SWR2 Klassiker

Franz Lehár: Der letzte Operettenkönig – Zum 151. Geburtstag Eine Sendung von Stefan Frey

Sendung: Dienstag, 27. April 2021, 20.05 Uhr Redaktion: Bernd Künzig

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1 Er war der am meisten aufgeführte Komponist seiner Zeit und der letzte Operettenkönig: Franz Lehár. Geboren am 30. April 1870 hat er mit Werken wie Die lustige Witwe und Das Land des Lächelns die Geschichte seines Genres geprägt wie kein anderer Operettenkomponist des 20. Jahrhunderts. Lehár wurde zum Seismograph seiner Epoche und all ihrer Umbrüche - von der Österreichisch- Ungarischen Monarchie bis ins Dritte Reich, wo er selbst als Hitlers Lieblingskomponist mit seiner jüdischen Frau zwischen alle Fronten geriet. Ich bin Stefan Frey und möchte Sie in dieser Sendung mit Lehárs Werken bis zum Ersten Weltkrieg bekannt machen - und als Lehár-Biograph auch mit den verborgenen Seiten des Komponisten, wie zum Beispiel dieser Nummer aus seiner ersten Operette Der Rastelbinder: ______MUSIK 01 Komponist: Franz Lehár Werk: Der Rastelbinder Titel: “Ich bin ein Wiener Kind“ Interpreten: Julius Patzak, Münchner Rundfunkorchester, Werner Schmidt-Boelcke Länge: 1:54

2 Julius Patzak und das Münchner Rundfunkorchester. Dirigent war Werner Schmidt-Boelcke. "Ich bin ein Wiener Kind" aus Franz Lehárs erster Operette Der Rastelbinder. Dieses Lied der Titelfigur steht nicht umsonst am Anfang der Sendung, hat es doch deutlich autobiographische Züge. Es erzählt die Geschichte, wie aus dem slowakischen Rastelbinderbuben Janku das "Wiener Kind" - Schani - wird. Und das war im Wesentlichen auch Lehárs Geschichte. Schließlich war er in der Slowakei, in Komorn geboren und bekommt in der Wiener Operettenszene deshalb sogar den - eher wenig schmeichelhaften - Spitznamen "der Slowak". So ganz zum "Wiener Kind" wird Lehár also nie. Er selbst hat sich immer als Bürger der Donaumonarchie gefühlt, ein echter Kakanier - vom Scheitel bis zur Sohle. Und das waren laut Militärpass nur 1,65 Meter. Dafür beherrschte er, wie das Dokument weiter verrät, die drei Hauptsprachen des Habsburgerreichs: "Deutsch, Ungarisch und Böhmisch", also Tschechisch. Sein Vater nämlich war Tscheche und hat erst als Militärkapellmeister Deutsch gelernt. Lehárs Mutter wiederum hatte zwar deutsche Vorfahren, war aber waschechte Ungarin. Noch prägender als seine Herkunft dürfte jedoch die Tatsache gewesen sein, dass er - wie er selber schrieb - ein ‚Tornisterkind‘ war:

3 „So bezeichnet der Armeewitz in Österreich-Ungarn jene Soldatenkinder, die ihren Eltern bei den zahlreichen Transferierungen von Garnison zu Garnison folgen, also gleichsam im Tornister überall mitgeschleppt werden. Die unterschiedlichen Sprachen und Sitten habe ich als Kind so intensiv in mir aufgenommen, dass ich in meiner Musik unbewusst eine Mischung all dieser Nationen wiedergebe.“

4 So macht Franz Lehár bis zu seinem 12. Lebensjahr sechs Garnisonswechsel mit, bevor er anfängt, in Prag Violine zu studieren. Dort gerät er gleich zwischen die Fronten der deutschen und tschechischen Studenten, die sich damals spinnefeind waren. Er muss sich also positionieren und entscheidet sich - für Ungarn. So kann er mit beiden Gruppen gut auskommen. 2

Unterstrichen hat Lehár sein Ungartum auch durch die Schreibweise seines Namens mit dem Akzent auf dem a - kein Betonungsakzent, sondern ein Lautakzent - also "a" statt "o". ______MUSIK 02 Komponist: Franz Lehár Werk: Magyar Ábránd Interpreten: Willi Uhlenhut, Wiener Rundfunk-Unterhaltungsorchester, Max Schönherr Länge: 3:24

