zum Rückzug zu blasen. Weyer22: Erhard muß die Verhandlungskommission natürlich auch über seine Gesamt- vorstellungen auf personellem Gebiet unterrichten (Höcherl, Strauß23). Personelle Möglichkeiten der FDP: 1. Wenn die CDU auf zwei Minister verzichtet, bleibt es bei der 5er-Lösung – Weyer bezweifelt das aber. 2. 6er-Lösung bei 21 Ministerien. Dr. Mende muß ein politisch wirksames Ministeri- um bekommen, sonst lieber 3. 5er-Lösung mit gewichtigen Ministerien. Dr. Hamm: Er tritt für 19 Ministerien ein, wobei die FDP nicht mehr als 5 Minister stellen sollte. 6 Minister nimmt man uns draußen nicht ab. Dr. Menne: Das 6er-Verfahren sollte man nicht ausschalten, aber die Einzelheiten der Verhandlungskommission überlassen. Die FDP sollte nicht verlangen, daß die Kabi- nettsliste von mehr FDP als CDU-Leuten eingesehen wird. Wir müssen der Kommissi- on das Vertrauen schenken und auf die Information notfalls verzichten. Dr. Mende: Handlungsfreiheit ist für die Kommission bereits in der letzten Sitzung beschlossen worden. Natürlich wird aber die Kommission Bundesvorstand und Bun- destagsfraktion weitgehend unterrichten. Für die Koalition von 1965 ist noch keine Vereinbarung getroffen worden. Eine Weiter- führung hängt von dem Erfolg dieser Koalition ab. Im übrigen müssen wir uns hier Handlungsfreiheit vorbehalten. Die Frage des Wechsels stellt sich auch zu diesem Zeit- punkt noch nicht. Mertes: Vor der Stimmabgabe muß die Fraktion und der Bundesvorstand von dem Verhandlungsergebnis unterrichtet werden. Schließlich hängt auch die Wirkungsmög- lichkeit des Abgeordneten von diesem Ergebnis ab. Dr. Schneider unterstützt. [G.] TOP 4: Sozialpaket

22 Willi Weyer, Minister für Inneres sowie Stellvertreter des Ministerpräsidenten des Landes Nord- rhein-Westfalen (FDP), Landesvorsitzender der FDP in Nordrhein-Westfalen, Mitglied des Bundes- vorstandes der FDP. 23 Franz Josef Strauß, MdB (CSU), Vorsitzender der CSU-Landesgruppe, stellvertretender Vorsitzen- der der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Landesvorsitzender der CSU.

