Stéphane Voell Das nordalbanische Gewohnheitsrecht Reihe Curupira, Band 17 herausgegeben vom Förderverein ›Völkerkunde in Marburg‹ e. V.

Dissertation im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Philipps-Universität Marburg

Nach dem Zerfall des sozialistischen Einparteienstaats in Albanien 1991 etablierten sich demokratische Prinzipien nur zögerlich im Land. Eine reaktualisierte Form des traditionellen mündlichen Rechts ›‹ trat besonders in Nordalbanien an die Stelle fehlender staatlicher Strukturen und bestimmt noch heute weite Bereiche des sozialen Lebens. In der vorliegenden Arbeit wird der Kanun als Habitus beschrieben und damit die Beständigkeit des lokalen Rechts über den Sozialismus hinaus in das demokratische Albanien diskutiert. Eine besondere Charakteristik des Kanuns liegt in der mündlichen Dimension seiner Praxis. Der Autor bezieht die abstrakte ethno- logische Perspektive ›Mündlichkeit‹ auf die spezifische ethnographische Realität des Kanuns.

Democratic principles have only slowly taken root in after the disintegration of the socialist one-party-state in 1991. A contemporary form of the traditional oral law ›kanun‹ took the place of missing state structures, especially in northern Albania, and today determines large parts of social life. In this book the kanun is described as a habitus and the resilience of the local law through socialist and well into democratic Albania is discussed. A peculiar characteristic of the kanun lies in the oral dimension of its practice. The author applies the abstract anthropological category ›orality‹ to the specific ethnographical reality of the kanun. Stéphane Voell Das nordalbanische Gewohnheitsrecht und seine mündliche Dimension

curupira Der Förderverein ›Völkerkunde in Marburg‹ e.V. wurde 1993 gegrün- det. Seine Aufgabe besteht unter anderem in der Herausgabe der eth- nologischen Schriftenreihen ›Curupira‹ und ›Curupira Workshop‹. Auskünfte erhalten Sie unter folgender Adresse:

Förderverein ›Völkerkunde in Marburg‹ e. V. c/o Institut für Vergleichende Kulturforschung – Fachgebiet Völkerkunde, Kugelgasse 10, 35032 Marburg/Lahn Tel. 06421/282-2036, Fax: 06421/282-2140, E-Mail: [email protected] www. curupira.de

© 2004 Curupira ISBN 3-8185-0395-8 ISSN 0945–8476 Druck: Difo-Druck, Bamberg Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany Inhaltsverzeichnis

Vorwort ...... 7

Einleitung ...... 13 Albanische Pyramiden ...... 13 Wiederentdeckungen ...... 22 Fragestellung...... 27

Was ist der Kanun? Beschreibung des Kanuns als Habitus ...... 35 Der Kanun in der Ethnographie ...... 40 Herleitung des Namens des Kanuni i Lekë Dukagjinit . . . 52 Der Kanun als Habitus ...... 59 Ehre und Ehrgefühl als Habitus ...... 65 Das Gefühl für das Spiel ...... 73 Das soziale Feld ...... 77 Beständigkeit des Habitus ...... 81 Rezeption und Beständigkeit des Kanuns bis 1944 ...... 84 Rezeption und Beständigkeit des Kanuns im Sozialismus . . 97 Schluss ...... 120

Die Rahmenbedingungen des Kanuns Kommunikationsverhältnisse ...... 123 Der Telegraf und das Orchester ...... 123 Produkt, Prozess und Prozessualität ...... 131 Der Begriff ›Kommunikationsverhältnisse‹ ...... 136 Der Kanuni i Lekë Dukagjinit als Quelle ...... 145 Die territoriale Dimension der nordalbanischen Gesellschaft ...... 149 Die verwandtschaftliche Dimension ...... 157 Versammlungen als Bindeglied zwischen den fis ...... 168 Die nordalbanische Gesellschaft nach dem Sozialismus . . 171 Die Bedeutung des fis nach dem Sozialismus ...... 178 Territoriale Ordnungen und Versammlungen nach 1991 . . 189 fis-Beziehungen in Bathore ...... 194 Die Ideologie des Kanuns ...... 205

Die Praxis des Kanuns Kommunikationsstil ...... 219 Epochen der Kommunikation ...... 219 Der Begriff des ›Kommunikationsstils‹ ...... 228 Vermittlung des Kanuns...... 236 Das Ablegen des Eides...... 240 Diebstahl ...... 244 Landkonflikt ...... 248 Konfliktvermittlung nach dem Kanun ...... 261 Blutrache ...... 276 Nichtregierungsorganisationen für Konfliktmediation . . . 292

Schluss ...... 307 Der Habitus Kanun und seine Beständigkeit ...... 309 Die Mündlichkeit des Kanuns ...... 314 Der Staat und der Kanun ...... 325

Literatur ...... 335 Abbildungsverzeichnis ...... 363 Zum Autor ...... 365 Vorwort

Im Rahmen meines Forschungsprojektes besuchte ich Albanien vier Mal. Ab Dezember 1998, noch vor Ende meiner Magisterprüfung, er- gab sich ein Albanisch-Sprachkurs. Erika Beermann, damals beschäf- tigt am Institut für Slawische Philologie der Philipps-Universität Marburg, vermittelte meinem Kollegen Andreas Hemming und mir Grundlagen der albanischen Sprache. Ein Dissertationsprojekt zum Thema Albanien war aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht geplant. Nach meinem Magisterabschluss im Februar 1999 ging ich das The- ma Albanien etwas intensiver an. Es stellte sich heraus, dass die Uni- versität Marburg eine Partnerschaft mit der Akademie der Wissen- schaften (Akademia e Shkencave) in Tirana zu Beginn der 1990er Jah- re eingegangen war. Über die Vermittlung von Erika Beermann und dem Referat für internationale Beziehungen der Universität Marburg konnte die erste Reise nach Albanien arrangiert werden. Im Septem- ber 1999, der Kosovo-Krieg war erst seit einigen Monaten beendet, reisten Andreas Hemming und ich nach Albanien. Wir wurden vom Institut für Volkskultur (Instituti i Kulturës Popullore) der Akademie der Wissenschaften in Tirana empfangen. Wir bereisten einige Orte in Südalbanien, in den Norden konnten wir auf Grund der immer noch angespannten Lage im benachbarten Kosovo nicht reisen. Ich disku- tierte mit Wissenschaftlern des Instituts über mein Forschungsvorha- ben. Das Thema ›Mündlichkeit‹ sollte zunächst alleine im Zentrum des Dissertationsprojektes stehen. Das oral tradierte albanische Ge- wohnheitsrecht ›Kanun‹ erschien als das ideale Beispiel, um mündli- che Kommunikationsstrukturen zu beschreiben. Wenige rezente ethnographische Berichte deuteten an, dass der Kanun nach dem Fall des Sozialismus zunehmend an Bedeutung gewann. Die albanischen Wissenschaftler im Institut für Volkskultur bestätigten die Relevanz

7 Vorwort des Themas und boten für die Zukunft organisatorische Zusammenar- beit an. Im August und September des folgenden Jahres konnte ich mit der Un- terstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) einen fünfwöchigen Sprachkurs an der Universität Tirana (Universiteti i Tiranës, Fakulteti i Historisë dhe i Filologjisë) besuchen. Neben dem Sprachkurs ergab sich die Möglichkeit zu Gesprächen mit albanischen Ethnologen und zum Quellenstudium in der Nationalbibliothek. Von Mitte August 2001 bis Mitte Februar 2002 erfolgte die inten- sivste Zeit meiner Feldforschung. Der sechsmonatige Aufenthalt wur- de wieder durch den DAAD unterstützt. Ich reiste in den Norden, vor allem nach Puka und nach Shkodra, und machte auch Forschungen in der Vorstadt von Tirana, in Bathore. Meine Arbeitsweise bestand hauptsächlich darin, mit Ältesten, Vorständen von Bruderschaften, Vermittlern oder Familienoberhäuptern semidirektive Interviews zu führen. Doch zahlreich sind die vielen Gespräche zum Thema Kanun, die ich spontan in den verschiedenen Forschungsorten führte. Die In- terviews machte ich auch in Tirana mit Juristen, Ethnologen, Vertre- tern von Nichtregierungsorganisationen (NRO) und vor allem mit nordalbanischen Migranten. Wichtig für die Informationssuche wa- ren weiterhin die Studien in der Nationalbibliothek und in den Archi- ven des Instituts für Volkskultur. Im April 2003 erfolgte die vorerst letzte, von der Südosteuropage- sellschaft unterstützte Reise nach Albanien. In relativ kurzer Zeit konnten noch einmal zahlreiche Interviews in Shkodra, Puka und Mirdita gemacht werden. Dieser letzte Aufenthalt sollte vor allem zei- gen, ob die Thesen in meinem Dissertationsprojekt in die richtige Richtung wiesen. Die 14-monatige Entwicklung des Landes nach meinem letzten Aufenthalt in Albanien deutete darauf hin, dass ge- wohnheitsrechtliche Strukturen sich überall dort etablierten, wo sich der Staat nicht nachdrücklich durchsetzen konnte. Mein Dissertationsprojekt wäre ohne die finanzielle Unterstützung von folgenden Stellen nicht möglich gewesen: Ich bedanke mich beim DAAD für die Unterstützung beim Sprachkurs im August und Sep- tember 2000 in Tirana und für das sechsmonatige Kurzzeitstipendium (Doktorandenstipendium im Rahmen des gemeinsamen Hochschul-

8 Vorwort sonderprogramms III von Bund und Ländern) von August 2001 bis Februar 2002. Weiter freute ich mich über die Unterstützung der Süd- osteuropagesellschaft, die meine Reise nach Albanien im April 2003 ermöglicht hatte. Schließlich erlaubte die Anstellung als wissenschaft- liche Hilfskraft mit Abschluss (April 1999 bis Juli 2000) und als wis- senschaftlicher Mitarbeiter (seit Juni 2002) am Fachgebiet Völker- kunde (jetzt Institut für Vergleichende Kulturforschung, Religions- wissenschaft und Völkerkunde) der Philipps-Universität Marburg, die relativ zügige Bearbeitung meines Forschungsthemas. Mein Begleiter in Albanien war der Ethnomusikologe Bledar Kondi vom Institut für Volkskultur, der bei fast allen Reisen nach Nordalba- nien dabei war. Die Feldforschung in Bathore führte ich mit Xhovalin Tarazhi, damals bei der NRO Co-Plan beschäftigt, durch. Ohne Erika Beermann wäre ich vermutlich nie nach Albanien gekommen. Für die Unterstützung in Deutschland und Albanien bedanke ich mich sehr bei Xhelal Ylli. Auch auf die Gefahr hin, dass ich viele Menschen ver- gessen werde, die für die Durchführung meines Forschungsvorhabens wichtig waren, nenne ich im Folgenden noch einige Personen, die mir in der einen oder anderen Weise in Albanien zur Seite standen: Gëzim Gurga (Universität Tirana); Afërdita Onuzi (Direktorin des Instituts für Volkskultur in Tirana); Aleksandër Kola, Xhemal Meçi, Rasim Gjoka (Albanische Stiftung für Konfliktlösung und Versöhnung von Streitigkeiten — Fondacioni Zgjidhja e Konfliktëve dhe Pajtimi i Mos- marrëveshjeve); Aleks Luararasi, Ismet Elezi (Juristen); Shkëlqim Bozgo (CAFOD, Tirana); Luan Deda, Adri Hartkoorn (Co-Plan); Shpresa Hudhri, Dhimitër Myzeqari (Nationalbibliothek, Tirana). Für die Korrektur des Manuskriptes und die zahlreichen Diskussio- nen meiner Hypothesen danke ich Ingo W. Schröder und für die Durchsicht der Endfassung vor allem Karsten Deicke. Mein Dissertationsprojekt wurde von Mark Münzel und Ulrike Krasberg betreut. Andreas Hemming war in Albanien ein sehr an- genehmer Gefährte und es wäre sehr schön gewesen, wenn wir länger zusammen in Albanien hätten forschen können. Groß war auch die Unterstützung meiner Eltern Danièle und Gerhard Voell und beson- ders von Simone Lehmann.

9 Vorwort

Diese Arbeit wäre ohne die Offenheit meiner nordalbanischen Ge- sprächspartnerinnen und -partner nicht durchführbar gewesen. Ich danke ihnen sehr für ihre Gastfreundschaft und Herzlichkeit.

Marburg im August 2004.

10 Abb. 1: Karte von Nordalbanien

Einleitung

Albanische Pyramiden Die Pyramide in der albanischen Hauptstadt Tirana steht am Boule- vard ›Dëshmorët e Kombit‹, der Prachtstraße der Stadt zwischen dem Skanderbegplatz und der Universität. Auf der einen Seite der Pyrami- de befindet sich der Amtssitz des Premierministers, auf der anderen Seite der kleine Fluss Lana. Die Pyramide ist ein beliebter Treffpunkt, wenn sich die Menschen in Tirana verabreden. Das Gebäude ist schwer zu verfehlen. Hier können auch internationale und nationale Zeitschriften gekauft werden. Vor der Pyramide wird in den Sommer- monaten eine Gaststätte eingerichtet und auf einer Großleinwand werden Musikvideos gezeigt. Kinder erklimmen das Bauwerk und rutschen an den Seiten hinunter. Satellitenschüsseln und Mobilfunk- sendemasten ›zieren‹ das Dach. Die Pyramide wird ›Nationales Kul- turzentrum‹ (Qendra Kombëtar e Kulturës) genannt, einige Male im Jahr finden hier auch Verkaufsmessen statt. Vor Jahren sah es an dieser Stelle noch ganz anders aus. Das graue Gebäude (Abb. 2) ist das ehemalige Enver Hoxha-Gedenkmuseum. Es ist am 16. Oktober 1988 zum achtzigsten Geburtstag Hoxhas ein- geweiht worden und beherbergte bis 1991 eine große Menge an Ge- genständen, die alle mit dem langjährigen Machthaber Albaniens in Beziehung standen. Hoxha selbst konnte der Eröffnung ›seines‹ Mu- seums nicht beiwohnen. Er starb am 11. April 1985. Viele Einwohner Tiranas bezeichnen dieses auffällige Gebäude als ›fliegende Untertas- se‹, die plötzlich in Tirana gelandet sei. Die Form des ehemaligen Hoxha-Museums ist jedoch tiefgründiger. Eine Architektengruppe unter der Leitung der Tochter Enver Hoxhas und ihres Ehemannes entwarf das Bauwerk, das angeblich fünf Millio-

13 Einleitung nen Dollar kostete. Einerseits war die Form einer Pyramide als An- spielung auf das ägyptische Vorbild in Gizeh bewusst gewählt. Das Museum kann als ein Mausoleum für Enver Hoxha verstanden wer- den. Andererseits stellt der Umriss des Gebäudes, von oben gesehen, einen schlafenden Adler dar.1 Die Albaner, die auch als ›Skipetaren‹ bezeichnet werden, wurden in der Vergangenheit oft als ›Adlersöhne‹ beschrieben und sie stellten sich selbst auf diese Weise dar.2 Über die Metapher des Pyramidenbaus im antiken Ägypten schil- dert der außerhalb Albaniens bekannteste albanische Schriftsteller Is- mail Kadare in Die Pyramide (1992) die Mechanismen eines tota- litären Staatsapparates von der Planung der Pyramide bis zu ihrer Er- richtung. Im Buch gibt es keinen offenen Verweis auf das Regime Hoxhas, aber zwischen den Zeilen schwingt das sozialistische Alba- nien mit. Die Pyramide ist ferner eine Metapher, mit der die patriar- chale nordalbanische Gesellschaftsstruktur beschrieben werden kann. Die Basiseinheit der nordalbanischen Gesellschaft und die unterste Ebene der ›traditionellen Pyramide‹ ist der Familienhaushalt (shtëpi oder familja). Er ist neben der verwandtschaftlichen auch eine soziale und ökonomische Einheit. Der männliche Haushaltsvorstand (i zoti i shtëpisë) verwaltet die familiären Angelegenheiten wie landwirtschaft- liche Arbeit und ökonomischen Besitz. Er vertritt die Familie nach au- ßen und ist für die Mitglieder seines Haushaltes verantwortlich. Eine Familie teilt sich, wenn sie zu komplex geworden ist oder es interne Streitigkeiten gibt. Es entsteht ein neuer Haushalt in der Nähe des Stammhauses. Beide Häuser zusammen bilden eine Bruderschaft (vllazni oder vëllazëri). Die Bruderschaften, die in räumlicher Nähe zueinander wohnen, nennt man këmbë (Bein, Pfosten). Die größte Einheit der segmentären nordalbanischen Gesellschaftsstruktur ist der fis (Clan oder Lineage), der die Familien, Bruderschaften und die këmbë einschließt. Die Mitglieder eines fis berufen sich alle auf einen gemeinsamen Urahn. Der fis steht an der Spitze der Pyramide.3 1 Gardes 1995: 138; Pettifer 2001 [1994]: 143-144. 2 Es wurde lange Zeit davon ausgegangen, dass shqiptar (albanisch) und Shqipëria (Albanien) auf shqipe (Adler) zurückzuführen sind. Rezente Forschungen zeigen allerdings, dass Shqipëria höchstwahrscheinlich auf shqiptoj (aussprechen) und shqipoj (klar und deutlich sagen, unmissverständlich reden) zurückgeht (Bartl 1995: 23). 14 Albanische Pyramiden

Abb. 2: ›Nationales Kulturzentrum‹ (Qendra Kombëtar e Kulturës), Bule- vardi Dëshmorët e Kombit, Tirana.

Unter der osmanischen Herrschaft über Albanien bis 1912 konnten die nordalbanischen fis auf eine weitreichende Autonomie bauen. Die Osmanen sahen keinen Sinn darin, das wenig erschlossene und öko- nomisch unbedeutende Bergland durch aufwendige militärische Ope- rationen zu unterwerfen. Die osmanische Verwaltung inkorporierte die fis nur locker, auf das Eintreiben von Steuern und das Anwerben von Söldnern legten die Osmanen jedoch Wert. In den fünfhundert Jahren osmanischer Kontrolle über Albanien konnten sich die fis- Strukturen auf Grund ihrer relativen Autonomie festigen. Diese ›tra- ditionelle Pyramide‹ blieb bis nach dem Ende der osmanischen Herr- schaft erhalten. Es gab in Albanien vor 1944 keine Staatsform, die dauerhaft bestand und die Nordalbanien nachhaltig in nationale Ver- waltungsstrukturen einzugliedern vermochte. Auch unter dem alba- nischen König Zog I blieben die fis mächtig, weil die starke Stellung des aus Nordalbanien stammenden selbst ernannten Königs auf den fis beruhte, denen er viele Zugeständnisse machen musste. Erst den Partisanen unter Enver Hoxha schien es im Zweiten Weltkrieg erfolg- reich zu gelingen, die Zerstörung der traditionellen Pyramide voran-

3 Im zweiten Kapitel diskutiere ich die traditionelle Gesellschaftsstruktur und ihre – hier vermischte – verwandtschaftliche (familja-Familie) und territoriale (shtëpi- Haus) Dimension. 15 Einleitung zutreiben. Die fis-Strukturen sollten jedoch nicht völlig verschwin- den, denn sie stellten das ideale Fundament einer neuen Gesellschafts- form dar – der Pyramide von Enver Hoxha. Der größte Feind der Sozialisten war das mündliche Gewohnheits- recht ›Kanun‹ und die nordalbanische Gesellschaftsstruktur.4 Der fis hatte in Hoxhas Vorstellung von Modernität keinen Platz, die ›primi- tiven Stämme‹ durften in einem sozialistischen Staat keine Existenz- berechtigung mehr haben. Einerseits versuchte das Regime, die Groß- familien zu schwächen, indem es ihre Häuser zerstörte und kleine Wohneinheiten für Kernfamilien schuf. Die öffentliche Anwendung des Kanuns bestraften die Sozialisten hart und verboten Praktiken wie arrangierte Heiraten, die für Nordalbanien typisch waren. Die sozia- listischen Machthaber nahmen Einfluss auf die Position der Frau und tauschten ihre familiäre gegen eine staatliche Abhängigkeit ein. Ande- rerseits nutzte das Regime die traditionellen Familienstrukturen aus. Der fis bedeutete Solidarität und gegenseitige Hilfe, doch auch große Autorität des Haushaltsvorstands, Konformismus und die unterge- ordnete Bedeutung des Individuums. Dies wusste Enver Hoxha für sein totalitäres Regime zu nutzen. Das ›Clan-Denken‹ bestimmte auch im Sozialismus weite Teile der Öffentlichkeit. Es gab ›gute‹ und ›schlechte‹ Familien. Verhielt sich je- mand in den Augen des Regimes regierungsfeindlich, dann brachte der Verdächtige seine ganze Familie in Gefahr. Alle Familienmitglie- der mussten Repressalien fürchten. Damit übernahm das Regime ein traditionelles nordalbanisches Motiv der rituellen Erniedrigung eines fis durch einen anderen, der dadurch an Prestige gewann. Ferner för- derte man im Sozialismus nicht den Individualismus als Gegenbewe- gung zur Großfamilie, sondern erweiterte diese Art ›traditionellen Autoritarismus’‹ durch die Treue zur Partei und die Verbundenheit mit dem Vaterland. Verriet ein Bürger seine ›Familie‹, verletzte er die Treue zu Enver Hoxha und seiner Partei. Hoxha wurde auf diese Wei- se zum Über-Patriarchen und patriarchalen Vormund. Nach dem Tod Enver Hoxhas folgte Ramiz Alia an der Spitze der Par- tei und des Landes.5 Es begann eine Phase der zaghaften Öffnung des iso- lierten Staates. Albanien baute diplomatische Beziehungen zu einigen 4 Champseix 1996: 56-57; Ditchev 1996: 32-38. 16 Albanische Pyramiden

Ländern auf. Die Verwaltungsstruktur innerhalb Albaniens wurde lang- sam dezentralisiert. Auch die politischen Veränderungen in Osteuropa am Ende der 1980er Jahre fanden über das italienische oder griechische Fernsehen und durch den ausländischen Rundfunk in Albanien Gehör. Albanische Intellektuelle wie Kadare wagten sich mit ihrer Kritik am so- zialistischen System erstmals an die Öffentlichkeit. 1990 folgten die ers- ten öffentlichen, teils gewalttätigen Demonstrationen und Ausschrei- tungen. Im Juli des Jahres besetzten viele Menschen einige westeuropäi- sche Botschaften. Die Hausbesetzer konnten nach einiger Zeit ausreisen. In der zweiten Hälfte des Jahres folgten Unruhen und Proteste von Stu- denten für mehr Demokratie. Der öffentliche Druck bewegte die Sozia- listen am 11. Dezember, die Gründung anderer Parteien zu erlauben. Am folgenden Tag wurde die Demokratische Partei unter Leitung von gegründet. Die erste nicht staatlich kontrollierte Zeitschrift er- schien in dieser Zeit das erste Mal. Die Unruhen im Land hielten weiter an, weil nach Meinung der Demonstranten der eingeschlagene Reform- weg nicht zügig genug voranschritt. In verschiedenen Wirtschaftszwei- gen wurde die Arbeit niedergelegt. So streikten etwa Arbeiter im Berg- bau, die ein höheres Gehalt von der Regierung forderten. In den ersten Monaten des Jahres 1991 verlor der Staat allmählich die Kontrolle über das Land. Die politische Krise hielt ganz Albanien in Atem und führte zu chaotischen Verhältnissen. Symbolischer Höhepunkt war der Sturz der Statue Enver Hoxhas auf dem Skanderbegplatz in Tirana am 20. Februar. In den folgenden Wochen kollabierte die Nahrungsmittelversorgung im Land und über 20.000 Menschen flohen mit Schiffen von Vlora und Dur- rës aus nach Italien. Die Sozialisten stimmten schließlich der ersten freien Wahl für den 31. März zu. Weil die Demokratische Partei in weiten Teilen des Lan- des noch nicht gut organisiert war, konnten die Sozialisten die Wahl noch gewinnen. Nach der Wahl blieben die Probleme des Landes die Gleichen. Der Zusammenbruch der albanischen Wirtschaft schritt weiter voran und die Inflation war nicht mehr zu stoppen. Große Tei- le der Bevölkerung reagierten mit einem lang andauernden General- streik. Auch 1992 verbesserte sich die Lage im Land nicht. Die wirt-

5 Bartl 1995: 270-274; Vickers 1997 [1995]: 210-228; Vickers/Pettifer 2000 [1997]: 10-80. 17 Einleitung schaftliche Situation wurde immer bedrohlicher. Es folgten weitere Massenemigrationen nach Italien und Griechenland. Innerhalb Alba- niens kam es zu einer großen Landflucht, viele Familien aus Nord- albanien besetzten Flächen der landwirtschaftlichen Universität und von ehemaligen Großbetrieben vor den Toren der Hauptstadt. In we- nigen Jahren entstanden um die ehemaligen Dörfer Kamza und Bat- hore urbane Gebiete, die bald mehrere Tausend Einwohner zählten. In Bathore bauten sich die Familien ihre Häuser, ohne dass Wasser, Strom, Kanalisation oder Straßen vorhanden waren. Lange Zeit hatten die Behörden keine Kontrolle über die neuen urbanen Zentren. Die Bevölkerung war gezwungen, sich selbst zu organisieren und Tradi- tionen des nordalbanischen Gewohnheitsrechts gewannen auch in den neu entstandenen Stadtgebieten an Bedeutung. Im März 1992 scheiterte die kurzzeitige Zusammenarbeit zwischen den Sozialisten und der Demokratischen Partei. Alia rief erneut Wah- len aus, die am 22. März durchgeführt wurden und die dieses Mal die Demokratische Partei gewinnen konnte. Am 4. April wurde Sali Be- risha Präsident Albaniens. Doch damit wurde die politische und wirt- schaftliche Krise im Land nicht beendet. Berisha hatte vor der Wahl mit großen Versprechungen für sich geworben. Die hohen Erwartun- gen und Versprechen konnte er nicht einlösen. Er stellte hohe auslän- dische Investitionen und eine rasche Integration Albaniens in die Eu- ropäische Gemeinschaft in Aussicht.6 Die neue Regierung demontierte nach ihrer Machtübernahme den sozialistischen Einparteienstaat und seine Institutionen, konnte aber keine nennenswerten Alternativen bieten. Mit der Auflösung der so- zialistischen Strukturen erfolgte ein landesweiter Zusammenbruch staatlicher Autorität. Dies betraf nicht nur die Wirtschaft, vielmehr entstand ein Klima der Unsicherheit, in der Kleinkriminalität, bewaff- neter Raub und Mord eine traurige Regelmäßigkeit aufwiesen. Immer noch migrierten viele Menschen nach Italien und Griechenland. Alba- nien konnte sich nicht mehr selbst versorgen und war fast völlig ab- hängig von ausländischen Hilfsleistungen. 1994 wurden zunehmend Vorwürfe an die Demokratische Partei er- hoben, dass die Partei Albanien mit Korruption, Vetternwirtschaft 6 Vickers 1997 [1995]: 230-253; Vickers/Pettifer 2000 [1997]: 227-290. 18 Albanische Pyramiden und einem patriarchalen Autoritarismus regiere. Die wirtschaftliche und politische Lage verbesserte sich nicht deutlich. In dieser Zeit führ- te man einige Schauprozesse gegen ehemalige prominente Sozialisten durch, die die albanische Bevölkerung auch von ihrem Alltag ablen- ken sollten. Berisha versuchte sich innerhalb einer neuen Verfassung mehr Rechte und Macht zu zuerkennen. Das Volk lehnte die neue Verfassung in einer Abstimmung ab. Das Jahr 1995 wurde durch die problematischen Folgen der Redistri- bution des im Sozialismus kollektivierten Landes bestimmt. Das Gesetz zur Dekollektivierung sah vor, dass das Land jenen Familien, die auf den ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) gearbeitet hatten, übertragen werden sollte. Doch die ehemaligen Land- besitzer forderten ihren nach der Machtübernahme Hoxhas beschlag- nahmten Besitz zurück. Gerade in Nordalbanien wurde das Landver- teilungsgesetz von den Behörden umgangen und das Land an die ur- sprünglichen Besitzer zurückgegeben. Unklar war weiterhin die rechtli- che Lage der vielen Migranten, die vor den Toren Tiranas Land besetzten und zu Tausenden ihre Häuser darauf errichteten. Die Räumungsversu- che der Orte wie Bathore und Kamza durch die Regierung schlugen fehl, weil sich die dort angesiedelten Menschen heftig wehrten. Weitere Pro- bleme gab es durch immer mehr Morde, die man auf Blutrache zurück- führte. Dabei handelte es sich einerseits um räuberische Banden, die sich mit dem Gewohnheitsrecht Kanun eine ideologische Legitimation kon- struierten, andererseits um Fälle von Blutrache, die während der sozialis- tischen Herrschaft unterdrückt waren, nun jedoch wieder ›erwachten‹. Die überforderte Polizei verfolgte Tötungen aus Blutrache häufig mit ei- ner gewissen Nachsicht und so kam es, dass viele Morde als Blutrache be- zeichnet wurden, selbst wenn sie in Südalbanien stattfanden, wo der Kanun schon vor dem Sozialismus nur noch geringe Bedeutung gehabt hatte. Im April 1996 versuchte die Demokratische Partei vor und während der Parlamentswahl mit fast allen Mitteln, ihre Macht an der Spitze des Staates zu erhalten. Die Regierung machte es den Oppositionsparteien sehr schwer, sich in den staatlich kontrollierten Medien zu präsentie- ren. Am Wahltag kam es zu offensichtlichen Manipulationen. Die so- zialistische und andere Parteien traten aus Protest nicht mehr zum

19 Einleitung zweiten Wahlgang an. Berisha bestätigte zwar gewisse Unregelmäßig- keiten, erklärte sich aber dennoch zum Sieger der Wahl und blieb wei- terhin Präsident. Nach der Wahl folgten Unruhen im Land und die Regierung verlor zunehmend die Unterstützung ausländischer Part- ner. Westeuropa sah seine Hoffnungen auf eine nachhaltige demokra- tische Entwicklung mit Berisha nicht mehr als gerechtfertigt an. Nordalbanien war in dieser Zeit von materieller Armut und Massen- emigration gekennzeichnet. Der Bauboom, der in Tirana und in den anderen Städten in der Ebene zu beobachten war, verstärkte die Un- terschiede zwischen dem ländlichen und dem städtischen Albanien. Nordalbanien besaß nur eine bescheidene Infrastruktur und die Dör- fer und größere Orte in den Bergen waren von Zentralalbanien quasi isoliert. Nordalbanien lag fern der Hauptstadt, der Regierung und auch einer geregelten Verwaltung. Dennoch blieb es im Hochland verhältnismäßig ruhig, verglichen mit der Unsicherheit im übrigen Land. Die Nordalbaner verwiesen auf ihre Traditionen, die ein geord- netes Zusammenleben trotz fehlender funktionierender staatlicher Instanzen ermöglichten. Sollte der Kanun wieder erstarkt sein, trotz der annähernd fünfzig Jahre stalinistischen Sozialismus? Die Pyrami- de der patriarchalen nordalbanischen Gesellschaftsstruktur schien weiterhin Bestand zu haben. Dafür fielen andere Pyramiden in Alba- nien wie Kartenhäuser in sich zusammen. Die so genannten ›Pyramiden-Gesellschaften‹ waren seit dem Ende des Sozialismus Bestandteil der albanischen Wirtschaft.7 Schon 1992 stürzten die ersten Pyramiden in sich zusammen und hinterließen über drei Mil- lionen US-Dollar Schulden. 1995 kamen weitere Konkurse hinzu, die Millionenschäden verursachten. Die albanische Bevölkerung ließ sich davon nicht beeindrucken und investierte weiter große Summen in die Pyramiden. Dramatisch wurde die Lage im Herbst 1996. Neun große Pyramiden-Gesellschaften warben bei der Bevölkerung um Investoren und versprachen monatliche Zinsen von acht bis fünfundzwanzig Pro- zent. Die geforderten Mindesteinlagen waren 50.000 Lek, 500 DM oder 500 US-Dollar. Die Gesellschaften konnten eine sehr große Anzahl von Investoren locken. Viele Menschen verkauften sogar ihre Wohnungen, um an noch mehr Geld zu gelangen, das sie in die Pyramiden investier- 7 Bezemer 2001: 6-10; Lipsius 1997: 253; de Waal 1998: 34. 20 Albanische Pyramiden ten. Noch heute zeigen sich die Menschen in Tirana beeindruckt von den riesigen Mengen Geld, die in den Gebäuden der Pyramiden-Gesell- schaften lagerten. Doch im Januar 1997 brachen die Unternehmen zu- sammen und lösten damit eine Phase in Albanien aus, die häufig als der ›letzte Krieg‹ bezeichnet wird. Das Pyramiden-Schema war denkbar einfach.8 Die Unternehmen benutzten das Geld neuer Investoren, um die Zinsen auf die bereits existierenden Einlagen auszuzahlen. Manchmal warben die Gesell- schaften in Albanien damit, dass sie das Geld in wohltätige oder Ge- winn bringende Zwecke investierten, doch dies war in der Regel ein Trick, um noch mehr Investoren für sich zu werben. Eine Pyrami- den-Gesellschaft investierte nicht, sie hatte dazu kein Geld, denn sie brauchte es für ihre eigenen Unternehmungen. Das Problem der Pyra- miden-Gesellschaften lag darin, dass, sobald neue Investoren gefun- den wurden und die Summe der Einlagen damit stieg, auch die Not- wendigkeit der Beschaffung neuer Investoren dramatisch anwuchs, damit die Zinsen weiterhin gezahlt werden konnten. Ein solches In- vestitionsschema fiel dann in sich zusammen, wenn keine neuen In- vestoren mehr zu finden waren. Die Bevölkerung, und damit die Men- ge an möglichen Investoren, war begrenzt. Die Pyramide war vom er- sten Tag ihrer Gründung zum Scheitern verurteilt. Wenn die Investo- ren knapp wurden und die Pyramiden-Gesellschaften untereinander in Konkurrenz standen, bestand die Möglichkeit, dass die Unterneh- men mit immer höheren Zinsen für sich warben. Damit stieg das not- wendige Investitionsvolumen und der Zusammenbruch der Pyramide rückte immer näher. Dem Kollaps der Pyramiden-Gesellschaften folgte in Zentral- und Südalbanien eine Phase der Anarchie.9 Große Teile des Militärs und der Polizei desertierten. Teile der Bevölkerung plünderten die Kaser- nen und entwendeten viele Tausend Waffen. Auch Rathäuser, Katas- terämter und Parteibüros der Sozialisten wurden ausgeraubt und verwüstet. Die Menschen zerstörten fast alles, was in einer Beziehung zum Staat stand, darunter auch die in der Hoxha-Zeit aufwendig ange-

8 Jarvis 2000: 2-3; Korovilas 1999: 408. 9 Jarvis 2000: 5; Krasztev 2000: 197-198; Lipsius 1997: 255; Nicholson 1999: 553-555. 21 Einleitung legten Terrassenfelder, auf denen Olivenhaine und andere landwirt- schaftliche Erzeugnisse angebaut wurden. Viele Albaner zerstörten große Teile ihrer eigenen Lebensgrundlage. Die Krise war nicht nur auf den immensen finanziellen Schaden zurückzuführen, den die Py- ramiden hinterlassen hatten. Die heftige Reaktion der Bevölkerung erklärte sich auch dadurch, dass die Menschen eine starke Verbindung zwischen der regierenden Demokratischen Partei und dem einge- stürzten Finanzsystem herstellten. Sogar Präsident Berisha soll für die Investition in die Pyramiden-Gesellschaften geworben haben. In der Bevölkerung gab es ferner große Unzufriedenheit über Misswirt- schaft und Korruption in der Regierung. Die Finanzkrise führte schließlich dazu, dass die Frustration in der Bevölkerung in gewalttä- tige Proteste ausartete. Letztlich förderte die sehr autoritäre Haltung der Regierung gegenüber der Bevölkerung während der Krise den of- fenen Bruch zwischen dem Staat und den Bürgern.10 Es gibt keine verlässlichen Statistiken oder andere Quellen zur Lage Nordalbaniens während der Krise im Jahre 1997. Die Menschen in Albanien sagten häufig, dass die Sicherheitslage in den nördlichen Regionen des Landes relativ stabil war. Als Begründung dafür nennen Nordalbaner den Kanun. Die traditionelle Pyramide konnte sich in Nordalbanien offenbar erhalten, während andere Pyramiden im Land wie die Überreste des sozialistischen Staates und die Finanzpyra- miden in sich zusammenfielen. Die Nordalbaner zogen sich in ihre fis-Beziehungen zurück und der Alltag wurde von Normen des Kanuns bestimmt. In dieser Zeit der Krise enttäuschte der demokra- tische Staat viele Hoffnungen bei der Bevölkerung, die sich zuneh- mend vom Staat abwendete. Noch heute bestimmt der mündlich tradierte Kanun viele Bereiche des sozialen Lebens der Nordalbaner. Ein besonderes Charakteristikum des Kanuns ist seine mündliche Dimension. Wiederentdeckungen Das Thema Mündlichkeit hat eine lange Tradition in der Ethnologie. Das liegt zu einem großen Teil daran, dass die Gesellschaften, mit de- nen sich die Ethnologie in der Vergangenheit meist beschäftigt hat, 10 Cungu/Swinnen 1999: 609. 22 Wiederentdeckungen

›schriftfern‹ waren.11 Zum anderen waren und sind orale Produktio- nen mündlich geprägter Kulturen zum Teil noch wichtige Themen der Ethnologie. Die untersuchten mündlichen Ausdrucksformen wa- ren meist Mythen, Erzählungen oder andere Formen ›oraler Litera- tur‹. Oralität wurde in den vergangenen Jahren als Thema in der Ethno- logie und ihren Nachbarwissenschaften wieder populär, auch in Ver- bindung mit der so genannten ›performativen Wende‹, das heißt dem Blick der Forschung auf kollektiv aufgeführte performative Prozesse als Darstellungen zentraler kultureller Themen. Innerhalb der perfor- mativen Wende in Teilen der Ethnologie strebte man die Abkehr von einer rein hermeneutischen Betrachtung der Kultur als Text an. Der Mensch springt gewissermaßen aus dem Mythentext heraus und soll von der Ethnologie ›in seiner Bewegung‹ aufgefangen werden. Wenn Oralität nicht nur auf das gesprochene Wort reduziert wird, sondern ebenfalls den Kontext und die Protagonisten der ›Sprechsituation‹ be- rücksichtigt, dann ist nachvollziehbar, wie der Performance-Begriff die Oralitätsforschung erweiterte.12 Schon in den 1960er Jahren begann eine Diskussion um eine wieder- kehrende Form von Oralität.13 Die Einführung neuer technischer Möglichkeiten im Bereich der Kommunikation verhalf der Mündlich- keit über Telefon, Radio oder Fernsehen zu einer neuen Geltung. Walter J. Ong (1982) spricht von ›secondary orality‹ und Paul Zum- thor (1983) von ›oralité méquaniquement médiatisée‹. Erst in der se- kundären Oralität, so Ong, und dem Kontrast der durch eine neue Mündlichkeit geprägten Epoche zur Schriftlichkeit, konnte die Un- tersuchung der Unterschiede zwischen Oralität und Literalität begin- nen.14 Damit ist gemeint, dass erst die sekundäre Oralität es möglich machte, die primäre Oralität zu erörtern. Dies erfolgte vor allem durch Eric A. Havelock (1962) und Jack Goody (1963), die die Konse- quenzen des Einbruchs der Schrift auf Oralkulturen untersuchten. Die so genannten ›Great Divide-Diskussionen‹ beschrieben sie vor al-

11 Den Ausdruck ›schriftfern‹ führt Münzel (1986) ein. 12 Siehe Sherzer/Bauman 1989 [1974]. 13 Siehe McLuhan 1997 [1962]; 1999 [1964]. 14 Ong 1999 [1982]: 3. 23 Einleitung lem am Beispiel des antiken Griechenlands vor und nach Einführung der Schrift und dem sozialen Wandel, der mit dem neuen Kommuni- kationsmedium Schrift einherging. Die betont technozentrische Per- spektive, die Übertragung lokaler schriftbedingter Entwicklungs- prozesse auf ein allgemeines Kulturwandelmodell und die häufig po- sitiv konnotierte Einführung der Schrift, polarisierte die Meinung zu den Great Divide-Diskussionen.15 Neuen Aufwind erfuhr die Diskus- sion um unterschiedliche Epochen, die sich durch einen spezifischen Kommunikationsstil auszeichnen, über den Einfluss neuer Medien, wie Computer oder Handy, die Änderungen im kommunikativen Handeln einer Gesellschaft mit sich bringen können.16 Diese Arbeit ist nicht als ein Beitrag zur Great Divide-Diskussion zu verstehen, vielmehr werde ich die Metaperspektive der Mündlich- keit-Schriftlichkeit-Debatte verlassen. Es geht mir um eine Typologie der Oralität anhand eines konkreten Beispiels, des nordalbanischen Gewohnheitsrechts ›Kanun‹. Die abstrakte kommunikative Perspek- tive ›Mündlichkeit‹ soll auf die spezifische ethnographische Realität des Beispiels bezogen werden. Dabei will ich nicht den Kanun als mündliches Produkt beschreiben, beispielsweise als Mythe oder ›orale Literatur‹. Diese Herangehensweise läuft meist auf eine Unter- suchung der Struktur eines Textes hinaus. Ebenso wenig geht es mir um die Schilderung einer oder mehrerer Performances des Kanuns. Meines Erachtens ist ein Buch kein ideales Medium für die Dar- stellung einer Performance. Die Performance beinhaltet eine Insze- nierung so vieler kommunikativer Elemente, dass man sie mittels der schriftlichen Form allein nur ungenügend wiedergeben kann. Mit der Beschreibung der Typologie der Mündlichkeit des Kanuns meine ich die Herausarbeitung ihrer Prozessualität. Es sollen generelle Charak- teristika herausgearbeitet werden, die mittels eines deskriptiven Be- griffsapparates die Mündlichkeit des Kanuns erläutern. Das nach dem Sozialismus wieder entdeckte albanische Gewohn- heitsrecht hat in der Erforschung Albaniens eine lange Tradition. Schon Johann Georg von Hahn beschrieb in Albanesische Studien (1954) die verschiedenen Aspekte des Kanuns, wie die Versöhnung

15 Siehe bspw. Bloch 1998b; Finnegan 1988. 16 Siehe Schröder/Voell (Hrsg.) 2002. 24 Wiederentdeckungen von Blutrache, die überregionalen Versammlungen der fis und die Ge- sellschaftsstruktur.17 Heutzutage ist das Thema ›Kanun‹ in Albanien wieder sehr präsent.18 Wenn ich in Albanien Menschen kennen lernte und im Gespräch mich und mein Forschungsvorhaben vorstellte, dann erhielt ich von der Mehrzahl der Personen einen spontanen Kurzvortrag zum Kanun aus ihrer Sicht. Der Kanun polarisierte die Meinungen. Entweder hörte ich ein flammendes Plädoyer für das Ge- wohnheitsrecht, in dem die Gesprächspartner manchmal sogar so weit gingen zu fordern, dass der Kanun eins zu eins als staatliches Recht übernommen werden sollte. Oder die Gesprächspartner positionier- ten sich in aller Schärfe gegen den Kanun. Die meisten Nordalbaner, mit denen ich sprach, redeten nicht mit großer Begeisterung über ›ihren‹ Kanun. Sie sagten, dass der Kanun nach dem Fall des Sozialismus wieder relevant geworden sei, weil die staatlichen Strukturen völlig zusammengebrochen wären und sich der neue demokratische Staat mit seiner Verwaltung noch nicht vollstän- dig hätte etablieren können. Viele Nordalbaner würden funktionie- rende staatliche Strukturen dem Kanun vorziehen. Der Kanun war für die Menschen eine Realität und kein Mythos, auf den man sehnsüchtig zurückblickt. Jedoch waren Wissenschaftler oder viele Personen aus Zentral- und Südalbanien nicht der Meinung, dass man heutzutage überhaupt von Kanun in Nordalbanien sprechen könnte. Das, was die Nordalbaner Kanun nennen würden, seien höchstens Überreste da- von. Schon lange sind die Meinungen über den Kanun ein Spiegel der po- litischen Lage und der herrschenden Ideologie in Albanien. Im aktuel- len Albanien ist die Rezeption des Kanuns auf den ersten Blick paradox, weil der Kanun einerseits verdammt, andererseits als bedeu- tende kulturelle Errungenschaft gepriesen wird. Beispielsweise rea- gieren albanische Wissenschaftler und Politiker sehr empfindlich, wenn Ausländer von einem aktuell praktizierten Kanun in Nordalba- nien sprechen. Diese Haltung gegen ausländische Positionen zum Ge- wohnheitsrecht findet sich auch in vielen Abhandlungen, die während

17 Hahn 1854: 175-179; 1868. 18 Zur Etymologie des Wortes ›Kanun‹ siehe Assmann 2000 [1997]: 106-107; Elezi 2000b: 16; Godin 1954: 3, FN 1; Pupovci 1972c: 109. 25 Einleitung des Sozialismus geschrieben wurden. Über die Darstellung des Ka- nuns und der Blutrache, so fürchteten Autoren im Sozialismus, sollte die ›Primitivität‹ der Albaner dargestellt werden. Tatsächlich war dies häufig der Fall. Wenn nun im demokratischen Albanien wieder vom Kanun in Nordalbanien berichtet wird, fühlen sich Wissenschaftler und Politiker wiederum brüskiert, weil sie davon ausgehen, dass das Gewohnheitsrecht stets mit Primitivität konnotiert werde, die man nicht mit dem heutigen Albanien assoziiert wissen will. Der Kanun sei jedoch auch Teil der albanischen Identität. Er habe es den Albanern erlaubt, fünfhundert Jahre türkische Herrschaft zu überstehen. Aus einer historischen Perspektive wird der Kanun paradoxerweise nicht mehr als Kennzeichen einer primitiven Gesellschaft verstanden. Im Gegenteil, der Kanun wird wie eine Verfassung präsentiert, der das soziale Leben und die traditionelle Justiz strukturiert. Ferner sind zentrale Konzepte des Kanuns, wie und Ehre, wichtige Bestand- teile der albanischen Kultur. Ehre ist die gesellschaftliche Beurteilung des Individuums und dessen Selbsteinschätzung nach gesellschaftli- chen Normen. Bei ehrvollem, das heißt Norm gerechtem Verhalten erhält der Einzelne Prestige. Besa hingegen ist ein schwer einzugren- zender Begriff. Er bedeutet gleichermaßen freies Geleit, Burgfrieden, Ehrenwort, Treue, Vertrauen, Glaube und Kredit. Beide Begriffe dis- kutiere ich im Verlauf der Arbeit. Der Kanun, auf den heute meist verwiesen wird, ist der Kanuni i Lekë Dukagjinit (1933). Diese schriftliche Fassung des Kanuns stammt aus der Feder des Franziskaners Shtjefën Gjeçov, der zu Be- ginn des zwanzigsten Jahrhunderts in verschiedenen Gemeinden Nordalbaniens als Pfarrer tätig war und ethnographische Informatio- nen sammelte. Über den Kanun berichtete Gjeçov in einer nordalba- nischen, von Franziskanern herausgegebenen Zeitschrift. Der Kanuni i Lekë Dukagjinit wurde 1933 posthum in einem Band veröffentlicht. Diese Kanun-Version gehört zu den ersten umfassenden ethnographi- schen Werken albanischer Gelehrter und stellt noch heute eine wichti- ge Quelle dar. Das Buch kann man in fast jeder albanischen Buch- handlung erwerben. Gjeçov hat seine Version des Kanuns genau strukturiert. Es gibt eine Aufteilung in Kapitel, Paragraphen und Absätze, die alle durchnum-

26 Fragestellung meriert sind. Der Text erweckt durch seine Form den Eindruck eines alten Gesetzbuches aus ferner Zeit. Über die Präsentation des mündli- chen Gewohnheitsrechts in dieser Form prägte Gjeçov auch den Um- gang mit dem und die Vorstellung vom Kanun. Das Bild, das man sich von dem nordalbanischen Gewohnheitsrecht macht, ist jenes einer ›Buch-Sicht‹. Der mündliche Charakter des Kanuns wird meist über- gangen. Der Kanun wird so zu einem abstrakten Gesetz, das zu einer bestimmten Zeit in Albanien in Kraft war. Wenn man Gjeçovs Versi- on als alleinige Quelle zur Betrachtung des Kanuns auch in heutiger Zeit verwendet, wirkt das Gewohnheitsrecht natürlich sehr anti- quiert. Viele Normen aus Gjeçovs Text passen nicht mehr in die heuti- ge Zeit, weil die sozialen Rahmenbedingungen sich geändert haben. Die ›Buch-Sicht‹ auf den Kanun kann bei der Betrachtung des Ge- wohnheitsrechts zu vielen Missverständnissen führen. Der Text von Gjeçov ist seine persönliche Zusammenstellung, die er auf Grund seiner Forschungen gewählt hat. Alle der genau aufgelisteten Regeln kannte in dieser Form kein Ältester. Es hat deswegen auch keinen Sinn zu sagen, dass der Kanun nicht mehr existiere, weil die Ältesten die Regeln im Kanun von Gjeçov heute nicht mehr kennen oder auswendig aufsagen können. Es gab und gibt keinen Kodex, auf den die Nordalbaner hätten zurückgreifen können. Der Kanun wird einerseits über Sprüche weitergegeben. Das sind meist kurze oder bildhafte Sätze, die einen komplexen Zusammen- hang verdichtet wiedergeben. Für sich alleine haben sie keinen Sinn und sind keinesfalls als Regeln zu verstehen. Andererseits wird der Kanun über die Sozialisation des Einzelnen im nordalbanischen so- zialen Umfeld internalisiert. Der Kanun ist keine nordalbanische Ge- setzessammlung, er ist besser beschrieben als ›Habitus‹. Fragestellung In dieser Arbeit stehen die Fragen im Zentrum, warum der nordalba- nische Kanun und seine mündliche Dimension noch heute relevant sind und wodurch die heutige Praxis des Gewohnheitsrechts charak- terisiert wird. Diese Fragestellung bespreche ich anhand von drei Leit- linien. Erstens wird über Pierre Bourdieus Habitus-Konzept erklärt, warum man auch im heutigen Albanien von einem existierenden Ka-

27 Einleitung nun sprechen kann, und dargelegt, wie das Gewohnheitsrecht und sei- ne Mündlichkeit mit den sozio-ökonomischen Bedingungen Nordal- baniens zusammenhängen. Zweitens wird die Plurimedialität mündli- cher Kommunikationsformen vor allem am Beispiel der Konflikt- mediation beschrieben. Schließlich wird deutlich werden, warum staatliches Recht in Nordalbanien nur langsam greifen und der Kanun auch zukünftig keine zu vernachlässigende Größe darstellen wird. Meine erste Argumentationslinie beruht auf dem Habitus-Konzept Bourdieus. Der Habitus besteht aus ›Systemen dauerhafter Disposi- tionen‹, die auf einzelne Individuen wirken. Der Habitus des Men- schen ist durch strukturierte Anlagen gekennzeichnet, die sein Den- ken und Handeln bestimmen. Generiert wird der Habitus durch die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen der Mensch lebt. Damit steht der Habitus in einer Wechselbeziehung zu seinen gesellschaftli- chen Bedingungen. Der Habitus bildet sich über die Sozialisation der Individuen in der Gesellschaft heraus, die durch spezifische sozio- ökonomische Rahmenbedingungen bestimmt wird. Der Sozialstruk- tur kommt hierbei eine besondere Rolle zu, weil der Habitus von der klassenspezifischen Position des Menschen abhängig ist. In weniger komplexen Gesellschaften, die keine differenzierte Klassenstruktur aufweisen, ist der Habitus der Individuen generell ähnlich. Die objektiven Bedingungen des Habitus nennt Bourdieu ›soziales Feld‹. Zwischen sozialem Feld und Habitus besteht ein wechselseiti- ges Verhältnis. Das soziale Feld generiert den Habitus des Menschen. Über die soziale Praxis, die auf der Grundlage der inkorporierten Dis- positionen erfolgt, werden wiederum die Strukturen des sozialen Fel- des bestätigt. Habitus und soziales Feld bedingen und verstärken sich einander. Nur wenn die Praxis des Habitus dauerhaft auf ein soziales Feld stößt, das sich stark von dem sozialen Feld unterscheidet, in dem der Habitus ursprünglich generiert wurde, kommt es zum Hinterfra- gen des Habitus. Der Kanun ist meines Erachtens adäquat mit dem Habitus-Konzept beschrieben. Das Gewohnheitsrecht wird damit das Produkt be- stimmter sozio-ökonomischer Bedingungen. Der Kanun besteht für die Nordalbaner nicht nur aus Regeln und Normen, die man als zivil- oder strafrechtlicher Natur bezeichnen kann, der Kanun kann auch

28 Fragestellung die Sitzordnung beim Hochzeitsbankett vorgeben oder wie eine Stra- ße gebaut werden muss. Viele Regeln, die Gjeçov zu Beginn des zwan- zigsten Jahrhunderts aufgeschrieben hat, haben im heutigen Albanien keine Relevanz mehr. Das heutige soziale Feld des Kanuns jedoch, welches durch die soziale und topographische Isolation, die patriar- chale Verwandtschaftsstruktur, eine bestimmte Wirtschaftsform und die spezifische Ideologie des Kanuns (unter anderem Ehrbegriff und besa) gekennzeichnet ist, gleicht dem sozialen Feld Nordalbaniens vor einem Jahrhundert sehr. Meine These lautet, dass die spezifischen so- zio-ökonomischen Bedingungen, wie sie von zahlreichen Ethnogra- phen und Reisenden zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts be- schrieben wurden, in ihrer Grundstruktur heute noch anzutreffen sind. Daher kann man auch im heutigen Albanien von einem prakti- zierten Kanun sprechen. Den Habitus Kanun verstehe ich als einen Satz von Dispositionen, die durch ideologische Konzepte wie Ehrbegriff und besa gekenn- zeichnet sind. Der Kanun gibt Normen, Regeln und Wertvorstellun- gen vor. Dies geschieht jedoch nicht in der Form einer gesetzlichen Vorschrift, sondern es handelt sich um Handlungsrahmen, die sich in der individuellen Praxis bewähren müssen. Es sind nicht ausschließ- lich Vorgaben, die ausdrücklich bei deviantem Verhalten wichtig wer- den. Sie bilden die allgemeine Grundlage des sozialen Handelns. Da das soziale Feld des Habitus Kanun in seinen grundlegenden Struktu- ren vom Ende der osmanischen Herrschaft in Albanien bis in den So- zialismus hinein weitestgehend bestehen blieb, war der Kanun dauerhaft bedeutsam. Der Habitus in Nordalbanien traf in seiner Wechselbeziehung mit dem sozialen Feld stets auf sozio-ökonomi- sche Bedingungen, die dem Feld, in denen die Akteure sozialisiert wurden, gleichen. Äußere Einflüsse waren nicht stark genug, die Di- alektik zwischen Feld und Habitus aufzubrechen, weil die Grund- struktur des sozialen Feldes nicht nachhaltig verändert werden konnte. Das zweite Thema der vorliegenden Arbeit ist die Darstellung der Plurimedialität mündlicher Kommunikation am Beispiel des albani- schen Gewohnheitsrechts. Der Kanun ist ein mündliches Gewohn- heitsrecht. Mit der Oralität des Kanuns ist nicht nur die orale Über-

29 Einleitung lieferung von Regeln gemeint, die mündliche Dimension des Habitus Kanuns ist ein grundlegendes Element seiner Struktur. Weder ist Ora- lität auf das gesprochene Wort reduzierbar, noch geht es mir um eine Gegenüberstellung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit.19 Schrift und mündliche Rede sind Teil des kommunikativen Repertoires. Eine so genannte ›Schriftgesellschaft‹ bedeutet nicht, dass jegliche mündli- che Kommunikation nun auf schriftlichem Wege durchgeführt wird. Bei der staatlichen Rechtssprechung beispielsweise haben mündliche Reden stets eine Bedeutung, doch der Schrift wird in der Rechtspraxis eine zentrale Rolle zugebilligt. Mündlich gemachte Aussagen gelten in der Regel nur, wenn sie schriftlich fixiert werden. Der Unterschied zwischen überwiegend mündlich und überwiegend schriftlich gepräg- ten sozialen Feldern besteht in der unterschiedlichen Hierarchisie- rung der Kommunikationskanäle. In schriftlich bestimmten sozialen Feldern wird dem aufgeschriebenen Wort eine höhere soziale Bedeu- tung beigemessen als den anderen Medien des kommunikativen Re- pertoires der Gesellschaft. Das Repertoire von ›schriftfernen‹ Gesell- schaften ist eher vertikal strukturiert und komplexerer Natur. Münd- liche Kommunikation ist performativ und eher körperbetont. Bewe- gungen, Gesten, Spiel, Tanz oder Ritual können eine tragende Rolle spielen. Ferner können Kleidung oder Körperbemalung wichtige Aspekte der Kommunikation darstellen. Die mündliche Kommuni- kation ist an die kommunizierenden Menschen gebunden. Sender, Nachricht und Empfänger sind gleichermaßen präsent. Mündlichkeit ist plurimediale Kommunikation. Keine besondere Form der Kom- munikation ist als sozial so wichtig einzustufen, wie das bei der Schrift in schriftbetonten Kommunikationskulturen der Fall ist. Die mündliche Dimension des Kanuns stelle ich am Beispiel der Konfliktmediation dar. Konflikte, Diebstähle oder Landstreitigkeiten werden in der Regel durch Älteste vermittelt. Die Ältesten sind gesell- schaftlich anerkannte Personen, die Prestige besitzen und den Ruf ha- ben, neutrale Schlichter zu sein, soziale Kompetenz aufweisen und denen die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens im Dorf eine wich- tige Angelegenheit ist. In den Mediationsverfahren streben die Ältes-

19 Siehe Finnegan 1970: 5-10; Münzel 1986: 163-165; Schröder/Voell 2002: 12-16; Bauman/Sherzer 1989 [1974]: 7; Zumthor 1983: 30-31. 30 Fragestellung ten in meist langwierigen Diskussionen eine Lösung des Konfliktes auf der Basis von Kompromissen an. Außer im Falle eines Diebstahls geht es nicht darum festzustellen, welche Partei die Schuldige ist und welche recht hat. Ein Kompromiss darf keine Konfliktpartei brüskie- ren. Ein wichtiger Bestandteil der Mediation ist die Versöhnungszere- monie, die den Abschluss des Vermittlungsprozesses darstellt. Es gibt kleine Zeremonien, was gemeinsames Trinken einer Tasse Kaffee und eines raki sein kann. Die Zeremonien nach der Versöhnung einer Blutrache hingegen sind aufwendig und sehr viele Menschen nehmen daran teil. Die Versöhnungszeremonie führt der Öffentlichkeit die im Mediationsprozess erreichte Lösung vor. Ohne eine Zeremonie ist eine Konfliktvermittlung nicht vorstellbar, denn keiner im Dorf wür- de von der Einigung Notiz nehmen. Die Konfliktparteien müssen öf- fentlich und damit vor Zeugen der gefundenen Lösung zustimmen. Die Performativität des Kanuns wird auch an der Praxis des Eidab- legens deutlich. Diese heute noch wichtige Geste wird dann angewen- det, wenn eine Person einer bestimmten Tat bezichtigt wird. Die verdächtige Person legt einen Eid auf die Bibel oder einen bedeu- tungsvollen Gegenstand ab, dass er die betreffende Tat nicht begangen hat. Da ein Meineid starke soziale Konsequenzen wie Ehrverlust und soziale Ächtung haben kann, ist das Ablegen des Eides eine wichtige Aussage. Wenn der Eid abgelegt wird, dann darf die Dorfgemein- schaft die Person der Tat nicht mehr verdächtigen. Die mündliche Dimension des Kanuns beschreibe ich über zwei Be- griffe: Kommunikationsverhältnisse und Kommunikationsstil. Die bei- den Aspekte der Kommunikation verhalten sich zueinander analog zum sozialen Feld und dem Habitus. Mit Kommunikationsverhältnissen be- zeichne ich die objektiven Strukturen eines sozialen Feldes, die die Kom- munikation beeinflussen. Hier sind drei Komplexe zu unterscheiden: erstens der Rahmen, die durch das soziale Feld bedingten Erfahrungs- grenzen der Kommunikation; zweitens die Struktur, die das Macht- und Organisationsgefüge innerhalb des kommunikativen Feldes beschreibt; drittens die Ideologie, die auf die Wert- oder Grundeinstellungen des Feldes verweist. Über die Sozialisation und die alltägliche Erfahrung der Kommuni- kationsverhältnisse wird der Kommunikationsstil des sozialen Feldes

31 Einleitung strukturiert. Als Kommunikationsstil bezeichne ich die Summe an Er- fahrungen der kommunikativen Praxis innerhalb spezifischer Kom- munikationsverhältnisse. Analog zu den drei Begriffen Rahmen, Struktur und Ideologie beschreibe ich den Kommunikationsstil über drei Begriffspaare: konkret und lokal, konsensual und univokal, pluri- medial und zeremonial. Der dritte Aspekt meiner Arbeit betrifft das Nebeneinander staatli- cher Praxis und traditioneller Gewohnheiten und die Frage, ob sich staatliche Praktiken in Nordalbanien zukünftig durchsetzen können. Der Habitus Kanun ist nach dem Fall des Sozialismus weiterhin prä- sent, weil die grundlegenden sozio-ökonomischen Bedingungen, die den Kanun prägen, in Nordalbanien immer noch anzutreffen sind. Das soziale Feld des Kanuns wird auch nur sehr langsam verändert werden können. Die Infrastruktur und die Wirtschaftsform können nur unter Einsatz sehr hoher Kosten aufgebaut beziehungsweise ver- ändert werden. Weiter ist die patriarchale Verwandtschaft in vielen Teilen Albaniens präsent. In Nordalbanien werden die fis-Beziehun- gen nicht geschwächt werden können, weil sich in Albanien allgemein stark patriarchal geprägte Verwandtschaftsstruktur und Clan-Den- ken bis in die Politik hinein halten. Es gibt große Unterschiede zwischen den hohen Zielen, die die alba- nische Bevölkerung von einem demokratischen Staat erwartet, zwi- schen dem, was ein Staat überhaupt leisten kann und jenem, wie staatliche Regelungen und Normen in Nordalbanien überaus flexibel ausgelegt werden. Scheinbar bildet der Habitus Kanun die einzige Konstante gegenüber regionalen Behörden und ihren Vertretern, die ihre Rolle im demokratischen Staat noch nicht gefunden haben. Auch gesetzlich legitimierte Nichtregierungsorganisationen (NRO) im Bereich der Konfliktvermittlung fördern die Praxis des Kanuns. Die NRO vermitteln über Mediatoren außergerichtliche Streitigkei- ten. Ausgehandelte und beidseitig akzeptierte Lösungen werden von der Justiz anerkannt. Auch wenn das Gesetz, das diese Art NRO legi- timiert, keinen Verweis auf den Kanun beinhaltet, fördert es doch des- sen Praxis. Die lokalen Mediatoren der meist überregional operie- renden NRO sind meist traditionelle Vermittler und betonen den Wert des Kanuns für ihre Arbeit. Sie respektieren die auf Großfami-

32 Fragestellung lien beruhende Gesellschaftsstruktur, den Ehrbegriff und die besa. Durch die NRO werden nebenstaatliche Konfliktregulierungen ge- fördert. Diese Praxis legitimiert auch die Mediationen, die nicht von NRO durchgeführt werden. Meine Arbeit setzt sich aus drei Hauptkapiteln zusammen. Das erste Kapitel erläutert den Kanun in der Ethnographie Albaniens und stellt wichtige ethnographische Abhandlungen zu Albanien vor. Ich be- spreche die Struktur und den Inhalt des Kanuni i Lekë Dukagjinit und diskutiere die Herleitung des Namens des Kanuns. Anschließend folgt die Vorstellung des Habitus-Konzeptes und des sozialen Feldes nach Pierre Bourdieu. Ich erörtere auf der Basis des Habitus-Konzep- tes die Frage, wie sich der Kanun bis über den Sozialismus hinaus erhalten konnte. Hier argumentiere ich, dass die wesentlichen Cha- rakteristika, die das nordalbanische soziale Feld des Kanuns ausma- chen, im Albanien des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nachhaltig ver- ändert werden konnten. Im zweiten Kapitel begründe ich nach einer Einführung zum Thema Kommunikation in der Ethnologie, warum ich es für sinnvoll erachte, die Prozessualität des Kanuns und nicht das mündliche Produkt oder die Performance des Gewohnheitsrechts zu beschreiben. Es folgt die Einführung und die Diskussion des Begriffes der Kommunikations- verhältnisse, der im weiteren Verlauf mit der Ethnographie Albaniens verbunden wird. Dazu stelle ich die vorsozialistische nordalbanische Gesellschaftsstruktur und ihre Entwicklung nach der politischen Wende von 1991 dar. Ich richte meinen Blick auch auf das neu ent- standene urbane Zentrum Bathore und setze die dortige soziale Struk- tur mit den traditionellen fis-Beziehungen in Nordalbanien in Relation. Im dritten Kapitel folgt eine kurze Darstellung der Great Divide- Diskussionen und der Epochen der Kommunikation. Der Begriff des Kommunikationsstils wird definiert. Im weiteren Verlauf des Kapitels stelle ich den Kommunikationsstil des Kanuns dar. Dazu schildere ich die Performativität des Gewohnheitsrechts am Beispiel von Konflikt- vermittlungen nach Diebstählen und Landkonflikten. Mediationen haben in Nordalbanien meist eine ähnliche Form. Selbst bei der Blut- rache, auf die ich kurz verweise, folgt am Ende die Versöhnungszere-

33 Einleitung monie, die allen Formen der Konfliktmediation in mehr oder weniger großem Umfang gemein ist. Abschließend diskutiere ich die Rolle der NRO, die im Bereich der Konfliktvermittlung arbeiten. Die NRO ha- ben durch ihre Praxis eine wichtige Bedeutung für den Fortbestand der traditionellen Mediation. Im Schlussteil dieser Arbeit erfolgt nach einer Zusammenfassung die Verbindung der Konzepte Kommunikationsstil und Kommunika- tionsverhältnisse. Damit soll die Beschreibung der Typologie der Mündlichkeit am Beispiel des Kanuns erreicht werden. Schließlich frage ich, wie der Rechtspluralismus von Gewohnheitsrecht und Staat zu bewerten ist. Die Praxis des Kanuns wäre meines Erachtens nur zu unterdrücken, wenn es signifikante Einschnitte im sozialen Feld gäbe, beispielsweise eine radikale Verbesserung der Infrastruktur und der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Alle Veränderungen des so- zialen Feldes des Habitus Kanun werden auf Grund der Größe des Unterfangens nur langsam voranschreiten. Der Rechtspluralismus wird noch einige Zeit Bestand haben und sollte in dieser Form von Po- litik und Wissenschaft in Albanien diskutiert werden.

34 Was ist der Kanun? Beschreibung des Kanuns als Habitus

Der Geograph Kurt Hassert schrieb 1897: »Obwohl in unserm alten Erdteil Europa gelegen und mit Eisenbahn und Dampfschiff in kurzer Zeit erreichbar, ist es unbekannter und afrikanischer als Afrika; und wie man sich daran gewöhnt hat, von einem dunckelsten Afrika zu re- den, so kann man Ober-Albanien mit vollem Recht das dunkelste Eu- ropa nennen.«1 — Albanien wurde als weißer Fleck auf Europas Landkarten bezeichnet, weil es trotz seiner relativen Nähe zu Westeu- ropa in großen Teilen unbekannt war. Es war der weiße Fleck, in dem man primitive Stämme wähnte, deren Lieblingsbeschäftigung die Blutrache war. Albanien war exotischer als Afrika, denn der Schwarze Kontinent war vergleichsweise besser dokumentiert. Ferner war Al- banien als Nation nicht greifbar — bis Anfang des zwanzigsten Jahr- hunderts gab es keinen Staat Albanien. Die Region war seit dem fünfzehnten Jahrhundert unter osmanischer Kontrolle und bildete ei- nen Teil der so genannten ›Europäischen Türkei‹. Nur wenige Reisen- de aus Westeuropa machten sich ab Anfang des neunzehnten Jahrhun- derts auf den Weg nach Albanien und veröffentlichten, einmal zu- rückgekehrt, abenteuerliche Reiseerzählungen. Diese Erzählungen gehören zu den wenigen Quellen, auf die man sich bei der Darstellung des zeitgenössischen Gewohnheitsrechts berufen kann. Die Berichte sind für die heutige historische Forschung von großem Wert, wie der Historiker Karl Kaser (1992) unterstreicht, doch Albanien wird als ›abenteuerliche Welt‹ dargestellt, als etwas ›Absonderliches und Wil- des‹. Dieses ist bei der Verwendung der Quellen zu berücksichtigen.2

1 Hassert 1897: 529, 1898: 372; Szamatolski 1910: 1. 2 Kaser, K. 1992: 12. 35 Was ist der Kanun?

Albanien war das unbekannte Land in der Nähe, einen Katzen- sprung von Italien entfernt. Durch viele Teile der Welt seien Forscher gereist, durch Zentralafrika, den Amazonas herauf und herunter, in den Tibet, durch das Eis der Polargebiete, wie Friedrich Wallisch (1931) betont, aber von Albanien sei selten die Rede gewesen.3 Alba- nien erschien als eines jener Länder, die weder weit weg genug waren, um den exotischen Reiz einer fernen Region zu wecken, noch ausrei- chend nahe, um deswegen neugierig auf das Land zu werden oder ein ›nachbarliches Topfgucker-Interesse‹ zu erwecken.4 1913 konstatierte Gabriel Louis-Jaray, dass Albanien die einzige Region in Europa dar- stellt, die noch völlig unbekannt ist. Das Land hatte man zwar ober- flächlich geographisch erschlossen, doch über die Menschen und ihre gesellschaftliche Organisation nur wenig berichtet können. Auch die Daten bezüglich des genauen Verlaufs der Flüsse oder auch die Höhe der Berge entzogen sich der allgemeinen Kenntnis.5 Das Gewohnheitsrecht Kanun und die Blutrache waren von Beginn an Teil der abenteuerlichen Erzählungen der Reisenden. Der Kanun, der in den Berichten meist als ›Sitten und Gebräuche‹, ›Gewohnheit‹ oder als ›eingeborenes Recht‹ bezeichnet wurde, gehörte in Zusam- menhang mit der Blutrache zu den zentralen Themen der schreiben- den Reisenden. Albanien, das Land der Skipetaren, wurde als das Land der Blutrache dargestellt. Dies beschreibt beispielsweise Her- bert Louis (1927): »Der Name Albanien hat einen eigenen Klang. Er lenkt die Gedanken auf etwas Außergewöhnliches und zugleich Un- bestimmtes. Dunkle Vorstellung von einem wilden Gebirgslande mit einer rauhen kriegerischen Bevölkerung, mit Blutrachesitten und un- aufhörlichen inneren Streitigkeiten werden durch ihn erweckt. Sehr gering ist die Zahl derer, die mehr damit verbinden.«6 ›Die Albaner‹ wurden als ›edle Wilde‹ beschrieben, Kinder, die sich über das Ausmaß ihres Handelns wie der Blutrache nicht bewusst wür- den. Anfangs seien sie angenehme Gastgeber, freuten sich über Geschen- ke und wären fröhlich. Doch urplötzlich wandele sich die Situation und

3 Wallisch 1931: 7. 4 Lohse 1936: 16. 5 Louis-Jarais 1913: 239. 6 Louis 1927: 1, zu Louis siehe auch Fischer, K. 1991. 36 Was ist der Kanun? sie würden aggressiv und feindselig. Albert Dumont (1873) zieht Paralle- len zu den Bewohnern der ›Neuen Welt‹ — ›die Albaner‹ wurden als die Indianer Europas beschrieben.7 ›Der Albaner‹ habe viel ›natürlichen Ver- stand‹, doch diesen baue er nicht aus, nur die bestehenden Traditionen würden erhalten und eingeprägt. Genau wie das Lesen und Schreiben nur sehr oberflächlich vorhanden seien, eigne sich ›der Albaner‹ nur vorder- gründig fremde Kultur an. Er beharre ›im eigenen Anschauungskreise‹, löse sich nicht von traditionellen Familienstrukturen und den Vorstel- lungen der Ehre. Er lasse sich nicht ›vergesellschaften‹.8 Frédéric Gibert (1914) beschreibt ›den Albaner‹ als zutiefst widersprüchlich: Er sei intel- ligent und kindisch, ritterlich und treulos, großzügig und dieberisch, fromm und wieder frei von jeglicher religiöser Vorstellung. Er habe keine Ahnung von Liebe singe aber Liebeslieder, sei ausgesprochen faul und doch interessiert an praktischen Tätigkeiten. Er preise sein Land in ho- hen Tönen, doch habe er kein Gefühl für die Nationalität. Er sei sehr to- lerant, nehme jedoch an blutigen, religiös motivierten Konflikten teil.9 Er sei zwar ›gut und heiter, höflich, zuvorkommend und gastfreundlich‹, aber schnell erregbar, argwöhnisch gegenüber vermeintlichen Kränkun- gen.10 ›Der Albaner‹ nehme den Mund etwas voll, doch sollte man dem nicht zuviel Bedeutung beimessen, denn das Wort sei nicht unbedingt gleichbedeutend mit der Tat. Wenn man sich ruhig verhielte, so be- schreibt es Erich Liebert (1909), müsse man keine ernsten Folgen erwar- ten.11 In solchen Berichten sind ›die Albaner‹ gute Wilde, rau und wider- sprüchlich, aber mit einem guten Kern. Für Franz Nopcsa (1913) sind sie die ›bewaffneten großen Kinder Europas‹, mit Herzensgüte, ohne Dis- position zu einer unnützen Grausamkeit, jedoch sehr eigensinnig. Auch Nopcsa streicht negative Aspekte heraus, nämlich ›politische Unzuver- lässigkeit, ungebärdiges Benehmen, Disziplinlosigkeit, Eitelkeit, Stolz, Zorn und leichte Erregbarkeit‹, die von jenen Reisenden berichtet wür- den, »die der Landessprache mächtig sind und länger in Albanien gelebt haben«.12 7 Dumont, A. 1873: 288, 291. 8 Hellwald/Beck 1878: 356. 9 Gibert 1914: 1. 10 Buschan 1909: 36. 11 Liebert 1909: V. 12 Nopcsa 1913: 10-11. 37 Was ist der Kanun?

Als negative Aspekte ›der Albaner‹ wurden oft Feindseligkeit und Hass hervorgehoben. Edwin Rockstroh (1875) beschreibt den stechenden, feindseligen Blick, mit dem der Fremde empfangen worden sei. Kam der Gast unerwartet oder war er nicht willkommen, dann verziehe ›der Alba- ner‹ schrecklich das Gesicht, und aus ›halbverschleiertem Auge blitze Hass‹.13 Für Josef Müller (1844) waren ›die Albaner‹ grausam, hinterlistig, hartnäckig und wehrten sich gegen jegliche Neuerungen. Er fordert ›blu- tige Reformen‹ ihres sozialen und religiösen Lebens, damit die ›europäi- sche Humanität‹ sie endlich durchdringen könne.14 Der Hass werde ›den Albanern‹, Johann Georg von Hahn (1867) zufolge, von früher Kindheit an anerzogen. Den Kindern würde immer wieder wiederholt, wer die ›Todfeinde‹ seien und mit wem man in Blutrache stehe. Diese oder jene Familie schulde so und soviel Blut, und die Kinder hätten die heilige Pflicht, die Opfer zu rächen und das Blut ›zu nehmen‹. Ruhm und Ehre gehörten dem, der den traditionell vorgegebenen Weg erfolgreich weiter- führe: »Der Albanese wird also nicht wie wir zur Liebe, sondern zum Hasse erzogen; von der Aussenwelt hat er nie Gutes sondern nur Böses zu gewärtigen […]. Er steht mithin der Aussenwelt als Feind gegenüber, sein geistiges Leben bewegt sich nur um die Fragen, wie er sich schützen und wir er sich rächen könne.«15 Ein wichtiger Bestandteil dieser Reisebeschreibungen ist die Blutra- che, die Fehde zwischen zwei ›Stämmen‹. Immer wieder werden ähn- liche stereotype Darstellungen von Hass und Misstrauen gegenüber dem Fremden, über die Verschlossenheit nach außen und den großen Zusammenhalt innerhalb der Familien erwähnt. Die Blutrache, als et- was Besonderes und Außergewöhnliches dargestellt, wurde beson- ders von österreichischen und deutschen Reisenden beschrieben. Kaser spricht von einem eigenen Genre der ›Blutrache-Geschichts- schreibung‹, die je nach Blickwinkel des Betrachters ›die Albaner‹ als Wilde und Barbaren oder als männliche und heldenhafte ›Adlersöhne‹ darstellt. Es wird der Eindruck erweckt, die Blutrache und damit das Gewohnheitsrecht Kanun sei der zentrale Lebensinhalt der Menschen gewesen.16 Raub, Mord und Krieg scheinen laut Hassert die Lieblings-

13 Rockstroh 1875: 43. 14 Müller, J. 1844: 18-19. 15 Hahn 1869: 47-48. 38 Was ist der Kanun? beschäftigung der Albaner zu sein. Das wilde und unbändige Volk ohne staatliche Ordnung und ausgeprägte zivilisierte Geisteshaltung stünde in einem andauernden Zustand der Blutrache — 25 bis 75 Pro- zent der männlichen Bevölkerung würden so eines unnatürlichen To- des sterben.17 Hugo Adolf Bernatzik (1931) doziert ähnlich: In einigen Familien sterbe kaum ein männliches Mitglied eines natürlichen To- des, schreibt er, sondern sie würden der Blutrache anheim fallen, die über das ganze Land ›finstere Schatten‹ ausbreite.18 Für andere Autoren war die Fehde eine traurige Notwendigkeit, die vom Standpunkt der ›öffentlichen Ordnung und der Nationalökono- mie‹ zwar zu verurteilen sei, aber bei den vorherrschenden Rechtszu- ständen nicht ohne Berechtigung erschiene. Mord und Totschlag würden über die Abschreckung des grausamen Volksgerichts verhin- dert, heißt es bei Loewe.19 Die Blutrache sei eine Wohltat, schreibt Paul Siebertz, denn, fragt er, wie wären die Zustände in diesem Land erst, wenn man bedenkt, dass jedermann bis zu den Zähnen bewaffnet sei und nichts die Leute davon abhielte die Waffen auch zu gebrau- chen, wenn es nicht die vergeltende Blutrache gebe: »Die Frage, ob die Institution der Blutrache ein Fluch für jene Völker ist […] läßt sich nicht vom Schreibtisch im stillen Studierzimmer aus beantworten; um diese Frage zu lösen, muß man sich in den ganzen Gedankengang und die Lebensweise jener Völker hineinversetzen können. Dann wird man finden, daß die Blutrache unter den gegebenen Verhältnissen das einzig mögliche Mittel zur Aufrechterhaltung einer Ordnung über- haupt ist, also nicht ein Fluch, sondern oft sogar ein Segen.«20 Bevor ich das Studierzimmer mit dem Ende dieses Kapitels verlasse, geht es in den folgenden Seiten um eine historische Perspektive auf den Kanun. Die Grundfrage dieses Kapitels ist banal: Was ist Kanun? Es soll eine Antwort darauf gegeben werden, was den historischen Kanun bestimmte, wodurch er sich auszeichnete, was die Faktoren waren, die sein Entstehen ermöglichten, beziehungsweise seine Be- 16 Kaser, K. 1992: 277. 17 Hassert 1897: 532, 1898: 374-375. 18 Bernatzik 1931: 38, zu Bernatzik in Albanien siehe Byer 1999: 29-38; siehe auch Knight 1880: 135-136. 19 Loewe 1914: 113. 20 Siebertz 1910: 212. 39 Was ist der Kanun? ständigkeit über die Jahrhunderte hinweg erlaubte. Die wichtigsten historischen Quellen sind die Reisebeschreibungen, trotz der Ein- schränkungen, die man bei der Bewertung der Texte berücksichtigen muss, wie die publizistischen Interessen der Autoren oder die allge- meinen politischen Zusammenhänge, die die Reisen und ihre anschlie- ßende Verschriftlichung beeinflussten. Als Erklärungsmuster für den Kanun ziehe ich das Habitus-Kon- zept von Pierre Bourdieu heran. Den Kanun beschreibe ich als die ver- innerlichten Strukturen des sozialen Feldes, die als Handlungs- und Denkschemata Dispositionen des Handelns darstellen und über des- sen Praxis das soziale Feld wieder strukturiert wird. Über die Erläute- rung des Kanuns als Habitus in seinem dialektischen Verhältnis zum sozialen Feld erscheint der Kanun nicht mehr als bloße Ansammlung von Regeln, die teilweise im Laufe der Geschichte vergessen worden sind. Die Anzahl der vergessenen Teile wird häufig zu einem Grad- messer dafür, ob man noch von Kanun sprechen kann oder nicht. Der Kanun wird an der sozialen Struktur und dem damit verbundenen Handeln festgemacht. Wenn man zeigen kann, dass sich das soziale Feld nicht signifikant verändert hat, kann eine beständige Praxis des Habitus Kanun begründet werden. Der folgende Abschnitt beruft sich auf die Schriften von Reise- schriftstellern und reisenden Ethnographen — die Grenze zwischen beiden Kategorien ist fließend —, die über den Kanun und die Blutra- che berichteten. Es ist nicht die Aufgabe dieser Arbeit, die im Folgen- den genannten Autoren in die genauen ökonomischen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen einzuordnen, die die Produktion ihrer Texte bestimmten. Dennoch werde ich einige politische Rah- menbedingungen der Epochen nennen, wenn sie in einem konkreten Zusammenhang mit der Beschreibung des Gewohnheitsrechts in dem entsprechenden Werk stehen. Der Kanun in der Ethnographie Als ›Begründer‹ oder ›Vater‹ der Albanologie gilt der in Frankfurt am Main geborene, jedoch in Österreich-Ungarn wirkende Jurist Johann Georg von Hahn (1811-1869). In seiner Zeit als Generalkonsul in Jo- annina im heutigen Griechenland bereiste er weite Teil Albaniens und

40 Der Kanun in der Ethnographie legte mit Albanesische Studien (1854) ein selbst heute noch häufig zi- tiertes Werk vor.21 Das umfangreiche dreibändige Werk behandelt Themen der Sprachwissenschaft, Archäologie, Anthropologie, Kunst, Kulturgeschichte und Ethnographie.22 Der regionale Schwerpunkt seiner Arbeiten liegt in Mittel- und Südalbanien, doch auch das Ge- wohnheitsrecht findet bei ihm Erwähnung. Beispielsweise erläutert er ausführlich Versöhnungszeremonien nach der Vermittlung von Blut- rachefällen. Hahns wissenschaftlich-ethnographische Beschreibung, die nicht frei von den evolutionistischen Kulturvorstellungen seiner Zeit sind, wird auch in sozialistisch geprägter Forschung entspre- chend gewürdigt und als wichtige Quelle angesehen. Doch Hahns Buch Albanesische Studien ist nicht die erste umfangreiche Abhand- lung über Albanien. Sie folgt der vierbändigen Studie La Turquie d’Europe (1840, deutsche Übersetzung 1889) von dem Franzosen, aber in Hamburg geborenen Ami Boué (1794-1881),23 der ebenfalls nicht ausführlich das Gewohnheitsrecht darstellt. Allenfalls gibt es im Text ein paar Zeilen zur Blutrache und zur Gesellschaftsordnung. Franz Baron Nopcsa von Felsözlás (1977-1933) kam nach der Jahr- hundertwende nach Albanien. Er war Geologe und Paläontologe, und sein Interesse galt zunächst der Geologie Albaniens. Erst später wurde er ethnographisch tätig, verfasste viele volkskundliche Beiträge und zeigte ein großes wissenschaftliches und politisches Engagement in Albanien. Die ersten wichtigen Veröffentlichungen Nopcsas waren zunächst Das katholische Nordalbanien (1907a) und Haus und Haus- rat im katholischen Nordalbanien (1912a), was als seine bedeutendste Studie angesehen wird.24 Nach dem Ersten Weltkrieg wollte Nopcsa ein umfangreiches Werk zu Albanien publizieren, das die Bereiche Geographie, Geologie, Naturgeschichte und Ethnologie abdecken sollte. Die Ergebnisse seiner umfangreichen Arbeiten konnten nur teilweise veröffentlicht werden. Besonders interessante Manuskripte wie Die Bergstämme Nordalbaniens und ihr Gewohnheitsrecht und 21 Siehe auch Hahn 1964, 1868, 1869, auf Albanisch 1980 [orig. 1854], 2001 [orig. 1963]. 22 Zu Hahn siehe Eberhart 1998: 11-14. 23 Zu Boué siehe Eberhart 1998: 12. 24 Siehe auch Nopcsa [o.J.], 1907a, 1907b, 1910, 1912a, 1912b, 1913, 1916, 1923, 1925, 1929, zu Nopcsa siehe auch Robel 1966; Tasnádi 1945. 41 Was ist der Kanun?