5 Willi Uhlenhut und das Wiener Rundfunk-Unterhaltungsorchester unter seinem langjährigen Chefdirigenten Max Schönherr mit Magyar Ábránd - einer Phantasie für Violine und Orchester, die sich Lehár selbst auf den Leib geschrieben hat. Komponiert hat er sie mit Anfang 20. Da ist er Militärkapellmeister - so wie einst sein Vater, der ihn von Kindheit an darauf vorbereitet hat. So kann Franz junior schon mit 4 Jahren am Klavier ein gegebenes Thema bei verdeckten Tasten in allen Tonarten variieren. Mit sechs lernt er Geige und erhält mit zwölf ein Stipendium am Prager Konservatorium, was ihm ein Musikstudium ermöglicht. Sein Vater hätte es sonst nicht finanzieren können. Statt Violine will Lehár aber lieber Komposition studieren. Da ihm das als Stipendiaten nicht gestattet ist, betreibt er seine ersten Kompositionsversuche heimlich. Er zeigt sie Antonin Dvořák, der damals in Prag lehrt und ihm rät: „Häng' die Geige an den Nagel und komponier lieber!“ Doch Lehárs Vater ist dagegen. Dem Sohn bleibt also nichts anderes übrig, als selbst die väterliche Laufbahn einzuschlagen. Mit 20 Jahren wird er jüngster Militärkapellmeister der Monarchie - zwar nur in Losoncz, einer kleinen ungarischen Provinzstadt, doch Lehár macht das Beste daraus, erzieht seine Soldaten zu tüchtigen Musikern, gründet ein Quartett, führt Messen und ganze Oratorien auf. Sein Vorgesetzter, Baron Oberst Fries, ist beeindruckt und beauftragt ihn, seiner Tochter Vilma Gesangsunterricht zu erteilen. Trotz seiner völligen Unkenntnis jeglicher Gesangstechnik, wagt Lehár nicht abzulehnen:

6 „Befehl ist Befehl! Meine Verlegenheit war nicht gering, als ich dem hübschen siebzehnjährigen Mädchen gegenüberstand. Die junge Baronesse merkte sehr schnell, daß ich mich auf Gesangsunterricht nicht verstand. Um sie zu versöhnen, komponierte ich Lieder, die ich ihr widmete. Sie verstand dies zu würdigen, verriet mich nicht bei ihrem Vater, während ihre Stimme von Mal zu Mal heiserer wurde. Vilma Fries lernte bei mir zwar nicht singen, aber schon in der zweiten Stunde sang sie ein Lied, das ich für sie komponiert hatte. Ach, wie oft probierten wir dieses Lied: Vorüber!“ ______MUSIK 03 Komponist: Franz Lehár Werk: Vorüber Interpreten: Brigitte Lindner, Cord Garben Länge: 3:19

7 Brigitte Lindner, begleitet von Cord Garben am Klavier, besang den flüchtigen „Traum, den erste Liebe webt“ nach Emanuel Geibels Gedicht Vorüber. Es ist Lehárs

3 erstes gedrucktes Lied, 1890 bei Hofbauer erschienen - mit Widmung an - und Bild von „Baronesse Vilma Fries“. Damals komponiert der junge Militärkapellmeister vor allem ernste Musik. Und ernst nimmt er auch seinen Beruf. Als er nach einem langen Konzert im Offizierskasino um Mitternacht gebeten wird, ein Geigensolo zum Besten zu geben, weigert er sich. Die Offiziere sind außer sich, doch Lehár quittiert noch am selben Abend seinen Dienst und wechselt nach Pola, den österreichischen Marinehafen an der Adria. Dort steht ihm das mit 110 Mann größte Militärorchester der Monarchie zur Verfügung. Endlich hat Lehár die Möglichkeit, für großes Orchester zu komponieren. Er ergreift die Gelegenheit beim Schopf und schreibt - zusammen mit dem venezianischen Korvettenkapitän Felix Falzari als Librettisten - die Oper Kukuška. Die Instrumentation führt er direkt mit seinem Orchester durch - „auf Zuruf“. Das heißt: er prüft den in der Partitur notierten Orchesterklang und korrigiert ihn gegebenenfalls „auf Zuruf“ der entsprechenden Instrumentalisten. Als das Werk vom Leipziger Stadttheater zur Uraufführung angenommen wird, verabschiedet sich Lehár mit großer Geste von Pola, der Marine und seinem bisherigen Dasein mit den prophetischen, an die Eltern gerichteten Worten:

8 „Ich tauge nicht zum Militärkapellmeister, ich habe zu viel Ehrgefühl dazu! Wollt Ihr es Eurem Kinde nicht verzeihen, wenn es seine Knechtschaft endlich einmal abschüttelt! Es kommt schon die Zeit, wo Ihr mich verstehen werdet! - Das habe ich damals geschrieben. Und obwohl mein Vater von diesem Brief nicht gerade begeistert war, fühlte ich mich wie neugeboren! Und erst die Premiere in Leipzig! Denken Sie sich, ich komme als blutjunger Mensch in die große Stadt, sehe alles bei den Proben beschäftigt und sehe das Werk lebend, von dem ich bis dahin nur geträumt habe. Das war wohl meine glücklichste Stunde.“ ______MUSIK 04 Komponist: Franz Lehár Werk: Kukuška Titel: Duett Tatjana/Alexis Interpreten: Dagmar Schellenberger, Herbert Lippert, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin; Michail Jurowski Länge: 2:06

9 Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Michail Jurowski sowie Dagmar Schellenberger und Herbert Lippert mit dem ersten Finale von Franz Lehárs "lyrischem Drama" Kukuška von 1896. Die Uraufführung in Leipzig ist ein unbestrittener Erfolg. Textdichter und Komponist werden etliche Male auf die Bühne gerufen. Auch die Kritiken sind euphorisch. Der Berliner Börsen-Courier orakelt: „der Lockruf des General Kukuška wird auch ein Lockruf für die Opernbesucher werden.“ Trotzdem muss der Komponist bald feststellen, dass er von einer Oper allein nicht leben kann und wird notgedrungen wieder Militärkapellmeister. Doch hat er diesmal Glück: Sein Regiment wird 1899 nach Wien versetzt, wo er sich bald nicht nur als junger "fescher Kapellmeister" einen Namen macht, sondern auch als Walzerkomponist. Auf diese Weise gerät er, wie er es selbst ausdrückte, "ganz ahnungslos und blindlings in die Wiener Operette hinein". Zu verdanken hat er das vor allem einem damals gerade mal zwölfjährigen Mädchen namens Lizzi, der Tochter des berühmten Operetten-Librettisten Victor Léon. Sie ist 4 vor allem von Lehárs fescher Art begeistert und schwärmt ihrem Vater so lange vor, bis er - völlig entnervt - dem unbekannten Militärkapellmeister eine Chance gibt. Und Lehár nutzt sie und komponiert besagten Rastelbinder, der 1902 am Carl-Theater über 225 Mal gespielt wird. Neu an dieser Operette ist, dass Victor Léons Handlung - die erfolgreiche Assimilationsgeschichte des slowakischen Rastelbinderbuben - aus dem Wiener Alltagsleben gegriffen ist und damit den sozialen Wandel der modernen Metropole beschreibt. Schließlich ist über die Hälfte der fast zwei Millionen Einwohner nicht in Wien geboren. Drei Jahre später übertrifft Lehár diesen Erfolg noch um ein Vielfaches mit der Operette, die seinen Namen berühmt machen sollte: Die lustige Witwe. Selten hat ein Werk des Genres eine ähnliche Wirkung. Zum einen musikalisch: Lehár führt das Leitmotiv in die Operette ein, bleibt aber in seiner Melodik immer leichtverständlich und erreicht so eine ganz eigene Mischung von Raffinement und Einfachheit. Zum anderen lag die Wirkung der lustigen Witwe wieder in Léons modernem Libretto. Die Handlung spielt in die Gegenwart und zeigt, wie sich die sozialen Maßstäbe Anfang des 20. Jahrhunderts verändert haben. Denn der Adel, verkörpert durch den Lebemann Danilo, hat eigentlich ausgedient. Was wirklich zählt, ist Geld - sprich: jene 20 Millionen, die die Titelfigur Hanna Glawari geerbt hat. Es ermöglicht ihr ein Leben als - für die damaligen Verhältnisse - emanzipierte und selbständige Frau. Und das lebt sie in vollen Zügen aus. Sie nimmt ihre Liebesbeziehung zu Danilo aktiv in die Hand und liefert ihrem Auserwählten solange einen komödiantischen Geschlechterkampf, bis er endlich doch noch Gefühl zeigt... ______MUSIK 05 Komponist: Franz Lehár Werk: Die lustige Witwe Titel: "Es waren zwei Königskinder" Interpreten: Louis Treumann, Orchester, Franz Hampe Länge: 1:58