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Deneke: Er berichtet über die Verhandlungen vom 18. und 23. September. Am 18.9. wurden lediglich die gegenseitigen Vorstellungen ausgetauscht und Unterkommissio- nen gebildet. Am 23.9. waren Schmidt und Deneke und Liebich24 als Assistent vertre- ten. Es wurde von uns der Standpunkt vertreten, daß das Sozialpaket als Einheit erhal- ten bleiben muß. Zum Kindergeld forderte die CDU, noch einmal über die Finanzamtslösung zu spre- chen. Es wurde von der CDU auf den Brief des Finanzministers verwiesen und die Arbeitsamtslösung gefordert. Von uns wurde gesagt, daß für die FDP primär die Reali- sierung ihrer Forderung auf Übernahme des Kindergeldes auf den Haushalt ist. Zur Krankenversicherungsneuregelung erklärte die CDU ihre Zustimmung zum Ko- stenerstattungsprinzip ab 1 250,– DM. Bei der Versicherungspflichtgrenze wurden Be- träge von 850,– und 1 000,– DM genannt. Wir beharrten auf 750,– DM, sagten aber, daß das auch abhängig vom System sei. Wenn die CDU bei der Kostenerstattung entgegen- kommt, kann die FDP unter Umständen auch bei der Versicherungspflichtgrenze ent- gegenkommen. Weiter wurde eine Wahlmöglichkeit zwischen Kostenerstattung und Individualbeitrag erwogen. Bei der Lohnfortzahlung betonte die CDU die Wichtigkeit des Anspruchs an den Ar- beitgeber. In der Ausgleichsfrage zeigte sich die CDU sehr hart. Die CDU wurde gebe- ten, möglichst keine Beschlüsse zu fassen, damit die Möglichkeiten weiterer Annähe- rung nicht verbaut werden. Opitz: Der Mittelstandsausschuß der CDU setzt sich nach wie vor für die versiche- rungsrechtliche Lösung ein. Deshalb sollten wir hier nicht einlenken. Dr. Atzenroth: Er beglückwünscht Deneke, daß er in den wichtigsten Forderungen hart geblieben ist. Man sollte die finanziellen Belastungen und den Vernunftstandpunkt der CDU gegenüber herausstellen. Dr. Leverenz: In diesem Zusammenhang ist es nicht unwichtig, daß auch der Minister- präsident von Schleswig-Holstein für die versicherungsrechtliche Lösung eintritt. Mischnick: Wenn die versicherungsrechtliche Lösung durchgestanden werden soll, darf auch von einzelnen Abgeordneten nicht davon abgegangen werden. Schmidt: Stingl25 bestreitet den erneuten Beschluß der CDU-Fraktion über eine ar- beitsrechtliche Lösung. Dr. Achenbach: Ihm erscheint es wichtiger, daß man die arbeitsrechtliche Lösung für den Arbeitgeber erträglicher gestaltet. Das ist besser, als der Streit um versicherungs- rechtliche oder arbeitsrechtliche Lösung. Mischnick: Wenn wir bereit sind, auf die arbeitsrechtliche Lösung einzugehen, werden wir vom Handwerk angegriffen werden, und die CDU wird es der FDP zuschreiben, daß die versicherungsrechtliche Lösung nicht zustande kam. Dr. Stammberger: Er war ursprünglich gleicher Auffassung wie Dr. Achenbach, steht aber jetzt auf dem Boden der versicherungsrechtlichen Lösung. Wenn man einen ent- sprechenden Ausgleich findet, ist der Unternehmer nur der Kassenwart der Versiche- rung und das erscheint wenig sinnvoll. Vorsitz: Dr. Leverenz.

24 Werner Liebich, Assistent der FDP-Bundestagsfraktion, zuständig für den Arbeitskreis III (Arbeits- und Sozialpolitik). 25 , MdB (CDU).

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Dr. Heuser: Das Ergebnis der bisherigen Verhandlungen ist als ein Erfolg zu betrachten und unsere Position ist gar nicht so schlecht. Was wir schon seit 5 Jahren behauptet haben, ist auch heute noch richtig. Dr. Ilk: Wir sollten keinesfalls von der versicherungsrechtlichen Lösung abgehen. Das ideelle Moment muß herausgestellt werden, daß bei der versicherungsrechtlichen Lö- sung der Arbeitgeber die Krankheitskontrolle übernehmen muß. Außerdem sollten wir in der CDU die Leute stärken, die unsere Meinung vertreten. Genscher26: In dem Kommuniqué, das wir herausgeben, sollten wir uns zu der versi- cherungsrechtlichen Form bei der Lohnfortzahlung für kranke Arbeiter bekennen, da sie die bestmögliche Methode zur materiellen Gleichstellung von Arbeitern und Ange- stellten ist. Mischnick: Unser Wunsch zur Kostenerstattung kann gegenüber der Presse wiederholt werden. Es sollte aber kein Beschluß gefaßt werden. Deneke: Man kann der Presse sagen, daß wir mit Befriedigung festgestellt haben, daß unsere Vorstellungen zur Kostenerstattung an Boden gewinnen und daß die Fraktion auf dem Boden der versicherungsrechtlichen Lösung steht. Dr. Mende: Moersch27 wird einen Formulierungsvorschlag vorlegen. Hoppe: Es ist beabsichtigt (Briefwechsel Gerstenmaier28 – Brandt29), den Bundestag im November nach Berlin einzuberufen. Mit Rücksicht auf die Absicht, wäre es zweckmäßig, wenn die FDP in diesem Augenblick eine Berlin-Sitzung fordern würde. Borm: Der Landesverband Berlin könnte ein Telegramm schicken, wenn jetzt Beden- ken bestehen, diese Forderung ins Kommuniqué aufzunehmen. Dr. Rutschke: Wenn es dann zu keiner Berlin-Sitzung kommt, sieht es schlecht aus. Schmidt: Wenn die Angelegenheit schon perfekt ist, kann sie doch nicht mehr zerstört werden. Dr. Mende: Die Frage sollte noch einmal im kleinen Kreis besprochen werden. Moersch: Er verliest die Presseerklärung (vgl. »fdk« Nr. 69 und 70/63 (T) vom 26.9.1963). [H.] TOP 2: Verfassungsschutz Dr. Mende: Er wurde von einem Beamten des Verfassungsschutzes aufgesucht, der ihm die Frage stellte, ob ein Herr Segert die Aufgabe habe, Verbindung mit der sowjetischen Botschaft zu halten. Segert ist bei dem Landesverband in Düsseldorf angestellt und mit der Aufgabe betraut worden, Geld für die Partei hereinzuholen. Dr. Mende hat den Beamten mit Minister Weyer in Verbindung gebracht. Der Verfassungsschutz hat fest- gestellt, daß Segert mit MWD30-Offizieren in Verbindung steht. Dr. Mende hat dem Beamten erklärt, daß Segert keinen Auftrag hat, mit sowjetischen Botschaftsangehöri- gen Verbindung zu halten.