Religiöse Anschauungen, Sitten und Gebräuche (Ms. [1923]) lagern als fast druckfertige Manuskripte in der Österreichischen Nationalbibli- othek in Wien.25 Helmut Eberhart schreibt über Nopcsa: »Besonders in ihren empirischen Teilen gehören m. E. beide angesprochene Ma- nuskripte ebenso wie die publizierten ›Bauten ...‹ [1925] zum Bedeu- tendsten, was zur Ethnographie Albaniens verfaßt wurde«.26 Das Gewohnheitsrecht ist ein wichtiges Thema bei Nopcsa. Der Autor stellt Überlegungen zum Ursprung des Kanuns an und disku- tiert die Blutrache. Die Albaner beschreibt Nopcsa entgegen der in weiten Teilen Westeuropas vorherrschenden Anschauung einer bar- barischen Bevölkerung als stolzes Volk, wenn auch mit harten, eige- nen Gesetzen: »Mangel an Comfort und schlechter Ruf sind die Schranken, die in Albanien die meisten Reisenden zur Umkehr zwin- gen. Die Tatsache, dass in Albanien Mangel an Comfort herrscht, kann nun niemand leugnen, dass hingegen eine Reise im katholischen Theile von Nordalbanien gefährlicher wäre als ein abendlicher Spa- ziergang in den Vorstädten einiger europäischer Großstädte, dies bleibt jedoch noch zu untersuchen.«27 Marie Amelie von Godin (1956) kritisiert Nopcsas Vorstellung vom Gewohnheitsrecht und behaup- tet: »Nopcsa war der Kanun nur höchst lückenhaft bekannt.«28 Die ›nationale Wiedergeburt‹ (rilindja kombëtare) bezeichnet eine Phase des nationalen Erwachens, die als Antwort auf den Berliner Kongress 1878 anzusehen ist, auf dem die Aufteilung des ethnischen Albaniens angestrebt wurde. Auf dem Kongress sollten Rumänien, Serbien und Montenegro selbständige Nationen werden. Die Staaten verlangten Gebietserweiterungen, die eine Aufteilung der mehrheit- lich von Albanern bewohnten Siedlungsgebiete mit sich gebracht hät- te. Ausgehend von albanischen Persönlichkeiten in Istanbul fand als Gegenbewegung zum Kongress im Juni 1878 in Prizren eine Ver- sammlung statt, auf der die so genannte ›Albanische Liga‹ begründet wurde, die sich nach dem Versammlungsort ›Liga von Prizren‹ nann-

25 Auszüge aus Die Bergstämme ... wurden von Karl Kaser und Fatos Baxhaku 1996 herausgeben. 26 Eberhart 1998: 21. 27 Nopcsa 1907b: 1, Kursivierung im Original. 28 Godin 1956: 187. 42 Der Kanun in der Ethnographie te. Durch Aufrufe an die in Berlin tagenden Großmächte, aber auch durch militärische Aktionen in Albanien, sollte der Aufteilung des Landes entgegengewirkt werden. Dies führte zunächst zu keinem konkreten Ergebnis. Die Liga löste sich 1881 auf, hatte jedoch inner- halb des Landes und auch im europäischen Ausland auf das national- staatliche Bestreben Albaniens aufmerksam gemacht.29 Die Haupt- akteure der rilindja mussten jedoch erfahren, dass es kaum Möglich- keiten für einen bewaffneten Widerstand gab, sie konzentrierten sich im Weiteren auf einen kulturellen Widerstand. Hier kam es zur För- derung der albanischen Sprache und dem Streben nach einer einheitli- chen Schrift. Vor allem Sami Frashëri (1899), einer der Brüder Fra- shëri, die in der Nationalbewegung führende Positionen innehatten, argumentierte, dass die Albaner das älteste Volk auf dem Balkan seien, Nachkommen der Illyrer und damit weitaus länger auf ihrem ange- stammten Gebiet lebten als ihre slawischen Nachbarn.30 Diese Argu- mentation sollte bis in die sozialistische Zeit hinein Bestand haben. Das heißt aber nicht, dass das Gewohnheitsrecht und die Blutrache von den Frashëris besonders gefördert wurde, im Gegenteil, die Pro- tagonisten der rilindja-Bewegung argumentierten deutlich dagegen: »Die Arnauten haben täglich Streit miteinander und bekämpfen sich gegenseitig. Zwecklos vergießen sie ihr Blut, lassen kostbares Blut, das für eine andere Sache als Albaniens Heil nicht vergossen werden soll- te! Armut, Zuchtlosigkeit, Unwissenheit, Streit, Uneinigkeit und Haß sind die Früchte. Arm, unwissend, uneinig, jeder des anderen Feind, wie die Arnauten sind, kämpft jeder gegen jeden. Zwecklos versprit- zen sie ihr Blut, allmählich verkommen sie!«31 In dieser Zeit des natio- nalen Erwachens entstanden erste Arbeiten, die sich thematisch hauptsächlich mit dem nordalbanischen Gewohnheitsrecht beschäf- tigten. Bis zum Jahrhundertwechsel wurde der Kanun meist ein klei- ner Teil von Reisebeschreibungen und mehr als Kuriosität dargestellt. Erst christliche Ordensangehörige, die vor Ort in Albanien lebten, verfassten ethnographische Texte, die sich hauptsächlich mit dem Ka- nun befassten.

29 Bartl 1995: 92-106; Skendi 1954, 1967; Vickers 1997 [1995]: 32-52. 30 Siehe Frashëri 1962 [1899], deutsche Übersetzung 1913. 31 Frashëri 1913 [orig. 1899]: 37. 43 Was ist der Kanun?

Wann genau die Christianisierung der Albaner begann, die später zu den Missionen der Orden führte, ist nicht bekannt. Als die Vorfahren der Albaner zum ersten Mal historisch fassbar wurden, waren sie be- reits Christen. Albanien gehörte später zur Kirche von Byzanz und stand nach dem Großem Schisma von 1054 zwischen der West- und der Ostkirche. Der Norden des Landes näherte sich über die Mis- sionstätigkeiten der Orden wieder der Westkirche an. Nach der osma- nischen Invasion konvertierten in Nordalbanien erst im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ein Großteil der Albaner zum Islam. In abgelegenen Orten konnte sich das Christentum halten.32 Die Franzis- kaner waren seit 1240 in Nordalbanien und wirkten auf kultureller und religiöser Ebene. Schon im siebzehnten Jahrhundert gründeten sie erste Schulen im Land.33 Die albanischen Franziskanermönche ge- hörten zu den ersten, die den Kanun sammelten. Theodor A. Ippen, Generalkonsul der k. u. k. Monarchie, sprach 1899 die Geistlichen Ni- kolla Ashta und Don L. Mjedia an, in kurzen Texten Themen des Ka- nuns zu beschreiben. Die Texte wurden zunächst in albanischer Sprache veröffentlicht und anschließend von Ippen ins Deutsche übersetzt.34 Die bis dahin umfangreichste ethnographische Arbeit, die auch ausführlich auf das Gewohnheitsrecht Bezug nahm, stammt von Hyacinthe Hequard (1881), französischer Konsul zu Shkodra und mit dem Protektorat über die katholischen Stämme betraut.35 Die albani- schen Mönche ergänzten diese Arbeit mit einer genaueren Ethnogra- phie aus ihren Pfarreien. Die bis in unsere Zeit bekannteste Verschriftlichung des Kanuns wird Kanuni i Lekë Dukagjinit genannt und wurde vom Franziskaner Shtjefën Konstantin Gjeçov (1933) (Abb. 3) gesammelt. Gjeçovs Ar- beit in den Gemeinden Nordalbaniens und seine Version des Kanuns müssen in einem direkten Zusammenhang mit den Nationalbestre- bungen der Zeit gesehen werden.

32 Bartl 1995: 39, 51-54. 33 Godin 1953: 6; Peters 2001a: 27 [Neuausgabe 2003]. 34 Thallóczy in Ippen 1916b: 389, FN 1; Ashta 1901; Mjedia 1901; beide Artikel auch auf Französisch in Dareste 1903. 35 Hequard 1881; Lejean 1861: 17. 44 Der Kanun in der Ethnographie

Gjeçov wurde am 12. Juli 1874 in Janjeve (Kosova) gebo- ren. Er trat mit vierzehn Jahren in den Franziskanerorden ein und erhielt 1896 die Priester- weihe. Von nun an war er Pfar- rer in zahlreichen Gemeinden im Norden des Landes. Er un- terrichtete die Bergbevölke- rung im Lesen und Schreiben der albanischen Sprache und verbreitete albanische Bücher, was nach den damaligen osma- nischen Gesetzen streng ver- boten war. Neben diesen Bestrebungen, die albanische Sprache und ihre Verschriftli- chung weiter voranzutreiben, engagierte sich Gjeçov auf po- litischer Ebene, beispielsweise Abb. 3: Shtjefën Konstantin Gjeçov beim Aufstand von 1912: Al- (1874-1929), Autor des Kanuni i Lekë Dukagjinit. baner in Kosova legten der os- manischen Regierung einen Forderungskatalog vor, der unter anderem die Anerkennung als eige- ne Nation im osmanischen Reich und den freien Gebrauch der albani- schen Sprache und Schrift verlangte. Diese Forderungen konnten durchgesetzt werden, doch die politische Situation änderte sich für die Albaner durch den Ausbruch des Ersten Balkankriegs im Oktober 1912 schlagartig.36 Gjeçovs persönlicher Antrieb bestand im steten Kampf gegen die fremden Besatzer und dem Herausstellen einer alteingesessenen alba- nischen Kultur. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er in die Gemein- de Zym in Kosova versetzt. Kosova war zu dieser Zeit von Albanien getrennt und gehörte zu Jugoslawien. Die jugoslawische Politik war den Albanern nicht wohlgesonnen. Die Regierung schloss beispiels- 36 Zum Aufstand von 1912 siehe Bartl 1995: 131-133. 45 Was ist der Kanun? weise albanische Schulen. Gjeçov widersetzte sich in seiner Gemeinde gegen diese Bestrebungen und unterrichtete weiter albanische Sprache und Kultur. Er geriet am 14. Oktober 1929 in einen Hinterhalt und wurde von nationalistischen Jugoslawen ermordet.37 Während seiner Tätigkeiten in den verschiedenen Gemeinden un- terrichtete er nicht nur, sondern war ebenfalls archäologisch tätig und legte Sammlungen mit Objekten illyrischer Herkunft an. Er schrieb zahlreiche Beiträge zur albanischen Kultur in verschiedenen Zeit- schriften, darunter in der in Shkodra herausgegebenen Hylli i Dritës (›Morgenstern‹). In dieser erschienen ab 1913 in unregelmäßiger Folge bis 1924 Teile des Kanuni i Lekë Dukagjinit, welcher posthum 1933, unter Einbeziehung noch nicht veröffentlichter Teile aus seinem Nachlass, von Ordensbrüdern herausgegeben wurden.38 Der Kanuni i Lekë Dukagjinit nach Gjeçov hat 130 Seiten und ist in zwölf ›Bücher‹ (libër) unterteilt: Kirche39 — Besitz und Stellung der Kirche beziehungsweise des Priesters, Strafen bei Übergriffen auf kirchliches Eigentum; Familie — Definition der Familie und ihrer Mitglieder, Rolle im fis und Dorf; Heirat — Regeln von der Verlo- bung bis zur Erbschaft; Haus, Vieh und Landgut — Landwirtschaft, Viehbesitz, Gemeindewiese und Grundbesitz; Arbeit — Regelung von Jagd, Schmieden, Handeln und Landwirtschaft; Transfer von Be- sitz — Schulden und ihre Rückzahlung, Versprechen; Das Wort des Mundes — Bedeutung des Wortes, Eid und Abnehmen des Eides; Ehre — Persönliche und gemeinschaftliche Ehre, Folgen bei Verlet- zung der Ehre; Schäden — Definition von Schaden, Schädigung an materiellem Besitz; Kanun gegen das Verbrechen — Diebstahl und Mord, Sühne für vergossenes Blut; Altenrat — Rechte und Pflichten

37 Zur Person von Gjeçov siehe Fox 1989: XVI-XIX; Godin 1953, 7 FN 4; Krasniqi 1986; Peters 2001a: 251 [Neuausgabe 2003]; Pupovci 1971b: 81-88; Zojzi 1981. 38 Gjeçov 1913, 1914, 1921, 1922, 1924; posthume Sammlung Gjeçov 1989 [1933], siehe auch 1985 [1933], 1999 [1933]. Der Kanuni i Lekë Dukagjinit wurde in meh- rere Sprachen übersetzt, siehe bspw. Gjeçov 1941a, 1941b (italienisch); Godin 1953/1954/1956 (deutsch, Neuauflage und von Robert Elsie überarbeitete Über- setzung in Gjeçov 2001) oder Fox (Hrsg.) 1989 [orig. 1933] (englisch); zur Zeit- schrift Hylli i Dritës siehe auch Hetzer 1984: 56-57. 39 Die albanischen Begriffe entstammen dem Originaltext, das heißt sie sind auf Ge- gisch, dem nordalbanischen Dialekt. 46 Der Kanun in der Ethnographie der Ältesten, Versammlungen und besondere Ämter; Befreiung und Ausnahmen — Beschränkungen von Haftungen bei bestimmen Per- sonen und Ämtern (beispielsweise Kirche und Frauen), Regelungen nach dem Tod. Den elf Büchern folgt ein Anhang mit einzelnen Fall- beispielen bezüglich der Praxis einzelner Regeln. Hier finden sich elf Unterkapitel, die den ersten elf Teilen des Hauptteils und ihre The- men entsprechen. Der Kanuni i Lekë Dukagjinit ist neben den zwölf Büchern in die Kapitel (krye) 1 bis 24 unterteilt, die eine Untereinheit der ›Bücher‹ bilden und durch den ganzen Kanun durchnumeriert sind. Ähnlich verhält es sich mit den Artikeln (nye), die die Nummer 1 bis 199 tragen und eine Untereinheit der Kapitel sind. Die kleinste Unterteilung ist die ebenfalls durchgehend nummerierte Aufteilung in Paragraphen §§ 1-1263.40 Schon diese Beschreibung der Gliederungsstruktur — die differen- zierte Unterteilung, thematische Kapitel und Paragraphenstruktur — zeigt die große Ähnlichkeit mit Gesetzbüchern (Abb. 4). Der Kanun nach Gjeçov besteht aus vom Einzelfall losgelösten Regeln, die das mündliche Gewohnheitsrecht wie ein von einem Machthaber oder ei- nem Parlament vorgegebenen Gesetzestext darstellen. Zunächst bleibt dabei unklar, ob es sich um Regeln handelt, die wortwörtlich von den Nordalbanern übernommen wurden oder die nur teilweise dem mündlich verbreiteten Wortlaut entsprachen. Offensichtlich ist Letzteres nicht der Fall, wie eine genaue Betrachtung des Textes zeigt. Erstens gibt es zahlreiche Zitate aus der Literatur, die entsprechend im Text belegt werden. Beispielsweise ist dies der Fall, wenn Gjeçov die Einheit der Familie definiert: »Die Familie ist eine Gemeinschaft aus Gliedern, die unter einem Dache leben; eine Gemeinschaft, deren Zweck die Vermehrung der Menschheit durch Heirat ist, die Ent- wicklung der Menschheit nach Geist und Körper.«41 Diese Definition zieht Gjeçov aus einer nicht sehr viel konkreter bezeichneten ›Filoso- fia del Diretto‹. Diese Definition ist dergestalt in den Fließtext einge- reiht, dass der Leser den Eindruck bekommt, es handele sich um eine

40 Im ersten Buch ›Kirche‹ ist zwischen der Gliederungsebene ›Buch‹ und ›Kapitel‹ noch der Artikel (artikull) zu finden. Diese Form der Unterteilung gibt es aller- dings nur in diesem ersten Buch. 41 Gjeçov 1989 [1933]: 14, § 18, deutsche Übersetzung aus Godin 1953: 16. 47 Was ist der Kanun?

Abb. 4: Auszug aus dem Kanuni i Lekë Dukagjinit nach Gjeçov (1933).

Aussage von Nordalbanern. Zweitens stellt Gjeçov einzelnen Kapi- teln und Paragraphen Zitate in Anführungszeichen voran. Diese ha- ben die Struktur von Sprichwörtern. Es sind kurze, prägnante und manchmal erklärungsbedürftige bildhafte Aussagen. Vor dem Kapitel ›Der Eid‹ (beja) steht das Sprichwort: Bé, e s’ka përtej. Die deutsche

48 Der Kanun in der Ethnographie

Übersetzung ist »Der Eid — mehr kann nicht verlangt werden.«42 Da- mit ist gemeint, dass ein Verdächtiger eine Anschuldigung mit dem Ablegen eines Eides zurückweisen kann. Wenn eine Person eines Diebstahles bezichtigt wird, geht ein Ältester zu diesem Mann und fragt ihn, ob er den Diebstahl begangen hat. Der Beschuldigte gibt den Diebstahl zu beziehungsweise sagt, wer es war oder schwört — manchmal ›auf dem Kopf seines Sohnes‹ — was dem Eid mehr Kraft verleiht — wie folgt: »Bei den Häuptern meiner Söhne, ich tat das Un- recht nicht, für das du mich anklagst, ich weiß nicht, wer es getan hat.«43 Nach diesem Schwur steht der mutmaßliche Täter nicht mehr unter Verdacht und wird nicht weiter mit dieser Frage belästigt. Im Falle eines Meineides ist der Beschuldigte entehrt, und dies wiegt weitaus schlimmer als ein einfacher Diebstahl. Dieses steckt in dem anfangs zitierten Sprichwort, und in den dem Sprichwort folgenden Paragraphen stehen die notwendigen Erläuterungen dieses Satzes, der in vier Worten einen großen Bedeutungszusammenhang beschreibt. Es sind Rechtssprichwörter, die eine Verbindung zwischen formalen Rechtsnormen und ›anschaulich-populären Begründungen‹ darstel- len.44 Der Kanun wurde offensichtlich in diesen von Gjeçov punktuell zi- tierten Sprüchen überliefert und nicht in der Form, die Gjeçov präsen- tiert. Es ist überhaupt nur wenig über die Art der Forschungen Gjeçovs zum Kanun bekannt. Der Kanuni i Lekë Dukagjinit ist eine Kodifizierung mündlichen Rechts und durch eine Aufzeichnung die- ser Regeln in einer Gesetzesbüchern ähnlichen Form strebte Gjeçov eine ›Aufwertung‹ der örtlichen Rechtsgewohnheiten an. Dieses ist im Zusammenhang mit den kulturellen Emanzipationsbestrebungen (ri- lindja) zu sehen. Gjeçov wollte der landläufigen Vorstellung von ›pri- mitiven Albanern‹ durch eine kodifizierte Präsentation der viel- schichtigen Regeln des Zusammenlebens entgegentreten. Die Darstel- lung in Form eines Gesetzesbuches, das die nordalbanischen Regeln nicht mehr als willkürliche und vage Vorgabe, sondern als logisches und klares Gesetz darstellte, war dabei nur konsequent.

42 Gjeçov 1989 [1933]: 119, deutsche Übersetzung aus Godin 1954: 44. 43 Gjeçov 1989 [1933]: 123, § 567, deutsche Übersetzung aus Godin 1954: 44. 44 Weber 1980 [1921/22]: 455. 49 Was ist der Kanun?

Selbst die Volkskundler im Sozialismus betrachteten den Kanun als die wichtigste ethnographische Arbeit vor der ›Befreiung‹45 und auch in der heutigen Ethnologie gilt der Kanuni i Lekë Dukagjinit als be- merkenswerte ethnologische Arbeit, die die traditionellen Institutio- nen mit großer Genauigkeit beschreibt.46 Der Kanun nach Gjeçov kann jedoch nur unter Berücksichtigung dreier den Text bestimmen- der Faktoren genauer bewertet werden. Der erste Einwand entspringt einer von den Nachkriegsethnologen im Sozialismus aufgeworfenen Kritik. Es gelte zu bedenken, mahnten diese, dass der Franziskaner Gjeçov in seinem Text der Kirche eine Stellung zuschrieb, die sie zur damaligen Zeit vermutlich nicht innehatte. Péter Krasztev (2000) schreibt zwar, dass Gjeçov seinen Glauben weitgehend aus seiner Ver- sion des Kanuns herauslässt,47 aber andere Autoren folgen der beson- deren Position der Kirche nicht, wie sie Gjeçov vertritt. Die Kirche ist als eigenständiges Kapitel in dem Kanuni i Lekë Dukagjinit nicht nur überdeutlich präsent, sie steht sogar, wie oben erwähnt, an erster Stel- le. Die Strafen, die überführte Täter nach Gjeçov für Gewalt an oder Diebstahl von kirchlichem Gut zu erwarten haben, stünden in keiner Relation zu anderen Sanktionen. Sie seien unverhältnismäßig hoch, wie Syrja Pupovci (1972) betont.48 Zweitens ist der Kanun Ausdruck einer nationalistischen Rhetorik, wie Krasztev herausstellt. Gjeçov hat, so Krasztev, eine Metapher ge- funden, die sich gut für nationalstaatliche Bestrebungen einsetzen lässt: »Gjeçov discovered a metaphor for ›nation generation‹ indepen- dent of historical teleology and religious differentiation: ›blood‹, which was also the basis for the ›blood laws‹ — blood feudalism, clan-family-relative relationships, and could at the same time be used to express national connectivity ›through blood‹.«49 Blut wird, wie Krasztev betont, als Basis der Gesellschaft eingeführt. Blut bestimmt die Beziehungen der Kern- und der Großfamilie, das Verhältnis zwi- schen den fis und damit verbunden das wirtschaftliche und soziale Le-

45 Gjergji/Dojaka 1969b: 58. 46 Krasztev 2000: 202. 47 Krasztev 2000: 204-205. 48 Peinsipp 1985: 45; Pupovci 1972c. 49 Krasztev 2000: 202. 50 Der Kanun in der Ethnographie ben allgemein. Das um Blut aufgebaute Gesetz bildet die grundle- genden Strukturen der Gesellschaft ab, und die Möglichkeit, sich von den Nachbarethnien abzugrenzen. Drittens komprimierte und vermischte Gjeçov Raum und Zeit. Die aufgelisteten Regeln entspringen überwiegend einer Region Nordal- baniens — sie stammen aus Mirdita im Einflussgebiet des fis Gjon- markaj, auf welchen häufig im Text verwiesen wird. Da man von großen regionalen Unterschieden beim Gewohnheitsrecht ausgehen kann,50 waren möglicherweise viele Regeln nur begrenzt außerhalb des Machtbereichs der Gjonmarkaj wirksam.51 Ferner stammen die Re- geln nicht aus einer Zeitperiode. Julia Ivanova (1960) schreibt, dass in dem Kanuni i Lekë Dukagjinit ebenfalls ältere Regeln aufgeführt sind, die aller Wahrscheinlichkeit nach in der Zeit von Gjeçov keine Rolle mehr spielten. Diese existierten noch in der Erinnerung der befragten Menschen, doch längst nicht mehr in der täglichen Praxis.52 Pupovci bemerkt, dass der Kanun unvollständig ist und zahlreiche Punkte feh- len (unter anderem Schuldenaufnahme über Nutzungsrechte, gemein- same Besitztümer, Tauschhandel oder Verträge),53 doch ein Anspruch auf Vollständigkeit ist bei Gjeçov sicher nicht vorhanden gewesen. In Albanien sagt man heutzutage, dass der Kanun, wie Gjeçov ihn aufge- schrieben habe, die ›Verfassung‹ darstelle, doch viele Aspekte nicht enthalten seien, sonst müsse man das ganze Leben aufschreiben, denn andauernd sei vom Kanun die Rede. Am besten ist Gjeçovs Kanuni i Lekë Dukagjinit wohl als Modell zu sehen, eine allgemeine Erklärung auf einer von Einzelfällen losgelös- ten Ebene. Krasztev fragt, nachdem er die Ältesten und die Versamm- lungen der Ältesten beschrieben hat, inwieweit man Gjeçov folgen solle: »It is difficult to judge in retrospect how well this model functioned, or indeed whether it existed at all and was not merely a fabrication of Gjeçov’s dream of popular representation, but it is a fact

50 Hierzu genügt, sich die verschiedenen erhältlichen Verschriftlichungen des Ka- nuns anzusehen, die aus verschiedenen Regionen stammen: siehe den Kanun nach Gjeçov im Vergleich mit Elezi 2002 [1984]; Illia 1993; Meçi 1995, 2002. 51 Fox 1989: XIX. 52 Ivanova 1960: 118. 53 Pupovci 1968b: 142. 51 Was ist der Kanun? that these local institutions were also mentioned by other contempo- rary travellers.«54 Unabhängig von diesen Kritikpunkten ist Gjeçovs Kanun eine der ersten ethnographischen Arbeiten zu Albanien. Den Wert des Textes erkennt man auch daran, dass er meist die Grundlage wissenschaftli- cher Abhandlungen zum Thema Gewohnheitsrecht bildet. Jedoch muss man sich von der Vorstellung lösen, dass der Kanun für die ihn praktizierenden Menschen ebenfalls einen Textcharakter hat. Der Ka- nun von Gjeçov ist heute in vielen Haushalten Nordalbaniens zu fin- den, doch es wird meiner Erfahrung nach nur selten darin gelesen. Das Buch des Kanuns steht häufig an exponierter Stelle im Gästezimmer des Hauses, über dem Kamin oder liegt griffbereit auf einem Tisch. Die Menschen zeigen auf das Buch, blättern kurz darin, ganz behut- sam, dann wird das Buch wieder zurückgelegt, und wie ein sakrales Objekt behandelt, dem man eine große Bedeutung beimisst. Das Buch des Kanuns ist für viele Nordalbaner mehr als ein materielles Objekt zu verstehen, das auf ihre Identität, ihre Kultur und die Praxis des Ka- nuns im Allgemeinen verweist. Der Text des Kanuns wird in der Regel nicht als Quelle für die traditionelle Rechtssprechung verwendet. Herleitung des Namens des Kanuni i Lekë Dukagjinit Eine genaue Aufstellung aller Kanun-Bezeichnungen und regionalen Varianten des Gewohnheitsrechts wäre ein komplexes Unterfangen, viel zu zahlreich sind die Namen in der Literatur und insbesondere die Namen, die die Albaner ihrem Gewohnheitsrecht gaben. Beispiels- weise nannte man den Kanuni i Lekë Dukagjinit in Nordalbanien ver- kürzt Kanuni i Lekës oder Kanuni i Dukagjinit. In der Region Malësia e Madhe ist die Bezeichnung Kanuni i Malëve oder einfach nur Kanun zu hören. Ähnlich verhält es sich mit dem Kanuni i Skanderbegut, der regional unterschiedlich bezeichnet genannt wurde, wie beispielswei- se Zakoni i Kurbinit, Zakoni i Bendës amadhesë, Zakoni i Dibrës oder Kanuni i Martaneshit.55 In anderen Regionen verwiesen die Menschen auf die gewohnheitsrechtlichen Regelungen mit allgemeinen Bezeich- nung wie ›Kanun der Region‹ oder ›Kanun der Ältesten‹, oder sie sag-

54 Krasztev 2000: 204. 55 Pupovci 1972c: 109. 52 Herleitung des Namens des Kanuni i Lekë Dukagjinit ten es noch unbestimmter: ›Der Kanun akzeptiert dies nicht‹ oder ›Unsere Berge lassen dies nicht zu‹.56 Eine Aufzählung der Kanun- Typen wird dadurch erschwert, dass verschiedene Namen für ähnli- che gewohnheitsrechtliche Regelungen in ein und derselben Region verwendet wurden. Generell kann man jedoch sagen, dass der Ausdruck kanun überwiegend in Nordalbanien Anwendung fand. Die Bezeichnung zakon wurde vorwiegend in Zentralalbanien und shartë im Südwesten des Landes verwendet.57 Es sind vier Haupttypen des Kanuns zu unterscheiden. Zum einen der Kanuni i Lekë Dukagjinit, der am weitesten verbreitet war und auf den man sich im heutigen Albanien zumeist beruft. Noch im Jahre 1960 konnte der Kanuni i Lekë Dukagjinit von sozialistischen For- schern in zahlreichen Regionen Nordalbaniens ausgemacht werden: Malësia e Madhe, Dukagjin, Nikaj-Mërtur, Pult, Krasniqe, Lumë, Po- stribë, Berisha, Thaç, Bytya, Has, Gash, Mirdita, , Malësia i Leshit. Etwas weniger ausgeprägt fand man diesen Kanun in den Re- gionen Shkodra, Lesh und im kosovarischen Prizren, Gjakova und Peja.58 Der Kanuni i Skanderbegut, den Hahn das erste Mal erwähn- te,59 reichte vom Fluss Shkumbin in Richtung Norden, über das Tal des Drins bis zum Zusammenfluss mit dem Veleshicë und ferner im Tal des Matis bis zum Urake und die nordalbanischen Küstengebiete um die Mündung des Matis.60 Zwei weitere Kanun-Typen, deren Exis- tenz erst nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt wurde, Zakoni Mus Ballgjini und die Sharti Idriz Sulit, zählen heute zu weiteren promi- nenten Varianten des Gewohnheitsrechts. Die shartë von Mus Ballgji- ni herrschte im Shkumbin-Tal vor und die Regelungen von Idriz Sulit in der Labëria.61 Da es im Weiteren nicht um eine Besprechung der regionalen Va- rianten geht, stütze ich mich auf den gut dokumentierten Kanuni i Lekë Dukagjinit. Es handelt sich bei dem Kanuni i Lekë Dukagjinit, genauso wie bei dem Kanuni i Skanderbegut, um recht allgemeine Be- 56 Doçi 1975: 181-182. 57 Zojzi 1956: 144. 58 Ivanova 1960: 96. 59 Hahn 1869: 53. 60 Zojzi 1969: 384. 61 Georgescu 1963: 72-73; Ivanova 1960: 96; Pupovci 1972b: 88-89; Zojzi 1969: 384. 53 Was ist der Kanun? zeichnungen, deren Unterschiede und Gemeinsamkeiten bisher nur selten genau besprochen wurden.62 Es sind Oberbegriffe für die unter- schiedlichen regionalen Varianten, und diese geben möglicherweise nicht die lokalen Bezeichnung wider.63 Allein an den zahlreichen Ver- suchen, den Namen Lekë Dukagjini auf konkrete Personen, Regionen oder Großfamilien zurückzuführen, wird die Problematik um die un- terschiedlichen Bezeichnungen der mündlichen Regelwerke deutlich. Eine kurze Darstellung der Bandbreite der Erklärungsmodelle ver- mag Indizien zu geben, worin die Quelle des nordalbanischen Ge- wohnheitsrechts besteht. Ist es das Werk einer historisch belegten Person oder vielmehr das Produkt eines über Jahrhunderte gefestigten sozio-ökonomischen Feldes, in welchem man sich auf einen mythi- schen Kulturheroen bezieht? Die Menschen in Nordalbanien sagen si tha Leka, ashtu mbet (›wie Lekë sagte, so bleibt es‹). Doch wer ist die- ser Lekë? Ist ein Lekë Dukagjini gemeint, und wer war diese Person? In der Geschichte Albaniens gibt es mehrere Lekë, die gemeint sein können.64 Die erste Theorie65 zur Erklärung der Herkunft des Kanuni i Lekë Du- kagjinit ist die populärste unter der nordalbanischen Bevölkerung und fand auch in der Literatur bis 1944 großen Widerhall. Das Gewohnheits- recht geht demnach auf einen historisch nur schwer greifbaren politi- schen Begleiter — »fog of mythology is thick around him«66 — von namens Lekë Dukagjini (1410-1481) zurück (Abb. 5). »Wer war aber dieser Dukadschin?«, fragt Hahn. Er war der ›Herr dieses Lan- des‹ und dessen Gesetzgeber, denn er hat die Satzung verfasst, die seinen Namen trägt.67 Bernard Newman (1944) nennt Lekë Dukagjini den ›alba- nischen Moses‹, nicht weil er die Albaner ›in das Land in dem Milch und

62 Siehe bspw. Pupovci 1969. 63 Frashëri, K. 1977: 248. 64 Pupovci 1972c: 203, ›Lekë‹ ist die unbestimmte, ›Leka‹ die bestimmte Form. 65 Ich beziehe mich hier auf die vier wichtigsten Interpretationsrichtungen der Rückführung des Kanuni i Lekë Dukagjinit wie sie von Lambertz (1949: 54-55) genannt werden; siehe auch Durham 1979 [1928]: 65-66; Hasluck 1954: 12-15; zur Quellenfrage siehe Pupovci 1972b: XIX-XXXV (ähnlich bereits in 1971a); Ur- sprung des Namens Pupovci 1972b: XXXV-LII (ähnlich 1972c); Geschichte der Dukagjin: Pupovci 1972c: 110-118. 66 Durham 1994 [1909]: 25. 67 Hahn 1869: 53. 54 Herleitung des Namens des Kanuni i Lekë Dukagjinit

Honig fließt‹ geführt hat, son- dern weil Dukagjini wie Moses Gesetze gebracht habe, welche gerade bezüglich der Blutrache einem biblischen ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹ ähnlich seien.68 Doch dieser Dukagjini müsste, Philipp Loewe (1914) zufolge, wenn er denn existierte, schon lange vor der türkischen Invasion gelebt, und möglicher- weise schon ›Jahrhunderte in Anwendung stehende Bräuche‹ in einen mündlichen Korpus zu- sammengefasst haben. Nur das würde erklären, warum sich die Albaner trotz ihres ›starren Un- abhängigkeitsgefühls‹ von einer einzelnen Person sich etwas ha- ben vorschreiben lassen.69 Abb. 5: Lekë Dukagjini (1410-1481). Wenn aber der Zeitgenosse von Skanderbeg gemeint war, der ›Sagen umwobene Sohn‹ von Pal Dukagjini, der manchmal auch selbst als der eigentliche Schöpfer des Gewohnheitsrechts dargestellt,70 dann war die Invasion der Osmanen in vollem Gang, und der Kanun konnte nicht Jahrhunderte alt sein. Der fis Dukagjin stammte Maximilian Lambertz (1949) zufolge aus dem Süden Albaniens, sei anschließend um Lezha und Kruja ansässig gewesen, später auch in Kosova. Die Herkunft des Namens sei unklar, es könne ein Orts- oder tatsächlich ein ›Dynastie-Name‹ sein, mögli- cherweise sei es auch ein Doppelname, wie manch andere fis ihn hätten (Bibdoda oder Gjonmarkaj).71

68 Newman 1944: 197-198. 69 Loewe 1914: 111. 70 Pupovci 1972c: 104-105. 71 Lambertz 1949: 55; siehe auch Ivanova 1960: 96. 55 Was ist der Kanun?

Ein zweiter Lekë ist Lekë Dukagjini II (1459-1479), wie ihn Lam- bertz einführt. Lambertz nimmt an, dass kleine Republiken und Städ- te im Nordalbanien des fünfzehnten Jahrhunderts kodifiziertes Recht gehabt hätten. Die kleinen Freistaaten, die sich auch um Dörfer und bajrak (von Osmanen geschaffene Verwaltungseinheit) bildeten, hät- ten gemeinsame juristische und kriegerische Elemente entwickelt. Nach der Besatzung Albaniens durch die Türken sei der Kanuni i Lekë Dukagjinit als eigenständiger Kodex verschwunden, aber in der Erinnerung lebendig geblieben.72 Diese These von Lambertz erscheint schon deswegen fragwürdig, weil der bajrak erst im neunzehnten Jahrhundert von den Osmanen geschaffen wurde. Im fünfzehnten Jahrhundert gab es diese Verwaltungseinheit noch nicht.73 Krasztev argumentiert in eine ähnliche Richtung wie Lambertz. Mitglieder der Dukagjin-Familie hätten ihre eigenen Versionen des Kanuns gesam- melt, nach dem Vorbild der Sultane. Die bedeutendsten osmanischen Machthaber häuften ihre Gesetzessammlungen unter der Bezeich- nung ›Kanun‹ an. Die Idee dahinter sei gewesen, einen Machthaber in eine vorhandene Tradition einzusetzen und zwar dadurch, dass man das vorhandene traditionelle Recht nach dem Machthaber benannte. Es sei demnach sicherlich auch kein Zufall, dass, wie beim Kanuni i Lekë Dukagjinit geschehen, zahlreiche aristokratische albanische Fa- milien im fünfzehnten Jahrhundert den lokalen Kanun mit ihrem Na- men verbanden, denn Sultan Mehmet II habe seine machtvolle Posi- tion unter anderem dadurch untermauert, dass er verschiedene Kanun unter seinem Namen akkumulierte. Dieses wäre dadurch erfolgt, so Krasztev, dass versucht worden sei, den Kanun ehemaliger lokaler Machthaber durch Umbenennung dem aktuellen Machthaber zuzu- schreiben. Dieses erfolgte auch im Falle der Dukagjin, und dieser Name überlebte.74 Eine dritte Hypothese bezüglich der Herleitung des Namens des Kanuni i Lekë Dukagjinit geht nicht direkt von einer Person dieses Namens aus. Lambertz schreibt, dass hier davon ausgegangen werde, dass der Kanun des fis der Lekas die Quelle des Kanuns sei. Diese

72 Lambertz 1949: 55; siehe auch Fishta 1997: 18. 73 Zur Entstehung der bajrak siehe Ulqini 1991. 74 Krasztev 2000: 201. 56 Herleitung des Namens des Kanuni i Lekë Dukagjinit wohnten in den Bergen von Mbishkodra, das heißt, im Bergland um Shkodra und im Dukagjin. Der fis der Leka, wohnhaft in der Region Dukagjin, sei so zu Lekë Dukagjini geworden und das Gewohnheits- recht zu dem Kanun von Lekë Dukagjini.75 Doch Lambertz selbst bevorzugt eine vierte Hypothese: Da es keine sichere Etymologie gebe und der Name Lekë Dukagjini mehr my- thisch verklärt als historisch fassbar sei, hat Lambertz ein anderes Er- klärungsmodell, das er als eine Mischung der vorgenannten Hypo- thesen darstellt. Das Gewohnheitsrecht sei demnach in den nordalba- nischen Städten und kleinen Freistaaten in Kraft gewesen, vor allem in der Malësia e Madhe, so auch im Dukagjin. Dieses Recht hätten die Notare und Rechtsgelehrte als ›Lex Dukagjini‹ bezeichnet, das heißt als das Gesetz der Region Dukagjin. Doch die Kenntnis des Lateins verlor sich in den folgenden Jahrzehnten, das Wort ›lex‹ sei nicht mehr verstanden worden, und man hatte nur noch den albanischen Namen Leka (Alexander) herausgehört. Später entwickelte sich der Kanun Lex Dukagjin zum Kanun von Lekë Dukagjini — aus einem kodifi- zierten Gesetz einer bestimmten Region sei auf diese Weise die Be- zeichnung einer ›gesetzgeberischen Dynastie-Persönlichkeit‹ entstan- den.76 Realistischere Überlegungen zu einer Rückführung des Namens des Kanuns auf einen bestimmten Gesetzgeber werden im Zusammenhang mit der oben genannten Sharti i Idriz Sulit von Rrok Zojzi (1956) ange- stellt. Idriz Suli soll kein Gesetzgeber, sondern eine regional wichtige Person gewesen sein, und sein Einfluss auf die lokalen Gewohnheiten sei so stark gewesen, dass das Gewohnheitsrecht in der Labëria schließlich nach Suli benannt worden sei.77 Zojzi schreibt, dass die Sharti i Idriz Sulit einen Vorläufer habe, das Gewohnheitsrecht nach Papa Zhuli. Letzterer war ein albanischer Feldherr, Richter und Priester, bevor die Osmanen das Land eroberten. Idriz Suli hingegen lebte vermutlich um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts im Kurvëlesh. In Regionalversammlungen 75 Lambertz 1949: 55. 76 Lambertz 1949: 55; zu Skanderbeg siehe Georgescu 1963: 72-73. 77 Zojzi 1969: 389; eine ähnliche Argumentation siehe auch im Zusammenhang mit dem Zakoni i Mus Ballgjinit. Zojzi schreibt, dass es auch den Begriff des Gewohn- heitsrechts nach Papa Zhuli in der Region gibt, in der später die Sharti i Idriz Sulit vorherrschte. Vermutlich wurde der Name nur ersetzt (Zojzi 1956: 149). 57 Was ist der Kanun? ist er für den kollektiven Übertritt der Bevölkerung zum Islam eingetre- ten, was auch zu einer Anpassung des Kanuns an die neue Religion führ- te.78 Zhuli und Suli treten in der Darstellung von Zojzi nicht als Gesetz- geber auf, die das Recht mündlich oder schriftlich kodifizierten, sondern als in einem bestimmten regionalen und zeitlichen Raum wichtige Per- sönlichkeiten, die auf Grund ihrer Stellung auch prägenden Einfluss auf die Regeln des Zusammenlebens gehabt haben.79 Die vermeintlichen Be- gründer oder Verkünder des Kanuns sind, um mit Jan Assmann (1997) zu sprechen, mit ›Erinnerungsfiguren‹ des kulturellen Gedächtnisses treffend beschrieben. Letzteres, die gesellschaftliche Außendimension des menschlichen Gedächtnisses, bezieht sich auf konkrete Fixpunkte in der Vergangenheit. Vergangenheit kristallisiert sich um symbolische Fi- guren, die die Erinnerung binden.80 Diese Erinnerungsfiguren sind Ver- ankerungen der Erinnerung, und Lekë Dukagjini wird damit zu einem Fixpunkt des kulturellen kollektiven Gedächtnisses. Erst die Forscher in den Zeiten des Sozialismus verabschiedeten sich von der Vorstellung, dass eine bestimmte Person der Autor des Ka- nuns gewesen sein könnte. Die materialistische Sichtweise war in die- sem Zusammenhang nützlich, um sich von den schwer nachzu- vollziehenden Erklärungsmodellen der Herleitung des Namens des Kanuni i Lekë Dukagjinit zu lösen. Der Kanun wird nun zum Pro- dukt jahrhundertlanger sozio-ökonomischer Entwicklung, die auf Grund regional unterschiedlicher Geschichte auch verschiedene Züge angenommen hatte. Es gibt in der materiellen Sichtweise keinen be- stimmten Schöpfer dieses Rechts, sondern es ist aus der logischen Konsequenz bestimmter Lebensbedingungen entstanden.81 Pupovci erklärt den Namen des Kanuni i Lekë Dukagjini mit mehreren Fakto- ren. Zunächst spricht er ebenfalls von einer wichtigen Person Lekë Dukagjini, die jedoch vor allem deswegen überregional bedeutsam er- scheine, weil der ganze fis der Dukagjin in Nordalbanien eine expo- nierte Rolle innehatte. Die Gewohnheiten dieses fis seien alleine aus

78 Zojzi 1956: 149; Kaser, K. 1992: 292, Anmerkung 75; siehe auch Godin 1956: 181-183. 79 Durham 1979 [1928]: 64-65. 80 Assmann 2000 [1997]: 52. 81 Gjergji/Dojaka 1969b: 64; siehe auch Kaser, K. 1992: 291. 58 Der Kanun als Habitus diesem Grund überregional bekannt geworden. Dieses sei ferner da- durch verstärkt worden, weil die Osmanen einen sanxhak Dukagjini (osmanische Verwaltungseinheit) geschaffen hätten, somit das Gebiet des fis administrativ bestätigten. Weiter sei der Ausdruck Kanuni i Lekë Dukagjinit von den türkischen Besatzern übernommen und auf diese Weise offizialisiert und auf andere Regionen des Landes übertra- gen worden, selbst wenn der Einfluss des fis der Dukagjin dort nicht so groß gewesen sei.82 Der Kanun als Habitus Gewohnheitsrecht als Produkt sozio-ökonomischer Bedingungen, wie von den sozialistischen Forschern herausgestellt, erscheint plausi- bel. Um diesen Zusammenhang genauer aufzuzeigen, nehme ich das Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu (1972) auf. Damit wird die Wechselbeziehung zwischen sozialem Feld und den Handlungsdispo- sitionen des Kanuns deutlich. Ende der 1950er Jahre ging Pierre Bourdieu als Wehrpflichtiger nach Algerien, das sich in einem Befreiungskrieg von Frankreich zu lösen suchte. Die erste akademische Stelle hatte Bourdieu an der Universität in Algier inne. 1961 kehrte er nach Frankreich zurück. Bis zu dieser Rück- kehr unternahm er in Algerien, vor allem bei den Berbern in der Kabylei, erste Feldforschungen. Er untersuchte Themen wie Ehre, symbolische Machtverhältnisse, Verwandtschaft, Zeiterfahrung, Gabentausch oder auch traditionelles Wohnen.83 Bourdieu forschte in einer Zeit in Algerien, in der die Berber und ihre sich langsam auflösende soziale und wirt- schaftliche Eigenständigkeit auf ›moderne‹ Wirtschaftsstrukturen stie- ßen.84 Er bemerkte, dass die ökonomische Praxis der Berber nur wenig mit okzidentalen Formen des Wirtschaftens gemein hatte — eine Aussa- ge, die heutzutage etwas banal klingen mag. Besonders wenn die berberi- sche Ökonomie konkret mit anderen Formen des Wirtschaftens zu-

82 Pupovci 1972c: 107, 122-123; 1967. 83 Ergebnisse dieser Forschungen finden sich beispielsweise in dem noch in Alge- rien verfassten Buch Sociologie d’Algérie (1958) oder in den drei einleitenden Ka- piteln (Le sens de l’honneur, La maison ou le monde renversé, La parenté comme représentation et comme volonté) der Esquisse d’une théorie de la pratique (1972). 84 Siehe zu den frühen Forschungen Bourdieus Krais/Gebauer 2002: 18-25, 82; Schwingel 2000 [1995]: 12; Swartz 1997: 15-51. 59 Was ist der Kanun? sammentraf, wirkte kabylisches Handeln unvernünftig und nicht selten wenig nachvollziehbar. Bourdieu ging der Struktur des Handelns der Kabylen nach und beschrieb eine Handlungslogik im spezifischen sozia- len Umfeld der Berber, die er später mit dem Konzept des Habitus erklä- ren sollte. Das angestammte soziale Umfeld der Kabylen war durch moderne Formen des Wirtschaftens ausgehöhlt worden, dennoch wirkte der Habitus nach, das heißt, die alte Handlungslogik galt noch immer. Die Trägheit des Habitus, Bourdieu nennt dies den ›Hysteresis-Effekt‹, ließ die in neuen ökonomischen Bedingungen nicht mehr adäquaten Handlungen weiter fortbestehen, obwohl der ursprüngliche, mit ihren Verhaltensweisen zusammenhängende soziale Hintergrund nicht mehr derselbe war. Zu dieser Zeit war Bourdieus Forschung noch ethnologisch ausgelegt oder anders ausgedrückt: er wollte eine in seinen Augen künstliche Tren- nung von Ethnologie und Soziologie überwinden. Er berief sich dabei auf Émile Durkheim und seine Forschungstradition. Gerade bei Durk- heim sei keine Unterscheidung zwischen den beiden Positionen zu er- kennen:85 »Bref, tout mon travail, depuis plus de vingt ans, vise à abolir l’opposition entre l’ethnologie et la sociologie.«86 Es gebe eine künstliche Trennung zwischen den sich ergänzenden Fragestellungen der beiden Disziplinen und sie erschwere dem einen wie dem anderen Fach einen ganzheitlichen Zugang zur Gesellschaft. Die Methoden der Fächer böten nur zusammen eine gute Herangehensweise. Später jedoch positionierte Bourdieu sich deutlich gegen die Ethnologie, deren Existenzberechti- gung als eigenes Fach er kritisch hinterfragte (»il y a quelque chose de malsain dans l’existence de l’ethnologie comme science séparée«). Er kri- tisiert die methodischen Ansätze (warum gebe es diese Abneigung gegen Statistiken?) und Grundpositionen der Ethnologie: Eine übertriebene Vorsicht vor Aussagen, die ethnozentrisch ausgelegt werden könnten, führe dazu, dass man eine künstliche Unterscheidung zwischen dem Fremden und dem Eigenen aufbaue. Dies verstärke das Bild einer ›primi- tiven Mentalität‹ und verbiete das In-Beziehung-Setzen der gewonnenen Erkenntnis zur eigenen Gesellschaft.87

85 Swartz 1997: 49. 86 Bourdieu 1987: 92. 87 Bourdieu 1987: 87. 60 Der Kanun als Habitus

Viele bedenkenswerte Kritikpunkte muss man in jüngster Zeit aller- dings etwas relativieren, weil sie in der Ethnologie ausführlich disku- tiert wurden (die Diskussionen um die Positionierung des Ethnologen zum Forschungsgebiet, die Abkehr von der Untersuchung kleinerer homogener Gesellschaften als ideales Forschungsfeld und das zuneh- mende Forschen mit ethnologischen Methoden auch ›vor der Haus- tür‹). Bourdieus Argumentieren gegen Positionen vornehmlich der französischen Ethnologie, die mit ihrem Strukturalismus das intellek- tuelle Leben Frankreichs in den 1960er und 1970er Jahren prägte, war offensichtlich auch ein persönlicher Kampf, der, losgelöst von wissen- schaftlichen Diskussionen, ein gewisses Eigenleben gewann. Wissen- schaftstheoretisch kritisierte Bourdieu den Strukturalismus von Clau- de Lévi-Strauss vor allem deswegen, weil Lévi-Strauss die Akteure als ›simples épiphénomènes de la structure‹ darstelle. Bourdieu hingegen will den Akteuren eine gewisse Form von Selbständigkeit zurückge- ben. — Doch tut er dies tatsächlich? Der Soziologe Max Miller (1989) kritisiert in deutlichen Worten den ›überzogenen Determinismus‹: Bourdieu zitiert Leibniz mit der Aus- sage, dass wir in ›Dreiviertel unserer Handlungen‹ Automaten sind,88 was Miller dazu bewegt zu schreiben, dass sich Bourdieus Kohärenz- und Sozialisationsthese eigentlich nur auf jene Dreiviertel bezieht. Das restliche Viertel, so Miller, unterschlägt Bourdieu hingegen syste- matisch.89 Der Eindruck von maschinenhaftem Handeln kann bei der Lektüre Bourdieus auch dann entstehen, wenn sich der Leser aus- schließlich auf seine theoretische Abhandlung stützt und seine empi- rischen Arbeiten, die zumeist in Artikeln veröffentlicht wurden, außer Acht lässt. Tatsächlich ist Bourdieu auch der Überzeugung, dass der soziale Akteur nicht das freie Individuum sei, das vor jedem Handeln alle Möglichkeiten prüfe und darauf aufbauend eine Ent- scheidung treffe. Eine tiefere handlungstheoretische Diskussion um den Habitus las- se ich im Folgenden aus, denn es geht mir nicht um die ausführliche Besprechung eines allgemeinen Handlungsmodells. Das Habitus- Konzept war ursprünglich auch nicht als ein genereller theoretischer

88 Bourdieu 1979: 553. 89 Miller, M. 1989: 205-206. 61 Was ist der Kanun?

Lösungsansatz verstanden worden, es entwickelte sich aus konkreten Forschungen in Algerien. Erst später arbeitete Bourdieu den Habitus theoretisch auf.90 Das Wechselspiel zwischen dem Habitus und dem sozialen Feld soll ein Erklärungsmodell darstellen, das albanische Ge- wohnheitsrecht zu beschreiben und seine Beständigkeit bis in die heu- tige Zeit zu erläutern. Schließlich wird das Habitus-Konzept zur Er- klärung der Beziehung zwischen Kommunikationsverhältnissen und Kommunikationsstil herangezogen werden, die ich am Beispiel der Praxis des Kanuns erläutern werde. In dem Buch Esquisse d’une théorie de la pratique (1972) fügt Bour- dieu in wenigen Passagen das Gewohnheitsrecht (›droit coutumier‹) und das Habitus-Konzept zusammen. Bourdieu bezeichnet Gewohn- heitsrecht ausdrücklich als eines der beispielhaftesten Produkte des Habitus. Ein überschaubarer Satz von Vorgaben, der sich laut Bour- die aus dem Habitus ergibt, dient als Grundlage für das praktische Handeln des Akteurs und ist der Leitfaden für eine unbegrenzte Viel- falt sozialer Situationen, in denen der Akteur agiert. Die verinnerlich- te Struktur des Gewohnheitsrechts gibt den Rahmen für die Hand- lungen und Bewertungen vor, die gesellschaftlich bestimmt als sozial adäquat gesehen werden, ohne aber ausführlich und differenziert in einem Regelwerk, gleich welcher Art, ausformuliert zu sein. Genauso wie die sozial adäquaten Handlungen und Bewertungen sich aus dem Gewohnheitsrecht erklären, welches Teil eines Habitus ist, der die bloßen Rechtsvorstellung einer Gesellschaft weit überschreitet, sind auch die Abweichungen im sozialen Verhalten auf diese Weise erklär- bar.91 In der Kabylei gab es keinen juristischen Apparat, der ein Gewalt- monopol zur Durchsetzung der gesellschaftlichen Regeln besaß. Die Wahrung der Ordnung ergab sich über Versammlungen und Älteste, die sich auf Grund ihrer Erfahrung der grundlegenden Strukturen ih- rer Rechtsvorstellungen besonders bewusst waren und über die Ver- mittlung von Konfliktparteien den Habitus des Gewohnheitsrechts in Szene setzten und über ihre Praxis perpetuierten.92 Auch bei den Ber-

90 Schwingel 2000 [1995]: 57. 91 Bourdieu 2000 [1972]: 301-302. 92 Bourdieu 2000 [1972]: 313. 62 Der Kanun als Habitus bern in der Kabylei gab es einen ›qanun‹, eine Aufzählung von Regeln, der hauptsächlich individuelle Fehler nannte, gefolgt von den Konse- quenzen, die die Fehler mit sich brachten. Doch der ›qanun‹, der in je- dem Dorf verschieden war, ging eigentlich seiner Ausformulierung und damit den einzelnen Regeln voraus. Es gab keinen formalen, ra- tionalen und expliziten Code, nur einen Sinn für Ehre und Gerechtig- keit. Unausgesprochen blieb die Summe an Werten und Prinzipien, die die Gesellschaft durch ihre Präsenz bestätigte und perpetuierte. Die Werte wurden nicht diskutiert und bildeten das Fundament der Rechtsvorstellung. Es waren die verinnerlichten Strukturen des Habi- tus, die die Grundlage des Gewohnheitsrechts bildeten.93 Das Gewohnheitsrecht, gerade im Zusammenhang mit Nordalbanien, wird häufig mit einer Anzahl von Regeln und Normen gleichgesetzt. Das ist eine legalistische Sichtweise, die die Regeln wie Gesetzestexte auflistet. Damit wird das Gewohnheitsrecht zwar aufgewertet (es wird über die Aufzählung in Paragraphen zu einem zusammenhängenden Ganzen und einer vermeintlich rechtlosen Gesellschaften eine Rechtsordnung zuge- sprochen), jedoch wird auch der Blick darauf verklärt und die Regeln er- scheinen als statische Normen. Dabei erklärt sich das Gewohnheitsrecht gerade durch seine Prozessualität. Gewohnheitsrecht beruht auf wenigen grundlegenden Eckpunkten, die für den nordalbanischen Kanun noch darzustellen sind. Es wird über soziales Verhalten im Allgemeinen — es ist unlösbar mit diesem verbunden — und über Sprüche weitergegeben. Diese stellen keine Norm dar, es sind vieldeutige, jedoch nicht beliebig auslegbare Sätze, die umfangreiche Zusammenhänge in wenigen Worten erfassen. Das Habitus-Konzept ist denkbar einfach, losgelöst von der Em- pirie wirkt es in Bourdieus Worten allerdings abstrakt. Jeder Mensch ist zu einem nicht unwesentlichen Teil gesellschaftlich vorbestimmt. Diese Prädisposition bestimmt die aktuellen und wirkt sich auch auf die zukünftigen Handlungen aus. Genauer formuliert ist es der Habitus des Individuums, der gesellschaftlich bestimmt ist, und we- niger die Person selbst. Allgemein und abstrakt formuliert besteht ein Habitus94 aus einem System dauerhafter Dispositionen, das heißt strukturierter Strukturen, die wiederum als strukturierende Struk- 93 Bourdieu 2000 [1972]: 58-59. 63 Was ist der Kanun? turen wirken. Der Habitus ist ein Erzeugungs- und Strukturie- rungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen: »la dialectique de l’intériorité et de l’extériorité, c’est-à-dire de l’intériorisation de l’extériorité et de l’extériorisation des l’intériorité: les structures qui sont constitutives d’un type particulier d’environnement (e. g. les con- ditions matérielles d’existence caractéristique d’une condition de classe) et qui peuvent être saisies empiriquement sous la forme des ré- gularités associées à un environnement socialement structuré pro- duisant des habitus, systèmes de disposition durable«.95 Der Mensch internalisiert über seine Sozialisation die Strukturen seines sozialen Umfeldes, das sich über materielle Bedingungen konstituiert. Diese Sozialisation erfolgt in komplexen Gesellschaften klassenspezifisch, in homogeneren Gesellschaften wie in der Kabylei oder Nordalbanien über für alle Menschen ähnlich geltende Bedingungen. Der Habitus ist das Produkt der gelebten Erfahrung des Individuums als Teil der Ge- sellschaft und damit der Geschichte der Person. Er ist inkorporierte, gelebte Geschichte. Er wirkt, indem er individuelle und kollektive Praktiken, also Erfahrungsmuster generiert, die sich in jedem Men- schen einer gegebenen Gruppe in Form von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata wiederfinden.96 Die Wahrnehmungssche- mata bestimmen die alltägliche Wahrnehmung, wobei hier die ge- fühlte Wahrnehmung gemeint ist, in Abgrenzung zu den Denk- schemata. Die Wahrnehmungsschemata setzen sich aus Klassifika- tionsmustern zusammen, mit deren Hilfe die Akteure ihre soziale Wirklichkeit strukturieren und interpretieren. Die Denkschemata be- stehen aus impliziten ethischen Normen, mit denen gesellschaftliche Handlungen beurteilt werden, und dem Geschmack, dem ästhe- tischen Maßstab zur Bewertung kultureller Objekte und Praktiken. Letztlich bleiben noch die Handlungsschemata, die die Quelle der individuellen oder kollektiven Praktiken der einzelnen Individuen darstellen.

94 Zu den philosophischen Wurzeln des Begriffes ›Habitus‹, den Bourdieu nicht er- funden oder als Erster benutzt hat, siehe Krais/Gebauer 2002: 26-30. 95 Bourdieu 2000 [1972]: 256, Kursivierung im Orgininal; siehe auch Bourdieu 2002 [1980]: 88-89. 96 Bourdieu 2002 [1980]: 91. 64 Ehre und Ehrgefühl als Habitus

Das in einer Gesellschaft sozialisierte Individuum verinnerlicht ihre Strukturen, das heißt nach Bourdieu, die Gesellschaft strukturiert das individuelle Bild, welches der Einzelne von ihr hat. Die gesellschaftli- chen Strukturen existieren jedoch nicht von sich aus. Sie sind nicht als von vornherein gegeben zu betrachten. Die gesellschaftlichen Struk- turen sind das Ergebnis der Handlungen der Akteure der Gesellschaft und damit der Praxis des Habitus: Die Gesellschaft, beziehungsweise das soziale Feld, strukturiert den Menschen, gibt ihm einen Hand- lungsrahmen vor, in dem er agiert. Auf diese Weise bestätigt er die Strukturen der Gesellschaft. Der Habitus setzt sich daher, wie das Konzept häufig zusammengefasst wird, aus structures structurantes structurées (strukturierenden strukturierten Strukturen) zusammen. Ehre und Ehrgefühl als Habitus Der erste Text der drei der Esquisse vorangestellten ethnologischen Studien (Le sens de l’honneur) behandelt die Ehre und den Ehrbegriff bei den Kabylen. Dieser häufig zitierte Text, gerade in den Diskussio- nen um Ehre und Schande im Mittelmeerraum,97 kann den Eindruck erwecken, ein hauptsächlicher Lebensinhalt der Berber bestünde in ei- nem steten Herausfordern des Ehrgefühls (›nif‹) eines anderen und weiterhin darin, diese Herausforderung zu erwidern. Bourdieu stellt eine Anzahl von Regeln für dieses berberische Gesellschaftsspiel zu- sammen. Ehrgefühl wirkt hier wie ein Hut, dem man dem nächsten stibitzt, in freudiger Erwartung, wie der Bestohlene es wohl anstelle, seine Kopfbedeckung wiederzuerlangen. Aber dieses vermeintliche lustige ›Fang-das-Ehrgefühl‹-Spiel wirkt vor allem deswegen so, weil Bourdieu das komplexe Phänomen auf wenigen Seiten notgedrungen abstrakt darstellt, so als hätten wir es mit einem zwanglosen Zeitver- treib zu tun. Solche ›Spielchen‹ findet man beispielsweise auch beim Viehraub (›sa bardana‹) auf Sardinien, wie Axel Schmidt (1994) ihn be- schreibt. Viehdiebstahl wird fast einem Sport gleich ausgetragen. Der Viehdieb begehe den Raub nicht aus Gründen persönlicher Bereiche- rung, es stelle eine Mutprobe und einen Männlichkeitsbeweis dar. Der bestohlene Hirte versuche anschließend, in geheimen Verhandlungen sein Vieh zurückzuerhalten, abzüglich eines ›Tributs für Unachtsam- 97 Siehe Fußnote 114. 65 Was ist der Kanun? keit‹.98 Ein ähnliches Phänomen in Nordalbanien beschreibt Gjeçov. Er nennt es Plünderung oder Überfall (prejë oder pretim), das heißt man stiehlt einem Bauern Vieh. Dies sei häufig dann geschehen, wenn es einen festgefahrenen Konflikt zwischen zwei Parteien gegeben habe. Es wird bei Gjeçov nicht sehr deutlich, worum es bei den Plün- derungen genau geht. Möglicherweise sind sie eine Form der Heraus- forderung, das Gegenüber zu einer Reaktion zu bewegen.99 Einige Regeln in der Kabylei benennen, wessen Ehrgefühl heraus- zufordern ist und wessen nicht. Das Gegenüber muss die Regeln ken- nen und ebenfalls in der Lage sein, die Herausforderung anzunehmen. Wenn dies nicht berücksichtigt wird, fällt die Aktion auf den Heraus- forderer zurück und entehrt ihn. Jemanden herauszufordern bedeu- tet, sein Ehrgefühl anzuerkennen. Auf diese Weise wird der Gegner als jemand herausgestellt, der würdig ist, herausgefordert zu werden, weil er genauso ›stark‹ ist, das heißt, eine Herausforderung des ›nif‹ parieren kann. Manchmal jedoch ist es gut, die Herausforderung nicht anzunehmen und sie nicht zu erwidern, vielleicht ähnlich einem ›Der Klügere gibt nach‹. Auch hier fällt die Aktion auf den Herausforderer zurück, oder der Herausgeforderte bringt es fertig, das Spiel so lange zu spielen bis sich der Gegner selbst entehrt.100 Es ist an dieser Stelle nur schwer möglich, Beispiele aus dem Text Bourdieus zu zitieren, wie genau sich der Leser ein solches Spielchen vorzustellen hat. Es werden fast nur Anekdoten von Herausforderungen des Ehrgefühls angeführt, die den angesprochenen Regeln widersprechen. Deutlicher illustriert Bourdieu das Spiel um das Ehrgefühl zwischen Gruppen. Die Solidarität zwingt jedes Individuum zum Zusammenhalt mit ei- nem Verwandten gegen einen nicht familiär mit ihnen Verbundenen und seiner Gruppe oder zwischen einer Partei (›suf‹) aus dem einen Dorf gegen die eines anderen. In Kämpfen, in denen sich die zwei Gruppen gegenüberstehen, geht es nicht um eine militärische Unter- werfung der gegnerischen Partei, vielmehr gilt es, in einem rituellen Akt einen symbolischen Sieg zu erringen: »on échangeait des injures,

98 Schmidt, A. 1994: 197; siehe auch Moss 1979; Ruffini 1978. 99 Gjeçov 1989 [orig. 1983]: 157, §§ 782-801. 100 Für eine kurze Aufstellung der Regel für die Herausforderung der Ehre und des- sen Erwiederung siehe Vogt 1997: 105-106. 66 Ehre und Ehrgefühl als Habitus puis des coups, et le combat cessait avec l’arrivée des médiateurs. Pen- dant le combat, les femmes encourageaient les hommes de leurs cris et de leurs chants qui exaltaient l’honneur et la puissance de la famille. On ne cherchait pas à tuer ou à écraser l’adversaire. Il s’agissait de ma- nifester que l’on est au dessus, le plus souvent par un acte symbolique: en Grande Kabylie le combat cessait, dit-on, lorsque l’un des deux camps s’était emparé de la poutre maîtresse (thigejdith) et d’une dalle prise à la thajma ‘th de l’adversaire.«101 Das Herausfordern und das Erwidern der Herausforderung des Ehrgefühls ist analog zu der von Marcel Mauss (1950) beschriebenen Praxis von Gabe und Gegengabe zu sehen. Die Gabe (›don‹), in ihren drei Phasen Geben, Nehmen und Erwidern, beschreibt Mauss als grundlegendes Prinzip für rechtliches, ökonomisches und ästheti- sches Verhalten, aber auch für Familienbeziehungen und gesellschaft- liche Solidarität im Allgemeinen.102 Dieses Geben und Zurückgeben ist Teil der Spielregeln um das Herausfordern des ›nif‹, die Bourdieu als Habitus beschreibt. Jedem Akteur wird es so möglich, auf der Basis eines kleinen Satzes zentraler Prinzipien, wie den Grundregeln, die das Spiel um das Ehrgefühl bestimmen, in verschiedenartigen und selbst unvorhergesehenen Situationen in der Logik der Herausforde- rung des ›nif‹ und ihrer Erwiderung zu handeln.103 In Albanien gibt es kein solches Ehrgefühl ›nif‹, das stetig herausge- fordert werden muss, die Ehre darf hier überhaupt nicht berührt wer- den. Der Begriff der Ehre in Albanien ist mehr mit dem ›sakralen Heiligen‹ in der Kabylei zu vergleichen, dem ›hurma‹, das nicht ver- letzt werden darf, und wenn dies dennoch geschieht, zieht dies zwangsläufig eine Blutrache nach sich. Doch der Ehrbegriff in Alba- nien ist nicht minder komplex, er lässt sich ebenso wenig genau umrei- ßen. Dies liegt zum einen daran, dass sich Ehre sowohl auf das Individuum als auch auf die Gruppe (die Familie, die Bruderschaft usw.) beziehen kann.104

101 Bourdieu 2000 [1972]: 28, Kursivierung im Original. 102 Siehe Mauss 1993b [1950]. 103 Bourdieu 2000 [1972]: 43-44. 104 Vogt/Zimmerle 1994: 16. 67 Was ist der Kanun?

Ehre ist, wie sie John G. Peristiany (1966) allgemein definiert, die Bewertung des Einzelnen durch die Gruppe sowie die Selbsteinschät- zung durch das Individuum und somit ein Wechselspiel zwischen dem Einzelnen und der Gruppe. Die Ehrzuweisung ist eine soziale Selbsteinstufung, das heißt der eigene Anspruch auf Ehre, weil man sich ehrenvoll verhalten hat, und die gesellschaftliche Anerkennung, sich an die kulturellen Regeln gehalten zu haben, die dem Individuum ein Recht auf Ehre einräumen.105 In Peristianys Worten klingt dies so: »The argument goes like this: the sentiment of honour inspires con- duct which is honourable, the conduct receives recognition and estab- lishes reputation, and reputation is finally sanctified by the bestowal of honours. Honour felt becomes honour claimed and honour clai- med becomes honour paid.«106 Ehre zeigt somit an, was Menschen sind und in welchem Verhältnis sie zu den anderen Menschen der Gruppe stehen. Ehre ist Bewertung von Verhalten.107 Ehre ist ebenfalls ein Mit- tel der sozialen Differenzierung. Durch das Erlangen von Ehre kann eine individuelle Überlegenheit über andere erreicht werden.108 Dieses Akkumulieren von Ehre ist auf verschiedene Art möglich, beispiels- weise über besondere Leistungen in Kämpfen und Kriegen oder,109 all- gemeiner formuliert, über Handlungen, die in der Gesellschaft als ehrenvoll angesehen werden. Dieses Handeln mit Ehre, in einem fast schon wirtschaftlichen Sinne, beschreibt Bourdieu, in Analogie zur Logik des ökonomischen Kapitalbegriffes, als ›symbolisches Kapital‹, um die Nutzen geleitete Perspektive ehrenvollen Handelns herauszu- arbeiten. Christian Giordano (1994) bemerkt auch, dass die Diskus- sionen um Ehre und damit um Reputation, Status und Position, wie sie bisher geführt wurden, den Kampf um Ehre als ein ideelles Han- deln darstellen und die materiellen Dimensionen vernachlässigt ha- ben: »Konkreter ausgedrückt: Es ist naheliegend, dass die Ehrbarkeit eines unberührten Mädchens besonders hinsichtlich der Heiratschan- cen auch finanzielle Vorteile mit sich bringen kann.«110 Bourdieus An- 105 Peristiany 1974 [1966]: 21. 106 Peristiany 1974 [1966]: 22. 107 Vogt/Zimmerle 1994: 16. 108 Giordano 1994: 181. 109 Kaser, K. 1992: 270 110 Giordano 1994: 187. 68 Ehre und Ehrgefühl als Habitus spruch ist es, die ideelle und materielle Sichtweise zusammenzu- führen. Er beschreibt Nutzen geleitetes und materialistisch geprägtes Handeln nicht im Sinne von bloßen materiell-ökonomischen Interes- sen. Die Abhandlung über das Ehrgefühl bei den Kabylen ist — wie für die Entwicklung seines Habitus-Konzepts — auch für die Neufor- mulierung des Kapitalbegriffes prägend: Eine rein materiell-ökono- mische Sichtweise, so Bourdieu, erklärt nicht die Ökonomien aller Praxisformen, wie des symbolischen Kapitals, das bei dem Spiel um Ehrgefühl zum Tragen komme. Das Kapital entspricht den ›Spielein- sätzen‹ in den sozialen Feldern. Die hauptsächlichen Kapitalarten, schreibt Bourdieu, sind neben symbolischer auch ökonomischer, so- zialer und kultureller Natur. Das Nutzen geleitete Verhalten im sym- bolischen Kapital ›Ehrgefühl‹ ist nicht offen erkennbar.111 Das Inte- ressenprinzip bleibt immer unter dem Schleier der Ehr- und Prestige- beziehungen verborgen, betont Bourdieu. Es entsteht der Eindruck, als ob die berberische Gesellschaft die ›wahre‹, unter den Ehrbezie- hungen stehende Ökonomie nicht akzeptieren wolle. Über das Ehr- verhalten werde nicht geredet, es bestehe einfach.112 Ehrgefühl ist wie ökonomisches Kapital vermehrbar. Die Gesellschaft gibt dem Akteur gewissermaßen einen Kredit an Ehrgefühl, einen Vertrauensvor- schuss, den der Akteur seiner Gruppe zurückzahlen muss.113 Die Ge- sellschaft oder ein Individuum investiert Kapital, also Ehrgefühl, und da es genaue Regeln gibt, wie ehrenhaftes Verhalten auszusehen hat, werden auf diese Weise gesellschaftlich Regeln über die Praxis des Ehrgefühls durchgesetzt. Der Ehrbegriff soll an dieser Stelle nicht ausführlich behandelt wer- den, und viele Arbeiten zu Ehre liegen bereits vor.114 Interessant ist vor allem die Ehre als Teil eines sozialen Organisationsprinzips. Die Lo- gik der Ehre in einer Gesellschaft weist bestimmte Handlungen als eh- renvoll oder nicht ehrverletzend aus. Diese Regeln erfährt das Indivi- duum über die Sozialisation, durch die Praxis der Ehre seiner Gruppe, 111 Bourdieu 2002 [1980]: 86. 112 Bourdieu 2002 [1980]: 53. 113 Bourdieu 2000 [1972]: 375. 114 Neben den bereits genannten Arbeiten von Bourdieu siehe bspw. Gilmore (Hrsg.) 1987; Peristiany (Hrsg.) 1974 [1966]; Pitt-Rivers 1997 [orig. 1977]; Ste- wart 1994; Vogt 1997; Vogt/ Zingerle (Hrsg.) 1994. 69 Was ist der Kanun? und es bestätigt die Logik der Ehre wiederum dadurch, dass es Teil dieser Gruppe ist und innerhalb der internalisierten Strukturen han- delt. Peristiany drückt dies in der Einleitung zu dem von ihm heraus- gegeben Sammelband Honour and Shame (1966) folgendermaßen aus, wobei hier Bourdieus Habitus-Konzept sehr deutlich wird: »Honour, therefore, provides a nexus between the ideals of a society and their re- production in the individual through his aspiration to personify them. As such, it implies not merely an habitual preference for a given mode of conduct, but the entitlement to a certain treatment in return. The right to pride is the right to status (in the popular as well as the anthro- pological sense of the word), and status is established through the re- cognition of a certain social identity.«115 Der Ehrhabitus, das heißt der Kredit an Ehrgefühl, den die Gesell- schaft dem Einzelnen zugesteht, den er zurückzahlen muss und wo- mit er die Logik der Ehre anerkennt und ihre Struktur perpetuiert, offenbart sich in Nordalbanien in einer ähnlichen Weise. Der Kanun beinhaltet eine Aufstellung von Handlungen, die zur Entehrung führ- ten. Wenn die Ehre einer Person verletzt wurde, dann gab es keinen rechtlichen Weg, sie wiederherzustellen. Damit ist gemeint, dass die geschändete Ehre nicht über eine materielle Kompensation, Zahlung von Geld oder Tieren, wiederhergestellt werden konnte. Ebenso we- nig wurde eine soziale Ächtung, der Aufruf, das Dorf zu verlassen, oder das Niederbrennen des Hauses als Strafe für den Ehrverletzer von Ältesten angemahnt. Die Schande konnte nur durch Blutrache, ›das Nehmen von Blut‹, und das Verzeihen des Entehrten gegenüber dem Schuldigen wiederhergestellt werden.116 Entweder man vergab die Schuld oder man musste ›sein dreckiges Gesicht‹ waschen, das heißt ›Blut nehmen‹. Aber die Verschriftlichung des Kanuns nach Gjeçov ist hier widersprüchlich, so ist an anderer Stelle zu lesen, dass die Menschen die Schändung der Ehre eigentlich nicht vergeben konnte. Genauso ist bei Gjeçov zu lesen, dass es sich bei der Ehre und ihrer Wiederherstellung um eine persönliche Angelegenheit handele. Der Entehrte müsste niemandem vorsprechen, um Sühne zu nehmen, er sei niemandem Rechenschaft schuldig, und es sei seine eigene Ange-

115 Peristiany 1974 [1966]: 22. 116 Zu Ehre siehe Gjeçov 1989 [1933]: 130-132, §§ 593-601. 70 Ehre und Ehrgefühl als Habitus legenheit, sich um die Sühne zu kümmern. Dies steht im Widerspruch zu anderen Aussagen im Text Gjeçovs, die von einer kollektiven Ver- antwortung der Gesellschaft sprechen. Man konnte und kann sich durch eine Vielzahl von Aktionen in Nordalbanien entehren. Gjeçov stellt einige Punkte vor:117 Jemand entehrte sich, wenn er in Anwesenheit anderer als Lügner bezeichnet wurde; wenn man jemanden körperlich belästigte oder anspuckte; wenn jemand sein Ehrenwort brach; wenn eine Ehefrau beleidigt wur- de oder diese mit einem anderen Mann Ehebruch beging; wenn jeman- dem die Waffen gestohlen wurden; wenn die Gastfreundschaft ver- letzt oder in Anwesenheit des Gastgebers der Gast beleidigt oder so- gar getötet wurde; wenn jemand in ein Haus oder Grundstück einge- drungen war; wenn jemand Schulden nicht zurückzahlte. Diese Punk- te, so zusammenhanglos sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, beschreiben dennoch deutlich Normen, dessen Überschreitung das Zusammenleben der Gemeinschaft oder die soziale Ordnung gefähr- den konnten. Das soziale Leben beeinträchtigende Handlungen wa- ren schändliche Handlungen: Die Ehre und damit die Ordnung mussten wiederhergestellt werden. Ebenfalls durfte das Wort nicht gebrochen werden, beispielsweise die persönliche Unterschrift per Handschlag unter einer Abmachung oder nach einer Vermittlung in Konflikten. Diese Konflikte wurden üblicherweise von Ältesten und den Anführern der fis vermittelt. Das Einhalten des mündlichen Ver- trags war damit auch ein Einhalten der sozialen Hierarchie. Der nordalbanische Ehrbegriff hat eine Dimension, die in eine ähn- liche Richtung weist wie die kabylische sakrale Ehre (›hurma‹), die ge- wissermaßen über dem Ehrgefühl (›nif‹) steht. Während das Ehrge- fühl ›nif‹ im Spiel der gegenseitigen Herausforderung immer wieder aufs Spiel gesetzt wird, darf das ›hurma‹, das Heilige, nicht berührt werden. Das Verletzen der ›hurma‹ führt in der Regel zur Blutrache, dem einzig gesellschaftlich als legitim erachteten Mittel zur Wieder- herstellung dieser sakralen Ehre.118 Das ›hurma‹ ist das ›linke Sakrale‹, gleichbedeutend mit der ›Welt der Frauen‹ im Innern des Hauses, je- ner geschlossene Raum im Gegensatz zum offenen Raum draußen,

117 Gjeçov 1989 [1933]: 130-132, § 601 a-k. 118 Bourdieu 2000 [1972]: 46. 71 Was ist der Kanun? dem Dorf oder dem Versammlungsplatz. Das ›rechte Sakrale‹ ent- spricht der ›Welt der Männer‹, der Verwandtschaftslinie, es ist der Be- reich des Ehrgefühls ›nif‹ und die ›Welt der Gewehre‹.119 Die Gegen- überstellung des linken ›hurma‹ und des rechten ›nif‹ zeigt sich bei ei- ner weiteren Gegenüberstellungen im sozialen Leben: zwischen der Frau und dem Mann, der Magie und der Religion, der ›Scham behafte- ten‹ weiblichen Sexualität und der Fruchtbarkeit des Mannes, zwi- schen dem Hausinnern und der Öffentlichkeit und in vielen anderen Punkten mehr, so wie Bourdieu sie aufzählt.120 Eine ähnliche Dualität zwischen Innen und Außen und deren Be- deutung in vielen Lebensbereichen lässt sich auch für Albanien zeigen. Diese Gegenüberstellung findet sich fest in der Mythologie verankert. Dort findet man die heute allerdings in den folkloristischen Aberglau- ben verschobene Vorstellung von Schutzgeistern (orë). Eine orë kann jedoch auch als Dämonin gesehen werden, die die Geschicke des Men- schen bestimmt. Es gibt weiß gesichtige (faqja e bardhë) und schwarz gesichtige (faqja e zezë) Schutzgeister, die dem Menschen bei der Ge- burt zugewiesen werden und die mit ihm glücklich oder unglücklich sind. Eine weiß gesichtige orë wohnt in einem guten und eine schwarz gesichtige ist dementsprechend Teil eines schlechten Menschen. Bei ihren Versammlungen zur mitternächtlichen Stunde haben die orë über das Schicksal ihre Schützlinge zu befinden. In diesen Versamm- lungen werden die neugeborenen Menschen angekündigt: »Die Obere erklimmt einen Felsen und verkündet der Orenversammlung, wer in jener Nacht geboren wurde. Und jedem Neugeborenen teilt sie sofort sein Glück zu. Und an ihrem Antlitze merkt man, ob das neugeborene Wesen zum Glücke oder zum Unglücke geboren ist. Hell und wun- derschön strahlt das weiße Angesicht der Oberora, wenn sie ein glückliches Lebenslos austeilt, immer dunkler wird es, je weniger er- freulich die verliehenen Schicksale sind und schwarz wie die Nacht wird es, wenn sie einen ganz unglücklichen betrifft.«121 Aufbauend auf diese mythologische Dichotomie der weißen, guten und schwarzen, bösen Schutzgeister bemerkt Stephanie Schwandner-Sievers (1996,

119 Bourdieu 2000 [1972]: 47-48. 120 Bourdieu 2000 [1972]: 49-51. 121 Lambertz 1922: 7-8. 72 Das Gefühl für das Spiel

1999) eine bis heute erkennbare grundlegende dualistische Wertvor- stellung.122 Schwandner-Sievers beschreibt eine symbolische Klassifi- kation über die Farbe weiß, rechts und ›Osten‹, das heißt eine ideale Ordnung gegenüber der ›Antiordnung‹, der schwarzen Farbe, links und ›Westen‹. In bestimmten Ritualen geht man von der Richtung her den Weg von der Antiordnung in die Ordnung, das heißt von links nach rechts — von West nach Ost wird inkorporiert, eine Dichoto- mie, die nach Schwandner-Sievers in einem engen Zusammenhang mit der Schwarz-Weiß-Symbolik und dem Thema um Ehre und Schande steht.123 Diese Symbolik, die auch im Kanun zu finden ist, überträgt sie auf eine gesellschaftliche Ebene, in der die Kategorisierung der sozia- len Welt das soziale Umfeld zum einen in den Bereich der Agnaten und Verbündeten teilt, dessen Teil man ist und dem vertraut wird und das gegen Eingriffe von außen zu schützen ist. Zum anderen gibt es die äußere Welt, das Fremde, dem man nicht vertrauen kann, ein Dualis- mus von rechts / links bis zu hell / dunkel, außen / innen, Ehre / Schande, eine Dichotomie zwischen Freund und Feind.124 Die Ehre wirkt auf diese Weise Gruppen bildend, betont Ludgera Vogt: »Ehre hat also einen gruppenkonstituierenden Charakter, sie integriert je- weils die In-Group gegen die Out-Group, gegen das Fremde und an- dere.«125 Das Gefühl für das Spiel Das Individuum ist zwar über den Habitus durch seine Gesellschaft bestimmt, es ist jedoch nicht als ihre Marionette zu verstehen. Der Habitus generiert vielmehr Handlungsstrategien, die als bestimmen- der Faktor für seine gegenwärtigen und zukünftigen Handlungen ge- sehen werden müssen. Die Menschen sind, wie Bourdieu schreibt, keine Teilchen, die mechanisch von bestimmten Kräften unter dem Zwang konkreter Ursachen bewegt werden. Ebenso wenig sind es Menschen, die in jeder Situation in vollem Bewusstsein der Konse- quenzen jeglicher Handlungsmöglichkeiten in einer gegebenen Posi-

122 Schwandner-Sievers 1999: 134. 123 Schwandner-Sievers 1996: 121; 1999: 145. 124 Schwandner-Sievers 2001: 102. 125 Vogt 1997: 107. 73 Was ist der Kanun? tion, sich für eine bestimmte Alternative entscheiden, völlig frei von der sie strukturierenden Gesellschaft. Die dualistische Sichtweise, wie Bourdieu die wechselseitige Ver- schränkung des Habitus und des ihn produzierenden sozialen Feldes nennt, ist so allein noch nicht vollständig. Der Logik des Habitus ge- hört die ›reale Logik des Handelns‹ gegenübergestellt.126 Letztere baut zwar auf dem Habitus auf, wie Bourdie beton, die Praxis ist aber kein Labor, in der alle Konsequenzen der Handlungen in einer gegebenen Situation unter Ausblendung der Zeit bei mehreren Wahlmöglichkei- ten bedacht werden können. In einer gegebenen sozialen Situation, ›in der Praxis‹ und nicht in einem Versuchslabor, wählt der praktische Sinn einer Person bestimmte Aspekte oder Handlungen aus, die in diesem bestimmten Moment eine Relevanz aufweisen, ›die ihn etwas angehen oder bestimmen.‹127 Die Entscheidung des Akteurs ist von der momentanen Situation bestimmt, so Bourdieu, wie man sich fühlt und wie möglicherweise eine tiefergehende Eingebundenheit in die Situa- tion die Sicht auf nicht gewählte Handlungsentscheidungen versperrt, die sich im Nachhinein eventuell als sinnvoller herausgestellen: »Il faut reconnaître à la pratique une logique qui n’est pas celle de la logi- que qu’elle n’en peut donner et de se condamner ainsi soit à lui extor- quer des incohérences, soit à lui imposer une cohérence forcée.«128 Der praktische Sinn ist, betont Bourdieu weiter, ›gefangen von dem, um was es geht‹, eingesperrt in der Gegenwart. Und ohne dass sich das In- dividuum genau darüber im Klaren ist, welche Prinzipien oder Mög- lichkeiten es momentan beherrschen oder ihm offen stehen. Damit ist der praktische Sinn keine bis ins letzte Detail gehende bewusste Über- legung, die Logik der Praxis wird über den Mangel einer logischen Nachprüfung definiert.129 Wenn man beispielsweise die Blutrache nur vom Standpunkt ihrer abstrakten Regelmäßigkeit betrachtet, das heißt auf die Tötung eines Mitgliedes der Großfamilie und die Antwort darauf reduziert, er- scheint Blutrache wie ein einfacher Pendel, der hin und her ausschlägt.

