SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst

Fährt die Bahn aufs Abstellgleis?

Autor: Helmut Frei Redaktion: Detlef Clars Regie: Andrea Leclerque Sendung: Montag, 14. Oktober 2013, 8:30 Uhr, SWR2 Wissen

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Dieses Manuskript enthält Textpassagen in [Klammern], die aus Zeitgründen in der ausgestrahlten Sendung gekürzt wurden.

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MANUSKRIPT

Cut 1: (Telefongeräusch) Guten Tag. Sie sind verbunden mit dem Zentralstellwerk in . Leider rufen Sie außerhalb unserer Besetztzeiten an. Das Stellwerk ist von Montag bis Freitag besetzt von acht bis zwölf Uhr und von 14 Uhr bis 17 Uhr. An Wochenenden ist das Stellwerk geschlossen. Der einzige Zug, der in Mainz pünktlich fährt, ist der Rosenmontagszug. Aufwiederhören. (Pieps).

Sprecherin: Es darf gelacht werden – bei diesem Rückblick auf ein Ereignis, das die Spitze der Deutschen Bahn selber als Blamage bezeichnete. Mitte August 2013 standen im Mainzer Hauptbahnhof zeitweise alle Räder still. Ein Notfahrplan wurde ausgearbeitet, weil drei Eisenbahner, die zur Mannschaft des Mainzer Zentralstellwerks gehören, in Urlaub und fünf krank waren. Acht von 15 Eisenbahnern, die normalerweise rund um die Uhr und alle Tage des Jahres dafür sorgen, dass in der Landeshauptstadt Mainz Züge fahren können. Mit dem Witz auf dem Anrufbeantworter machte Thilo Böhmer seinem Ärger Luft. Der Lokführer fährt Güterzüge einer privaten Eisenbahngesellschaft durch Deutschland. Und er gehört zu den Kritikern einer – wie er sagt – falschen Bahnpolitik. Der Stillstand in Mainz sei nicht zuletzt das Ergebnis einer fatalen Weichenstellung: der Bahnreform. Sie startete vor zwanzig Jahren, im Januar 1994. Eigentlich sollte sich die Staatsbahn gesundschrumpfen. In Wirklichkeit präsentiert sie sich nach Ansicht Thilo Böhmers heute mehr denn je als chronisch krank.

Cut 2: (Kurze Auftaktatmo zum Blenden) Bei Reisezügen wurde den Reisenden im Zug immer erklärt, dass es sich hierbei um eine Signalstörung handelt. Es geht aber nicht um die Signalstörung, es geht einfach um die Stellwerkstörung, die gar keine ist eigentlich. Wenn einfach zu wenig Leute da sind und wenn die ihren Arbeitsplatz verlassen, dann melden die sich ab an der Betriebszentrale, beim Zuglaufdisponent. Und die Pause steht ihnen auch zu, bzw. die muss gemacht werden. Es ist also nicht nur in Mainz so, dass die Fahrdienstleiter fehlen. Es gibt noch viele andere Standorte in Deutschland. Bei Güterzügen is es genau das Gleiche: die Züge müssen umgeleitet werden, die müssen stehen bleiben, die brauchen andere Fahrpläne, Umleitungsfahrpläne. Es geht auch um Zulaufstrecken, die das Stellwerk halt auch überwacht und steuert, und da können diese Züge natürlich dann in diesen Zeiten auch nicht lang fahren. (Atmo zum Blenden)

Ansage: Fährt die Bahn aufs Abstellgleis? Von Helmut Frei

Cut 13: (Kurze Autaktatmo / 12 Sekunden/ zum Einblenden über die letzten Worte der Ansage b) Meine Damen und Herrn, um voraussichtlich um 18.54 Uhr erreichen wir auf Gleis drei mit einer Verspätung von neun Minuten. Der ICE 512 nach Münster wartet leider nicht auf uns. Und Fahrgäste in andere Richtung zum Beispiel Berlin und Hannover wenden sich bitte in Ulm an den Servicepoint.