26 Hans-Dietrich Genscher, Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion sowie Bundesgeschäftsführer der FDP. 27 Karl Moersch, Leiter der Abteilung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der FDP-Bundesgeschäftsstelle. 28 , MdB (CDU), Bundestagspräsident. 29 , Regierender Bürgermeister von West-Berlin (SPD), stellvertretender Bundesvorsitzen- der der SPD. 30 Ministerstwo wnutrennich del (Ministerium für innere Angelegenheiten).

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Zoglmann: Weyer ist mit dem Beamten der Sache nachgegangen und es hat sich heraus- gestellt, daß nichts hinter der Sache steht. Die Gespräche von Segert mit sowjetischen Botschaftsangehörigen haben in der Öffentlichkeit stattgefunden und dienten nur dem Geltungsbedürfnis von Segert. Segert hat aus dem Telefon bei Abnahme des Hörers ein Gespräch, das er gestern mit seiner Freundin führte, gehört. Er hat davon seinem Hauptgeschäftsführer Meldung gemacht. Der »Spiegel« hat davon erfahren und ohne Nennung von Namen und Partei einen Bericht darüber gebracht. Dazwischen lag dann der Bericht der »Zeit« über die Telefonüberwachung. Der Verfassungsschutz hat nun laut Pätsch31 monatelang die Briefe von Segert geöffnet und seine Gespräche überwacht. Minister Höcherl hat die Vorsitzenden der Fraktionen zu sich geladen, um über diese Angelegenheit zu berichten. Für die FDP erschien Zoglmann. Zu diesem Zeitpunkt waren Schmitt-Vockenhausen32 und Zoglmann schon informiert. Höcherl hat versucht, nur einen Zipfel zu lüften. Gegen diese Methode hat sich Zoglmann verwahrt und ver- langt, daß alle Fakten bekanntgegeben werden. Verfassungsschutzchef Schrübbers33, der an dem Gespräch teilnahm, hat gesagt, daß er nach seiner Amtsübernahme die bis dahin üblichen Praktiken abgestellt habe. Er hat Vordrucke geschaffen, auf denen Na- men und Telefonnummer des Betreffenden stehen und die Engländer gebeten werden, den Mann zu überwachen. Pätsch hat heute ausgesagt, daß die Engländer nur kommen- tarlos Telefonnummer und Namen des zu Überwachenden erhielten. Die Berichte der Alliierten gaben dann die wörtliche Rede aufgrund einer Tonbandaufnahme der Tele- fongespräche wieder. Im Innenausschuß hat die CDU zum Teil (Dr. Güde34, Wag- ner35) in bezug auf den Beschluß des Innenausschusses mitgezogen. Dort wurde gefor- dert, daß alle Namen der Überwachten mitgeteilt werden sollen, einschließlich derjeni- gen, die von anderen Ämtern, auch der Landesämter, überwacht werden. Zoglmann hat verlangt, daß alle Nachrichtendienste Auskunft geben, ob sie Abhöraufträge erteilen. Es hat sich herausgestellt, daß sich die Abhörerei in den Räumen der Post durch deut- sche Stellen vollzieht. Der Postminister hat erklärt, daß er davon nichts weiß. Höcherl hat gesagt, daß es besser sei, wenn diese Überwachung bei der Post erfolgt, als wenn es die Alliierten selbst tun. Höcherl wird jetzt vom Innenausschuß gebeten, dessen Petitum zu erfüllen und die Liste über Namen und Veranlasser vorzulegen. Wenn es richtig ist, daß die Akten fri- siert werden, wird es Zeit, einen Untersuchungsausschuß einzuschalten, wo unter Eid ausgesagt werden muß. Nach Zoglmanns Auffassung ist Höcherl persönlich an der Überwachung unbeteiligt und hier der Verwaltung aufgelaufen. Dr. Diemer: Hier tritt ein Geist zutage, der uns als Hüter des Rechtsstaates erschrecken muß. Die Grundrechte wurden einfach durch mittelbare Täterschaft verletzt. Auch das grundgesetzlich geschützte Postgeheimnis wurde verletzt. Dr. Diemer gibt der Ver- wunderung Ausdruck, daß die SPD nicht sofort einen Untersuchungsausschuß gefor- dert hat.