126 Bourdieu 2002 [1980]: 95. 127 Bourdieu 2002 [1980]: 149. 128 Bourdieu 2002 [1980]: 144. 129 Bourdieu 2002 [1980]: 154. 74 Das Gefühl für das Spiel

So verfälscht man die tatsächliche Praxis der Blutrache, die sich nicht auf eine einfache mathematische Formel reduzieren lässt, wie Schwandner-Sievers betont: »Yet, feuding does not simply follow a predictable and limiting ›blood algebra‹, evident in this often cited rule of the kanun […]. Naturally, violent interactions involve strong senti- ments which in Northern Albania’s past and present easily led to ex- tended and unpredictable feuds.«130 Die praktische Logik, schreibt Bourdieu, das situationsbedingte Handeln, zeigt sich beispielsweise auch in Fällen, in denen es innerhalb verschiedener Gruppen einer Ge- sellschaft, beispielsweise andere Dörfer oder Stämme, unterschiedlich harte Sanktionen für das gleiche Vergehen gibt. Das Gewohnheits- recht wirkt in dieser Gesellschaft als Habitus, als ›implizites Schema‹, und weist nicht die Logik und Strenge auf, die bei kodifiziertem Recht auftritt.131 In einer Analogie zum Vokabular des Sports erläutert Bourdieu den Praxissinn als das ›Gefühl für das Spiel‹, die Fähigkeit und das Gespür, den Verlauf eines Spiels unter der Berücksichtigung des aktuellen Spielstandes und der Spielregeln vorherzusehen.132 Die Praxis ist damit die tatsächliche Realisierung der ›Spieltheorie‹, über ihre Operationa- lisierung jedoch ebenfalls ihre Negation als Theorie.133 Damit ist einer- seits gemeint, dass der Praxissinn den Habitus in Aktion darstellt, andererseits wird hier die Kritik Bourdieus an dem wissenschaftlichen Modell der Spieltheorie angesprochen. Den ›Sinn des Spiels‹ im Sport nennt Bourdieu als Beispiel für das Zusammentreffen von Habitus und sozialem Feld in der Praxis: »Produit de l’expérience du jeu, donc des structures objectives de l’espace de jeu, le sens du jeu est ce qui fait que le jeu a un sense subjectif, c’est-à-dire une signification et une rai- son d’être, mais aussi une direction, une orientation, un à-venir, pour ceux qui y participent et qui en reconnaissent par là même les en- jeux.«134

130 Schwandner-Sievers 1999: 136, Kursivierung im Orginal. 131 Bourdieu 2002 [1980]: 174. 132 Bourdieu 1994: 48; 2002 [1980]: 89. 133 Bourdieu 2002 [1980]: 136. 134 Bourdieu 2002 [1980]: 111. 75 Was ist der Kanun?

Der Praxissinn und die Logik der Praxis sind als Antwort auf die von Bourdieu kritisierten, allzu objektivistisch aufgestellten Theorien und Handlungsmodelle zu sehen. Gerade auch gegen Ethnologen richtet sich seine Kritik. Jene sollten doch einmal, meint er, ihre me- chanischen Handlungsmodelle, die sie bei Gesellschaften weit in der Ferne zu erkennen glaubten, auf ihre eigenen Lebensräume übertra- gen. Dann werden sie merken, folgert er, dass permanente unrealisti- sche Wachsamkeit der Akteure erforderlich ist, damit die sorgfältig austarierten Modelle tatsächlich funktionieren (ein Vorwurf, den man allerdings auch soziologischen Theorien machen kann). Die mechani- schen Handlungsmodelle würden die Wirklichkeit verkennen, denn sie ignorierten ihren Ernst. Ein Umdenken der Ethnologen könne dazu führen »[de découvrir] l’art de jouer des équivoques, des sous- entendus et des doubles ententes de la symbolique corporelle ou ver- bale qu’il faut posséder, dans tous les cas où la juste distance objective est en question, pour produire des conduites ambiguës, donc révocab- les au moindre indice de recul ou de refus, et capables d’entretenir l’incertitude sur des intentions sans cesse balancées entre l’abandon et la distance, l’empressement de l’indifférence.«135 Der Fehler bei den mechanischen Modellen sei, dass den wissenschaftlichen Kategorien ein anderer Zeitbegriff zu Grunde läge, als er für die Handelnden in der Praxis von Bedeutung sei. Die Praxis werde dadurch zerstört, dass man die Handlungsmodelle nach der zeitlosen Zeit der Wissenschaft ticken lasse. Für die Analyse der Wissenschaft werde die Zeit aufgeho- ben, für den Handelnden ruhe sie weiterhin schwer auf seinen Schul- tern.136 Bourdieu kritisiert ferner die ethnologischen Organisationsschema- ta von segmentären Gesellschaften. So sei ein sauberes und perfektes Modell nur dann möglich, wenn man sich blind und taub stelle, das heißt wichtige bestimmende Aspekte ignoriere. Am Beispiel der Ge- sellschaftsordnung heißt dies, dass man die Beliebigkeit aller Katego- rien ignorieren müsste, die von Ort zu Ort verschieden, unterschied- lich benannt und in einem Kontinuum stünden, das man nicht einfach teilen könne. Man müsse die historische Dimension und damit den

135 Bourdieu 2002 [1980]: 136. 136 Bourdieu 2002 [1980]: 136-137. 76 Das soziale Feld

Prozesscharakter der Verwandtschaft, die ständige Segmentierung und Verschmelzung ignorieren.137 Den Eindruck, den Bourdieu bei all seiner berechtigten Kritik bei- spielsweise an den Modellen segmentärer Ordnung der Berber übt, lässt den Entstehungszusammenhang, den Grund, warum diese ab- strakten Modelle aufgestellt wurden, außer Acht. Es erscheint mir kaum möglich, alle eine Situation bestimmende Faktoren, sowie jene, die in den gesellschaftlichen Rahmen fallen als solche, die unmittelbar in der Situation selbst wirken, in einem Modell abzubilden, ohne dass dieses wieder so komplex wird wie die Situation selbst, die man ver- einfacht darzustellen versuchte. Im nächsten Kapitel werde ich die nordalbanische Gesellschaftsstruktur in einer segmentären Form ab- bilden. Diese Darstellung soll als Modell verstanden werden, die einen einleitenden und erklärenden Überblick über historische Familien- verhältnisse geben soll. Es ist ein bereinigtes Modell, denn ich vereini- ge regionale und historisch unterschiedliche Varianten. Das soziale Feld Die Habitus-Strukturen stehen nicht für sich alleine. Die Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen liegen innerhalb der ›Grenzen der besonderen Bedingungen der eigenen Hervorbringung‹ des Habitus begründet.138 Die internen Habitus-Strukturen stehen in einem dialek- tischen Wechselverhältnis mit den objektiven Strukturen des sozialen Feldes. Es besteht ein nicht auflösbares Komplementärverhältnis zwi- schen dem Habitus und dem sozialen Feld, das den Habitus struktu- riert, während letzterer jedoch wiederum das soziale Feld bestimmt. Eine ausführliche Besprechung des Feld-Konzeptes ist jünger als das Habitus-Konzept, was verwundern mag, denn beide gehören zu- sammen, bedingen und strukturieren sich gegenseitig. Das Konzept des Feldes entwickelte Bourdieu in den 1970er Jahren, nachdem der Habitus bereits in den Esquisse relativ ausführlich behandelt worden war. Über die Darstellung des differenzierten Kapitalbegriffes, dem Habitus, den Strategien oder der Praxis wurde das Feldkonzept meist angerissen, ohne aber wirklich präzisiert zu werden. Die erste Phase

137 Bourdieu 2002 [1980]: 142-143. 138 Bourdieu 2002 [1980]: 93. 77 Was ist der Kanun? der theoretischen Entwicklung Bourdieus, so David Swartz (1997), ist von seiner philosophischen Ausbildung, der Verarbeitung klassischer soziologischer Ansätze und seinen ethnologischen Feldforschungser- fahrungen bestimmt. Erst nach der genaueren theoretischen Ausar- beitung des Habitus-Konzepts ist das soziale Feld in seinen Schriften zentraler geworden.139 Doch der Begriff des sozialen Feldes ist, gerade auch in Abgrenzung zum ebenfalls von Bourdieu eingeführten ›sozia- len Raum‹, nicht genau greifbar. In der Sekundärliteratur spiegelt sich diese Tatsache wider. So schreibt Markus Schwingel (1993), dass das Verhältnis zwischen ›Raum‹ und ›Feld‹ nur »ansatzweise einer syste- matischen Klärung unterzogen« worden ist. Zeitweise hat man den Eindruck, Raum und Feld werden synonym verwendet, wie Schwin- gel betont. Er bemerkt, dass das Hauptaugenmerk bei der analyti- schen Untersuchung des Feldes aus einer diachronen Perspektive erfolgt hingegen das Raummodell einen synchronen Zustand dar- stellt.140 Ein weiterer Blick in die Sekundärliteratur zeigt, dass der Feld- Begriff auch deswegen schwierig zu umreißen ist, weil Bourdieu das französische Äquivalent ›champ‹ in einem zweifachen Sinne verwen- det. ›Champ‹ stellt zum einen eine allgemeine Analogie dar, es kann damit recht unbestimmt ›Gebiet‹ oder ›Bereich‹ gemeint sein, im Sinne eines gesellschaftlichen Bereiches oder eines Forschungsgebietes. Zum anderen ist mit ›champ‹ die analytische Kategorie gemeint. Das macht es beispielsweise für den deutschen Übersetzer der Texte Bour- dieus schwierig zu entscheiden, ob dieser nun das systematisch- theoretische Feld meint oder den Begriff eher alltagssprachlich ver- wendet.141 Hans-Peter Müller (1992) ist bei der Erläuterung, was er unter dem Feldbegriff Bourdieus versteht, präziser. Er beschreibt den sozialen Raum als die vertikale Dimension der Status- und Prestige- kämpfe, während auf der horizontalen Ebene die Differenzierung in unterschiedliche soziale Felder dargestellt wird.142 Müller definiert das soziale Feld auf folgende Weise: »Analytisch betrachtet, bezieht sich

139 Swartz 1997: 118; Bourdieu 1987: 33. 140 Schwingel 1993: 61. 141 Krais 1989: 55-56. 142 Müller, H.-P. 1992: 263. 78 Das soziale Feld der Begriff des sozialen Feldes auf eine Konfiguration oder Konstella- tion, die meist einen Markt, die beteiligten Akteure und ihre Interes- sen sowie Strategien, den oder die institutionellen und organisato- rischen Kontexte wie auch die typisch zu erwartenden Spannungen und Konfliktlinien umfaßt.«143 Bei Bourdieu sucht man lange nach einer Definition von sozialem Feld und in der Sekundärliteratur wird sie meist über ein Zusammen- setzen von Indizien aus vielen seiner Schriften erreicht. Doch eine De- finition auf diese Weise bei Bourdieu zu suchen, gleicht einer litera- turwissenschaftlichen Arbeit, das Extrahieren einer Position von je- manden, der bewusst keine ausschließenden Definitionen seiner Kon- zepte anstellen will. »I don’t like professorial definitions much«, betont Bourdieu. »It is, to be more precise, a permanent reminder that concepts have no definition other than systematic ones, and are desig- ned to be put to work in systematic fashion. Such notions as habitus, field, and capital can be defined, but only in the theoretical system they constitute, not in isolation.«144 — Dieses Zitat entspringt einer Verschriftlichung eines Interviews mit Pierre Bourdieu. In jenem Interview, einer Diskursform, die offensichtlich von ihm eine klarere Ausdrucksweise einfordert, was daran liegen mag, dass Bourdieus mündliche Aussagen, obgleich der Interviewtext für die Veröffentlichung sicherlich überarbeitet wurde, deutlich klarer wir- ken als die schriftliche Darstellung seiner Ideen, die in langen, ver- schachtelten Sätzen, in denen häufig ein Gedanke über Synonyme gleich mehrfach wiederholt wird und man sich des Eindrucks nicht er- wehren kann, der Leser solle den Text erarbeiten wie eine altphilologi- sche Vorlage, Wort für Wort sich vortastend, um beim nächsten Komma rastend durchzuatmen, was trügerisch sein kann, denn ein neues Komma bedeutet häufig auch einen neuen Gedankengang, der sich eventuell auf einen bereits am Satzanfang erwähnten, schon längst vergessenen Gedanken bezieht, lässt sich Bourdieu schließlich doch zu einer Definition des ›sozialen Feldes‹ hinreißen: »In analytical terms, a field may be defined as a network, or a configuration, of ob- jective relations between positions. These positions are objectively de-

143 Müller, H.-P. 1992: 263-264. 144 Bourdieu/Wacquant 1992: 96, Kursivierung im Original. 79 Was ist der Kanun? fined, in their existence and in the determinations they impose upon their occupants, agents or institutions, by their present and potential situation (situs) in the structure of the distribution of species of power (or capital) whose possession commands access to the specific profits that are at stake in the field, as well as by their objective relation to ot- her positions (domination, subordination, homology, etc.).«145 Bourdieu verwendet neben ›sozialem Feld‹ auch häufig den Begriff des Marktes und meint damit ungefähr dasselbe. Markt wird hier zwar in einem Zusammenhang mit Kapital gesehen, aber nicht ausschließ- lich mit dem ökonomischen Kapital. Bourdieu beschreibt die von ökonomischen Theorien beschriebene Ökonomie als eine von vielen Ökonomien in einer Welt von Ökonomien.146 Bourdieu erläutert eine Ökonomie der sozialen Welt, in der es neben dem ökonomischen Ka- pital das kulturelle oder symbolische Kapital gibt, wie bereits im Zu- sammenhang mit dem Ehrgefühl der Kabylen erläutert wurde. In differenzierten Gesellschaften geht es bei den sozialen Feldern meist um eine spezifische Kapitalform, um welche sich die Akteure im Feld gruppieren.147 Das soziale Feld bezeichnet einen inklusiven Bereich, eine Metapher des Raumes, in der die Logik eines bestimmten Mark- tes vorherrscht, differenziert durch Rangfolgen und Hierarchien und geprägt von einem Nutzen orientierten Einsatz der entsprechenden Kapitalform.148 Das Konzept des sozialen Feldes impliziert zwar Grenzen, doch Bourdieu sieht hier Probleme. Man solle sich davor hüten, die sozialen Felder künstlich zu begrenzen. Soziale Felder würden damit dauer- haft festgelegt, Wandel ausgeschlossen und eindeutige Grenzen aufge- baut, die gar nicht bestünden.149 Felder müssen relational gesehen werden, so Bourdieu, was auch für die in Verbindung stehenden Posi- tionen innerhalb des Feldes gilt.150 Es gibt kein strukturalistisches Netzwerk, dies würde die Wirklichkeit viel zu statisch abbilden. Die

145 Bourdieu/Wacquant 1992: 97, Kursivierung im Original. 146 Bourdieu 1999 [1980]: 85-86. 147 Bourdieu 1979: 126-127; Krais 1989: 56. 148 Swartz 1997: 120. 149 Bourdieu 1979: 272. 150 Bourdieu/Wacquant 1992: 96. 80 Beständigkeit des Habitus

Felder und Positionen befänden sich in einem sich verändernden, pro- zessualen Beziehungsgeflecht. Pierre Bourdieu erklärt das soziale Feld bildlich als Spiel: Es gibt ei- nen Einsatz, der größtenteils die Folge des Wettbewerbes zwischen den Mannschaften darstellt. Die Spieler sind von dem Spiel erfasst, stehen sich gegenüber und dies manchmal mit großer Leidenschaft und Eifer. Die Spieler investieren sich dergestalt in das Spiel und den Einsatz, dass die Regeln des Spiels während des Wettbewerbs nicht hinterfragt werden. Einfach über die Tatsache der Teilnahme an dem Spiel werden dessen Regeln anerkannt, nicht über einen Vertrag, der im vorhinein explizit geschlossen werden muss.151 Die Analogie eines sozialen Feldes mit einem Spiel ist nicht unproblematisch, denn bei ei- nem Spiel ist man sich über den Spielraum, die Spielregeln oder auch die Einsätze voll bewusst. Das Spiel und damit die Regeln, die im Ver- laufe des Spiels nicht explizit auftauchen und hinterfragt werden, sind willkürliche und künstliche Konstruktionen. In das soziale Feld wird man hingegen hineingeboren und entscheidet sich nicht bewusst zur Teilnahme. Das Verhältnis ›zum Glauben an das Spiel‹ ist umfassend und umso bedingungsloser, je weniger man sich der Regeln des Feldes bewusst wird.152 Zentral für das Feld ist damit ebenfalls der Glaube der Menschen, das ›Eintrittsgeld‹ für den Eintritt in die sozialen Felder, Regeln, die man stillschweigend anerkennt und deren Nichteinhal- tung bestraft werden kann. Während sich die soziale Struktur in einer tendenziell homogenen Gesellschaft aus nur einem oder wenigen so- zialen Feldern zusammensetzt, findet man in komplexeren Gesell- schaften viele soziale Felder, die durch das sie definierende spezifische Kapital gekennzeichnet sind, zu denen man häufig ausschließlich über Initiationen oder Prüfungen Zugang findet.153 Beständigkeit des Habitus In tendenziell homogenen Gesellschaften, wie man das soziale Feld Nordalbaniens charakterisieren kann, die eine geringe soziale Diffe- renzierung aufweisen, perpetuiert sich der Habitus so lange auf

151 Bourdieu/Wacquant 1992: 98. 152 Bourdieu 2002 [1980]: 112. 153 Bourdieu 2002 [1980]: 114-115. 81 Was ist der Kanun?

Grund der geringen Eigendynamik im sozialen Feld, bis der Habitus durch deutliche Einflüsse von außen in Frage gestellt wird. Aber es müssen schon außergewöhnliche Ereignisse sein, die das dialektische Verhältnis zwischen Habitus und sozialem Feld aus dem Gleichge- wicht bringen.154 Dies ist dann vorstellbar, wenn das interne Machtge- füge durch den Einmarsch fremder Armeen, wie die Osmanen im fünfzehnten Jahrhundert in Albanien, destabilisiert wird. Der Habi- tus vermag auf Grund seiner Fähigkeit, sich vor Krisen, Kritik und seiner Hinterfragung zu schützen, die Zeit zu überdauern. Er schafft sich ein Milieu »auquel il [Habitus] est aussi préadapté que possible, c’est-à-dire un univers relativement constant de situations propres à renforcer ses dipositions en offrant le marché le plus favorable à ses produits.«155 Der Habitus ist damit nicht nur der Rahmen für die Aus- wahlentscheidungen des Akteurs, zusätzlich beinhaltet er Strategien, die Handlungen vermeiden, die den Habitus hinterfragen können. Die Strategien ergeben sich aus den Existenzbedingungen des Habi- tus, beispielsweise durch räumliche Abgetrenntheit, wie sie in den nordalbanischen Bergen zu finden ist.156 Zusammenfassend heißt dies, dass, wenn ein Individuum stets auf die in seiner Sozialisation erfahre- nen Wahrnehmungs- und Denkschemata trifft und auf diese Weise das aktuelle soziale Feld dem der primären Sozialisation gleicht, es keinen Grund gibt, die verinnerlichten Strukturen des Habitus in Fra- ge zu stellen. Die ›praxisrelevante Eigenschaft von Wissen und Den- ken‹ begründet sich nicht nach Kriterien der Wahrheit oder Objek- tivität, sondern durch ihre Ökonomie und Praktikabilität. Das Wech- selspiel zwischen sozialem Feld und Habitus bildet den Sinn stiften- den Rahmen für die Handlungslogik. Wenn eingelebte Erfahrung nicht durch neue Erfahrungen hinterfragt wird, erhält sich der Habi- tus.157 Im Zentrum dieser Arbeit stehen die mündlichen Kommunikations- formen, die am Beispiel des oral geprägten nordalbanischen Gewohn- heitsrechts dargestellt werden. Ein mündlicher Kommunikationsstil

154 Bourdieu 2002 [1980]: 93-94. 155 Bourdieu 2002 [1980]: 102. 156 Bourdieu 2002 [1980]: 102. 157 Schwingel 2000 [1995]: 77-78. 82 Beständigkeit des Habitus wird mittels der Beschreibung des Habitus Kanun eingeführt. Ob- wohl ich keine historische Betrachtung des Kanuns vorlege, gilt es im Folgenden dennoch zu zeigen, dass das Gewohnheitsrecht über die Jahrzehnte zwischen dem Ende der osmanisch-türkischen Herrschaft und dem Fall des Sozialismus 1991 bis zu einem gewissen Grad dauer- haft praktiziert wurde. Dies kann nicht über einen detaillierten Ver- gleich einzelner Regeln erfolgen, wie sie sich im Laufe der Zeit verändert haben, ob sie weggefallen sind oder ein Produkt neueren Datums darstellen. Der Kanun ist keine Aufzählung konkreter Re- geln, sondern ein Handlungskomplex, der sich im Grunde auf wenige Prinzipien reduzieren lässt. Da ich den Kanun als Habitus beschreibe, der durch sein soziales Feld generiert wird, begnüge ich mich mit einer allgemeinen Darstellung des sozialen Feldes des Kanuns. Zahlreiche Interviews zu der Bedeutung des Gewohnheitsrechts in der Zeit von 1944 bis 1991 lieferten bei bestimmten Punkten, wie beispielsweise der Frage, ob die Blutrache in dieser Zeit noch praktiziert wurde oder nicht, widersprüchliche Angaben. Die Frage nach der Beständigkeit des Kanuns ist eine Untersuchung der Beständigkeit des wechselseiti- gen Verhältnisses zwischen Habitus Kanun und seinem sozialem Feld, beziehungsweise unter welchen Verhältnissen sich dieses verän- dert oder auflöst. Moderne, komplexe Gesellschaften mit ihrer Koexistenz von zahl- reichen differenzierten sozialen Feldern sind durch unterschiedliche Klassen und steten sozialen Wandel in den Beziehungen zwischen den Feldern geprägt. Diese Dynamik unterscheidet sich sehr von jener ho- mogener Gesellschaften. Die Wahrscheinlichkeit in den modernen Gesellschaften, dass ein Habitus in Beziehung zu einer Praxis gesetzt wird, die sich deutlich von den ursprünglichen, die Handlungsdispo- sitionen generierenden Rahmenbedingungen unterscheidet, ist relativ hoch. Erst in Krisensituationen, in der die Erwartung an Handlungen, die vom Habitus suggeriert werden, dauerhaft enttäuscht und die er- lernten, erfahrenen und bislang bewährten Wahrnehmungs- und Denkschemata permanent ausgehöhlt werden, driften das soziale Feld und der Habitus auseinander. Das ist bei radikalen Einschnitten in die sozialen Strukturen vorstellbar, beispielsweise wenn Nordalbanien infrastrukturell adäquat erschlossen, seine Bevölkerung nicht mehr

83 Was ist der Kanun? sozial ausgegrenzt wird, moderne Formen des Wirtschaftens und eine zuverlässige Bürokratie Einzug gehalten haben. Der Habitus wird aber nicht von einem Tag zum anderen ausge- höhlt. Ihm wohnt eine Trägheit inne, so dass die Handlungspraxis noch nach dem alten Verhaltensmuster weiterläuft, obwohl sie in kei- nem angepassten Verhältnis mehr zu dem gewandelten Feld steht. Dies ist der bereits angesprochene Hysteresis-Effekt. Hier gilt es wie- der auf die Erfahrung zu verweisen, die Bourdieu in der Kabylei machte: Das ökonomische Verhalten der Berber entsprach noch den Vorstellungen einer traditionellen Ökonomie, obwohl die Rahmen- bedingungen dafür langsam verschwanden. Bourdieu nennt dies einen »décalage structural entre les occasions et les dispositions«.158 Für den Kanun im heutigen Nordalbanien bedeutet dies, dass der Habitus des Gewohnheitsrechts selbst im aktuellen Nordalbanien die soziale Pra- xis entscheidend prägt, obwohl sich die sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen dergestalt verändern, dass dem Kanun immer mehr die Grundlage entzogen wird. Rezeption und Beständigkeit des Kanuns bis 1944 Marie Amelie von Godin (1953) schreibt, dass ohne den Kanun in der Zeit der ›Türkenherrschaft‹ zweifellos der ›Kampf aller gegen alle‹ vorgeherrscht hätte, denn die Macht der Eroberer wäre nur auf die Städte und die leicht zugänglichen Gebiete beschränkt gewesen.159 Ein ›Volk ohne Regeln‹ ist nicht vorstellbar, deswegen ist es wahrscheinli- cher, dass die osmanischen Eroberer sich der nordalbanischen Gesell- schaftsorganisation durchaus bewusst waren und diese absichtlich locker in ihre Regierungsstrukturen eingebettet haben. Die Hohe Pforte kontrollierte seit dem vierzehnten Jahrhundert Albanien. Die Eroberungszüge zerstörten im Land keine mittelalterlichen Kirchen- oder Staatsorganisationen, wie es in Serbien oder Bulgarien der Fall war, denn diese waren in Nordalbanien kaum vorhanden. Damit gab es keine überregional vernetzte Verwaltung, die die Osmanen hätten unter Kontrolle bringen müssen. Die osmanische Herrschaft etablier- te sich vorwiegend im Tiefland, den Städten und entlang der Ver-

158 Bourdieu 2000 [1972]: 278; 2002 [1980]: 104. 159 Godin 1953: 4. 84 Rezeption und Beständigkeit kehrswege. Dort setzten die Osmanen ihre Verwaltungsstrukturen konsequent durch, doch davon wurde die auf dem Gewohnheitsrecht beruhende Gesellschaftsstruktur im Hochland nicht tiefgreifend ver- ändert.160 Die Hohe Pforte konnte auch kein Interesse daran haben, mit umfangreichen militärischen Kampagnen gegen die Bevölkerung im schwer zugänglichen Norden mit dem Ziel vorzugehen, die lokale Organisation vollends aufzulösen. In dieser Region lebten aus osma- nischer Sicht ›ungläubige Christen‹, ohne großes Einkommen und in einem wirtschaftlich nicht sehr begüterten Land. Die nordalbanische Gesellschaft wurde nur sehr lose, ohne viel Aufwand, von osmani- schen Verwaltungseinrichtungen ummantelt und konnte so über die Jahrhunderte — die osmanische Herrschaft endete zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts — bis auf die Abgaben von Steuern und den Militärdienst relativ unbehelligt von den Besatzern leben.161 Kaser hebt sogar hervor, dass diese lockere Einbindung auf Dauer zu ihrer Festigung geführt habe: »Das hatte zur Folge, daß dadurch die Stam- mesgesellschaften auf lange Sicht petrifiziert wurden, weil sie die Grundlage der Verwaltung geworden waren. Man kann sogar soweit gehen und konstatieren, daß die Stammesgebiete sich vielfach erst durch türkische Hilfe territorialisierten, weil sie über entstehende Stämme, die noch keine Territorien fixiert hatten, eine türkische Ver- waltungseinheit legte, in deren Rahmen sich dann der Stamm entwi- ckelte.«162 Eine der administrativen Verbindungen zwischen Bergbevölkerung und Eroberern war das im neunzehnten Jahrhundert geschaffene Amt des bylykbashi. Die einzelnen fis im Bergland standen nur in einem lo- ckeren Abhängigkeitsverhältnis zum zuständigen Pascha in Shkodra. Die Verbindung stellte der bylykbashi her, ein Muslim, der nicht in den Bergen, sondern nahe des Amtssitzes des Paschas wohnte. Der In- haber dieses erblichen Amtes vertrat in Rechtsstreitigkeiten die von ihm betreuten fis bei dem Statthalter der Provinz. Er leitete die Trup- pen aus seinem Zuständigkeitsbereich und verteilte den Sold unter

160 Bartl 1995: 49; zur türkischen Eroberung und Besatzung vgl. Bartl 1995: 40-91. 161 Fishta 1997: 21; Hellwald/Beck 1978: 345; Kaser, K. 1992: 164; Stahl 1986c: 53; Ulqini 1991: 16; Vickers 1997 [1995]: 11; Winnifrith 1992. 162 Kaser, K. 1992: 165. 85 Was ist der Kanun? den Albanern, der ihnen nach dem Dienst in der osmanischen Armee zustand. Er war Dolmetscher, vollzog vom Pascha verhängte Strafen und vermittelte bei internen Streitigkeiten, wie bei Blutrachefällen. Doch in der Literatur ist die tatsächliche Relevanz des bylykbashi in der nordalbanischen Politik umstritten: Der bylykbashi hatte wahr- scheinlich keine große Bedeutung und Gewicht bei den fis und verließ nur selten seinen Amtssitz Shkodra.163 Die Osmanen versuchten ab der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, etwa zur selben Zeit, als sie den bylykbashi einführten, dem Problem der Blutrache Herr zu werden. In Shkodra richteten sie die so genannten ›Bergkommissionen‹ ein. Diese von der osmanischen Rechtssprechung unabhängigen Gerichte setzten sich aus albanischen Ältesten zusammen und arbeiteten Regeln zur Lösung von Blutrache- konflikten aus.164 Diese Kommissionen bauten auf dem albanischen Prinzip der besa auf, ein Begriff, der später genauer diskutiert werden wird. In vorliegendem Zusammenhang bedeutet er ›Burgfrieden‹ mit dem Ziel einer Versöhnung (pajtim). Hyacynthe Hecquard (1881) be- richtet, dass es ohnehin zwei Mal im Jahr eine besa gegeben hat. Diese Praxis ist erforderlich geworden, weil sich die Großfamilien nicht mehr aus dem gegenseitigen Töten erziehen konnten und die Wirt- schaft allgemein zum Erliegen kam.165 Alle sieben bis acht Jahre ist es auf Anordnung des Paschas, wie Hecquart berichtet, zu einer allge- meinen besa gekommen. Die fis sind gezwungen worden, einander zu verzeihen, und die Bergkommissionen rechneten die Verluste auf und ermittelten mögliche Entschädigungen, die ein fis anderen zu zahlen hatte.166 Damit festigten die Osmanen die örtlichen Strukturen und Praktiken auch dadurch, dass sie diese im Umgang mit den Nordalba- nern selbst anwendeten. Die Versöhnungszeremonien für Blutrache- fälle wurden systematisch ausgerichtet, perpetuierten dabei jedoch die Blutrache, weil sie über das Anweisen von Versöhnungen die örtliche

163 Bartl 1995: 57-58; Cyprien 1844, 2. Bd.: 122-123; Gyurkovics 1881: 25; Hell- wald/Beck 1878: 344; Pupovci 1972b: LXVII, FN 248 und LXVIII. 164 Kaser, K. 1992: 384; Loewe 1914: 143; Zojzi 1977: 205, FN 44. 165 Dumont, A. 1873: 305; Hecquard 1881: 374-375. Die besa war zwischen dem An- tonstag (13.6.) und Allerheiligen (1.11.) — ›besa des Gouveneurs‹, und zwischen Allerseelen (2.11.) und Sankt Nikolaus (6.12.) — ›besa des bajrak‹. 166 Hecquard 1881: 379; Ulqini 1997. 86 Rezeption und Beständigkeit

Praxis offizialisierten.167 Kaser schreibt, dass diese Kommissionen nicht sehr erfolgreich gewesen sind, weil die Osmanen von den fis nicht akzeptiert wurden.168 Hequart meint schon Ende des neunzehn- ten Jahrhunderts zu diesem Thema, dass die verordnete Ruhe zwar ei- nige Zeit angedauerte, doch dies sollte dem bylykbashi nicht recht gewesen sein. Er verdiente nicht mehr an den Strafen, die er bei Blutra- chen verhing. Deshalb seien Ruhestörer in die Dörfer eingeschleust worden, und ›alles‹ habe wieder von vorne begonnen.169 Ob ›Ruhestö- rer‹ oder nicht, die Befriedungen der Blutrache schienen nicht lange gewährt zu haben. Diese für die Nordalbaner günstige politische Situation war somit nicht in ihrer Wehrhaftigkeit oder Anerkennung für besondere Kriegstüchtigkeit in den osmanischen Heeren zu sehen. Sie lag viel- mehr an der Toleranz der Besatzer und deren Verwaltung. Die Osma- nen hatten bereits Erfahrung mit Stammessystemen aus anderen Teilen ihres großen Reiches und inkorporierten diese meist als Ganzes in die eigenen Strukturen. Zu größeren Konfrontationen zwischen den Osmanen und den Nordalbanern kam es erst im neunzehnten Jahrhundert. Die Autonomie der fis sollte zu Gunsten einer strafferen Ordnung weichen, um damit die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Eintreibung der Steuer und der Rekrutierung von Soldaten besser in den Griff zu bekommen. Doch die bis dahin geduldete und geförderte Selbstverwaltung der Nordalbaner war mittlerweile so sta- bil geworden, dass an der bestehenden Struktur nur wenig verändert werden konnte.170 Die Maßnahmen, mit denen die fis enger an den os- manischen Staat gebunden werden sollten, waren unter anderem die Einsetzung des erwähnten bylykbashi und die Einteilung des Hoch- landes in die Verwaltungseinheit bajrak (Banner). Ersterer blieb rela- tiv wirkungslos, der bajrak bewirkte genau das Gegenteil, nämlich die offizielle Anerkennung von selbst verwalteten Einheiten in den Ber- gen.171

167 Schwandner-Sievers 1999: 151. 168 Kaser, K. 1992: 384. 169 Hequart 1881: 380. 170 Kaleshi 1975: 133. 171 Ulqini 1991, 1995. 87 Was ist der Kanun?

Der Erste Balkankrieg 1912 machte der osmanisch-türkischen Herr- schaft in Albanien ein Ende. Die Truppen des Balkanbundes (Italien, Ser- bien, Bulgarien, Montenegro und Griechenland) besetzten die von Albanern bewohnten Gebiete. Am 28. November 1912 wurde im südal- banischen Vlora von einem albanischen Nationalkongress die Unabhän- gigkeit des Landes ausgerufen und eine provisorische Regierung unter Leitung von Ismail Kemal Bey eingerichtet. Die Regierung erhielt aber keine besondere Anerkennung seitens der Besatzer des Balkanbundes. Nach dem Zweiten Balkankrieg (1913), in dem Albanien keine große Rolle spielte, wurden die Grenzen Albaniens festgelegt. Die am Krieg be- teiligten Nationen einigten sich auf die Einrichtung eines souveränen Fürstentums Albanien und bestimmten den deutschen Prinzen Wilhelm zu Wied als neuen albanischen Souverän. Wied kam am 7. März 1914 nach Albanien, doch er konnte der Lage der um die Macht im neuen Staat rivalisierenden albanischen Gruppen nicht Herr werden und verließ das Land nach nur kurzer Regentschaft am 3. September des gleichen Jah- res.172 Während des Ersten Weltkrieges wurde Albanien von den Krieg führenden Nationen Österreich-Ungarn, Italien und Frankreich besetzt. Das Land selbst war aber kein Kriegsschauplatz. Im Gegenteil, die Besat- zungszeit war während des Ersten Weltkrieges »keine Periode der Zer- störung, sondern eine des Aufbaus.«173 Die Besatzungsmächte inves- tierten in den Aufbau einer Infrastruktur und ließen Straßen, Brücken, Brunnen und Schmalspurbahnen errichten. Die wissenschaftliche Er- kundung in naturkundlichen, ethnographischen und archäologischen Bereichen wurde vorangetrieben und die erste Volkszählung in der ös- terreichisch-ungarischen Besatzungszone durchgeführt. Seit dem sieb- zehnten Jahrhundert hatte Österreich ein Kultusprotektorat über die Katholiken — vor allem in Nordalbanien. Über die ab Ende des neun- zehnten Jahrhunderts in Shkodra ansässigen österreichischen Diploma- ten bekam das Außenministerium viele Informationen zu der nordalbanischen ›Stammesgesellschaft‹.174 Arthur Haberlandt (1916,

172 Vickers 1997 [1995]: 77-97. 173 Bartl 1995: 182. 174 Korrespondenzen österreichischer Diplomaten finden sich in Baxhaku/Kaser, K. [Hrsg.] 1996; siehe auch Theodor von Ippen (1907a, 1907b, 1908, 1916a, 1916b), langjähriger k. u. k. Generalkonsul in Shkodra. 88 Rezeption und Beständigkeit

1917, 1931), zunächst Leutnant im Kriegsministerium, hatte im Zusam- menhang mit der Militärpräsenz Österreichs in Nordalbanien die Mög- lichkeit, Expeditionen nach Albanien zu unternehmen. Er legte eine umfangreiche Sammlung an, die sich heute im Österreichischen Museum für Volkskunde befindet. Er folgte bei seiner wissenschaftlichen Arbeit hauptsächlich den Spuren Nopcsas,175 zum Gewohnheitsrecht schrieb er nur sehr wenig. Auch im französisch besetzten Teil Albaniens, in Korça, wurden ethnographische Untersuchungen durchgeführt, wie von Jacques Boucart (1922), der Mitarbeiter des französischen Nachrichten- dienstes war. Die politisch sehr komplexe und sich stetig verändernde Lage in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis zum politischen Aufstieg des spä- teren Königs Ahmed Zogu kann nicht in wenigen Zeilen ausgeführt werden und ist für die Beständigkeit des Gewohnheitsrechts nur inso- fern von Bedeutung, als sich in dieser Zeit kein dauerhaft beständiger Staat bildete, der entscheidend die gesellschaftlichen Strukturen Nor- dalbaniens verändert hätte. Im Zusammenhang mit der ›Albanischen Frage‹ um den Grenzverlauf und den politischen Status wurde die Blutrache als Argument derjenigen verwendet, die einen National- staat Albanien mit Verweis auf sich gegenseitig meuchelnde Barbaren ablehnten. In diesem Zusammenhang muss die englische Reisende und Ethnographin (1863-1944) erwähnt werden, die detailreiche ethnographische Arbeit und politischen Einsatz für eine albanische Nation verband. Ihre wichtigsten Arbeiten zu Albanien als Korrespondentin der ›Times‹, des ›Manchester Guardian‹ und Auto- rin von zahlreichen Beiträgen in ›Man‹ sind High Albania (1909) und Some tribal origins, laws and customs of the balkan (1928).176 Durham versuchte, sich auf politischer Ebene für die Albaner einzusetzen, zu zeigen dass die Albaner kein ›primitives Völkchen‹ seien und plädierte für einen eigenen Staat Albanien. Die Person Durhams wurde auch im sozialistischen Albanien gewürdigt, selbst Enver Hoxha schrieb »she

175 Siehe Haberlandt, A.1916, 1917a, 1917b, 1931. 176 Neben den erwähnten Büchern siehe Durham 1905, 1914, 1920, 1923; deutsche Ausgabe 1995; albanisch 2000, 2001. Zur Person Durhams siehe Allock/Young 1991; Hill 1991; Hodgson 1991; Kastrati 1955: 125; Krasztev 2000. 89 Was ist der Kanun? remained until the end a defender of the cause of Albania« auch wenn es bei ihr »objective ideological limitations« gebe.177 Ahmed Zogu stammt aus dem nordalbanischen Mati und gehörte von 1920 bis 1922 den albanischen Regierungen als Innen- und später als Kriegsminister an. Ende 1922 stand er selbst an der Spitze der Re- gierung, die sich bis 1924 hielt. Die so genannte ›Demokratische Re- volution‹ zwang ihn zur Flucht nach Jugoslawien, wo er mit Billigung der örtlichen Machthaber ein Freikorps aufstellte und Ende 1924 wie- der in Albanien einmarschierte. Anfang des folgenden Jahres rief er eine Republik aus und wurde zum Staatspräsidenten ernannt. Mit Un- terstützung von Italien proklamierte er am 1. September 1928 das Kö- nigreich Albanien mit ihm als ›König der Albaner‹ Zogu I.178 Schon bald nachdem er sich selbst auf das Präsidentenamt und später auf den Thron gebracht hatte, begann er mit der Absicherung seiner Machtpo- sition, unter anderem auf eine ›sehr balkanische Weise‹, wie es Bartl ausdrückt: durch die Beseitigung persönlicher Gegner.179 Über eine groß angelegte Agrarreform wollte er sich einerseits durch die Vertei- lung der hauptsächlich Großgrundbesitzern gehörenden Ländereien bei den besitzlosen Bauern beliebt machen, andererseits die politische und wirtschaftliche Macht der Großgrundbesitzer und ihrer Familien beschneiden. Letztere konnten der Enteignung beispielsweise über das Abtreten von Land an Mitglieder ihrer Familie entgehen, was letztlich bedeutete, dass der Grundbesitz nicht verteilt wurde und in der Familie blieb. Die Reform musste schließlich scheitern.180 Die Macht der nordalbanischen Großfamilien konnte deswegen nur ge- ring beschnitten werden. Die nordalbanischen fis hatten eigentlich den Aufstieg des Nordalbaners Zogu erst ermöglicht. Über weitrei- chende Konzessionen wurden die fis ruhig gestellt, diese beinhalteten auch bis zu einem gewissen Grad die Zubilligung der Selbstverwal- tung und damit der fortdauernden Praxis des Kanuns.181 Zogu führte zwar ein Bürgerliches Gesetzbuch nach westeuropäischem Muster

177 Hodgson 1991: 9; Mema 1986: 87. 178 Bartl 1995: 196-224, 290; Vickers 1997 [1995]: 117-136; Bobev 1993. 179 Bartl 1995: 207. 180 Bartl 1995: 214. 181 Schmidt-Neke 1987: 149. 90 Rezeption und Beständigkeit ein, und im Juni 1926 folgte gar ein Dekret des Präsidenten über die Befriedung aller Blutrachen. Die Veränderungen im nordalbanischen Hochland waren aber auf Grund von politischer Willkür und Kor- ruption, die in einer Linie mit den ›sondergesetzlichen Regelungen der politischen Tatbestände‹ stehen, nicht tiefgreifend, wie Wolfgang Stoppel (1990) den Aufstieg Zogus zum Präsidentenamt beschreibt.182 Konflikte, die nach dem Gewohnheitsrecht ausgetragen wurden, zele- brierte man nicht mehr in allzu exponierter Öffentlichkeit. Gerade von besonders offensichtlichen Strafen, die abseits der staatlichen Ge- richte in den Dörfern ausgesprochen wurden, wie Abbrennen von Häusern und die Verbannung von Familien, wurde Abstand genom- men.183 Der Abkehr vom Gewohnheitsrecht war es ferner nicht beson- ders förderlich, Mitte 1929 auf höchster politischer Ebene zu dekla- rieren, dass der Kanun nach Skanderbeg und Lekë Dukagjini auch als eine Quelle des albanischen Staatsrechts zu betrachten sei.184 Zogu I kam mit italienischer Hilfe auf seinen Thron. In den Jahren seiner Regentschaft sollte Italien zunehmend an Einfluss gewinnen. Es entwickelten sich intensive Beziehungen zwischen beiden Ländern. Die langfristige Politik Italiens bestand in einer zunehmenden Einflussnahme auf Albanien. So wurde der Haushalt mit umfangreichen italienischen Geldern aufrechterhalten, italienische Vertreter wurden in der albani- schen Regierung und Verwaltung positioniert, und es wurde eine nahezu völlige Abtretung der Außenpolitik an das faschistische Italien wurde erwirkt. Nachdem sich das Deutsche Reich Österreich einverleibt hatte und es Gerüchte gab, dass der Einmarsch in Jugoslawien und damit der deutsche Machtgewinn auf dem Balkan unmittelbar bevorstand, richtete Mussolini ein Ultimatum an Albanien, dessen Annahme die Degra- dierung des Landes in den Rang einer Kolonie mit sich gebracht hätte. Anfang April 1939, nach der Ablehnung des Ultimatums durch Zogu I und seiner Flucht ins Ausland, marschierte Italien in Albanien ein.185 Eine wichtige Ethnographin in dieser Zeit und die neben Durham prominenteste Engländerin in Albanien war Margaret Hasluck

182 Stoppel 1990: 3-4. 183 Peinsipp 1985: 222-223. 184 Elezi 1975b: 35-36. 185 Bartl 1995: 219-224; Vickers 1997 [1995]: 136-145. 91 Was ist der Kanun?

(1885-1948). Sie lebte von 1926 bis 1939 in Albanien und erkundete vor allem Nordalbanien von ihrem zentralalbanischen Wohnsitz El- basan aus, den sie nach dem Einmarsch Mussolinis verließ. Posthum erschien The Unwritten Law in Albania (1954).186 Hasluck schrieb die ersten vier Kapitel selbst, die übrigen Teile wurden auf Grundlage von Haslucks Notizen vom Herausgeber ergänzt.187 Qazim Kastrati (1955) berichtet über die Feldforschung von Hasluck: »I saw with regret how a mischievous chieftain was entertaining his friends by the way he was misleading her with absurd stories, which she duly recorded. I pointed this out to her afterwards, and she wept at the difficulties of under- standing the mountaineers and was sad to have to scrap what seemed such interesting material. Though she spoke Albanian, she did not speak it so well as to distinguish nuances, and she was unable to tell from the chieftain’s eyes, gestures and choice of words that he was ha- ving a good time at her expense.«188 — Wer weiß, wie viele schöne Ge- schichten den Ethnologen und Reisenden in Nordalbanien erzählt wurden, und sicher ist das nicht nur ein Phänomen aus der Vergangen- heit: Geschichten werden sicherlich auch heute den Ethnologen er- zählt ... Italien hielt Albanien bis zum Sturz Mussolinis am 8. September 1943 besetzt. Nachdem die italienischen Verbündeten Deutschlands kapitulierten, zogen die deutschen Truppen ohne großen Widerstand in Albanien ein.189 Nach einer kurzen Phase, in der die deutschen Be- satzer sehr offensiv mit der albanischen Bevölkerung umgegangen sind und die Wehrmacht ihre Position in Albanien zunächst festigen konnte, änderte sich die deutsche Politik. Die Deutschen wussten um das Unabhängigkeitsbestreben der albanischen Bevölkerung, die sich nach dem Einmarsch Italiens 1939 in einen faschistischen Staat einge- gliedert sah, ein Zustand, der selbst von Großbritannien anerkannt worden war. Albanien befand sich nach dem Eintritt Italiens in den Zweiten Weltkrieg nur am Rande des Kriegsgeschehens und konnte bei seinem zunächst bescheidenen Widerstand nicht auf alliierte Hilfe

186 Siehe auch Hasluck 1939, 1967, 1933. 187 Kastrati 1955: 124, 126. 188 Kastrati 1955: 126. 189 Vickers 1997 [1995]: 153-161. 92 Rezeption und Beständigkeit setzen. Die deutschen Besatzer wirkten in dieser Situation wie Befrei- er. Die Italiener hatten das Land ausgebeutet. Die Deutschen, die Al- banien nur mit einer kleinen Armee besetzt hielten und auch deswegen mit der lokalen Bevölkerung zusammenarbeiten mussten, hinterließen eine etwas wohlwollendere Erinnerung im Norden des Landes als die Italiener.190 Als ich mich bei Gesprächen während der üblichen Worte der Begrüßung beim Kaffee mit einigen Ältesten in Puka vorstellte, wurde ein paar Mal die Bekanntschaft mit einem Of- fizier der Wehrmacht oder der SS angesprochen. Mal kannten Inter- viewpartner die betreffende Person persönlich, mal über Erzählungen ihrer verstorbenen Väter. Es wurden auch Namen genannt und mich gefragt, ob ich diese kenne. Über kleine Anekdoten wurden die Offi- ziere, deren Namen ich zum Bedauern meiner Gesprächspartner nie gehört hatte, als Personen dargestellt, die Respekt vor der nordalbani- schen Kultur gehabt hätten. Die Offiziere hätten die Albaner ernst ge- nommen, und es habe eine gegenseitige Achtung bestanden. Da ich es nicht als meine primäre Aufgabe betrachtete, meinen Gesprächpart- nern Geschichtsunterricht zu geben und den Nationalsozialismus bei einem Nachmittagskaffee in der nordalbanischen Provinz aufzuarbei- ten, versuchte ich dem Thema mit ein paar vagen Anspielungen zu be- gegnen, die meine Meinung andeuten sollte, dass ich dieser deutschen Periode nicht sehr positiv gegenüber eingestellt bin. Doch man unter- brach mich sofort: Natürlich wüssten sie um Hitler und seine Gräuel- taten, doch in Nordalbanien seien die Albaner respektvoll behandelt worden. Im Übrigen hatte ich den Verdacht, dass sie genau wussten, mit welcher Art Gespräch sie einen Deutschen herausfordern konnten und dass sie Spaß daran hatten. Anschließend lächelten sie als ich bei ihrer Beschreibung der ›respektvollen‹ Nazioffiziere protestierte. Die deutsche Wehrmacht stationierte in Albanien nur zwei Divisio- nen. Wegen dieser geringen Präsenz konnte sie es nicht auf eine Kon- frontation mit den Albanern ankommen lassen. Schon beim Ein- marsch der deutschen Truppen wurde den Soldaten eine höfliche und zuvorkommende Begegnung mit den Albanern nahe gelegt. Es wur- den sogar Flugblätter verbreitet, die die Albaner davon überzeugen sollten, dass die Deutschen nicht als Feinde, sondern als Freunde ge- 190 Fischer, B. 1991: 28. 93 Was ist der Kanun? kommen seien. Deutschland habe keinerlei Interesse, Albanien an das Reich anzugliedern.191 Hermann Frank (1957), Soldat der deutschen Besatzungsmacht in Albanien, schrieb dazu aus deutscher Sicht: »Al- banien galt als nicht Krieg führendes, mit Deutschland befreundetes Land. Die Truppe hatte strengste Anweisung, sich dementsprechend zu verhalten. Jede Einmischung in inneralbanische Angelegenheiten ist verboten. Die Bevölkerung soll so schonend wie nur möglich be- handelt werden.«192 Die Deutschen zollten gerade den nordalbani- schen fis-Anführern einen gewissen Respekt. Sie galten zwar als rück- ständig und primitiv, doch die Ehre und Schande-Ideologie, gepaart mit Themen wie Stolz, Blutrache und Kampfeslust, schien eine Art geistiger Verwandtschaft zur nationalsozialistischen Ideologie zu evozieren: »›Mein Gott, wenn wir gegen die hätten kämpfen müssen!‹ sagte Schlager [ein Offizier]. […] ›Kein Uniformknopf von uns wäre in die Heimat zurückgekehrt.‹«193 Erst mit dem Rückzug der Deutschen und dem Sieg der Partisanen unter der Führung von Enver Hoxha über die so genannte Balli Kom- bëtar (Nationale Front), die 1943 gegründete nationalistische Vereini- gung mit eher demokratischer Zielsetzung, konnte auch die Macht der nordalbanischen fis deutlich begrenzt werden. Die Partisanen kämpf- ten an zwei Fronten: zum einen gegen die deutschen Besatzer und zum anderen gegen inneralbanische Gegner wie die Nationalisten oder einige nordalbanische fis, die sich auf die Seite der Deutschen ge- schlagen hatten, weil sie gegen eine Ausbreitung der sozialistisch ein- gestellten Partisanen waren. Die nordalbanischen fis-Anführer waren den Partisanen ein Dorn im Auge, denn die bajraktar (die Anführer der Banner bajrak) unterstützten nicht nur die nationalistischen Kräf- te, sondern hatten auch wenig dagegen unternommen, die deutschen Soldaten aus dem Land zu vertreiben.194 In Mirdita zerstörten die Par- tisanen einen prominenten Punkt der nordalbanischen Selbstverwal- tung: Orosh war der Sitz des Alexanderklosters (Abb. 6), eine benedektinische Gründung, die nach dem Ende ihrer Mission in Alba-

191 Bartl 1995: 231. 192 Frank 1957: 52. 193 Frank 1957: 208. 194 Krasztev 2000: 207; Vickers 1997 [1995]: 154. 94 Rezeption und Beständigkeit

Abb. 6: Neue Kirche in Orosh (Mirdita), erbaut auf den Ruinen der alten Abtei. nien von dem Franziskanerorden übernommen worden war. Der Ort war in der Vergangenheit stets eine wichtige kulturelle Lokalität, auch weil er an der Route von Shkodra nach Prizren lag und viele Auslän- der — Reisende oder Kaufleute — hier vorbeikamen. Orosh war Sitz der mirditischen kapedan, Anführer von lokal starken fis, und erhielt im neunzehnten Jahrhundert eine der ersten albanischen Schulen. Orosh war ferner bedeutend im Zusammenhang mit dem Kanun.195 Hier wurden Versammlungen der fis und wichtige gewohnheitsrecht- liche Entscheidungen von überregionaler Bedeutung getroffen. Erste albanische Literaten und Verfechter einer albanischen Schrift sowie Volkskundler der ersten Stunde, wie beispielsweise Gjeçov, verweil- ten dort und studierten im umfangreichen Archiv der Abtei.196 Eine Zerstörung dieses Ortes kam einer symbolischen Zertrümmerung von

195 Kadare 1989 [orig. 1980] beschreibt einen Blutrachefall und wie sich die Hauptfi- gur Gjorg Berisha auf den Weg nach Orosh macht. 196 Peters 2001a: 234-235 [Neuausgabe 2003]; 2001b: 91, 92; siehe auch Durham 1979 [1928]: 29-30. 95 Was ist der Kanun?

Kanun, katholischer Kirche und lokaler Selbstverwaltung gleich. Dies sollte auch als ein Zeichen verstanden werden, dass die patriarchale und feudale Gesellschaftsstruktur ihrem Ende nahe gekommen sei.197 Das Gewohnheitsrecht wurde ferner auf eine einfache wie brutale Art scheinbar außer Kraft gesetzt. Die örtlichen Verantwortlichen und wichtigen Figuren im Kanun wurden ermordet. Die Partisanen töte- ten im Herbst 1944 fast ein Drittel der männlichen Bevölkerung: »These were the elite of the clans and tribes: one standard-bearer, four leaders and twelve elders per tribe, and one head of household in each large family […]. In a word everyone was lost who could have passed on knowledge of the law, their own history, the workings of self-go- vernment, and the people’s religion, if there was in fact such a thing.«198 Krasztev erklärt über diese Massaker den plötzlichen Zusammenfall des auf dem Kanun basierenden sozialen Lebens, was in den Jahrhun- derten zuvor noch kein Besatzer zu erreichen vermochte. Das Massa- ker, so Krasztev, habe einen solchen Schock ausgelöst, dass es bei den Überlebenden zu einer nahezu vollständigen Amnesie geführt habe: »My supposition is that the Partisan massacre, unimaginable and wholly inexplicable within the framework of local customary law, un- leashed such a shock that it produced total amnesia in the survivors. The hierarchical tribal relationships disintegrated, the new authorities introduced general compulsory education which dismembered spiri- tual belief with the idea of social redemption, and replaced the tradi- tional vengeance mechanism with everyday arbitrary terror: the meaning of the old stories was lost or forgotten and their place was ta- ken by the exteriority of time and history.«199 Ohne näher auf diese möglicherweise etwas kurz greifende völkerpsychologische Interpre- tation einzugehen, lässt sich im Folgenden für die sozialistische Zeit trotz einer dünnen Quellenlage die Beständigkeit von gewohnheits- rechtlichen Strukturen zeigen. Der Kanun konnte trotz grausamer Aktionen der Sozialisten nur teilweise außer Kraft gesetzt werden. Der Kanun und die mit diesem Habitus verbundenen Familienstruk- turen existierten auch unter Hoxhas Regime weiter, weil die sozialen

197 Vickers 1997 [1995]: 155. 198 Krasztev 2000: 208. 199 Krasztev 2000: 208. 96 Rezeption und Beständigkeit

Umstrukturierungen der Sozialisten in Nordalbanien nur wenig grif- fen, gesetzliche und politische Rahmenbedingungen den Habitus per- petuierten und das den Kanun generierende soziale Feld sich im Sozialismus nicht tiefgreifend änderte. Das Wiedererwachen des Ka- nuns nach dem Fall des Sozialismus erscheint daher auch nicht wie ein reaktiviertes Gewohnheitsrecht, das sich in ein Machtvakuum fügte, sondern vielmehr als ein historisch kontinuierlicher Habitus, der im Sozialismus drastisch zurückgedrängt wurde, doch nicht verschwand, um nach dem Ende von Hoxha und seinem Nachfolger Alia wieder mehr Bedeutung zu erlangen. Rezeption und Beständigkeit des Kanuns im Sozialismus Die sozialistische Sichtweise auf den Kanun ist paradox. Auf der einen Seite wurden das albanische Gewohnheitsrecht und die Folklore im Allgemeinen bemüht, um die kulturelle Eigenständigkeit und Origi- nalität der eigenen Ethnie zu betonen. Nordalbanien wurde als kultu- reller Geburtsort der Albaner gesehen,200 die örtlichen Traditionen wurden von den sozialistischen Wissenschaften für authentisch und alt befunden und als Beweis für die von Außeneinflüssen ungetrübte reine Kultur herangezogen. Kulturelle albanische Eigenheiten wie besa oder Volksmusik wurden in der Literatur künstlerisch überhöht beziehungsweise, wie anlässlich des alle fünf Jahre veranstalteten Volksmusik- und Volkstanzfestivals im südalbanischen Gjirokastra (Abb. 7),201 öffentlich zur Schau gestellt. Auf der anderen Seite unter- nahm man große Anstrengungen, um patriarchale Strukturen und ge- wohnheitsrechtliche Praktiken aus den Dörfern im Norden wie einen bösen Geist zu vertreiben. Materielle Zeugnisse der vorkommunisti- schen Lebensweise wurden in Museen gesichert oder in einer ›domes- tizierten Form‹ auf offiziellen Bühnen zur Schau gestellt.202 Die sozialistischen Machthaber in Tirana begannen bald nach der Fes- tigung ihres Regimes mit der Förderung eines Nationalbewusstseins, das

200 Hier gibt es unterschiedliche Positionen, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehen kann. Beispielsweise wird die Wiege der Albaner mal in der Region Mati vermutet (mittleres Nordalbanien), mal in Dardanien, dem heutigen Kosovo. 201 Zum Festival in Gjirokastra siehe Stein 1989; Uçi 1981. 202 Schwandner-Sievers 2001: 104. 97 Was ist der Kanun?

Abb. 7: Bühne des alle fünf Jahre veranstalteten Volksmusik- und Volks- tanzfestivals im südalbanischen Gjirokastra. auch durch die neu gegründeten Wissenschaftsdisziplinen unterstützt werden sollte. Angelehnt an den Sowjetpatriotismus der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts wurde die Heroisierung der albanischen Nationalgeschichte in Verbindungen mit der Notwendigkeit eines sozia- listischen Staates gefördert. In Museen wurde die vermeintliche kulturel- le Einheit präsentiert. Es wurden Monumente für den Nationalheroen Skanderbeg errichtet und albanische Heldengeschichten in Literatur my- thisch dargestellt (Abb. 8, 9). Forschungen in Geschichte, Archäologie und albanischer Philologie sollten die illyrische Herkunft der Albaner aufzeigen und somit gewissermaßen ein Erstgeburtsrecht auf Grund und Boden in den ethnisch albanischen Gebieten begründen. Die albanische Wissenschaft sollte ihren Beitrag dazu leisten, die Klärung der Identität, die Legitimation der Grenzen und damit schließlich die staatliche Exis- 98 Rezeption und Beständigkeit tenz zu bestätigen.203 Die Erfor- schung der Volkskultur nahm in dieser Argumentation eine zen- trale Stellung ein. Die Volks- kundler hatten die Aufgabe, den Reichtum der Bevölkerung, der den albanischen Nationalgedan- ken über die ›Stürme und Un- wetter der Geschichte‹ hinaus konserviert habe, aufzuzeigen.204 Die Volkskultur hatte demnach die kulturelle Authentizität und Ursprünglichkeit während der unterschiedlichen Besatzung er- möglicht. Auf die postulierte traditionelle Volkskultur, die ganz Albanien eint, galt es, die sozialistische Kultur aufzubau- Abb. 8: Skanderbeg. en.205 Die ethnographische Erforschung des Gewohnheitsrechts begann 1947 mit der Gründung eines ethnographischen Sektors, der ab 1955 an das Institut für Geschichte und Philologie angegliedert war. Ein Schwerpunkt innerhalb der ethnographischen Abteilung, die 1979 zu einem eigenen Institut für Volkskultur aufgewertet wurde, war unter anderem die Sammlung des Gewohnheitsrechts aus verschiedenen Gebieten, das in den ersten Jahren nach der ›Befreiung‹ intensiv vor al- lem von Zojzi untersucht wurde. Die Ergebnisse der Forschungen lie- gen in unterschiedlichen Archiven der Akademie der Wissenschaften, sie sind teilweise veröffentlicht oder verloren gegangen.206 Ziel der

203 Hildebrandt 1983: 46; Hoppe 1993: 578. 204 Buda 1976: 11. 205 Buda 1976: 13; Uçi 1984: 88; zur Forschung in der Zeit des Sozialismus allgemein siehe Tarifa 1993, 1996. 206 Gjergji/Dojaka 1969b: 58, 64; zur Volkskunde in Albanien siehe Buda 1977: 40-41; Stein 1989, 1993. In den Archiven des Instituts für Volkskultur sind einige Kanunversionen zu finden: Haxhi Goci [o.J.]: Kanuni i Bendës. 163 S. [Archiv- nummer AE 432/19]; Franos Illia 1965: Zakoni i kurbinit. Milot [319/7], veröf- 99 Was ist der Kanun?

Forschung, die zum ersten Mal in der Geschichte Albaniens systema- tisch den Kanun in Nordalbanien untersuchte, war neben der bereits genannten ideologischen Suche nach der Einheit des albanischen Vol- kes das Sammeln der gewohnheitsrechtlichen Regelungen, bevor sie ganz verschwinden würden.207 Der Kanun sei zu einer bestimmten Zeit in Albanien notwendig ge- wesen, so die offizielle Position im sozialistischen Albanien. Er habe die Jahrhunderte andauernde Besatzung Albaniens zu überstehen er- möglicht, ohne dass die albanische Bevölkerung assimiliert worden wäre.208 Diese Sichtweise wurde schon von einigen Autoren um die Jahrhundertwende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert vertreten: Das alte feudale System und das damit verbundene Ge- wohnheitsrecht habe die Einheit und Selbständigkeit vor allem der Nordalbaner gegenüber den Osmanen erhalten.209 In einem Albanien ohne zentralen Staat und einheitlicher Jurisdiktion sei nach sozialisti- scher Meinung der Kanun durchaus hilfreich gewesen:210 Das Ge- wohnheitsrecht sei ein gutes Beispiel dafür, dass das Land schon sehr lange eine differenzierte soziale und rechtliche Organisation aufge-

fentlicht 1993 unter dem Titel Kanuni i Skandebegut (Illia war von 1993-1996 Abtbischof in Orosh; vgl. Peters 2001a: 234, 256 [Neuausgabe 2003]); Xhemal Meçi 1984: Sistemi i së drejtës kanunore në viset e Pukës. Mdledhur në vitet 1968-1984 dhe sistemuar në vitën 1984. 3 Bde. Puka. I: III, 136-270; II: VII, 138-267; III: XIII, 1-134 S. [AE 1247/24, 1227/4, 1242/19], veröffentlicht 1995 unter dem Titel Kanuni i Lekë Dukagjinit; Rrok Zojzi 1956: Material etnografik mbi Kanunin e Idriz Sulit. 3 Bde. Instituti i Kulturës Popullore. Tiranë I: 136; II: 144; III: 152 S. [44/7, 41/4, 40/3], zum großen Teil aufgegriffen von Ismet Elezi in dem Buch E drejta zakonore e Labërisë (2002 [1984]). Es sollen auch in anderen Archiven der Akademie der Wissenschaften in Tirana kleinere Verschriftlichun- gen vorhanden sein, leider scheinen viele Manuskripte verlorengegangen zu sein, und ferner ist ein genauer Katalog über den Bestand nicht vorhanden. Zu weite- ren Untersuchungen albanischer Autoren zum Kanun siehe Benussi 2002; Elezi 1983; Hoxha, I. 1999. Siehe auch die umfangreiche Publikation der albanischen Akademie der Wissenschaften: Akademia e Shkencave e RPS të Shqipërisë (Hrsg.) 1989. 207 Zojzi 1956: 149; zur ›Kanun-Moral‹ im Sozialismus siehe Schwandner-Sievers 1998: 337-338. 208 Elezi 1981: 101. 209 Siehe bspw. Garnett 1893: 215; Pinon 1909: 800; aus sozialistischer Perspektive Elezi 1975b: 37. 210 Elezi 1966: 309. 100 Rezeption und Beständigkeit

Abb. 9: Blick auf das Reiterstandbild von Skanderbeg vor den Ruinen sei- ner Festung in Kruja wiesen habe und die Albaner nicht das ›primitive, sonderbare Balkan- völkchen‹ seien, wie es in den zeitgenössischen Reiseberichten zu lesen ist.211 Die albanische Wissenschaft sei eine deutliche Anklage ge- gen die ausländischen Aussagen, die mit unglaublichen Zahlen von Blutrachefällen im Norden die Albaner als Barbaren und ›Indianer Europas‹ hinstellten.212 Nicht der ganze Kanun sei zu verdammen, es gelte, die guten Seiten der besa oder der Gastfreundschaft (mikpritje) zu betonen, doch nicht zu heroisieren, wie es beispielsweise Gjergj Fishta tat, für den der Kanun hauptsächliche Quelle nationalstaatli- cher Gesetzgebung sein sollte.213 Den Franziskaner Fishta (1871-1940) nennt Robert Elsie den albani- schen Homer. Fishta begründete und gab die Zeitschrift Hylli i Dritës mit heraus, in der Gjeçov seine Version des Kanuns veröffentlichte. Bekannt ist Fishta vor allem durch sein umfangreiches Epos Lahuta e Malcis (Die Laute des Hochlandes), ein 15.613 Zeilen langer Text über balkanische Zeitgeschichte, albanische Folklore, Ethnographie, My-

211 Elezi 1980: 209. 212 Elezi 1959: 205. 213 Elezi 1977: 241. 101 Was ist der Kanun? thologie, Heldengeschichten und Gewohnheitsrecht.214 Es ist ein komplexes, mythisch überhöhtes Werk, das vielfach auf Themen des Kanuns zurückgreift. »So ist die ›Laute des Hochlandes‹ eine Fund- grube für die balkanische Zeitgeschichte, eine Fundgrube albanischer Folklore, da Zânen, Oren, Dangues, Kulshedras, Floçken und Kshet- zen; Shtrigen und der böse Blick, die Mittel gegen beide Übel, der Schmiede Zauber eine große Rolle spielen, eine Fundgrube albani- schen Brauchtums, da die Punkte des Kanuni i Lekë Dukagjinit, des Volksrecht der Malcija […], da all diese doket, diese alten Sitten, das ganze epische Leben durchweben, es ist eine Fundgrube albanischer Ethnographie«.215 Fishta bemühte sich nicht, den Kanun zu rechtferti- gen, versuchte ihn jedoch zu erklären: Über einen Vergleich mit Kan- nibalen argumentierte er gegen die vermeintlich barbarische Seite des Kanuns: »For instance, the Cannibal kills a man, and so does the Eu- ropean judge: but do we say that they are equally barbarous? No, be- cause the Cannibal kills a man to eat his flesh, and so he is a barbarian; whereas the European judge kills a man neither to eat his flesh nor to take revenge on him personally, but to save society from a dangerous element, and so he is not a barbarian.«216 Aus diesem Grund verstand Fishta die albanische Blutrache nicht als barbarisch, sondern als Teil eines Rechtssystems, in dem Schuldige für ihre Taten büßen mussten. Mit der Laute des Hochlandes verfasste Fishta ein umfangreiches Werk, von dem Lambertz meint, es werde als ›Meisterwerk der Welt- literatur‹ literarischen Ruhm erlangen.217 Unter anderem, weil Fishta das Gewohnheitsrecht konkret erwähnte und ihm seinen Wert zu- schrieb, galt Fishta für die sozialistische Betrachtung des Kanuns als reaktionär. Erst die sozialistische Wissenschaft habe zeigen können, unterstreicht Ismet Elezi (1966), dass das Gewohnheitsrecht schon al- lein deswegen obsolet geworden sei, weil sich Klassenstrukturen ge- bildet hätten. Westliche ›idealistische‹ Forscher oder von ihnen beein- flusste Stimmen hätten dies nicht bemerkt.218

214 Elsie 1993: 105-107; Peters 2001a: 31-32, 249-251 [Neuausgabe 2003]. 215 Lambertz 1949: 44. 216 Fishta 1997: 30-31. 217 Lambertz 1949: 14; siehe Fishta 1958 [orig. 1937]. 218 Buda 1976: 28-29; Elezi 1966: 309. 102 Rezeption und Beständigkeit

Üblicherweise werden die Forschungsergebnisse albanischer For- scher im Sozialismus in der postsozialistischen Beschäftigung mit Al- banien übergangen, eine Tendenz, die auch heute bei der Zusammen- arbeit mit örtlichen Ethnographen festzustellen ist. Das Institut für Volkskultur war ein wichtiger Bestandteil der Realisierung der sozia- listischen albanischen Identitätspolitik. Nach dem Fall des Sozialis- mus versiegten die Geldmittel, und auch die Bedeutung des Instituts ging zurück. Das Institut betreibt jetzt eine Mangelverwaltung in ei- nem zerfallenden Gebäude, das keine vernünftigen Arbeitsbedingun- gen mehr bietet. In den Archiven verkommen die schlecht konser- vierten Sammlungen, die aus Geldmangel teilweise sogar veräußert werden müssen. Die Mitarbeiter des Instituts fühlen sich national und international nicht ausreichend gewürdigt, womit sie nicht ganz un- recht haben. Viele der ausländischen Forscher, die aktuell über Alba- nien forschen, arbeiten überhaupt nicht oder nur am Rande, der Form halber, mit dem Institut zusammen. Ihre intensive Forschungen zum Kanun jedoch, losgelöst von allzu offensichtlichem ideologischen Ballast, bieten dank ihrer materialistischen Sichtweise auf das Ge- wohnheitsrecht eine interessante Perspektive. Zojzis Forschungen seien hier als Beispiel angeführt. Die Forschun- gen waren zwar auch sehr von sozialistischen Leitlinien bestimmt, stellten diese jedoch im Zusammenhang mit dem Kanun einen durch- aus sinnvollen Ansatz dar. Bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts folgte man meist der bereits erläuterten These, dass das Gewohnheits- recht und insbesondere der Kanuni i Lekë Dukagjinit auf konkrete Personen zurückzuführen sei. Es gab unterschiedliche Meinungen da- rüber, wer genau die Personen gewesen seien oder wie viel von dem Text, den der vermeintliche Gesetzesgeber vorgab, noch übrig geblie- ben sei. Letztlich wurde der Kanun jedoch als Produkt einer bestimm- ten Person gesehen. Zojzi war unter den ersten, die die Erforschung des Kanuns als Ganzes forderten: Es nützt nichts, nur einen Aspekt herauszuheben, man verliert den Zusammenhang aus dem Blickfeld, gerade weil das Gewohnheitsrecht in enger Beziehung zu dem den Kanun bestimmenden sozio-ökonomischen Bedingungen gesehen werden muss. Der Kanun ist, wie Zojzi betont, meist als monolithi- scher Block gesehen worden, doch der Kanun ist das Produkt der ge-

103 Was ist der Kanun? sellschaftlichen Umstände und man kann ihn nicht einer bestimmten Person zuschreiben.219 Der Kanun ist keine gleichbleibende Gewohn- heit. Veränderungen in den materiellen Bedingungen führten zu Än- derungen im Kanun: »C’est par le développment des forces produc- tives et des rapports dans la production que prennent naissance aussi les idées, des conceptions et des mentalités nouvelles plus avancées, en contraste avec les conceptions anciennes, qui ont fait leur temps. Ces nouvelles idées exigeaient un appui juridique dans le coutumier et mettaient en vigueur des normes nouvelles en contraste frappant avec le anciennes. L’introduction de ces nouvelles normes traduisait une modification qualitative dans la vie du coutumier, un bond dans le processus de son développement.«220 Gerade im Rahmen der Begründung einer eigenen albanischen Iden- tität, präsentiert als frei von kulturellen Vermischungen, reagierten sozialistische Forscher besonders heftig, wenn die Entstehung des Ka- nuns äußeren Entwicklungen zugeschrieben wurde. Es gibt zahlrei- che Überlegungen zum Ursprung des Gewohnheitsrechts bezie- hungweise dazu, welche der Besatzungsmächte oder Nachbarethnien den Kanun entscheidend geprägt haben sollen. Nopcsa will in der Etymologie albanischer Ausdrücke aus dem Kanun germanische Ein- flüsse erkannt haben.221 An anderer Stelle bemerkt er den Einfluss der langobardischen Rechtssprache und vermutet, dass der fis Dukagjin wahrscheinlich im zwölften Jahrhundert den Kanun nach einem lan- gobardisch-italienischen Muster verfasst habe.222 Godin sieht es als ›gesichert‹ an, dass, wie ›aus der Überlieferung und aus Legenden‹ er- sichtlich das Gewohnheitsrecht über germanische Migrationen im Norden und im Süden des Landes beeinflusst worden sei. Der Ein- fluss der katholischen Kirche sei hingegen vergleichsweise gering ge- wesen.223 Kaser hebt aus den vielfältigen Spekulation bezüglich des Ursprungs des Kanuns jene Quellen heraus, die die Grundlage des Gewohnheitsrechts im byzantinischen Rechten verorten.224

219 Zojzi 1969: 385. 220 Zojzi 1969: 388; siehe auch Pupovci 1972b: LIII-LXXXIV. 221 Nopcsa [o.J.]: 3. 222 Nopcsa 1923: 374-375. 223 Godin 1956: 183-184. 104 Rezeption und Beständigkeit

Diesen Ansätzen widerspricht die sozialistische Forschung deut- lich. Neben dem byzantinischen Recht habe es ein ursprünglicheres, nicht-kodifiziertes Recht gegeben, das zur gleichen Zeit in Kraft und sehr verschieden von Ersterem gewesen wäre. Die osmanische Erobe- rung, die die weit reichende Tolerierung traditioneller gesellschaftli- cher Organisation mit sich brachte, habe eine Regeneration und sogar eine Ausweitung der archaischen Rechtsvorstellung erlaubt.225 Unter- stützung für ihre Thesen erhalten die sozialistischen Forscher durch die Ausführung von Ludwig von Thallóczy (1916), der ebenfalls für ein ursprüngliches illyrisches Recht argumentiert: »Sicher hingegen ist es, daß dieses Gewohnheitsrecht schon unter den Römern als das lokale Recht der Indigenen anerkannt war […]. Wir haben es mit ei- nem endemischen Urrecht der balkanischen Hirtenbevölkerung zu tun, welches sowohl zur Zeit der Slawen, wie auch der byzantinischen und der türkischen Herrschaft — wenn auch den verschiedenen Ver- hältnissen angepaßt — fortbestand.«226 Es sei keineswegs haltbar, so die im Sozialismus propagierte Mei- nung, dass das Gewohnheitsrecht von den verschiedenen Eroberern in der Geschichte des ethnischen Albaniens gewissermaßen importiert worden sei. Das erkenne man an der Konformität der Regeln mit der Volkskultur im Allgemeinen.227 Gerade während der italienischen Be- satzung versuchte man, den Kanun auf römische Wurzeln zurückzu- führen, und Elezi vermutet, dass in diesem Fall die ›Theoretiker des Faschismus‹ ein weiteres Argument für die Einverleibung Albaniens in das italienische Herrschaftsgebiet gesucht hätten.228 Die von der so- zialistischen Ideologie bereinigte Sichtweise auf den Kanun als Pro- dukt bestimmter sozio-ökonomischer Rahmenbedingungen halte ich

224 Kaser, K. 1992: 290. Alkon und Hughes (Ms. [2001]: 2) bemerken Ähnlichkeiten des Kanuns zu dem Kodex des Pakhtunwal (Pashtun, Nordwest-Pakistan) und auch zu Rechtsformen im Kaukasus. Es sei nicht klar, ob die Ähnlichkeiten durch Entlehnung, gemeinsame Wurzeln oder ähnliche Topographie entstanden sind; siehe auch Nova 1989. 225 Kaser, K. 1992: 290-291. 226 Thallóczy 1916: 410-411. 227 Hoxha, I. 1987b: 54; Elezi 1977: 235. 228 Elezi 1975b: 36. 105 Was ist der Kanun? für sinnvoll, was auch über die Erklärung des Kanuns mit dem Habi- tus-Konzept deutlich wurde. Das albanische Gewohnheitsrecht, das will die sozialistische For- schung in den fünfziger Jahren gezeigt haben, weise einen einheitli- chen Kern auf. Die zahlreichen lokalen Unterschiede seien aus- schließlich auf ungleiche sozio-ökonomische Entwicklungen in den verschiedenen Regionen zurückzuführen.229 Diese Homogenität zeige die Einheit der albanischen Kultur und des albanischen Volkes, gerade auch während der Jahrhunderte andauernden Besatzung.230 Diese Ar- gumentation ist Teil einer komplexeren Strategie, eine gemeinsame Wurzel darzustellen, die es trotz einer großen Verschiedenheit im eth- nischen Albanien geben soll. Diese Einheit ließe sich in der materiellen Kultur genauso wie im Hausbau und im sozialen, ›geistigen‹ und künstlerischen Bereich zeigen. Das Gewohnheitsrecht bilde hier keine Ausnahme.231 Einer lokalen Variante des Kanuns kommt in dieser Ar- gumentation ein besonderer Wert zu. Sie wurde Skanderbeg zuge- schrieben, das heißt dem Nationalhelden, dem es kurzzeitig gelang, nordalbanische Großfamilien gegen die einfallenden Osmanen zu ei- nigen: Gerade der Kanun, den man in Albanien mit Skanderbeg ver- bindet (und es wird eigentlich nicht so richtig klar, warum) unter- mauere die These eines ursprünglichen, einheitlichen albanischen Ka- nuns. Die unterschiedlichen lokalen Varianten seien nichts anderes als regional bedingte Abwandlungen eines gemeinsamen ›Gewohnheits- rechts des albanischen Volkes‹:232 »Dans ses quatre principales varian- tes (le Kanun de Lek,leKanun de l’Arbërie ou de Skanderbeg,etle Kanun de la Labërie), le coutumieraàsonfondement un substrat an- cien commun, qui apparaît aussi chez les Albanais en Grèce, d’Italie, de Dalmatie, et ailleurs, qui se son éloignés du pays depuis plusieurs siècles.«233 Diese ursprüngliche kulturelle Einheit habe den sozialisti- schen Forschern zufolge den Albanern ermöglicht, während der Be- satzung über Jahrhunderte den Feinden zu trotzen.234 229 Elezi 1975b: 34; 1977: 235; 1980: 29. 230 Goci 1987b: 75. 231 Haxhihasani/Dojaka 1984: 44. 232 Zojzi 1967: 118, 120; 1969: 384; Godin 1953: 6. 233 Elezi 1977: 236, Kursivierungen im Original. 234 Elezi 1980: 209; 1981: 101. 106 Rezeption und Beständigkeit

Die albanischen Ideologen hatten, so Krasztev, Schwierigkeiten ge- habt, eine albanische Nation ideologisch zu begründen. Aus der Sicht der Religion war keine Einheit erkennbar, da im Land muslimische Gläubige, orthodoxe und katholische Christen lebten. Es gab vor der Ankunft der Osmanen keine gemeinsame Vorstellung eines albani- schen Staates, auf die man sich, wie im Falle Serbiens, als eines ›golde- nen Zeitalters‹ hätte berufen können: »The consequences of this were that never constructed a mythological-historical narrative of the type ›we came from somewhere, our goal is ahead of us‹«.235 Die ›Lösung‹, die sich seit der rilindja als Argumentation durchsetzte, war, dass die Albaner das Land seit sehr langer Zeit bewohnten und dass man dieses an ihrer gemeinsamen Sprache, gemeinsame Institutionen und einer gemeinsamen Rechtsordnung erkenne. Der Kanun wird demnach zum unmittelbaren Ausdruck der Autonomie und erhält die moralische Einheit der Gemeinschaft aufrecht: Ohne den Kanun wä- ren der Widerstand der Albaner und damit die ethnische Eigenstän- digkeit eingebrochen.236 Selbst die Blutrache ist nach sozialistischer Meinung nicht in jeder Phase der albanischen Geschichte durchgehend negativ zu beurteilen. Ohne einen zentralen Staat stellte die Blutrache ein Sanktionsmittel und einen Schutz vor ›unrechten Übergriffen‹ dar. Erst nach Entwick- lung landesweiter und wesentlich effektiverer Mittel der Rechts- durchsetzung habe die Blutrache ihre Bedeutung als soziales Kon- trollinstrument verloren. Elezi spricht sogar von einer Nationalisie- rung der Blutrache, der Übertragung des Gewaltmonopols auf die Ebene der staatlichen Regierung.237 Mit der ›nationalen Befreiung‹ sei das Ende der Blutrache gekommen, sie gehöre einer längst hinter sich gelassenen Vergangenheit an.238 Dies bestätigt auch Clarissa de Waal (1998): Über die übermächtige Geheimpolizei (sigurimi), Vollzeitbe- schäftigung und Kollektivierung sei der Blutrache ein Ende gemacht worden. In der Periode von 1950 bis 1990 habe es keine Blutrache ge- geben.239 Eigentlich soll die Blutrache auch nicht Teil der Mentalität

235 Krasztev 2000: 195-196. 236 Hoxha, I. 1987b: 58. 237 Elezi 1967: 3. 238 Elezi 1959: 212; 1966: 317; 1967: 4; Logoreci 1977: 183. 107 Was ist der Kanun? der Albaner sein.240 Die sozialistische Partei unternahm ›große An- strengungen‹, alle Grundbedingungen der Gesellschaft so zu verän- dern, dass den gewohnheitsrechtlichen Regelungen jeglicher Nähr- boden entzogen wurde.241 Die großen Anstrengungen reichten vom Ausbau der Infrastruktur und der Kommunikation, der Zerschlagung von Großfamilien und der Förderung der Gleichberichtungen von Mann und Frau bis hin zu drastischen Eingriffen in die ländlichen Räume durch Kollektivierungen und der Neugestaltung von Dorf- strukturen. Die Veränderung der Position der Frau war in diesem Zu- sammenhang ein besonders wichtiger Aspekt. Zum einen ging es darum, die patriarchale Gesellschaft zu entkräften. Die arrangierte Hochzeit wurde bekämpft und öffentliche Positionen mit Frauen be- setzt, um die männliche Dominanz öffentlicher Räume abzubauen. Zum anderen — und hier erkennt man die nur oberflächliche Loslö- sung der Frau aus traditionellen Geschlechtervorstellungen — wur- den die Frauen als Arbeitskraft gebraucht. Sie mussten viele Kinder bekommen, um dem Land viele Arbeitskräfte zu schenken.242 Albanien kam erst sehr spät zu einem landesweiten Kommunika- tionsnetz. Dieses liegt zu einem großen Teil an der Topographie des Landes, denn nur Zentralalbanien liegt in der Ebene. Der Norden und Süden werden von bis zu 2.600 Meter hohen Bergen bestimmt, die den Aufbau von Kabelnetzen oder auch eines Straßennetzes sehr schwie- rig machten. Während der osmanischen Herrschaft gab es nur vier Straßen durch Albanien, die Bergregionen konnten nur über kleine Pfade durchquert werden, die ausschließlich mit Pferden oder Maul- tieren und bei gutem Wetter begangen werden konnten. Zu ersten Verbesserungen bei der Infrastruktur kam es erst durch die Besat- zungsmächte nach den Balkankriegen.243 Da Albanien bis 1944 nie über längere Zeit hinaus eine feste politische Einheit bildete, gab es auch keine nationalen Strategien des Aufbaus von Kommunikations-

239 de Waal 1998: 24; es wird allerdings nicht deutlich woher sie diese Information hat. 240 Mejdiaj 1977: 316. 241 Dojaka 1987: 95. 242 Saltmarshe 2001: 123-124. 243 Baldacci 1912: 267; Becker 1880: 38; Gruber/Pichler 2002: 358; Hildebrandt 1951: 14. 108 Rezeption und Beständigkeit netzen. Erst nach der so genannten ›Befreiung‹ Albaniens wurde ein landesweiter Aufbau elektronischer Kommunikation angestrebt. Eine der ersten Amtshandlungen der neuen Machthaber war die Übernah- me von ›Radio Tirana‹. Beginnend mit bescheidener Technik entwi- ckelte sich der albanische Kurzwellensender zu einem leistungs- starken Radio, das auch international zu hören war, auch dank der vie- len Sprachen, in denen die Programme gesendet wurden.244 Unter Hoxha wurden zwar Anstrengungen unternommen, die Infrastruktur auszubauen, jedoch wurde das Straßennetz nicht wesentlich erweitert. Dem Feind sollte eine von den sozialistischen Machthabern gefürch- tete Invasion so schwer wie möglich gemacht werden. Viele Tausend kleine Bunker, die aussehen wie überdimensionale graue Pilze, wur- den an den Straßenrändern im ganzen Land verteilt und sollten die Abwehrstrategie unterstützen.245 Erste Fernsehsendungen gab es in Albanien seit 1960. Ein Pro- gramm wurde anfangs nur an drei Tagen in der Woche gesendet und später auf drei Stunden täglich erweitert. In der sozialistischen Zeit blieb das albanische Fernsehen auch weiterhin auf nur wenige Stun- den am Tag beschränkt. Dennoch entwickelte sich das Fernsehen zu einer Hauptfreizeitbeschäftigung. 86 Prozent der Handwerker und 92 Prozent der Intellektuellen besaßen 1983 ein Fernsehergerät, und es lief zu den geringen Sendezeiten ständig.246 Als 1970 ganz Albanien kollektiviert war und elektrische Leitungen in weiten Teilen des Lan- des existierten, war die Kommunikation trotz der bescheidenen Infra- struktur sehr effektiv, denn in jedem Dorf waren Post und Telefone zu finden. Innerhalb von wenigen Stunden konnten Informationen aus den entlegensten Dörfern in die Hauptstadt gelangen, beziehungswei- se erstere durch die sie täglich erreichenden Zeitungen informiert wer- den.247 Für die sozialistischen Machthaber bedeutete ein landesweites Kommunikationsnetz ein notwendiges Mittel der Kontrolle. Der lan- ge Arm der Partei reichte bis in das kleinste und entlegenste Dorf.