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Sprecherin: Und dort werden sie dann erfahren, dass sie den Nachtzug nicht mehr erreichen, für den sie Plätze reservieren mussten. Alltag auf deutschen Schienen. Ob bei der Fahrt vom Bodensee über Ulm nach Stuttgart oder im Mannheimer Hauptbahnhof.

Cut 14: (Atmo Auftakt bis 0:08) Information zum ICE nach Stuttgart. Abfahrt 15.56 Uhr. Heute circa 30 Minuten später. (Atmo ab 0:17 zum Blenden).

Sprecherin: Bahnkunden sind verärgert. Immer öfters ist ein ICE nur mit einem Zugteil statt mit zweien unterwegs. Viele Fahrgäste finden deshalb keinen Sitzplatz, selbst wenn sie eine Platzkarte gekauft haben. Sie werden nicht wie Gäste behandelt, sondern wie Ware. Manchmal fallen Züge komplett aus, bleiben Bistro und Zugrestaurant geschlossen, weil das Personal nicht an Bord ist. Nach wie vor streiken Klimaanlagen in Zügen.

Cut 22: (Vorlauf Atmo bis 0:09. Soll schon unter dem vorhergehenden Text beginnen) Einen recht schönen Tag meine Damen und Herrn und herzlich willkommen im ICE der Deutschen Bahn nach München. Und wir wünschen eine angenehme Fahrt. Im Wagen acht im Bordbistro und Bordrestaurant ist leider unsere Klimaanlage ausgefallen. In diesem Wagen dürfen sich auch leider keine Fahrgäste heute aufhalten. Bitte nehmen Sie in der ersten wie auch in der zweiten Wagenklasse Plätze ein, Vielen Dank. (Atmo ab 0:34 bis Schluss zum Blenden)

Sprecherin: Rückblende. Februar 2001. Bundesparteitag der Grünen in Stuttgart. Endlich rückt der Schienenverkehr in den Blickpunkt der Politik. Bei der anstehenden Landtagswahl in Baden-Württemberg wollen sie punkten. Fritz Kuhn, heute Stuttgarter Oberbürgermeister und damals noch Parteichef der Grünen, begrüßt Kurt Bodewig. Der SPD-Politiker kommt als Bundesverkehrsminister und wird von Kuhn hofiert:

Cut 15: Ich darf Sie nochmal begrüßen bei der Bahnpartei der Bundesrepublik Deutschland: Bündnis 90 – Die Grünen (Beifall) Hier gehören Sie hin, lieber Herr Bodewig, auch wenn Sie Mitglied der SPD sind.

Sprecherin: Inzwischen würden sich viele Grüne dagegen verwahren, als Angehörige der „Bahnpartei“ bezeichnet zu werden. Sie setzen andere Zeichen. Wenige Tage vor der Bundestagswahl und in Begleitung von Kabinettskollegen besucht der baden- württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Automesse IAA in Frankfurt. Ein Zeitungsfoto zeigt den grünen Regierungschef und seinen Verkehrsminister Winfried Hermann, wie sie andächtig den Ausführungen des Porsche- Chefs lauschen. Wie Buben stehen sie vor einem neuen superstarken Porsche, der sowohl mit einem Benzin- als auch mit einem Elektromotor ausgerüstet ist. Porsche feiert das Fahrzeug als Beitrag zur angeblichen E-Moblität. Eine ähnlich publikumswirksame Lobby hat die Bahn nicht. Dabei misst zum Beispiel der Verkehrsgeograph Heiner Monheim, auf den sich grüne Kritiker der aktuellen

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Bahnpolitik gerne berufen, der Eisenbahn eine Schlüsselrolle in der Umweltpolitik zu. Monheim lehrt an der Uni Trier und wohnt in Bonn:

Cut 8: Wenn der Auftrag der Bahn is – und ich würde sagen, es muss der Auftrag sein, das wichtigste Instrument in der Klimapolitik zu sein. Und wenn wir außerdem auf den Verkehrsmarkt gucken und uns immer nochmal klar machen, dass 80 Prozent aller Personenmobilität Nah-Mobilität ist, also das bewegt sich im Bereich des Regionalverkehrs, dann ist klar: wir brauchen ganz viel Investitionen in die Kapazitäten der S-Bahnen. Wir haben viel zu wenig S-Bahn-Systeme und die S-Bahn-Systeme, die wir haben, sind viel zu wenig ausgebaut worden. Also Bonn und Köln – wir sitzen jetzt hier in Bonn – haben keine S-Bahn-Verbindung. Das ist absurd. Also wir sind mitten im Ballungsraum. In den großen Metropolen der Welt würde hier ein Fünfminuten-Takt auf der Schiene fahren und wir fahren hier mit Regionalbahn und Regionalexpress mit Ach und Krach im Halbstundentakt.

Sprecherin: Tatsächlich ist der Ballungsraum Köln-Bonn ein Musterbeispiel der zunehmenden Verstädterung. Zwar gibt es eine Straßenbahn, die beide Städte verbindet, aber ihre Kapazität ist begrenzt. Und im Großraum Köln droht der Straßenverkehr immer wieder zum Erliegen zu kommen, weil sich LKW-Schlangen über die Autobahnen winden. Das war auch Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig klar. Er schwärmte von der künftigen Rolle der Bahn.

Cut 16: Zentraler Bestandteil unseres Reformkonzeptes ist die Erhöhung des Verkehrsanteils an der Schiene. Und da hab ich mich eindeutig festgelegt: Wir werden bis zum Jahr 2015 den Güterverkehr auf der Schiene verdoppeln. Das ist ein verdammt ehrgeiziges Ziel. (Beifall an 0:16)

Sprecherin: Klingt phantastisch. Aber die Konkurrenz von der Straße ist der Eisenbahn längst davongefahren, im Personen- wie im Güterverkehr. Zwischen 2000 und 2012 nahm die Verkehrsleistung der Güterbahn auf deutschen Strecken viel weniger zu als erhofft. In wirtschaftsschwachen Phasen sinkt sie sogar stärker als bei der Konkurrenz der Brummis. Schuld daran sei letztlich die Bahnreform. Sie sei von Bahnchef Hartmut Mehdorn auf einen Schrumpfkurs getrimmt worden, nämlich für den Börsengang der Bahn, argumentiert Heiner Monheim. Er plädiert: „Bürgerbahn statt Börsenbahn“

Cut 9: Als der Mehdorn begonnen hat, hat er als erstes sich Zahlen vorlegen lassen: So ne durchschnittliche Weiche kostet so im Jahr 80.000 an Betriebskosten. Naja, hat er gesagt, nehmen wir die Hälfte raus. Das ist so, wie wenn ich sagen würde: Autobahnkreuze sind auch sehr teuer, jedes zweite machen wir zu. Autobahnauffahrten kosten auch ziemlich viel Unterhalt, machen wir doch jede zweite Autobahnauffahrt zu. Der ADAC würde sofort Amok laufen und im Bahnbereich ist das gemacht worden und da hat die Politik gejubelt: Hurra! Da kam ein großer Rationalisierer, ein sogenannter Sanierer, der durfte die Bahn kaputt sanieren.

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Sprecherin: Aber hat die Bahn in Deutschland überhaupt eine andere Wahl, als saniert zu werden, muss sie sich nicht gesundschrumpfen? Maria Leenen plädiert für die Konzentration der Bahn auf ihre Kernaufgaben. Die Volkswirtin ist Chefin des Beratungs-Unternehmens SCI (gesprochen: Es-Ze-I). Dessen Feld ist die Welt der Eisenbahn und Bahnindustrie. Kein anderes Verkehrsmittel sei so gut wie das gute alte Rad-Schiene-System geeignet, auf dem Landweg große Mengen an Waren und viele Menschen zu transportieren.