10 Es waren zwei Königskinder - die Märchenversion der Liebeshändel in Lehárs lustiger Witwe, hier gesungen vom Uraufführungs-Danilo Louis Treumann. Der Grotesk-Komiker und brillante Tänzer wird in dieser Rolle zum Star - zur Verkörperung des "jungen Manns up to date", wie der Schriftsteller Felix Salten schrieb. Seine Art zu tanzen wird imitiert, seine sprachlichen Manierismen. Die eben gehörte Aufnahme von 1906 gibt einen Eindruck davon, auch von der emotionalen Brisanz, die diese Operette damals hatte. "Endlich eine Operette, wie sie sein soll", schreibt der Kritiker Ludwig Karpath über die Uraufführung am 30. Dezember 1905. Sie ist ein „enthusiastischer Erfolg". Um überhaupt an Karten zu kommen, braucht man besondere Beziehungen - z.B. zum Kassier des Theaters an der Wien. Der bekommt für Reservierungen so ansehnliche Trinkgelder, dass er sich nach zwei Jahren ein Zinshaus kaufen kann. Als man Direktor Wilhelm Karczag fragt, was er zu den Transaktionen seines Angestellten sage, meint er lächelnd: "Habe nichts dagegen. Ich habe mir in der Zeit zwei Häuser gekauft“. Die lustige Witwe ist nicht nur in Wien ein Erfolg, sondern weltweit und erlebt innerhalb von nur drei Jahren über 18 000 Aufführungen u. a. in 422 europäischen und 154 amerikanischen Städten. Dass die Operette gerade in den USA so einschlug, hatte laut Schriftsteller Felix Salten vor allem einen Grund: 5

11 „Zum ersten Mal treten hier auf Operettenboden moderne Menschen auf. Unsere Melodie. In der Lustigen Witwe wird sie angestimmt. Alles vibriert von Wirklichkeit. Alles, was so in unseren Tagen mitschwingt und mitsummt, was für moderne Kleider unsere Empfindungen tragen, das tönt in dieser Operette, klingt in ihr an.“ ______MUSIK 06 Komponist: Franz Lehár Werk: Titel: Maxim's Interpreten: Maurice Chevalier, Jeanette MacDonald, MGM Studio Chorus and Orchestra Länge: 2:10

12 Maurice Chevalier war das als Filmdanilo 1934 - an seiner Seite: Jeanette MacDonald. Ein Ausschnitt aus Ernts Lubitschs leicht ironischer Filmversion, der zweiten von insgesamt 3 Hollywood-Verfilmungen der Merry Widow, wie Die lustige Witwe auf Englisch heißt. Die erste und erfolgreichste war übrigens Erich von Stroheims Stummfilm von 1925, ein opulenter, sarkastischer, sehr freizügiger und stummer Bilderrausch in Schwarzweiß. Schon kurz nach ihrer Broadway-Premiere 1907 wird Lehárs Merry Widow in den USA regelrecht Kult. Ganz Amerika steht Kopf:

13 "It’s the Merry Widow this, / And the Merry Widow that; / It’s the Merry Widow kiss / And the Merry Widow cat. / Itʼs the Merry Widow dance; / And the Merry Widow glance. / Iʼve a Merry Widow knife, / And a Merry Widow brat/ Iʼve a Merry Widow wife / wearing a Merry Widow hat."

14 Besonders der wagenradgroße Merry Widow-Hut, kreiert von der Londoner Modeschöpferin Lady Duff Gordon, wird in den USA zu einem beliebten und viel bespottetem Mode-Accessoire. Immerhin verschafft er den Frauen in der Öffentlichkeit allein schon durch seine schiere Größe mehr Raum, als den meisten Männern lieb ist. Auch das ein Zeichen der Modernität! Im Gefolge der Lustigen Witwe erlebt die Wiener Operette eine nie dagewesene Konjunktur und dominiert in der Dekade vor dem ersten Weltkrieg die Bühnen der Welt wie heute nur noch das Musical. Die so entstandene Nachfrage verhilft einer ganzen Komponistengeneration zum Durchbruch: Leo Fall, Oscar Straus, Ralph Benatzky und Emmerich Kálmán. Auch für Lehár markiert der Erfolg der lustigen Witwe einen Wendepunkt:

15 „Der vielgeschmähte Großbetrieb der Operette hat meiner Meinung nach auch seine guten Seiten – mit ihm rouliert das Geld. Und dieses Geld hat mir gebracht, wonach von Kindheit an mein heißes Sehnen ging: Freiheit und materielle Unabhängigkeit beim künstlerischen Schaffen - die Möglichkeit, meinem inneren Drange, und nur diesem folgen zu können."