244 Düning 1993; Pinkau 1981, 1986. 245 Hildebrandt 1951: 14; Kaser, K. Ms. [2002]: 4; Kulpok 1981: 11; Mai 2002: 43. 246 Hall 1994: 235; Düning 1993: 628; Pinkau 1986: 41. 247 de Waal 1998: 25-26. 109 Was ist der Kanun?

Doch nicht nur Kontrolle und Gleichschaltung der Bevölkerung konnte über Radio und Fernsehen erreicht werden, die Kommunika- tionsmedien waren auch die einzige Möglichkeit, Nachrichten von außerhalb Albaniens zu empfangen. Da es nicht möglich war, an inter- nationale Zeitungen oder andere Druckerzeugnisse zu kommen, ver- folgte man im Geheimen ausländische Radiosender und italienische Fernsehprogramme. Es war zwar nicht offiziell verboten, ausländi- sche Programme zu empfangen, doch es gab viele so genannten ›de- motivierenden Handlungen‹ der Regierung bis hin zu Verurteilungen wegen der Rezeption imperialistischer Sendungen.248 Über eigene Fernsehgeräte verfügten hauptsächlich die städtischen Haushalte. In den eigenen Wohnräumen wurden auch die italienischen Sendungen empfangen und damit wurde bis zu einem gewissen Grad — über die Rezeption der Programme aus dem Nachbarstaat — der nationale Diskurs der sozialistischen Machthaber unterlaufen.249 Da das Fernse- hen aber die alleinige Quelle für Bilder aus dem ›Westen‹ war, wurde eine höchst irreale Vorstellung der westeuropäischen und insbesonde- re der italienischen Gesellschaft evoziert.250 Doch alleine mittels einer verbesserter Infrastruktur oder zentral ge- lenkter Schulbildung war eine bessere Kontrolle der Bevölkerung nicht zu erreichen. Von Anfang an waren die sozialistischen Machtha- ber sich der Tatsache bewusst, dass sie ihre Stellung nur dauerhaft fes- tigen konnten, wenn es ihnen gelang, die Strukturen der Großfamilien aufzubrechen.251 Das erklärt sich dadurch, dass die Familie für die So- zialisation des Habitus eine wichtige Rolle spielt. Die Sozialisation des Habitus, das heißt die individuelle Verinnerlichung der Strukturen des Feldes, erfolgt klassenspezifisch. Dies ist in modernen, komplexen und differenzierten Gesellschaften der Fall. In tendenziell homogenen Gesellschaften verläuft die Sozialisation für alle Akteure ähnlich, und es entwickelt sich auf diese Weise ein ähnlicher Habitus. Über die ökonomischen, sozialen und kulturellen Existenzbedingungen des Individuums internalisiert der Akteur von frühester Kindheit an die

248 Logoreci 1977; Mai 2002. 249 Champseix 1991: 162. 250 Mai 2002: 50. 251 Logoreci 1977: 181. 110 Rezeption und Beständigkeit gesellschaftliche Praxis. Die primären Erfahrungen, die das Individu- um — gerade innerhalb seiner Familie — macht, sind besonders prä- gend.251 Damit erscheinen die zahlreichen die Macht der nord- albanischen Großfamilien beschränkenden Aktionen der sozialisti- schen Machthaber nachvollziehbar. Die Akteure hängen gewisserma- ßen am Tropf der Familie. Sie bekommen ständig jene Wahrneh- mungs- und Denkschemata injiziert, die die Familie integrieren und damit ihren Fortbestand sichern.252 Um als Verband fortzubestehen, funktioniert eine Familie wie ein soziales Feld mit seinen spezifischen Kräfteverhältnissen, die in physischen, ökonomischen und vor allem in symbolischen Bedeutungskonstituierungen wirken. Wenn das so- zialistische Regime es nicht schaffen sollte, dieses soziale Feld der Fa- milie signifikant auszuhöhlen, würden sich zentrale, den Habitus Kanun bestimmende Strukturen erhalten und damit dem Gewohn- heitsrecht in Nordalbanien weiter Relevanz verleihen. Bourdieu be- tont, dass der Staat der Hauptverantwortliche für die Konstruktion der amtlichen Kategorien sei, das heißt, dafür wie die Bevölkerung und die ›Köpfe‹ strukturiert sind. Der Staat fördere bestimmte For- men der familialen Organisation und belohne oder stärke all jene, die dieser Organisation folgten.253 In der sozialistischen Ideologie wurde die patriarchale Großfamilie als archaisch, reaktionär und überkommen dargestellt. Die Familien sollte aus einer Kernfamilie bestehen, lediglich aus den Eltern und den unverheirateten Kindern. Es sollte zu einer Zerschlagung und damit der Schwächung der Großfamilien kommen. Ferner versprach man sich auf diese Weise eine bessere Kontrolle der verletzbareren kleine- ren Kernfamilien. Viele alte, große Familienhäuser wurden abgerissen und Gebäude mit wesentlich knapperer bemessener Wohnfläche ein- gerichtet, was ein Zusammenleben von größeren Familien erschweren und zur Aufteilung ihres Besitzes führen sollte.254 Zwar wurden die patriarchalen Großfamilien einerseits zerstört, andererseits jedoch wurde die patriarchale Mentalität der Großfamilien genutzt, um die

252 Bourdieu 1994: 140. 253 Bourdieu 1994: 139, Kursivierung im Original. 254 Bourdieu 1994: 143-144. 255 Champseix/Champseix 1990: 33, 1992: 80. 111 Was ist der Kanun? staatliche Autorität weiter zu festigen. Jene patriarchale Struktur, die Autorität des Ältesten bei gleichzeitiger Folgsamkeit und Solidarität der Gruppenmitglieder, ergänzte ausgezeichnet die sozialistischen Gesellschaftsvorstellung, die vermeintlich mehr die Gruppe gegen- über dem Einzelnen förderte. Jean-Paul Champseix (1990) drückt dies treffend aus: »Le Parti a simplement cherché à subsister le collectivis- me au collectif.«256 Der Familienvater, der Erste der Familie, hatte im traditionellen Albanien eine hohe Stellung und seine Entscheidungen wurden respektiert und nicht in Frage gestellt. Unter dem neuen Regi- me ersetzte man den Patriarchen alter Prägung durch den Personen- kult um Enver Hoxha.257 Dass die Erinnerung an den Kanun und auch seine Praxis in den ers- ten Jahren nach der sozialistischen Machtübernahme noch präsent waren, stellten albanische Forscher bis in die achtziger Jahre des ver- gangenen Jahrhunderts Überreste des Kanuns fest. Da dies in den ideologisch gefilterten Abhandlungen deutlich beschrieben wurde, liegt die Vermutung nahe, dass die Bedeutung des Gewohnheitsrechts weitaus größer war, als es in den ethnographischen Publikation zuge- geben wurde. Beispielsweise schreibt Zojzi 1967, dass in den ›sozial und ökonomisch wenig entwickelten Dörfern‹ eine sehr eigene Form von Zusammenleben praktiziert worden sei. In der geographischen Isolation hatten sich eigene ›juristische Gesichtspunkte‹ entwickelt, die nicht in einem direkten Zusammenhang mit der staatlichen Juris- diktion gestanden habe.258 Zwei Jahre später betont Zojzi, dass sich die albanische Volkskultur vor der seiner Nachbarn auch deswegen aus- zeichnet, weil sie ein reiches Gewohnheitsrecht praktizierte, das sich ›bis in unsere Tage hinein‹ konservierte.259 Andromaqi Gjergji bedau- ert 1973, dass die Heiratspraxis noch immer patriarchalen Prinzipen folgte. Während der sozialistische Staat eine Heirat von Individuen forderte und sich gegen ein Arrangement der Hochzeit durch die Großfamilien aus allgemeineren sozialen und ökonomischen Interes- sen wandte, wurde dieses Bestreben durch die viel zu zahlreichen

256 Champseix/Champseix 1990: 38. 257 Champseix/Champseix 1990: 33-34. 258 Zojzi 1967: 124. 259 Zojzi 1969: 385. 112 Rezeption und Beständigkeit

›Überbleibsel aus der Vergangenheit‹ immer wieder gebremst.260 Mitte der 1970er Jahre beklagt Elezi übrig gebliebene gewohnheitsrechtli- che Praktiken. Ohne diese zu spezifizieren, bedauert er, dass der Ka- nun stets von einer Generation zu nächsten überliefert wurden und die Großfamilie und traditionelle Werte hier noch eine zentrale Rolle spielten. Dennoch lösten sich die neuen Generationen langsam von den ›rückständigen Traditionen‹.261 Die sozial bestimmende Rolle der Großfamilie und damit der Autorität des Familienoberhauptes be- schreibt Abaz Dojaka noch 1987, zwei Jahre nach dem Tod Enver Hoxhas. Gerade in den Gebieten, in denen das Gewohnheitsrecht über Jahrhunderte eine starke Stellung behauptete, hatte das Familien- oberhaupt noch immer die Zügel in der Hand. Es wachte über die Ar- beiten im Haus, verteilte die verschiedenen Aufgaben oder verwaltete alleine das Geld. Genau wie vor der ›Befreiung‹ hatte die Großfamilie eine wichtige soziale Position inne und trat auf regionaler Ebene als geschlossener Familienverband auf.262 Nach außen, in der Öffentlich- keit, verhielt man sich getreu den Regeln des Regimes. Doch innerhalb der Familie legte man diese ›soziale Maske‹ ab, wie es Élisabeth und Jean-Paul Champseix beschreiben. Hier hat man keine Angst vor Be- spitzelungen gehabt und die Beziehung zu den Kindern war beson- ders intensiv. Nur in der Erziehung war es den Eltern möglich, ein gewisses Maß an eigener Verantwortung zu übernehmen.263 Meine In- terviewergebnisse mit Nordalbanern widersprechen aber dieser Ein- schätzung teilweise. Der Kanun war nur schwer innerhalb des Hauses zu praktizieren gewesen. Selbst innerhalb der Familie waren die Fami- lienmitglieder nicht sicher, ob ein Denunziant mit am Tisch saß und unvorsichtige Anspielungen auf den Kanun unkontrolliert aus der Fa- milie getragen wurden. Diese Antworten erhielt ich allerdings nur sel- ten. So ist es nicht verwunderlich, dass selbst kurz vor dem Fall des sozialistischen Regimes Alia 1989 die Existenz von Familien »mit ererbten Überbleibseln des alten Systems der Familienverhältnisse, besonders der patriarchalischen Familie«264 beklagt.

260 Gjergi 1973: 84. 261 Elezi 1975b: 33, 42. 262 Dojaka 1987: 99, 103. 263 Champseix/Champseix 1992: 80-81. 113 Was ist der Kanun?

Es gibt nur wenige Berichte über die Lebensumstände im sozialisti- schen Albanien, die Rückschlüsse darauf erlauben, ob und wie stark gewohnheitsrechtliche Strukturen im Land noch existierten.265 Die Bedeutung des Kanuns im Sozialismus wurde vor mir in Gesprächen und Interviews immer wieder angesprochen. Die meisten Gesprächs- partner verneinten zunächst einmal die Relevanz des Gewohnheits- rechts während Enver Hoxhas Regime. Je länger die Gespräche dauerten, desto mehr widersprachen sie allerdings ihrer anfänglichen Aussage. Wichtig ist, dass der Kanun nicht als ein Regelwerk verstanden wird, das nur in einem zivil- oder strafrechtlichen Sinne wirkt. ›Kanun‹ ist ein Oberbegriff für Normen und Regeln oder besser: eine gesell- schaftliche Praxis im Wechselspiel mit einer bestimmten sozialen Struktur. Diese Praxis spiegelt sich in vielen sozialen Handlungen wi- der. Beispielsweise wurden häufig Hochzeiten weiterhin so durchge- führt, wie es auch vor der Herrschaft der Sozialisten üblich war. Hochzeiten sind groß angelegte gesellschaftliche Rituale, die weit vor dem eigentlichen Datum der Vermählung beginnen und mit diesem Tag noch nicht abgeschlossen sind. Alleine die ›traditionell‹ prakti- zierte Hochzeit führte eine Vielzahl von Werten des Kanuns und da- mit der Gesellschaft öffentlich auf und erlaubte damit weiterhin die Zelebrierung ihrer Gewohnheit.266 Einig waren sich meine Gesprächspartner in dem Punkt, dass die Blutrache in den Jahren des sozialistischen Regimes so gut wie über- haupt nicht praktiziert wurde. In den ersten Jahren des Sozialismus verfuhr man genauso wie die osmanischen Eroberer und bildete über- regionale Versöhnungskommissionen. Einzelne Fälle von Blutrache wurden dort untersucht und die Konfliktparteien versöhnt. Ob dieses erfolgreich war, ist schwer zu sagen. Es gab Fälle, in denen dennoch ein Mord gesühnt wurde. Das Gefängnis wurde manchmal der Enteh- rung vorgezogen. Der Herausgeber zweier lokaler Kanun-Varianten,

264 Alia 1989: 20; Gjergi 1973: 84. 265 Eine Autobiographie einer Deutschen, die mit einem Albaner verheiratet war und lange in Albanien gelebt hat gibt ein wenig Aufschluss über Kanun-Praktiken in Nordalbanien während des Sozialismus (Bejko 2003). 266 de Waal 1998: 27. 114 Rezeption und Beständigkeit

Xhemal Meçi in Puka, äußerte in einem Gespräch sogar die Vermu- tung, dass Tötungen im Sinne der Blutrache während des Sozialismus auftraten und diese nach dem staatlichen Recht geahndet wurden. Dies hatte für den Prozess der Blutrache nur aufschiebende Wirkung. Heute, nach dem politischen Systemwechsel, komme es vor, dass die nicht gesühnten Morde nun erwidert würden. Deswegen gebe es heu- te so viele Fälle von Blutrache. Für viele kleine Konflikte in den nordalbanischen Dörfern war das Handeln nach dem Kanun, das heißt eine eigenmächtige Behandlung von Konflikten, durchaus die Regel. Es wurde bei der Vermittlung von Konflikten allerdings darauf geachtet, einen allzu deutlichen Ver- weis auf den Kanun zu unterbinden. Beispielsweise hat man nicht ge- sagt ›Der Kanun sagt‹ sondern ›Wir machen es nach der Regel‹. Inwiefern staatliche Stellen von dieser Problematik wussten, ist schwierig einzuschätzen. Auf der einen Seite hörte ich, dass die örtli- che Verwaltung die Konfliktparteien sogar dazu aufgefordert habe, eine eigene Konfliktmediation anzustreben. Ragip Halili erwähnt so genannte Dorfgerichte (gjyqi i fshatit), die außergerichtliche Lösun- gen anstrebten und so auf traditionelle Formen der Versöhnung und Vermittlung zurückgriffen.267 Wenn das Problem auf diese Weise bei- gelegt werden konnte, wurden die staatlichen Stellen auch nicht weiter von dem Vorkommnis unterrichtet. Auf der anderen Seite sagte man mir, dass alles ohne Wissen des Staates vonstatten gegangen wäre. Die Vermittlung sei im Geheimen abgelaufen. Der Kanun scheint unterschwellig präsent gewesen zu sein. Der Staat war sich durchaus darüber im Klaren, dass auch weiterhin einige Konflikte über den Kanun vermittelt wurden. Eine Illustration der unausgesprochenen Existenz des Kanuns hörte ich von einem nordal- banischen Migranten in dem Vorort von Tirana, Bathore: Im Sozialis- mus wurden alle Entscheidungen durch den Staat gefällt, das heißt auch dort wo man lebt, sein Haus baut und wo man arbeitet. Der Staat schickte beispielsweise einen Bauern zu einem bestimmten Dorf, da- mit er sich dort ein Haus bauen konnte. Vor dem Bauen des Hauses fragt dieser den ursprünglichen Besitzer des Grundstückes — denn im Kommunismus wurden die Ländereien verstaatlicht — um Erlaubnis, 267 Halili 1974: 71; Kaser, K. 1992: 390. 115 Was ist der Kanun? ob er dort sein Haus bauen und wohnen dürfe. Eigentlich war dieses Fragen nicht mehr notwendig, denn das Land gehörte dem ursprüng- lichen Besitzer nicht mehr. Wenn er die Erlaubnis nicht bekam, war der Bauer dennoch dazu verpflichtet, das Haus dort zu bauen. Nach dem Ende des Sozialismus wurde derjenige, der ein Haus ohne diese Erlaubnis erbaut hatte, von diesem Grund verjagt, derjenige mit Er- laubnis konnte aber bleiben und ihm gehörte auch der Boden. Die Kollektivierung des Landes und der Zusammenschluss zu Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) hatte in den Bergen Nordalbaniens nicht wirklich Sinn. Eine LPG setzt ge- meinsames Wirtschaften auf beisammen liegenden Nutzflächen vor- aus. Dies war im Norden schwerlich möglich. Die nutzbaren Flächen in den engen Gebirgstälern waren klein, nur eine Ansiedlung von we- nigen Höfen war möglich und deren Zusammenschluss zu wirtschaft- lichen Einheiten im Sinne einer LPG nicht sinnvoll.268 Gerhard Teich fragte 1969, ob der in den Ebenen des Landes begonnene und dort weitaus einfacher durchzuführende Kollektivierungsprozess je von den weitaus unfruchtbareren Gebirgsregionen besitz ergreifen wird: »Es darf sogar nicht ausgeschlossen werden, dass aus dem Bereich der privat betriebenen Wirtschaften des Gebirgsraumes Strömungen ge- gen die Modernisierung des Landes entspringen, die diese zwar nicht aufhalten, aber dennoch stark retardieren können.«269 Im gleichen Jahr bemerkte Robert Schwanke (1969) ähnliche Tendenzen: »Die Zähig- keit, mit der sich die alten Formen im Bergland erhalten, und ihre Un- terstützung durch Verwaltungsstellen bilden auch heute noch ein ernsthaftes Hindernis für den Aufschwung und die gesellschaftliche Umstrukturierung des Berglandes.«270 Nicht nur solche gewissermaßen naturgegebene Schwierigkeiten hemmten die vollständige soziale und ökonomische Integration der nordalbanischen Bevölkerung in das nationalstaatliche Konzept. Auch der höchst widersprüchliche Umgang mit regional starken nor- dalbanischen Familien, die das Regime einerseits bekämpfte, anderer- seits pflegte, perpetuierte die Familienstrukturen. Im Norden kämpf-

268 Teich 1969: 8. 269 Teich 1969: 9. 270 Schwanke 1969: 206. 116 Rezeption und Beständigkeit ten die Regierenden gegen die vorherrschenden Verhältnisse, mussten aber denjenigen Großfamilien entgegenkommen, die den Sozialisten geholfen hatten, überhaupt an die Macht zu gelangen.271 In meinen Ge- sprächen mit Nordalbanern wurde häufig darauf verwiesen, dass die sozialistischen Machthaber bewusst nach Personen gesucht hätten, die einen guten Ruf hätten und gesellschaftlich akzeptiert gewesen sei- en. Man habe solche Personen für die eigenen Zwecke gewonnen, habe sie mit wichtigen Ämtern bedacht und bestätigte auf diese Weise ihr ohnehin schon vorhandenes großes Ansehen. Das innerhalb des Sozialismus erlassene Gesetz über die so genannte ›Familienkommunion‹ festigte weiter großfamiliäre Strukturen und legalisierte sie gewissermaßen: »Danach umfaßt die (bäuerliche) Großfamilie Personen ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, die durch ihre Arbeit oder mit Hilfe irgendwelcher materieller Mittel den von einer Familie bewirtschafteten Betrieb führen oder erhalten. Die- se Personen können durch Abstammung, Heirat, Adoption oder durch einfache Aufnahme in die Kommunion miteinander verbunden sein.«272 Das Gesetz sah weiter vor, dass ein von den Mitgliedern der Kommunion gewählter Hausvorstand die Gruppe in rechtlichen und wirtschaftlichen Angelegenheiten nach außen vertrat. In der Praxis war dies das Familienoberhaupt beziehungsweise der Älteste der Fa- milie. Somit behielt der traditionelle Familienvorstand auch weiterhin seine Stellung und dies völlig im Einklang mit dem Gesetz. Doch die gesetzlich vorgegebenen Rechte und Befugnisse des Hausvorstandes gingen wesentlich weiter. Er kontrollierte alle Aufgabenbereiche in der Kommunion. Das Übertragen der Führungsrolle durch die Fami- lienmitglieder erfolgte zwar ohne Zwang, Entscheidungen, denen der Vorstand nicht zustimmte, führten jedoch geradewegs zu sozialen Konflikten, die durch den Nutzen einer mit dem Vorstand nicht abge- sprochenen Handlung nicht kompensiert wurden. Die Familienkom- munion ist mit ein Grund dafür, dass heutzutage festgestellt werden muss, dass die traditionelle Vorstellung des familiären Landbesitzes über vierzig Jahre Sozialismus überlebt hat.273 Teich stellt heraus, dass

271 Dumont, R. 1983: 70. 272 Teich 1969: 20; Gesetz Nr. 2251 vom 4. April 1956. 273 Lastarria-Cornhiel/Wheeler 2000: 150; Schwanke 1969: 208. 117 Was ist der Kanun? sich die Familienkommunion für die aus Nordalbanien stammenden Migranten in die albanische Zentralebene als Stabilisierungsfaktor des gesellschaftlichen Lebens Albaniens bewährte: »Ihre Existenz verhin- derte, dass sich die Albaner bei ihrem hektischem Zug in die Städte und Industriezentren zu einem amorphen Haufen bindungsloser, un- terstützungsbedürftiger Individuen massierten, die ihrem Unterhalt durch Almosen der öffentlichen Hand fristeten und denen eine Zu- kunft als Lumpenproletariat bevorstand. Das ökonomische Risiko, das der ländliche, in die Stadt kommende Albaner auf sich nahm, überschritt im Grunde die äußerste wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Großfamilie, der er angehörte. Mit ihr im Rücken besaß er ein Re- fugium, das ihn davor bewahrte, in eine Situation totaler Verzweif- lung hineinzugeraten. Der albanische Staat entging dadurch gleich- zeitig der Bedrohung durch anarchische Revolutionszustände, die der damaligen Bevölkerungsbewegung durchaus immanent waren.«274 Für die Landwirtschaft und die Bevölkerung im Norden Albaniens be- deutete dies, dass der Zusammenschluss zu dieser Kommunion sie in eine wesentlich bessere wirtschaftliche Position als eine einzelne iso- lierte Familie brachte. Wenn es sich dazu noch bei der Hauskommuni- on um eine regional anerkannte Großfamilie handelte, eine derë e madhe (›große Tür‹), die ferner von einem angesehen Familienober- haupt geleitet wurde, stellte sie einen bedeutenden Hemmschuh für die Entwicklung des angestrebten sozialistischen Gesellschaftsmo- dells dar. Die Familienkommunion und damit der legal gefestigte fis erlangten auf Grund dessen wirtschaftlicher Stärke eine exponierte Position in Dorf und Produktionsgenossenschaft, ohne gegen Geset- ze und Verordnungen zu verstoßen.275 Auch Kaser bestätigt den Fortbestand vorsozialistischer Großfami- lien und ihrer Haushaltsstruktur. Zu diesem Schluss kommt er über einen Vergleich von Daten zur Größe von Familien aus 1918 und 1950 in Verbindung mit eigenen Feldforschungen von 1993. 1950 scheint sich zweiunddreißig Jahre nach der ersten Zählung und sechs Jahre nach dem politischen Umsturz an der Lage der starken patriarchalen Strukturen nichts geändert zu haben. Diese Tendenzen konnte selbst

274 Teich 1969: 21. 275 Teich 1969: 25-26. 118 Rezeption und Beständigkeit noch 1993 untermauert werden.276 Über die dauerhafte Präsenz der patriarchalen Familien erhielt sich der Kanun im Sozialismus. So resü- miert auch Stoppel: »Diese mündlich überlieferten archaischen Spruchsammlungen nach Art von Rechtsspiegeln hatten noch nach 1912 sogar unmittelbare wenn auch subsidiäre Gesetzeskraft und üb- ten auch nach der kommunistischen Machtübernahme erheblichen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben aus«.277 Mit Bourdieu muss man betonen, dass der Fortbestand großfamiliärer Strukturen auch eine bestimmte soziale Ordnung garantiert. Die Familie spielt für die soziale Reproduktion, das heißt für die ›Reproduktion der Struktur des sozialen Raums und der gesellschaftlichen Verhältnisse‹, eine be- deutende Rolle. Über den Fortbestand von Familienstrukturen wer- den zentrale gesellschaftliche Beziehungen, in denen Großfamilien ihren Sinn haben, wider- und weitergegeben.278 Der Kampf gegen die Macht der patriarchalen Familien war eines der Hauptanliegen der sozialistischen Regierung, aber das sozialisti- sche Regime perpetuierte diesen Habitus, indem es ihn auf höchster politischer Ebene gleichfalls praktizierte. Mitglieder bestimmter Fa- milien oder Gruppen, die sich auf eine gemeinsame Ursprungsregion beriefen, vergaben die besten, an Prestige reichsten Stellen und Ämter im Staat an ihresgleichen oder an enge Verwandte und Vertraute der Familie, und das meist unabhängig von ihrer tatsächlichen Qualifika- tion für die betreffende Arbeit.279 Die sozialistische politische Kultur reproduzierte die traditionellen Clan-Strukturen und festigte auf die- se Weise wiederum die alten Werte. Die Eliten des Landes operierten mit einer Art Einteilung in ›gute‹ und ›schlechte‹ Familien. Politische Flüchtlinge und Regimegegner wurden kollektiv mit ihrer ganzen Fa- milie zusammen bestraft. Diesen war es — einmal als eine ›schlechte Familie‹ bezeichnet — kaum mehr möglich, noch auf irgendwelche Perspektiven in guter Kindererbetreuung, Bildung und Beruf zu hof- fen. Sie wurden als Feinde des Volkes (armiq të popullit) bezeichnet und aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Selbst der Kontakt mit ihnen

276 Kaser, K. 2000: 50. 277 Stoppel 1993: 244. 278 Bourdieu 1994: 141. 279 Logoreci 1977: 182; Gjuraj 2000:11; Saltmarshe 2001: 93. 119 Was ist der Kanun? konnte eine Bestrafung nach sich ziehen. Die politische Kultur repro- duzierte und verfestigte die alten Vorstellungen. Es entwickelte sich in der sozialistischen Elite ein Familiarismus traditioneller Prägung: »Die bekannten schwarz-weiß / Freund-Feind / Ehre-Schande — Klassifikationen spiegelten sich in der Unterteilung der Gesellschaft in kommunistentreue und -feindliche Kräfte, deutlich in der Unter- scheidung von guten und schlechten Familien.«280 Schluss Die Ethnographen in Zeiten des Sozialismus, die erste systematische Untersuchungen zum Thema Kanun unternahmen, stellten das Ge- wohnheitsrecht als Ergebnis bestimmter sozio-ökonomischer Bedin- gungen heraus: Es war nicht das Produkt einer oder mehrerer Autoren im Mittelalter oder später, und Überreste des Kanuns finden sich noch bis in die jüngste Zeit. Möglicherweise sind die Personen, mit denen man die regionalen Varianten verbindet, lokal so bedeutend gewesen, dass ihr Name fortan mit Regeln der gesellschaftlichen Ordnung gleichgesetzt wurde. Man kann allenfalls von einer Prägung des Ka- nuns durch besondere Auslegung von Regeln des Gewohnheitsrechts sprechen, damit die örtliche gesellschaftliche Ordnung einen über ih- ren Anführer bestimmten Charakter erhält, der sich von den Prakti- ken anderer Kanun-Varianten unterscheidet. Die Grundüberlegung der sozialistisch bestimmten Forschung zeigt meines Erachtens in eine richtige Richtung, nämlich den Kanun an bestimmten sozio- ökonomischen Rahmenbedingungen festzumachen. Lekë Dukagjini ist eine Erinnerungsfigur des kulturellen Gedächtnisses, er ist kein Autor des Gewohnheitsrechts. Der Kanun beinhaltet nicht ausschließlich zivil- oder strafrechtliche Normen. Er ist ein Synonym für nordalbanisches Verhalten und gesell- schaftliche Normen in ihrer Gesamtheit. Der Kanun wird üblicherweise als mehr oder weniger geschlossenes Regelwerk betrachtet. Dies greift zu kurz: Er ist in der kompakten Form, in der der Kanun meist besprochen wird (dabei hat man häufig die verschriftlichte Form von Gjeçov im Kopf), nur eine ›Verfassung‹. Eigentlich betrifft der Kanun viel mehr,

280 Schwandner-Sievers 1996: 119; siehe auch 1999: 148-149; Champseix/Champseix 1990: 24, 34; Dumont, R. 1983: 66; Marmullaku 1975: 87-88; Saltmarshe 2001: 59. 120 Schluss von dem Ablauf einer Hochzeit bis zu dem Verhalten nach der Aufdec- kung eines Diebstahles. Der Kanun beinhaltet alle Aspekte des sozialen Lebens, man kann sogar sagen, dass er das soziale Leben selbst ist. In lite- rarischer Form stellt dies Kadare dar: »Der Kanun war viel mächtiger, als es den Anschein haben mochte. Überall lag er da, kroch an den Feldrain herum, hockte in den Grundmauern der Häuser, in Gräbern in Kirchen. Auf den Straßen war er zu finden, den Märkten, auf Hochzeiten. Er klet- terte hinauf zu den höchsten Almen, ja sogar noch weiter, bis zum Him- mel. Und von dort kam er wieder herab als Regen, der die Wasserläufe füllte, um derentwillen ein Drittel aller Morde geschah.«281 Das soziale Leben wird durch bestimmte sozio-ökonomische Rah- menbedingungen bestimmt. Die Gesellschaft ist in einem tendenziell homogenen, wenig differenzierten sozialen Feld organisiert. Die inne- re Ordnung wird über patriarchale Großfamilien strukturiert und ist ferner charakterisiert durch eine bestimmte Wirtschaftstruktur. Dem sozialen Verhalten liegt nicht ein Regelwerk zu Grunde, sondern eini- ge wenige Prinzipien, die das Handeln leiten. Man kann sagen, dass die Essenz des Kanuns, jene Punkte auf die man ihn abstrahieren könnte, ein Zusammenspiel von drei Aspekten darstellt: der Dichoto- mie von Ehre und Schande, dem Dualismus von Innen und Außen und schließlich der besa, dem ›Kitt‹, der alles zusammenhält. Diese Punkte werden in den folgenden zwei Kapiteln noch erläutert werden. Das soziale Feld des Habitus, das möglicherweise erst durch die Politik der Osmanen in dieser Form geschafften und gefestigt wurde, veränderte sich nur wenig bis 1944. Die sozialen Normen wurden in dieser Zeit nicht außer Kraft gesetzt, weil sich die Rahmenbedingungen kaum geän- dert hatten. Auch während des Sozialismus konnte das soziale Feld nicht dergestalt verändert werden, dass die Grundprinzipien des Habitus Ka- nun völlig entkräftet wurden. Die Wechselbeziehung zwischen dem so- zialen Feld und dem Habitus, dessen Teil der Kanun ist, wurde über politische Eingriffe in die Familienstruktur oder drastische Ordnungs- und Unterdrückungsmaßnahmen zwar empfindlich gestört, jedoch nicht aufgebrochen, zumal es Gesetze, lokale Praktiken und selbst auf staatli- cher Ebene eine Handlungslogik gab, die dem Habitus Kanun entspra- chen und ihn auf diese Weise reproduzierten. 281 Kadare 1989 [orig. 1980]: 23. 121

Die Rahmenbedingungen des Kanuns Kommunikationsverhältnisse

Der Habitus Kanun und die Mündlichkeit des albanischen Gewohn- heitsrechts sind an bestimmte Rahmenbedingungen gebunden. Die ›Kommunikationsverhältnisse‹ sind die objektiv gegebenen sozio- ökonomischen Strukturen des sozialen Feldes, die die Kommunikati- on beeinflussen. Diese stelle ich für Nordalbanien vor 1944 dar — ge- wissermaßen als eine Art von Modell — und schildere anschließend die Lage nach dem Fall des Sozialismus. Das Kapitel beginne ich mit meiner Stellungnahme dazu, wie Kom- munikation aus ethnologischer Sicht zu verstehen ist. Es geht nicht um einen einzelnen kommunikativen Akt, der genau seziert werden soll, sondern um allgemeine Charakteristiken von Kommunikation in einem sozialen Feld, eben der Kommunikationsverhältnisse, die durch den Rahmen, die Struktur und die Ideologie bestimmt werden. Der Telegraf und das Orchester Claude Lévi-Strauss (1958) folgt einem sehr umfassenden Kommuni- kationsbegriff. Es gibt ein weit gespanntes Kommunikationssystem, das Individuen und Gruppen miteinander verbindet und auf drei Ebe- nen wirkt. Erstens sind dies Heiratsregeln und Verwandtschaftssyste- me, er bezeichnet sie als eine Art von Sprache. Sie ermöglichen Kom- munikation zwischen Individuen und Gruppen. Die Frauen, die von einer Gruppe zur anderen verheiratet werden, transportieren Bot- schaften zwischen Clanen, Sippen oder Familien.1 Diese Nachricht ist nicht offen, sie ist verborgen. Es ist eine Nachricht, die die zu Grunde liegende soziale Struktur einer Gesellschaft bestätigt und damit auf- recht erhält. Zweitens sind es ökonomische Tätigkeiten, das heißt der Austausch von Gütern und Dienstleistungen zwischen Produzent

1 Lévi-Strauss 1985 [1958]: 76. 123 Die Rahmenbedingungen des Kanuns und Konsument, Kommunikation. Drittens erlaubt die Sprache den Austausch von Botschaften zwischen Individuen.2 Kommunikation wird nicht ausschließlich als ein bewusstes Austauschen von Mittei- lungen zwischen bestimmten Polen verstanden. Der Kommunika- tionsbegriff ist weitergehend aufzufassen. Jegliches Weitergeben und Annehmen von Zeichen, Symbolen oder Gütern kommt Lévi-Strauss zufolge einer Form von Kommunikation gleich. Eine andere Annäherung an Kommunikation ist allgemein bekannt. Kommunikation wird hier auf den Bereich des direkten Austauschs von Botschaften beschränkt. Es gibt einen Sender und einen Empfän- ger. Manchmal gibt es auch eine Art von Vermittler zwischen den bei- den Polen. Diese werden, graphisch dargestellt, mit einem Pfeil ver- bunden. Der Pfeil zeigt die Richtung der Kommunikation an. Der Sender sendet dem Empfänger eine Nachricht. Dieses Modell ist ei- gentlich ein mathematisch-technisches Modell. Es geht auf Claude E. Shannon (1949) zurück, der in den 1950er Jahren für Bell Telephone in den USA arbeitete (Abb. 10). Es ging, einfach gesagt, um telefonische Kommunikation und die technischen Bedingung dafür: Wie sendet man eine Botschaft von einem zum anderen Punkt und was beein- flusst diese Übertragung? Shannon formuliert eine generelle Theorie, eben eine Urversion des angesprochenen Schemas: Das so genannte ›allgemeine Kommunikationssystem‹ besteht aus einer Kette von Ele- menten, die mit der Nachrichtenquelle beginnt, das heißt dort, wo die Nachricht produziert wird (beispielsweise die Stimme am Telefon). Der Sender wandelt die Nachricht in ein Signal um (das Telefon trans- formiert die Stimme in elektrische Schwingungen) und wird über den Kanal, den Träger, über den die Signale transportiert werden (Tele- fonkabel), zum Empfänger gesendet, der die Nachricht auf der Basis des Signals wieder zusammensetzt. Am Ende der Kette, die mögli- cherweise durch Störquellen (Knistern in der Leitung) beeinträchtigt wird, steht das Nachrichtenziel, an welches die Nachricht gerichtet ist.3 Dies ist ein kommunikationstechnisches Modell und zwar aus zwei Gründen. Es hat erstens keine primäre kulturwissenschaftliche Aus-

2 Lévi-Strauss 1992 [orig. 1973]: 83. 3 Shannon/Weaver 1976 [orig. 1949]: 43-45. 124 Der Telegraf und das Orchester

Abb. 10: ›Schema eines allgemeinen Kommunikationssystems‹ nach Claude E. Shannon (1949). richtung, sondern sucht, basierend auf technischen Fragestellungen und Erfahrungen, eine mathematische Beschreibung von Kommuni- kation. Technisch ist die Perspektive zweitens durch die bewusste Reduzierung des Modells auf die Übertragung der Nachricht ohne Berücksichtigung ihres Inhalts. Shannon schreibt dazu: »Oft haben die Nachrichten Bedeutung, das heißt sie beziehen sich auf gewisse physikalische oder begriffliche Größen, oder sie befinden sich nach irgendeinem System mit diesem in Wechselwirkung. Diese seman- tischen Aspekte der Kommunikation stehen nicht im Zusammen- hang mit den technischen Problemen.«4 Dieses naturwissenschaftliche Modell wurde in den Geistes- und Sozialwissenschaften populär. Man trifft es in unterschiedlichen Variationen an. Dem Modell wird ein weiteres Kästchen hinzugefügt oder es wird bis auf seine Grund- konstruktion Sender — Nachricht — Empfänger reduziert. Der Eth- nologe Yves Winkin (1981, 1996) meint, dass es möglicherweise gera- de wegen der Reduktion des Modells auf ein Minimum und der damit einfachen Form besonders populär wurde. Es hat viele Kritiken und Erweiterungen des Modells gegeben, doch an der Bedeutung des Paars Sender / Empfänger hat dies nichts geändert. Winkin bezeichnet diese Herangehensweise als ›telegrafisches Modell‹ von Kommunikation.5 Es ist eine einfache und einleuchtende, leicht vermittelbare Konstruk-

4 Shannon/Weaver 1976 [orig. 1949]: 41, Kursivierung im Original. 5 Winkin 2000 [1981]: 20. 125 Die Rahmenbedingungen des Kanuns tion und verbindet den Anspruch einer über seine ursprüngliche mathematische Dimension bestehenden wissenschaftlichen Fun- dierung mit der alltäglichen Erfahrung der Menschen: Jeder hat schon einmal telefoniert und kann diese Kommunikationsvorstellung auf diese Weise einfach nachvollziehen: »Simple à comprendre, à repro- duiere, à appliquer, le modèle ne pouvait qu’être adopté partout.«6 Das Problem mit diesem Modell beruht genau auf jenen Eigen- schaften, die seinen Erfolg ermöglichten. Dabei geht es nicht um die allzu offensichtliche Vereinfachung eigentlich komplexerer Prozesse in ein Schema von Kästchen und Pfeil, denn ein Modell ist immer eine Vereinfachung. Diese Vorstellung von Kommunikation ist im Gegensatz zur umfassenden Vorstellung von Kommunikati- on bei Lévi-Strauss zu eng eingegrenzt. Eine Person entscheidet, zu einem gegebenen Zeitpunkt einer weiteren Person eine Nachricht zu übermitteln. Der Kommunikationsakt ist in diesem telegrafi- schen Modell, wie Winkin betont, »un acte verbal, intentionnel, li- néaire, limité dans le temps et dans l‘espace. Le télégramme est habituellement explicite, dénotatif, informatif.«7 Es ist dieser inten- tionale und lineare Charakter, der Probleme bereitet. Es handelt sich um ein Modell, das durch seine einleuchtende Einfachheit be- sticht, aber deswegen kommunikativ wichtige Elemente ver- schweigt, weil sie nur unzureichend dargestellt sind. Eigentlich wird lediglich bewusst geführte Kommunikation schematisch ab- gebildet. Gesprochene Sprache ist aus analytischen Gründen sicherlich auf die Botschaft an sich reduzierbar, die Sprache ist jedoch an die sie be- nutzenden Menschen gebunden, die beim Sprechen meist mehr tun als ›nur‹ zu sprechen. Mark Münzel (1986) beklagt im Zusammenhang mit der Diskussion um Oralität und Mythenerzähler, dass die For- scher zumeist nur den Inhalt des Erzählten aufnehmen. Sie beschrän- ken sich auf eine ›anonyme Übermittlung des Handlungsskeletts‹.8 Der indianische Mythenerzähler inszeniert die Mythe. Gesprochene Sprache sei nicht nur Text, sie stehe »in enger Wechselbeziehung mit

6 Winkin 2000 [1996]: 36. 7 Winkin 2000 [1996]: 53. 8 Münzel 1986: 188. 126 Der Telegraf und das Orchester anderen Ausdrucksformen, bildet beispielsweise eine Einheit mit Körpersprache, Intonation (als musikalisches Moment, das dann beim Übergang zur schriftlichen Version wegfällt), oft auch mit Musik, Tanz, Körperbemalung, Schmuck oder Kleidung, ja selbst mit dem Gegenteil des Sprechens, den Pausen des Schweigens, kurz: sie gehört zu einem Gesamtausdruck«.9 Hier ist die Performativität des Mythen- erzählens gemeint, das Wort und damit der Mensch in Bewegung, was allzu oft in Ethnographien nicht berücksichtigt wird. Münzel verweist auf die nonverbale Kommunikation, verstanden als ständiger sozialer Prozess, auf die Rede, die Geste, den Blick, die Mimik oder sogar auf den Raum zwischen den kommunizierenden Personen. Es sollte nach Münzel keinen konzeptionellen Unterschied zwischen einer verbalen und nonverbalen Kommunikation geben. Winkin schreibt: »la com- munication est un tout intégré«.10 Dieses Verständnis von Mündlich- keit ist jedoch immer noch auf die Performativität des Handelns in einer intentional geführten kommunikativen Handlung gerichtet, wie beispielsweise dem Mythenvortrag. Auch eine solche ganzheitliche Betrachtung eines Mythenvortrags ist eigentlich mit Shannons ›tele- grafischen Modell‹ darstellbar, das Modell gehört lediglich dement- sprechend erweitert. Yves Winkin strebt einen weiter gehenden Kommunikationsbegriff an. Kommunikation wird zu aufgeführtem sozialem Verhalten oder, wie Winkin Kommunikation definiert: »Du coup, la communication, d’un point de vue anthropologique, c’est la ›performance de la culture‹.«11 Winkin argumentiert für die von ihm favorisierte Perspektive auf Kommunikation mit Gregory Bateson und Jurgen Ruesch (1951). Ihre Perspektive entwickeln diese Autoren als Antwort auf das Mo- dell von Shannon. Bateson und Ruesch sehen Kommunikation nicht nur als explizite und intentional verstandene verbale Nachrichten- übermittlung an. Sie sprechen bei Kommunikation von einer Summe von Prozessen, über die sich die Beteiligten gegenseitig beeinflussen. Die grundlegende Überlegung dieser Perspektive ist, dass jegliches Handeln oder Ereignis, sobald es von einem Menschen rezipiert wird,

9 Münzel 1986: 163-164. 10 Winkin 2000 [1981]: 24. 11 Winkin 2000 [1996]: 14, Kursivierung St.V. 127 Die Rahmenbedingungen des Kanuns kommunikative Aspekte aufweist.12 In Abgrenzung zum telegrafi- schen Modell im Sinne Shannons stellt Winkin seine Vorstellung der Kommunikation mittels einer Analogie zu einem Orchester vor: »L’analogie de l’orchestre a pour but de faire comprendre comment on peut dire que chaque individu participe à la communication plutôt qu’il n’en est l’origine ou l’aboutissement. L’image de la partition invi- sible rapelle plus particulièrement le postulat fondemental d’une grammaire du comportement que chacun utilise dans ses échanges les plus divers avec l’autre. C’est en ce sens que l’on pourrait parler d’un modèle orchestral de la communication, par opposition au ›modèle té- légraphique‹. Le modèle orchéstral revient en fait à voir dans la com- munication le phénomène social que le tout premier sens du mot rendait très bien, tant en français qu’en anglais: la mise en commun, la participation, la communion.«13 Winkin spricht von einer Grammatik des kommunikativen Verhaltens, was ich in Anlehnung an Bourdieu als Habitus der Kommunikation bezeichne. Kommunikation, verstanden als soziale Aktivität, geht damit über den bloßen individuellen und zwischenmenschlichen Austausch von Botschaften hinaus. Ähnlich dem Kulturbegriff wird Kommunikati- on zu einer umfassenden Matrix, die ›soziale Kommunikation‹ ge- nannt wird. Sie umfasst die Praxis der Summe an Regeln und Codes, die die Regelmäßigkeit und Vorhersehbarkeit von zwischenmenschli- chen Interaktionen einer Gesellschaft gewährleistet. Kommunikative Akte sind zum größten Teil Handlungen kontrollierender und erhal- tender Natur. Interessant für die Forschung sind laut Winkin deswe- gen nicht unbedingt nur die transportierte Botschaft, sondern der Kontext und die Bedeutung, die dazu tendierten, bestehende Prakti- ken zu perpetuieren.14 Doch was hat man mit dieser sehr weit gehenden Vorstellung von Kommunikation gewonnen? Einerseits löst man den Kommunika- tionsbegriff von dem bewussten Austausch von Nachrichten zwi- schen zwei genau bestimmten Punkten, andererseits erhält man einen offensichtlich endlos ausgeweiteten Kommunikationsbegriff, der

12 Ruesch/Bateson 1988 [1951]: 5-6; Winkin 2000 [1996]: 55. 13 Winkin 2000 [1981]: 25-26, Kusivierung im Original. 14 Winkin 2000 [1996]: 88. 128 Der Telegraf und das Orchester nicht greifbar zu sein scheint. Burkhard Ganzer (2000) bemerkt in die- sem Zusammenhang: »Wenn unter Kommunikation alles verstanden wird, was die Menschen einer Gesellschaft auf irgendeine Weise in Be- ziehung zueinander bringt — jede Art von praktiziertem Sozialkon- takt, von Warenverkehr, Informationsverbindung und persönlichem Umgang also —, dann wäre mit diesem Begriff der Großteil des Ge- genstandes der Ethnologie bezeichnet.«15 Der Kulturbegriff ist in die- sem Sinne mit dem Kommunikationsbegriff austauschbar. Umberto Eco (1974) versteht ebenfalls ›Kulturphänomene‹ ganz allgemein als ›Kommunikationsphänomene‹, doch wie soll man sie untersuchen? Eco schlägt vor, die ›elementare Struktur der Kommunikation‹ zu su- chen und zwar dort, wo es die ›minimale Kommunikation‹ gibt: die Übertragung von Botschaften zwischen zwei mechanischen Appara- ten. Diese sollte nicht aus dem Grund geschehen, dass komplexere ›Kommunikationserscheinungen‹, beispielsweise ästhetischer Natur, auf eine solche Kommunikation zwischen Geräten reduziert werden kann, »sondern weil es nützlich ist, das Kommunikationsverhältnis in seiner wesentlichen Dynamik dort aufzuzeigen, wo es sich mit größ- ter Evidenz und Einfachheit abzeichnet und uns die Konstruktion ei- nes elementaren Modells erleichtert.«16 Damit wären wir wieder beim Kommunikationsmodell von Shannon, von dem man sich doch lösen wollte. Die telegrafische Vorstellung von Kommunikation hat Sinn, wenn sie in die orchestrale Perspektive eingebettet wird. Kommuni- kation ist damit Winkins Performance von Kultur, das telegrafische Modell Mittel zur Darstellung bestimmter kommunikativer Akte. Die Vorstellung von Kommunikation als Performance von Kultur ist nachvollziehbar: Soziales Verhalten ganz allgemein, das Handeln in mehr oder weniger deutlichem Bezug zu anderen Mitgliedern einer Gesellschaft, ist immer auch Kommunikation. Die inkorporierten Re- geln der Gesellschaft werden durch das Handeln, dessen Grundlage sie darstellen, nach Außen getragen und aufgeführt: die Performance von Kultur. Mit der Einführung eines solchen ganzheitlichen Kom- munikationsbegriffes ist es jedoch kaum möglich, ›die‹ Kommunikati- on einer bestimmten Gesellschaft umfassend darzustellen. Es muss

15 Ganzer 2000: 120. 16 Eco 1994 [1974]: 47. 129 Die Rahmenbedingungen des Kanuns eine thematische Eingrenzung der Untersuchung erfolgen. In der vor- liegenden Arbeit ist der thematische Rahmen durch das nordalbani- sche Gewohnheitsrecht gegeben. Es werden der mündliche Kommu- nikationsstil des Kanuns und die den Stil generierenden Kommunika- tionsverhältnisse beschrieben. Es kann nicht um eine allgemeine Dar- stellung der mündlichen Kommunikation in Nordalbanien gehen, auch wenn die gewonnenen Erkenntnisse auf der Basis des vom Ka- nun geprägten sozialen Verhaltens Verallgemeinerungen über das Ge- wohnheitsrecht hinaus erlauben. Das Thema Kommunikation ist ein Forschungsobjekt in vielen wis- senschaftlichen Disziplinen. Aus diesem Grunde ist es erforderlich, nicht aus den Augen zu verlieren, was das Spezifische an einer ethno- logischen Sicht auf Kommunikation darstellt. Die Stärken der Ethno- logie bestehen in der Forschung vor Ort, der so genannten ›Graswur- zelperspektive‹ beziehungsweise der über die teilnehmende Beobach- tung ermöglichten Darstellung der emischen Sichtweise der Unter- schiede.17 Die ethnologische Perspektive auf Kommunikation besteht zu- nächst in der Art der ethnologischen Forschung. Es geht darum, die Zusammenhänge der Kommunikation soweit wie möglich aus der Sicht der lokalen Bevölkerung widerzugeben, ohne jedoch in der emi- schen Sichtweise zu verharren, was keine vergleichende Ethnologie ermöglicht. Es geht ferner nicht primär um einzelne kommunikative Akte sondern allgemeiner darum, wie die Gesellschaft als Ganzes kommuniziert: Welcher Wert wird bestimmten Kommunikationsträ- gern und -arten zugesprochen? Was prägt die Art, in der die Men- schen kommunizieren? Was ist für die Kommunikation einer Gesell- schaft charakteristisch? Kurz: Wie ist der Kommunikationsstil? In komplexen Gesellschaften ist eine umfassende Darstellung ihrer Kommunikation schwierig. Es ist erforderlich, sich auf Schwerpunkte zu beschränken, das heißt, die Untersuchung einzelner sozialer Felder in den Vordergrund zu stellen. Das soziale Feld definiert sich über sei- ne objektiven Rahmenbedingungen, die Kommunikationsverhältnis- se, die den Kommunikationsstil prägen. Das Verhältnis zwischen

17 Dracklé 2000: 128. 130 Produkt, Prozess und Prozessualität

Kommunikationsverhältnissen und Kommunikationsstil ist dialekti- scher Natur, wie das zwischen sozialem Feld und Habitus. Produkt, Prozess und Prozessualität Die oralen Traditionen werden in der Ethnologie und ihren Nachbar- wissenschaften meist aus zwei Perspektiven betrachtet. Dies gilt eben- falls für die Erforschung von Themen der Kommunikation im Allge- meinen. Zum einen wird das orale Produkt als solches untersucht. Oralität beinhaltet ein reichhaltiges Feld an kulturellen Ausdrucks- formen, meist stehen jedoch Ursprungsmythen und Erzählungen im Zentrum der ethnologischen Forschung. Zum anderen ist der Prozess oraler Kommunikationsformen ein Forschungsschwerpunkt. Der performative Aspekt mündlicher Texte wird dabei herausgestellt.18 Die Studien, die sich hauptsächlich mit oraler Produktion beschäfti- gen, leugnen durchaus nicht deren performativen Charakter. Bei- spielsweise streicht Ruth Finnegan (1970) deutlich heraus, dass ›orale Literatur‹ gewisse charakteristische Formen hat, die sich aus ihrer mündlichen Natur heraus begründen. Orale Literatur, das heißt eine expressive, aus der üblichen Kommunikation herausgehobene Dis- kursform, die auch von der entsprechenden Gesellschaft als ein beson- deres Genre eingestuft wird, ist abhängig von dem und gebunden an den Darsteller.19 Alle nur erdenklichen Aspekte, die die Effektivität ei- ner Performance erweitern könnten, spielen bei der oralen Literatur eine Rolle. Diese Kommunikationselemente sind nicht Randerschei- nung des oralen literarischen Produkts, sondern stellen einen integra- len Aspekt der Performance dar.20 Es gilt, Elemente wie Tonfall, Stil, Musik, visuelle Ressourcen, Improvisationen oder die Zuschauer zu berücksichtigen. Die wegweisende Studie Albert B. Lords (1960) in Weiterführung von Milman Parrys Thesen besagt dass die Werke Ho- mers ursprünglich mündliche Epen gewesen seien, die als Ergebnis oraler Improvisation und Mnemotechnik zu interpretieren seien.

18 Boyer 1992: 1027; zur Untersuchung oraler Produktionen siehe auch Calvet 1984, Derive 1975, Finnegan 1996 [1992], Vansina 1985 [1960]. 19 Zum Begriff der oralen Literatur siehe Boyer 1992: 1028; Finnegan 1970: 2, 16-17, 22-24; Goody 1993 [1987]: XI; Münzel 1986: 186-187; Ong 1999 [1982]: 10-13. 20 Finnegan 1970: 3. 131 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

Lord streicht ebenfalls die besondere Bedeutung der Performance he- raus. Die oralen Dichtungen und Lieder würden nach bestimmten Re- geln während der Aufführung aus einem großen Fundus einzelner Textelemente zusammengesetzt und komponiert. Die Sprache der Dichtungen sei durch einen bestimmten Rhythmus strukturiert und damit aus dem Gedächtnis wiederholbar, so sei die Tradierung von Texten epischen Ausmaßes möglich. Jede Dichtung und jedes Lied, so Lord, stellten eine Performance dar, sie seinen einzigartig, und sie be- inhalteten immer die individuelle Unterschrift des Vortragenden, ge- wissermaßen seinen persönlichen Stil. Die Performance werde durch den einzelnen Liedvortragenden beziehungsweise durch traditionell vorgegebene und erlernte Erzählstrukturen bestimmt.21 Diese wichtigen Arbeiten haben auf die Performance von mündli- chen Texten aufmerksam gemacht, lange bevor Performance zu einem Forschungsparadigma wurde. Aber eine Darstellung von Performan- ce im eigentlichen Sinne, die genaue Beschreibung der Aufführungen von Epen, Liedern oder oraler Literatur, ihres Ablaufs, der Szenerie, der Stimmung, der Art des Vortrags, alle jene Elemente, die die Per- formance ausmachen und möglicherweise entscheidend beeinflussen, sind kaum in den Abhandlungen zu finden. Die Diskussionen um ora- le Traditionen drehen sich auch häufig um das Kriterium der Genau- igkeit. Gerade im Zusammenhang mit der Diskussion, welche Folgen die Einführung der Schrift hat, rückt häufig die Speicherung von Wis- sen, die in Oralkultur meist narrativ erfolgt, ins Zentrum des Interes- ses: Wie können ›schriftferne‹ Gesellschaften umfangreiche Texte komponieren, ohne auf ein Speicherungsmedium außer dem Ge- dächtnis zurückgreifen zu können? Oralität ist nicht auf das gesprochene Wort reduzierbar. Letzteres ist wie die Schrift nur ein Element des kommunikativen Repertoires. Die Oralität wird durch eine performative, bildliche und materielle Form des Informationstransfers geprägt. Dies bedeutet nicht, dass in schriftdominierten Gesellschaften diese Ausprägung nicht vorhanden ist. Der Unterschied zur Oralität besteht vor allem darin, dass dem Kommunikationskanal ›Schrift‹ eine besonders prominente Rolle zu- gebilligt wird, in der Mündlichkeit hingegen die verschiedenen Kom- 21 Lord 2000 [1960]. 132 Produkt, Prozess und Prozessualität munikationskanäle als relativ sozial gleichwertig eingestuft werden. Neben dem gesprochenen oder gesungenen Wort stehen Aspekte wie Bewegung, Gestus, Spiel, Tanz, Ritual, Kleidung, Körperbemalung oder Bilder. Die Kommunikationspraxis ist plurimedial und stellt eine Performance von gleichzeitig aufgeführter und rezipierter Kommuni- kation dar. Die Nachricht der kommunizierenden Menschen ist an den Menschen gebunden. Sie ist eigentlich auch nicht von ihm zu tren- nen: »Orale Kommunikation verlangt und produziert Präsenz; sie ist bildhaft und darstellend, konkret situationsgebunden, unmittelbar und lokal.«22 Wie lässt sich orale Kommunikation beschreiben, ohne auf das oben genannte Modell von Shannon zurückgreifen zu müssen? Die textuel- le Verarbeitung mündlichen Materials in ethnologischen Arbeiten ist vielfältig und hängt sehr stark von der Ausrichtung der Untersuchung ab. Eine Mythensammlung legt den Schwerpunkt eher auf den Text. Dagegen stellt die Beschreibung eines Rituals die performative Ebene der Inszenierung deutlicher heraus. Die unterschiedlichen Darstel- lungsformen von mündlich-performativen Texten lassen sich an den Arbeiten dreier mit der Marburger Völkerkunde verbundenen For- scherinnen und Forschern deutlich aufzeigen. Godula Kosack (2001) berichtet über die Mafa im Norden Kame- runs. Über einen langen Beobachtungszeitraum hinweg nahm die Au- torin mehr als zweihundert Lebensgeschichten und Erzählungen auf. Diese dienen als Grundlage für die Beschreibung der Mafa. Die Men- schen werden über ihre Geschichten vorgestellt, man könnte auch sa- gen, die Mafa stellen sich über ihre eigenen Geschichten, die Kosack häufig in voller Länge zitiert, selbst vor. Kosack lässt die Mafa ganz bewusst selbst zu Wort kommen. Aber von Sprechen im eigentlichen Sinne kann nicht die Rede sein. Kosack arbeitet lediglich mit Texten, Transkriptionen der Geschichten. Performative Aspekte von Oralität sind hier nicht relevant. Das Thema ›orale Literatur‹ wird, obwohl im Titel des Buches erwähnt, nicht diskutiert. Dies liegt daran, dass Ora- lität und ihre Spezifik nicht Hauptthema der Untersuchung waren. Wichtig ist Kosack viel mehr die ethnographische Beschreibung der Mafa über ihre eigenen Mythen. Die Mythen geben die religiösen 22 Schröder/Voell 2002: 13. 133 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

Vorstellungen, die kulturellen und sozialen Normen wider, die die heutigen Mafa auszeichnen.23 Dies verhält sich bei Mark Münzel (1986) anders. Für ihn hat die Oralität zentrale Bedeutung. Münzel arbeitet die eigene Welt der Mündlichkeit heraus. Wichtig ist der Bezug zum Einfluss der Schrift in den ›schriftfernen‹ Gesellschaften. Das Besondere der mündlichen Rede und ihr performativer Charakter werden diskutiert. Münzel stellt die Rhetorik südamerikanischer Indianer dar. Gerade ›Häupt- linge‹ müssen über besonders ausgefeilte Reden vor der Öffentlichkeit immer wieder ihre Position argumentativ untermauern. Die Grund- charakteristiken des spezifisch oralen Vortragsstils sind die kunstvolle Form, die künstlerische Individualität und die ›Intellektualität‹. In einem späteren Kapitel kommt Münzel zu Beispielen indianischer Rhetorik. Hier gibt es kaum noch Verweise auf die spezifisch münd- liche Natur der Mythen. Im Zentrum der Analyse steht jetzt die Arbeit mit indianischen Texten. Die performative Ebene, die Auf- führung des Textes mit all jenen Ausdrucksformen, die den Text begleiten und möglicherweise bedeutungstragend sind, werden größ- tenteils ausgeblendet. Münzel unternimmt eine Textanalyse, setzt gewisse Wörter im Text in Bezug zu anderen, weist auf Wieder- holungen hin, jedoch wenig auf die Inszenierung selbst. Es ist mög- licherweise nicht das Ziel gewesen, auf die Mündlichkeit in diesem Kapitel hinzuweisen, sondern ausschließlich auf die spezifische indi- anische Textstruktur. Dennoch fällt nach Münzels Einleitung zur Mündlichkeit auf, dass sie im Kapitel mit den konkreten Beispielen kaum Erwähnung findet. Das jüngste Beispiel der Darstellung von performativer Kommuni- kation ist die Studie von Ulrike Krasberg (2002) zu Ekstasetänzen von Sufilogen im nordöstlichen Marokko. Zu Beginn der Untersuchung vermerkt sie: »Musik, Tanz, theatralische Handlungen zu verschriftli- chen, bedeutet eine Transformation, die dem Geschehen im Grunde nicht gerecht werden kann.«24 Wie löst sie dieses Problem? Krasberg geht der Darstellung der Performativität nicht aus dem Weg. Sie bricht aus der üblichen distanzierten Sprache der Forscherin aus und ver-

23 Kosack 1997: 17. 24 Krasberg 2002: 41. 134 Produkt, Prozess und Prozessualität sucht, dem Leser die Performance in einer literarischen Form darzu- stellen: »Dann brechen Gesang und Tamburine plötzlich ab. Ich höre den Atem der Tänzerinnen: ein stoßweises ›Allahhh‹, ›Allahhh‹. […] Sie bewegen sich noch im Rhythmus, aber langsamer, weicher, schlin- gen die Arme um sich, wiegen sich, schlagen sich leicht mit den flachen Händen auf die Brust. Gesang und Tamburine setzen wieder ein mit einem anderen Lied, aber dem gleichen Rhythmus. Die beiden Frauen lassen sich vom Rhythmus wieder mitnehmen. Eine streicht jetzt beim Vorwärtsbewegen mit beiden Daumen von hinten über ihre Gesäßba- cken und Oberschenkel nach vorne, und beim Zurücklegen führt sie die Hände im Halbkreis wieder nach hinten, dabei geht sie nur leicht in die Knie. Sie ähnelt einem Vogel, der abheben und losfliegen will.«25 Ist diese Beschreibung gelungen? Diese Frage, die man auch den vor- genannten zwei Beispielen stellen kann, die sich aber bei der besonde- ren Form der Darstellung wie jene bei Krasberg nachdrücklich auf- drängt, ist nicht eindeutig zu beantworten. Wahrscheinlich müsste man einem Ekstasetanz beiwohnen, um eine differenzierte Meinung dazu zu haben. Doch selbst dann ist die Antwort schwer, weil andere Forscher die Situation möglicherweise unterschiedlich beurteilen und beschreiben würde. Krasberg zeigt jedenfalls die performative Ebene, kann sie sicherlich nur bedingt nachfühlbar machen. Sie kann aber ein Gefühl dafür erwecken, wie zentral die Theatralität selbst ist und dass ein bloßer Ablaufplan der Ekstasetänze eine nur unzureichende Dar- stellung wäre. Die drei dargestellten Verschriftlichungen von oral-performativer Praxis sind unterschiedlich. Kosacks umfangreiche Abhandlung ba- siert auf oralen Produktionen, ohne den mündlichen Aspekt der Ge- schichte der Mafa näher zu behandeln. Münzel weist auf die Beson- derheit der Mündlichkeit nachdrücklich hin, die Behandlung der My- thenbeispiele bleibt jedoch überwiegend am Text orientiert. Die Per- formativität, den nonverbalen Aspekt der Darstellung, die bei Kosack und Münzel nicht ausführlich dokumentiert werden, will hingegen Krasberg nicht ignorieren und malt diesen aus. Aber was gewinnt der Leser durch eine schöne, fast schon literarische Beschreibung einer Performance? Kann sich der Leser dadurch die Szene besser vorstellen 25 Krasberg 2002: 67. 135 Die Rahmenbedingungen des Kanuns oder liegt in der literarischen Beschreibung möglicherweise die Ge- fahr, dass ein völlig falsches Bild von der Szene gezeichnet wird, weil eine literarische Annäherung ganz andere Assoziationen erweckt, als mit dem Text erwünscht war? Letztendlich ist es auch eine Frage des persönlichen Geschmacks, ob ein wissenschaftlicher Text eine nüch- terne Form zu wahren hat oder ob literarische Elemente die Erkennt- nis weiterbringen können. Deutlich wird jedoch, dass das Medium Text für die Beschreibung einer Performance unzureichend ist. Viele Besprechungen des Kanuns erfolgen aus der ›Produktsicht‹ auf Mündlichkeit und Performativität. Wie ein transkribierter Mythen- text wird das Gewohnheitsrecht in seiner textuellen Form diskutiert und in Bezug zur Ethnographie gesetzt. Den Kanun hingegen als Pro- zess zu betrachten, würde bedeuten, Einzelfälle gesondert zu disku- tieren. Diese Perspektive erscheint mir vor allem bei der Wiedergabe von Versöhnungszeremonien am Ende einer Vermittlung von Blutra- chekonflikten sinnvoll. Die besondere Theatralität der Veranstaltung kann damit selbst zum Thema einer Abhandlung werden. Doch muss in einem solchen Fall eine adäquate Form der Darstellung gefunden werden, ein Text alleine reicht meines Erachtens dazu kaum aus. Mir geht es um eine allgemeine Typologie der Kommunikation des Kanuns. Über einen deskriptiven Begriffsapparat werden die gene- rellen Charakteristiken dargestellt. Die Herausarbeitung der Prozes- sualität des Kanuns, die durch ein spezifisches Feld — Kommunika- tionsverhältnisse — beeinflusst wird, steht im Mittelpunkt. Die Kommunikationsverhältnisse werden im Folgenden dargestellt. Im nächsten Kapitel steht die prozessuale Seite der Kommunikation, der Kommunikationsstil, im Vordergrund. Der Begriff ›Kommunikationsverhältnisse‹ Eine ethnologische Betrachtung von Kommunikation erfordert die Einbeziehung der sozialen Rahmenbedingungen, in denen die Kom- munikation stattfindet. Ein bestimmtes Medium, wie beispielsweise das Buch, erlaubt zwar generelle Aussagen über den mittels des Medi- ums erfolgten Informationsaustausch. Ein Buch, das in Seiten, Zei- chen und Zeilen eine bestimmte Szene beschreibt, gibt ein anderes Bild wieder als die Aufnahme der gleichen Szene mit einer Videoka-

136 Der Begriff ›Kommunikationsverhältnisse‹ mera. Wie jedoch die Informationen der verschiedenen Medien in ei- ner Gesellschaft eingesetzt werden, ist von der Gesellschaft abhängig. Das Nutzen eines bestimmten Mediums mag eine bestimmte Diskurs- form begünstigen, doch allein durch die bloße Existenz eines Medi- ums wird kein gesellschaftlicher Diskurs gelenkt. Die Einführung der Schrift führt nicht, wie häufig postuliert, automatisch zu abstraktem und logischem Denken, zu Demokratie und komplexen Zivilisatio- nen. Im Gegenteil, Schrift kann bestehende Machtverhältnisse ver- stärken und demokratische Entwicklungen blockieren. Genauso kann sie von einer Gesellschaft in einigen Fällen nicht als sinnvolle Erweite- rung ihres kommunikativen Repertoires betrachtet werden, und die Praxis des Schreibens kann verloren gehen.26 In Ce que parler veut dire (1982) äußert sich Pierre Bourdieu kri- tisch zur Linguistik, die in der strukturalen Tradition Ferdinand de Saussures steht. Diese Forschungstradition, in der die Sprache als au- tonomes Forschungsobjekt untersucht und sie aus ihrem unmittelba- ren sozialen Kontext isoliert wird, suche die Macht der Wörter in den Wörtern selbst. Wie in einem Labor isolierten die Forscher die Spra- che von vermeintlichen Störfaktoren und setzten die vom Menschen losgelösten Elemente der Sprache miteinander in Beziehung. Doch in den Wörtern allein, in den vom Sozialen abstrahierten Modellen, liegt keine Kraft, schreibt Bourdieu. Die Macht der Wörter erklärt sich über die Person, die die Wörter anwendet, je nach Situation, abhängig von der sozialen Position des Kommunizierenden. Die Macht der Wörter ist eine übertragene Kraft, abhängig vom Diskurs und der Art des Kommunizierenden zu sprechen. Ein Leiter einer Fabrik bei- spielsweise, so Bourdieu, kann sich dazu veranlasst sehen, einen auto- ritären Diskurs pflegen. Die Kraft seiner Rede liegt nicht darin begründet, dass die Zuhörer den Diskurs verstehen, die Bedeutung der Wörter und der Sätze kennen. Der autoritäre Diskurs muss als sol- cher erkannt werden, damit er autoritär wirkt. Die Rede muss vor je- manden vorgetragen werden, der dazu berechtigt ist. Die Rede muss in einer legitimen Umgebung zu hören sein und schließlich muss die Rede einer der Position des Redners und der Situation entsprechen-