Cut 23: Wir haben in der Zukunft eher zentralisiertere Verkehre als dezentralisierte. Im Personenverkehr erleben wir ja im Augenblick grade vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung: Die großen Städte wachsen, auch bei uns. Hier meine Heimatstadt Hamburg wächst extrem. [Rundum haben Sie noch nen Speckgürtel.] Und auf dem platten Land, das blutet aus. Da werden Sie froh sein, wenn Sie noch mit dem Bus fahren können, streckenweise. Das heißt aber, dass ich in diesen Metropolen und zwischen den Metropolen Mengen hab, die transportiert werden müssen, die die Straße nicht schafft, die der Luftverkehr nicht schafft und wo die Schiene ein hervorragendes System ist. Nicht zuletzt deshalb haben wir diesen Boom im Hochgeschwindigkeitsverkehr, weil er zwischen den Metropolen die Mengen an Fahrgästen, die dort hin und her möchten, bewegt – und nicht im Netz.

Sprecherin: Die Bahn müsse also ihrer Aufgabe als Massenverkehrsmittel gerecht werden und deshalb die großen Achsen mit viel Verkehr bevorzugen. Das auch aus ökologischen Gründen. Heiner Monheim, der Streiter für eine Bürgerbahn, fordert dagegen: statt Konzentration auf ein Kern-Netz mit wenigen großen und gut ausgebauten Linien ein flexibles Schienennetz für die Fläche. Es soll auch kleinere Städte einschließen und Gleisanschlüsse für Fabriken und Speditionen reaktivieren statt abbauen:

Cut 24: Flexibilität im Netz bedeutet: es gibt viel mehr Weichen, es gibt eine dezentrale Betriebssteuerung. Also da kann ein Zug den anderen überholen ohne dass er zwanzig Kilometer hinter dem langsamen Güterzug her bummeln muss. Und deshalb sind die Weichen so ein zentrales Thema.

Sprecherin: Die Fakten: 1994 startete die erste Phase der Bahnreform. Damals gab es im Netz der DB knapp 140 Tausend Weichen, heute sind es noch 70 Tausend. Ihre Zahl hat sich also halbiert. Das Streckennetz schrumpfte zwischen 1994 und 2012 um mehr als 8 Tausend Kilometer. Die Zahl der Beschäftigten bei der Deutschen Bahn verringerte sich von 336 Tausend im Jahr 1994 auf mittlerweile 300 Tausend. Für viele Eisenbahner steht fest, dass die Beschäftigten in den Stellwerken die Folgen einer nach ihrer Auffassung falschen Konzernpolitik ausbaden müssen. Das Mainzer Stellwerk sei nur ein Beispiel von vielen, kritisieren Betriebsräte und Gewerkschafter. Bundesweit würden auf den Stellwerken rund tausend Fahrdienstleiter fehlen, klagen sie. Und allein in Baden- Württemberg hätten sich 2012 hunderttausend Überstunden angehäuft. [Die Personalpolitik der Bahn sei zu sehr vom verfügbaren Budget bestimmt worden und zu wenig vom absehbaren Bedarf an Fachkräften. Aber was tun? Tatsächlich sind junge Leute nicht mehr so einfach wie früher für einen Beruf bei der Bahn zu gewinnen. Auf

5 der Suche nach Arbeitskräften konkurriert das Staatsunternehmen mit Firmen der freien Wirtschaft.] Unterdessen hat das DB-Management den Beschäftigten einen Maulkorb verpasst. Sie dürfen nicht mit Außenstehenden über die Situation auf den Stellwerken reden, Besuche auf Stellwerken sind untersagt, basta. Auch Eisenbahner im Ruhestand sind enttäuscht von ihrem ehemaligen Arbeitgeber:

Cut 3: Das kann jeden Tag an jedem anderen Großstadtbahnhof passieren. Dann wissen wir´s. wenn´s in dene kleine Bahnhöfle passiert, dann wissen wir´s. Wenn do a paar Busse fahren müssen, weil niemand da is am Bahnhof, dann kriegen wir das nicht mit. ...

Sprecherin: ... sagt Hans Klotzbücher bei der 185. Montagsdemo gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21. Der pensionierte Eisenbahner bildete über viele Jahre Fachpersonal für Stellwerke aus, die sogenannten Fahrdienstleiter.