31 Werner Kurt Pätsch, 1956–19. September 1963 Sachbearbeiter im Referat »Abwehr des sowjetischen Nachrichtendienstes« der Spionageabwehrabteilung des Bundesamtes für Verfassungsschutz. 32 Hermann Schmitt-Vockenhausen, MdB (SPD), Vorsitzender des Ausschusses für Inneres. 33 Hubert Schrübbers, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. 34 Max Güde, MdB (CDU). 35 Leo Wagner, MdB (CSU), Parlamentarischer Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe.

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Dr. Stammberger: Im 1. und 2. Bundestag hat es einen Ausschuß zum Schutz der Ver- fassung gegeben. Diesen benötigen wir offenbar wieder. Dr. Stammberger hat berech- tigten Anlaß zu glauben, daß auch er zu den Überprüften gehört. Dr. Bucher: Dieser Sache kann man nur mit einem Untersuchungsausschuß beikom- men. Scheel: In der Post gibt es einen Raum, in dem man abhören kann. Dort sitzen die Alli- ierten. Der Postvorsteher veranlaßt nur auf Verlangen der Alliierten nach einem vorge- schriebenen Formular die Schaltung. Dr. Dehler: Die Bundesregierung hat aber nach dem Deutschlandvertrag die Prü- fungsmöglichkeit. Scheel: Er will hier nur den technischen Vorgang schildern. Die Post hat von der Bun- desregierung generell die Vollmacht, solche Schaltungen vorzunehmen. Die Frage redu- ziert sich also darauf, wie deutsche Stellen von diesem Recht der Alliierten für ihre Zwecke Gebrauch gemacht haben. Zoglmann: Er zitiert Artikel 5 des Deutschlandvertrages. Hier ist eine Konsultation der Bundesregierung vorgesehen. Auch nach Artikel 3 Abs. 2 des Truppenvertrags ist keine aktive deutsche Haltung möglich. Dr. Mende: Er gibt bekannt, daß die SPD keine Untersuchungskommission, sondern nur eine Kommission beim Innenausschuß fordert. Aus einer Pressemitteilung ergibt sich mittelbar, daß auch auf Landesebene abgehört wurde. Die SPD-Presseerklärung ist sehr weich gehalten. Dr. Leverenz: Hier haben Bundesminister unvollständig und damit falsch ausgesagt. Das sollte man festhalten. Er bittet um Abschriften der vorhandenen Unterlagen ein- schließlich der Presseerklärung der SPD. Dr. Starke: Wir sollten die Sache keinesfalls einschlafen lassen. Auch wenn die SPD nicht mitmacht; denn auch das ist eine Frage des Staates, in dem wir leben. Man ist den Nachrichtendiensten schutzlos preisgegeben. Im Gegensatz zu England tanzen in der Bundesrepublik die Beamten den Ministern auf dem Kopf herum. Dr. Mende: Das Wort Untersuchungsausschuß sollte man nicht aus dem Raum lassen. Dr. Krümmer: Was sich hier vollzieht, schadet dem gesamten Parlament. Dr. Mende: Man sollte draußen darauf hinweisen, daß bei einer absoluten Mehrheit der CDU diese Dinge gar nicht diskutiert worden wären, denn es hätte sich schon im In- nenausschuß nicht die erforderliche Mehrheit ergeben. Dazu kommt, daß die Oppositi- on ihre Aufgabe nicht ordnungsgemäß wahrnimmt. Allerdings muß man auch an die