26 Zur Kritik an der technozentrischen Sichtweise auf Kommunikation siehe die Diskussion zu ›Great Divide‹ im dritten Kapitel. 137 Die Rahmenbedingungen des Kanuns den Rhetorik folgen. Der Diskurs, betont Bourdieu, hängt mit der so- zialen Position des Redners zusammen oder anders ausgedrückt, die Macht der Wörter ergibt sich aus den Machtbeziehungen, in die die Personen, die reden, verwickelt sind.27 Allgemeiner formuliert heißt dies, dass kommunikative Beziehun- gen immer auch symbolische Machtbeziehungen darstellen, die ihrer- seits die Machtbeziehungen zwischen den Kommunizierenden oder ihren Bezugsgruppen reflektieren und aktualisieren.28 Sprache wird damit auf der einen Seite durch objektive Strukturen bestimmt, in die die Kommunizierenden eingebettet sind. Die Akteure sind sozial po- sitioniert, und Kommunikation ist von diesen Rahmenbedingungen nicht zu lösen. Die Menschen leben in einer gegebenen Umwelt und können nur auf ein bestimmtes kommunikatives Repertoire zurück- greifen. Auf der anderen Seite ist Sprechen immer ein Produkt des Moments. Die im Habitus internalisierten Strukturen der sozialen Wirklichkeit sind die Summe an Erfahrungen, die einer bestimmten Situation einen Handlungsrahmen geben. Auf diese aufbauend ent- scheidet sich das Individuum subjektiv in der gegebenen Situation. Wie für den Habitus im Allgemeinen gilt für die Kommunikation ei- ner Gesellschaft, dass der Einzelne nur selten all seine bestehenden Kommunikationsmöglichkeiten im Detail evaluiert. Der Akteur greift meist auf gesellschaftlich vorgegebene Handlungsrichtungen zurück. In der Regel kommuniziert der Akteur, wie es in einer gege- benen Situation gesellschaftlich erwünscht ist. Die objektiven Strukturen einer Gesellschaft, die ihre Kommunika- tion betreffen, haben Ingo W. Schröder und ich als ›Kommunika- tionsverhältnisse‹ bezeichnet, das heißt als eine »für eine Gesellschaft und einen Zeitraum spezifische Form des Informationstransfers in- nerhalb eines gesellschaftlichen Rahmens, der durch Strukturen öko- nomischer und politischer Beziehungen abgesteckt wird.«29 Aufbau- end auf Bourdieu bedeutet dies, dass Kommunikation immer im Zu- sammenhang mit den Menschen hinter der Kommunikation in ihrem sozialen Feld zu untersuchen ist. Der Informationsaustausch spiegelt

27 Bourdieu 1982: 103-119. 28 Bourdieu 1982: 14. 29 Schröder/Voell 2002: 26. 138 Der Begriff ›Kommunikationsverhältnisse‹ die Einbettung der Akteure in die Kommunikationsverhältnisse auf zwei Ebenen wider: Zum einen erfolgt dies durch kulturelle Sozialisa- tion geprägte Kommunikation, das heißt durch die kulturell spezifi- sche Art, in verschiedenen Situationen Botschaften auszutauschen. Zum anderen durch die Machtstrukturiertheit des Raums, in dem kommuniziert wird. Bestimmte Formen der Kommunikation sind für bestimmte Aufgaben gesellschaftlich adäquat und die Art der Nut- zung dieser Medien ist abhängig von der sozialen Position.30 Wir haben Kommunikationsverhältnisse im Sinne von ›Beziehung‹ definiert, die eine bestimmte Art des Informationstransfers mit sich bringt. Ich möchte die Bedeutung des Begriffes zunächst erweitern, sie im nächsten Schritt jedoch wieder begrenzen. Die Bedeutung von ›Kommunikationsverhältnissen‹ soll dergestalt erweitert werden, dass nicht nur Machtbeziehungen gemeint sein sollen. Auch andere objek- tive Gegebenheiten bestimmen den Raum, in dem Kommunikation stattfindet. Beispielsweise ist in Nordalbanien die Topographie des Landes für die Kommunikation prägend. Das so genannte ›albanische Telefon‹ war nicht nur eine charakteristische Kommunikationsform in Albanien bis in die vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein. Es wird auch in den meisten Reisebeschreibungen zu Albanien beson- ders herausgestellt, wie etwa bei Durham: »The voice, pitched in a pe- culiar artificial note, is hurled across the valley with extraordinary force. Any one that catches the message acts as receiver and hurls it on to its address. And within an hour an answer may be received from a place twelve hours‹ tramp distant. The physical effort of the shout is great. The brows are corrugated into an expression of agony, both hands often pressed tight against the ears — perhaps an instinctive counterpressure to the force with which the air is expelled from within — the body is thrust forward and swayed, face and neck turn crimson, the veins of the neck swell up into cords. There are few places where it is harder to keep an event secret than in the mountains of Albania. News spreads like wildfire. The fact that a man has been shot up-country reaches Scutari next day at latest, often with many de- tails.«31 Die Topographie Nordalbaniens spielt für die Kommunikati- on eine große Rolle. Die Berge schließen ihre Bewohner vom Tiefland 30 Schröder/Voell 2002: 27. 139 Die Rahmenbedingungen des Kanuns ab, kultureller Wandel in der Ebene erreicht nur sehr langsam die ent- legenen Regionen. Bestimmend für die Kommunikationsverhältnisse ist ferner die technische Infrastruktur des Landes, die einen Einfluss auf die Kommunikation hat. In vielen Regionen Nordalbaniens ist das Nutzen von Mobiltelefonen noch nicht möglich und durch häufig auftretende Pannen ist selbst das Festnetz nicht immer ein funktionie- rendes Medium.32 Kommunikationsverhältnisse verstehe ich im Sinne von ›Bedingungen‹, das heißt objektiven Grundbedingungen, die für die Kommunikation relevant sind. Andererseits gilt es, Grenzen für den Begriff zu setzen. Wie wir in Moderne Oralität (2002) beschrieben haben, bezeichnen ›Kommuni- kationsverhältnisse‹ Machtrelationen im Allgemeinen, die wir in Are- nen differenziert haben. Arenen sind soziale oder räumlich ausge- wiesene Standorte, in denen die Akteure über soziale Beziehung mit kommunikativen und kulturellen Mittel nach bestimmten Zielen stre- ben.33 Bei der Benennung der Arenen beriefen wir uns auf Ulf Han- nerz‘ Modell (1992) der gesellschaftlichen Organisation kultureller Bedeutung und seine vier Arenen der Repräsentation kulturellen Wis- sens in der modernen Gesellschaften: Alltagswirklichkeit, Markt, Staat und soziale Bewegung.34 Letztendlich verstanden wir Kommu- nikationsverhältnisse als eine generelle Bezeichnung für die die Kom- munikation bestimmenden Machtbeziehungen. Gerade bei komple- xen Gesellschaften ist der Begriff nicht sehr klar und besagt eigentlich nur, dass Kommunikation nicht im machtfreien Raum stattfindet. Kommunikationsverhältnisse definiere ich im Sinne eines sozialen Feldes als Netzwerk objektiver Beziehungen innerhalb eines über spezifische natürliche und technische Gegebenheiten bestimmten Fel- des. Kommunikationsverhältnisse haben einen Rahmen, eine innere Struktur (die auch durch Machtbeziehungen charakterisiert sind) und eine zu Grunde liegende Ideologie, die auf einer Metaebene generelle Züge der Kommunikation bestimmt. Die Kommunikationsverhält- 31 Durham 1994 [1909]: 96-97. Zum ›albanischen Telefon‹ siehe auch Lane 1923: 9; Liebert 1909: 51-52; Markgraf 1930; Newman [o.J.]: 13-14; 1936: 262; Nopcsa [o.J.]: 7-8; 1910: 41. 32 Zu Mobilfunk in Albanien siehe Voell Ms. [2003]. 33 Long 2000: 192. 34 Hannerz 1992: 46-52; Schröder/Voell 2002: 27-28. 140 Der Begriff ›Kommunikationsverhältnisse‹ nisse werden über die Sozialisation und alltägliche Praxis als Disposi- tionen internalisiert. Der auf diese Weise entstandene Habitus spe- zifischer Verhältnisse ist der Kommunikationsstil.35 Der Rahmen der Kommunikationsverhältnisse ist nicht unbedingt physischer Art, er kann ebenfalls kommunikativ gesetzt werden: Gre- gory Bateson (1972) fragt, was ein Spiel ausmacht, beziehungsweise, wie die anwesenden Personen wissen, dass es sich in einer bestimmten Situation um ein Spiel handelt. Dies zu wissen, ist von Bedeutung, weil Handlungen im Spiel eine andere Bedeutung haben als außerhalb eines Spiels. Wie komme es also, dass zwei raufende Kinder, die sich jedoch nicht wirklich schlagen, sondern nur spielen, eben wissen, dass das Raufen nicht ernst gemeint ist? Durch Aussagen vor dem Spiel, betont Bateson, oder auch nur kleine Zeichen — explizite oder impli- zite Botschaften — wird ein Rahmen gesetzt, der ›das ist Spiel‹ bedeu- tet. Diese Aussage ›das ist Spiel‹ meine, dass die Handlungen, die sich im Spiel ergeben, nicht so gemeint sind, wie jene Handlungen, für die sie wirklich stehen.36 Der Rahmen, so Bateson weiter, wird durch Mit- teilungen gesetzt, die mit dem Ziel erfolgten, den Kommunizierenden anzuzeigen, wie die Mitteilung innerhalb des Rahmens zu verstehen ist.37 Diese Metakommunikation, die die Kommunikation begleitet, gibt der Kommunikation den Rahmen vor, sagt Bateson, wie die Kommunikation stattzufinden hat und auch, wie sie zu verstehen ist. Über Rahmen setzt man gewisse Organisationsprinzipien, das heißt ein System von Gegenständen, Postulaten und Regeln. Die eigentli- chen Eigenschaften der Organisation innerhalb des Rahmens kennt der Akteur jedoch selbst nicht genau, und er kann sie nicht vollständig beschreiben, jedoch mühelos anwenden.38 Über die Metakommunikation wird der Rahmen um das soziale Feld gesetzt. Das kann explizit erfolgen, beispielsweise durch die An- kündigung, dass man einen Konflikt sipas kanunit (nach dem Kanun) löst. Dies bedeutet, dass ein Landkonflikt zunächst innerhalb des Dorfes unter Ausschluss der Polizei gelöst werden soll. Der Fall wird

35 ›Kommunikationsstil‹ wird im dritten Kapitel vorgestellt. 36 Bateson 1985 [orig. 1972]: 244. 37 Bateson 1985 [orig. 1972]: 254-255. 38 Goffman 1996 [orig. 1974]: 19, 31. 141 Die Rahmenbedingungen des Kanuns den Ältesten des Dorfes vorgetragen, die sich dann des Konfliktes an- nehmen. Die Ältesten sind eine vermittelnde Instanz, und sie schlagen eine Lösung unter Berücksichtigung der Aussagen der beiden Partei- en und der Traditionen bezüglich des Landbesitzes vor. Die explizite Aussage, dass ein Konflikt sipas kanunit gelöst werden soll, gibt einen Rahmen vor, in dem bestimmte Zuständigkeiten, Prozesse und ein be- stimmtes Wissen angewendet werden. Oder die Metakommunikati- on, wie die Kommunikation zu führen ist, erfolgt implizit, durch die bloße Präsenz der Beteiligten in Nordalbanien, was den entsprechen- den Rahmen und seine Organisationsprinzipien aktiviert, das heißt, der Habitus Kanun wird als maßgeblich akzeptiert. Geht eine der Konfliktparteien hingegen zur Polizei, wird der Rahmen explizit an- ders gesetzt. Die Struktur innerhalb des Rahmens spielt auf Machtbeziehungen an. Die Machtstruktur gibt gewissermaßen vor, wer redet und wer zu- hört. In Nordalbanien sind zwei Dimensionen von Machtbeziehun- gen zu unterscheiden. Zum einen lässt sich die nordalbanische Gesellschaft tendenziell als segmentäre Gesellschaft beschreiben: »eine akephale (d.h. politisch nicht durch eine Zentralinstanz organisierte) Gesellschaft, deren poli- tische Organisation durch politisch gleichrangige und gleichartig un- terteilte mehr- oder vielstufige Gruppen vermittelt ist.«39 Auf einer verwandtschaftlichen Ebene ist die nordalbanische Gesellschaft in patrilinear bestimmte Segmente Familie (familja), Bruderschaft (vël- lazëri), ›Bein‹ (këmbë) und fis (Clan oder Lineage) aufgeteilt und auf einer territorialen Ebene in Haus (shtëpi), Weiler oder Viertel (mëhal- lë oder lagje), Dorf (fshat oder katund) und bajrak (Banner). Mit ›ten- denziell‹ meine ich, dass es zwar heute einen Nationalstaat Albanien gibt, dieser jedoch in Nordalbanien noch nicht durchgehend präsent ist, so dass fis-Beziehungen noch eine große Bedeutung haben und segmentäre Strukturen durchaus präsent sind. Eine Ähnlichkeit der albanischen fis vor 1944 mit der Organisation der segmentär organisierten Nuer-Clans, wie sie Edward E. Evans- Pritchard (1940) beschreibt, ist offensichtlich. Doch ein steter Prozess der Verbindung und der Trennung von Segmenten war in Nordalba- 39 Sigrist 1967: 30; siehe auch Evans-Pritchard 1973 [1949]: 59. 142 Der Begriff ›Kommunikationsverhältnisse‹ nien nie sehr ausgeprägt und ist heutzutage nur noch ansatzweise vor- handen. Bei den Nuer bilden die (territorialen) Segmente keine Gruppe an sich, es sind situational gebildete Gruppen, die sich in Op- position zu einem anderen Segment bilden. Auch wenn sich in Alba- nien bei Blutrache zwei fis gegenüberstehen konnten, aber doch gemeinsam im bajrak für die Osmanen in den Krieg zogen, waren die Beziehungen zwischen den Segmenten bei weitem nicht so dyna- misch. Heute lässt sich sagen, dass diese segmentäre Dynamik über- haupt nicht mehr besteht. Die verwandtschaftlichen und territorialen Segmente verändern sich nicht auf Grund von Fissionen oder Fusio- nen, sondern wegen der Migration und Etablierung staatlicher Struk- turen. Auch die anderen beiden Merkmale segmentärer Gesell- schaften40 lassen sich für die heutige Zeit kaum übertragen. Ein Krite- rium ist die Aufteilung der ›Stämme‹ in X Segmente, die sich wieder- um in Y Unterclans dividieren, um sich auf Z Affiliationen (Lineages) aufzugliedern. Diese Aufteilung zieht sich weiter bis zu den einzelnen Familien. Die verschiedenen Segmente haben einen gemeinsamen Be- zugspunkt, einen Ahnen oder traditionelle Symbole. Weiter besteht eine starke Diffusion politischer Autorität. In segmentären Gebilden sind die strukturellen Oppositionen das zentrale Prinzip, um eine so- ziale Ordnung in Abwesenheit einer organisierten oder zentralisier- ten politischen Macht zu erhalten. Ein gemeinsamer Feind einer bestimmten Segmentebene schweißt Letztere zusammen, aber auch nur diese. Man kann die drei Kriterien (Fission und Fusion, Ver- wandtschaft, akephale Struktur) verwenden, um ein idealtypisches Modell Nordalbaniens zu zeichnen. Das Modell bildet aber nicht mehr die heutige Realität ab, denn die albanischen fis haben keine Au- tonomie mehr und das sozialistische Regime, selbst wenn es die fis-Beziehungen nicht vollständig zerstören konnte, setzte seine staat- lichen Strukturen so weit durch, dass man auf der überregionalen Ebe- ne nicht von einer praktizierten segmentären Gesellschaftsstruktur sprechen kann. Es hat daher keinen Sinn, die Modelle segmentärer Gesellschaften auf das heutige Nordalbanien zu übertragen. Ich nutze sie lediglich zur Beschreibungen einiger grundlegender Aspekte seg-

40 Hart 1973: 29-30. 143 Die Rahmenbedingungen des Kanuns mentärer Gesellschaften, durch die auch der fis charakterisiert werden kann. Zum anderen gibt es eine doppelte Machtbeziehung innerhalb der Familien, die ebenfalls die Struktur der Kommunikationsverhältnisse bestimmt. Dies ist die Dominanz des Ältesten über den Jüngeren und jene des Mannes über die Frau. Zu den objektiven Bedingungen der Kommunikationsverhältnisse gehört — neben dem Rahmen und der Struktur — die Ideologie. Eine Ideologie als objektive Bedingung einzuführen, mag auf den ersten Blick nicht klar sein. Ich begreife Ideologie, angelehnt an Gary Alan Fine und Kent Sandstrom (1993), als einen zusammenhängenden Satz von Wertvorstellungen, die an eine Gruppe gebunden sind. Ideologie steht in Relation zu der Einstellung der Gruppe und trägt damit eine bewertende Komponente.41 Objektiv losgelöst von und unbeeinfluss- bar durch den sozialen Alltag einer Gesellschaft — zumindest aus ei- ner kurzfristigen Perspektive —, stellt die Ideologie dauerhafte Wertvorstellungen zur Verfügung. Diese bestimmen das soziale Han- deln und damit auch die Kommunikation direkt. Eine Ideologie ver- stehe ich als eine sehr grobe Schablone, die kulturelle Idealvor- stellungen darstellt, allerdings auf einem sehr abstrakten Niveau. Es sind Leitlinien, die im Alltag nicht auf die Probe gestellt werden. Da- für sind sie zu unkonkret. Im Falle Albaniens handelt es sich nicht um ein aufeinander abgestimmtes System an Weltanschauungen. Es sind drei Aspekte, die die ideologische Grundlage des Habitus Kanun bil- den. Erstens ist dies die besa, was konkret Schutzeid oder Waffenstill- stand bedeuten kann, aber allgemeiner auch Ehrenwort bezeichnet. Besa begleitet Vereinbarungen, Versöhnungen oder Gastfreundschaft und besteht dort, wo man sein Wort gibt und sich der Konsequenzen bewusst ist, die man erfährt, wenn man sich nicht an die Absprachen hält. Die Ehre stellt die zweite Komponente der Ideologie dar. Ehr- volles Verhalten ist normkonformes Handeln, dessen Einhaltung mit Ehrzuweisungen seitens der Gesellschaft an den Einzelnen, das heißt mit Prestige, belohnt wird. Wenn man nicht ehrenvoll handelt oder durch die Aktion eines anderen entehrt wird, dann verliert man sein Gesicht, und es ist erforderlich, die Ehre wiederherzustellen. Drittens 41 Fine/Sanstrom 1993: 22, 36; siehe auch Eagleton 1991. 144 Der Kanuni i Lekë Dukagjinit als Quelle kann man in der nordalbanischen Gesellschaft eine dualistische Klas- 2 sifikation oder oppositionelle Kategorien feststellen.4 Damit ist die bereits angesprochene Weltsicht gemeint, die man ähnlich auch bei den Berbern in der Kabylei findet. Es gibt eine Klassifikation zwi- schen Innen und Außen oder dem Freund und dem Feind. Man kann eine ganze Reihe von einander gegenüberstehenden Begriffen, zu de- nen auch Ehre und Schande gehören, aufstellen. Der Kanuni i Lekë Dukagjinit als Quelle Eine wichtige Quelle für die Darstellung der segmentären Organisati- on ist der Kanuni i Lekë Dukagjinit, wie er von Gjeçov (1933) aufge- zeichnet wurde. Die Struktur der nordalbanischen Gesellschaft beschreibt er zu Beginn des Kapitels über die Familie: »Familjen e per- bâjn gjindja e shpís; si të shtohen këta, dahen në vllazní, vllaznija në gjiní, gjinija në fise, fiset në flamur e të gjith zbashkut permblidhjen në nji Familije mâ të hapët, e cilla quhet Kóm, e kan nji atme, nji gjak, nji 3 gjûhë, e doke.«4 Ich zitiere Gjeçov bewusst im gegischen Original (nordalbanischer Dialekt), denn es kommt auf die Ausdrücke an, die der Kanun-Sammler für die einzelnen Segmente benutzt. Die engli- sche Übersetzung dieser Passage von Leonard Fox (1989) lautet wie folgt: »The family consists of the people of the house; as these increa- se, they are divided into brotherhoods [vllazni], brotherhoods into kinship groups [gjini], kinship groups into clans [fis], clans into ban- ners [flamur], and all together constitute one widespread family called a nation [Kóm], which has one homeland, common blood, a common 4 language, and common customs.«4 Gjeçov konstruiert damit ein Modell, das eine Pyramide darstellt. Die übergeordnete Einheit ist das Banner (flamur), das sich aus ver- schiedenen Clans (fis) zusammensetzt, welche wiederum aus Ver- wandtschaftsgruppen (gjini), Bruderschaften (vllazni) und Letztere aus Familien (familja), der kleinsten Einheit, bestehen (Abb. 11). Gje- 42 Ich berufe mich in diesem Punkt vor allem auf die Ausführungen von Stephanie Schwandner-Sievers (1996, 1999, 2001), die ich am Ende dieses Kapitels genauer darstellen werde. 43 Gjeçov 1989 [1933]: 13, § 19, Kursivierung St. V. 44 Gjeçov 1989 [1933]: 14, § 19; die eckigen Klammern sind bis auf [Kóm] vom Übersetzer gesetzt. 145 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

çovs Pyramide ist ein klares, einfaches Modell. Ein Modell ist schon der Definition nach eine Vereinfachung, doch Gje- çovs Abstrahierung der nor- dalbanischen Gesellschaft ver- mischt unterschiedliche Di- mensionen der sozialen Ord- nung. Abb. 11: Schematische Darstellung der Erstens ist die Einordnung segmentären Organisation der von gjini in diese Reihenfolge nordalbanischen Gesellschaft nach dem nicht sinnvoll, denn es handelt Kanuni i Lekë Dukagjinit in der sich hier nicht um einen Zu- Version von Shtjefën Gjeçov (1933). sammenschluss von mehreren Bruderschaften. Gjini bezeich- net ausschließlich die Verwandtschaftslinie der Mutter.45 Die Linie der Mutter wird ›Milchbaum‹ (lisi i tëmblit) genannt, doch diese Linie scheint im Alltag keine besondere Rolle zu spielen. Das Wissen um die weiblichen Vorfahren beläuft sich auf höchstens zwei bis drei Genera- tionen. Wichtiger ist der ›Blutbaum‹ (lisi i gjakut), die männliche Ver- wandtschaftslinie, auf dem die nordalbanische Gesellschaft am Offen- kundigsten aufbaut.46 Gjeçov schreibt: »Die Geschlechterfolge des Blutes stammt von Vaterseite, jene der Verwandtschaft von Mutter- seite.«47 Mehr steht im Kanun nach Gjeçov zur Verwandtschaft müt- terlicherseits nicht, doch der albanische Ethnologe Albert Doja (1999) geht weiter und sieht in dem Milchbaum einen nicht zu vernachlässi- genden Aspekt des albanischen Verwandtschaftssystems. Er postu- liert neben dem segmentär bestimmten Blutbaum eine lineare und individualisierte mütterliche Verwandtschaftslinie. Diese Kategorien stehen sich nicht gegenüber, es sind unterschiedliche Dimensionen der Verwandtschaft, die sich überlappen.48 45 Doja 1999a: 37; 1999b: 218-221; Illia 1993: 27. Wenn eine verheiratete Frau ihre Eltern besucht sagt sie, dass sie zu ihrer gjini geht; zu gjini siehe auch Zojzi 1969: 390. 46 Schwandner 1995: 123-124. 47 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 141, § 699; Übersetzung Godin 1954: 61. 48 Doja 1999a: 52. 146 Der Kanuni i Lekë Dukagjinit als Quelle

Zweitens ist der von Gjeçov benutzte Begriff flamur (Banner) in Nordalbanien nicht sehr verbreitet. Die Türken führten eine militäri- sche Verwaltungseinheit mit dem Namen bajrak ein, flamur ist die al- banische Übersetzung. Der erwähnte nationalistische Hintergrund, vor dem der Kanuni i Lekë Dukagjinit nach Gjeçov entstanden ist, brachte den Kanun-Sammler dazu, die von Albanern selbst benutz- ten, aber dem Türkischen entlehnten Worte mit albanischen Ausdrü- cken zu ersetzen, obwohl sie im damaligen Sprachgebrauch keine Rolle spielten. Drittens kann die Beziehung zwischen dem fis und dem bajrak nicht in der Form wie bei Gjeçov aufrecht erhalten werden. Er schreibt, dass sich ein bajrak aus mehreren fis zusammensetzt. Das ist zwar möglich, doch es kann auch sein, dass ein bajrak einen oder nur einen halben fis umfasst. Gjeçov vermischt neben der männlichen verwandtschaftli- chen Bindung (lidhje fisnore) und der mütterlichen Seite (lidhje gjino- re) auch die beiden verwandtschaftlichen Kategorien mit der terri- torialen Dimension der sozialen Ordnung.49 Der fis stellt einen Kom- plex von Familien dar, der sich auf die gleichen Ahnen beruft. Ein bajrak ist ein regionaler Zusammenschluss von Familien, was auch mehrere fis bedeuten kann, die unter einem Banner in den Krieg zie- hen. Auf der einen Seite handelt es sich um einen familiären und auf der anderen Seite um einen territorialen Zusammenschluss.50 Ein Modell der nordalbanischen Gesellschaftsordnung muss, wenn es den Anspruch hat, die ethnographische Realität aussagekräftig darstellen zu wollen, die unterschiedlichen Kategorien von sich über- lagernden Dimensionen von patrilinearer Verwandtschaft, mütter- licher Herkunftslinie und Territorium beinhalten. Die Konstruktion eines solchen Modells ist auf Grund der regional sehr unterschied- lichen Ausdifferenzierungen und Benennungen der Segmente schwie- rig. Karl Kaser (1992, 1996) vermeidet ein genaues Modell gerade deswegen. Er schreibt, dass die Variationen der ›Stammesgesell- schaften‹ in Albanien groß sind. Kaser arbeitet für Montenegro, Albanien und Kosova sechs Typen dieser Stammesgesellschaften heraus. Von Interesse sind hier ausschließlich die zwei albanischen

49 Luarasi 2001: 24. 50 Loewe 1914: 112. 147 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

Gesellschaftstypen, die aber von Kaser nicht sehr detailliert dargestellt werden. Was die beiden Typen eint, sind drei Charakteristiken: Das eigene Stammesterritorium; das Aufgeben des Nomadismus bezie- hungsweise der Wechsel zur ständigen Residenz; eine ähnliche innere Verwaltungsstruktur von Stammesältesten und eine allgemeine Stam- mesverwaltung.51 Die erste Form von Gesellschaftsordnung nennt Kaser den ›Malësia-Typ‹, der in den Regionen nördlich des Drins zu finden ist. Diese überwiegend katholisch geprägte Gesellschaft ist auf der Basis patrilinearer Abstammung organisiert und weist klare, homogene ›Verwaltungsstrukturen‹ und differenzierte Abstam- mungsprinzipien auf.52 Die andere Gesellschaftsordnung wird von Kaser als ›Stammesföderation‹ bezeichnet. Hier ist die Beziehung zwischen den sehr eigenständigen Stämmen weniger formalisiert. Kaser erläutert dies am Beispiel der Stämme in der Region Mirdita.53 Dieses Gebiet wird in zeitgenössischen Reiseberichten als Inbegriff des freien albanischen ›Bergstammes‹ beschrieben. Seit dem acht- zehnten Jahrhundert steht der kapedan der Region vor. Das vererb- bare Amt wurde in dem fis Gjonmarku von dem Vater auf den erstge- borenen Sohn weitergeben. Der bereits erwähnte ›Turm von Orosh‹ war das Zentrum dieser so genannten ›aristokratischen Republik‹, die auch in modernen Erzählungen um das Gewohnheitsrecht im Zen- trum steht.54 In den alten Reisebeschreibungen und frühen Ethnogra- phien wird Mirdita meist mit einem gewissen Respekt behandelt, der auf der relativ großen politischen Unabhängigkeit, der feudalen inne- ren Struktur und den ruhmreichen Söldnern in den osmanischen Heeren beruht.55 Doch schließlich vermischt auch Kaser die zwei Dimensionen von Verwandtschaft und Territorium beziehungsweise vermag sie nicht klar zu trennen: »Ein Stamm setzt sich aus mehreren patrilinearen Ab- stammungsgesellschaften, Dörfern und Haushalten zusammen. […]

51 Kaser, K. 1992: 179; Baxhaku/Kaser, K. 1996: 17. 52 Kaser, K. 1992: 181-188; Baxhaku/Kaser, K. 1996: 20. 53 Zu Mirdita siehe auch de Waal 1996: 176. 54 Kaser, K. 1992: 189-191; Baxhaku/Kaser, K. 1996: 21; siehe auch Frashëri, St. Ms. [1979]: 7-8; Tozer 1969, 1. Bd.: 307-308; siehe auch die Erzählung von Kadare 1989 [orig. 1978]. 55 Gyurkovics 1881: 211; Hughes 1821 [1820]: 173, 187; Pinon 1909: 807. 148 Die territoriale Dimension der nordalbanischen Gesellschaft

Im Grunde war jede Kombination möglich; Stamm, Abstammungs- gruppe und Dorf waren in ihrem Umfang keine feststehenden Grö- ßen.«56 Die vermeintlich unterschiedlichen Kombinationsmöglich- keiten sind, wenn überhaupt, nur innerhalb der territorialen oder ver- wandtschaftlichen Dimension vorstellbar. Kaser beruft sich auf zeit- genössische Quellen, die bezüglich der Typologie nordalbanischer gesellschaftlicher Segmente große Unterschiede aufweisen, und die Darstellung von generellen Zügen, wie Kaser sie darstellt, ist eine um- fangreiche Arbeit. Häufig widersprechen sich Autoren oder bezeich- nen mit einem Begriff völlig unterschiedliche Dinge. So schreibt Berit Backer (1979) treffend: »The brave fieldworkers have not been too concerned about the precise terminology, and those using their mate- rial in an attempt to analyze the social organization in question […] suffer from this.«57 Erst eine auf die gesellschaftlichen Strukturen Nordalbaniens spezialisierte Forschung konnte ab den siebziger Jah- ren des vergangenen Jahrhunderts diese Multidimensionalität der Ge- sellschaft darstellen.58 Die territoriale Dimension der nordalbanischen Gesellschaft Der Raum als Mittel der sozialen Strukturierung in Nordalbanien er- gibt sich einerseits aus den topographischen Bedingungen der Region. Die Ausbreitung eines fis wurde schon durch die Anzahl der in einer Talsenke Platz findenden Familien bestimmt. Andererseits konnten bestimmte Teile eines fis sehr autonom von ihrem Stammhaus walten, weil sie weit entfernt voneinander wohnten und eine Kommunikation gerade im Winter nur schwer möglich war. Viele geographischen Bar- rieren waren so für Aufteilungen zwischen den einzelnen fis verant- wortlich.59 Die besonderen Bedingungen beeinflussten nicht nur die

56 Baxhaku/Kaser, K. 1996: 17. 57 Backer 1979: 14; Beispiele zu den unterschiedlichen Begriffen nennt Ulqini: für krye (eine Bezeichnung für den Vorsteher des fis) findet man auch die Bezeichun- gen vojvodë, koxhabash, plak myhyri; für stërplak (Älterster unterer Ordnung) straplak, gjobar; für vendim (Beschluss) itifak, usull, nezër, sund; für betar (je- mand, der einen Eid ablegt) porotë; für dorëzanë (Bürge) qefil (Ulqini 1991: 11-12). Zu vojvodë siehe auch Baxhaku/Kaser, K. 1996: 20; Kaser, K. 1992: 240. 58 Siehe Ulqini 1961, 1986, 1989a, 1991, 1995, 1997; Luarasi 2001. 59 Nopcsa [o.J.]: 8. 149 Die Rahmenbedingungen des Kanuns soziale Untergliederung, sie waren auch ein Grund, dass Letztere überhaupt so lange existieren konnten, denn die ›nordalbanischen Al- pen‹ waren ein schwer einzunehmendes und zu kontrollierendes Ge- biet.60 Walther Peinsipp (1985) beschreibt Nordalbanien als eine der geschlossensten Naturfestungen Europas und vergleicht die Region mit Andorra. Nur in solchen geographischen Verhältnissen konnte sich die Gesellschaftsform in ihrer ursprünglichen Form so lange er- halten: »Man hat den Eindruck, die Titanen hätten mit wütendem Ei- fer darin gehaust und dann alles liegen und stehen gelassen, weil sie sahen, daß sie mit ihrer Arbeit nie zu Ende kommen würden.«61 Das Bergland zersplitterte die Bevölkerung zwangsläufig in kleinere Gruppen. Ein tieferes Gemeinschaftsbewusstsein hat sich laut Pein- sipp nicht gebildet, lediglich zu besonderen Anlässen besann man sich gemeinsamer Wurzeln, beispielsweise wenn es darum ging, sich gegen einen gemeinsamen Feind zusammenzufinden.62 Ähnlich argumen- tiert Louis, der in der Topographie des Landes die Ursache für die lan- ge nicht vollzogene selbständige staatliche Organisation, jedoch auch für die schwierige Besetzung von außen sieht: »In der Natur des Lan- des liegt sicher die letzte Erklärung für all dies.«63 Die Kommunikation zwischen den Menschen in den Bergen erfolg- te durch das bereits erwähnte laute Zurufen, das über zahlreiche Sta- tionen von Berg zu Berg einen organisierten Nachrichtendienst bilde- te, wie Nopcsa es ausdrückt. Auf diese Weise wurde das Weiterrei- chen von Informationen auch über Distanzen von vielen Kilometer ermöglicht. Wenn man in den Bergen die lang gezogenen Töne — ge- wissermaßen die ›laute Post‹ — dieser Menschen hörte, hielt man inne, »da es sich möglicherweise um die Ankündigung einer Feindseligkeit handelt […] Wenn ein Hörer, der die oft schwer verständliche Nach- richt schneller analysirt hat als die anderen, ihnen ihren Inhalt mir der Bemerkung ›kurgja kese‹ (nichts Schlechtes) [eigentlich kurgja e keqe] mitgeteilt hat, gehen alle wieder an die Arbeit.«64 60 Daniel 1989: 48. 61 Peinsipp 1985: 17. 62 Peinsipp 1985: 17-19. 63 Louis 1927: 41; siehe auch Daniel 1989: 48; Hasluck 1954: 1-8; Lambertz Ms. [1949]: 1; Stadtmüller 1937/38: 356. 64 Nopcsa [o.J.]: 7-8. 150 Die territoriale Dimension der nordalbanischen Gesellschaft

Prägend für die örtliche Dimension der nordalbanischen Gesell- schaft war neben der Topographie die Entwicklung der Grenzen des fis aus den ›Weidegemeinschaften‹ (katun) heraus. Der katun war eine Art pastorale Bruderschaft mit Blutsverwandtschaft, jeweils benannt nach seinem Patronym. Die Weidegemeinschaft bewegte sich, je nach Saison, zwischen dem Sommer- und dem Winterweidegebiet, Letzte- res war üblicherweise der ständige Wohnsitz der Gemeinde.65 Zu- nächst waren die Weidegebiete relativ weit voneinander entfernt, das heißt, es gab keine räumliche Verbindung zwischen den beiden Gebie- ten, und man konnte deshalb nicht von einem einzigen zusammen- hängenden Territorium sprechen. Erst als die Wandermöglichkeiten der pastoralen Gesellschaften durch das Vordringen der Osmanen auf dem Balkan immer mehr eingeschränkt wurden, begannen die großen Distanzen zwischen Sommer- und Winterweide abzunehmen. Dies führte zu ihrem Zusammenwachsen und den später klar umgrenzten Gebieten der einzelnen fis.66 Die Weidegemeinschaften stehen laut Ka- ser am Anfang der so genannten ›Stammesgesellschaften‹. In der Zeit zwischen dem Zerfall des serbischen Reiches und dem Aufbau einer osmanischen Verwaltung, das heißt zwischen der zweiten Hälfte des vierzehnten und des fünfzehnten Jahrhunderts, gab es eine hundert- jährige Periode, in der es so gut wie keine übergeordnete Gewalt oder Verwaltung gab. In dieser Zeit wurde die Weidegemeinschaft zur hauptsächlichen soziale Ordnung, zur einzig beständigen Form sozia- ler Organisation. Sie bildete den ›Kristallisationskern für das Entste- hen der Stammesgesellschaften‹.67 Der katun stellte über seine Territo- rialisierung und dauerhafte Organisationsform die Grundlage für die Entstehung der fis und seine spätere herausragende Bedeutung dar. Heutzutage wird das Wort katun mit ›Dorf‹ übersetzt. Die Grundeinheit der territorialen Dimension war das Haus (Abb. 12), was im nordalbanischen Dialekt mit shpi und in der heutigen Schriftspra- che mit shtëpi bezeichnet wird. Schon über die Etymologie des Wortes kann man vermuten, dass die Bedeutung des Hauses weit über dessen Ei-

65 Kaser, K. 1992: 36-37. 66 Kaser, K. 1992: 109-110. 67 Kaser, K. 1992: 144-145; 1995: 423; siehe zu katun auch Baxhaku/Kaser, K. 1996: 14-15; Durham 1979 [1928]: 17; Pulaha 1977: 178. 151 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

genschaft als Behausung hinaus- geht. Sollte sich das Wort aus dem Lateinischen ableiten las- sen, bemerkt Doja, dann wäre eine Rückführung auf das latei- nische ›hospitium‹ vorstellbar, was ein Beleg für weiter gehende soziale Beziehung über einen impliziten Verweis zur Gast- Abb. 12: Territoriale Dimension der freundschaft, einem zentralen segmentären Organisation der Thema im nordalbanischen Ge- nordalbanischen Gesellschaft wohnheitsrecht, darstellt.68 Der Kernhaushalt zählte durch- schnittlich fünf Personen, deren Beziehung sich über eine patrilineare Verwandtschaft erklärt. Nach dem Kanuni i Lekë Dukagjinit spricht man von einem Haus, wenn ›es einen Herdstein hat‹ und ›Rauch ab- lässt‹.69 In das Haus durfte kein Fremder kommen, ohne vom Hof aus mit lauter Stimme auf sich aufmerksam gemacht zu haben: »Rufe – und wenn dir niemand antwortet, bleibe und warte, oder gehe fort an deine Ar- beit.«70 Zahlreich sind die Regeln und Strafen bei Nichtbeachtung, die Gjeçov im Zusammenhang mit dem Haus aufführt. Bemerkenswert in Gjeçovs Auflistungen ist, dass alle Vergehen im Sinne des Kanuns, das heißt unerlaubtes Öffnen der Haustüre, widerrechtliches Betreten der zum Haus gehörenden Ländereien, Diebstahl von Vieh, Bienenkörben oder des Milchreservoirs, pauschal durch eine Zahlung von fünfhundert Groschen (grosh) abgegolten werden musste: »Wer jemandem das Haus erbricht, hat 500 Groschen Buße zu zahlen an den Stamm für geraubte Ehre; für gestohlene Gegenstände dem Herrn [des Hauses] das Zwei für Eins.«71 Die Begriffe shtëpi und familje werden üblicherweise synonym ver- wendet. Das Haus im Sinne einer territorialen Dimension wird dann bedeutungsvoll, wenn man von seiner numerischen Größe und wirt-

68 Doja 1999a: 43; Illia 1993: 78-79. 69 Gjeçov 1989 [1933]: 59, §§ 132-133; Godin 1954: 8. 70 Gjeçov 1989 [1933]: 59, § 135; deutsche Übersetzung Godin 1954: 8. 71 Gjeçov 1989 [1933]: 59, §§ 136-142; Godin 1954: 8. 152 Die territoriale Dimension der nordalbanischen Gesellschaft schaftlichen Bedeutung spricht. Je nach Größe des Hauses gab es wei- tere unterschiedliche Bezeichnungen, die an Stelle von shpi oder shtëpi verwendet wurden. Sehr kleine Hausgemeinschaften nannte man zjarr (Feuer) oder tym (Rauch, Feuerstelle), besonders große Hausge- meinschaften bezeichnete man als shtëpi e fortë (starkes Haus) bezie- hungsweise derë e madhe (große Tür).72 Andere Bezeichnungen, die Rückschlüsse auf die regionale Bedeutung des Hauses geben, waren shtëpi të vjetra (alteingesessen, wörtlich ›altes Haus‹), shtëpi të reja (neu hinzugezogen, ›neues Haus‹), shtëpi me emër (ökonomisch stark, ›Haus mit Namen‹), shtëpi pa emër (ökonomisch schwach, ›Haus ohne Namen‹), shtëpi e parë (vorstehendes Haus, ›erstes Haus‹ – manchmal auch derë e parë, ›erste Tür‹ genannt), shtëpi e mirë (mora- lisch hoch angesehen, ›gutes Haus‹) oder shtëpi e keqe (moralisch we- niger gut angesehen, ›schlechtes Haus‹).73 Mehrere Häuser zusammen bildeten ein Dorfviertel. Dies wird më- hallë (aus dem Arabischen, es bedeutet ›Militärlager‹74) und heutzuta- ge lagje genannt. Die Dorfviertel sind häufig abgelegene Häuser- gruppen, die auf Deutsch mit ›Weiler‹ sicherlich treffender bezeichnet werden können. Das Dorf, bestehend aus räumlich voneinander getrennten Weilern, wird als katun oder fshat bezeichnet. Es konnte eine kompakt stehen- de Gruppe von Häusern sein, die von ihrem Weideland umgeben wa- ren. Üblicher waren isolierte Weiler mit ihren jeweiligen Ländereien. Das Dorf hatte eine Art von zentralem Ort, sei es eine Kirche oder Moschee, möglicherweise nur einen ebenen Platz neben einem gro- ßen, Schatten spendenden Baum. Dorf trafen sich die Dorfältesten.75 Das albanische Dorf unter der osmanischen Herrschaft war eine eige- ne, selbst verwaltete Einheit im Feudalsystem. Es hatte feste Grenzen und bildete ein ökonomisches und kulturelles Ganzes. Es war kollek- tiv verantwortlich für die Ruhe innerhalb der Dorfgrenzen und muss- te an die osmanischen Herrscher Steuern abführen. Nach innen

72 Kaser, K. 1992: 234; Daniel 1989: 54; Doja 1999a: 37. 73 Luarasi 2001: 27, 44; Meçi 1995: 38; 2002: 37-39. 74 Coon 1950: 22; Durham 1994 [1909]: 22; siehe Kaser, K. 1995: 197; Ulqini 1991: 38; Urban 1938: 38, 103. 75 Coon 1950: 30. 153 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

Abb. 13: ›Übersicht der Gliederung der albanischen Stämme (Bajraks, Fah- nen) im vormals k.u.k. Besatzungsgebiet, Albanien 1918‹ organisierte sich das Dorf jedoch selbst. Der hauptsächliche Träger der Selbstverwaltung war die Dorfversammlung (kuvendi i fshatit). An dieser Versammlung nahmen entweder alle Männer des Dorfes teil, oder nur eine männliche Person pro Haushalt wurde geschickt.

154 Die territoriale Dimension der nordalbanischen Gesellschaft

Dies war in der Regel der Hausvorstand. Die Versammlung bestimm- te den Dorfvorsteher (kryeplak), zu dessen Aufgaben das Einsammeln der Steuern, die Sorge um die Gemeindewiese und die Wasserversor- gung gehörte.76 Bajrak kann mit ›Banner‹ oder ›Fahnenbezirk‹ übersetzt werden (Abb. 13). Dieser türkische Begriff ist im Sprachgebrauch üblicher als das von Gjeçov im Kanuni i Lekë Dukagjinit benutzte albanische Wort flamur mit gleicher Bedeutung. Die zeitgenössischen Ethnogra- phen und Reisenden taten sich schwer mit der Definition des bajrak, vor allem in der Abgrenzung zum fis. Zeitweise wurde angenommen, dassessichbeibajrak um eine verwandtschaftliche Kategorie handele, die auch mit ›Tribus‹ übersetzt werden könne. Der Tribus solle sich wiederum in einzelne fis unterteilt haben. So gesehen wurde bajrak als eine Einheit über dem fis gesehen.77 Häufiger sind die Stimmen, die zwar einen Unterschied zwischen bajrak und fis bemerkten, diesen je- doch nicht bestimmten, weil man die unterscheidenden Kriterien noch nicht genau umreißen konnte. Hier wurde bemerkt, dass ein bajrak manchmal mehrere fis beinhaltete, manchmal aber nur einen.78 Doch schon früh gab es Überlegungen von Steinmetz, die die Bezie- hung zwischen den beiden Worten klar beschrieben. Der bajrak ist demnach nicht als eine Unterabteilung des fis zu verstehen, die Ver- bindung sei, so Steinmetz, zufälliger Natur. Der fis sei ein Komplex von Familien, der sich auf einen gemeinsamen Ahnen berufe. Die Grundlage des fis sei auf einer verwandtschaftlichen Ebene zu suchen. Der bajrak hingegen sei eine Gemeinschaft von Familien, die auf dem gleichen Gebiet wohnten. Hier sei das bestimmende Kriterium das Territorium.79 Dabei war die Flagge oder das Banner ursprünglich ein Symbol für verwandtschaftliche Verbindungen. Früher gab es die pece (was heutzutage Staub- oder Wischtuch bedeutet) und die Krieger des fis »portait comme emblème une main aux cinq doigts ouverts. Elle symbolisait la main de l’ancêtre premier de tout le fis était hissée sur 76 Pupovci 1972b: LVII; Kaser, K. 1992: 188. 77 Thallóczy 1916: 411-412. 78 Kaser, K. 1992: 167; Nopcsa 1996 [Ms. 1923]: 210. 79 Steinmetz 1904: 40; siehe auch Coon 1950: 30; Durham 1979 [1928]: 16; Hahn 1954: 175; Ivanova 1960: 117; Meçi 1995: 78-80; Seiner 1922: 5; Ulqini 1991: 81-106; Aufzählungen von fis und bajrak siehe Durham 1979 [1928]: 18-30. 155 Die Rahmenbedingungen des Kanuns une hampe. Elle n’était pas rattachée d’un côté, comme les drapeaux actuellement, mais elle était mise sur la hampe sous forme d’ombrelle. Là où était implantée cette pece […], portant la main du premier ancê- tre, le site devenait une propriété commune.«80 Welchen Ursprung hatte der bajrak, fragt sich Kaser und schreibt, dass die türkische Verwaltung wahrscheinlich den Versuch unter- nommen hat, über die Einführung einer territorial-politischen Orga- nisation, verbunden mit dem würdevollen Amt des i pari i fisit, die Stämme unter Kontrolle zu bringen.81 In diese Richtung argumentiert auch Kahreman Ulqini (1977). Der bajrak ist Ende des siebzehnten Jahrhunderts von der Hohen Pforte in den Sandschaks von Shkodra und Dukagjin geschaffen worden und damit den Regierenden einfa- cher zu ermöglichen, Kontrolle auszuüben. Im Zentrum des Interes- ses haben besonders der Wehrdienst und die Steuer gestanden. Damit installierten die Osmanen ein speziell für Nordalbanien erdachtes System, denn die Einrichtung von Timaren, wie in weiten Teilen des Landes, war hier nicht von Erfolg gekrönt.82 Der bajrak ist als eine Art Kompromiss zwischen den relativ auto- nomen Stämmen und den türkischen Machthabern zu sehen. Auf der einen Seite konnte ein Minimum an osmanischer Kontrolle — und da- mit verbunden das Eintreiben von Steuern und die Wehrpflicht — er- reicht werden. Innerhalb des bajrak jedoch wurde die Aufrecht- erhaltung einer auf dem Gewohnheitsrecht beruhenden Selbstverwal- tung ermöglicht.83 Eines der ursprünglichen Ziele der Osmanen war eine Entmachtung von großen und machtvollen fis, sie erreichten je- doch das genaue Gegenteil. Die Bevölkerung übernahm und inkorpo- rierte die neu geschaffene Verwaltungseinheit. Diese ergänzte sich mit bestehenden fis-Ordnungen und festigte die Selbstverwaltung um so mehr.84

80 Ulqini 1977: 202. 81 Kaser, K. 1992: 167. 82 Das Timarsystem beruhte auf Land, das vielen zivilen und militärischen Amtsin- habern anstelle von Gehalt übertragen wurde. Die osmanischen Machthaber ge- währten jedoch nur Nutzungsrechte, nicht den Besitz des Landes. Üblicherweise wurde der Boden an Bauern verpachtet, und die Timarinhaber lebten von der Pacht. 83 Ulqini 1986: 229; Pupovci 1972b: LXVI. 156 Die territoriale Dimension der nordalbanischen Gesellschaft

Bajraktari është lula e bajrakut. —Derbajraktar ist die Blume des Banners.85 Der bajraktar, der Träger der Flagge, war der militärische Oberbefehlshaber des Banners bajrak und führte die mit Letzterem verbundenen fis in die Kriege der Osmanen. Der bajraktar war der Vertreter des bajrak nach außen, berief die allgemeine Versammlung (kuvend) ein, dessen Vorsitz er auch innehatte, und er war der oberste militärische Befehlshaber.86 Die bajraktar wurden aus den Vorständen der fis bestimmt. Die Auswahlkriterien ergaben sich aus der ökonomi- schen Position des fis (bukë — Brot) und seinem allgemeinen Ansehen (burrëri — Tapferkeit), ob er aus einem guten oder schlechten fis kam (fisi i mirë, fisi i keq). Weitere Kriterien waren, ob der fis groß war (fisi i fortë) — das heißt viele Häuser umfasst — und ob der fis schon lange am Ort ansässig war (fisi më i vjetër — der älteste fis).87 Die Autorität und die Macht des bajraktar erklärte sich damit nicht nur aus seiner individuellen Rolle sondern auch aus der ökonomischen Stärke seines fis und der persönlichen Führungskraft. Die Aufgaben des i pari i fisit waren die militärische und gerichtliche Verwaltung auf überregiona- ler Ebene, das Einsammeln der Steuern im Namen der Osmanen, das Vermitteln und Lösen von Konflikten, schließlich die Überwachung der durch den Ältestenrat getroffenen Entscheidungen.88 Die verwandtschaftliche Dimension In Abwesenheit von funktionierenden landesweiten osmanischen Verwaltungs- und Kontrollinstanzen und von einer starken Kirche oder Moschee war die Familie die wichtigste Größe und Basiseinheit der nordalbanischen Gesellschaft. Das Verwandtschaftssystem in Al- banien war durch zwei Eigenschaften charakterisiert. Zum einen be-

84 Pupovci 1972b: LXVI. Ich lasse an dieser Stelle die Verwaltungseinheit mal (Berg) aus. In einigen Regionen war sie die übergeordnete Einheit zum bajrak, in ande- ren gab es nicht den bajrak, dennoch aber den mal. Der mal wird regional vor al- lem mit der Region Dibra verbunden, die in die ›Neun Berge von Dibra‹ aufgeteilt war (Frashëri, K. 1977: 251; Ulqini 1995: 87-93). 85 Nopcsa 1996 [Ms. 1923]: 274. 86 Baxhaku/Kaser, K. 1996: 18; Hequard 1881: 365; Hasluck 1954: 115-129; Illia 1993: 120-121; Seiner 1922: 6. 87 Ulqini 1991: 54-56. 88 Ulqini 1991: 43-45. 157 Die Rahmenbedingungen des Kanuns stand es aus einem System von Patrilinearität und Patrilokalität und zum anderen wurde es durch eine Hierarchie im männlichen Teil der Familie von den Ältesten über die Jüngeren bestimmt.89 Die Familie war der schützende Rahmen für das Individuum, für den Reichtum der Familie, für die Ehre der Familie und des Einzelnen.90 Die Familie war in der segmentären Gesellschaft der Prototyp und gewissermaßen das Modell im Kleinen des segmentären Machtgefüges.91 Gjeçov schreibt: »Die Familie ist eine Gemeinschaft aus Gliedern, die unter einem Dache leben; eine Gemeinschaft, deren Zweck die Vermehrung der Menschheit durch Heirat war, die Entwicklung der Menschheit nach Körper und Geist.«92 Die Hausgemeinschaft war das eigentliche Zentrum des albanischen Lebens, nicht das Individuum. Solange der Mensch lebte, blieb er seiner Familie verpflichtet. Alles, was das Indi- viduum erwarb, gehörte der Familie, das heißt materielle Güter eben- so wie Ehre oder Schande.93 Die Familie wurde durch patrilineare Verwandtschaft, das ›Blut des Vaters‹, durch gemeinschaftliches Wirt- schaften und Haushalten, durch Arbeitsteilung und innere Hierarchie beziehungsweise durch Solidarität zwischen den Familienmitgliedern bestimmt.94 Die Familie war eine ökonomische Institution. Alle Ar- beiten mussten von allen Hausbewohnern gemacht werden. Dies war notwendig, damit sich das Haus selbst versorgen konnte. Es wurde nur in seltenen Fällen Hilfe von anderen benötigt.95 Die Familien leb- ten hauptsächlich von Ackerbau und Viehwirtschaft. Der Acker wur- de mit einem einfachen Holzpflug, besetzt mit einer Eisenspitze, bestellt. Der Ackerbau war nur in den Gebieten möglich, in denen es fruchtbaren Boden gab.96

89 Kaser, K. 1995: 9-10; siehe auch Black-Michaud 1975: 38. 90 Luarasi 2001: 29. 91 Abu-Lughod 1988 [1986]: 80. 92 Gjeçov 1989 [1933]: 13, § 18; Übersetzung aus Godin 1953: 16; zu Familie siehe auch Diefenbach 1880: 163-164; Hasluck 1954: 25-33; Meçi 1995: 38-39; 2002: 37-39. 93 Peinsipp 1985: 51. 94 Luarasi 2001: 15-18. 95 Coon 1950: 22. 96 Stadtmüller 1937/1938: 353; zur Wirtschaft siehe auch Kaser, M. 2001: 627-628; Schwanke 1969: 198-203; Shkurti 1997: 25-101. 158 Die verwandtschaftliche Dimension

Das männliche Familienoberhaupt (i zoti i shtëpisë) war gewöhnlich der Erstgeborene des Hauses oder der Älteste seiner Bruüder. Dies verstand sich nicht von selbst, denn das entsprechende Familienmit- glied musste ein gewisses Ansehen haben. Es musste Besonnenheit, Intelligenz und Reife auf sich vereinen können. Das Familienober- haupt stand den Hausversammlungen vor, verwaltete das Geld und überwachte die Ein- und Verkäufe. Sobald es jedoch um die Anschaf- fung oder Veräußerung von Vieh oder Land ging, vor allem wenn es das unbewegliche Gut der Familie betraf, konnte der Hausvorsteher nicht alleine bestimmen. Wie bei Entscheidungen im Zusammenhang mit Verlobungen oder Blutrache wurden solche Entschlüsse von allen Männern der Familie gefällt. Hier erkennt man, dass die eigentliche Macht des Hausherrn begrenzt war. Dieses zeigt sich auch in der Ver- tretung der Familie nach außen. Das Familienoberhaupt saß als Ver- treter der Familie in den Versammlung auf Dorf- oder fis-Ebene, jedoch bestand seine Funktion in der Rolle eines Repräsentanten, nicht des alleinigen Entscheidungsträger.97 Nach innen war die Orga- nisation der Familie völlig auf sich selbst ausgelegt. Die Kinder gingen ihren Eltern zur Hand, standen ihnen bei der täglichen Arbeit zur Sei- te und wuchsen so in ihre zukünftige Rolle hinein. Es gab eine beson- ders enge Beziehung zwischen dem Familienoberhaupt und seinen verheirateten Söhnen. Letztere verließen ihren Vater nur nach dessen Tod.98 Es ist nicht einfach, die Rolle der Frau in der nordalbanischen Fami- lie zu beschreiben. Oberflächliche Darstellungen geben häufig ein un- differenziertes Bild der sich in einer nachteiligen sozialen Position befindlichen Frau. Die männliche Domination wird als mächtiger dar- gestellt, als sie tatsächlich war. Lucy Garnett (1893) ist eine der weni- gen Autorinnen, die ein positives Bild der Stellung der nordal- banischen Frau zeichnet: Ihrer Ansicht nach wurde Frauen großer Re- spekt entgegengebracht, man schloss sie stets in private und öffentli- che Angelegenheiten der Männer ein. Ihre Stellung zum Mann

97 Amery 1948: 7; Doja 1999a: 37; Gjeçov 1989 [1933]: 14-16, §§ 20-23; Hasluck 1954: 34-41; Luarasi 2001: 46-49; Meçi 1995: 39-40; 2002: 39-41; Mihacevic 1913: 13; Wheeler 1998: 9. 98 Doja 1999a: 37. 159 Die Rahmenbedingungen des Kanuns bestand in einem ausgeglichenen Verhältnis.99 Üblicher ist die Darstel- lung der Frau in einer niederen Position, wie sie Bernatzik mit einer Anekdote in dem mit ›Echt albanische Geschichten‹ überschriebenen Kapitel suggeriert und welche in ähnlicher Form in vielen Berichten über Albanien zu lesen ist. Ein Ehepaar reiste in ein anderes Dorf, in- dem der Mann auf dem Esel ritt und die Frau mit Gepäck beladen hin- terherlief. Bei Hugo A. Bernatzik (1940) ist es der Ich-Erzähler, der dem Albaner großzügig sein Maultier anbot, damit die Frau nicht so schwer zu tragen hatte, woraufhin sich der Albaner nach kurzem Überlegen selbst auf das Maultier setzte, die Frau jedoch ihre schwere Last weiter zu tragen hatte. Peinsipp schreibt dazu, »der Shkypetar begründet es damit, daß ein Mann, der sich in Blutfehde befinde, be- weglich zu sein und Rücken und Hände frei haben müsse. Aus der Not wurde eine Tugend, der Mann blieb beweglich, auch wenn er kei- nen Rächer zu fürchten habe.«100 Kaser beschreibt die starke Kontrolle von Männern über die Frauen, die durch ›direkte und indirekt-symbolische Unterwerfungsriten‹ aufrechterhalten würde. Beispielsweise habe die Frau in der Öffent- lichkeit nicht auf gleicher Höhe mit ihrem Mann gehen können, son- dern sich stets einige Schritte hinter ihm aufhalten müssen. Kaser erwähnt ebenfalls die Anekdote von dem Maultier, das hier ein Esel ist: Die Frauen »mußten alle Lasten tragen; wenn die Familie nur über einen einzigen Esel verfügte, benützte ihn der Mann, die ging zu Fuß und mußte zusätzlich die Lasten schleppen.«101 (In diesem Zusam- menhang muss man sich allerdings fragen, ob jene Anekdote um den halben (Maultier) oder ganzen Esel, der sich in vielen Darstellungen über Albanien findet, nicht eher die vorgefasste westeuropäische Mei- nungen über albanische Frauen als ihre wirkliche Position in der tradi- tionellen Gesellschaftsstruktur darstellt.) Kaser sieht die Kontrolle über die Frau als eine gesellschaftlich gegebene Praxis. Der Mann habe seine Stärke unter anderem dadurch unter Beweis gestellt, dass er seine Frau kontrollierte. Mangelnde Kontrolle sei ein Zeichen von Schwä- che, die dem Ruf des Mannes nicht förderlich gewesen wäre.102

99 Garnett 1893: 221. 100 Peinsipp 1985: 86; Bernatzik 1940 [1930]: 95. 101 Kaser, K. 1992: 280. 160 Die verwandtschaftliche Dimension

Andere Stimmen sehen die Position der Frau etwas differenzierter. Carleton Coon (1950) konstatiert die strikte geschlechtspezifische Trennung der Arbeit zwischen Männern und Frauen. Ihre Tätigkeiten ergänzten sich, und ein Haus nur mit Witwen oder unverheirateten Frauen wäre sozial genauso unvorstellbar wie ein nur von Männern geführter Haushalt. Die Familie müsste ein ausbalanciertes Ganzes bilden.103 Das weibliche Gegenstück des männlichen Familienoberhauptes war die e zonja e shtëpisë. Sie war üblicherweise die Frau des Haus- herrn. In der tatsächlich vorhandenen männlichen Dominanz des Hauses hatte das weibliche Familienoberhaupt, ebenso wie deren Mann, ein größeres Ansehen in der Familie, war jedoch dem Haus- herrn untergeordnet. Sie sorgte sich um alle Tätigkeiten innerhalb des Hauses wie Sauberkeit, Hauswirtschaft oder Mahlzeiten. Wie der Hausvorsteher besorgte sie dies nicht alleine, beide delegierten und überwachten vielmehr ihre entsprechenden familiären Helfer.104 Auf eine nordalbanische Besonderheit in Zusammenhang mit der Stellung der Frau soll hier kurz verwiesen werden. Frauen konnten unter bestimmten Bedingungen ihr (soziales) Geschlecht wechseln und wurden auf diese Weise zu den so genannten ›albanischen Jung- frauen‹ oder ›Mannfrauen‹ (vajza e betuar, ›vereidigtes Mädchen‹). Dies konnte auf zweierlei Art geschehen. Erstens konnte eine Frau eine arrangierte Hochzeit ablehnen. Die arrangierte Heirat konnte ohne Gesichtsverlust für die betroffenen Familien von der verspro- chenen Frau aufgekündigt werden, wenn die Frau vor der Versamm- lung der Ältesten beständige Keuschheit schwor. So wurde ihr nicht nur der Ausstieg aus den Heiratsversprechen ermöglicht, auch eine Blutrache wegen Entehrung zwischen ihrer Familie und derjenigen ihres Verlobten wurde abgewendet. Es war jedoch notwendig, dass sie sich als Mann kleidete und sich auch so verhielt, das heißt, dass sie im gesellschaftlichen Sinne zu einem Mann wurde. Sie durfte nun eine

102 Kaser, K. 1992: 281. 103 Coon 1950: 22. 104 Durham 1994 [1909]: 35-38; Elezi 2000a; Gjeçov 1989 [1933]: 16, § 23; Hasluck 1954: 26-28; Luarasi 2001: 54-56; Meçi 1995: 40-44; 2002: 40-41; Mihacevic 1913: 13; Nova 1972; Whitaker 1981. 161 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

Waffe tragen und arbeitete auf dem Feld wie der Mann.105 An- tonia Young (2000) stellt aber während ihrer Feldforschung im postsozialistischen Alba- nien fest, dass die aktuellen Mannfrauen nicht auf Grund von nicht eingegangenen Hei- raten in diese Position gekom- Abb. 14: Verwandtschaftliche men sind, sondern aus dem Dimension der segmentären Organisa- zweiten Grund:106 Eine Frau tion der nordalbanischen Gesellschaft konnte die Rolle einer Mann- frau über eine bestimmte Zeit- spanne lang annehmen und zwar in dem Fall, in dem es nach dem Tod des männlichen Familienoberhauptes keinen adäquaten Nachfolger gab. Auch hier schlüpfte die Frau, allerdings zeitlich begrenzt, in die Kleidung und soziale Rolle eines Mannes.107 Der Bedarf an einem Sohn konnte die Familie dazu bringen, schon bei der Geburt eines Mäd- chens dieses als Sohn zu deklarieren.108 Wenn eine Hausgemeinschaft zu komplex geworden war oder es unüberbrückbare Differenzen zwischen den Brüdern im Haus gab, kam es zum Auszug eines Teiles der Familie aus dem Stammhaus (Abb. 14). Christian Sigrist (1967) nennt dies die Abspaltung von einer kontinuierlichen Abstammungsgruppe. Der neue Hausstand wurde neben dem Stammhaus gegründet, innerhalb desselben Weilers, damit weiterhin so weit wie möglich dieselben Ländereien gemeinsam ge- nutzt werden konnten. Der Gründer des neuen Gehöfts ließ sich da- mit innerhalb des Territoriums seiner kontinuierlichen Abstam- mungsgruppe nieder.109 Das Stammhaus und sein ›Ableger‹ bildeten

105 Becker 1880: 34-35; Coon 1950: 24; Durham 1994 [1909]: 36, 38, 80, 85, 101; de Rapper 2000; Newman 1936; zur albanische ›Nonne‹: 57; Kaser, K. 1995: 375-383. 106 Young 2001 [2000]: 60-61. 107 Coon 1950: 24; Peinsipp 1985: 99-100. 108 Young erwähnt noch eine weitere Form der ›albanischen Jungfrau‹, die so ge- nannte morgeshë oder morga. Sie war mit einer Nonne vergleichbar. In den alten katholischen fis war sie Assistentin von Priestern, immer in Schwarz gekleidet. Sie wohnte in ihrem Elternhaus (Young 2001 [2000]: 61). 162 Die verwandtschaftliche Dimension zusammen eine vllazni (oder vëllazëri — Bruderschaft), und das Oberhaupt des Stammhauses stand dann auch der vllazni vor.110 Wirt- schaftliche, gesellschaftliche und die Sicherheit betreffende Gründe sprachen für das Beisammenbleiben der verwandten Familien. Eine große familiäre Gemeinschaft bedeutete hohes Ansehen. Die zahlrei- chen Arbeitskräfte und die damit verbundene bessere Arbeitsteilung und -organisation ermöglichten weit reichende Autarkie. Letztlich bedeuteten auch viele männliche Nachkommen einen besseren Schutz der gesamten Familie.111 Der vllazni, die einen Weiler beziehungswei- se ein Viertel des Dorfes bewohnte, stand der i pari i mëhallës (der Ers- te des Viertels) vor.112 Auf Grund von steten Teilungen als Folge der Vergrößerungen oder von Konflikten war die verwandtschaftliche Ebene der vllazni eine recht dynamische Einheit. Gerade im Vergleich zu den höheren Ebe- nen, wie beispielsweise den fis, erscheint die vllazni weniger statisch. Die Bruderschaften waren überschaubar und selbständig, traten als sozial deutlich umrissene Gruppe auch politisch geschlossen in Er- scheinung. Sogar unterschiedliche Konfessionen innerhalb eines fis konnten innerhalb der entfernt lebenden verwandtschaftlichen Bru- derschaften vorkommen.113 Bestimmte räumlich getrennt lebende Gruppen beriefen sich auf eine gemeinsame Herkunft. Dieser einigende Urahne verband sie zu einem fis. Die einzelnen Gruppen wurden këmbë (Bein, Pfosten) des fis genannt. Sie setzten sich aus Bruderschaften zusammen. Die Ab- stammungsgruppe këmbë bewohnte gewöhnlicherweise ein bestimm- tes Gebiet nicht alleine, sondern teilte es sich mit Abstammungs- gruppen, die von anderen fis stammen. Die stärkste Gruppe in einer solchen Region wurde pushtues (Eroberer) genannt. Diese dominier- ten die Gegend und damit auch jene Gruppen, die bereits ansässig wa- ren, als die ›Eroberer‹ kamen. Anas, ›die von nebenan‹, existierten noch als deutlich umgrenzte Einheit, hatten aber nicht mehr die

109 Sigrist 1967: 36. 110 Hasluck 1954: 51-72; Kaser, K. 1992: 187, 240; Peinsipp 1985: 59. 111 Georgescu 1963: 79; Durham 1979 [1928]: 16; Peinsipp 1985: 53. 112 Nopcsa 1996 [Ms.1923]: 279. 113 Doja 1999a: 41. 163 Die Rahmenbedingungen des Kanuns stärkste Position in ihrem angestammten Gebiet. Die neu Dazuge- kommenen wurden të ardhur genannt. Das Oberhaupt dieser meist kleinen Gruppe kam mit Teilen des fis aus einer anderen Region. Diese Gruppen waren klein, aber verwandtschaftlich eng verbunden und konnten möglicherweise einmal zu den pushtues werden.114 Die wichtigste übergeordnete soziale Einheit war der fis. Der fis war eine große patrilineare Verwandtschaftsgruppe, die sich aus ›Füßen‹, Bruderschaften und Familien zusammensetzte. Der fis entwickelte sich aus den bereits erwähnten Weidegemeinschaften. Kaser betont, dass nur ein kleiner Teil der fis ursprünglich verwandtschaftlich ge- schlossene Gruppen waren. Weitaus häufiger waren es Zusammen- schlüsse von Gruppen ohne einen gemeinsamen Ahnen, die durch Wanderbewegungen ›zusammengespült‹ wurden.115 Die Verwandt- schaft des fis war durch eine strikte Exogamie gekennzeichnet. Die Mitglieder des fis, der oft mit ›Stamm‹ oder ›tribe‹ übersetzt wurde, beriefen sich auf einen oder mehrere, oftmals mythische Ahnen.116 Der fis war zwar hauptsächlich eine patrilineare Abstammungsgruppe, je- doch ferner ein rechtlicher Verband. Er wurde mit einem bestimmten Territorium verbunden.117 Die soziale Ordnung innerhalb des fis wur- de von den i pari – den Ersten – im gewissen Sinne ›der obersten Schicht‹ des fis überwacht. Diese bestand aus dem Oberhaupt des fis (i pari i fisit, der Erste des fis), dem Ältesten (plak), den Häuptern der äl- testen und angesehensten Familien, schließlich den Vorstehern der so genannten ›Jugendscharen‹ (djelmeni). Dies war das ›bewaffnete Corps‹ der Verwandtschaftslinie.118 Jedes Haus trat nur einen wehrfä-

114 Baxhaku/Kaser, K. 1996: 22; Daniel 1989: 52; Doja 1999a: 39; Durham 1979 [1928]: 20; Zojzi 1977: 188. Der Begriff këmbë wird vorwiegend im Dukagjin be- nutzt. In der Malësia e Madhë ist es vëllazëri të mëdha (große Bruderschaft), in der südlicheren Labëria çetë (Daniel 1989: 52). Zu regional unterschiedlichen Be- griffen siehe Zojzi (1977: 198-199). 115 Kaser, K. 1992: 146; Buda 1977: 35; siehe auch Doja 1999a: 39; zitiert nach Çabej 1996: 194. 116 Durham 1994 [1909]: 21; Kaser, K. 1995: 205-208. 117 Baxhaku/Kaser, K. 1996: 12-13; Coon 1950: 28-29; Durham 1979 [1928]: 15-16; Geogescu 1963: 77; Illia 1993: 20-21; Ivanova 1960: 116; Kaser, K. 1995: 233-239; Lejean 1861: 17; Meçi 1995: 37-38; 2002: 35-37; Mihacevic 1913: 11; Nopcsa 1912: 248-253; Pupovci 1972b: LIV-LVII; Steinmetz 1905: 39. 118 Georgescu 1963: 77-78. 164 Die verwandtschaftliche Dimension

Abb. 15: ›Stammbaumfragment aus Nikaj‹

higen Mann an die djelmeni ab, auch, wenn mehrere geeignete Männer vorhanden waren.119 Die Position des i pari i fisit (auch kreu i fisit ge- nannt) war erblich. Das Oberhaupt des fis stand mit den anderen ›Ers- ten‹ gemeinsam an der Spitze. Es konnte Versammlungen einberufen, sich mit anderen fis verbünden, in Streitfällen schlichten, Strafgelder bestimmen oder einen Bann aussprechen. Doch auch er hatte keine uneingeschränkte Macht, sondern war gewissermaßen das gesell- schaftliche Ausführungsorgan. Der Kanun ließ ihm nur wenig Spiel- raum. Das Oberhaupt des fis war bei Vergehen gegen die Regeln genauso zur Verantwortung zu ziehen wie das gemeine fis-Mitglied. Die Ältesten übten hier zusammen eine Kontrollfunktion aus.120

119 Doja 1999a: 43-44. 120 Gjeçov 1989 [1933]: 204-206, §§ 1146-1160; Ulqini 1991: 39. 165 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

Die oft mythische Konstruktion des Urahnen wurde über bemer- kenswert umfassende Aufzählungen von Vorfahren begründet. In ei- nigen fis fand man Ursprungsmythen, die den Ahnen beschrieben. Auch über kollektive Feiern wurde auf den Urahnen verwiesen und der Zusammenhalt gestärkt.121 Die Wichtigkeit der Rückführung auf einen Urahnen und damit der Positionierung sah man an der Art, wie sich die Nordalbaner nannten (Abb. 15). Jeder Name beinhaltete neben dem persönlichen Namen je- nen des Vaters, des Großvaters und des Urgroßvaters, beispielsweise Gjoka i Marka Llesh Ndeu Ndojt oder Prenga i Dod Llesh Per Mar Gjetës.122 Um sich jedoch in einer bestimmten Situation ›auszuweisen‹, den anwesenden Personen darzustellen, wer man war und zu wem man gehörte, wurde zunächst der eigene Name, gefolgt vom Namen des Hausherrn und schließlich der Name des Vorstandes der Bruder- schaft genannt. Letzteres wurde auch als Familienname genommen. Eine genaue Positionierung war gerade in Fällen der Blutrache von zentraler Bedeutung. Je nachdem ob die Personen zwei unterschiedli- chen Häusern, zwei Bruderschaften, zwei ›Füßen‹ des gleichen oder zwei unterschiedlichen fis angehörten, standen sich andere Gruppen in Konflikten gegenüber.123 Allerdings erkannte man nicht nur am Na- men der Person die Gruppenzugehörigkeit, die beste Unterscheidung der fis ließe sich vor 1944 auf der Basis ihrer Trachten durchführen.124 Die Bedeutung der streng patrilinear organisierten nordalbanischen fis und ihre deutliche Segmentierung fällt gerade dann ins Auge, wenn man sie mit der gesellschaftlichen Organisation Südalbaniens ver- gleicht. Dort wurden die Großfamilien farë (bestimmte Form: fara) genannt. Diese waren keine Sippen sondern Geschlechterverbände, die nicht sehr fest umrissen waren und lediglich drei bis vier Genera- tionen umfassten. Die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der farë waren nicht so eng wie bei den nördlichen fis. Man war sich seiner Verwandtschaft durchaus bewusst, konnte diese jedoch nur in selte- 121 Kaser, K. 1992: 28; 273-275; 1995: 211-226, 456; Beispiele für Sagen, die den Ur- sprung der fis beschreiben finden sich bei Hahn 1854: 183-192. 122 Doja 1999a: 42; Zojzi 1977: 195; siehe auch Kaser, K. 1995: 189-191; Nopcsa 1910: 73. 123 Doja 1999a: 45-46; 1999b: 238-245. 124 Boucart 1922: 274. 166 Die verwandtschaftliche Dimension nen Fällen auf einen gemeinsamen Urahnen zurückführen. Ferner lebten die farë nicht auf einem geschlossenen Territorium, es waren nur ›punktuell auftretende Komplexe‹, die auf Grund dieser geogra- phischen Zersplitterung selten gemeinsam auftraten und handelten.125 Die Verbindung zwischen der osmanischen Regierung und den fis beziehungsweise bajrak erfolgte über das am Ende des neunzehnten Jahrhunderts geschaffene Amt des bylykbashi. Dieses sollte die stär- kere Anbindung des i pari i fisit an die Regierung ermöglichen. Die by- lykbashi waren Muslime und wurden von den Osmanen berufen und bezahlt. In erster Linie gehörte zu ihren Aufgaben die Vertretung der Angelegenheiten des bajrak und sie waren die Überbringer von An- ordnungen des Paschas. Ihre Hauptaufgabe war jedoch im Krieg die Leitung der unorganisierten militärischen Gruppen aus ihrem Zustän- digkeitsgebiet. Das Amt des bylykbashi wurde im Laufe der Zeit erb- lich, er erlangte aber nie eine wirklich machtvolle Position. Der bylykbashi konnte nur mit Erlaubnis der bajrak in die Berge kommen. Auch als Vertreter der Bergbevölkerung bei der osmanischen Regie- rung hatte der bylykbashi kein ausgesprochen großes Gewicht.126 Eine zentrale Position sowohl auf fis-Ebene als auch innerhalb des Dorfes nahmen die Ältesten ein. Ein Ältester zu sein, bedeutete nicht, ein bezahltes Amt innezuhaben. Der Älteste wurde zwar bestimmt, dies war jedoch eher eine gesellschaftliche Auslese, die durch eine Art Wahl nur nochmal bestätigt wurde. Im Laufe der Zeit kristallisierten sich bestimmte Personen heraus, die auf Grund ihrer Lebenserfah- rung zu den Ältesten des fis gehörten, aber sich ebenso als gute Ratge- ber bewiesen hatten. Dabei war das Alter nicht das entscheidende Kriterium, aber die notwendige Erfahrung, die die gesellschaftliche Rolle eines plak verlangt, erlangte man gewöhnlicherweise erst in ei- nem reiferen Alter: »Il étail le maître des générations, savait beaucoup de choses vraies, gardait en lui des secrets et transmettait des recom-

125 Kaser, K. 1992: 203; 1995: 254. 126 Cyprien 1844, 2. Bd.: 122-123; Gyurkovics 1881: 25; Hahn 1854: 174; Hasluck 1954: 130-138; Hellwald/Beck 1878: 344; Kaser, K. 1992: 168; Pupovci 1972b: LXVII-III und FN 248; Ulqini 1991: 64-65. Aus den Quellen wird nicht ganz deutlich, ob der bylykbashi immer der Verbindungsmann zwischen dem bajrak und der osmanischen Verwaltung war oder ob der bylykbashi eine wichtigere Funktion innehatte. 167 Die Rahmenbedingungen des Kanuns mendations du passé. Son expérience valait beaucoup dans la vie quo- tidienne tant dans l’arrangement de la vie de famille que dans les rapports économico-sociaux.«127 Die Ältesten sollten weise sein und die Praktiken des Kanuns kennen. Im Kanuni i Lekë Dukagjinit gab es Älteste für Dorf, fis und besondere ›Älteste des Kanuns‹ (plaku i ka- nunit), denen das Recht zugesprochen wurde Recht zu sprechen. Krasztev, der die bereits erwähnte ideologische Komponente in Gje- çovs Text thematisierte, meint, Gjeçov hätte eine Elite in seinen Dar- stellungen der traditionellen Gesellschaft gebraucht, denn eine sich selbst regulierende Gemeinschaft ohne kontrollierenden Überbau wäre in den Augen Gjeçovs nicht möglich gewesen.128 Doch gerade im Vergleich zu der heutigen Position der Ältesten muss gefragt werden, ob das Bild des Richters, wie es bei Gjeçov evoziert wird, nicht in die falsche Richtung führt. Der Älteste war ein Vermittler, der versuchte, die ihm zugetragene Angelegenheit direkt zwischen den Konfliktpar- teien zu vermitteln, bevor der Streit eskalierte. Die Konsequenz einer gescheiterten Vermittlung war das Einberufen einer Dorfversamm- lung und die öffentliche Aussprache.129 Versammlungen als Bindeglied zwischen den fis Auf allen Ebenen der segmentären Organisation gab es Versammlun- gen, sei es spontane der Ältesten in einem Dorfviertel oder auf der Ebene der Bruderschaften zwecks Beratung einer Störung der öffent- lichen Ordnung. Beispielsweise gab es die Dorfversammlung (kuven- di i fshatit), die auch den Charakter eines Gerichts haben konnte. Dort wurden Fälle wie Diebstahl, Landkonflikt oder Wasserverteilung be- sprochen. Oder es gab das Treffen der Ältesten (pleqnija) auf Dorf- oder Weilerebene.130 Die wichtigste Versammlung, der kuvend, fand auf der Ebene des fis statt, das heißt es war eine Versammlung eines ganzen fis oder von mehreren fis eines bajrak.Derkuvend war nicht nur eine Beratungs- und Entscheidungsinstanz, seine Funktion war

127 Ulqini 1986: 234. 128 Krasztev 2000: 203. 129 Gjeçov 1989 [1933]: 188, §§ 991-1004; Boué 1840, 3. Bd.: 322; Becker 1880: 36; Müller, J. 1844: 43; Thalloczy 1916: 415. 130 Gibert 1914: 13-14; Nopcsa 1923: 278; Ulqini 1991: 244. 168 Versammlungen als Bindeglied zwischen den fis bedeutender, denn anlässlich des kuvend versammelten sich die durch Topographie und Verwandtschaft getrennten Segmente des fis.Der kuvend brach die Abgeschlossenheit der nordalbanischen Gesell- schaft auf und erlaubte das Austauschen von Meinungen über den üb- lichen sozialen Horizont hinaus. Argumente blieben nicht mehr allein in einem einzelnen Haus, einem Dorf oder einer Region.131 Die überre- gionalen Versammlungen fanden zwei Mal im Jahr statt, im Frühling vor St. Georg und im Herbst vor St. Michael. In den Regionen, in de- nen überwiegend Ackerbau betrieben und die Bevölkerung sesshaft wurde, war der Tag und der Ort der Treffen genau bestimmt, in Re- gionen mit saisonalen Wanderungen war nur der Ort der Volksver- sammlungen bekannt. Hier wurde gesagt: ›Der Berg versammle sich, wenn er mit seinen Herden zwischen den Alpen und da und dort an- gekommen ist.‹ Außerordentliche Versammlungen wurden durch ei- nen Boten (lajmtar) einberufen. Übliche Versammlungsorte waren Kirchhöfe, Plätze bei alten Ruinen oder andere prominente Orte einer Region (Abb. 16).132 Im kuvend saßen neben den Oberhäuptern der fis die Ältesten, die Vertreter der djelmnija und jener der nicht zur führenden Schicht ge- hörenden ›gemeinen Volksmenge‹ (voglija) und ebenfalls ein Mann pro Haus. Wenn ein Haus nicht vertreten war, sei es auch ein Ober- haupt eines fis, wurde dies mit einer Strafe belegt. In den alten Quellen wurden Strafen von zwei bis vier Schafen genannt. Die Familien, die aus Gründen der Blutrache normalerweise nicht aus dem Haus gehen konnten und sie in einer selbst auferlegten Gefangenschaft lebten (ngujim), da sie sich andernfalls der Sühne suchenden Gruppe expo- niert hätten, standen unter dem Schutz der besa. Sie durften einen Ver- treter zu der Versammlung schicken.133

131 Daniel 1989: 20. 132 Boué 1840, 3. Bd.: 322; Dumont, A. 1873: 284; Durham 1979 [1928]: 74; 1994 [1909]: 28, 120-121, 154; Georgescu 1963: 79; Gyurkovics 1881: 26; Illia 1993: 134-135; Hasluck 1954: 148-153; Hellwald/Beck 1878: 345; Hequard 1881: 367; Meçi 1995: 73-78; 2002: 83-88; Thallóczy 1916: 414; Ulqini 1986: 23. Eine Aufli- stung von Versammlungsorten des kuvend findet man bei Gjeçov (1989 [1933]: 200-202, § 1112); Hahn 1854: 175; Ulqini 1991: 47. 133 Ulqini 1986: 23; Zojzi 1977: 200. 169 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

Abb. 16: Ehemaliger Versammlungsplatz für kuvend am Fluss Fan i vogël in der Nähe von Orosh, Mirdita.