16 Und das tut Lehár fortan. Es beginnt eine Phase der Experimente mit dem Genre. Gleich an drei unterschiedlichen Operetten arbeitet der Komponist in den nächsten Jahren gleichzeitig. Sie kommen alle in der Spielzeit 1909/10 heraus: Das Fürstenkind, und - Zigeunerliebe, deren Anfang aufhorchen lässt: 6

______MUSIK 07 Komponist: Franz Lehár Werk: Zigeunerliebe Titel: Introduktion Interpreten: Johanna Stojkovic, NDR-Radiophilharmonie, Frank Beermann Länge: 3:23

17 Johanna Stojkovic mit Walküren-Auftritt und abschließendem ungarischen Geigensolo in einer Aufnahme mit der NDR-Radiophilharmonie. Dirigent war Frank Beermann. „Eine Oper, die man zur Not auch in einem Operettentheater aufführen kann“ - nennt der Wiener Musikschriftsteller Richard Specht Franz Lehárs Zigeunerliebe. Und in der Tat überschreitet der Komponist hier ganz bewusst Genregrenzen. Er und seine Librettisten bezeichnen ihr Werk als ‚Romantische Operette‘ – ein Paradox, das typisch ist für Franz Lehár und seine Utopie, die er folgendermaßen formuliert:

18 „Ich glaube, dass es zwischen Oper und Operette keine Scheidewand mehr geben wird. So suche ich immer nach Büchern, die mir bisher unbetretene Pfade weisen. Werden mir solche Bücher nicht angeboten, so versuche ich meine Textdichter dahin zu bringen, mir das zu schreiben, was ich eben möchte. Dass dabei zumeist der Rahmen der Operette gesprengt wurde, trug meinen Librettisten den Vorwurf ein, sie hätten mich zu waghalsigen Experimenten verlockt, während ich doch selbst diesen Vorwurf auf mich nehmen muss.“

19 Das muss Lehár zweifellos auch für Zigeunerliebe. Trotzdem geht das Operettenpublikum zunächst mit - nicht jedoch beim Fürstenkind, Lehárs anderem Experiment der Spielzeit 1909/10. Den stärksten Beifall findet freilich - im Bunde der dritte: Der Graf von Luxemburg, ein weiterer Welterfolg, besonders in England. ______MUSIK 08 Komponist: Franz Lehár Werk: Der Graf von Luxemburg Titel: “Lieber Freund, man greift nicht nach den Sternen“ Interpreten: Magdalena Hinterdobler, Thomas Blondelle, Münchner Rundfunkorchester, Leitung Ernst Theis Länge: 3:49

20 Magdalena Hinterdobler und Thomas Blondelle mit dem Münchner Rundfunkorchester unter Ernst Theis in Der Graf von Luxemburg, dem Muster aller Lehár-Operette schlechthin. Hier sind seine seriösen Ambitionen und die Publikumsbedürfnisse aufs Glücklichste vereint, Gefühl und Ironie, Oper und Tanzschlager. Die englische Version The Count of Luxemburg kommt am 20. Mai 1911 in London heraus - "in einer sogar für das Daly’s Theatre unglaublich brillianten Produktion, die das Haus im Sturm nahm", wie der Observer schreibt. Sogar der frisch gekrönte König George V. und seine Gattin sind zugegen. Lehár befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere und lernt auf der Überfahrt von Calais nach Dover das Mannequin Beatrice von Brunner kennen. Sie wird während der sechswöchigen Proben zum Count of Luxemburg zu seiner Londoner Begleiterin und folgt ihm auch zu einem anschließenden Gastspiel in Paris. 7

Als er Ende Juni noch ganz beseelt nach Ischl zurückkehrt, stürzt er sich in die Komposition von Eva - eines seiner ungewöhnlichsten Werke. Es kommt ganz ohne aristokratische Beteiligung aus und hat als Titelfigur eine Arbeiterin in einer Glasfabrik. Sie verliebt sich in den jungen Fabrikbesitzer, flieht nach Paris, wo sie zur eleganten Kurtisane wird. Einem Happy-End mit dem Fabrikbesitzer steht nun nichts mehr im Wege - eine Anti-Traviata sozusagen – eine Karriere, die damals nur in der Operette möglich war. Die Kritik war begeistert:

21 „Eva ist musikalisch wohl das Beste, was wir seit geraumer Zeit auf Wiener Operettenbühnen zu hören bekamen. Eva steht auch höher als gar manches der letzten Werke Lehars selber. Schlager, was man so nennt, sind reichlich genug vorhanden, so daß auch der süße Operettengeschäftspöbel auf seine Rechnung kommt. Umso besser, daß auch höhere Ansprüche durchaus nicht unbefriedigt bleiben.“ ______MUSIK 09 Komponist: Franz Lehár Werk: Eva Titel: Pariser Pflastermarsch Interpreten: Alfredo Kraus, Anna Maria Olaria, Orchestra Radio Espagna, Ltg. Enrique Belenguer Estela Länge: 3:32

22 Lehár auf Spanisch - eine Wohltat, zumal mit einem wie Alfredo Kraus! Enrique Belenguer Estela dirigierte Chor und Orchester von Radio Espagna. Der Pariser Pflastermarsch aus Eva - in Italien und in Spanien noch immer ein Repertoirestück. Den Gipfel seiner Experimentierlust erklimmt Lehár 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Er heißt . Und tatsächlich geht es im zweiten Akt dieser Operette um eine Bergpartie, die Dolly Doverland, eine reiche exzentrische Amerikanerin, mit dem als Bergführer getarnten Baron Frank Hansen unternimmt. Dieser zweite Akt, ein fast durchkomponiertes, einziges Liebesduett, ist "ein Wagnis ohnegleichen für eine Operette" und liegt dem Komponisten besonders am Herzen. Die Presse bespöttelt ihn umgehend als „Wagner der Operette“ und erklärt Endlich allein zu seinem Tristan. Für Wilhelm Karczag, den Direktor des Theaters an der Wien war es hingegen ein neues Genre:

23 „Beim letzten Werke von Franz Lehár Endlich allein haben wir viel darüber debattiert, ob wir es nicht ‚Ein Liebesroman mit Musik‘ nennen sollen. Oder doch besser 'Operette'? Solange es leichte und populäre Melodien enthält, scheint das Publikum jedenfalls dieses Genre zu wollen. Denn für diese Art musikalischer Werke ist eine neue Zeit angetreten und diese haben den Komponisten Künstlerehre und materielle Sorglosigkeit eingebracht, gar nicht davon zu reden, daß hunderte von Theaterunternehmungen zu Wohlstand gelangten." ______MUSIK 10 Komponist: Franz Lehár Werk: Endlich allein Titel: Finale II Interpreten: Adele Kern, Anton Dermota, Großes Wiener Rundfunkorchester, Franz Lehár

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Länge: 4:17

24 Adele Kern und Anton Dermota in einem Ausschnitt aus der Gesamtaufnahme des Wiener Rundfunks von 1942. Am Pult stand der Komponist. Allerdings hieß das Werk damals nicht mehr Endlich allein, sondern Schön ist die Welt - so der Titel der Bearbeitung, die Lehár 1930 für geschrieben hat. Der Ausnahmetenor hatte Lehárs Schaffen sieben Jahre zuvor noch einmal eine neue Wendung gegeben - hin zur "lyrischen" Sängeroperette seines Spätwerks - ganz ohne Happy-End. Das gilt freilich nicht für die heutige Sendung, in der es um Lehárs Glanzzeit vor dem Ersten Weltkrieg ging, als sogar Edelprostituierte ein Recht auf ein Happy- End hatten. Zum Schluss - nach Englisch und Spanisch - verabschiede ich mich bei Ihnen auf Italienisch. Mit Bambolina, einem Foxtrott aus Lehárs einziger original italienischer Operette La danza delle Libelulle von 1922. Es singen Natalie Karl und Matthias Klink, begleitet vom Münchner RO unter Ernst Theis. Ich bin Stefan Frey und wünsche: buona sera con bambolina - è questo l'amor! ______MUSIK 11 Komponist: Franz Lehár Werk: La danza delle Libelulle Titel: Bambolina Interpreten: Natalie Karl, Matthias Klink, Münchner RO, Ernst Theis Länge: 2:10

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