Cut 4: (Atmo zum Überblenden bis 0:09) Es ist nicht nur das Personal, das hinten und vorne fehlt bei der Bahn, die Infrastruktur ist marode. Es fehlt an Fahrzeugen, neuen Fahrzeugen. Wer soll´s bezahlen? Der Steuerzahler. Die Bahn? Ich versprech Ihnen, die Bahn kann des gar nicht. Stuttgart 21 stirbt, da bin ich sicher. Und hoffentlich bald, dass dieser Schwachsinn ein Ende hat. (reines Wort 0:22 / Beifall zum Blenden)

Sprecherin: Denn dieser sogenannte Schwachsinn verschlinge viel Geld, das für mehr Personal benötigt würde. Eine Auffassung, die Heiner Monheim als Befürworter der Initiative Bürgerbahn gegen Börsenbahn teilt:

Cut 7: Es fehlen die Leute, die zum Beispiel Klinken putzen, also die gewissermaßen vor Ort das Marketing und die Werbung für die Bahn machen, die Bahnverkehr verkaufen. Es fehlen Lokführer, es fehlt das Personal längs der Strecken, es fehlt in den Stellwerken das Personal. Im Prinzip träumen die alle von der vollautomatischen, durchrationalisierten Bahn, die aber im demographischen Wandel die falsche Antwort ist. Also Mobilitätsservice geht nur mit Menschen.

Sprecherin: Allerdings haben die Personalprobleme der Bahn mehrere Ursachen. Sicher spielt eine Rolle, dass Manager in einem fernen Hauptquartier Entscheidungen treffen, ohne wirklich zu verstehen, wie kompliziert der Bahnbetrieb draußen ist. So hat Rüdiger Grube inzwischen offen zugegeben, dass er zu naiv an seine Aufgabe als Bahnchef herangegangen sei. Mit der Überlegenheit eines ehemaligen Spitzenmanagers des Konzerns Daimler-Benz glaubte er den Moloch AG auf Vordermann bringen zu können. Die personellen Schwierigkeiten der Stellwerke in Mainz und anderswo weisen darüber hinaus auf ein grundsätzliches Dilemma hin. Die Eisenbahn in Deutschland steckt in der Zwickmühle. Einerseits müsste sie viel mehr Geld für Personal ausgeben, das nicht nur an Schlüsselstellen wie den Stellwerken benötigt wird. Andererseits verschlingt der Bau neuer Stellwerke und die Modernisierung der gesamten Infrastruktur Riesensummen. Denn nur so kann sie die Leistungsfähigkeit des Schienennetzes steigern und gleichzeitig Personal einsparen. Geld ausgeben für

6 mehr Personal und eine leistungsfähigere Infrastruktur, beides zusammen ist kaum möglich. Das sieht auch Martin Herion so. Er leitet die Geschäftsstelle Stuttgart der Eisenbahner- und Verkehrsgewerkschaft EVG.

Cut 26: Man muss logischerweise in Technik investieren. Technik bedarf natürlich auch Leuten, die die Technik bedienen. Also es ist unabdingbar, dass beides zusammenwachsen muss und dass man in beide Bereiche investieren muss. Die Bahn ist auf dem richtigen Weg, wenn sie das auch umsetzt, was sie derzeit auch proklamiert.

Sprecherin: Eine Aufgabe, die der Quadratur des Kreises gleichkommt. Schließlich erwarten Politik und Öffentlichkeit vom Staatsunternehmen Deutsche Bahn, dass es die Personal- und Betriebskosten im Zaum hält und das Bahnfahren nicht ständig teurer macht.

Cut 25: (Atmo Stellwerk Stuttgart-West. Beginnt unter der vorhergehenden Text-Passage. Ab 0:16)

Sprecherin: Erinnerung an das Stellwerk in Stuttgart-West. Es hätte ein wunderbares Vorbild sein können für Modelleisenbahner, die auf Bahnnostalgie stehen. 1993 wurde es stillgelegt:

Cut 25: (Atmo, darüber dann Telefon und Hebelgeräusche.)