Am kuvend nahmen neben dem i pari i fisit die so genannten i pari (die Ersten), dass heißt alle Würdenträger (plak, vojvodë, gjobar), Oberhäupter (krye), Vorstände der Weiler (i pari i mahallës) und Hausvorstände (i zoti i shtëpisë) teil. Die führenden Personen des Ein- zugsgebietes des kuvend setzten sich in einem Kreis, umgeben von den anderen kuvend-Teilnehmern. Die Anwesenden legten ihre Waf- fen nicht ab, lediglich in Zeiten besonderer Spannung wurden die Waffen in einer nahe gelegene Kirche oder Moschee deponiert. Einer der anwesenden Würdenträger eröffnete die Versammlung und stellte den Grund des Treffens vor. Danach berieten die Vertreter und Ältes- ten der fis über den Fall. Kam es zu einer Entscheidung, wurde diese der anwesenden Bevölkerung mitgeteilt.134 Waren aber Entscheidun- gen von so großer Tragweite zu treffen, dass alle anwesenden Parteien betroffen waren, musste jeder Vertreter eines Hauses gehört wer-

134 Gyurkovics 1881: 26-27; Peinsipp 1985: 80-83; zu kuvendi i dheut siehe Ulqini 1991: 42-44. 170 Versammlungen als Bindeglied zwischen den fis den.135 Innerhalb des kuvend wurden keine Gesetze verhandelt, die Anwesenden beschäftigten sich vielmehr mit Fragen, die strafrechtli- cher Natur waren. Beispielsweise ging es um die Bestimmung von Strafen bei Viehdiebstahl, wie hoch die Bußen sein sollten. Dabei wur- de nur selten Geld eingetrieben, eher wurde das Strafgeld (gjobë)in Naturalien wie einer bestimmten Anzahl an Schafen bemessen. Die Strafen wurden von dem gjobar, dem Strafeintreiber, eingesammelt. Er wählte das Vieh aus, das beschlagnahmt werden sollte. Er war das Ausführungsorgan der Versammlung. Mit dem gjobar durfte nicht mehr über die Höhe der Strafe diskutiert werden, ansonsten konnte die Versammlung das Strafmaß erhöhen.136 Morde wurden in Versammlungen nicht verhandelt. Sie fielen ent- weder unter die Blutrache, in der die Versammlung nur vermittelnd eingreifen konnte, oder sie waren Angelegenheit der osmanischen Verwaltung.137 Sehr formal waren Gjeçov zufolge die Umgangsformen der Teilnehmer des kuvend. Wenn eine Person sprach, hatten alle zu schweigen, vor allem war eine allzu aggressive Redeweise verpönt. War es zu Beleidigungen gekommen oder wurde jemandem der Vor- wurf gemacht, ein Lügner zu sein, wurde dies sofort mit einer Strafe von fünfhundert grosh belegt. Bei einem Schusswechsel während der Versammlung wäre sogar die Höchststrafe angewendet worden: Das Haus des Schuldigen wurde niedergebrannt und der Übeltäter vor der Versammlung hingerichtet. Dieses Blutvergießen fiel auch nicht unter die Blutrache und zog keine weitere Konsequenzen im Sinne einer Antwort des fis des Schuldigen durch Sühnenahme nach sich.138 Die nordalbanische Gesellschaft nach dem Sozialismus Ein großes Problem der albanischen Gesellschaft in Zeiten der noch jungen Demokratie ist ein völliges Fehlen von demokratischen Ver- haltensmustern, auf die die Albaner hätten bauen können.139 In der ländlichen Bevölkerung hat der Demokratie-Begriff meist eine unter-

135 Gjeçov 1989 [1933]: 202, § 1120. 136 Gjeçov 1989 [1933]: 208, §§ 1171-1175; Seiner 1922: 6. 137 Hellwald/Beck 1878: 345-346; Hequard 1881: 367. 138 Gjeçov 1989 [1933]: 202, §§ 1118, 1122-1125. 139 Hoppe 1992: 610. 171 Die Rahmenbedingungen des Kanuns geordnete Bedeutung. Demokratie wird als eine Form von abstrakten politischem System gesehen, in dem Individuen Staatsposten erlan- gen, nur um daraus persönlichen Profit zu ziehen.140 Man verbindet Demokratie mit bestimmten Gebrauchsgegenständen (Auto, Handy, Computer, Satelliten-Fernsehen), einer bestimmten Form des Dis- kurses, mit Technologien und Praktiken, und nicht mit einem politi- schen Projekt, das unterschiedliche Meinung toleriert.141 In Albanien fehlt eine Toleranz unterschiedlicher politischer Positionen. Die Menschen sind es nicht gewohnt, sich am politischen Prozess zu betei- ligen und reagieren irritiert auf das Aufeinandertreffen heftiger Argu- mentationen in Parlament und Gemeindeversammlungen.142 Man baut kein Vertrauen zu dem demokratischen Staat auf, weil man ihn nicht versteht, genauso wie viele Vertreter ihre Rolle im Staat missverste- hen: Die Bürger und Politiker können sich mit der demokratischen Öffentlichkeit und Praxis nur bedingt identifizieren. In der Demokra- tie ist es erforderlich, dass das Individuum an der Öffentlichkeit parti- zipiert, doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Die Mehrheit der Bevölkerung hält sich zurück, andere versuchen auf Kosten der Allge- meinheit persönlichen Profit aus der Gesellschaft zu ziehen. Dieser mangelnde Respekt gegenüber demokratischen Prinzipien und die schwachen staatlichen Institutionen führen zu einem Klima von Freund- und Feindschaft, das das politische und soziale Leben be- stimmt.143 Ein weiteres Problem im heutigen Albanien besteht darin, dass man die Bedeutung des Staates an sich falsch einschätzt. Der sozialistische Staat strebte noch an, jede Form sozialer Interaktion zu kontrollieren und überwachen. Douglas Saltmarshe (2000, 2001) fasst die Erwartun- gen an die Demokratie in seinem Forschungsort Gura folgenderma- ßen zusammen: »›Democracy‹ was widely understood by what it was not. It was not to be dominated by the state. The notion evoked utopi- an notions of freedom. In practical terms it was being understood 140 Saltmarshe 2000: 335. 141 Mai 2001: 219. 142 Saltmarshe 2001: 39. 143 Kaser, K. Ms. [2002]: 1-2; zur politischen Lage und Entwicklung Albaniens siehe auch Deslondes 1995; Elsie 1995; Lawson/McGregor/Saltmarshe 2000; Nichol- son 1999; Saltmarshe 2000, 2001; de Waal 1997. 172 Die nordalbanische Gesellschaft nach dem Sozialismus more as a process with economic implications rather than as a partici- pative arrangement through which individuals, by the exercise of voi- ce and rights, could hold executives to account and influence policy.«144 Überbleibsel kollektivistischer Ideologien schrauben die Erwartun- gen an den Staat sehr hoch: Der Staat muss jedem Arbeit garantieren, Recht und Gesetz und eine funktionierende Verwaltung bieten.145 Doch die Privatisierungen nach 1991 führten gerade zu Arbeitsplatz- verlusten, und eine funktionierende demokratische Verwaltung kann sich nicht von heute auf morgen entwickeln, geschweige denn die völ- lige Neugestaltung von Verfassung und Gesetz. Dies entspricht auch nicht dem Bild des demokratischen Staates und führt zu dieser allge- meinen Frustration. Da man die Praktiken des Staates nicht durch- schaut und der Staat ihren Erwartungen nicht entspricht, ist das Verhältnis zur Idee des Staates zerrüttet. Es wird kaum noch ein Un- terschied zum sozialistischen Staatsapparat gesehen, der ebenfalls ein Klima der Angst erzeugt und versucht hatte, die Familienstrukturen aufzubrechen, wie es in der Demokratie weiter angestrebt wird. Die Machthaber in der Demokratie werden nicht als vom Volk gewählte Vertreter gesehen, sondern als eine externe Macht. Damit steht der de- mokratische Staat in den Augen vieler Nordalbaner in einer Reihe mit den Osmanen, Italienern und Sozialisten, alles fremde Mächte, die nicht Teil ihrer eigenen Welt sind.146 Nach Jahrzehnten der Restriktion und Bevormundung in der sozialistischen Zeit ist man gegenüber allen staatlichen Maßnahmen sehr misstrauisch geworden. Möglicherweise ist das Ideal der Autarkie, das auf der Selbstverwaltung der nordalba- nischen Bergregionen während der Jahrhunderte andauernden osma- nischen Herrschaft fußt, noch immer sehr präsent. Diese Tradition wird durch eine erst langsam voranschreitende infrastrukturelle Er- schließung der Gebirgsregionen gefördert.147 Doch auch die soziale Ausgrenzung der Nordalbaner trägt dazu bei, dass die Menschen in 144 Saltmarshe 2000: 334. Saltmarshe benutzt in seiner Monographie die Pseudonyme ›Gura‹ und ›Malaj‹ zur Anonymisierung zweier Dörfer in der Umgebung von Shkodra, in denen er geforscht hat. 145 Lawson/McGregor/Saltmarshe 2000: 1503. 146 Krasztev 2000: 11. 147 Gjuraj 2000: 108; Schwandner-Sievers 1996: 120. 173 Die Rahmenbedingungen des Kanuns den entlegenen Regionen des Landes sich immer mehr von Zentralal- banien und der dortigen Politik zurückziehen. Sie werden von den Menschen in der Hauptstadt als primitiv und rückständig bezeich- net.148 Ferner sind die Erwartungen an das Ausland, nachdem Alba- nien in der Anarchie von 1997 weitgehend lahm gelegt wurde, groß. Als die USA ihren Hoffnungen auf finanzielle Unterstützung nur we- nig entsprachen, richteten die Albaner ihre Wunschvorstellungen auf die Europäische Union,149 die auch keine ›blühenden Landschaften‹ in wenigen Jahren versprechen konnte. Die Situation der Medien änderte sich schlagartig nach dem Fall des Sozialismus im Jahre 1991, auch wenn eine wirklich plurale Medien- landschaft sich erst nach der großen wirtschaftlichen Krise und den darauf folgenden Unruhen im Jahre 1997 entwickelte. Bis 1992 wurde das albanische Telefonnetz nur wenig verbessert. Erst dann wurden neue Telefonleitungen in Tirana eingerichtet. 1990 zählte man noch fünf Telefonleitungen je tausend Einwohner.150 Im Jahr 1996 waren es insgesamt schon über 50.000 und vier Jahre später dreimal so viel. Be- merkenswert ist in Albanien vor allem das höchste Wachstum in der mobilen Kommunikation in der Region. Im Jahre 2000 waren es noch bescheidene 29.791 Abonnenten, doch schon ein Jahr später gab es 345.000 angemeldete Benutzer.151 Neben der immens stark steigenden Nachfrage nach Handys erlangen Internetcafés und das Nutzen von Internet und Email, vor allem in Tirana, eine große Bedeutung.152 Bedeutsam für die aktuelle Rolle des Kanuns waren besonders die juristischen Reformen nach 1991. Der Prozess der juristischen Neu- gestaltung zeigte von Beginn an Schwierigkeiten. Die Diskussionen um Gesetze blieben abstrakt, losgelöst von den sozialen, ökonomi- schen und politischen Bedingungen des Landes. Für viele Gesetze, beispielsweise die Regelungen bezüglich der Landverteilung nach dem Fall des Sozialismus, gab es keinen gesellschaftlichen Konsens,

148 Gjuraj 2000: 95. 149 de Waal 1997: 134. 150 Feilcke-Tiemann 2000; Hall 1994: 235; Hutchings 1993: 414-415. 151 Albanisches Ministerium für Telekommunikation, Tirana. 152 Esis-Report Information Society in the Countries of Central and Eastern Europe, January 2001 bzw. Basic facts & indicators update January 2001 (http://www.eu-esis.org/esis2basic/esis2basic.htm [27. Juli 2004]). 174 Die nordalbanische Gesellschaft nach dem Sozialismus sondern sie spiegelten lediglich die Vorstellungen einzelner Gruppie- rungen wider. Viele ausländische Experten, die bei der Konzeption der Verfassung mitgearbeitet haben, berücksichtigten nur wenig die juristische Tradition. Tonin Gjuraj (2000) kommt zu dem Schluss, dass der gesamte verfassungsgebende Prozess in Albanien gescheitert sei: »Constitution did not rely upon the rich value and the normative tradition of the Albanian society and as such it could not represent modernity. In most cases, the fact that most Albanians know and ap- ply the norms of the customary law better than they do either the rea- dy made or the imposed ›new‹ democracy laws, is ignored.«153 Der problematische legislative Prozess ist heute auch auf der lokalen Ebe- ne erkennbar. Entscheidungen der Verwaltung erscheinen den Dorf- bewohnern als nicht nachvollziehbar und nur von persönlichen Interessen geleitet. Dem offiziell gewählten Dorfvorstand wird nicht vertraut,154 man glaubt es gehe diesen Personen doch nur um die eigene Bereicherung auf Kosten der Kommune. Saltmarshe berichtet aus den zwei von ihm untersuchten Dörfern, dass Korruption neben Vetternwirtschaft eines der größten Probleme darstelle. Schon während der Dekollektivierung des Landes seit 1991 bevorzugten die damaligen Verantwortlichen bei der Landverteilung ihre Verwandten, loyale Parteimitglieder und andere Interessengrup- pen. Entscheidungen der Verantwortlichen werden auch über Gewal- tandrohung erzwungen, doch Korruption bleibt im öffentlichen Sektor das größte Problem. Wenn ein Vertreter einer Kommune mit ungefähr hundert US-Dollar an monatlichem Einkommen, so Salt- marshe, nach zwei Jahren im Amt ein Auto und eine Villa gekauft hat, wird man skeptisch. Den plötzlichen Reichtum sehen die Dorfbe- wohner und stellen bezüglich der Herkunft dieser Mittel Fragen. Be- sonders im Gesundheitswesen seien Zuwendungen erforderlich, damit eine Untersuchung ohne große Zeitverzögerung durchgeführt werden könne. Ein Arzt nimmt fünf Dollar, um eine Visite durchzu- führen, betont Saltmarshe. Eine Krankenschwester sei etwas günsti- ger, mit zwei Dollar pro Tag hat man ihre Aufmerksamkeit gesichert. Diese Zahlungen sind nichts Außergewöhnliches, es ist die alltägliche

153 Gjuraj 2000: 118. 154 Saltmarshe 2000: 332, 334. 175 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

Routine. Man zahlt, schreibt Saltmarshe weiter, damit die erwünschte Dienstleistung tatsächlich erbracht wird, manchmal erwartet man sich dazu noch eine bevorzugte Behandlung. Selbst wenn ein Bürger eine ihm zustehende Rente, Mutterschaftsgeld oder Schwerbehinderten- pension bei der zuständigen Verwaltung beantragt, erfordert dies Zahlungen von Schmiergeld. Je länger diese Situation andauert, desto schwieriger wird der Ausstieg aus der alltäglichen Korruption, aus Klientelismus und Unsicherheit zu beheben sein.155 Der Korruption begegnet man in Albanien täglich: Der größte Teil des Personenverkehrs zwischen den Städten wird über Kleinbusse (furgon) durchgeführt. Die Fahrt rechnet sich für den Fahrer vor al- lem, wenn das Fahrzeug gut gefüllt ist. Das führt häufig dazu, dass die Straßenpolizei die überfüllten furgon anhält und kontrolliert. Im Bus beginnen dann schnell die Diskussion, wieviel der Stop kosten wird, während der Fahrer dem Polizisten seine Papiere zeigt, in denen häu- fig Scheine stecken. Mal sind es fünfhundert, Mal eintausend Lek. Meist gibt es keine Probleme mit dem furgon, doch manchmal besteht der Polizist darauf, dass ein Stempel oder eine Unterschrift fehlt, und der Fahrer hat ›verstanden‹. Oder aber der Polizist wird konkreter und sagt, dass es doch heute besonders heiß sei und man unbedingt viel trinken müsse. Hier ist dann ein ›Trinkgeld‹ erforderlich. Manch- mal fragt der Polizist direkt: Hast du etwas für mich? Ohne weitere Andeutungen ist klar, dass der Beamte ein ›Trinkgeld‹ wünscht. Wäh- renddessen kommentieren die Reisenden im Bus die Szene. Der Staat funktioniere nur noch durch Schmiergeld. Es sei aber verständlich, denn die Polizisten verdienten recht wenig. Die Korruption wird auf diese Weise entschuldigt. Nach der Anarchie im Jahr 1997 ist Albanien in einer Phase des Übergangs, aber immer noch in einem Zustand des ›wild order‹, wie es Karl Kaser ausdrückt. Dies sei die Grundlage der politischen Kultur im Land. Gemeint sind damit drei Aspekte: die Schwäche der politi- schen und öffentlichen Institutionen, das Paradigma von Freund- und Feindschaft und die systematische Aneignung der demokratischen Öffentlichkeit durch die Bevölkerung und die staatlichen Eliten. Ka-

155 Lawson/McGregor/Saltmarshe 2000: 1503; Saltmarshe 2000: 333, 336; 2001: 155-156. 176 Die nordalbanische Gesellschaft nach dem Sozialismus ser nennt es ein kleptokratisches System. Und wenn man zu diesem ›wild order‹ noch die männliche Vorherrschaft in der albanischen Ge- sellschaft berücksichtige, könne man zu folgendem Schluss kommen: »Without wanting to archaize contemporary Albanian political cultu- re, it does resemble a paling echo of the Balkan patriarchy.«156 Die drei Elemente der ›wild order‹ haben ihre Wurzeln im Kanun und korre- spondierten mit seiner aktuellen Form.157 Demokratische Strukturen können ohne Sicherheit nicht bestehen. Angst vor Kriminalität blockiert das soziale Leben. Die Albaner vertrau- en eigentlich nur noch der eigenen Familie oder dem fis. Zu den staatli- chen Behörden hat man kein Vertrauen, sie können nicht für die öffentliche Sicherheit garantieren. Einige kriminelle Gruppierungen ar- beiten mit der Polizei und der Verwaltung zusammen, und Letztere macht ihre Arbeit oft nur, wenn man sie dafür bezahlt. Verschiedene die- ser Banden konnten sich in der Phase der Anarchie dauerhaft etablieren. Zunächst setzten sie ihre Dominanz mit Gewalt durch. Später, als sie zu gesellschaftlich etablierten Gruppen wurden, garantierten sie die ›Sicher- heit‹ der Betriebe und Geschäfte in ihrem Bezirk gegen hohe Schutzgel- der. Die Chefs übten auch eine quasi-gerichtliche Kontrolle aus und argumentierten nicht selten mit dem Kanun.158 Saltmarshe zählt fünf Re- geln einer Gang um den Bandenchef Zef aus Shkodra auf, die, wie er schreibt, angesichts der kriminellen und räuberischen Natur der Gruppe einen perversen und widersprüchlichen Charakter haben, denn die Gruppe beruft sich auf Ehre und Kanun, was sich nicht in Einklang mit Diebstahl und Gewalt bringen lässt: »1.) The individual must have besa and conduct himself properly (i.e. have a conscience). 2.) He must swear total obedience to Zef. 3.) He must not molest girls or rob in their locali- ty. 4.) To respect the state and not defy it any way. 5.) To observe Albani- an traditions (the Kanun).«159 Dass sich kriminelle Gruppen auf den Kanun berufen, ist auch einer der Gründe, warum man in der Hauptstadt denkt, der Kanun sei eigentlich nur eine gute Entschuldigung für Krimi-

156 Kaser, K. Ms. [2002]: 10. 157 Kaser, K. Ms. [2002]: 11. 158 Saltmarshe 2000: 139, 183; 2001: 191-192, 199; Schwandner-Sievers 1999: 141-142; 2001: 106-107. 159 Saltmarshe 2001: 196, Kursivierung im Original. 177 Die Rahmenbedingungen des Kanuns nelle, die ihren verbrecherischen Handlungen lediglich einen ideologi- schen Rahmen geben. Das Machtvakuum, das sich nach dem Fall des Sozialismus ergeben hat, wird häufig als zentrale Ursache für eine Reaktualisierung des Ka- nuns gehalten. In dieser ›laissez-faire‹-Situation,160 in der der Staat scheinbar nicht mehr die Zügel in der Hand hat, besinnt sich die nord- albanische Bergbevölkerung auf ihre alten Werte und Praktiken zu- rück und ordnet auf diese Weise das soziale Leben auf der Dorfebene. Die praktische und psychologische Stärke der fis und Bruderschaften hat es den Menschen ermöglicht, in Zeiten der Knappheit von Res- sourcen, des Zusammenbruchs des Sozialstaates und politische Insta- bilität zu überleben. In den Dörfern ist man sich darüber bewusst, dass die Regelungen des Kanuns nicht mehr auf dem neuesten Stand sind, aber immer noch besser funktionieren als die staatlichen Organe. In dieser Zeit hat man erkannt, dass die Probleme nur auf ihre eigene Weise gelöst werden können. Man vertraut wieder Ältesten und Äl- testenräten, um die alltäglichen Probleme, wie auch die Blutrache, besser in den Griff zu bekommen.161 Die Bedeutung des fis nach dem Sozialismus Forschungen zu Landrechtsfragen in Albanien an der Universität Wisconsin in Madison162 kommen zu dem Schluss, dass das Patriarchat und patrilineare Erbschaften, das heißt grundlegende Aspekte der tra- ditionellen albanischen Gesellschaft, sich wieder als Teil der sozialen Struktur etabliert haben.163 Der aktuelle Kernfamilienhaushalt in Nor- dalbanien ist dadurch gekennzeichnet, dass der Sohn und dessen Frau im Haus des Vaters des Ehemannes leben und an der landwirtschaftli- chen und häuslichen Arbeit teilnehmen. Die Familienmitglieder bil- den zusammen eine ökonomische Einheit. Das Ehepaar teilt sich die Wohnfläche mit den Brüdern des Ehemannes, doch nur so lange bis das Ehepaar genügend eigene Ressourcen angesammelt hat, um einen 160 de Waal 1998: 22; siehe auch Santner-Schriebl Ms. [1991]: 142; Schwand- ner-Sievers 1999: 151; 2001: 97. 161 Lawson/Saltmarshe 2000: 137. Saltmarshe 2000: 192, 198-199; 2001: 189-190, 212; Schmidt-Neke 1998: 393; zitiert Roberto Morozzo della Rocca 1997. 162 Siehe dazu http://www.wisc.edu/ltc/ [27. Juli 2004]. 163 Wheeler 1998: 1-2. 178 Die Bedeutung des fis nach dem Sozialismus eigenen Haushalt zu gründen. Oder der Vater überlässt seinem ver- heiratetem Sohn einen Teil seines Bodens, auf dem Letzterer sein eige- nes Haus bauen kann. Die Entscheidung des Ehepaars, das Elternhaus zu verlassen, wird durch zahlreiche Faktoren bestimmt: Migration in die Stadt, die Heirat eines jüngeren Bruders des Ehemannes (es wird dann Platz im Stammhaus gebraucht), ökonomische Rahmenbedin- gungen, die Entscheidung, eine Familie zu gründen oder das erwähnte Landgeschenk des Vaters.164 Die formale Trennung von Haushalten kann ebenso durch das Sozialversicherungsprogramm gefördert wer- den, weil die staatliche Unterstützung nur für einzelne Haushalte, nicht nach den in ihr lebenden Familienmitgliedern berechnet wird.165 Landwirtschaft war und ist der wichtigste Wirtschaftszweig in Nor- dalbanien. Vor dem zweiten Weltkrieg nahm die Landwirtschaft über neunzig Prozent der wirtschaftlichen Aktivität ein. Der industrielle Sektor war bis dahin nur vier Prozent groß, wurde im Sozialismus bis 1991 jedoch auf 45 Prozent erweitert. Die Landwirtschaft blieb aber weiterhin bedeutend. Mit dem Fall des Sozialismus und der Schlie- ßung der meisten veralteten Industrieanlagen stieg die Bedeutung der Landwirtschaft deutlich an. 65 Prozent der albanischen Bevölkerung lebt heute auf dem Land und arbeitet im landwirtschaftlichen Sektor. Die Familien bewirtschaften ihre kleinen Grundstücke, deren Quali- tät regional sehr unterschiedlich ist. Durchschnittlich besitzen die Bauern ein oder zwei Kühe, manchmal nur Ziegen, die ein wenig Milch bringen.166 In weiten Teilen des ländlichen Nordalbanien hat der männliche Hausvorstand (i zoti i shtëpisë) noch eine herausragende Position: »In general, every family has a patriarch«, schreibt Rachel Wheeler (1998).167 Dieser ist nicht mehr notwendigerweise der Vater oder der älteste Sohn, obwohl das Alter immer noch eine entscheidende Rolle

164 Gruber/Pichler 2002: 361; Lastarria-Cornhiel/Wheeler 2000: 130-131; Wheeler 1998: 24. 165 Lastarria-Cornhiel/Wheeler 2000: 131. 166 Cungu/Swinnen 1999: 605; Hashi/Xhillari 1999: 101; Lawson/McGregor/Salt- marshe 2000: 1500; Saltmarshe 2001: 69. In ganz Albanien (inkl. der urbanen Be- völkerung) leben 52,6% der Bevölkerung von der Landwirtschaft (Basic facts & indicators, Albania. In: www.eu-esis.org [5. Januar 2004]). 167 Wheeler 1998: 11. 179 Die Rahmenbedingungen des Kanuns spielt. Früher war der Hausvorstand noch selbst aktiver ›Manager‹ al- ler wirtschaftlichen Angelegenheiten, heutzutage nimmt der alte Pat- riarch häufig aus Altersgründen nicht mehr an der Land- und Hausarbeit teil. Bei einer Befragung von Haushalten zeigt sich, dass die Frauen sehr selten die Rolle eines Haushaltsvorstandes überneh- men. Nur sieben Prozent der Haushalte haben einen weiblichen Hausvorstand und dies ist meist nur dann der Fall, wenn der Hausherr verstorben ist.168 Die Macht der Hausvorstände hat zwar nach dem Kollaps des sozialistischen Systems zugenommen, ist aber dennoch weniger weit reichend als vor 1944 und die rezenten wirtschaftlichen Entwicklungen, der Einfluss westeuropäischer Wertvorstellungen durch Medien und zurückkehrende Migranten, unterlaufen die wie- dergewonnene Macht der Hausherren.169 Der familiäre Respekt vor dem Hausvorstand ist nicht mehr unein- geschränkt vorhanden, aber der Vorstand hat dennoch eine wichtige Position inne. Man respektiert den Hausherren und hört auf ihn, vor allem so lange die Söhne noch in seinem Haus leben und der Haushalt eine ökonomische Einheit darstellt. Ist ein Sohn erst einmal ausgezo- gen, verringert sich der Einfluss des Vaters beträchtlich. Die Frage, an der sich das mögliche Festhalten an traditionellen Re- geln besonders deutlich aufzeigen lässt, ist, ob der Sohn seine Hoch- zeit eigenständig in die Hand nimmt oder ob die Familie die zukünftige Braut aussucht. Eine etwas abgeschwächte Variante dieser Frage ist, ob der heiratswillige Sohn es wagt, die selbst ausgesuchte Frau ohne Einverständnis seines Vaters und des zukünftigen Schwie- gervaters zu heiraten. Gjeçov schreibt in dem unverständlicherweise mit ›Die Rechte des jungen Mannes‹ überschrieben Absatz, dass er ge- rade bei seiner Hochzeit eigentlich überhaupt keine Rechte hatte: Er durfte sich nicht selbst um seine Heiratspläne kümmern und nicht den Vermittler aussuchen oder gar in die Brautwahl selbst eingreifen.170 Das Gleiche galt für die Frau. Wenn die genauen Regeln nicht befolgt wurden, das Paar sich ohne Einverständnis der Familien vermählte, war dies eine Ehrverletzung. Oder wenn die Verlobte kurz vor der

168 Lastarria-Cornhiel/Wheeler 2000: 133. 169 Lawson/Saltmarshe 2002: 499. 170 Gjeçov 1989 [1933]: 19, § 30. 180 Die Bedeutung des fis nach dem Sozialismus

Hochzeit den vermittelten Mann ablehnte, dann musste sie entweder für den Rest ihres Lebens einer Hochzeit entsagen (und sie wurde dann zur ›Mannfrau‹) oder sie wurde von ihrer Familie mit Gewalt dem Bräutigam ausgeliefert: »Wenn das Mädchen nicht gehorchte und nicht zu dem Gatten ging, der sich ihr verlobt hatte, werden sie ihm sie mit Gewalt ausliefern, demjenigen, der sich ihr Verlobte, ›mit der Pat- rone im Rücken‹. Und würde ihm das Mädchen ins Auge schlagen (ihn beleidigen), indem es flieht, erschlägt sie dieser mit der Patrone ihrer Eltern, und das Blut des Mädchens geht verloren [es kommt nicht zu einer Blutrache], weil er sie mit der Patrone ihrer Eltern töte- te.«171 Zahlreiche Interviewpartner, die meist Älteste oder Haushalts- vorstände waren und an der Bedeutung ihrer Position selten Zweifel aufkommen ließen, sagten, dass sie eine Hochzeit ohne ihre Zustim- mung nicht akzeptieren könnten. Auf die Frage, was geschehe, wenn die Kinder doch ohne ihre Zustimmung heiraten würden, antwortete man mit eindeutigen Gesten wie ein mit den Händen angedeuteter Re- volver oder mit dem Ausspruch ›Bum Bum‹. Diese harte Position des Familienpatriarchs wird häufig in der wissenschaftlichen Literatur vertreten. Die Macht des i zoti i shtëpisë sei noch sehr deutlich ausge- prägt. Die Heiratspraktiken folgten traditionellen Vorstellungen, wie es beispielsweise Young betont: »Courtship or dating are still un- known concepts in rural Albania amongst young people who have al- ways been segregated from an early age.«172 Die Position und Macht des Familienvorstandes ist zwar weiterhin stark, aber derart drastische Konsequenzen, wie sie Gjeçov für nicht eingelöste Heiratsversprechen anführt, erscheinen heutzutage reali- tätsfern. Es gibt einen Unterschied zwischen den fast schon idealtypi- schen Modellen, die die Ältesten einer Familie vom Gewohnheits- recht ausführen und der tatsächlichen Praxis. Illustrieren will ich das durch die Beschreibung einer Szene in dem Vorort von Tirana, Batho- re, in dem Haus einer Familie aus Dibra. Mein Begleiter und ich saßen dem Familienvorstand und dreien seiner Töchter gegenüber. Der Fa- milienvater war außer uns der Einzige, der redete und uns sehr genau auf die Fragen antwortete, auch auf jene, wie er reagieren würde, wenn

171 Gjeçov 1989 [1933]: 27, § 43; Übersetzung Godin 1953: 26-27. 172 Young 2001 [2000]: 22; 2002: 94. 181 Die Rahmenbedingungen des Kanuns eine seiner Töchter ohne seine Einwilligung heiraten würde. Ohne zu zögern machte er uns mit ernster Mine deutlich, dass er in diesem Fall bis zum Äußersten gehen würde. Seine Töchter sagten darauf nichts, fingen dann zurückhaltend an zu lächeln, was sich so weit steigerte, dass sie kurz davor waren lauthals loszulachen. Tatsächlich ist die Rolle der Frau eine untergeordnete. Ihre soziale Stellung behandelte ich hauptsächlich während meiner Interviews in Bathore (Abb. 17).173 Da es sich hier um Migrantenfamilien handelt, die nicht mehr in ihrem ursprünglichen sozialen Umfeld leben, ist eine Verallgemeinerung der Erkenntnisse aus Bathore nur bedingt mög- lich. Doch die fis-Struktur ist vor Ort noch bemerkenswert präsent — wie weiter unten deutlich werden wird — und deswegen denke ich, dass die Position der Frau in Bathore durchaus Ähnlichkeit mit ihrer Stellung in ihren Heimatregionen im Norden hat. Gestützt werden meine Schlussfolgerungen durch eine Umfrage zum Thema ›Gender‹ aus dem Jahr 2001.174 Die Untersuchung fragte nach den Entfaltungs- möglichkeiten der Frau im sozialen und erwerbstätigen Bereich und ob sie weiterhin durch Männer in der Familie kontrolliert würden. Meine Interviews zeigen, in Verbindung mit der Studie, dass die Frau- en selten im öffentlichen Leben in Erscheinung treten. Dies bleibt nur den Männern vorbehalten. Die Frauen gehen manchmal zu Gottes- diensten außer Haus. Die Generation zwischen zwanzig bis dreißig Jahren kann zwar zunehmend ihr Leben in die eigenen Hände neh- men, doch so lange die Kinder noch von den Eltern abhängig sind, liegt bei den Eltern die Entscheidung über Arbeit, Heirat und Schei- dung. Erst nachdem die Kinder aus dem Elternhaus ausgezogen sind und der Einfluss und die Macht des Familienvorstands nicht mehr stark genug sind, lockern sich die patriarchalen Strukturen. Das ist nicht der Fall für die Frau, deren hauptsächliche Rolle weiterhin darin besteht, sich um ihre Kinder zu sorgen. Die Interviews und die Studie zeigen auch trotz der erwähnten Anekdote mit den lachenden Töch- tern, dass es eigentlich nur den jungen Männern vergönnt ist, eigene

173 Siehe Voell 2003. 174 Studie Gender Survey in the Bathore Urban Area, Kamza Municipality, durchge- führt von Mitarbeitern der albanischen NRO Co-Plan. Die Untersuchung wurde 2001 in Bathore durchgeführt und ist im Archiv von Co-Plan. 182 Die Bedeutung des fis nach dem Sozialismus

Abb. 17: Ehepaar aus Tropoja vor ihrem Haus in Bathore. Rechts im Bild Xhovalin Tarazhi, mein Begleiter bei den Interviews in Bathore.

Entscheidungen zu ihren Partnern zu treffen. Dass Frauen ihre zu- künftigen Ehemänner selbst aussuchen, bleibt eine Ausnahme. Mit Kasers Worten kann ich meine Eindrücke zu Themen der aktu- ellen Relevanz traditioneller Familienstrukturen treffend zusammen- fassen. Er schreibt, dass wir es »zwar noch mit einem Verwandt- schaftssystem zu tun haben, in dem die patrilineare Abstammungs- gruppe im Vordergrund steht, in dem jedoch gleichzeitig bereits viele Elemente einer bilinearen Konzeption eingebettet sind.«175 Dies kann man auch in den anderen Segmenten der nordalbanischen Gesellschaft erkennen. Eine Bruderschaft (vllazni oder vëllazëri), die meist mit dem Weiler (mëhallë) identisch ist, lebt gerade in den Hochlanddörfern noch heu- te zusammen und bildet eine räumliche Einheit, eine wirtschaftliche Einheit hingegen stellt sie immer weniger dar. ›Man lebt nicht mehr so zusammen wie früher‹, hört man in diesem Zusammenhang häufig. Der Vorsteher des Viertels oder Weilers (i pari i mëhallës)—heute 175 Kaser, K. 1995: 451-452; Wheeler 1998: 26. 183 Die Rahmenbedingungen des Kanuns kein staatlich legitimiertes Amt — ist immer noch bedeutend und wei- terhin einer der ersten Ansprechpartner bei Konflikten. Der fis ist als klar umrissene Größe nur schwer eingrenzbar. Die Bruderschaft, die in der Vergangenheit bedeutendste Gruppe in der albanischen Gesell- schaft, ist als eigenständige Einheit durchaus real und die Nähe zur Bruderschaft wird weiterhin gesucht. Dort erhält man Rat, Hilfe im Alltag und bei Notfällen und eine gewisse ökonomische Unterstüt- zung. Die ›Einheit des Blutes‹ und damit die Einheit der Bruderschaft wird stets deutlich betont, sie wird jedoch durch die Marktwirtschaft und ihre individualistische ökonomische Ausrichtung zunehmend untergraben. Diese in Albanien neue Form der Wirtschaft, verbunden mit der Abkehr von landwirtschaftlicher Arbeit, passt nur bedingt mit den patriarchalen Strukturen zusammen.176 Die Weiler haben auch deswegen noch eine Bedeutung, weil sie meist mit den heutigen administrativen Grenzen eines Viertels (lagje) korrespondieren. In den Vierteln sind häufig nur Einheiten eines Fa- milienzweiges präsent. Das Dorf Shllak im Dukagjin ist annähernd gleichbedeutend mit einem fis, dessen fünf Bruderschaften auf zehn Weiler verteilt sind. In Gura, in den Ebenen von Shkodra, wohnt jeder fis in einem eigenen Viertel.177 In diesen Vierteln wird ein Gemeinde- vorsteher (kryeplak) formell gewählt. Diese Position gibt es seit 1992, und der Inhaber hat in Zusammenarbeit mit der Polizei die Aufgabe, dass die öffentliche Ordnung respektiert wird, öffentliche Leistungen den Bürgern zukommen und gemeinschaftliche Ressourcen, wie Was- ser- und Stromzugang, allen gleichermaßen zugute kommen. Ferner ist seine Aufgabe, die jungen Männer zur Einschreibung als Wehr- pflichtige aufzufordern, Wahlen zu organisieren und die Lehrer, Krankenschwestern oder Ärzte in den öffentlichen Einrichtungen zu überwachen.178 Doch eigentlich hat er eine weitaus wichtigere und umfassendere Position. Da ein kryeplak meist nur zu seinem Amt kommt, wenn er seinen fis hinter sich weiß, ist er auch Vertreter dieses fis und seiner sozialen Organisation. Der kryeplak ist in der Verwal- tungshierarchie der letzte Mann des Staates im Dorf, aber auch Teil

176 Lawson/McGregor/Saltmarshe 2000: 1502; Lawson/Saltmarshe 2002: 497. 177 Saltmarshe 2001: 70-71. 178 Saltmarshe 2000: 332; 2001: 72. 184 Die Bedeutung des fis nach dem Sozialismus des Dorfes und seiner Struktur: Kryeplaku është gjys kanun e gjys shtet. — Er ist ›halb Kanun‹ und ›halb Staat‹. Er ist ein pikë takimi,ein Treffpunkt. Aber er ist kein Schauspieler, der mal in die eine oder an- dere Rolle schlüpft. Tatsächlich arbeitet er in beiden Bereichen, den staatlich vorgegebenen administrativen Regeln und den Regeln im Sinne des Kanuns. Wenn es ein Problem gibt, wie beispielsweise einen Diebstahl oder einen Landkonflikt, dann ist es dem kryeplak wichtig, das Problem zu lösen. Dabei ist es ihm gleich, ob er die Regeln und Gesetze des Staates respektiert. Der kryeplak muss mit den Anführern der fis, vor allem der starken Familien, im ständigen Kontakt sein. Häufig gibt es neben dem offiziell gewählten Gemeindevorstand noch einen ›inoffiziellen‹ i pari i mëhallës, einen Vorsteher des Weilers, der möglicherweise eine weitaus mächtigere Position innehat, weil er zum Beispiel der Älteste der Bruderschaft ist. Es gibt jedoch auch Dörfer, wie das erwähnte Shllak, in dem der kryeplak keine bedeutende Auto- rität ist. Probleme und Konflikte werden mit den Vorständen der Bru- derschaften besprochen und Entscheidungen auf dieser Ebene gefällt. Auf den kryeplak geht man nur zu, wenn es sich um Angelegenheiten handelt, die nur mit staatlichen Stellen diskutiert werden können.179 Der fis ist in Nordalbanien noch allgegenwärtig, diese Antwort be- kam ich bei den Gesprächen. Aber was dieses genau bedeutet oder wodurch sich dies ausdrückt, ist nicht eindeutig eingrenzbar. Bei- spielsweise gibt es vielerorts noch die Feierlichkeiten zum Gedenken an den Schutzpatron des fis.Derfis in Shllak feiert sogar zweimal im Jahr seinen Schutzpatron, am 13. und 14. Juni (Shën Gjon i Dushma- nit) und am 20. Oktober (Shën Mëhilli). Der fis lädt alle Familienmit- glieder ein, auch die in andere fis verheiratete Frauen. Auf den nach 1991 wieder vermehrt stattfindenden Festen wird der großfamiliäre Zusammenhalt öffentlich zelebriert und aktualisiert.180 Der Schutz- patron der katholischen fis ist aber nicht der mythische Urahn. Vor 1944 war es sehr wichtig, den eigenen Stammbaum genau zu kennen, wer mit wem verwandt war. Der Stammbaum war wichtig, wenn es um eine Heirat ging, denn strikte Exogamie erlaubte keine Hochzeit, wenn sich eine verwandtschaftliche Verbindung der zu verheiraten-

179 Einen solchen kryeplak beschreibt bspw. Gjuraj 2000: 8. 180 Kaser, K. 1993; 1995: 456; Santner-Schriebl Ms. [1999]: 63-64. 185 Die Rahmenbedingungen des Kanuns den Familien bis zu unglaublichen vierhundert Generation zurück aufzeigen ließ.181 Auch in Fragen der Blutrache, ob man mit seinem Gegenüber in einer Fehde stand oder nicht, waren die Stammbäume sehr wichtig. Doch heute sind die Verwandtschaftsbeziehungen nicht mehr genau bekannt.182 Die ökonomische Bedeutung des fis hängt häufig davon ab, ob der fis isoliert im Hochland oder in der Nähe urbaner Zentren beheimatet ist. In entlegenen Regionen, wie beispielsweise um Kukës, wohnen die fis-Mitglieder noch in ihren Weilern in der Mitte ihres Landbesitzes, den sie gemeinsam bewirtschaften. Die Häusergruppen vermitteln ih- ren Bewohnern Sicherheit unter dem Dach ihres fis.183 Die ökonomi- sche und soziale Einheit ist nicht so ausgeprägt in den fis in der Ebene um Shkodra. Hier ist der fis ein Netzwerk, in dem man gegenseitige Unterstützung findet, Beziehungen pflegt (gerade zu fis-Angehörigen in der öffentlichen Verwaltung) und wirtschaftliche Unterstützung erfährt.184 Häufig geht man zu Mitgliedern seines fis oder vëllazëri,um einen Kredit zu erhalten. Die Darlehen nimmt man auf, um Land zu kaufen oder ein Wohnhaus zu bauen. Es gilt als sicherer einem Fami- lienmitglied einen Kredit zu gewähren als einer Person, zu der man keine verwandtschaftliche Bindung hat, denn die Sicherheiten für den Kredit verlieren oft rasch an Wert. Auf familiäre Beziehungen kann man sich hingegen verlassen. In einem Fall nahmen zwei Brüder einen Investor sogar in die Familie auf. Die Geschäftsbeziehung wurde über die Patenschaft verwandtschaftlich integriert und damit gefestigt.185 Die Patenschaft stellt eine Beziehung zu einer Familie dar, die einer Blutsverwandtschaft annähernd als ebenbürtig zu betrachten ist. Es ist keine Heirat mit Mitgliedern einer Familie möglich, mit der man über eine Patenschaft verbunden ist. Neben der Taufpatenschaft sowie der Patenschaft bei der Hochzeit (was einem Trauzeugen gleichkommt) gibt es die Patenschaft der Haare. Hier besorgt der Pate den ersten Haarschnitt eines Kindes nach dessen ersten Geburtstag.186 181 Gjeçov 1989 [1933]: 23, § 39; siehe auch Kaser, K. 1992: 391; Meçi 2002: 49. 182 Krasztev 2000: 208. 183 Lemel 2000: 52-53; Saltmarshe 2001: 95. 184 Lawson/McGregor/Saltmarshe 2000: 1502. 185 Lawson/Saltmarshe 2000: 145; Saltmarshe 2001: 95. 186 Doja 1999b: 233-238; Gjeçov 1989 [1933]: 143-147, §§ 705-734. 186 Die Bedeutung des fis nach dem Sozialismus

Gerade für ärmere Familien ist die Bindung an den fis stark. Ökono- mischer Mangel lässt den fis zusammenrücken. Doch sobald Mitglie- der des fis wirtschaftlich erfolgreicher werden, verringern sich die ökonomischen Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern. Zum Hausbau stellt man fremde Arbeiter ein, die billiger und leichter zu kontrollieren sind. Die Familienmitglieder werden mobiler, bauen so- ziale Verbindungen außerhalb ihrer fis auf und der primäre Bezugs- punkt wird immer mehr der eigene Familienhaushalt und nicht die Bruderschaft oder der fis als Ganzes. Das soziale Netz des fis bleibt bestehen, doch bei Dienstleistungen innerhalb der Familie wird Be- zahlung erwartet. Obwohl der fis nicht mehr als wirtschaftliche Ein- heit funktioniert, bildet er ein verlässliches Netz an Beziehungen. Es ist ein Informationsnetzwerk, das auch zu bevorzugten Behandlun- gen bei geschäftlichen Verbindungen führen kann. Der fis ist ein so- zialer Rückhalt in Zeiten der schnellen Veränderungen der gesell- schaflichen Rahmenbedingungen.187 Uneinheitlich ist ebenfalls die Bedeutung des i pari i fisit. In Puka sagt man,188 dass der Vorsteher seine traditionelle Funktion nicht mehr ausübt und zurückgetreten sei. Das Problem sei, dass die Vorsteher nicht mehr genügend Macht hätten, ihre Vorstellungen mit Nach- druck durchzusetzen. Früher, das heißt vor 1944, seien die Vorsteher die direkten Ansprechpartner der osmanischen Verwaltung und der ihr nachfolgenden Regierungen gewesen, bekleideten eine gesell- schaftliche Funktion, die heute nicht mehr gegeben sei. Doch diese Meinung ist jene eines Geimeindevorstehers, der die Autorität starker fis zwar respektiert, sich selbst jedoch als wichtige Person in Abgren- zung zu den fis-Vorständen darstellt. Seine Aussagen stehen im Wi- derspruch zu den Aussagen der meisten anderen Gesprächspartner in Puka, die dem Gemeindevorsteher eine wichtige Rolle zugestehen, doch auf die weitaus größere Macht der fis-Vorstände pochen. Die i pari i fisit (Vorsteher der fis), die in Puka auch krye genannt werden, sind gerade in Konfliktfällen in der dörflichen Gemeinschaft sehr prä- sent und gehören zu den ersten Ansprechpartnern der Hilfesuchen- den. Interessant wäre in diesem Zusammenhang die Erarbeitung einer

187 Saltmarshe 2001: 101; Lawson/Saltmarshe 2002: 499. 188 Zu Puka siehe auch Wheeler 1998: 5-6. 187 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

Monographie eines einzelnen Dorfes im nordalbanischen Hochland, das über einen längeren Zeitpunkt beobachtet werden kann. Oft hatte ich den Eindruck, dass in Interviews Wunsch- oder Modellvorstellun- gen von Situationen widergegeben wurden. Beispielsweise machte mir der fis-Vorsteher des Dukagjin-Dorfes Shllak genaue Angaben zu Selbstverwaltung in seinem Dorf. Er berichtete, wie er als i pari i fisit über alles im Dorf informiert werde, dass er sich in Konfliktfällen wie Landverteilung mit seinen Brüdern zusammensetze und über den Konflikt berate. Allerdings wohnt mein Interviewpartner schon eini- ge Zeit nicht mehr im Heimatdorf, sondern in Shkodra, was einige Stunden Autofahrt entfernt ist, so dass seine prominente Stellung im Dorf als allseits geachteter fis-Vorsteher als zumindest schwierig er- scheint. Silvia Santner-Schriebl (1996, 1999) konstatiert, dass wesentliche Elemente der ›traditionalen Stammesgesellschaft‹ besonders im Du- kagjin den Sozialismus überdauert haben. Sie macht dies an den cha- rakteristischen Konstanten Patriarchat, Ahnenkult, Virilokalität, traditionale Familie und Gewohnheitsrecht fest. Diese Konstanten sind zwar nur in schwächerer Form vorhanden, wirken aber heute durch die Beständigkeit des ›elterlichen Schemas‹. Dieses drücke sich in der Hierarchie des Vaters über die Söhne aus, der Nichthinterfra- gung der Anordnung des Vaters.189 Santner-Schriebl zieht eine Paralle- le zwischen der kollektivistischen Orientierung und der traditionellen Gesellschaftsordnung wie auch der sozialistischen Ideologie. Diejeni- gen Generationen, die unter Hoxha sozialisiert worden sind, werden in ihren individuellen und dem Gruppenverhalten von der kollektivis- tischen Natur sozialistischer Beziehungen geprägt, die sich mit der neotraditionellen Familienvorstellung ergänzt.190 Beryl Nicholson (1999) macht eine ähnliche Feststellung: »In Albania they tended to fit the new system into the familiar patriarchal framework of the former regime, replacing a wicked father figure with a benign one. So when they voted for emerging anticommunist parties, many were not so much following the agenda assumed in the West, as a different, if par- allel, one.«191 Die Positionen geben meines Erachtens ein tendenziell

189 Santner-Schriebl Ms. [1999]: 75. 190 Santner-Schriebl Ms. [1999]: 76. 188 Territoriale Ordnungen und Versammlungen nach 1991 richtiges, aber überspitztes Bild Nordalbaniens wider. Traditionelle Verhaltensmuster im Zusammenhang mit der Familienorganisation sind bedeutend, aber sie bilden kein uneingeschränkt starkes Netz- werk mehr. Die Familienstrukturen sind, je näher man an die urbanen Zentren kommt, mehr und mehr von Zerfallserscheinungen geprägt. Damit meine ich nicht, dass Familien auseinander fallen, sondern dass ihre sozio-ökonomische Dimension als alleiniger Handlungsrahmen mit anderen sozialen und wirtschaftlichen Kontakten konkurrieren muss. Kaser beschreibt die gesellschaftliche Situation als geleitet von der ›Idee eines reformulierten Patriarchats‹:192 Die patriarchale Ver- wandtschaft wird zwar durch den sozialen Wandel wie Migration, westeuropäische Familienvorstellung, zunehmende Abkehr von der Landwirtschaft und Etablierung der demokratischen Staatstrukturen fortschreitend ausgehöhlt, jedoch ist die Patrilinearität ungebrochen. Über sie wird die besondere Vorrangstellung männlicher Identität ge- sellschaftlich begründet.193 Territoriale Ordnungen und Versammlungen nach 1991 Wenn man von Rreshën in Mirdita nach Orosh fährt, führt die Straße durch einige ehemalige bajrak. Einheimischen sind alle alten Grenzen noch gut bekannt. Auf Anhöhen mit einem guten Ausblick über die Gebirgsketten deuten sie dann auf die verschiedenen bajrak, wie Orosh, Spaç, Fan, Kushnen oder Dibërr. Natürlich, sagen die Leute, gebe es den bajrak und den i pari i fisit als solche nicht mehr. Aber dennoch seien beide noch von Bedeutung. Die heutige administrative Aufteilung und Zuordnung entspreche weitestgehend den Dorf- und fis-Grenzen von vor 1944. Eine heutiges Viertel (lagje) entspreche ei- ner alten mëhallë, ein alter bajrak einem heutigen Kreis. Die fis in die- sem Gebieten bewohnten trotz Migration und Umsiedlungen im Sozialismus noch ihre angestammten Gebiete. Spricht man mit dem örtlichen Gemeindevorsteher — und hier sind die Antworten in Puka und Mirdita sehr ähnlich — wird betont, dass es den i pari i fisit nicht mehr gebe, denn er sei nicht mehr erforderlich. Dann erfolgt meist

191 Nicholson 1999: 560-561. 192 Kaser, K. 1995: 433, 443. 193 Kaser, K. 1995: 455. 189 Die Rahmenbedingungen des Kanuns eine genaue Beschreibung dessen, was der i pari i fisit früher einmal ge- wesen ist, dass er an der Spitze der Soldaten seines bajrak stand und die Person war, zu der man ging, wenn es Probleme auf überregionaler Ebene gab. Je länger die Gespräche mit den Gemeindevorständen dauern, desto mehr wandelt sich das Bild. Es wird von fis berichtet, die früher das Amt des i pari i fisit innerhalb ihrer Familie vom Vater auf den Sohn übertragen haben. Die Familien gelten heute als ipariifi- sit-Familien, es sind gewissermaßen adlige fis, die aktuell wichtige Po- sitionen in der Gesellschaft innehaben. Ihre Meinung wird gehört und respektiert, sie sind sich ihrer Rolle bewusst, vermitteln im Konflikt- fall oder stellen selbst Gemeindevorsteher oder Vertreter in den Parla- menten auf den unterschiedlichen Ebenen bis hin zur National- versammlung. Andere Gesprächspartner, die kein offizielles Amt in- nehaben und deren Wort nicht den Charakter einer offiziellen Mei- nung eines Vertreters der Gemeindeverwaltung hat, bestätigen die heutige Existenz des i pari i fisit ohne zu zögern. Der i pari i fisit hat nicht die gleichen Funktionen wie früher. Auch heute ist er manchmal noch der Bannerträger, der bei Hochzeiten mit dem Emblem des fis voranschreitet. Doch der i pari i fisit hat nicht mehr die Macht wie bis 1944, seine Rolle hat aber noch ein traditionelles Prestige, das seinem Wort in Schlichtungen von Konflikten Gewicht verleiht. Der i pari i fisit ist eine Figur von überregionaler Bedeutung. Das ei- gentliche Leben spielt sich im Weiler ab. In den Häusergruppen, die isoliert von anderen Weilern sind, haben die Ältesten der dort ansässi- gen Familien das Sagen. Konflikte im Weiler sollen auch innerhalb des Weilers gelöst werden. Die Ältesten diskutieren den Vorfall unterein- ander. Unter den Ältesten gibt es keine ausgeprägte Hierarchie, auch wenn manchmal die Existenz eines Weilervorstands (i pari i mëhallës) beschrieben wird. Diese Person ist ein Ältester, der von dem Weiler gewählt wird. Die ›Wahl‹ scheint ein gemeinschaftliches Bestimmen zu sein. Eine Person, wächst auf Grund ihres Charismas, ihrer Erfah- rung und ihres Alters in ihre Rolle hinein. Die traditionellen Vorsteher von bajrak, fis, Dorf oder Weiler sind regional sehr unterschiedlich präsent. Mal sind es wirkliche Vorste- her, das heißt sie bekleiden Positionen mit einer gewissen Macht. Das Amt wird respektiert und gesucht, es spielt eine aktive Rolle im alltäg- 190 Territoriale Ordnungen und Versammlungen nach 1991 lichen sozialen Leben. Häufig haben die Vertreter ein historisch be- gründetes Ansehen oder sie kommen aus einem starken fis. Nur bei Festen wie Hochzeiten sind sie in einer herausragenden Position. Sie leiten den Brautzug oder sitzen dem Hochzeitsmahl vor. Die regional unterschiedliche Ausprägung von traditionellen Struk- turen beobachtet auch Saltmarshe. Er beschreibt die zwei von ihm un- tersuchten Dörfer Gura und Malaj in der Ebene um Shkodra. Doch hier muss betont werden, dass allgemein alle Dörfer in der Ebene we- niger traditionelle Strukturen aufweisen als Dörfer in entlegenen Bergregionen. Die Dörfer in der Ebene waren in der Geschichte des Landes immer stark in die jeweiligen Regierungsformen eingebunden. In Malaj hat der Kanun nur wenig Bedeutung. Das Dorf besitzt eine differenzierte offizielle Verwaltungsstruktur. Probleme in sozialen Fragen und etwa in der Wasser- und der Stromversorgung können di- rekt mit der Gemeindeverwaltung erörtert werden, die ihrerseits auch gute Kontakte zu überregionalen Verwaltung hat. Gura hingegen wird deutlich von den mächtigen fis dominiert, die das soziale Leben bestimmen. Probleme auf kommunaler Ebene müssen in Abwesen- heit funktionierender offizieller Strukturen gemeinschaftlich gelöst werden. Nur Aktionen, die auf den fis-Beziehungen aufbauen, haben Aussicht auf Erfolg. Die traditionellen Beziehungen führen jedoch dazu, dass das Dorf und seine Bewohner mehr auf sich selbst bezogen leben. Das soziale Leben ist in Familie und Weiler fragmentiert und nicht so homogen wie in Malaj.194 Es ist ein deutlicher Indikator, wie die Bevölkerung zusammenar- beitet, wie fehlende kommunale Einrichtungen oder Ausfälle und Strom- und Wasserversorgung auf gemeinschaftlicher dörflicher Ebe- ne zu lösen versucht werden und ob die Gemeindeverwaltung funk- tioniert oder eher Beziehungen, die auf fis-Strukturen basieren, das soziale Verhalten bestimmen. Nach dem Fall des Sozialismus ver- schwanden die sozialen Einrichtungen in den Dörfern. Die Gebäude der Kooperativen wurden geplündert und zerstört. Andere soziale Einrichtungen existierten nicht mehr. Es gab kein Dorfzentrum mehr, und die neu eingesetzte Verwaltung war anfangs mit der Situation überfordert, oder es gab Fehlbesetzungen.195 In Gura wurde beispiels- 194 Saltmarshe 2001: 103-104, 189. 191 Die Rahmenbedingungen des Kanuns weise ein Transformator selbständig repariert, denn die Stromgesell- schaft reagierte nicht auf die Beschwerden des Gemeindevorstehers. Die Ältesten veranlassten das Einsammeln einer kleine Geldsumme pro Familie im Dorf und organisierten die Arbeiter aus Gura. Ähnlich wurde die Reparatur der Bewässerungsanlage durchgeführt.196 Die er- folgreiche Zusammenarbeit auf der fis-Ebene führte dazu, dass tradi- tionelle Beziehungen bestätigt und damit verstärkt werden. Warum soll man auf staatliche Stellen vertrauen, wenn die bestehenden Bezie- hungen funktionieren? Überregionale Versammlungen sind heute selten und keinesfalls die Regel. Ein kuvend, der früher im Frühling und im Herbst stattfand und die Isolierung der fis durchbrach, konnte während des Sozialis- mus nicht stattfinden. Der Kanun konnte nicht mehr offen praktiziert werden, denn seine öffentliche und überregionale Zelebrierung an be- stimmten Orten, die auch heute noch bekannt sind und teilweise unter Denkmalschutz stehen, konnte vom sozialistischen Regime nicht ge- duldet werden. Santner-Schriebl vermutete, während ihrer Feldfor- schung Zeugin eines kuvend am Friedhof von Abat im Dukagjin gewesen zu sein, der erste kuvend seiner Art seit 1945. Doch es stellte sich heraus, dass der kuvend für die Forscherin aufgeführt wurde: »Die abgehaltene Stammesversammlung in Abat kommentierten sie aus ihrer Sicht anders. Sie forderten den Vater unter Gelächter auf, sei- nen verknüllten Fetzen Papier hervorzuholen, auf dem geschrieben stand, dass sich die ›Ältesten‹ zu einem Kuvend am Friedhof in Abat einzufinden hätten, da Fremde in Shala seien. Es hatte sich herumge- sprochen, dass hier Fremde forschen und man wollte ihnen einiges bieten.«197 Dieses sicherlich für Ethnologen frustrierende Erlebnis

195 de Waal 1997: 130. 196 Saltmarsche 2001: 103. 197 Santner-Schriebl Ms. [1999]: 128. Ebenfalls zu einem für Ethnologen aufgeführ- ten kuvend schreibt Schwandner-Sievers: »More than 90 years later, it cannot be ruled out that in this case we anthropologists became, unwillingly, also culprits of revitalisation, which may possibly have been ›performed‹ in reaction to our curi- ous questions about kuvend. […] The performative aspect of the ritual became evident when my colleague Robert Pichler and I realised that the villagers had been waiting until we arrived to start this impressive ceremony« (2001: 105, Kur- sivierung im Original). 192 Territoriale Ordnungen und Versammlungen nach 1991 versucht Santner-Schriebl im Weiteren nicht allzu negativ zu bewer- ten. Die stundenlangen Fußmärsche hätte man vermutlich nicht nur auf sich genommen, um den Ethnologen eine gute Vorstellung zu bie- ten: »Letztendlich ist es nicht entscheidend, warum sie uns, ›die Frem- den‹, mit ihren traditionellen Elementen beeindrucken wollten — es lassen sich je nach Sichtweise verschiedene Begründungen finden — viel eher entscheidend ist es, zu erkennen, dass solche inszenierten Er- eignisse auch eine Realität darstellen, eine Realität die sich die hier le- benden Menschen für die nach Traditionen forschenden Fremden zurechtgedacht hatten. Jahre später habe ich erfahren, dass man sich mittlerweile immer öfter zu Versammlungen traf, um dörfliche Ange- legenheiten zu besprechen. Ein Zeichen dafür, dass ›Rückgriffe‹ — egal wodurch sie ausgelöst werden — sehr oft zur Wiederbelebung von Traditionen führen können.«198 — Selbst habe ich keinem kuvend beiwohnen können, noch hörte ich von aktuell noch stattfindenden Versammlungen. Lediglich eine überregionale Versammlung von i pari i fisit aus vielen Gebieten Nordalbaniens im Jahr 1995 ist mir be- kannt. In dieser Versammlung ging es um das Problem der Blutrache. Es sollte beschlossen werden, dass im Falle einer Blutrache die Schuld nur auf den Mörder zurückfalle und nicht auf seine gesamte Familie. Doch es konnte keine gemeinsame Lösung gefunden werden. Der Grund dafür war, dass der Mörder meist das Land verlässt und sich damit der Rache entzieht.199 Die nicht offiziellen Versammlungen finden meist nur auf dörflicher Ebene oder innerhalb der Weiler statt. Diese Treffen sind nicht regel- mäßig, eher spontane Zusammenkünfte von respektierten Persönlich- keiten, die meist für Konfliktlösungen innerhalb des Dorfes zusammenkommen. Man trifft sich in den kleinen Dörfern in einem Café. Die genaue Unterscheidung zwischen formalen Gemeindever- sammlungen und Zusammentreffen außerhalb der administrativen Praxis ist schwer. Zum einen sind es häufig die gleichen Personen, die sich mit der Gemeindeverwaltung auf offizieller Ebene auseinander- setzen, sich jedoch jenseits der formellen Ebene weiter beraten. Zum anderen vermischen die Interviewten oft die Bezeichnungen. Meine

198 Santner-Schriebl Ms. [1999]: 128-129, Kursivierung im Original. 199 Der Hinweis auf diese Veranstaltung bekam ich von Aleksandër Kola, Shkodra. 193 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

Rückfragen nach einer genauen Unterscheidung zwischen formellen und informellen Versammlungen im Dorf führten meist nicht weit. Sie lassen sich möglicherweise auch nicht genau trennen. Wichtig scheint den Menschen vor allem, dass man überhaupt zusammentrifft, unabhängig des organisatorischen Rahmens. fis-Beziehungen in Bathore Vor dem Fall des Sozialismus waren Bathore und Kamza zwei kleine Orte in der Umgebung von Tirana. Sie lagen neben großen Staatsfar- men und Versuchsfeldern der landwirtschaftlichen Universität. Das sozialistische Regime hatte das ehemalige Sumpfland über Terrassen und Kanalisierungsmaßnahmen aufwendig trocken gelegt. Dort wur- den Obst, Gemüse, Milch und Produkte aus Gewächshäusern gewon- nen. Es war und ist sehr fruchtbares Land, und es wurde intensiv genutzt. Nach 1991 überschrieb man den Bauern der aufgelösten Ge- nossenschaften relativ bald das Land. Ziel war ein rascher Übergang zur privaten Landwirtschaft.200 Einige Jahre später änderte sich das Bild von Bathore und Kamza schlagartig. Besonders aus Nordalba- nien migrierten viele Menschen nach Tirana und siedelten sich auf die- sem Gelände an. In den Jahren 1994 bis 1995 waren es 25.000 Menschen, die sich auf einer Fläche von nur vierhundert Hektar ver- teilten. 1995 versuchten starke Polizeikräfte, die nun ca. 30.000 Ein- wohner zu vertreiben. Die Aktion der Polizei misslang und nach drei Tagen andauernden Krawallen mit vielen Verletzten begann schließ- lich ein Prozess, in dem am Ende Kamza und Bathore in dieser Form offiziell anerkannt werden sollten. Die Frage des Landbesitzes ist je- doch bis heute nicht abschließend geklärt. Santner-Schriebl besuchte Bathore Mitte und Ende der 1990er Jahre. Mittlerweile war es auf 20.000 Einwohner angewachsen, die sich auf ca. 4.500 Familien ver- teilten: »Während die Erstankömmlinge noch eine geringfügige So- zialhilfe vom Staat bekommen hatten, stehen die, die nach 1991 kamen, völlig mittellos da. Sie leben von einem Tag auf den anderen, führen ein sehr bescheidenes Dasein und wenn die Familie nicht ein- mal mehr mit dem Notdürftigsten ernährt werden kann, macht man sich auf den Weg Richtung Tirana, um eine schlechtbezahlte Gelegen- 200 Felstehausen 1999: 5, 11. 194 fis-Beziehungen in Bathore

Abb. 18: Straße in Bathore

heitsarbeit zu finden. Zwischenzeitig bauen sie an ihren Häusern und Hütten, arbeiten in ihren dürftigen Gärten, versuchen sich gegenseitig zu helfen. Etwa 1.200 Häuser sind aus Steinen errichtet, die sie irgend- wo zusammensuchen. Häufig zerstören sie auch die unter Enver Hox- ha zahlreich angelegten Bunker, um das Material in das Fundament miteinzubauen. Die Bauten sind ebenerdig, es wird ein Raum nach dem anderen hergestellt, bis zur Geschossdecke, in der Hoffnung, dass es irgendwann einmal besser gehen wird und man ein weiteres Stockwerk aufsetzen kann.«201 Viele Nordalbaner wollen auf Grund von Armut und Arbeitslosig- keit die Region verlassen. Bevorzugtes Ziel ist das Ausland, zumindest aber die Ebenen um die Hauptstadt.202 Rezente Schätzungen zur An- zahl der zugezogenen Einwohner in Bathore belaufen sich auf 30.000 Menschen. Die albanische Regierung war nicht auf diesen riesigen Ansturm von Menschen vorbereitet. Als die Demokratische Partei

201 Santner-Schriebl Ms. [1999]: 195. 202 de Waal 1997: 130. 195 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

1992 die Wahlen gewann, hofften die Albaner auf Besserung. In den Bergregionen war die wirtschaftliche Grundlage nach dem Fall des Sozialismus zusammengebrochen. Deswegen zogen viele tausend Menschen in die Ebene um Tirana. Die Menschen in Bathore betonen häufig, dass sie von dem damaligen Präsidenten Sali Berisha gerufen worden seien. Berisha stammt selbst aus Tropoja, einer Region im ent- legenen Nordosten Albaniens. Man sagt, Berisha habe die vermeintli- che Übermacht der Südalbaner in Tirana durch einen starken Zustrom seiner Landsleute brechen wollen. Zunächst versuchte die albanische Regierung, die zahlreichen Neuankömmlinge aus den Bergen gleich- mäßig um Tirana herum zu verteilen, beispielsweise in der Nähe des Dajti, des Berges, der über Tirana thront. Doch dies scheiterte. Die Menschen siedelten sich im Großraum Kamza an, weil viele Familien- mitglieder sich dort bereits niedergelassen hatten. Man baute in weni- gen Jahren viele Einfamilienhäuser, ohne dass es einen Bebauungsplan gegeben hätte. Es gab keine Straßen oder andere infrastrukturelle Maßnahmen.203 Mittlerweile ist durch die Arbeit einer NRO204 die In- frastruktur verbessert worden, auch wenn man sie mancherorts noch nicht einmal als rudimentär bezeichnen darf. Nur wenige Viertel in Kamza und Bathore haben einen Wasseranschluss. Einige Familien haben auf ihren kleinen Grundstücken eigene Quellen, doch meist ho- len sich die Menschen ihr Trinkwasser von einer nahe gelegenen Quelle bei der landwirtschaftlichen Universität. Der Zugang zu Strom hat sich in den letzten Jahren etwas verbessert. Doch Stromleitungen, illegal oder legal gelegt, sind nicht gleichbedeutend mit tatsächlich fließenden Strom. Albanien hat gerade in den Wintermonaten große Energieprobleme. Es gibt nur sehr wenige Stunden am Tag Strom. Die Gespräche und Interviews in Bathore begannen häufig damit, dass meine Gesprächspartner auf die Bedeutung des fis nachdrücklich aufmerksam machten. Der fis wurde als die wichtigste Bezugsgruppe vor Ort dargestellt. Der fis sei eine Gemeinschaft ›über Blut‹ und da- mit eine sehr starke natürliche Beziehung, die die Migrantenfamilien gerade in einer fremden Umgebung zusammenhalte. Die administrati-

203 Felstehausen 1999: 5-6. 204 Die NROs, die in Bathore arbeiten, kann man unter der Webseite www.batho- re.net ansehen. 196 fis-Beziehungen in Bathore ve Einheit eines Viertels (lagje) habe, so wurde zunächst gesagt, keine zentrale Bedeutung. Prägend für das soziale Leben seien die fis-Bezie- hungen, die aber nicht so stark wie im Norden seien.205 Die nordalbanischen Familien kamen nach und nach aus ihren Hei- matregionen in die Ebene vor Tirana. Es waren also hauptsächlich ein- zelne Familien, weniger ganze fis, die nach Zentralalbanien migrier- ten. Aber einmal in Bathore angekommen, suchten die Neuankömm- linge die Nähe zu Familien aus dem gleichen fis, die schon in Bathore wohnten. Die Familien wurden im Familiennetzwerk aufgefangen und mussten nicht bei Null beginnen. Doch im Verlauf der Jahre wur- de es immer weniger möglich, nach fis zusammen zu wohnen und bei- spielsweise Ansammlungen von Menschen aus dem Dukagjin in einem Viertel zu finden. Der Bauplatz in Bathore wurde immer be- grenzter und neben den zuerst gekommen Familien eines fis war es einfach räumlich nicht mehr möglich, sein Haus neben seinen Fami- lienangehörigen zu bauen.206 Ein Mann aus Tropoja erzählte mir bei- spielsweise, dass von seinem fis zwei Familien in Kamza, vier in Durrës, eine in Vlora, drei in Tirana und auch einige noch in Tropoja seien. Man treffe sich jedoch immer noch, gerade wenn es Probleme gebe. Die Familien würden ebenfalls bei Verlobungen, Hochzeiten und ähnlichen Feiern zusammen kommen. Für den familiären Zusam- menhalt ist es nicht wichtig, wie nah die Familien zusammen wohnen, denn schon in den Bergen konnte es sein, dass die verschiedenen Wei- ler eine bis zwei Stunden Fußmarsch voneinander entfernt sind. Die Distanz zwischen den Häusern war damit nichts Außergewöhnliches. Ob alle fis vollständig in Bathore sind oder nicht, ist sehr unterschied- lich. Man zählte mir verschiedene fis auf, die nahezu vollständig in Bathore seien, und andere, die in verschiedenen Gebieten um Tirana und in Bathore verstreut lebten. Auch diese fis-Teile würden sich tref- fen, denn sie seien miteinander verwandt. Man treffe sich, wie man sagt, für gute und für schlechte Angelegenheiten.