16 000 Agenten in der Bundesrepublik denken und darf nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Im Bundestag ist außer bei dem staatsanwaltschaftlichen Fall Orth36 nicht abgehört worden. Er wird veranlassen, daß eine Zusammenstellung der von Dr. Leve- renz gewünschten Unterlagen der Fraktion und dem Bundesvorstand vorgelegt wird. Dr. Diemer: Das Ausführungsgesetz zu Artikel 10 des Grundgesetzes darf aber nicht so verabschiedet werden, daß die bisherige Praxis legalisiert wird. Dr. Rutschke: Wir sollten einen Untersuchungsausschuß fordern. Dr. Achenbach: Die alliierten Vorbehaltsrechte müssen abgeschafft werden.

36 Eduard Orth, Minister für Unterricht und Kultus des Landes Rheinland-Pfalz (CDU), 1949–7. Oktober 1956 MdB (CDU).

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Zoglmann: Mit einer Presseerklärung sollten wir warten, bis die Sitzungen von Älte- stenrat und Innenausschuß abgeschlossen sind und klar ist, ob Höcherl eine Liste vor- legt oder nicht. Dr. Emde: Im Ältestenrat wurde folgende Erklärung abgegeben: 1. Die Dinge wurden sehr genau behandelt. 2. Schäfer37 hat erklärt, daß er einer falschen Information aufgesessen ist. 3. »Panorama« hat falsch berichtet. – Es hat nie eine Abhöranlage im Bundeshaus gegeben. Hintergrund: Die CDU wollte »Panorama« und Schäfer gleichzeitig hochgehen lassen. Schäfer hat an Gesicht verloren und befand sich taktisch in einer schlechten Lage. Ras- ner38 versucht, die Sache aufzubauschen. Dr. Emde und Dürr haben sich aber zurück- gehalten. Schäfer konnte den Beweis des Abhörens nicht führen. Auch der ehemalige Abgeordnete Orth ist nicht vom Bundeshaus aus abgehört worden. Dr. Mende: Gegen Orth ist von der Staatsanwaltschaft ermittelt worden. Dürr (zur Ergänzung): Rasner legte Wert auf einen Strafantrag gegen Schäfer. Carlo Schmid39 und Dürr hatten aber Bedenken. Wegen der Tagesordnung verweist Dürr auf den Zeitplan. Vom 8.–11.10. ist am Mitt- woch und Freitag Plenum, am Dienstag, den 15.10., ist die Verabschiedung von Kanzler Adenauer, am 16.10. die Kanzlerneuwahl. Am 17.10. soll um 15 Uhr die Vereidigung der Minister stattfinden. Der Freitag ist für die Abgabe der Regierungserklärung vorge- sehen, falls sie bis dahin fertiggestellt ist. Dr. Mende: Die CDU kritisiert »Das Freie Wort« wegen eines Artikels von Aldenho- ven über das sozialpolitische Gespräch mit der CDU. Genscher: »Das Freie Wort« ist unabhängig, wie auch durch einen Beschluß der hier versammelten Gremien im Zusammenhang mit der Finanzierung festgestellt wurde. Als offizielle Stimme der Partei ist dagegen die »fdk« zu betrachten, die sich in ihren Kom- mentaren zurückgehalten hat. Genscher wird Rösing40 anrufen und diese Auffassung vertreten. Dr. Mende: Er gibt bekannt, daß der bisherige Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Mainz, Außenstelle Bingen, Dr. Friderichs41, am 1.10.1963 als stellver- tretender Bundesgeschäftsführer eingestellt worden ist. Hierzu bedarf es keiner Ge- nehmigung des Bundesvorstandes. Die nächste Fraktionssitzung findet am 2. Oktober 1963 statt. Die Hauptausschußsit- zung findet am 5.10.1963 in Köln statt.

37 Friedrich Schäfer, MdB (SPD), Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion. 38 Will Rasner, MdB (CDU), Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. 39 Carlo Schmid, MdB (SPD), Bundestagsvizepräsident, stellvertretender Vorsitzender der SPD- Bundestagsfraktion, stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten. 40 Josef Rösing, Kreisvorsitzender der CDU Bonn-Land. 41 Hans Friderichs, stellvertretender Bundesgeschäftsführer der FDP.

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