Sprecherin: Das Stellwerk in Stuttgart West war eines von Hunderten sogenannter mechanischer Stellwerke. Sie hatten viel von einer Werkstatt, in der Männer – und in der DDR auch Frauen - mit Körperkraft Hebel wuchteten, um Signale und Weichen zu stellen. Die Hebel im Stellwerk waren über Stahlseile mit den Signalen und Weichen verbunden. Die Reichweite dieser Drahtzüge lag bei maximal 1800 Metern. Deshalb brauchten größere Bahnhöfe mehrere Stellwerke. In einer eigenen, genau festgelegten Sprache meldeten die Eisenbahner den Kollegen auf den nächsten Stationen, wenn beispielsweise ein Zug vorübergefahren war.

(Regie Cut 25: Man hört die Züge vorüberfahren)

Sprecherin: Den mechanischen Stellwerken folgten vielerorts sogenannte Drucktastenstellwerke. Auf einem Tableau sind in schematisierter Form die Gleise des Bezirks abgebildet, für den das Stellwerk zuständig ist. Wenn der Fahrdienstleiter einen Zug durch einen Bahnhof schleust, drückt er Knöpfe. [Auf dem Stelltisch oder an einer großen Tafel erscheinen Symbole, Nummern und Lichtbänder. Sie zeigen, wo sich der Zug gerade befindet und ob der folgende Gleisabschnitt so gesichert ist, dass kein anderer Zug ihm in die Flanke fahren kann.] 1949 ging das erste elektrische Stellwerk in Betrieb. Reichweite bei dieser Technik nun schon an die sieben Kilometer. Den elektrischen Stellwerken folgten die elektronischen, computergesteuerten Stellwerke, die ganze Regionen steuern und überwachen. Davon gibt es in Deutschland mittlerweile 36. Mechanische Stellwerke gehen nach und nach außer Betrieb. Die neueste Entwicklung sind elektronische Stellwerke, die sich in einer Art Baukastensystem erweitern lassen.

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Je nach Bedarf können einem zentralen Stellwerk sogenannte Unterstellwerke zugeordnet werden, die gar nicht mehr besetzt sind. Diese neue Stellwerksgeneration stellt einen weiteren Schritt der Zentralisierung des Bahnbetriebs dar und soll auch dazu beitragen, die Nebenstrecken wirtschaftlicher zu betreiben. Zwischen 1994 und 2012 ging bei der Deutschen Bahn AG die Zahl der Stellwerke zurück: von etwas mehr als siebeneinhalbtausend auf knapp 3.400. Planspiele sehen eine Handvoll Leitzentralen vor, die untereinander verbunden sind und den kompletten Bahnverkehr in Deutschland überwachen und steuern können. Allerdings: ein Defekt, ein Anschlag oder Hackerangriff könnte die ganze Bahn und mit ihr die Wirtschaft lahmlegen. Ein Gau, der bei den guten alten mechanischen Stellwerken nicht einmal im Krieg zu befürchten war. Martin Herion von der Eisenbahnergewerkschaft EVG sieht das Szenario einer solchen Zentralisierung gelassen:

Cut 27: Die Bahn hat des ja mal vorgehabt, aber des is natürlich ein Riesen-Investitionsbedarf und die Mittel hat die Bahn im Moment nicht. Wie´s weitergeht, steht in den Sternen. Sicherlich, ne einheitliche Stellwerkstechnik wäre wünschenswert, aber des sind Investitionskosten, die exorbitant hoch sind.

Sprecherin: Modernste Bahntechnik macht die Männer und Frauen im Betriebsdienst der Bahn nicht vollkommen überflüssig, weder Fahrdienstleiter in den Stellwerken, noch Lokführer und Zugschaffner. Das lehrt ein Blick in die Schweiz. Sie gilt als Musterland der Eisenbahn. Dort mussten sich die Verantwortlichen nicht wie in Deutschland mit einem schrumpfenden Bahnnetz beschäftigen. Es wurde im Gegenteil kontinuierlich ausgebaut. Doch auch in der Schweiz kratzten mehrere schwere Bahnunglücke und eine Zunahme der Verspätungen schwer am Image der Schweizerischen Bundesbahnen SBB. Seit Jahren warnen fachkundige Beobachter, die Instandhaltung des Schienennetzes würde in der Schweiz sträflich vernachlässigt, ein Vorwurf, wie er auch gegen die Deutsche Bahn erhoben wird. Unter dem Eindruck der letzten Unfälle hat sich die Kritik verschärft, wie zum Beispiel aus Zuschriften an die Neue Zürcher Zeitung hervorgeht:

Zitator: Überall spart man jetzt bei den Schweizerischen Bundesbahnen: bei Lokführern, Zugbegleitern, Stationspersonal, Zugsicherungseinrichtungen und der Wartung. Die Sicherheitssysteme sind vielerorts auf dem Stand des letzten Jahrhunderts, aber man hat keine Stationsbeamten mehr, die die Abfahrtserlaubnis erteilen. Das macht jetzt auch der Lokführer. Andreas Meyer hätte eigentlich schon in Berlin von Unfällen wegen Sparens lernen können.

Sprecherin: Besagter Andreas Meyer ist der Chef der Schweizerischen Bundesbahnen. Er war Manager der DB, bevor er in die Schweiz zurückkehrte. Meyer stammt aus einer „Bähnlerfamilie“, wie man in der Schweiz hochachtungsvoll sagt. Während seines Jurastudiums arbeitete er als Wagenreiniger bei den Schweizerischen Bundesbahnen. Die sind per Volksabstimmung dazu verpflichtet, den Taktverkehr auf wichtigen Verbindungen weiter zu verdichten und die Züge zu beschleunigen. Das funktioniert nur mit neuer Bahntechnik, wie der Schweizer Bahnchef Andreas Meyer im Schweizer Fernsehen sagte:

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Cut 10: Wenn wir die Sicherheit wirklich auf ein ganz hohes Niveau bringen wollen, dann brauchen wir ein neues System, das heute auch bekannt ist, ETCS Level 2. European Train Control System. Es ist vorgesehen, dass wir das schrittweise jetzt auch für die Strecken am Gotthard und dann auf weiteren Strecken einführen. Und das sollte nach heutiger Einschätzung dann abgeschlossen sein 2035.

Sprecherin: Wie dieses System funktioniert, lässt sich an der Eisenbahnstrecke zwischen Bern und Brig im Wallis studieren. Dort ist seit Dezember 2007 der 35 Kilometer lange Lötschberg-Basistunnel in Betrieb. Das Besondere an diesem Tunnel ist, dass er aus Kostengründen nur auf einem Teilstück zweispurig ausgebaut wurde. Eingleisige Abschnitte sind jedoch Kapazitätskiller. Schon deshalb muss ein Zug das Gleis möglichst schnell passieren um einem anderen Zug Platz machen. Der Computer berechnet, wann genau ein Zug in den Tunnel einfahren und wie er beschleunigen soll. Gesteuert und überwacht wird dieser Zugverkehr von einer Leitzentrale im Städtchen Spiez. Es liegt an der Stammstrecke der Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn nach Brig. Bei Unregelmäßigkeit können die Fahrdienstleiter sofort eingreifen. Die Erprobungsphase des European Train Control Systems (ETCS) lief nicht ohne Pannen ab. Jetzt funktioniert es wie geplant. Hochleistungsrechner müssen gewaltige Datenströme verarbeiten: sowohl über die Strecke und Werte für den Tunnel, als auch über die Fahrzeuge, die auf ihr unterwegs sind. Zwischen den on-bord-units der Lokomotiven und kleinen Kästchen, die im Gleisbett montiert sind, findet ein ständiger Austausch statt. Wenige Kilometer vor dem Lötschberg-Basistunnel beginnt der Abschnitt mit ETCS Level 2, erklärt Thomas Staffelbach von den Schweizerischen Bundesbahnen. Er begleitet die Fahrt des Intercity zwischen Bern und Brig. Kaum hat der Zug Spiez passiert, erscheint auf dem Bildschirm, den der Lokführer beobachtet, ein Auge. Das Symbol zeigt an, dass nun ETCS Level 2 aktiv ist und der Zug vom Stellwerk in Spiez aus gesteuert wird,