205 Auch in dem Vorort von Shkodra, Golem, leben nordalbanische Migranten nach ihrer fis-Zugehörigkeit. Ihr Zusammenleben ist keine Kopie der Dorfverhältnisse aus den Ursprungsregionen der Migranten. Sie haben ihre eigene Logik und eige- ne Regeln, wie Santner-Schriebl (2002: 107) betont. 206 Santner-Schriebl Ms. [1999]: 196. 197 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

Der fis hat eine wichtige Rolle in der gesellschaftlichen Organisation in Bathore. Für die Bewohner Bathores ist das keine erwünschte Funktion, sie erscheint mehr als eine Notwendigkeit, die sich aus den Rahmenbedingungen erklärt. Da es gerade zu Beginn der Ansiedlung in Bathore keine funktionierenden administrativen Strukturen gab, entwickelte sich quasi von alleine eine gesellschaftliche Organisation auf der Basis von Familienstrukturen. Auf diese Weise entstand ein Minimum an Organisation, das das soziale Leben in dem über Nacht entstandenen neuen urbanen Zentrum ordnete. Doch die Bedeutung des fis in Bathore hat nur wenig mit der fis-Struktur in den nordalbani- schen Bergen gemein. Die Organisation ist nicht so tiefgreifend und ausgeprägt organisiert. Der nordalbanische fis ist das Modell, auf das man verweist, wenn man auf die Missstände innerhalb seines fis in Bat- hore aufmerksam machen will. Doch einige fis wurden im Laufe der Zeit sehr stark, weil immer mehr Familien aus den ursprünglichen Ge- bieten nach Bathore kamen. Ein zahlenmäßig großer fis wird auch in der Ebene als starker fis (derë e forte — ›starke Tür‹) anerkannt. Die Vorsteher von diesen werden in der Nachbarschaft respektiert, weil sie viele Häuser hinter sich wissen. Auch nach innen sind die größeren fis, die aber dennoch nie vollständige Großfamilien sind, weil Teile ih- res fis noch in ihrer angestammten Region wohnen, deutlicher struk- turiert. Die Antworten auf die Fragen, ob der fis in Bathore ähnlich bedeut- sam sei wie im Norden des Landes, gaben in ihrer Summe kein eindeu- tiges Bild. Es waren häufig ›ja, aber‹-Antworten, die zunächst ein Modell einer möglichen Situation darstellten, dass aber für ihre Fami- lie nicht gelte. Doch dann zählen viele Interviewte selbst auf, was die Familie alles zusammen unternehme und stellten fest, dass der fis in Bathore doch stark sei. Die Antworten scheinen vor allem davon ab- hängig zu sein, wie lange eine Familie schon in Bathore wohnt. Je län- ger eine Familie in Bathore ist, desto nachdrücklicher wird die Bedeutung des fis herausgehoben und das schlechte Funktionieren staatlicher Organisation beklagt. Allgemein kann man sagen, das der fis eine Form von gegenseitiger sozialer Unterstützung ist, selbst für jene Familien, die nur wenige Verwandten in Bathore hatten. Man erzählte mir von einer Familie,

198 fis-Beziehungen in Bathore die als einzige ihrer Verwandten in Bathore wohnt, während der übri- ge Teil noch in Dibra lebt. Diese einzelne Familie wurde von einem stark präsenten fis in Bathore, der ebenfalls aus Dibra stammt, gewis- sermaßen adoptiert. Doch die fis im Allgemeinen sind keine gut orga- nisierten sozialen Einheiten. Die Interaktion zwischen den Familien- mitgliedern lässt nach, zum einen wegen der Distanz zwischen ihren Häusern, zum anderen weil sie nicht intensiv wirtschaftlich zusam- menarbeiten, und jede Einheit letztendlich für sich verantwortlich ist, auch wenn ihr in Notzeiten die Familie zur Seite steht. Ein genauer Blick auf die interne Struktur des fis entkräftet nicht die Bedeutung des fis im Allgemeinen, erweckt aber das Bild einer tenden- ziell locker strukturierten Großfamilie. Je größer der fis, desto mehr sind sich dessen Mitglieder seiner Größe bewusst. Einer der größten fis in Bathore ist die Familie Spahia, die fast vollständig in Bathore wohnt. Zu ihrem fis gehören 76 Häuser, die auch räumlich zusam- menstehen. Die Anführer des fis Spahia haben in ihrem Viertel eine prominente Stellung. Der Respekt, den man den Ältesten gegenüber zeigt, variiert sehr stark von einem fis zum nächsten. Einige fis haben in Bathore einen i pari i fisit (Vorsteher des fis), der von allen respektiert wird, in anderen Fällen lebt ihr Anführer in Nordalbanien, hat aber eine Autorität, die bis nach Bathore ausstrahlt, wo sich noch keine führende Person ge- funden hat. Es gibt zwei Möglichkeiten der Beziehung zu den Fami- lienmitgliedern in Bathore, wenn der i pari i fisit in Nordalbanien lebt. Zum einen hat der Anführer noch eine wichtige Position selbst für die Menschen in Bathore inne und seine Autorität wird weiterhin respek- tiert. Seine Worte werden in Bathore, weit weg von dem angestamm- ten Gebiet des fis, angehört und gewürdigt. Sein Rat wird von den Familien in Bathore nicht für jedes kleine Problem des Alltags benö- tigt, treten jedoch substantielle Probleme auf, wird seine Meinung ge- sucht. Solche Konflikte können Ehrverletzungen, Blutrache oder andere tief greifende innerfamiliäre Probleme sein, die den fis als Gan- zes betreffen. Diese Art von Konflikt gibt es in Bathore offensichtlich relativ selten und häufig betonte man, dass man mir gegenüber eher theoretisch argumentiert habe. Konkrete Beispiele dafür, dass ein An- führer aus dem Norden bei Problemen in Bathore angerufen wurde,

199 Die Rahmenbedingungen des Kanuns waren sehr selten. Zum anderen gibt es diejenigen Familien, die zwar diplomatisch betonten, wie wichtig der Anführer ihres fis in Nordal- banien sei und dass er selbstverständlich in Bathore gehört werde. Doch eigentlich habe er nichts mehr zu sagen, nur in seinem Heimat- dorf werde er respektiert. Der i pari i fisit werde nicht um Rat gefragt oder gebeten, eine bestimmte Entscheidung zu treffen, da man sie oh- nehin meist nicht befolge. Ein Mann aus Puka sagte, dass der i pari i fi- sit noch im Heimatort wohne. Aber dieser Vorsteher aus dem Norden treffe keine Entscheidungen für die Teile des fis in Bathore. Wer in Bathore das Sagen habe, darüber könne er mir nichts berichten. In Bathore hätten sie keinen i pari i fisit in der alten Form. Die Verhält- nisse seien in Bathore noch etwas ungeordnet, sagte er mit einem iro- nischen Lächeln. Sie hätten noch keinen Vorsteher hier, doch es werde sicherlich dazu kommen, dass es auch in Bathore einen solchen geben werde. Seine Familie sei erst seit sechs Jahren hier und eine solche Funktion könnte sich in dieser Übergangszeit noch nicht etablieren. Ein Ältester aus Dibra sagte, dass sein fis aus etwa hundert Häusern bestehe und diese überall im Land verteilt seien. In Bathore gebe es von seinem fis zehn Häuser, die er alle aufzählte. Der i pari i fisit in Bathore sei dem Alter nach gesehen er selbst. Wenn Mitglieder seiner Familie Probleme hätten, dann würden sie zu ihm kommen und man rede als fis zusammen und berate, was zu tun sei. Zu seinem Heimatort habe er keine Verbindung mehr, denn der sei vollständig verlassen. Generell kann man zu Bathore sagen, dass sich im Ort langsam Per- sönlichkeiten in Familie und Viertel herauskristallisieren, die in ihrer Umgebung eine wichtige Rolle einnehmen. Diese wichtigen Personen haben nur wenig mit der Rolle eines Vorstehers oder Ersten des Vier- tels gemein, wie sie im Norden anzutreffen sind. Die Personen haben auch nicht die Macht, Entscheidungen durchzusetzen. Es stellte sich bei den Interviews heraus, dass es nicht sehr sinnvoll warzufragen,obeseinenipariin der Familie oder dem Viertel gibt und was seine Funktionen sind. Man konnte mir keinen nennen, denn es gibt ihn nicht in dieser Funktion. Wenn ich jedoch fragte, zu wel- chen Personen man geht wenn es einen Konflikt gibt, wie beispiels- weise eine Landkonflikt oder einen Diebstahl, dann nannte man mir Namen. Die wichtigen Personen in Bathore sind Älteste, die ihre Po-

200 fis-Beziehungen in Bathore sition auf Grund von Charisma, Erfahrung, Autorität und sicherlich auch auf Grund eines vorgerückten Alters einnehmen, was meist gleichbedeutend damit ist, eine gewisse Erfahrung in Familienangele- genheiten zu haben. Die Worte dieser Ältesten haben in der Familie ein gewisses Gewicht, doch sie haben nicht die Bedeutung einer An- ordnung. Der Älteste hat nur wenig Möglichkeiten, Anordnungen durchzusetzen, denn gerade die jüngere Generation, die finanziell nur noch wenig von den Eltern abhängig ist, respektiert traditionelle Hie- rarchien nur noch halbherzig. Bathore ist keine geschlossene Gesell- schaft, in der es keine Alternative zu den Entscheidungen der Ältesten gibt. Die aktuellen Anführer der fis in Bathore sind mehr Vermittler bei Nachbarschaftskonflikten, Diebstählen und Landstreitigkeiten, aber auch bei Konflikten mit der staatlichen Verwaltung. In diesen Fällen geht man zu den Ältesten und ihr Rat wird gehört. Der Älteste ist damit eher ein Ratgeber als ein Anführer. In einem Viertel berichtete man mir, dass sich die Ältesten ver- schiedener fis treffen würden. Dies geschehe zwar recht unregelmä- ßig, aber es gebe eine kontinuierliche Absprache. Dies sei der Fall bei Familien, die schon seit acht bis zehn Jahren in Bathore lebten, das heißt, sie gehörten zu den ersten, die nach Bathore migrierten. Offensichtlich ermöglicht die längere Verweildauer in Bathore die Etablierung von eigenen Organisationen nach traditionellem Mus- ter. In anderen Vierteln bedauerte man, dass man sich noch nicht zusammengefunden habe. Da es keine funktionierende staatliche Verwaltung gebe, beziehungsweise man meinte, dass die bestehen- de Verwaltung eigentlich alles unternehme, um nicht positiv aufzu- fallen, sei es notwendig, die Probleme des Viertels untereinander zu diskutieren. Wenn man nun nach der verwandtschaftlichen Dimension der ge- sellschaftlichen Organisation Bathores die territoriale Dimension be- trachtet, wird deutlich, dass sich die Rahmenbedingungen zwar von Nordalbanien unterscheiden, man aber dennoch von wichtigen tradi- tionellen Strukturen sprechen kann, die das Zusammenleben in Bat- hore überhaupt ermöglichen. Nicht nur die Familienstrukturen mussten sich in Bathore über die vergangenen zehn Jahre neu entwi- ckeln, es gab auch keine Siedlungsstruktur, weil die Siedlungen sich

201 Die Rahmenbedingungen des Kanuns erst mit dem steten Zuzug entwickelt haben und erst nach und nach offizialisiert werden mussten. Bathore ist formal in einen ländlichen und einen urbanen Teil gegliedert (Abb. 19). Der Unterschied zwi- schen den beiden Teilen ist allerdings nur schwer zu entdecken. Beide Gebiete sehen ähnlich aus und bestehen aus vielen individuellen Häu- sern auf kleinen Parzellen. Bis vor kurzem wurden beide Teile Batho- res zusammen als Dorf gesehen und in sieben Viertel aufgeteilt. Jedes Viertel hat einen gewählten Gemeindevorsteher. Der Status des urba- nen Teils Bathores änderte sich kürzlich, denn er wurde der Kommu- ne Kamza angegliedert. Damit existiert die Viertelstruktur nicht mehr, denn diese gibt es nur in Siedlungen mit einem Dorfstatus. Das bedeutet, dass das Dorf Bathore nur noch aus dem ländlichen Teil Bat- hores besteht, hingegen der urbane Teil nicht mehr Bathore genannt werden sollte, weil er nun Teil von Kamza ist. Es ist nachvollziehbar, dass die genaue administrative Situation und ihre Logik nicht jedem Bewohner Bathores sofort einleuchtet. Die Verwaltungsstrukturen sind der Bevölkerung meist unbekannt und möglicherweise sind sie schon bald nicht mehr aktuell, denn in Bathore ändert sich viel. Die Menschen denken immer noch in der Größe von ganz Bathore mit sei- nen ursprünglichen sieben Vierteln, selbst wenn eigentlich die vier Viertel des urbanen Teils nicht mehr Teil Bathores sind. Fragt man die Bewohner, was die wichtigste Organisationsform in Bathore ist, der fis oder das Viertel (lagje), dann gibt es in der Summe keine eindeutige Antwort. Beispielsweise sagt ein Mann aus Dibra, dass in Bathore die lagje wichtig sei, sie habe aber nicht die gleiche Be- deutung wie in den Dörfern im Norden. Das liege daran, dass es in ei- ner lagje Familien aus unterschiedlichen fis gebe. Die lagje habe eine gewisse interne Organisation, und es würden weiterhin innere Proble- me von weisen alten Männern gelöst. Diese Männer versammelten die betroffenen Leute um sich. Das sei keine von staatlicher Seite einge- richtete Organisation. Interessanterweise wird auch das Viertel als zentrale Größe des all- täglichen Lebens im urbanen Teil Bathores angegeben, obwohl es das Viertel als Verwaltungseinheit gar nicht mehr gibt. Ich führte aller- dings nur wenige Interviews im urbanen, sondern meist im ländlichen Teil, in dem die Viertelstruktur noch formell existiert. Allgemein kann

202 fis-Beziehungen in Bathore

Abb. 19: Karte der Verwaltungseinheiten von Kamza. Die Zahlen bezeich- nen die Viertel in Bathore. Viertel 1 bis 3 liegen im urbanen und Viertel 4 bis 7 im ländlichen Teil Bathores man sagen, dass die Viertelstruktur in Bathore wichtiger ist als das so- ziale Netz des fis. Doch der Unterschied zwischen Verwandtschaft und Territorium ist ähnlich komplex wie in Nordalbanien. Die Ver- bindung der Familien zu ihrem Land und dem Dorf ist in Bathore bei weitem nicht so intensiv wie in Nordalbanien, erscheint jedoch als ge- nauso differenziert. Die grundlegende Konzeption der territorialen Organisation ist in Bathore ebenso präsent wie im Norden, doch nur ansatzweise als ein Modell, das man anstreben will, beziehungsweise das sich in der kurzen Zeit der Existenz Bathores noch nicht hat ent- wickeln können. Ein Cafébesitzer aus Kukës bemerkt dazu, dass man in der lagje in Bathore sicherlich zusammenarbeite. Das sei vor allem deswegen der Fall, weil es die Tradition sei. Man sei zwar erst seit kur- zer Zeit hier, habe aber diese Praxis geerbt und aus dem Norden mit- 203 Die Rahmenbedingungen des Kanuns gebracht. Man sperre nicht die Straße von jemandem: ›Man isst nicht den Teil eines anderen‹. Wenn dies geschehe, dann müsse man gehen. Hier in der lagje lebe man sicherlich ›gut gemischt‹, doch es scheine, dass jede lagje ihren eigenen plak habe, es komme somit zu einer ge- wissen regionalen Organisation. Es gebe keinen offiziellen Vertreter der lagje, der von den Leuten gewählt wäre. Alle meine Interviewpartner waren sich durchaus der Tatsache be- wusst, dass es eine offizielle administrative Organisation in Bathore gibt. Diese hat formal gewählte Vertreter, die sich in regelmäßigen Abständen treffen. Doch genauso gibt es eine informelle Organisati- on, die sich aus einigen Personen wie Ältesten zusammensetzt, und die sich in unregelmäßigen Abständen treffen und die Probleme des Viertels besprechen. Ein Ältester eines Viertels aus Dibra betont, dass es in Bathore zwei Organisationsformen gebe. Erstens gebe es die staatliche Organisation, das heißt der kryeplak und die Vertreter der lagje. Diese würden manchmal zusammentreffen, wenn es Probleme gebe. Zweitens existiere eine traditionelle Form der Organisation, mit alten und weisen Männern. Diese Männer würden beispielsweise dann zusammenkommen wenn es unter zwei lagje Probleme gebe, oder aber im Falle einer Beerdigung oder Hochzeit. Die staatliche Organi- sation sei allerdings in der besseren Position, denn sie habe die Macht, ihre Entscheidungen durchzusetzen. Informelle Treffen hätten in Bat- hore ebenfalls ihre Bedeutung, besonders wenn die Leute nicht woll- ten, dass sich die Probleme ausweiteten und den staatlichen Organen übergeben würden. Eigentlich sind Mitarbeiter in Behörden nicht Inhaber machtvoller Positionen. In den Augen der Bevölkerung sind die Handlungen der Verwaltung bestenfalls undurchsichtig. Selbst offiziell gewählte Ver- treter ärgern sich maßlos über die Verwaltung: Mitarbeiter des öffent- lichen Dienstes kümmerten sich mehr um ihre eigenen Interessen, als das Wohl ihres Viertels vor Augen zu haben. Deswegen hält man die offiziellen Gemeindevertreter in ihren Versammlungen für unnütz. Aber man darf nicht vergessen, dass die Möglichkeiten der lokalen Verwaltung sehr begrenzt sind. Sie hat wenig praktische Macht und kaum Ressourcen. Die Verwaltung hat alleine keine Möglichkeit, bei- spielsweise Verbesserungen der Infrastruktur anzugehen, sie kann

204 fis-Beziehungen in Bathore dies nur in Zusammenarbeit mit NRO machen, die sich in diesem Be- reich engagieren. Doch das Lob der Bewohner fällt dann auf die NRO, nicht auf die Verwaltung. Die informellen Versammlungen unterscheiden sich von Viertel zu Viertel sehr. Es gibt keinen festen Zeitpunkt oder Ort, an dem sie statt- finden. Häufig treffen sich die beteiligten Ältesten spontan auf der Straße oder in einem Café. Das geschieht recht häufig, denn viele Menschen sind ohne Beschäftigung und immer in ihrem Viertel anzutreffen. Die Ältes- ten diskutieren über Diebstähle oder Streitigkeiten über Grenzverläufe von Grundstücken, die gerade zu Beginn der Besiedlung häufig aufgetre- ten sind. Idealtypisch kann man die Ältesten der fis und der Viertel tren- nen, in der Praxis sind es häufig die gleichen. Das heißt, auch ihre Funktion ist ähnlich, denn sie wirken ebenfalls eher als Vermittler und nicht als Anführer. Man hört auf ihren Rat und ihre Aufgabe besteht da- rin, die Spannung zwischen Konfliktparteien zu mindern und den Kon- flikt einzudämmen, bevor er größer wird. Die Ältesten werden nicht gewählt, sondern haben ihre Stellung deswegen inne, weil ihr fis sehr groß und im Viertel stark präsent ist. Die Ältesten können auch einem al- ten und respektierten fis angehören, obwohl die fis heute weniger zahl- reich sind. Es gibt fis, die man heute ›adlig‹ nennt (i fisëm), weil sie in der Geschichte eine wichtige Position hatten und deren Charisma noch wirkt, selbst wenn es davon nur wenige Familien in Bathore gibt. In eini- gen Vierteln scheinen sich die informellen Treffen zu formalisieren. Es wurde mir von zwei Vierteln berichtet, in denen man sich regelmäßig trifft, um über Probleme in der Nachbarschaft zu diskutieren. Die Ideologie des Kanuns Sami Frashëri, ein prominenter Vertreter der albanischen ›Wiederge- burts‹-Bewegung (rilindja), betont in Was war Albanien, was ist es, was wird es werden? (1899) die nationale Bedeutung der besa. Die besa sei seit dem Altertum bekannt und auf der ganzen Welt berühmt: »Der Arnaute tritt von seiner abgeschlossenen Bessa niemals zurück, er bricht sie nicht, er hält sie bis zum letzten Atemzuge. Bis zum heuti- gen Tage hält der Arnaute die Bessa heilig, und sie ist es auch, die ihn von den ihn umgebenden Gefahren retten wird.«207 207 Frashëri, S. 1913 [orig. 1899]: 44; 1962 [1899]. 205 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

Die Übersetzung von besa im Wörterbuch ist vielschichtig. Das Wort bedeutet demnach »Zusicherung auf freies Geleit, die einem der Blutrache Verfallenen gegeben wurde; Vereinbarung über ein zeitwei- liges Aussetzen der Blutrache«. Ferner heißt es Ehrenwort, Treue, Vertrauen, Glaube und Kredit.208 In Funktion und Bedeutung der ›Besa‹ in Vergangenheit und Gegenwart (1993) arbeitet Stephanie Schwandner die vielschichtige Dimension der besa in Ethnographie, Reiseberichten und Literatur von Albanern und Ausländern heraus, die über Albanien schreiben. Sie diskutiert den Begriff und seine Funktion in der nordalbanischen Gesellschaft und seine Dimension in den verschiedenen politischen Phasen des Landes. Sie kommt am Ende ihrer Arbeit nicht zu einer Definition der besa, ein Wort, das sich eigentlich nur innerhalb bestimmter sozialer Zusammenhänge ge- nau definieren lässt. Schwandner bildet ein Bedeutungsspektrum des Begriffes ab, die situationalen Bedeutungen eines übergeordneten all- gemeinen Wortes besa, den sie nur durch seine Bedeutung in Ge- wohnheitsrecht, Religion, Verwandtschaft, Wirtschaft und der poli- tischen Geschichte des Landes einkreisen kann, will sie jedoch nicht genau benennen. Wahrscheinlich ist eine Definition der besa gar nicht möglich, denn sie muss entweder so allgemein sein, dass jegliches so- ziale Handeln der Nordalbaner etwas mit besa zu tun hat, und man so eigentlich nichts erklärt, außer dass besa ›irgendwie‹ wichtig für alles ist. Oder die Definition muss sehr ausführlich sein, weitaus länger als ein bis zwei Sätze und alle unterschiedlichen Ausprägungen der besa berücksichtigen, was dazu führt, dass man die besa über die alle von ihr bestimmten sozialen Aspekte in einem Text zusammenfassen muss, also genau in der Form, wie es Schwandner in ihrer Arbeit vor- nimmt, womit man wieder beim Ausgangspunkt angekommen ist, dem Problem der fehlenden griffigen Definition. Die besa ist eine friedliche und freundschaftliche Beziehung. Sie macht die Inkorporierung und Zähmung des Feindes und des Frem- den möglich. Sie bietet Schutz, Sicherheit und Berechenbarkeit. Sie wirkt in Heiratsbeziehung zwischen zwei unterschiedlichen Familien

208 Langenscheidts Handwörterbuch Albanisch, Teil 1, Albanisch-Deutsch, von Buchholz [u.a.] 2000: 56; siehe auch Elezi 1997a: 25-27; Illia 1993: 208; Meçi 1995: 71-72; 2002: 80-82; Mihacevic 1913: 24-27. 206 Die Ideologie des Kanuns wie auch innerhalb der Familie als Förderer des internen Zusammen- haltes. Sie dient schließlich zur Versöhnung, Vermittlung und zum kurzzeitigen Aussetzen von Blutrache. Schwandner zählt eine Anzahl von unterschiedlichen Charakterisierungen aus der albanischen und nicht-albanischen Literatur über Albanien auf. Die Autoren sehen besa als Ehrenwort, Pfand, Bürgschaft, Glaube, Treue, Glaubensbe- kenntnis, Überzeugung, Loyalität, Vereinbarung, Versprechen, Ab- kommen, Pakt, Waffenstillstand, Waffenruhe, Burgfrieden, Sicher- heitsgarantie, Gottesfrieden, Asylrecht, Hausehre, Symbol der natio- nalen Einigkeit und, wie erwähnt, Zusicherung von freiem Geleit, Kredit und Vertrauenswürdigkeit.209 Die ganze Bandbreite der Be- zeichnungen der besa ordnet Schwandner in fünf Aspekte. Erstens nennt sie die ethischen Grundlagen und Garantien der Beziehung (Ehre, Hausehre, Unantastbarkeit, Unberührbarkeit, Männlichkeit, Treue, Glaube, Vertrauen, Loyalität, ›ritterliche Treue und Ehre‹, Bürgschaft). Zweitens ist besa ein Instrument der Inkraftsetzung (ge- gebenes und gehaltenes Wort, Ehrenwort, Treueid, Vereinbarung, Versprechen, Verpflichtung, Friedenseid, Schwur, Freundschaftsver- sprechen, Versprechen der Waffenruhe, Zusicherung von freien Ge- leit). Drittens kommt die besa bei hergestellten Beziehungen zwischen Personen oder Gruppen von Personen zum Tragen (Allianz, Ehebin- dung, Pakt, Vertrag, Bund, Gastfreundschaft, Blutsbruderschaft, Freundschaft, Treue, Friedensvereinbarung). Viertens kann besa eine geschaffene, manchmal räumlich und zeitlich gebundene Situation sein (Zuflucht, Friede, Waffenstillstand, Burgfriede, Asyl, Blutfriede, Aussetzen der Blutrache, Geleitschutz). Schließlich spiegelt die besa einen qualitativen Gewinn einer hergestellten Beziehung wider (Si- cherheit, Garantie, Sicherheitsgeleite, Berechenbarkeit, gegenseitige Hilfeleistungen, Kredit, Glaubwürdigkeit, Freundschaft, Prestige).210 Saltmarshe schreibt von einer bestimmten metaphysischen Dimen- sion, die die albanische Identität auszeichnet und die über die Zugehö- rigkeit zu einer bestimmten Religion oder bestimmten Gemeinschaft in Albanien hinausgeht: »I understood it to be a realm in which ances- tors and locus, belief and belonging, nder [Ehre] and besa were intima-

209 Schwandner Ms. [1993]: 8-13. 210 Schwandner Ms. [1993]: 13-14; Schwandner-Sievers 1998: 334. 207 Die Rahmenbedingungen des Kanuns tely interwoven in such a way as to link the past, present and future. My beliefs that this cosmology was, and to a limited extent still is, inte- gral to the ascribed identity of north Albanian society.«211 Besa, hier als Teil einer nicht näher benannten, etwas nebulösen metaphysischen Ebene, ist heute ein wichtiger Aspekt des sozialen Handelns. Der in- formelle Bereich des sozialen Lebens, geprägt durch Informationsver- breitung, Reziprozität, Tausch und die Durchsetzungsmöglichkeit außerstaatlicher Sanktionen, erlaubt den zunehmenden familiären Zusammenhalt und die sich festigende Position des fis im Dorf. Besa ist damit Teil der Ideologie, die die fis-Struktur, die informelle Ver- waltung und den Respekt davor garantiert. Für Saltmarshe spielt das soziale Kapital der Ehre, des Prestiges und des Respekts eine zentrale Rolle. Status ist eine Ressource, die die Perspektive auf den Erhalt an- derer, materieller Ressourcen ermöglicht. Soziales Handeln in Nor- dalbanien unter der besa bedeutet Handeln in der außerstaatlichen Ideologie.212 Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit bedeutet besa resümierend eine Art Wertvorstellung in der nordalbanischen ländlichen Gesell- schaft. Sie wirkt im sozialen Handeln auf vielerlei Ebenen. Auf einer Anwendungsebene, das heißt wenn die besa bewusst mit einer be- stimmten Situation verbunden wird, handelt es sich um einen kurzzei- tigen Waffenstillstand zwischen zwei in Blutrache stehenden Grup- pen oder eine Versöhnung dieser beiden Gruppen. Die besa ist ein Schutzeid, die dem Gast Gastfreundschaft zukommen lässt und dem Reisenden, dem man Schutz angebotenen hat, Sicherheit bei der Durchquerung des Einzugsbereiches des Schutzgewährenden bietet. Zentral für meine Arbeit ist, dass die besa die Grundlage der Akzep- tanz von außergerichtlichen Vereinbarungen darstellt und sozialen Beziehungen in Abwesenheit staatlicher Kontrollinstanzen und bei mangelndem Vertrauen in demokratische Strukturen Sicherheit und Verbindlichkeit bietet. Wenn man Handlungen im Sinne einer besa ausführt, wie beispielsweise die Vermittlung von Landkonflikten oder Streitigkeiten zwischen zwei Parteien, bedeutet dies nichts anderes, als dass sich die beteiligten Personen auf einen ideologischen Hand-

211 Saltmarshe 2001: 125, Kursivierung im Original. 212 Saltmarshe 2001: 125. 208 Die Ideologie des Kanuns lungsrahmen festlegen, indem eine Vermittlung durchgeführt wird, in der gewisse Werte gelten. Diese betreffen den Status der Ältesten, der Respekt ihrer Worte, die Akzeptanz gewohnheitsrechtlicher Rege- lungen, den Willen, den Konflikt über einen Kompromiss zu lösen und die getroffene Vereinbarung zu respektieren. Gerade im heutigen Albanien, in dem es mehrere Sichtweisen gibt, wie soziales Handeln erfolgen soll, beispielsweise konform staatlicher Normen oder der Regelungen des Kanuns, und man zwischen diesen Vorstellungen je nach Situation hin- und herwechselt, ist es notwendig, ausdrücklich oder angedeutet klarzustellen, welcher ideologische Rahmen die Grundlage für das Handeln darstellt. Es lässt sich nicht vorhersagen, wann in dem einen Fall die Regeln des Staates und in einem anderen jene des Kanuns gelten, meist ist es eine Mischung aus beidem. Wenn man aber hört, ein Konflikt wird nach dem Kanun (sipas kanunit)ge- löst, dann wird damit deutlich, dass die gefällten Entscheidungen und Äußerungen dazu von allen Parteien und anderen involvierten Perso- nen unter der besa stehen. Jacob Black-Michaud (1975) schreibt über ›feuding societies‹ — zu seiner Untersuchung gehört auch Albanien —, dass es bezüglich der Ehrvorstellung nur wenig genaue und strikte Regeln über Verhaltens- weisen gibt, die als ehrenvoll gelten oder nicht. Individuen interpretie- ren Ehre häufig nach eigenem Belieben beziehungsweise innerhalb des Rahmens, der durch eine bestimmte Konstellation vorgegeben wird.213 Neben den im ersten Kapitel dieser Arbeit genannten Regeln, wie sie Gjeçov beschreibt, sind in der Literatur nur vereinzelte Nor- men beschrieben, die ehrvolles Verhalten oder eben ehrverletzende Handlungen nennen. Diese decken sich mit den Punkten Gjeçovs, doch es gibt keine Aufstellung im Sinne eines Regelwerks. Ich habe im ersten Kapitel Ehre mit Peristiany als die Verknüpfung zwischen den Idealen einer Gesellschaft und seiner Reproduktion durch den Einzel- nen beschrieben. Ehre ist ein Kredit, den man von der Gesellschaft er- halten hat. Der Einzelne zahlt den Kredit über das Akzeptieren der gesellschaftlichen Logik zurück, reaktualisiert damit die Logik der Ehre und perpetuiert sie.214

213 Black-Michaud 1975: 179. 214 Siehe auch Illia 1993: 208; Meçi 1995: 65-66; 2002: 72-74. 209 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

Auch wenn ich aus der Perspektive des Individuums argumentiert habe, ist dies keine individualistische Sicht auf die Logik der Ehre. Black-Michaud hingegen betont das Individuum und eine kapital- orientierte Sicht, das die Ehrvorgaben nach seinen persönlichen politi- schen Zielen manipulieren kann. Macht und Ehre sind bei ihm als synonym zu betrachten. In einer ökonomisch homogenen Gesell- schaft, in der es keine großen wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Familien geben kann, erlaubt die Verteidigung der eigenen Ehre und der seiner Gruppe dem Individuum, aus der Masse herauszutre- ten und an Prestige zu gewinnen.215 Auch Bourdieu beschreibt eine Nutzen geleitete Praxis des individuellen Ehrverhaltens, das ähnlich dem ökonomischen Kapitalbegriff von Investition, Akkumulation und Profitmaximierung geprägt ist. Ehre kann einerseits als ein besonderer Bewusstseinszustand be- schrieben werden, als eine persönliche Überzeugung, das Richtige ge- tan zu haben oder auf sich stolz zu sein. Oder es kann eine allen Menschen zugesprochene Würde sein. Andererseits — und dieser Punkt ist für die vorliegende Arbeit sinnvoller — wird ehrvolles Han- deln in Verbindung zur Rezeption und der Bewertung durch die Ge- sellschaft gesetzt. Ehre wird zu Demonstration, Wettbewerb und Reputation.216 Von einer individuellen Perspektive aus gesehen ist das Handeln und die Reputation des Einzelnen, wie das Individuum mit der Ehre umgeht und Prestige kalkuliert, Produkt eines individuellen, mehr oder weniger Nutzen geleiteten Handelns. Von einer gesell- schaftlichen Perspektive, losgelöst vom Einzelfall — die Sichtweise, die ich beim vorliegenden Thema für sinnvoll erachte —, lässt die Lo- gik der Ehre dem Individuum weitaus weniger Freiraum. Es gibt einen gesellschaftlich vorgegebenen Kanon für ehrvolles Handeln. Diese Verhaltensweise führt zur gesellschaftlichen Anerkennung des ehr- vollen Verhaltens und damit zu Reputation und Prestige. Ehre stellt damit das Verbindungsstück zwischen den Idealen einer Gesellschaft und ihrer Reproduktion durch das Individuum dar. Dies bedeutet nicht nur, dass es eine Präferenz für einen bestimmten Verhaltensmo- dus gibt. Damit verbunden ist ferner ein Recht auf eine gesellschaftli-

215 Black-Michaud 1975: 178, 179. 216 Giordano 1994: 173-174. 210 Die Ideologie des Kanuns che Anerkennung dieses Verhaltens, gewissermaßen ein Recht auf Status.217 Die Ehre in dem hier verstanden Sinne ist ein Habitus: Ein gegebener gesellschaftlicher Verhaltenskodex wird in der Praxis re- produziert und stabilisiert. Der über die Sozialisation erworbene Ha- bitus prägt das Individuum dergestalt, dass es mit großer Wahrschein- lichkeit seinen Platz in der Gesellschaftsstruktur finden wird. Durch die Praxis des Individuums, das die Regeln der Ehre verinnerlicht hat, wird der Ehrkodex fortgeführt und festgeschrieben. Für Black-Michaud ist die Ehre neben dem Kanun ein weiteres Re- gelwerk, das neben dem Gewohnheitsrecht besteht. Diese zwei paral- lelen Rechtsformen gilt es demnach immer dann zu berücksichtigen, wenn der Kanun sich nicht als adäquat erweist, bestehende Konflikte zu lösen: »Recourse to the law of honour when the ›canon‹ fails to function efficiently translates the conflict into different terms and per- mits an escalation of hostilities far above the level beyond which the ›canon‹ becomes impotent to ensure that a certain measure of justice is done.«218 Black-Michaud versucht damit offensichtlich eine Erklärung zu bieten, wie es zu Gewalt und Blutrache kommt, obwohl es den Ka- nun gibt, der Sprüche und Regeln vorgibt, die eigentlich Lösungen vorsehen. Beispielsweise verbietet der Kanun, jemanden zu töten, au- ßer wenn dessen Ehre verletzt wurde. Doch die legalen Institutionen, so Black-Michaud, seien schwach und die einzige Möglichkeit, Recht zu bekommen, sei es mit Waffengewalt gegen den Gegner vorzuge- hen. Wenn zwei Konfliktparteien sich um einen Landbesitz stritten und der Kanun ihnen keine Lösung biete, dann komme das Motiv der Ehre ins Spiel. Wenn einer der Konfliktpartner den Wunsch des ande- ren nicht mit dem Status eines Ehrenmannes in Einklang sehe, könne man unter Umständen die Grenzen des Kanuns überschreiten und sein Gegenüber töten, um sein Gesicht zu wahren.219 Ehre erlaube, ei- nen Konflikt aus dem Zivilrecht auf eine andere Ebene zu verlagern, die von weniger Regeln beherrscht werde. Ehre sei, so Black- Michaud, weniger klar definiert und deswegen offen für eine Vielzahl von Interpretationen.220

217 Peristiany 1974 [1966]: 22. 218 Black-Michaud 1975: 141-142. 219 Black-Michaud 1975: 142. 211 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

Im Hinblick auf die Ehre kommt der öffentlichen Meinung eine be- sondere Rolle zu. Die öffentliche Meinung bewertet, wie das Ehrver- halten des Individuums einzustufen ist, ob man sich an die Logik der Ehre gehalten hat oder nicht. Die öffentliche Meinung gesteht dem In- dividuum durch die Belohnung für ehrvolles Verhalten letztendlich Prestige zu. Ehre ist damit ein öffentliches Phänomen. Es ist nicht sehr wichtig, ob der Handelnde von der moralischen Richtigkeit seines Tuns überzeugt ist. Wichtiger ist, wie die Gesellschaft ihn in der di- chotomischen Ordnung zwischen Ehre und Schande einordnet: »Die Mitglieder mediterraner Gesellschaften fühlen sich und gelten erst dann als entehrt oder als ›schamlos‹, wenn die Ehrverletzung öffent- lich geworden ist. Ebenso wird der ›Schamlose‹ seine Ehrbarkeit erst dann wiedergewinnen, wenn er öffentlich demonstriert, dass er seine Reputation nach einer Beleidigung verteidigen kann.«221 Ehre ist im heutigen Albanien noch immer sehr bedeutsam. Sie ist ein unverletzli- cher Wert, dessen Verlust theoretisch nur durch die Waffe wiederher- zustellen ist.222 Bis 1944 waren, wenn man den zeitgenössischen Quellen folgt,223 große Teile des sozialen Lebens durch die Blutrache bestimmt, durch die Angst, eine Blutrache auszulösen oder dadurch, das Leben darin zu verlieren. Black-Michaud vertritt die Meinung, dass eine Gesell- schaft, die stark und dauerhaft von der Blutrache und seinen sozialen Konsequenzen beherrscht werde, nur bei Bedingungen entstehen könne, die er als ›total scarcity‹ bezeichnet. Damit sind moralische, so- ziale und materielle Bedingungen einer Gesellschaft gemeint, in der al- les von den Menschen als lebensnotwendig Angesehenes in völlig unzureichender Menge vorhanden ist. Diese Lage ergibt sich aus öko- nomischen und historischen Rahmenbedingungen, die die Akkumu- lation materieller Güter und Anhäufung von individuellem Reichtum verhindert. Dies wiederum hemmt die Entwicklung sozialer Schich- ten und die damit verbundenen materiell begründeten Machtstruktu- ren. Dadurch kann es auch nicht in großem Umfang zu einer Verer-

220 Black-Michaud 1975: 143. 221 Giordano 1994: 183; siehe auch Schwandner-Sievers 1998: 334. 222 Gjuraj 2000: 104. 223 Siehe dazu die Besprechung des Kanuns bis 1944 im ersten Kapitel. 212 Die Ideologie des Kanuns bung von Reichtum und sozialem Status kommen. Politische und ju- ristische Institutionen können sich nicht entwickeln, es entsteht viel- mehr ein egalitärer Ethos im ökonomischen und sozialen Leben, der sich auch als moralische Verhaltensnorm durchsetzt. Die moralische Seite der ›total scarcity‹ wird durch den Wunsch der Menschen be- stimmt, darauf zu achten, dass keiner mehr von ökonomischem, so- zialem und kulturellem Kapital auf sich vereinen kann als ihm innerhalb des Gleichheitsdenkens zusteht. Gegen jede Person, die ge- gen die egalitäre Idealvorstellung verstößt, gibt es harte Sanktionen.224 Die vorrangige Begleiterscheinung der ›total scarcity‹ ist Angst. Es ist die Angst, von der Blutrache betroffen zu werden. Angst davor, sich in den Wehrturm (kullë) mit den anderen männlichen Vertretern der Familien zurückziehen zu müssen (Abb. 20).225 Das soziale Leben und die Wirtschaft werden blockiert. Muss man trotz der Gefahr aus dem Haus, hat man aufzupassen, nicht in einen Hinterhalt zu geraten. Aber es ist auch eine Angst vor Hunger, ob man genügend erwirt- schaftet hat und die Familie unterhalten kann. Diese Angst ist jedoch keine offene Angst, wie man bei Black- Michaud den Eindruck bekommt. Es ist kaum vorstellbar, dass das so- ziale Leben von einer steten offenen panischen Furcht beherrscht wird. Es ist vielmehr strukturelle Angst und ein Misstrauen. Man könnte auch sagen, dass es eine institutionalisierte Angst ist, der aber eine gleichermaßen institutionalisierte Form der Sicherheit gegen- übersteht. Ein Beispiel dafür ist die Gastfreundschaft (mikpritje):226 In dem Kanun nach Gjeçov hat die Gastfreundschaft einen wichtigen Stellenwert und auch im heutigen Albanien wird die besondere Be- deutung des korrekten Empfangs eines Gastes betont. Zu jeder Tages- und Nachtzeit musste eine Familie bereit sein, einen Gast zu empfan- gen um ihn mit ›Brot, Salz und Herz‹, mit Feuer, Holz und einem Bett willkommen zu heißen. Doch nicht jeder Gast war gleichermaßen willkommen. Gjeçov macht Unterscheidungen zwischen dem ›nor- malen Gast‹, den man ehrvoll empfing, ihm die Füße wusch, anschlie-

224 Black-Michaud 1975: 121-123. 225 Zu kullë siehe Muka, A. 2001; Nopcsa 1912: 38-50; Thomo 1976. 226 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 131-137, §§ 602-666; siehe Illia 1993: 52-59; Meçi 1995: 66-70; 2002: 66-70. 213 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

Abb. 20: Wehrturm (kullë) am Fluss Fan i vogël in der Nähe von Orosh, Mirdita.

ßend etwas zu essen reichte und dem ›guten Gast‹, dem man Kaffee, Raki und Nahrung in größeren Mengen bereitstellte. Ein besonders gern gesehener Gast bekam sogar gesüßten Kaffee, Tabak und noch Brot zu den üblichen Gaben. Mik, der Gast, wird heute fast nur mit ›Freund‹ übersetzt. Es bezeichnet in Nordalbanien jedoch eigentlich einen Vertreter aus einer anderen Bruderschaft, einem anderen Dorf oder fis.Dermik ist damit nicht Teil der eigenen Großfamilie, sondern immer jemand, mit dem man nicht direkt verwandt ist.

214 Die Ideologie des Kanuns

Wenn der Gast in das Haus seines Gastgebers eintrat, übergab der mik seine Waffe dem Hausherrn. Dies war auch eine symbolische Ge- ste, denn der Hausherr hatte nun die Pflicht, ihn zu beschützen solan- ge er den Gast bei sich hatte. Der Gast gab das Gewehr und damit auch seinen Schutz in die Hände des Hausherrn. Es reichte aus, in der Öf- fentlichkeit zu sagen, dass man der Gast von dieser oder jener Person sei, damit klar war, wer für den mik verantwortlich war. Doch nicht nur im Haus stand der Gast unter dem Schutz des Hausherrn. Da man davon ausgehen musste, dass der mik, der meist ortsunkundig war, den Weg zu seinem nächsten Ziel nicht kannte, begleitete der Gastge- ber seinen Gast bis zu den Grenzen des Gebiets, für das er verant- wortlich war. Sollte dem Gast in der Zeit, in der er seine Sicherheit an den Gastgeber abgegeben hat, etwas zustoßen oder man ihn beleidi- gen, dann war der Gastgeber dafür verantwortlich. Wenn der Gast ge- tötet wurde, dann fiel die Blutschande auf den Gastgeber. Sollte der Gast in dieser Zeit selbst Schaden verursachen, dann war ebenfalls der Gastgeber dafür verantwortlich. Auf der einen Seite ist die strukturelle Angst der ›total scarcity‹, die Blutrache-Situation, stetes Misstrauen, Todesfurcht, das Eingesperrt- sein bei Blutrache und tiefsitzender Hass gegen die Blutfeinde. Auf der anderen Seite gibt es dazu als Gegenstück eine ›strukturelle Sicher- heit‹, die neben der Gastfreundschaft in Allianzen durch Hochzeiten, Patenschaften oder Blutsbruderschaften bestehe. Selbst dem Blut- feind gegenüber musste man, wenn er als Gast vor der Tür steht, die gleichen Gastrechte bieten. Schwandner(-Sievers) bemerkt in der nordalbanischen Gesellschaft eine dichotomische Weltsicht, die dem Kanun zu Grunde liegt. Die Weltsicht ist eine Kategorie, die die Menschen in vertrauenswürdige Freunde, die man beschützen muss, und in untreue, gefährliche oder verräterische Feinde ordnet.227 Zur Erklärung ihrer These zieht Schwandner die im ersten Kapitel erwähnten mythischen ora heran, das heißt individuelle Schutzgeister, die weiß gesichtig (faqja e bardhë) dem guten Menschen und schwarz gesichtig (faqja e zezë) dem schlechten Menschen zur Seite stehen.228 Die ›oppositionellen

227 Schwandner-Sievers 2001: 102. 228 Lambertz 1922: 7-8; Schwandner-Sievers 1999: 145. 215 Die Rahmenbedingungen des Kanuns

Kategorien‹ bestimmen das Denken der nordalbanischen Bevölke- rung. Es ist eine symbolische Klassifikation zwischen Freund und Feind, aber genauso zwischen den Farben schwarz und der Richtung links, die negativ besetzt, und auf der anderen Seite weiß und rechts, die positiv besetzt sind: Ehre/Unehre (Schande), weiß/schwarz, Freund/Feind.229 Wenn man Schande auf sich geladen hatte, dann war man einen so- zialen Tod gestorben. Um wieder ein aktiver Teil der Gesellschaft zu werden, gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder man vergab demje- nigen, der einen entehrt hatte. Durch diese großmütige Geste rehabili- tierte man sich in den Augen der Gesellschaft. Doch wenn man sich persönlich nicht in der Verfassung sah, die Ehrverletzung zu verge- ben, dann musste man sein ›verschmutztes‹ oder schwarzes Gesicht reinigen. Das bedeutete nichts anderes, als seine Ehre durch Blutver- gießen am Ehrschänder wiederherzustellen. Erst dann wurde das Ge- sicht wieder weiß.230 Auch der natürliche Tod brachte ein schwarzes Gesicht der Trauer. Am Tag der Beerdigung standen die Männer um den aufgebahrten Leichnam und kratzten ihr Gesicht blutig. Das schwarze Gesicht muss durch das Kratzen abgezogen werden. Die Freunde der Familie des Toten durften sich ihr blutiges Gesicht nicht abwaschen, bis sie wieder in ihrem Haus angekommen waren.231 Das Fremde und der Feind mussten erst gezähmt werden, bevor man sie integrierte. Das galt für Blutracheversöhnungen, in denen man den Blutfeind in einen Verbündeten verwandelte. Durch eine umfangreiche Zeremonie wurde der demütige Mörder in das Haus der Familie des Toten geführt.232 Doch auch den Gast musste man in allen Ehren entmündigen und damit zähmen. Man nahm ihm die Waffe ab, damit er keine Möglichkeit hatte, irgendwelche ›schlechten Dinge‹ zu tun. Der Gast bekam ferner den Ehrenplatz im Haus zugesprochen, abgesetzt von dem Rest der anwesenden Familie. Dieser Platz wurde ihm zugewiesen, um ihn zu ehren, aber auch um ihn genau im Blick zu haben, damit er die Situation nicht falsch ausnutzte.233

229 Schwandner 1995: 130; Schwandner-Sievers 1996: 121; 1999: 134-135; 2001: 102. 230 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 129, §§ 595, 600. 231 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 217-219, §§ 1235, 1251; Filipovic 1936. 232 Die Versöhnungszeremonie wird ausführlich im dritten Kapitel beschrieben. 216 Die Ideologie des Kanuns

Schwandner zählt in ihrer Arbeit diese dichotomischen Begriffspaa- re auf, die die zu Grunde liegende Dualität der nordalbanischen Ge- sellschaft illustrieren soll: weiß/schwarz; hell/dunkel; rechts/links; richtig/verkehrt; gleich/ungleich; Osten/Westen; ›starkes Blut‹/›dün- nes Blut‹; außen/innen; sakral/profan; jenseitig/diesseitig; Glück/Un- glück; Ehre/Unehre (Scham); männlich/unmännlich (demütig); Söhne/keine Söhne; stark/schwach; tapfer/feige; offensiv (›Held‹)/in- aktiv; unantastbar/angreifbar; aktiv/passiv; großzügig/kleinlich; gast- freundlich/ungastlich; freigiebig/geizig; rechtschaffend/nichtsnutzig, unredlich; ehrlich/unehrlich; (wort-)treu/untreu (wortbrüchig); loy- al/disloyal; wehrfähig/nicht wehrfähig; arbeitsam/faul, träge; Freund- schaft/Feindschaft; shtëpi (eigen)/fremd; Leben/Tod.234 Ich habe bewusst die besa, die Ehre und die dichotomische Sichtwei- se in einem lose zusammenhängenden Konzept verbunden. Parallelen und Verbindungen sind offensichtlich, es ist jedoch kein genau be- schreibbares ideologisches Konzept hinter dem Kanun. Es handelt sich vielmehr um Ansammlungen übergreifender Wertvorstellungen, die keine aufeinander abgestimmte Logik haben, sondern jede für sich für das soziale Verhalten bestimmend sind.

233 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 132, §§ 615, 618; Schwandner 1995: 118-119. 234 Schwandner Ms. [1993]: 110-111. 217

Die Praxis des Kanuns Kommunikationsstil

Der Konfliktvermittlungsprozess steht im Zentrum dieses Kapitels. Verschiedene Formen der Konfliktlösung werden am Beispiel des Diebstahles, des Landkonfliktes und der Versöhnung von Blutrache besprochen. Es wird deutlich werden, dass die Grundstruktur der Konfliktvermittlung in allen Fällen sehr ähnlich ist. Wichtig für die mündliche Dimension des Kanuns ist, dass Vermittlungen an konkre- te Personen gebunden sind. Die Lösung des Konfliktes steht vorher nicht fest, sie wird im Vermittlungsprozess selbst aufgestellt. Die Lö- sung ist meist ein Kompromiss, ein konsensuales Ergebnis, das am Ende des Vermittlungsprozesses öffentlich aufgeführt wird. Über die Darstellung der Konfliktvermittlungen im Kanun soll der mündliche Kommunikationsstil des Kanuns deutlich werden. Hier baue ich wieder auf das Habitus-Konzept auf. Als Habitus verstehe ich hier die über die Sozialisierung internalisierten Strukturen des so- zialen Feldes. Als den Kommunikationsstil bezeichne ich dann den kommunikativen Habitus, der im dialektischen Verhältnis zu den Kommunikationsverhältnissen steht, die das soziale Feld der Kom- munikation darstellen. Epochen der Kommunikation Es war für die Kommunikationsforschung ein wichtiger Schritt, die Kommunikationstechnik in den Mittelpunkt kulturwissenschaftlicher und mediengeschichtlicher Forschung zu stellen. Dadurch wurde deut- lich, dass das Kommunikationsmedium nicht nur Voraussetzung und Werkzeug kommunikativer Prozesse ist, sondern durch seine Struktur Einfluss auf den Transfer von Botschaften und ihre Form hat.1 Die These,

1 Winkler 2000: 11. 219 Die Praxis des Kanuns die den meisten Untersuchungen zu Grunde liegt, die Übergänge von mündlichen zu schriftlichen Gesellschaften zum Thema haben, besagt, dass ein Wechsel in den Kommunikationsmöglichkeiten direkt oder in- direkt soziales Verhalten verändert.2 Damit verbunden lautet eine Prä- misse der ›Great Divide‹-Theoretiker, dass grundlegende Bedingungen einer Gesellschaft direkt mit der Kommunikation zusammenhängen.3 Mit ›Great Divide‹ oder ›Grand Partage‹ bezeichnet man jene Ansätze, die Unterschiede zwischen Oral- und Schriftkulturen betonen. Allge- meiner geht es um Epochen der Kommunikation und darum, worin sie sich unterscheiden. Beispielsweise wird behauptet, der Unterschied zwi- schen einer Gesellschaft mit einem verzweigten Telefonnetz und einer ohne Telefon sei genauso groß wie jener zwischen einer oralen und einer literalen Gesellschaft.4 Kommunikation wird in diesem Sinne prägend für Kultur und eine bestimmte Form der Kommunikationspraxis zum konstitutiven Ele- ment einer Gesellschaft. Ein Wechsel in der Kommunikation führe zu einem ›Kulturbruch‹5 und mediale Umwälzungen zu durchgreifenden sozialen Veränderungen. Peter Koch und Wulf Oesterreicher (1985) vermeiden die Unter- scheidung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit und stellen Kommunikation als mehrdimensionalen Raum zwischen zwei Polen dar. Auf der einen Seite findet man die ›Sprache der Nähe‹, eine Kom- munikation, die auf das Gegenüber des Kommunikationspartners und das unmittelbare Umfeld reduziert ist. Koch und Oesterreicher cha- rakterisieren die ›Sprache der Nähe‹, mit Begriffen wie ›Dialog‹, ›keine Öffentlichkeit‹, ›Spontaneität‹ oder ›face-to-face‹-Interaktion. Auf der anderen Seite des Kontinuums steht die ›Sprache der Distanz‹, in der die Kommunizierenden physisch nicht anwesend sind, und Me- dien die Überbrückung der Entfernung zwischen den Akteuren über- nehmen. An dieser Stelle werden Begriffe wie ›räumliche und soziale Trennung‹, ›Situationsentbindung‹ oder ›Reflektiertheit‹ genannt.6

2 Goody 1993 [1987]: 3; Ndiaye 1999: 6. 3 Finnegan 1988: 12-13. 4 Aronson 1971: 153. 5 Vollrath 1981: 573. 6 Koch/Oesterreicher 1985: 21. 220 Epochen der Kommunikation

Jack Goody (1968, 1977, 1986, 1987) ist sicherlich der prominenteste Ethnologe, der Kulturwandel über Kommunikation herausarbeitet. Es geht Goody um das ›interface‹ zwischen mündlich und schriftlich geprägten Gesellschaften. Seine Vorgehensweise besteht hauptsäch- lich darin, historische Entwicklungen unter dem Blickpunkt der Schriftbenutzung darzustellen. Die Beschreibung von ›Technologien kommunikativer Akte‹ steht im Vordergrund, das heißt, es wird un- tersucht, wie Kommunikationsmedien die Kommunikation beein- flussen und welche Folgen dies für die gesellschaftliche Entwicklung hat.7 Goody strebt dabei keine allgemeine Theorie der Kommunikati- on oder der Kultur an. Er will ein bestimmtes Thema, den Zusammen- hang von Kommunikationsmedium und sozialen Prozessen, durch verschiedene Epochen erkunden. Kultur versteht er als eine Aneinan- derreihung kommunikativer Akte. Unterschiede in der Art der Kom- munikation oder die Etablierung eines neuen Mediums führen zu Unterschieden in Produktion, Speicherung und Analyse von Wissen, unterschiedliche Kommunikationsarten bedingen unterschiedliches soziales Verhalten.8 Im Folgenden möchte ich kurz auf die Änderungen eingehen, die die Einführung der Schrift für das soziale Verhalten gebracht haben soll. Auch wenn es mir in der vorliegenden Arbeit hauptsächlich um Mündlichkeit geht, kann ich doch am Beispiel der Diskussion um die Schrifteinführung deutlich machen, welche sozialen Veränderungen mit einem Wechsel der Kommunikation verbunden werden. Gesell- schaften mit und ohne Schrift, so postulieren viele Autoren, würden sich grundlegend unterscheiden.9 Die Einführung der Schrift sei ein komplexer Prozess, betont Goo- dy. Unterschiedliche Formen der Schrift wirkten unterschiedlich in unterschiedlichen Gesellschaften. Dennoch gebe es zahlreiche eini- gende Eigenschaften, wie Goody und andere Autoren herausstellen:10 Die Schrift fixiere die Rede des Menschen und ermögliche ihre Loslö-

7 Goody 1977: 11; 1993 [1987]: X. 8 Goody 1977: 45; 1992 [1986]: VII, XIV. 9 Siehe Havelock 1982 [1962], 1986; Innis 1950; McLuhan 1997 [1962], 1999 [1964]; Ong 1967, 1999 [1982]. 10 Goody 1992 [1986]: XI. 221 Die Praxis des Kanuns sung von ihrem direkten Produktionszusammenhang. Die Rede wer- de verdinglicht und dadurch der Text mit anderen Texten vergleich- bar. Argumentationen könnten nebeneinander beurteilt werden.11 Die Einführung der Schrift führe zur Objektivierung der Sprache, die durch einen Satz von Zeichen ein materielles Gegenstück bekomme. Ferner schaffe die Schrift eine Distanzierung zwischen den Individu- en und ihren Nachrichten. Das bringe mehr Objektivität und erhöhe das analytische Potential.12 Schrift führe zur Entpersonalisierung der sozialen Kontakte, Reorganisation der sozialen Räume und der Zeit- vorstellung.13 Mit der Schrift werde das kulturelle Gedächtnis kom- plexer und erlaube das Überschreiten des geschichtlichen Horizonts der eigenen Epoche. Der Unterschied zwischen alt und neu offenbare sich der Gesellschaft. Die Weitergabe von Wissen ohne ständige Transformation sei über Generationen hinweg möglich. Erst über die Schrift erhielte man eine Vorstellung von der Geschichte.14 Schrift bringe Demokratie, logisches Denken, Akkumulierung von Wissen, Bürokratie, die Untergrabung der Bedeutung der Familie, die Ent- wicklung der Stadt.15 Die Popularität der Beschäftigung mit dem Übergang von der Mündlichkeit zur Schrift und die Herausarbeitung der vermeintlichen Konsequenzen der Schrifteinführung generell erklärt sich dadurch, dass dabei nach den Grundlagen unserer schriftbasierten Kultur ge- fragt wird. Unser kulturelles Selbstverständnis wird hinterfragt.16 Die Kritiken an Goodys Ansatz sind vielfältig. Beispielsweise untersucht Maurice Bloch (1998) einige zentrale Thesen Goodys. Anhand von Beispielen aus Forschungen in Madagaskar kritisiert Bloch den an- geblichen befreienden Effekt, den die Schrift nach Goody haben soll. Führende madagassische Schichten und ihre machtvollen Positionen gerieten auf Grund der Einführung der Schrift nicht in Gefahr, im Ge- genteil, man nutzte die Schrift, um die eigene herausragende Position dauerhaft zu festigen. Schriftlichkeit wirkt nicht an sich und leitet 11 Goody 1992 [1986]: 129; 1993 [1987]: 77; Ong 1999 [1982]: 132. 12 Goody 1968: 1; 1992 [1986]: 142 13 Goody 1992 [1986]: 106; 1993 [1987]: 14 Assmann 2000 [1997]: 22-23, 100; Finnegan 1988: 17-22; Goody 1993 [1987]: 54. 15 Goody 1993 [1987]: 54-56, 165. 16 Loos 1998: 1. 222 Epochen der Kommunikation nicht automatisch demokratische Strömungen ein, so Bloch. Kulturel- le Texte werden nicht entsozialisiert und erreichen keine von ihrem Produktionszusammenhang losgelöste Existenz. Schrift wird von den Menschen eingesetzt und ausgenutzt, die schon in der Mündlichkeit die Kommunikation maßgeblich bestimmten.17 Ein großes Problem bei Goodys Überlegungen ist nicht nur die technozentrische Beschreibung gesellschaftlicher Kommunikation, es ist vielmehr eine ganze Mediengeschichte, die über die monokausale Fokussierung einen Mediendeterminismus erweckt.18 Wenn man die Thesen Goodys auf ihre Kernaussage reduziert, wird Schrift zu einem Wert an sich, der kulturelle Zusammenhang wird nicht beachtet.19 Eine genaue Lektüre Goodys zeigt jedoch, dass er die Einführung der Schrift differenziert diskutiert und die Geschichte nicht nur in ein Modell der Schriftentwicklung einpasst, die die Evolutionen vom Ein- fachen zum Komplexen, von straffer Hierarchie zu Demokratie oder von einer ›Logik der Wilden‹ zu einer ›Logik der Wissenschaftler‹ postuliert.20 Wenn man die abstrahierten Thesen Goodys zu Schriftlichkeit und Mündlichkeit gegenüberstellt, dann erhält man Typologisierungen, wie ›dies ist eine Oralkultur‹ und ›dies eine Schriftkultur‹, auch wenn Goody diese Gegenüberstellung nicht explizit vornimmt. Goody ist gegen Dichotomien, wie sie beispielsweise von Claude Lévi-Strauss (1962) postuliert werden (die ›Logik des Bastlers‹ und die ›Logik des Ingenieurs‹). Lévi-Strauss sei, so Goody, wie viele andere Wissen- schaftler ein Opfer eines in den Köpfen gefestigten binären Eurozen- trismus, der Unterteilung der Welt in primitive und entwickelte Gesellschaften. Goody will zwar generelle Einordnungen vorneh- men, darauf jedoch keine allgemeine Weltanschauung aufbauen: »In looking at the changes that have taken place in human thought, then, we must abandon the ethnocentric dichotomies that have characteri- zed social thought in the period of European Expansion. Instead we should look for more specific criteria for the differences.«21 Goody

17 Bloch 1998b: 161. 18 Assmann 2000 [1971]: 25. 19 Münzel 1986: 165. 20 Scharlau 1989: XIII. 223 Die Praxis des Kanuns will keine weitere dichotomische Klassifikation postulieren. Es geht ihm um eine kausale und erklärende Darstellung zweier Kommunika- tionsformen.22 Doch eine kausale Dichotomie ist ebenso wie eine klas- sifizierende Dichotomie immer noch eine Dichotomie. Vor allem liegt in der dichotomischen Vorstellung der mündlich und der schriftlich geprägten Kommunikation durchaus eine Weltanschauung begrün- det, die nicht ausdrücklich erwähnt wird, doch dem Leser die Einfüh- rung der Schrift positiv darstellt. Die Geschichte in Epochen einzuteilen, die von den jeweils bestim- menden Kommunikationsmedien geprägt sind, erfolgte schon vor und parallel zu Goody. Harold A. Innis (1950) stellt fest, dass Kommunika- tionsmedien Veränderungen in zwei Kategorien mit sich bringen. Die Zeit und der Raum stehen in einem engen Zusammenhang mit der Kom- munikation. Ein Beispiel lautet dazu: »Stein- oder Tontafeln […] sind dauerhafte, aber schwer transportable Medien. Sie begünstigen die Ver- breitung von Wissen und kontrollierende Herrschaft über Zeit. Papier dagegen ist ein eher kurzlebiges Material, dafür leicht zu transportieren; es fördert die räumliche Ausdehnung von Wissen und Macht.«23 Eric A. Havelock (1962, 1986) schreibt über mentale Strukturen, das heißt über unterschiedliche Arten des Bewusstseins der Menschen in mündlich ge- prägten Gesellschaften und in Schriftkulturen. Am Beispiel des antiken Griechenland vor und nach der Einführung der Schrift beschreibt Have- lock, dass Oralkulturen zwar nicht primitiv seien, jedoch nicht kausal denken und keine abstrakten Diskurse pflegen würden. Das sei erst mit der Schrift möglich geworden. Prominent sind neben der Oralität-Literalität-Diskussion auch jene Forschungen, die eine weitere Epoche nach der Phase der Schriftlich- keit beschreiben und eine ›neue‹ oder ›sekundäre‹ Mündlichkeit beto- nen. Begonnen hat diese Diskussion Marshall McLuhan (1962, 1964) mit seinen mediengeschichtlichen Epochen ›orale Stammeskultur‹, ›li- terale Manuskriptkultur‹, ›typographische Gutenberg-Galaxie‹ und ›elektronisches Zeitalter‹. McLuhan vertritt eine sensorische Perspek- tive auf Kommunikation. Jede technische Errungenschaft ist eine Er-

21 Goody 1977: 8. 22 Goody 1993 [1987]: 59-60. 23 Kloock/Spahr 1997: 47. 224 Epochen der Kommunikation weiterung des Körpers, die Medien im Besonderen sind Erwei- terungen der Sinne. Gesellschaften, die sich auf Grund ihrer haupt- sächlichen Kommunikationsmittel unterscheiden, sind McLuhan zu- folge deswegen verschieden, weil unterschiedliche Medien andere Sinne ansprechen. Mündliche Kommunikation ist audio-taktil, wäh- rend schriftliche Medien eng mit dem Sehsinn zusammenhängen. Schrift regt nur einen Sinn an, Oralkulturen dagegen sind synästhe- tisch, sie sprechen viele Sinne gleichzeitig an. Die Schrift hat uns aus der Stammeskultur herausgeführt, und neue technische Möglichkei- ten in der Kommunikation haben eine Rückkehr der audio-taktilen mündlichen Kommunikation ermöglicht. Die neuen Medien erlaub- ten — wie früher im Dorf des mündlichen Stammes — wieder ein zeit- gleiches Kommunizieren, selbst über große Strecken, und führten so zu einem ›globalen Dorf‹.24 Wie bereits angedeutet, sind die Kritiker dieser kommunikations- zentrischen Dichotomien zahlreich. Mark Münzel (1986) verweist da- rauf, dass die Great Divide-Untersuchungen deutlich den europä- ischen Glaubenssatz der Überheblichkeit tragen. Oral geprägte Ge- sellschaften haben demnach auf Grund ihrer Schriftlosigkeit eine ge- ringere Kontrolle des Verstandes und eine geringere Intellektualität: Oralkulturen seien emotionaler und spontaner, die Schriftkulturen hingegen arbeiteten mehr mit dem Verstand.25 Doch es ist falsch, Goo- dy einen evolutionären Entwicklungsbegriff vorzuwerfen. Positiv- und Negativwertungen erfolgen nicht ausdrücklich, auch wenn der Einfluss der Schrift meist positiv in Verbindung mit Fortschritt, Ent- wicklung und Modernisierung dargestellt wird. Pessimistische Töne gibt es bei Goody selten.26 Auch McLuhan will die verschiedenen Kommunikationstypen prinzipiell nicht bewerten: »However, we are not here concerned with the questions of values, but with the configu- ration of societies.«27

24 McLuhan 1997 [1962], 1999 [1964]; zur ›sekundären Oralität‹ siehe Ong 1967, 1999 [1982]; Zumthor 1983. 25 Münzel 1986: 169. 26 Finnegan 1988: 6; Scharlau 1989: XIII. 27 McLuhan 1999 [1964]: 84. 225 Die Praxis des Kanuns

Die Great Divide-Forschungen haben zu einem gewissen Zeitpunkt einen Sinn gehabt. Die frühen Beschäftigungen mit Kommunikation waren meist nur auf die Oralität gerichtet. Die Fragen, welche Konse- quenzen die Schrifteinführung hat und welche Unterschiede im sozia- len Handeln in den Gesellschaften mit und ohne Schrift bestehen, wurden nicht gestellt. Doch als man nach dem Aufkommen der Great Divide-Forschungen die generellen Typisierungen wieder mit der Empirie zu verbinden suchte, wurde deutlich, dass die strikte Tren- nung zwischen schriftfernen und Schrift benutzenden Gesellschaften in dieser Schärfe in der Praxis kaum aufrecht zu erhalten war. Scharlau betont in diesem Zusammenhang, dass es nun nicht mehr darauf an- kommt, weitere ›kontrastive Spezifizierungen‹ vorzunehmen und ei- nen grundsätzlichen Unterschied immer weiter zu belegen, sondern der Vielfalt mündlicher und schriftlicher Kommunikation Rechnung zu tragen.28 Schriftlichkeit und Mündlichkeit sind keine direkt erfahr- baren Wirklichkeiten.29 Die Probleme mit den Great Divide-Theorien liegen auf zwei Ebe- nen.30 Zum einen wird Schrift als Technik verstanden, deren Anwen- dung fast automatisch zu überall ähnlichem kulturellen Wandel führt. Aber neue Kommunikationstechniken finden in einer Gesellschaft nicht automatisch einen Widerhall, weil sie existieren und in bestimm- ten Regionen der Welt wichtig sind. Neue Kommunikationstechni- ken werden übernommen, wenn es die Weiterführung der bisher getätigten Diskurse erlaubt, möglicherweise eine Erweiterung dieser verspricht oder auch die Erfüllung von bestehenden Wünschen erhof- fen lässt. Die über die neuen Techniken ermöglichte Praxis muss mit der bestehenden sozialen Praxis harmonieren.31 Zum anderen besteht das zweite Problem mit den Great Divide-Theorien darin, dass sie die- se Dichotomie zwischen zwei Gesellschaftstypen nur auf der Basis ei- nes einzigen Kriteriums, der Kommunikation einer Gesellschaft, postulieren. Zweifellos hat die Kommunikationspraxis einen ent- scheidenden Einfluss auf soziales Handeln. Dass die von den Autoren

28 Scharlau 1989: XV. 29 Gerndt 1988: 3. 30 Schröder/Voell 2002: 22. 31 Siehe dazu Voell Ms. [2003]. 226 Epochen der Kommunikation beschriebenen Schriftkulturen sich von den überwiegend mündlich geprägten Gesellschaften unterscheiden, ist jedoch auf viele ökonomi- sche und soziale Faktoren zurückzuführen, Kommunikationsmedien allein können das nicht begründen.32 Der Medienwissenschaftler Hartmut Winkler (2000) beschreibt die technozentrische Perspektive als ›Henne-Frage‹. Man gehe von einer bestimmten vorhandenen Technik aus und es wird nach der Wirkung dieser Technik gefragt. Die Vorzüge dieser Sichtweise sind das Ernst- nehmen der Technik und ihrer Auswirkungen. Damit hat diese Sicht- weise den Vorteil, dass ihr Untersuchungsobjekt Teil der materiellen Welt der Gesellschaft ist. Materielle Kultur ist einfach beobachtbar. Anthropologische Sichtweisen, die Winkler ›Ei-Fragen‹ nennt, fra- gen, was eine Technik in die Welt gebracht hat: Die Technik wird hier zum Ergebnis bestimmter sozialer Prozesse und zu einer gesellschaft- lichen Erfindung nach einem Entwicklungsprozess. Hier muss man sich auf Mentalitäten einlassen, es geht um Bewusstsein, soziales Han- deln, vielleicht sogar um Psychologie: »Das Sammeln der Fakten selbst wird zum Methodenproblem, und das zu Erkennende scheint vom erkennenden Zugriff immer schon kontaminiert.«33 Winkler be- merkt weiter, dass die anthropologische Sichtweise einen schweren Stand hat: »Wer die Technik nach wie vor als ›Mittel‹ definierter Zwe- cke betrachtet, muss der Kritik schlicht anheimfallen; Moral oder Sympathie für ›den‹ Menschen wird weder einen Kommunikationsbe- griff fundieren können, der auf dem Stand der Dinge ist, noch jener Kälte gerecht werden, die der Schrift und den Maschinen keineswegs nur von ihren Gegnern zugeschrieben wird.«34 Die Popularität des von Yves Winkin so genannten telegrafischen Modells nach Shannon, das im vergangenen Kapitel beschrieben wurde, erklärt sich über sein mathematisches Fundament. Solche ›Ei-Fragestellungen‹ erscheinen nachvollziehbarer, weil sie den Eindruck einer naturwissenschaftli- chen Fundierung erwecken und das, worum es eigentlich geht — die soziale Einbettung des Kommunikationsmediums — größtenteils ausblenden. Damit umgeht man das Problem, differenzierte soziale

32 Zires 1997: 70. 33 Winkler 2000: 17. 34 Winkler 2000: 20. 227 Die Praxis des Kanuns

Prozesse abzubilden und erweckt den Eindruck, Technik wird überall ähnlich angewendet. Finnegan plädiert für einen bescheideneren Ansatz: »A more mo- dest approach to the study of orality-literacy looks more realistic: that is, not to search for opposing pure types of cultures as wholes, but rat- her for specific characteristics or consequences likely to be associated with orality and with literacy.«35 Finnegan ist dagegen, sich als Ant- wort auf die allzu abstrakten Great Divide-Theorien generell von all- gemeinen Diskussionen von Kommunikationskulturen abwenden. Es sollte nach Finnegan weiterhin möglich sein, generelle Fragen zu stel- len. Die Kritik an den Mündlichkeit-Schriftlichkeit-Diskussionen darf nicht zu einem überzogenen Relativismus führen.36 Die vorliegende Arbeit soll kein weiterer Beitrag zur Great Divide- Diskussion sein. Es geht um die Typologie einer bestimmten Kom- munikation, der Oralität des nordalbanischen Gewohnheitsrechts Kanun. Die Attribute, mittels derer man die abstrakte kommunikative Perspektive ›Mündlichkeit‹ zu erfassen suchte, soll auf die ethnogra- phische Realität zurückgeführt werden. Dass die Prozessualität und damit die Beschreibung der spezifischen Form der Oralität des Ka- nuns verallgemeinerbar sein mag, soll an dieser Stelle nicht bestritten werden. Die am Ende formulierten Typologisierungen sind allgemei- ner Natur und erlauben möglicherweise Beschreibungen ähnlicher mündlicher Kommunikation. Doch losgelöst von den nordalbani- schen Bedingungen kann die Typologie einen abstrakt-allgemeinen Charakter bekommen, den man Great Divide-Theorien vorwirft und der hier nicht bezweckt wird. Der Begriff des ›Kommunikationsstils‹ Anzunehmen, dass eine andere Art der Kommunikation auch ein anderes soziales Verhalten mit sich bringt, bedeutet, dass durch eine Kommunikationsart geprägte Gesellschaften oder lediglich bestimm- te Gruppen gewisse Charakteristika haben, die sie von anderen

35 Finnegan 1988: 146, Kursivierung im Original. 36 Finnegan 1988: 7; bspw. positionieren sich Sherzer (1987, 1990) und Bauman (Bauman/Sherzer 1989 [1974]) deutlich gegen die Thesen der Great Divide- Theoretiker. 228 Der Begriff des ›Kommunikationsstils‹

Gesellschaften oder Gruppen, die eine andere Kommunikationsart pflegen, abgrenzen. Man kann alle kommunikativen Konventionen einer Gesellschaft die ›kommunikative Identität einer Kultur‹37 oder das ›communicative budget‹38 nennen. Münzel spricht von einem ›Kulturstil‹ der schriftfernen südamerikanischen Indianer. Damit will er die Unterschiede in den Ausdrucksweisen mündlicher und schrift- licher Gesellschaften beschreiben und darüber hinaus betonen, dass Mündlichkeit eine ganz andere Kultur bedingt, als die Schrift lichkeit für unseren europäischen Kulturstil bedeutet. Münzel bespricht den Begriff ›Kulturstil‹ nicht. Er schreibt nur, dass er ihn Hans Findeisen entlehnt und in einem kulturmorphologischen Sinn versteht. Ein Kulturstil ergibt sich aus der Vorherrschaft bestimmter Elemente, die für eine Kultur charakteristisch.39 Findeisen (1957) schreibt über Kulturstile Folgendes: »Die Geschichte und die Völkerkunde haben allerdings gezeigt, dass bisher alle Kulturen gerade durch einen Stil ausgezeichnet sind, und ›Stil‹ heißt ja nichts Anderes, als dass ganz bestimmte Seiten des Daseins zu einer Vorherrschaft gegenüber allen anderen gelangen, die sie durchdrängen, sich assimilieren und zeitweilig auch zurückdrängen.«40 Findeisen geht es nicht um Kom- munikation, sondern allgemeiner um einen Unterschied zwischen einem ›musischen‹ und einem ›rationalen‹ Stil. Musisch sind, so Find- eisen, die Gesellschaften in Nordasien mit ihrem ›Schamanentum‹, sie sind durch ein sehr einfaches technisches Niveau geprägt, die Künste haben jedoch eine Kultur bestimmende Bedeutung. Der rationale Stil westeuropäischer Gesellschaften wird von der Vorherrschaft der Naturwissenschaften beherrscht, die die Suggestionskraft der breiten Masse zurückdrängt. Die praktische Bedeutung der Künste existiere nicht mehr.41 Der Begriff ›Stil‹ wird hauptsächlich in der Kunst verwendet. Der Stil ist nicht an individuelle Künstler und ihre Werke gebunden, sondern er ist allgemeinerer Natur und von den Individuen losgelöst. Der Stil wird

37 Quasthoff 1996: 12. 38 Luckmann 1991: 55. 39 Münzel 1986: 162. 40 Findeisen 1957: 194. 41 Findeisen 1957: 194-195. 229 Die Praxis des Kanuns dem Künstler von keiner Instanz vorgegeben. Er ist kein Wertmaßstab oder eine geltende Norm. Der Stil ist kein feststehender Grundbegriff, der eine Klammer um diejenigen Werke setzt, die seinen Kriterien genü- gen. Es handelt sich nicht um einen logischen Oberbegriff, der am An- fang einer Kette untergeordneter und abgeleiteter Begriffe steht.42 Der Kunstsoziologe Arnold Hauser (1974) beschreibt Stil mit einem musika- lischen Thema: »Am angemessensten läßt [der Stil] sich durch den Begriff eines musikalischen Themas beschreiben, von dem nur die Variationen vorhanden sind. Das herzustellende Thema wird weder die Summe der Variationen, noch eine Auswahl ihrer Merkmale, noch auch eine abstra- hierende Zusammenfassung der den Variationen gemeinsamen Züge sein.«43 Damit ergibt die Aufschlüsselung eines Stils — und das ist für die vorliegende Untersuchung wichtig — nicht ein genau aufeinander abge- stimmtes Modell, sondern allgemeine Typologisierungen eines kulturel- len Themas. ›Stil‹ in diesem Sinne verweist auf eine angenommene Struktur hin- ter künstlerischen Ausdrucksformen. Ähnlich versteht Bourdieu den ›Lebensstil‹ als symbolische Merkmale einer bestimmten Klasse. Es sind sekundäre Merkmale oder ›Herkunftszeichen‹, die sich aus den sozio-ökonomischen Bedingungen einer Gruppe und ihren gruppen- spezifischen Wahrnehmungen, ästhetischen Wertschätzungen und Wahlpräferenzen ergeben.44 Die Great Divide-Theorien und die Kritik daran zeigen, dass es nicht mehr haltbar ist, ausschließende Kategorien der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit zu bilden. Die Einführung des Begriffes ›Stil‹ kann hier weiterführen. In der Kunst ermöglicht Stil, einen zusam- menhängenden Komplex von Ausdrucksformen einzukreisen, ohne dass ein genaues Modell eines Stils abgebildet wird. Es werden eini- gende Züge unter verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen oder, wie bei Bourdieu, sekundäre Standesmerkmale einer Gruppe be- schrieben. Auf Kommunikation übertragen, mit dem Verständnis von Kommunikation als Performance der Kultur und damit als ausge- drückte Kultur, erlaubt die Beschreibung eines Stils der Kommunika-

42 Hauser 1988 [1974]: 72. 43 Hauser 1988 [1974]: 72-73. 44 Bourdieu 2001 [orig. 1979]: 70-74; Schwingel 2000 [1995]: 109-110. 230 Der Begriff des ›Kommunikationsstils‹ tion einer Gruppe, charakterisierende Elemente festzuhalten und die Gruppe mit anderen zu vergleichen. Der Kommunikationsstil bezeichnet »eine spezifische Kombination der Elemente des Repertoires menschlicher Kommunikation als ge- sellschaftliche Praxis im Rahmen eines spezifischen Symbolgefüges«.45 Diese Definition führen Schröder und ich in Moderne Oralität (2002) ein. Die Aussage verweist vor allem auf die Kommunikationstechni- ken, die die Gesellschaft oder eine bestimmte Gruppe von Menschen berücksichtigen. Wir unterscheiden vier Kommunikationsstile: Orali- tät, Literalität, Audiovisualität und Plurimedialität. Die Stile können auf einer Achse zwischen den Polen ›unimedial‹ und ›plurimedial‹ dargestellt werden.46 Dies bedeutet nicht, dass im mündlichen Kom- munikationsstil nur gesprochen wird und Schrift beziehungsweise Buchdruck unbekannt sind. In Gesellschaften oder Gruppen, die schriftlich geprägt sind, werden Schrift basierte Kommunikationsme- dien gegenüber anderen Formen der Kommunikation sozial privile- giert. Mündliche Kommunikationsstile hingegen beschreiben Gesell- schaften oder Gruppen, die keine bestimmte Kommunikationsform aus ihrem kommunikativen Repertoire besonders herausheben. Die Schrift und das Buch können Teil des Repertoires sein, haben aber keine herausragende Bedeutung. Kommunikationsstil verstanden auf dieser Ebene ergänzt das in Moderne Oralität beschriebene Konzept der Kommunikationsver- hältnisse. Beide Begriffe werden als allgemeine Kategorien eingeführt, die vom Einzelfall losgelöst sind. Das Ziel ist, die über die Einführung neuer Medien erfolgte Pluralisierung der Kommunikation allgemein darzustellen. Die drei zentralen Thesen lauten: Erstens, dass es eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen pristinen oralen Kommunikations- stilen und modernen Formen der Oralität gibt. Zweitens stehen den mündlich geprägten Gesellschaften mit den Kommunikationsmedien der modernen Oralität kulturell adäquatere Strategien der gesell- schaftlich anerkannten Kommunikation zur Verfügung, als es aus- schließlich Schrift basierte Medien bieten. Drittens können sich Gesellschaften mit einem plurimedialen Kommunikationsstil überre-

45 Schröder/Voell 2002: 23. 46 Siehe auch Koch/Oesterreicher 1985: 17. 231 Die Praxis des Kanuns gional Gehör verschaffen, weil plurimediale Kommunikationsstile weltweit Verbreitung finden. Doch ebenso wirken ökonomische, po- litische und kulturelle Einflüsse deutlicher von außen auf die Gesell- schaften.47 Während das soziale Feld und der Habitus, die in einem dialekti- schen Verhältnis zueinander stehen, auf allgemeine sozio-ökonomi- sche Rahmenbedingungen und die daraus resultierenden Handlungs- dispositionen verweisen, sollen die Begriffe Kommunikationsverhält- nisse und Kommunikationsstil die Kommunikation betreffenden ge- sellschaftlichen Gegebenheiten bezeichnen, die, individuell in Struk- turen verinnerlicht, das kommunikative Handeln bestimmen. Die Kommunikationsverhältnisse, im vorigen Kapitel als Netzwerk ob- jektiver Beziehungen innerhalb eines über spezifische natürliche und technische Begebenheiten bestimmten Feldes beschrieben, stellen den Hintergrund der Kommunikation dar. Analog zur Beziehung zwi- schen dem sozialen Feld und dem Habitus verhält es sich zwischen den Kommunikationsverhältnissen und dem Kommunikationsstil. Der individuelle Akteur verinnerlicht durch die Sozialisation und die tägliche Praxis die Strukturen der Kommunikationsverhältnisse. Je nach Komplexität der Gesellschaft ist der internalisierte Kommunika- tionsstil gleichbedeutend mit dem kommunikativen Habitus der Ge- sellschaft oder bestimmter sozialer Felder. Der Kommunikationsstil ist die Summe an Erfahrungen der kommunikativen Praxis und reflek- tiert damit die gesellschaftliche oder gruppenspezifische Art der Kommunikation. Der Kommunikationsstil beschreibt nicht die Praxis selbst. Er be- zeichnet Dispositionen des kommunikativen Handelns. Das Handeln in einer konkreten Situation wird dadurch nicht eindeutig bestimmt. Deswegen ist es nicht sehr sinnvoll, ein genaues Modell des Stils zu konstruieren. Gerade heutzutage, da die Praxis des Kanuns regional sehr unterschiedlich ist, kann eine abschließende Definition nicht ge- geben werden. Die Metapher des Stils ist daher für die Mündlichkeit des Gewohnheitsrechts interessant. Der Kanun ist angesichts der so- zialistischen Vergangenheit und der neuen demokratischen Struktu- ren nur noch selten ein von einer einigenden Logik zusammen- 47 Schröder/Voell 2002: 15-16. 232 Der Begriff des ›Kommunikationsstils‹ gehaltener Habitus. Deswegen ist es sinnvoller, die Prozessualität des mündlichen Kommunikationsstils des Kanuns zu beschreiben. Einige Begriffe charakterisieren den besonderen mündlichen Stil, etwas, was den Prozess der Kommunikation des Kanuns ausmacht, ohne jedoch genaue Handlungsvorgaben darzustellen. Nach Finnegan ist eine De- finition von Mündlichkeit schwer, weil Oralität ein ›unausweichlich komplexes Phänomen‹ ist. Ähnlich klingen auch andere Autoren. Für Pascal Boyer ist Mündlichkeit ein großes Feld kultureller Tatsachen.48 Für Uta M. Quasthoff ist mündliche Kommunikation im Unterschied zur schriftlichen eine ›condition humaine‹.49 Kommunikationsverhältnisse werden, wie im zweiten Kapitel dar- gestellt, über den Rahmen (objektiv gegebene Erfahrungsgrenzen, be- ziehungsweise offene oder verdeckt gemachte Anweisungen), die Struktur (innere Machtbeziehungen des sozialen Feldes) und die Ideologie (übergreifende Wertvorstellungen, Grundeinstellungen oder Denkkonzepte) abgesteckt. Diesen Begriffen Rahmen, Struktur und Ideologie stelle ich jeweils Typologien gegenüber, die sich gegen- seitig bedingen und zusammen den mündlichen Kommunikationsstil abbilden. Der Rahmen, der mit dem kommunikativen Habitus Kanun zusammen besteht, steht in Beziehung zu der konkret und lokal aus- gerichteten Prozessualität mündlichen Stils. Die Struktur mit ihren Machtbeziehungen steht in einem wechselseitigen Verhältnis zu der konsensualen und univokalen Ausrichtung der Kommunikation. Letztlich steht die Ideologie des Kanuns mit dessen zeremonial und plurimedial bestimmter Form in Verbindung. Konkret und lokal: Diese Ausprägung des Kommunikationsstils steht in einem wechselseitigen Verhältnis mit dem Rahmen, in dem diese Form des Nachrichtentransfers stattfindet. Die Botschaft ist nicht von den Akteuren losgelöst, sie tritt nur mit ihnen zusammen auf. Es ist eine ›Hier-Jetzt-Ich-Gebundenheit‹, das heißt, dass die mündliche Kommunikation an die zeitlichen, örtlichen und persona- len Bezugspunkte der kommunikativen Situation gebunden ist.50 Alle Aussagen sind Produkt der Situation, das Senden und die Rezeption

48 Boyer 1992: 1027; Finnegan 1988: 2. 49 Quasthoff 1996: 9. 50 Ong 1999 [1982]: 49; Quasthoff 1996: 15. 233 Die Praxis des Kanuns finden gleichzeitig statt: Mündlichkeit ist ›situated action‹ bezie- hungsweise ›face-to-face‹-Interaktion, das heißt, es gibt eine Gleich- zeitigkeit von physischer Nähe und gemeinsamem Kommunizieren.51 Der Kanun ist kein überregionales Regelwerk, auch wenn es regio- nal viele ähnliche Praktiken gibt. Konfliktlösungen sind regional be- grenzte Prozesse, die Ergebnisse sind nicht unbedingt verallge- meinerbar. Es sind Lösungen, die individuell zwischen den Konflikt- parteien gesucht werden. Die verschiedenen Regionen haben unter- schiedliche Traditionen bezüglich des Kanuns. Die Praxis des Kanuns hängt beispielsweise davon ab, inwieweit sich die fis-Struktur erhalten hat. Ferner findet die hauptsächliche Kommunikation, gerade in den abgeschlossenen Bergregionen, überwiegend im direkten Umfeld, im Dorf oder im Weiler statt. Konsensual und univokal: Das gesellschaftliche Wissen mündlich geprägter Gruppen ist unmittelbar an das soziale Verhalten gebunden und nicht über schriftliche Texte davon losgelöst. Größere Mengen von Informationen zu Kultur und damit zu sozialen Normen oder zum Kanun sind lediglich in den Händen weniger Personen, wie den Ältesten. Die Worte der Ältesten können nur schwer ignoriert wer- den, nicht weil man den Ältesten vielleicht traditionell respektvoll ge- genübertritt, sondern weil sie häufig die einzige Informationsquelle zur Geschichte und Interpretation von sozialem Verhalten sind.52 In diesem Sinne ist schriftloses Recht allgemein als ›konkret-konsensua- les Recht‹ zu verstehen, denn es gibt nur wenige allgemein verbindli- che Normen. Es wird nicht auf ein Buch zurückgegriffen, das normative Entscheidungsregeln bieten könnte. Die Beilegung eines Konfliktes erfolgt innerhalb der mündlichen Kommunikation. Au- ßerhalb des Konfliktlösungsprozesses gibt es keinen verbindlichen Fixpunkt, beispielsweise eine Rechtsordnung oder ein Gesetzbuch. Es gibt keinen dauerhaft bestehenden Rechtserzwingungsapparat, son- dern es stehen Rechtsmeinungen gegenüber: »Der verlorengegangene Konsens musste also konkret, d.h. in Gesprächen wiederhergestellt werden.«53 In dem Rechtsfindungsprozess, an dem die Konfliktpartei-

51 Koch/Oesterreicher 1985: 20; Luckmann 1991: 53. 52 Goody 1993 [1987]: 150. 53 Weitzel 1992: 74, 79. 234 Der Begriff des ›Kommunikationsstils‹ en beteiligt sind, muss die ›gebrochene Gewohnheit‹ in der Konflikt- lösung reaktualisiert, gewissermaßen neu geschaffen werden. Präze- denzfälle haben selten Gewicht im Vermittlungsprozess. Die Lösung kann nur in einem gegenwärtigen Konsens bestehen.54 Kommunikati- on ist immer Kooperation. Sie ist besonders stark bei der direkten ora- len Kommunikation, denn die Akteure sind alle anwesend. Die Botschaften bestehen nicht nur aus den ausgetauschten Nachrichten, sondern auch aus der Präsenz der Personen, die die Nachricht formu- lieren.55 Plurimedial und zeremonial: Mündliche Kommunikation ist pluri- medial, das heißt, sie ist eine Mehrkanal-Kommunikation. Die Art des mündlichen Nachrichtenaustausches ist ein komplexes Zusammen- spiel von zahlreichen Manifestationsebenen. Diese können nicht nur auf die sprachliche Ebene reduziert werden.56 Alle erdenklichen Aspekte, die die Effektivität einer Performance erweitern, können in der Mündlichkeit von Belang sein. Sie sind keine Randerscheinung des oralen Produktes, sondern stellen einen integralen und flexiblen Be- standteil der Performance dar. Beispielsweise sind dies Sprachstil, Musik, Improvisation, visuelle Effekte, Kleidung, Tanz, oder das Wechselspiel mit den Zuschauern.57 Sehr wichtig für die mündliche Kommunikation ist das physische Zusammentreffen von Personen oder Gruppen, die so genannte ›Nähe-Kommunikation‹. Es gibt streng genommen keine Alternative dazu, weil die Nachricht nur mit dem Sender zusammen existieren kann. Mündliche Kommunikation ist nachdrücklich partizipativ.58 Die Zeremonialität des albanischen Gewohnheitsrechts kann durch das Ablegen des Eides illustriert werden. Durch das öffentliche Schwören auf die Bibel, auf einen Stein oder das Haupt des Sohnes kann der Beschuldigte sich selbst von einem Verdacht lossprechen. Anwesend sind viele Zeugen und Bürgen, die den Eid und damit die Integrität des Verdächtigen bestätigen müssen. Es handelt sich hier

54 Weitzel 1992: 79. 55 Siehe auch Koch/Oesterreicher 1985: 19-20. 56 Derive 1975: 58; Quasthoff 1996: 16. 57 Finnegan 1970: 3-11; Münzel 1986: 163-164; Quasthoff 1996: 18. 58 Goody 1992 [1986]: 108; Koch/Oesterreicher 1985: 23; Ong 1999 [1982]: 45. 235 Die Praxis des Kanuns um eine zentrale Instanz des Gewohnheitsrechts, das seine Stärke ge- rade dadurch erhält, dass ein Konflikt als eine öffentliche Angelegen- heit angesehen wird. Eide, Flüche, Sprüche oder Gestik sind entscheidende Bestandteile des Diskurses.59 Vermittlung des Kanuns Eine klassische Untersuchung des Kanuns unter dem Gesichtspunkt der Mündlichkeit wäre die Diskussion des Kanuns als mündlicher Text, gewissermaßen als orale Literatur. Auf der einen Seite wäre dies in dem Sinne von Albert B. Lord (1960) und Milman Parry (1971) vorstellbar, das heißt, man zerlegt die orale Komposition in ihre einzelnen Textelemente und Themen, die bei der Rezitation nach kulturellen Regeln zusammengesetzt werden. Oder in der Art von Ong, der besondere Charakteristika mündlicher Texte beschreibt.60 Diese haben eine additive Erzählstruktur, es werden häufig Wörter wie ›und‹ benutzt, um die einzelnen Aussagen aneinander zu fügen. Ferner sind orale Texte aggregativ, weisen viele Redundanzen und eine große Wortfülle auf. Oralitätsforschung in der Art von Ong, beschäftigt sich mit der Morphologie oraler Texte, ihrem Aufbau, ihrer Struktur, und häufig wird die Beziehung zwischen dem Text und seinem Entstehungszusammenhang beschrieben. Letztlich geht es um eine Textanalyse. Diese Ansätze sind für die vorliegende Arbeit nur wenig nützlich; im Vordergrund steht nicht der Text, sondern die Performativität des Gewohnheitsrechts. Auf der anderen Seite könnte man den Kanun wie einen Mythentext analysieren. Die Mythe wird zu einer Quelle für religiöse, soziale und kulturelle Vorstellungen einer Gesellschaft. Die Mythe ist hier gewis- sermaßen ein von der Gesellschaft selbst verfasstes Stück Ethnogra- phie, eine Geschichte über sich selbst, die der Ethnologe deuten kann. Diese Perspektive wird häufig bei der Diskussion des Kanuns ange- wendet. Die schriftlichen Formen des Kanuns sind wichtige Quellen, können allerdings nicht als Mythen oder Erzählungen aufgefasst wer- den, weil erst Gjeçov oder andere Ethnographen den Text niederge- schrieben haben. Der Kanun existiert nicht als Text oder als eine

59 Goody 1992 [1986]: 151. 60 Ong 1999 [1982]: 37-40. 236 Vermittlung des Kanuns

Ansammlung von Erzählungen. Es gab in Nordalbanien zwar neben den Sprüchen auch Lieder und Geschichten, die auch den Kanun be- schreiben. Dies ist leicht nachvollziehbar, denn der Kanun als Teil der Gesellschaft spiegelt sich auch in ihren kulturellen Ausrucksformen wider. Jedoch gibt es die mündlichen Texte nicht in großer Zahl, ich habe nur sehr wenig darüber erfahren. Daher ist deutlich, dass beste- hende Forschungsmethoden und -ansätze zur Mündlichkeit sich nur bedingt auf den Kanun übertragen lassen. Die eigentliche Oralität des Kanuns, das heißt die mündlich ausge- drückte Regel oder der Spruch, wird in Nordalbanien vor allem bei der Vermittlung des Kanuns deutlich. Der Kanun wird an die jüngere Generation hauptsächlich über die Sozialisation oder in konkreten Gesprächen zum Thema Kanun vermittelt. Wenn sich ein Konfliktfall ereignet, beispielsweise Streitigkeiten innerhalb von Familien, Dieb- stähle oder Landkonflikte, dann erläutert der Familienvorstand seinen Kindern das Prozedere. Oder die Kinder bekommen nichts Konkre- tes unterrichtet, sehen jedoch, wie die Erwachsenen in einem Konflikt vorgehen. Da es am Ende von Konfliktvermittlungen häufig eine Ze- remonie gibt, die die getroffene Lösung zwischen den Konfliktpartei- en öffentlich aufführt, haben die jungen Leute auch hier die Mög- lichkeit, die Praxis des Kanuns zu erleben. Es gab und gibt keine bestimmte Form, wie der Kanun weitergege- ben wird. Da der Kanun kein festes und geschlossenes Regelwerk bil- det, hat ein Lernen von Regeln keinen Sinn. Getragen wird der Kanun auch durch einzelne Sprüche, von denen jeder für sich auf komplexe Zusammenhänge verweist. Godin schreibt: »Die Rechtssätze wurden in Form von Sprüchen oder Sprichworten überliefert (ähnlich etwa dem Sachsenspiegel), die überall, in Norden wie Süden, fast wort- wörtlich gleich lauteten, in so einprägsamer Gestalt, dass sie sich schon dem Knaben ins Gedächtnis eingruben.«61 Die Sprüche lernt die junge Generation im Laufe der Zeit wie andere Sprichwörter auch. Diese Sprüche bilden Fix- oder Kristallisationspunkte des Kanuns, ihre Kenntnis alleine führt jedoch nicht zum Wissen über den Kanun. Daher befragen junge Leute Älteste, die die Sprüche und soziale Re- geln erläutern. Andere Vermittlungsmöglichkeiten des Kanuns waren 61 Godin 1953: 5. 237 Die Praxis des Kanuns und sind teilweise noch präsent, beispielsweise Lieder und Erzählun- gen.62 Anscheinend werden jedoch nicht mehr, wie in früheren Zeit of- fenbar üblich, bestimmte junge Männer, die sich für eine genauere Kenntnis des Kanuns und damit der Regeln im sozialen Leben begabt zeigen, für eine künftige Rolle als Ältester vorbereitet. Der Kanun kann nicht im Sinne eines mündlichen Textes erlernt werden, denn er liegt nicht in Form einer Mythe, Erzählung oder einer anderen Art von oraler Literatur vor, die rituell memorisiert wird. Der Kanun ist internalisierte soziale Praxis. Diese erfolgt über die Soziali- sation innerhalb des im zweiten Kapitel geschilderten Rahmens, sei- ner Struktur und der Ideologie. Man lernt den Kanun durch das Aufwachsen und Leben im nordalbanischen sozialen Umfeld. Doch das soziale Feld des Kanuns wurde und wird in den vergangenen fünf- zig Jahren durch andere soziale Felder überlagert. Gerade in den Jah- ren nach dem Fall des Sozialismus und auch auf Grund des Einflusses des Fernsehens63 trifft der Habitus Kanun immer häufiger auf Struktu- ren, die sich von den ursprünglichen Entstehungsbedingungen deut- lich unterscheiden. Damit kommt es zu einem Konflikt zwischen der Praxis des Habitus und den neuen sozialen Feldern mit der ihnen eige- nen Handlungslogik. Junge Leute in der jungen albanischen Demokratie finden die Re- geln des Kanuns sehr hart. Wie im vergangenen Kapitel beschrieben, respektieren die Vertreter der jungen Generation den Kanun, solange sie noch im Schoß ihrer Familie leben. Die Bindung an die Familie und die Bedeutung des Kanuns für ihr Handeln lassen häufig nach, wenn sie das Stammhaus verlassen, sei es durch Migration im eigenen Land oder ins Ausland. Die Trennung vom Stammhaus kann auch erfolgen, wenn die Kinder im selben Dorf einen eigenen Haushalt gründen. Ich vernahm Stimmen vieler frustrierter Ältester, die sagen, ›meine Worte nimmt der Wind‹. Die Ältesten und Familienvorstände fühlen sich häufig wenig respektiert und ihre Vorstellungen vom sozialen Leben wenig gewürdigt. Die schriftliche Version des Kanuns ist allen Nordalbanern bekannt. Viele haben den Kanun als Buch Zuhause. Meist handelt es sich um

62 Camaj 1971; Whitaker 1968: 265. 63 Schwandner-Sievers 2001: 110. 238 Vermittlung des Kanuns den Kanuni i Lekë Dukagjinit in der Version von Gjeçov, seltener fin- det man den Kanuni i Skanderbegut, den Franos Illia herausgegeben hat. Einige Personen sagen, dass sie den Kanun früher besessen hätten oder ein Exemplar bei ihrem Vater gestanden habe. Das Buch er- scheint den Leuten in Nordalbanien als wichtig, aber es ist kein Ob- jekt, das man unbedingt besitzen muss. Manchmal bringt ein Familienmitglied ein Exemplar aus der Hauptstadt oder aus Shkodra zurück in die Berge. Das Buch ist offensichtlich kein Identitätssymbol für die Nordalbaner. Man gewinnt den Eindruck, dass der schriftliche Kanun ähnlich einem schönen Bildband der Region gesehen wird. Man blättert darin, zeigt ihn dem Fremden, beispielsweise dem deut- schen Ethnologen, und verliert ein paar Worte zur langen Geschichte des Kanuns und seiner heutigen Bedeutung. Die Leute wissen jedoch, dass dieses Buch nicht den eigentlichen Kanun darstellt.64 Dennoch betonen einige Interviewpartner, dass man in dem Buch Kanun lese, wenn man vergessen habe, wie an einem bestimmten Punkt zu verfahren sei. Doch es waren nur sehr wenige Leute, die das erwähnten. Meist wird gesagt, dass man das Buch bei Konfliktlösun- gen nicht brauche. Die Regeln seien nicht kompliziert und das Proze- dere für Konflikte, wie im Folgenden zu lesen sein wird, weitest- gehend ähnlich. Die konkreten Angaben im schriftlichen Kanun wür- den häufig genaue Angaben zu Strafen bei Fehlverhalten oder Verbre- chen betreffen. Doch diese Angaben seien völlig veraltet und mit den alten Währungsbezeichnungen könne heute kaum jemand etwas an- fangen. In diesem kurzen Abschnitt zur Vermittlung des Kanuns wollte ich zeigen, dass ein Forscher den Kanun nicht direkt mit einem Aufnah- megerät mitschneiden kann. Der Kanun muss dort festgehalten wer- den, wo er offen zu Tage tritt, und zwar innerhalb von Konfliktlö- sungsprozessen, in denen Normen und Strategien des Habitus Kanun deutlich werden, weil man offen auf sie zurückgreift. Damit beschrei- be ich eigentlich die Prozessualität des Kanuns und nicht den Kanun selbst.