Cut 12: (Atmo bis 0:05) Jetzt hat der Lokführer angezeigt gekriegt die Streckenvoraussicht neu auf seinem Bildschirm, die anzeigt, wie weit voraus die Fahrstraße bereits gestellt ist. Im Moment sind das rund vier Kilometer, und er sieht das jetzt auf seinem Bildschirm, dass die nächsten vier Kilometer mit ETCS bereits gesichert sind. Die Fortschaltung erfolgt jetzt dann laufend. Jetzt fahren wir rein ins Portal dieses neuen Tunnels. Unsere aktuelle Geschwindigkeit beträgt 170, wir beschleunigen immer noch. Wir dürfen mit diesem Zug 200 fahren. Der Tunnel ist zugelassen für Züge bis 250 Stundenkilometer. Was jetzt auch auffällt natürlich: keine Außensignale mehr. Also der Lokführer, der kann sich auf die Bildschirme konzentrieren. Die ganze Information, was die Zugsicherung angeht, hat er auf seinem Bildschirm. Der Lokführer fährt jetzt sehr präzise mit 200 Stundenkilometern. Jetzt sind wir an der Spaltweiche vorbeigefahren, hier endet der Einspurabschnitt und es öffnen sich die beiden Röhren. Das ist auch eine Schnellfahrweiche, die mit 250 befahren werden kann. Und wir sind da tief im Berg drinnen. Dort herrscht eine erhöhte Temperatur über 30 Grad; und das stellt auch hohe Anforderungen an die Sicherungsanlagen, Rechner usw. im Tunnel innen und die werden mit Wasser gekühlt, damit sie in einer günstigen Betriebstemperatur sind. (Atmo ab 1:36 zum Ausblenden)

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Sprecherin: Dieses Leit- und Kontrollsystem mit dem Namen ETCS Level 2 kommt ohne Signale an der Strecke aus und soll an der Neubaustrecke Stuttgart – Ulm installiert werden. Vorher schon geht es an der bereits weit fortgeschrittenen Hochgeschwindigkeitstrecke in Betrieb, die durch den Thüringer Wald und über Erfurt nach Halle führt. Sie ist Teil der Achse München – Berlin und soll 2017 fertiggestellt werden. Inzwischen hat ein Kritiker von Stuttgart 21 ETCS auch für die Stuttgarter S-Bahn vorgeschlagen, um mehr Züge durch den zentralen S-Bahn-Tunnel schleusen zu können.

Cut 21: Ich glaube an die automatisierte Schiene, wo wir auf bestimmten Relationen gar nicht unbedingt auf einen Lokführer angewiesen sind, sondern das lässt sich zukünftig aus entsprechenden Stellwerken und Leitzentralen steuern.

Sprecherin: ... sagt Maria Leenen vom Beratungsunternehmen SCI. Aber wie viel Personal braucht die Bahn dann noch für ihre Stellwerke? Das ist eine Frage für die nächste Generation bei der Bahn. Der Eisenbahn-Gewerkschafter Martin Herion baut darauf, dass die Konzernführung der DB ihre Lektion aus dem peinlichen Stillstand in Mainz gelernt hat. Immerhin versprach sie, mehr Fahrdienstleiter für die Stellwerke auszubilden.

Cut 28: Also Mainz hat uns geholfen, dass jetzt die Personalpolitik der Bahn in den Focus gerückt ist, nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch bahnintern. Und dass sich Denke doch beim Management der Bahn geändert hat, und wir erwarten auch, dass sich diese Denke in den Betrieben widerspiegelt, dass dort ne Personalpolitik neu aufgestellt wird, die dem gerecht wird, was wir eigentlich an Aufgabenstellungen haben und nicht das Budget alles und allein glückselig machend ist, sondern dass man dann wirklich auf die Menschen eingeht, die bei der Bahn arbeiten.

Atmo: Sehr geehrte Fahrgäste, bitte beachten Sie nochmals, dieser Zug endet heute in Hauptbahnhof aufgrund der hohen Verspätungen. [Musik]

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