64 Ähnliche Erfahrungen machte Schwandner-Sievers 1999: 138. 239 Die Praxis des Kanuns

Das Ablegen des Eides Das effektivste Instrument des albanischen Gewohnheitsrechts war und ist der Eid (bejë). Mit dem Eid lassen sich festgefahrene Konflikte lösen, egal ob es Fragen zu Besitzverhältnissen, zu Diebstahl oder zur Blutrache sind. Der Eid fördert ferner den sozialen Zusammenhalt, denn er markiert den Schlusspunkt einer kollektiven Aktion der Ge- meinschaft, einen Konflikt beizulegen. Der Beschuldigte, der Anklä- ger, die Ältesten und Zeugen der Zeremonie kommen zusammen, um den Eid gemeinsam abzunehmen.65 Bemerkenswert an dem Eid ist, dass der Betroffene, dem man beispielsweise etwas gestohlen hat, nicht die Möglichkeit hat, vor Zeugen zu schwören, dass eine be- stimmte Person die Tat begangen hat, selbst wenn er Zeuge der Tat war. Oder anders ausgedrückt: Es ist nicht möglich einen Eid abzule- gen, um etwas zu erhalten, beispielsweise durch die Verdächtigung ei- ner bestimmten Person seinen gestohlenen Gegenstand zurück- zuerhalten. Nur der Verdächtige darf schwören, dass er die Tat nicht begangen hat und ihm nichts davon bekannt ist: ›Schwöre und verlie- re, sagt der Kanun, nicht schwöre und nehme‹.66 Das bedeutet, dass der Verdächtige feierlich erklären muss, dass er eine Tat nicht begangen hat und nichts vor ihr weiß. Wenn er diesen Eid ablegen kann, dann ist er frei von jeden weiteren Verdächtigungen. Keine Person darf ihn mehr der Tat bezichtigen, die er unter Eid von sich gewiesen hat. Der Eid ist nicht individueller Natur, sondern ein kollektives Ereig- nis. Neben dem Angeklagten müssen einige Gewährspersonen eben- falls einen Eid ablegen. Damit unterstützen sie nicht unmittelbar die Richtigkeit der Aussage, es geht vielmehr um die Integrität des Be- schuldigten. Die Anzahl dieser Gewährsleute hängt von der Schwere der Tat ab, die man dem Beschuldigten vorwirft. Für kleinere Diebs- tähle benötigt der Verdächtige nur einen weiteren Gewährsmann, in anderen Fällen liegt die Anzahl an Gewährspersonen zwischen zwei und vierundzwanzig. Bei Blutrachefällen sind es grundsätzlich vier- undzwanzig Personen, die mit dem Beschuldigten zusammen den Eid

65 Hasluck 1954: 164. 66 Durham 1979 [1928]: 282; Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 121, §§ 538-547; Hasluck 1954: 166. 240 Das Ablegen des Eides ablegen müssen. Wenn eine Frau das Opfer ist, sind lediglich zwölf Männer als Gewährsleute erforderlich. Die Zahl der notwendigen Personen schwankt jedoch erheblich von einer Region zur nächsten. Die Hälfte der Geschworenen wird von dem Beschuldigten bestimmt, die andere Hälfte von dem Ankläger oder den Ältesten, die mit der Konfliktlösung betraut wurden. Die zu bestimmenden Personen müssen einen guten Ruf haben. Sie dürfen noch nie einen Meineid ge- leistet haben oder in einem Konflikt mit den vermittelnden Ältesten oder den betroffenen Parteien stehen. Die Männer müssen weise sein und die richtigen Verhaltensweisen kennen. Es sind keine korrupten Personen erwünscht. Schließlich sind Gewährsleute niemals Frauen. Wenn die Ältesten das erste Mal über einen Fall beraten, wird meist der Tag festgelegt, an dem der Beschuldigte den Eid ablegen muss oder ob ein Eid für den vorliegenden Fall überhaupt erforderlich ist. Die Ältesten setzen den Zeitpunkt, den Ort und ebenfalls den ungefähren Wortlaut des Eides fest. Ferner wird bestimmt, worauf geschworen wird, denn es gibt unterschiedliche Gegenstände, auf die man schwö- ren kann. Dann mahnen die Ältesten den Beschuldigten, dass, wenn der Eid an dem festgelegten Tag nicht abgelegt wird, er den Fall verlie- ren wird und sich von seiner Schuld nicht selbst freisprechen kann. Doch bevor es zum Schwur kommt, werden die Gewährsleute be- stimmt. Die Gewährsleute sind meist Personen mit hohem Ansehen, die sich nicht sicher darüber sind, ob der Beschuldigte die Tat nicht doch begangen hat und damit fürchten können, dass der Fall ihren Ruf beschädigen könnte. Sie haben auch das Recht es abzulehnen, für den Beschuldigten zu bürgen. Vom Tag des ersten Zusammentreffens der Ältesten und der Bestimmung der Gewährsleute bis zum Tag des Ei- des haben Letztere die Möglichkeit, sich über die mögliche Schuld des Angeklagten zu informieren. Genauer gesagt, man versucht zu ermit- teln, ob es vertretbar ist, den Eid zusammen mit dem Beschuldigten abzulegen. Wenn sich Zweifel an der Integrität des Angeklagten erge- ben, dann brauchen die Geschworenen am Tag des Eides nicht zu er- scheinen, oder sie können erscheinen, sich aber dann weigern, den Eid abzulegen. In diesem Fall hat die verdächtigte Personen ihren Fall ver- loren. Man legt den Eid nur ab, wenn man sich seiner Sache absolut si- cher ist. Bei besonders schwierigen Fällen kann der Tag, an dem der

241 Die Praxis des Kanuns

Eid abgelegt werden soll, nach hinten verschoben werden, um den Geschworenen noch mehr Zeit zu geben, Erkundigungen über den Verdächtigen einzuholen. Die Zeremonie, in der der Eid abgelegt wird, ist festlich. Der Eid wird in zwei Stufen genommen. Die Männer nehmen ihre Hüte ab. Zunächst tritt der Verdächtige vor und legt die Hand auf die Bibel. Manchmal nimmt man auch ein Grasbüschel zwischen Hand und Bi- bel. Oder man verneigt sich vor der Bibel, die im frischen Gras liegt oder auf einer sauberen Stelle am Boden nahe eines Privathauses. Es kommt vor, dass alle Personen, die einen Eid ablegen müssen, das Buch drei Mal küssen, bevor sie mit der Hand auf der Bibel schwören. Nach dem Beschuldigten legen die Gewährsleute ihren Eid auf die Bi- bel ab. Ein Eid kann nur gültig sein, wenn er in Verbindung mit einem religiösen oder einem anderen wichtigen Gegenstand wie der Bibel er- folgt. Alle Personen schwören auf die gleiche Art, das heißt, sie spre- chen den von den Ältesten vorgegeben Spruch.67 Während in den katholisch geprägten Gebieten hauptsächlich auf die Bibel, in den mehrheitlich muslimischen Region auf den Koran ge- schworen wird, gibt es zwei weitere Formen. Zum einen gibt es die Möglichkeit, den Eid auf einen Stein abzulegen. Dies ist besonders in katholischen Gebieten der Fall. Man schwört auf einen besonderen Stein, den man in der Hand hält, oder auch auf Steine, die an bestimm- ten Orten stehen. Es gibt auch die Tradition, begleitet von dem abzu- legenden Spruch einen Stein in die Mitte eines Kreises zu werfen. Ebenfalls konnte ein Stein bei Abkommen zum Einsatz kommen, die bei großen Versammlungen der Region (kuvend) vor 1944 getroffen wurden. Man nahm einen Stein in die Hand, gewöhnlich begann der bajraktar und schwor, die gerade vereinbarte Abmachung einzuhal- ten. Dann reichte man den Stein von Person zu Person weiter, die je- weils ebenfalls die Abmachung bekräftigten. Der Stein wird damit zum Träger einer Botschaft, und das Gewicht des Steins soll an die Be- deutung der Abmachung erinnern. Zum anderen kam es vor — heute ist dies nur sehr selten der Fall —, dass der Beschuldigte auf den Kopf eines seiner Söhne den Eid ablegte. Beide Formen des Schwörens, auf

67 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 119, §§ 531, 536; Hasluck 1954: 183-184. 242 Das Ablegen des Eides den Kopf des Sohnes und auf einen heiligen Stein, sind Eide, die als be- sonders stark und bedeutungsvoll gelten.68 Es gibt eine weitere Form des Eides, wenn man den Schuldigen nicht kennt. Meist hat man eine Vermutung, wer die Tat begangen hat. Die Dörfer und Weiler sind nicht sehr groß, man kennt einander, und mögliche Schuldige stehen schon bald nach der Tat fest. Doch es gibt Fälle, in denen man es nicht weiß. In diesem Fall können die Ältesten die Personen mit einem besonderem Eid im Dorf suchen. Dazu be- nützt man den ›Tür-zu-Tür‹-Schwur (bejë për derën). Die Ältesten gehen von Haus zu Haus und sprechen den Hausherrn auf den Fall an. Entweder gibt der Hausherr zu, dass er oder jemand aus seinem Haus- halt der Schuldige ist, oder er beschwört vor den Zeugen, dass er nicht der Schuldige ist und auch nicht sagen kann, wo man diesen findet. Der Hausherr ist für seinen Haushalt verantwortlich, und er legt den Eid im Namen aller Mitglieder seines Haus ab.69 Für Margaret Hasluck (1954) besteht die Effizienz des Eides als le- gales Instrument vor allem in einer ›abergläubischen Angst‹ vor einer Bestrafung durch Gott. Die Furcht vor dem Allmächtigen bei Meineid gibt demnach dem Eid seine Kraft.70 Auch Gjeçov, selbst franziskani- scher Mönch und Pfarrer, betont, dass der Eid eine religiöse Aus- drucksform darstellt. Der Eid wird häufig über einem religiösen Gegenstand abgelegt, und man beruft sich dabei auf Gott. Doch nicht nur durch die Religion werde der Eid legitimiert, bei Meineid muss man sich den harten Strafen des Kanuns unterwerfen. Ein Meineid führt dazu, dass der Schuldige beispielsweise den Gegenwert des ge- stohlenen Objektes doppelt zurückzahlen muss. Es bedeute vor al- lem, dass man seine Ehre verliert und Schande für sieben Genera- tionen auf sich lädt.71 Religion und den Verweis auf Gott als Zeugen findet man ebenfalls im heutigen Albanien. Aber meist ist mir der di- rekte Verweis auf Gott als Richter im Falle eines Meineids nicht bestä- tigt worden. Bedeutender ist, dass man bei Meineid seine Ehre verliert.

68 Durham 1994 [1909]: 103-104; Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 121-123, §§ 534, 565-568; Ulqini 1991: 49 69 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 123, §§ 558-564. 70 Hasluck 1954: 191. 71 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 119, §§ 529, 532; 125, § 589. 243 Die Praxis des Kanuns

Man gilt in der Gemeinschaft nicht mehr als vertrauenswürdig. Das Viertel schließt die betreffende Person aus, und diese soziale Exklusi- on führt dazu, dass die Person auf kein Fest oder keine Hochzeit mehr eingeladen wird. Im Viertel hat sie nichts mehr zu sagen. Ob dies heu- te noch für sieben Generation gilt, kann man nicht sagen. Der Verlust der Ehre ist meines Erachtens die wichtigste Legitimati- on des Eides, auch wenn mancherorts die Religion als zusätzlicher Faktor berücksichtigt werden muss. Peristiany (1966) sieht eine Ver- bindung zwischen der Ehrvorstellung und religiösen Vorstellungen. Dadurch, dass diejenige Person, die den Eid ablegt, sich auf etwas be- zieht, was ihr wichtig ist, wie Gott oder die Gebeine eines Heiligen, die Gesundheit der Mutter oder eben die Ehre, ›aktiviert‹ der Eides- nehmer einen impliziten Fluch gegen sich selbst.72 Durch das Aussprechen des Eides, beziehungsweise über die Ak- zeptanz des ganzen Prozesses der Konfliktlösung, an dessen Ende der Eid steht, setzen sich die Beteiligten den Rahmen, den Konflikt sipas kanunit, nach dem Kanun zu lösen. Ideologisches Fundament des Ei- des ist die besa im Sinne von Vereinbarung, Vertrauen und gegebenem Wort. Ferner appelliert der Eid an die Ehre. Die Gesellschaft gibt den Schwörenden einen Kredit an Vertrauen. Das Vertrauen der Gruppe darf nicht verletzt werden, dies führt zu Entehrung. Diebstahl Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bemerkt Edith Durham (1909), dass Diebstahl in Nordalbanien eigentlich unmöglich ist. Am Tag nach dem Diebstahl haben alle Menschen in der Region von der Tat gehört. Wenn der eine oder der andere Bauer plötzlich ein Schaf zu- sätzlich hätte, könnte dies nicht unbemerkt bleiben.73 Diebstähle wa- ren und sind in den kleinen, übersichtlichen Gemeinden selten. Es gibt nur wenig materiellen Reichtum, gestohlenes Vieh oder Autos müssen einfach auffallen. Dennoch kommt Diebstahl hin und wieder vor, ge- rade in der Nähe urbaner Zentren, wo die sozialen Beziehungen an- onymer werden und Einzelne in der Masse untertauchen können.

72 Peristiany 1974b [1966]: 34. 73 Durham 1994 [1909]: 97. 244 Diebstahl

Täter im Sinne des Kanuns sind neben dem eigentlichen Dieb seine Komplizen und die Person, die das gestohlene Objekt abgekauft hat, selbst wenn Letztere nicht an der Tat beteiligt war. Ebenfalls macht sich der Hausherr des Hofes schuldig, der den Dieb empfangen und bewirtet hat, wenn er von der Tat weiß, und dies nicht den Ältesten des Dorfes mitgeteilt hat. Alle, die von der Tat wissen und zum Täter führen können, sind mitschuldig, wenn sie nicht zur Aufklärung des Falles beitragen.74 Im Kanun nach Gjeçov war die Wiederbeschaffung des Diebesgutes in erster Linie die persönliche Angelegenheit des Be- stohlenen. Der Bauer durfte, nachdem man ein Tier seiner Herde ge- stohlen hatte, jedoch nicht ein Tier von der verdächtigten Gruppe oder von dem Dorf, in dem der Verdächtige lebte, entwenden. Der Verdächtige musste zur Rede gestellt werden. Über den Eid musste festgestellt werden, dass die betreffende Person wirklich der Schuldige war. Wenn die Spur des Täters den Bestohlenen eindeutig zu einem Dorf führte, dann oblag die Verantwortung den Männern des Dorfes, den Schuldigen unter sich auszumachen. Führte die Spur zu einem konkreten Haus, dann war der Hausherr des betreffenden Hauses für die Tat verantwortlich.75 Heutzutage kommt den Ältesten des Dorfes eine wichtigere Rolle nach einem Diebstahl zu. Generell gibt es zwei Arten, wie mit einem Diebstahl umgegangen wird. Zum einen gehen viele Betroffene direkt zur Polizei. Von ihr wird jedoch behauptet, dass sie zu heftig reagiert und ihre Entscheidungen weit reichende Konsequenzen haben. Die Polizei und das Gericht stellen einfach nur fest, wer ihrer Meinung nach der Schuldige ist und sanktionierten ihn. Der Fall wird nicht ge- nau beleuchtet, sondern es werden zügig die Fronten genau bestimmt. Zum anderen wählt man den Weg des Kanuns, das heißt die Konflikt- vermittlung über Älteste. Je nach Prestige der entsprechenden Person geht man zum Gemeindevorsteher (kryeplak), den Vorstehern des fis, der Bruderschaft oder des Dorfes. Der Bestohlene unterrichtet die Person über den Zwischenfall und äußert Vermutungen, wer der Tä- ter sein könnte. Manchmal nimmt der konsultierte Würdenträger die Angelegenheit allein in die Hand. Es kommt auch vor, dass er die Äl-

74 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 153, 155, § 768; siehe auch Durham 1979 [1928]: 71. 75 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 772-773, §§ 769-770. 245 Die Praxis des Kanuns testen des Dorfes zusammenruft und den Fall mit Mehreren disku- tiert. In einer zweiten Phase schickt der Älteste verstrauenswürdige Personen zum Verdächtigen, und der vermeintliche Dieb muss vor Zeugen den Eid ablegen, dass er die Tat nicht begangen hat. Oder der Schuldige ist nicht bekannt. In diesem Fall holt man Erkundigungen ein, was bei den überschaubaren Gemeinden kein großes Problem darstellt. Manchmal gehen die Ältesten von Haus zu Haus und for- dern die Hausherren auf, den Eid abzulegen, dass sie von dem Diebs- tahl nichts wissen und auch kein Familienmitglied die Schuld trägt. Ist der Dieb ausgemacht, dann wird das Dorf darüber informiert, denn die Bestrafung des Täters muss von allen Einwohnern gleichermaßen getragen werden. Manchmal kommt es vor, dass der Schuldige vor dem versammelten Dorf gemeinschaftlich gescholten wird. Dazu wird gesagt, dass man den Schuldigen ›auf die Straße ziehen muss‹. Der Dieb muss den doppelten Wert des Diebesgutes an den Besitzer zurückzahlen. Es kommt vor, dass der Schuldige für ein Jahr aus dem sozialen Leben des Dorfes ausgeschlossen wird. Wenn es zu keiner Lösung kommt, das heißt, der Dieb wird nicht ausfindig gemacht; er ist bekannt, doch akzeptiert das Urteil der Äl- testen nicht; oder der Dieb ignoriert die Autorität des Kanuns und der Ältesten, dann kann die Angelegenheit der Polizei übergeben werden. Die Verfahrensweise nach dem Kanun erscheint in diesem Sinne als eine erste Instanz der Rechtsprechung. Der öffentlichen Verwaltung und der Polizei sind in der Regel die lokalen Gewohnheiten bekannt. Man sieht es bei der Polizei gern, wenn die kleineren Konflikte ohne ihr Zutun gelöst werden. Vermutlich vertritt die Polizei diesen Stand- punkt nicht, weil so der soziale Frieden besser erhalten bleibt, als wenn sie eingreifen würden, sondern weil die Polizei auf diese Weise einfach weniger Arbeit hat. Auch für den Schuldigen ist die Herange- hensweise nach dem Kanun besser, denn trotz seiner öffentlichen Bloßstellung ist er nach der doppelten Rückzahlung des Wertes des gestohlenen Objekts wieder rehabilitiert. Die Handlungen der Poli- zei, sagen viele Nordalbaner, seien unberechenbar und bei der polizei- lichen Lösung bekomme der Bestohlene seinen Besitz nur selten wieder zurück. Der Bruch zwischen den betroffenen Familien werde auf diese Weise nur tiefer.

246 Diebstahl

Abb. 21: In Bathore, Blick nach Osten.

Im Vorort von Tirana, Bathore (Abb. 21), handelt man nach einem Diebstahl ähnlich wie im Norden. Doch die Regelungen des Kanuns bei Diebstahl, so betont man hier, sind nicht gut bekannt. Wenn je- mand einen Diebstahl bemerkt hat, dann geht der Bestohlene zuerst zum Ältesten seines Viertels oder seiner Familie. Dies tut er nicht, weil der Kanun vorgibt, dass man den Ältesten benachrichtigen muss. Der Älteste in Bathore ist der erste Ansprechpartner für alle Arten von Fragen. Man geht zu ihm, um einen Rat zu erhalten, wie man sich in einer bestimmten Situation verhalten soll. Der Älteste nimmt sich üblicherweise der Angelegenheit an. Manchmal werden aber Verwandte und Freunde des Bestohlenen und des mutmaßlichen Täters zusammengerufen, damit sie den Konflikt beilegen. Dies sind meist Älteste der Familie oder die Onkel der Be- troffenen. Bei diesen Treffen werden die Fehler, wie man sagt, ›flach gemacht‹. Die Suche nach dem Schuldigen gestaltet sich ähnlich wie im Nor- den des Landes. Anders ist in Bathore vor allem, dass auf Grund der größeren Bevölkerungsdichte eine relativ große Anonymität vor- herrscht. Während im Norden auf Grund der Überschaubarkeit der Dörfer ein möglicher Dieb schnell ausgemacht ist, ist es in Bathore un- gleich komplizierter. Es müssen richtige Nachforschungen angestellt 247 Die Praxis des Kanuns werden, wer der Täter sein könnte. Dazu benutzt man den Tür-zu- Tür-Eid, aber es werden auch die Leute auf der Straße und selbst Kin- der gefragt, ob sie etwas beobachtet haben. Die Vermittlung von Diebstählen funktioniert offensichtlich am be- sten innerhalb der fis, beziehungsweise bei Personen, die aus einer Re- gion Nordalbaniens in die Ebene vor Tirana gezogen sind. Es gibt in diesem Fall eine gemeinsame Bezugsebene. Bei Konfliktmediationen zwischen zwei fis kann es aber zu Problemen kommen, denn nicht alle fühlen sich den Werten des Kanuns gleichermaßen verbunden. In einigen Fällen gehen die Bestohlenen direkt zur Polizei. Doch es gibt für ganz Bathore nur zwei Polizisten, die mit der Arbeit in dem Ort überfordert sind. Der Polizei kommt es deswegen sehr entgegen, wenn die Bewohner die kleinen Konflikte unter sich lösen. Die öffent- liche Verwaltung akzeptiert nebenstaatliche Vermittlungen. Einige Älteste in Bathore sagen dazu, dass die Wunden nicht größer würden, wenn man die Konflikte auf traditionelle Weise lösen würde. Man sagt auch: Wenn der Staat schweige, dann spreche das Volk, das heißt, wenn die Polizei und die Verwaltung ihre Strukturen nicht durchset- zen würden, dann müssten Konflikte auf traditionelle Art gelöst wer- den. Landkonflikt Im Juli 1991 wurde in Albanien das Land dekollektiviert. Albanien ist das einzige ehemals sozialistisch geführte Land in Ost- und Südosteu- ropa, in dem eine annähernd vollständige Landverteilung des nach dem Zweiten Weltkrieg verstaatlichten Landes angestrebt wurde. Bei etwa 94 Prozent liegt der so genannte Dekollektivierungsindex.76 Die Landverteilung — wer Land erhält und wieviel — betraf vorrangig drei Interessengruppen. Erstens meldeten die ehemaligen Arbeiter der landwirtschaftlichen Großbetriebe im Sozialismus und die Familien in den ländlichen Gebieten ihre Ansprüche an. Zweitens pochten die ehemaligen Besitzer auf ihr Recht und argumentierten, dass man ih- nen ihr Land nach der ›Befreiung‹ weggenommen hätte. Schließlich spielten die ehemaligen regional Verantwortlichen der sozialistischen Partei und die letzten Vorstände der staatlichen Betriebe eine wichtige 76 Cungu/Swinnen 1999: 605; de Waal 1997: 124-125. 248 Landkonflikt

Rolle. Sie wollten bei der Landverteilung ebenfalls berücksichtigt werden.77 Man entschied sich schließlich für die Landverteilung an die heutigen Besitzer und gegen die Restitution der Flächen an die ehema- ligen Eigemtümer. Diese Entscheidung wurde mit einer gleichberech- tigten Verteilung begründet und mit der Hoffnung auf eine effizientere Bewirtschaftung des Bodens. Den Bauern, die nach dem Zusammenbruch der großen Staatsbetriebe ohne Arbeit waren, sollte wieder eine wirtschaftliche Grundlage ermöglicht werden. Die Grundstücke von vor 1944 waren ursprünglich vielerorts in den Hän- den nur weniger Familien konzentriert. Eine Restitution der Flächen an ihre ursprünglichen Besitzer hätte deswegen eine sehr ungleiche Landverteilung zur Folge gehabt.78 Nach dem Gesetz zur Landverteilung (Gesetz Nr. 7501, Juli 1991) wurde das Land kostenfrei den Familien übergeben, die Teil der je- weiligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) waren. Die Menge an Land berechnete sich nach der Anzahl der Fami- lienmitglieder zum Zeitpunkt der Landverteilung. Der Prozess schritt zügig voran, im Oktober 1992 waren bereits 87 Prozent des Landes dekollektiviert. Die formelle Überschreibung durch Urkunden an die Familienmitglieder zog sich hingegen in die Länge.79 Da das Gesetz die ursprünglichen Besitzverhältnisse nicht berücksichtigte, kam es zu heftigem Widerstand seitens der ehemaligen Landbesitzer. Besonders in Nordalbanien, wo es nur wenig fruchtbares Land gibt und die Men- schen nicht wie in Südalbanien entfernt von ihren Feldern wohnen, sondern innerhalb der von ihnen bewirtschafteten Ländereien, gab es Widerstand, gerade wenn das Land vor der eigenen Haustür in fremde Hände fiel. Doch trotz massiven politischen Drucks wurde das Ge- setz nur geringfügig geändert. Lediglich in dem Fall, dass der ehemali- ge Besitz am Meer oder in potentiell touristisch nutzbaren Regionen lag, kam es zu einer Entschädigung ehemaliger Eigentümer.80

77 Cungu/Swinnen 1999: 612. 78 Cungu/Swinnen 1999: 616. 79 Lastarria-Cornhiel/Wheeler 2000: 127; Cungu/Swinnen 1999: 610; de Waal 1998: 27. 80 Cungu/Swinnen 1999: 610-611. 249 Die Praxis des Kanuns

Die Durchführung der Landverteilung führte zu einer Vielzahl von Problemen. Das Gesetz berücksichtigte nicht die kulturellen Ge- wohnheiten im Norden des Landes und ließ einen großen Spielraum wegen letztendlich ungenauer gesetzlicher Vorgaben. Der größte Wi- derspruch findet sich zwischen dem, was das Gesetz Nr. 7501 vor- schreibt, und jenem, was die starke gewohnheitsrechtliche Praxis vorsieht. Dies lässt sich am Beispiel des Konfliktes zwischen individu- ellem und familiärem Grundbesitz erläutern. Obwohl beabsichtigt war, das Land innerhalb der Familien individuell zu verteilen, stand auf der ausgestellten Besitzurkunde, die für den ganzen familiären Landbesitz galt, nur der Name des Haushaltsvorstands. Der Staat wollte die Familien als Wirtschaftseinheit erhalten und war gegen eine Partikularisierung der landwirtschaftlichen Betriebseinheiten. Auf diese Weise reinstallierte man jedoch den kollektiven Landbesitz in der Struktur von vor 1944. Dazu kommen gesetzliche Ungenauigkei- ten, die auf der einen Seite ein Recht auf Landbesitz von einzelnen Personen festschreiben, auf der anderen Seite den Familienbesitz un- ter der Leitung des Haushaltsvorstands fördern. Diese Unklarheiten verunsicherten die Landbesitzer, und gewohnheitsrechtliche Rege- lungen, die einfacher und nachvollziehbarer strukturiert waren, ge- wannen an Bedeutung. Beispielsweise wurde das familiär geführte Land im Falle von Erbschaften nur unter den Söhnen verteilt.81 Männer und Frauen haben seit 1994 zwar offiziell die gleichen Rechte auf Grundbesitz, doch viele Frauen scheinen von diesem Recht nichts zu wissen oder sehen nicht die Notwendigkeit, als Land- besitzerin neu in Erscheinung zu treten. Ferner sind die patriarchalen Strukturen im Handeln der Menschen noch so stark verankert, dass das Einfordern von Landbesitz seitens einer Frau wenig realistisch zu sein scheint. Die Familie wird als wirtschaftliche Einheit gesehen, so sagen die Menschen in Nordalbanien, und individueller Landbesitz zerreiße diesen Zusammenhalt. Frauen würden deswegen nur selten ihre Stimme erheben und ihren Teil des familiären Landbesitzes für sich einfordern. Im Übrigen verlassen die Frauen traditionellerweise mit der Hochzeit ihr Elternhaus und kommen in die familiäre Einheit des Ehemanns. Land wird in diesem Fall nur selten in die neue Familie 81 Lastarria-Cornhiel/Wheeler 1998: 1-2, 4; 2000: 130, 138. 250 Landkonflikt eingebracht.82 Erhebungen in Nordalbanien nach der Landverteilung ergaben,83 dass die patriarchale Besitzstruktur überwiegend vorzufin- den ist. Damit ist gemeint, dass der Besitz vom Haushaltsvorstand verwaltet wird und nach dem Tod auf dessen Söhne übergeht. In nur ganz wenigen Fällen ist eine Frau die Grundbesitzerin.84 In der nordalbanischen Kultur gibt es keine ausgeprägte Vorstellung eines individuellen Landbesitzes. Selbst die Haushaltsvorstände füh- len sich nicht als Besitzer, sondern eher als repräsentative Vertreter des familiären Eigentums und als dessen Hauptverwalter.85 Diese tra- ditionelle, im Handeln der Menschen fest verankerte Vorstellung ei- nes kollektiven familiären Landbesitzes trifft auf die Wiederein- führung des Familienkonzeptes in den Gesetzen des postsozialisti- schen Albaniens. Der Unterschied zwischen den beiden Vorstellun- gen ist, dass die Familie nach dem Kanun und nach dem Gesetz zwar der eigentliche Besitzer ist, nach den rezenten gesetzlichen Regelun- gen jedoch alle Familienmitglieder, nicht nur der Haushaltsvorstand stellvertretend für alle, die gleichen Besitzrechte haben. Wie erwähnt sah das Verfahren der Landverteilung jedoch nicht die Überschrei- bung des Besitzes auf die einzelnen Familienmitglieder vor, der Besitz wurde meist nur dem Haushaltsvorstand, stellvertretend für alle Fa- milienmitglieder, mit einem Dokument übergeben. Damit wurden formal zwar den einzelnen Familienmitgliedern individuelle Besitz- rechte zuerkannt, streng genommen jedoch das Land der Familie als Ganzes übergeben.86 Der Habitus Kanun wurde über die Praxis der Landverteilung nicht außer Kraft gesetzt. Im Gegenteil, durch die gesetzlich verankerte Verteilung des Bodes an ganze Familien wurde die familiäre Traditi- on, in der das Individuum gegenüber der Familie eine untergeordnete

82 Lastarria-Cornhiel/Wheeler 1998: 16; Wheeler 1998: 20. 83 Das Land Tenure Center der University of Wisconsin erarbeitete in Zusammen- arbeit mit USAID/Albania für den albanischen Staat einen Land Market Action Plan nach dem Erlass des Gesetz zur Landprivatisierung. In diesem Rahmen wur- den viele Untersuchungen zur Landverteilung in Nordalbanien durchgeführt (siehe dazu http://www.wisc.edu/ltc [29. Juli 2004]). 84 Wheeler 1998: 25-26. 85 Wheeler 1998: 9-10. 86 Lastarria-Cornhiel/Wheeler 2000: 128, 151; Wheeler 1998: 12. 251 Die Praxis des Kanuns

Rolle spielt, aktualisiert. Ein Habitus kann nur seiner Grundlage be- raubt werden, wenn es radikale Einschnitte in die sozio-ökonomische Rahmenbedingungen gibt. Durch die Wiedereinführung des Fami- lienkonzeptes in der Landwirtschaft im Albanien der 1990er Jahre be- hauptet die Familie ihre bedeutende Stellung. Die Unterschiede in der Gesetzgebung zu traditionellen Konzepten der Familie, wie der Rolle des Haushaltsvorstandes, finden kaum Widerhall in der Gesellschaft. Sie können die Dialektik des Habitus mit dem sozialen Feld kaum stö- ren. Diese Situation führt nicht zu großen sozialen Problemen. Die Familien verwalten den Landbesitz nach dem Kanun, und die Fami- lienmitglieder identifizieren sich damit. Vielfach gibt es jedoch keine intakten Familienstrukturen mehr. Teile der Familie sind innerhalb oder außerhalb Albaniens migriert. Es kommt auch vermehrt zu Scheidungen und Landkonflikten innerhalb von Familien, weil man beispielsweise mit einer Erbschaft nicht zufrieden ist. Das Familienge- füge ist in diesen Fällen gestört. Männer bestehen nach Scheidungen auf dem ›traditionellen Recht‹ und beharren auf ihrem Landbesitz- recht. Viele Landkonflikte, die mir zu Ohren kamen, betrafen Mitglie- der der gleichen Familie. Da staatliche Behörden bei kleineren Land- konflikten nicht eingreifen und jene innerhalb von Familien als deren eigene Angelegenheit betrachtet werden, sind die Konfliktparteien auf sich alleine gestellt, beziehungsweise suchen den Rat der Ältesten, um eine Mediation des Konfliktes anzustreben. Ein Gesetz sollte eine Norm sein, die im ganzen Bereich seiner Gel- tung in gleicher Weise zur Anwendung kommt. Das Gesetz zur Land- verteilung wurde jedoch lokal, selbst seitens der offiziellen Stellen, unterschiedlich umgesetzt. Die Landverteilung in Puka wurde unter Missachtung des Gesetzes vollzogen (Abb. 22). Puka stellt insofern eine besondere Situation dar, weil die Besitzurkunden von vor 1944 nicht verloren gegangen sind.87 Während des Sozialismus erließ das Regime ein Gesetz, nach dem alle Grundbesitzurkunden vernichtet werden sollten. Privatbesitz sollte damit auch aus den Archiven ver- bannt werden und keine Pläne mehr über die ursprünglichen Grenzen Aufschluss geben können. Aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen wurden die Archive in Puka nicht verbrannt, man fand die 87 Mitteilung eines Mitarbeiters im Amt für Landvermessung, Puka. 252 Landkonflikt

Abb. 22: Blick auf Puka.

Pläne zu Beginn der 1990er Jahre an versteckten Orten im Stadtarchiv und im Vermessungsamt. Die Urkunden bilden die tatsächlichen Be- sitzverhältnisse vor der Enteignung durch die Sozialisten nicht voll- ständig ab, denn nicht alle Bodentransaktionen wurden urkundlich erfasst. Damals wie heute sind die Grenzen der Ländereien jedoch al- len Einwohnern bekannt. Es gibt nur wenig bebaubares Land um Puka. Das Land ist überschaubar, daher haben die Menschen die frü- heren Besitzverhältnisse nicht vergessen. Als 1991 die Landverteilung begann und das Land in Puka zunächst nicht den ursprünglichen Besitzern von vor 1944 zurückgegeben wer- den sollte, gingen die örtlichen Behörden einen anderen Weg. Gerade weil es so wenig Land gibt und man soziale Konflikte auf ein Mini- mum reduzieren wollte, hatten sich die Einwohner und die Landver- teilungskommission darauf verständigt, den Boden den ursprüng- lichen Besitzern beziehungsweise deren Familien zurückzugeben. Das Land wurde somit nicht nach der gesetzlichen Vorlage, sondern nach den alten Grenzen dekollektiviert. Innerhalb der Grenzen eines Grundstücks einer Familie wurde der Boden gleichmäßig an die An- zahl der Familienmitglieder verteilt. Dies ist auch der Grund, warum es in Puka selten zu Konflikten zwischen zwei Familien kommt, son- dern häufiger zu Streitigkeiten innerhalb von Familien. 253 Die Praxis des Kanuns

Die meisten Landkonflikte werden von Ältesten oder dem Gemein- devorsteher gelöst. Es wird explizit auf den Kanun verwiesen und da- rauf zurückgegriffen, das heißt auf Lösungs- und Regulierungs- mechanismen, die auf Vermittlung und Kompromisssuche ausgelegt sind, nicht auf Regelungen, die im fernen Tirana erstellt worden sind. Die Menschen sagen: ›Der Kanun weiß, wem das Land gehört‹. Wenn die Dorfbewohner ihre Konflikte untereinander lösen und eine für alle Parteien akzeptable Lösung finden, dann greifen die staatlichen Stellen nicht ein und akzeptieren das selbstständig erreichte Ergebnis. Es gibt auch Fälle, in denen Dorfbewohner direkt zur Polizei oder an- deren staatlichen Stellen gehen, damit dort ihr Problem gelöst wird. Doch die Behörden entgegnen den Konfliktparteien in solchen Fällen meist, dass die Menschen ihr Problem besser untereinander diskutie- ren sollten. Regelungen zu Landkonflikten, die an den Behörden vorbei zu Stande kamen, beispielsweise im Ältestenrat des Dorfes, werden bei einer einvernehmlichen Lösung der Konfliktparteien nachträglich formell durch das Vermessungsamt bestätigt. Die Vermittler in den Konfliktfällen unterrichten die Gemeindeverwaltung üblicherweise über die Einigung. Selten erhebt man in der Verwaltung dagegen Ein- spruch, ist man doch erfreut darüber, dass eine Lösung ohne eigenes Zutun erfolgreich verlaufen ist. Formal fasst der Vorsteher der Kom- mune (kryetari i komunës), der auch Vorsteher der örtlichen Land- kommission ist, einen offiziellen Beschluss, der dem der Ältesten oder Vermittler des Konfliktes gleichkommt. Durch diesen Beschluss wird die Einigung auch von den Behörden anerkannt. In Mirdita verhält es sich ähnlich (Abb. 23). Die Gesetzgebung zur Landverteilung wurde ignoriert, beziehungsweise uminterpretiert. Das Land wurde nach dem Kanun verteilt und die Praxis der Einwoh- ner reiht sich in die Rückgriffe auf gewohnheitsrechtliche Praktiken ein, die weit über die Landverteilung hinausgehen und viele Bereiche des sozialen Lebens betreffen. Älteste und gewählte Vertreter der fis versammeln sich, um Konflikte zu lösen, und die Menschen wollen damit so lange fortfahren, bis staatliche Praktiken in der Region durchgesetzt werden und funktionieren.88 Gerade über die dauerhafte 88 de Waal 1996: 180. 254 Landkonflikt

Abb. 23: Haus im Tal des Flusses Fani i vogël, Mirdita.

Praxis gewohnheitsrechtlicher Normen wird allerdings auch der Auf- bau und das Vertrauen in demokratische Strukturen erschwert. Die Landkommissionen in Mirdita ignorierten 1991 das Gesetz zur Landverteilung und gaben das Land den Besitzern von vor 1944 zu- rück. 1966 wurde erstmals Boden in Nordalbanien kollektiviert. Da- bei sahen die Einwohner Mirditas durchaus die grundsätzlichen Vorteile in dem Gesetz zur Landverteilung, das gleichmäßige Vertei- len der Flächen unter den Einwohnern. Dies erschien den Menschen sinnvoll, weil das Land in der Region von sehr unterschiedlicher Qua- lität ist und nicht gleichmäßig über die einzelnen, verschieden großen Familien verteilt war. Doch man befand die Landverteilung nach dem Gesetz für undurchführbar. Die ursprünglichen Landbesitzer hatten ihre Häuser meist innerhalb oder am Rande des Bodens, den sie bis zur Enteignung besessen hatten. Die Landverteilung nach dem Gesetz

255 Die Praxis des Kanuns hätte möglicherweise dazu geführt, dass das Land vor der eigenen Haustüre in fremde Hände gelangt wäre. Ferner gab und gibt es eine traditionell sehr starke Verbundenheit der Albaner mit ihrem eigenen Boden. Man gab in Mirdita aus den genannten Gründen das Land an seine alten Besitzer zurück.89 Auch in anderen Regionen Nordalbaniens wurde ähnlich verfahren. Es kam zu einer Landrestitution und zu einem Landkonflikt. Bei Un- klarheiten über den genauen Verlauf der Grenzen wurden diese Fälle von Ältesten und Vermittlern gelöst, beziehungsweise diese erarbeite- ten einen Kompromiss zwischen den beteiligten Parteien. Dieses ge- schah und geschieht heute noch mit ausdrücklicher Duldung der regionalen Behörden, die solche informellen Regelungen sogar selbst fordern. Gerade in Fällen, in denen die gesetzlichen Vorgaben zur Landverteilung genau eingehalten worden sind, war die Wahrschein- lichkeit besonders hoch, dass es zu Konflikten kam.90 Grenzmarkierungen werden heute teilweise auf die gleiche Art vor- genommen, wie es Gjeçov in seinem Kanun beschreibt. Die Grenze wird mit großen und schweren Steinen markiert. Früher waren diese Grenzsteine von so genannten ›Zeugensteinen‹ umgeben. Sechs oder zwölf kleine Steine in Mirdita, in der Regel aber nur zwei, waren um den Hauptgrenzstein herum in den Boden eingegraben. Man sagte dazu auch, dass der Grenzstein ›Freunde‹ um sich hatte. Sollte der Hauptgrenzstein verloren gegangen sein, konnte man seine Position über die Zeugensteine wieder genau ermitteln. Die Steine waren, man- gels fehlender Urkunden, die hauptsächlichen Marker des Besitzes. Die Steine und ihre Position waren so heilig und unverrückbar wie die Gebeine eines Toten im Grab. Auch Bäume oder andere markante Punkte konnten Grenzmarkierungen darstellen. Heutzutage markiert man die Grenzen nur noch selten mit den Zeugensteinen. Doch die aktuelle Prozedur, in der die Steine gesetzt werden, ähnelt sehr den al- ten Traditionen. Der Unterschied zwischen der rezenten Praxis und dem Handlungsverlauf, wie ihn Gjeçov beschreibt, liegt darin, dass die alte Grenzsteinsetzung viel ausführlicher und feierlicher war. Heute ist die Prozedur auf einige ihrer Grundzüge reduziert. Bei der

89 de Waal 1996: 180; 1997: 126. 90 Muka, Vl. 2000: 107. 256 Landkonflikt

Grenzsteinlegung sind neben den betroffenen Parteien die Ältesten des Dorfes oder des Viertels anwesend. Früher wurden neben den ge- nannten Personen so viele Kinder wie möglich, Männer aus den Nach- barorten und Älteste des bajrak hinzugezogen. Die Anwesenheit der Kinder gewährleistete eine möglichst lang anhaltende Erinnerung an das Ereignis und damit die Grenze selbst. Heute wird nach der Zere- monie oft ein kleines Papier aufgesetzt, das alle Anwesenden unter- schreiben. Dies ist jedoch kein offizielles Dokument. Einmal gesetzte Steine können nicht wieder verschoben werden. Damit argumentieren die Menschen häufig in Gesprächen über die Restitution des Landes nach dem Fall des Sozialismus. Von Zeit zu Zeit war allerdings eine Grenzerneuerung erforderlich, wenn man beispielsweise den Grenz- verlauf vergessen hatte oder die Markierungen nicht mehr aufzufin- den waren. In diesem Fall ging ein Ältester den Grenzverlauf entlang.91 Dies geschieht auch heute noch. Im alten Kanun ging der Äl- teste mit einem Stein auf der einen Schulter und einem Klumpen Erde auf der anderen den Grenzverlauf entlang und sprach Eide. Die Eide haben heute keine besondere Form mehr. Meist sind die Sprüche kürzer und klingen etwas weniger pathetisch als die Eide in einer alten Zeremonie. Gjeçov zitiert unter anderem folgende Eide: »Durch diesen Stein (oder: durch diese Last), mit dem ich mich be- schwerte, mit dem von den Vorfahren Gehörten, werde ich jetzt den Lauf der früheren Grenze zeigen und werde Keines Grund und Boden benachteiligen, sondern tun, wie Geist und Seele mir eingibt«, oder: »Auf dieses Gewicht, das mich im Jenseits belaste: hier waren die alten Grenzzeichen, wie es mir der Großvater zeigte, als ich ein Knabe und bei ihm Ziegenhirte war. Er nahm es in jenes Leben mit. Daß hier die Grenzen sind und hier — und nach seinem Wort nehme auch ich es auf meine Seele.«92 Diese gewohnheitsrechtliche Festlegung von Grenzen und dieses Vorgehen bei Grenzstreitigkeiten werden auch in Bathore (Abb. 24) angewendet.93 Allerdings ist die Ausgangslage hier ungleich kompli- zierter — die Grundbesitzverhältnisse in der Vorstadt von Tirana sind

91 Gjeçov 1989 [1933]: 73, §§ 238-246; Hasluck 1954: 95-96. 92 Gjeçov 1989 [1933]: 73, § 246; Übersetzung Godin 1954: 2; Hasluck 1954: 96-99. 93 Voell 2003: 97-98; siehe auch Felstehausen 1999: 3-4, 13. 257 Die Praxis des Kanuns

Abb. 24: Blick auf Bathore und Kamza nach Norden. sehr unübersichtlich. Bathore verteilt sich auf dem Farmgelände der Landwirtschaftlichen Universität und auf anderen Ländereien von Großfarmen aus. Die ländliche Zone Bathores ist in kleine Parzellen unterteilt, die 1991 den ehemaligen Bauern des staatseigenen Betriebs überlassen wurden. Die neuen Besitzer bauten auf den kleinen Grundstücken ihre eigenen Häuser, meistens jedoch verließen sie ih- ren Besitz und verkauften den Boden an die Neuankömmlinge, die aus Nordalbanien in die Ebene migrierten. Der Verkauf des Besitzes wur- de größtenteils nicht schriftlich festgehalten, doch der Verkaufspro- zess konnte zumindest nachvollzogen werden, wenn man den ursprünglichen Besitzer ausfindig machen konnte. Die Lage in der urbanen Zone Bathores ist komplizierter. Die Neu- ankömmlinge bauten ihre Häuser auf ehemaligem Staatsbesitz, der ei- gentlich nicht dekollektiviert wurde, das heißt, die Migranten halten formal gesehen das Land besetzt. Im Fall eines Landkonfliktes zwi- schen zwei Migrantenfamilien hat es deshalb keinen Sinn, zur staatli- chen Verwaltung zu gehen, denn es gibt verständlicherweise keine Pläne oder anderen Aufzeichnungen darüber, wer nun welches Stück Land illegal besetzt hat. In beiden Zonen sind die staatlichen Behör- 258 Landkonflikt den kein Ansprechpartner für Landkonflikte. In der ländlichen Zone haben die Behörden kein Wissen über die aktuellen Besitzverhältnisse und über mögliche Grenzänderungen zwischen den ursprünglichen Parzellen. In der städtischen Zone ist der Staat der eigentliche Besitzer des Landes und toleriert die Besetzung des Landes, beziehungsweise ist die Besetzung nicht mehr rückgängig zu machen. Der Staat küm- mert sich nicht intensiv darum, den Grundbesitzstatus zu offizialisie- ren und Grenzstreitigkeiten zu lösen. Diese Unsicherheit bezüglich des Landbesitzes und das mangelnde Bemühen des Staates, die Probleme zu lösen, zwingt die Bewohner dazu, die Konfliktlösung bei Landstreitigkeiten selbst in die Hand zu nehmen. Sie folgen hierbei den Grundprinzipien des Kanuns, wie es für alle Formen von Konflikten gilt. Wenn es zu Problemen im Zu- sammenhang mit Grundbesitz kommt, wird zunächst versucht, die Lösung mit Hilfe der Ältesten des Viertels zu suchen. Wenn es hier zu keiner Lösung kommt oder es um ein großes Grundstück geht, dann werden staatliche Behörden eingeschaltet. Aber so weit kommt es ge- wöhnlich nicht. Bei Grenzen müssen die Einwohner auf gegenseitiges Vertrauen setzen. Da das Land noch dem Staat gehört, kann man nicht über Landkonflikte mit ihm reden. Die Leute sind hier gewissermaßen ›wie Fallschirmspringer‹ ange- kommen, so sagt man in Bathore, wenn eine neue Familie aus dem Norden kommt und hier ein Grundstück und einen Bauplatz sucht. Dafür gehen die Migranten nicht zur staatlichen Verwaltung. Neuan- kömmlinge erkundigen sich vielmehr in der Nachbarschaft, wie der Grenzverlauf ist und ob das Nachbargrundstück noch frei ist. Einige freie Flächen, auf denen noch keine Häuser gebaut wurden, gibt es noch in Bathore. Dies bedeutet allerdings nicht, dass noch keine Per- son auf die Fläche Anspruch angemeldet hat. Meist gehören die Flä- chen Familien, die eine kurze Zeit in Bathore verweilten und sich die Parzelle sicherten, dann aber wieder die Region verließen. Viele von ihnen emigrieren ins Ausland und arbeiten einige Jahre in westeuro- päischen Ländern oder in Nordamerika, bis sie ausreichend Geld ver- dient haben, um ihr Haus auf der freien Fläche in Bathore bauen zu können. Das Grundstück kann einige Jahre unberührt bleiben, ohne dass die Familien Angst haben müssen, dass sich eine fremde Familie

259 Die Praxis des Kanuns des Landes bemächtigt. Dies beruht auf der gewohnheitsrechtlichen Regelung, dass Familien ihr Dorf verlassen können, und innerhalb der nächsten zehn Jahre niemand ihren Grund und Boden übernehmen darf.94 Das Land bleibt frei oder ungenutzt, die Nachbarn sind darüber informiert und sagen dies Neuankömmlingen aus dem Norden. Wenn man über die Grenzen im Unklaren oder mit ihnen nicht ein- verstanden ist, dann gehen die Ältesten oder andere Vermittler zu den Nachbarn und hören dazu die Meinung der Anwohner. Wenn Letzte- re den vorgeschlagenen Grenzverlauf nicht akzeptieren, der Nachbar betont, seine Grenze sei schon immer hier verlaufen und der neue Nachbar beanspruche zu viel Land, dann legt der länger am Ort leben- de Mann einen Eid ab, dass an dieser Stelle die Grenze schon länger bestehe. Dies ist der gleiche Art Eid wie für einen Diebstahl. Man legt ihn nicht ab, um Land zu bekommen, sondern um der Gegenpartei zu versichern, dass einem das Land, auf dem man wohnt, innerhalb der bestehenden Grenzen gehört. Es gibt auch Fälle, in denen die Ältesten oder Vorsteher der Viertel versuchen, den Konflikt zu lösen, bevor es zu einem Eid kommt. Ver- mittler sind keine Schiedsrichter, die bestimmen, was das Gesetz im vorliegenden Fall vorsieht. Sie bestimmen nicht selbst, wo eine Gren- ze liegen soll; eine solche Entscheidung durchzusetzen, hätten sie nicht die Macht. Sie versuchen einen Kompromiss zwischen beiden Parteien zu erwirken und eben nicht, Recht zu sprechen. Dies ist auch einer der Gründe, warum die Einwohner Bathores nicht zur Polizei oder zu staatlichen Behörden gehen wollen. Diese würden nicht ver- mitteln, sondern lediglich sagen, was nach dem Gesetz richtig ist. Die Vermittler bringen beide Parteien zusammen und führen sie zu einer gemeinsamen Lösung. Diese Vereinbarung wird selten schriftlich fi- xiert, sie hat durch die über den Eid festgelegte Grenze und die Anwe- senheit der Ältesten oder anderer Zeugen Bestand. Wenn es wieder zu einer Unklarheit über den Grenzverlauf an gleicher Stelle kommen sollte, dann werden die Zeugen wieder befragt, wo die Grenzen fest- gelegt worden sind.

94 Gjeçov 1989 [1933]: 70, §§ 221-222. 260 Konfliktvermittlung nach dem Kanun

Konfliktvermittlung nach dem Kanun Wie am Beispiel des Diebstahles und des Landkonfliktes zu sehen war, folgt die Konfliktlösung in Nordalbanien in beiden Fällen unge- fähr gleichen Bahnen. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Vermittlung modellhaft, ohne die Spezifizierung der Art des Konflik- tes, darstellt. Generell, losgelöst vom albanischen Beispiel, kann man folgende Formen der Konfliktführung unterscheiden:95 Erstens kann dem Konflikt einfach aus dem Weg gegangen werden. Eine der Kon- fliktparteien sieht sich nicht in der Lage, gegen die andere Partei vor- zugehen. Dieses kann vorkommen, wenn man nicht das Recht zur Konfliktaustragung hat oder die Kosten einer Konfliktaustragung zu hoch erscheinen. Oder die Gruppe fühlt sich einem übermächtigen Gegner unterlegen. Eine zweite Form, einem Konflikt aus dem Weg zu gehen besteht darin, die soziale Beziehung, aus der der Konflikt hervorgeht, abzubrechen oder auf ein Minimum zu reduzieren. Man zieht sich aus der Konfliktsituation zurück. In diesem zweiten Fall ist man sich des Konfliktes bewusst. Im erstgenannten Fall der Konflikt- vermeidung wird der Konflikt hingegen ignoriert. Er hat keine beson- deren Konsequenzen. Diese beiden Formen der Konfliktaustragung, die eigentlich darin bestehen, dass es nicht zur Austragung kommen soll, gibt es ebenfalls in Nordalbanien. Es sind allerdings keine typi- schen Formen. Man könnte sie als Vorstufen der eigentlichen Ver- mittlung bezeichnen, als einen schwelenden Konflikt, wie beispiels- weise bei Landstreitigkeiten, bevor das Problem schließlich offen zu Tage tritt, weil eine der beiden Parteien mit der aktuellen Situation nicht zufrieden ist. In diesem Fall ist eine Konfliktvermeidung nicht mehr möglich. Wenn das Problem nicht mehr zu ignorieren ist, gibt es drei Formen, den Konflikt auszutragen: Erstens kann eine Partei der anderen auf Grund ihrer sozialen und politischen Macht ihren Willen aufdrängen. Der Konflikt wird im Sinne der mächtigeren Partei gelöst, indem der Gegner unter Druck gesetzt wird. Diese Praxis macht häufig den Konflikt schwerwiegender als er vorher war. Der Konflikt wird nicht zur Zufriedenheit beider Seiten vermittelt oder auf der Basis eines

95 Nader/Todd 1978: 8-15. 261 Die Praxis des Kanuns beidseitig akzeptierten Regelwerkes behandelt. Diese Form der Kon- fliktaustragung spricht man in Nordalbanien der Polizei und dem Staat im Allgemeinen zu. Die Bevölkerung erkennt das Gesetz nicht als verbindliche Norm an, weil die Bevölkerung es als von außen auf- gesetzt empfindet. Das Gesetz scheint häufig auf der politischen Ebe- ne verändert zu werden. Polizei, Verwaltung, Justiz und Politik, so die häufig vertretene Meinung in Puka und Shkodra, nützten die Gesetze nur in ihrem Sinne. Der Staat und seine Gesetze erscheinen als etwas Fremdes, losgelöst von der nordalbanischen Realität. Die Polizei wirkt damit nur als fremder Akteur, der scheinbar willkürlich be- stimmt, wer von den Konfliktparteien in einer bestimmten Situation Recht erhält. Abgesehen vom fehlenden Verständnis bei großen Tei- len der Bevölkerung für Polizei und Justiz steht auch die staatliche Praxis der Rechtsprechung im Widerspruch zur traditionellen Kon- fliktvermittlung, die meist die Suche nach einem Kompromiss oder nach Entscheidungen in beiderseitigem Einvernehmen bedeutet. Zweitens können beide Konfliktparteien untereinander eine Lösung aushandeln. Die Lösung des Konfliktes im gegenseitigen Einverneh- men bedeutet, dass keine der beiden Parteien der jeweils anderen durch eine machtvollere Position von vornherein ihre Meinung auf- drückt. Die Parteien versuchen, sich argumentativ einer gemeinsamen Lösung anzunähern. Es gibt keine genauen gesellschaftlich bevorzug- te Vorgehensweise, die Regeln zur Konfliktlösung werden in einem zweiseitigen Prozess gemeinsam aufgestellt. Auch diese Praxis ist in Albanien nicht unbekannt. Doch wenn schon der Punkt erreicht ist, an dem sich gleichberechtigt verhaltende Konfliktparteien zur Kon- fliktlösung zusammensetzen, dann greift man meist auf die gesell- schaftlich anerkannte Form der Vermittlung zurück, die Mediation über eine dritte Partei. Dies ist die dritte Form der Konfliktaustra- gung. Mediatoren helfen den Konfliktparteien, eine Lösung zu finden. Beide Parteien sind mit der Mitwirkung der dritten Partei in dem Konflikt einverstanden. Wer sind die Mediatoren in den Konfliktfällen? Üblicherweise sind es die mehrfach erwähnten Ältesten (plak). Es handelt sich hierbei nicht um eine besondere Klasse in der nordalbanischen Gesellschaft. Bei Gjeçov erhält der Leser fast den Eindruck, dass Gjeçov mit den

262 Konfliktvermittlung nach dem Kanun

Ältesten eine richtige Regierung und eine Justiz mit mehreren Kam- 66 mern beschreibt.9 Doch auch wenn es vielleicht ein Amt in der Aus- prägung gegeben hat, wie Gjeçov es beschreibt, kann man heute von einer besonders herausgehobenen sozialen Rolle des Ältesten nicht mehr sprechen. Die Auswahl der Ältesten wird heutzutage von drei Aspekten bestimmt: Erstens gibt es immer noch Familien, die ein gro- ßes gesellschaftliches Prestige besitzen. Dieses resultiert meist aus ver- gangenen Zeiten, in denen ein fis ökonomisch besonders stark oder sehr zahlreich war, beziehungsweise einen guten Ruf als weiser Ratge- ber erhalten hatte. Diesen guten Namen konnten sich einige Familien auch über den Sozialismus hinaus erhalten. Heute stoßen auch neue bedeutende Familien hinzu, die das soziale Leben im Dorf beeinflus- sen, weil sie in den vergangenen zehn Jahren zu Wohlstand gekom- men sind. Zweitens werden Personen zu Ältesten, die sich, unab- hängig von ihrer familiären Herkunft, individuell profiliert haben. Man sagt diesen Personen nach, dass sie weise Ratschläge geben, be- sonnen argumentieren und das soziale Gleichgewicht der Gemein- schaft pflegen. Schließlich sind Älteste auch in offiziellen, das heißt staatlichen Ämtern zu finden. Meist sind sie in der Rolle von Gemein- devorstehern (kryeplak). Sie werden respektiert, weil sie den beiden erstgenannten Gruppen angehören. Man könnte meinen, dass sie in- dem sie ein öffentliches Amt bekleiden, eine größere Macht haben oder zumindest gesellschaftlich wichtiger als die plak sind, die kein solches staatlich legitimiertes Amt haben. Offensichtlich ist dem nicht so, und dies aus zwei Gründen. Zum einen steht die Bevölkerung staatlichen Vertretern generell skeptisch gegenüber. Man vermutet, dass staatliche Angestellte immer nur in die eigene Tasche wirtschaf- ten. Zum anderen ist vielen Menschen ziemlich gleichgültig, welches Amt der Mediator genau bekleidet und ob er sich in der Mediation ge- setzeskonform — wer kennt die Gesetze schon? — oder nach traditio- nellen Vorgaben verhält. Tonin Gjuraj (2000) beschreibt beispiels- weise einen Dorfvorsteher (kryetari i komunës), der sich in örtlichen Versöhnungskomitees engagiert, und fragte ihn, ob sich dies mit sei- nem öffentlichen Amt vertrage. Er antwortete, dass er nicht als gesetz- licher Vertreter, sondern als Mitglied des Dorfes an der Versammlung 966 Gjeçov 1989 [1933]: 187-189, §§ 991-1016. 263 Die Praxis des Kanuns teilnehme. Ein anderer kryetar begründet seine Beteiligung an diesen Komitees mit dem Mangel an Rechtsstaatlichkeit vor Ort und dem mangelnden Interesse der Polizei, beispielsweise in Blutrachefälle zu intervenieren; mit dem Wunsch, Konflikte so früh wie möglich mit traditionellen Mitteln beizulegen, bevor der Konflikt eskaliere; und mit der eigenen Verantwortung, die er Kraft seines gewählten Amts 77 schließlich habe.9 Der Älteste ist in der Regel ein älterer Mann, dem man generell viel Respekt zollt, der nicht gewählt oder zu einem bestimmten Zeitpunkt ernannt worden ist. Aus den individuellen Leistungen und ihrer öf- fentlichen Anerkennung durch die Gemeinschaft kristallisieren sich Personen heraus denen man das Vertrauen entgegenbringt, Konflikte zu vermitteln und zu lösen. Ganz selten entdeckt man in der Literatur zu Albanien, dass Frauen als Vermittlerinnen in Erscheinung getreten sind. Frauen sollte es einfacher möglich gewesen sein, zwischen zer- strittenen Parteien zu vermitteln. Da in der nordalbanischen patriar- chalen Gesellschaft die Konflikte nur auf die Männer bezogen waren, besonders im Falle der Blutrache, hätten die Frauen von den Konflik- 988 ten unbehelligt öffentlich in Erscheinung treten können. Aktuell scheint die Frau keine aktive Rolle in Mediationen zu spielen, zumin- dest nicht in der Öffentlichkeit. Die Vorgehensweise der Ältesten in einem Konflikt folgt keiner be- stimmten Form. Theoretisch lassen sich zwei Mediationsformen un- 99 terscheiden:9 Einerseits gibt es den neutralen Vermittler, andererseits den Schiedsrichter. Der neutrale Vermittler unterstützt die Parteien, eine selbständige Lösung anzustreben. Hier legt der Vermittler den Parteien keinen eigenen Lösungsvorschlag vor. In der Minimalform ist die dritte Partei ein Nachrichtenüberbringer zwischen den Kon- fliktparteien, die sich etwa auf Grund von Spannungen nicht begegnen können oder wollen. Der Schiedsrichter hingegen tritt aktiv im Lö- sungsprozess auf. Ihm wird der Sachverhalt vorgetragen, und er fällt eine Entscheidung darüber, wie die Konfliktlösung auszusehen hat.

977 Gjuraj 2000: 121-122. 988 Garnett 1893: 221-222. 999 Roberts 1981 [orig. 1979]: 72-73. 264 Konfliktvermittlung nach dem Kanun

Den Schiedsrichter gibt es im rezenten albanischen Kanun selten, denn der könnte sich nicht auf ein genau umrissenes öffentliches Amt berufen. Ein albanischer Schiedsrichter würde ferner über keinen Er- zwingungsapparat verfügen, die getroffene Entscheidung durchzuset- zen. Manchmal gibt es einen Schiedsrichter, wenn die Streitenden einem Ältesten die Rolle eines Schiedsrichters zusprechen, bezie- hungsweise der Älteste über die Autorität und das Charisma verfügt, die seinen Worten ausreichendes Gewicht verleihen. Man kann nicht sagen, dass in Nordalbanien eine staatliche Organi- sation fehlt. Der demokratische Staat ist präsent, seine Regeln und de- mokratische Praktiken sind jedoch ungewohnt, werden missver- standen und von vielen staatlichen Vertretern bewusst oder unbe- wusst sehr frei ausgelegt. Es gibt daher keine allgemein verbindlichen Normen, wie ein Konflikt gehandhabt werden muss, auch weil die ge- wohnheitsrechtlichen Strukturen eher allgemeine Handlungsrahmen setzen als genau soziale Prozesse vorschreiben. So lange allgemein verbindliche Normen, wie auch ein funktionierender Erzwingungs- apparat und seine gesellschaftliche Akzeptanz fehlen, werden gesetz- liche und soziale Vorgaben flexibel gehandhabt. Gewohnheits- rechtliche Sichtweisen geben Richtlinien vor, keine starren Regeln, die im Konfliktfall Verlierer und Gewinner produzieren.100 Es herrscht häufig die Meinung vor, dass staatliche Rechtssprechung an sich nicht gerecht sei. Dies liegt an dem angesprochenen mangelnden Verständ- nis staatlicher Prinzipien und an teilweise fragwürdigen Praktiken der Justiz, wie die Nordalbaner sagen. Auch verträgt sich die rechtstaatli- che Praxis nicht mit den traditionellen Vorstellungen davon, wie ein Konflikt auszutragen ist. Hier ist der erwähnte Unterschied zwischen Rechtsprechung und Kompromisssuche gemeint. Der zeremonielle Abschluss einer traditionellen Vermittlung ist zwar eine öffentliche Angelegenheit, bei der viele Zeugen der Lösung des Konfliktes bei- wohnen — die Lösung wird gewissermaßen öffentlich aufgeführt —, der Konflikt an sich und seine Mediation werden jedoch nicht öffent- lich zelebriert. Die Ältesten treffen alleine mit den Streitparteien zu- sammen oder fungieren als Vermittler zwischen den Streitenden. Niemals darf es eine offene Diskussion auf dem Dorfplatz geben, in 100 Roberts 1981 [orig. 1979]: 143. 265 Die Praxis des Kanuns der auch nicht beteiligte Personen das Wort ergreifen würden. Der Gang vor Gericht kommt dem öffentlichen Eingeständnis eines Feh- lers oder einer Schuld gleich. Man hat es in diesem Fall nicht selbst ge- schafft, in einer Angelegenheit sein Gesicht zu wahren, das heißt, seine Ehre zu verteidigen. Möglicherweise erlaubt dieser Weg tatsächlich die Kompensation eines erlittenen Schadens, aber die Ehre wird nicht wiederhergestellt.101 Jedoch ist es selten, dass Konflikte unter völliger Ausblendung staatlicher Regulierungen gelöst werden. Dafür sind die staatlichen Strukturen im Land viel zu weit verbreitet, und der Kanun alleine ist nicht mehr stark genug. Gjuraj hält die Rolle des Kanuns in der Konfliktvermittlung für nicht sehr bedeutend.102 Zwei Arten von Personen fungieren seiner Meinung nach als Mediatoren bei gesellschaftlichen Problemen: Ers- tens sind es Personen mit einem gewissen Ansehen, die Probleme auf Grund ihrer individuellen gesellschaftlichen Stellung lösen. Der ge- fundene Kompromiss wird damit neben der durch die von beiden Sei- ten akzeptierte Vereinbarung durch das Charisma des Vermittlers legitimiert. Der Kanun kann aber nicht praktiziert werden, weil es an Institutionen fehle, ihn durchzusetzen. Gjuraj spricht diesen Aspekt völlig zurecht an, letztendlich hat er jedoch eine normative Sicht auf den Kanun. Er versteht Gewohnheitsrecht als eine Summe vieler Re- geln, die ohne einen Erzwingungsapparat nicht existieren können. Der Kanun muss vielmehr als eine von einigen allgemeinen Katego- rien geleitete Praxis gelten, die sich in einem ständigen Wechselver- hältnis mit den sozialen Bedingungen befindet. Eigentlich ist der Kanun auch das stete Vermitteln und Suchen nach Kompromissen, das Streben nach dem Erhalt der Balance in der Gesellschaft. Zweitens nennt Gjuraj die Vertreter der Kirche als Vermittler. Diese Rolle spie- len die Priester und Mönche schon eine lange Zeit. Ihre Legitimität und Autorität erhalten sie über den Glauben. Viele Gemeinden in Nordalbanien werden heute allerdings von Pfarrern aus Italien be- treut, die meist sehr gut Albanisch sprechen, doch zahlreiche Gemein- den gleichzeitig betreuen und deswegen keine intensive Verbindung zu ihrer Gemeinschaft innehaben.

101 Santner-Schriebl Ms. [1999]: 89. 102 Gjuraj 2000: 125-126. 266 Konfliktvermittlung nach dem Kanun

Es gibt einen Unterschied zwischen den Ältesten heute und den Äl- testen, wie sie von Hasluck beschrieben werden. Hasluck betont, dass die Ältesten, wenn sie bei Konflikten zu Rate gezogen wurden, nach erfolgreichen Mediationen Geld für ihre Dienste erhielten.103 Dies war keine besonders große Summe, manchmal handelte es sich um Natu- ralien. Von reicheren Familien wurde etwas mehr verlangt, beispiels- weise ein Schaf. Ärmere Familien bezahlten den Ältesten entspre- chend weniger. Neben der Bezahlung der Ältesten waren zusätzlich etwaige Strafen fällig. Bei einem Diebstahl betrug die Strafe, wie schon erwähnt, den doppelten Wert des gestohlenen Gegenstands. Schließ- lich musste die schuldige Familie für alle am Konflikt beteiligten Per- sonen ein Gastmahl arrangieren. Für Hasluck stellt das Essen eine Form der Bezahlung oder Entlohnung der beteiligten Ältesten dar. Ich denke, dass es sich bei dem Mahl vor allem um eine Zeremonie am Ende des Vermittlungsprozesses handelt, die die Versöhnung durch das gemeinsame Essen und Teilen von Nahrungsmitteln bestätigen soll. Die heutigen Ältesten pochen nicht mehr so deutlich auf eine Be- zahlung ihres Rates. Im Gegenteil, man beschwert sich häufig über die Praxis einiger Vermittler von NRO, die im Rahmen des Vermittlungs- gesetzes operieren.104 Das Gesetz verbietet ausdrücklich, dass Ver- mittlungen vergütet werden. Die Vermittler dürfen nur ehrenamtlich tätig werden. Einige Mediatoren, die im Bereich der Blutrache vermit- teln, verlangen jedoch Geld. Sie argumentieren, dass Bezahlung nach dem alten Kanun erlaubt sei. Tatsächlich war dies früher der Fall. Die Konfliktbeteiligten zahlten zu gleichen Teilen an die Ältesten, die an der Lösung des Konfliktes teilhatten. Die Höhe der Zahlung wurde hauptsächlich durch die Schwere der Tat und den Wohlstand der in- volvierten Familien bestimmt.105 Die heutigen Ältesten erhalten kein Geld. Dazu sagte mir der Kanun-Forscher Xhemal Meçi in Puka: Im Kanun stehe sehr wohl, dass der Vermittler in Blutrachefällen für sei- ne Dienste Geld erhalten würde. Dieses bekomme er von der Familie

103 Hasluck 1954: 141-142. 104 Siehe dazu das Unterkapitel ›Nichtregierungsorganisationen für Konfliktmedi- ation‹. 105 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 191, §§ 1028-1030; Hasluck 1954: 139-140. 267 Die Praxis des Kanuns des fajtor (Schuldige). Traditionell sei es, dass man einen Beutel (Säck- chen) mit Geld übergebe. In Puka zahle man heute einen Betrag von 50.000 Lek (ca. € 350,—), welcher bei der Mitarbeit von mehreren Vermittlern geteilt werde. Die Ältesten, die an der Vermittlung der Versöhnung mitgewirkt hätten, bekämen von der Familie des fajtor einen Ziegenbock für ihre Dienste. Dieser entspreche einem Wert von 10.000 bis 14.000 Lek (ca. € 70,— bis 100 ,—). Doch heute übergebe man keinen Ziegenbock mehr. Die meisten Ältesten und Vermittler würden kein Geld nehmen für ihre Dienste und machten den Beteilig- ten auch keine weiteren Auflagen. Aber es gebe auch andere Vermitt- ler, die genau alle Kosten auflisteten, beispielsweise auch die Reise- und Übernachtungskosten Dritter. Verglichen mit dem eigentlichen Zeitaufwand für die Vermittlung sei die Bezahlung allerdings nur symbolischer Natur. Für einen Toten müsse die Familie des fajtor ei- nen Betrag von ›sechs Beuteln‹ zahlen, das entspreche einer Summe von 600.000 Lek (ca. € 4.250,—). Die Ältesten vertreten im heutigen Albanien eine eigenartige Positi- on, wenn sie sich über Vermittler beklagen, die Geld verlangen, zu- mindest auf den ersten Blick. Während bei anderen Themen des Kanuns häufig auf die Tradition verwiesen wird, dass sich alte Werte bedauerlicherweise nicht mehr halten würden, wird die Bezahlung der Vermittler kritisiert, obwohl diese Praxis mit dem alten Kanun kon- form geht. Ein Grund für diese Reaktion ist meines Erachtens das Misstrauen gegenüber den neuen Vermittlern der NRO. Letztere kommen selten aus dem Dorf oder der Region, in der die Konflikte stattfinden. Sie arbeiten nur für die Lösung der Konflikte, bereichern sich in den Augen vieler Nordalbaner auf Kosten der Probleme und des Leids der Bevölkerung. Ein Ältester in einem Dorf ist für die Be- ständigkeit der getroffenen Vereinbarung zwischen den Konfliktpar- teien mitverantwortlich. Wenn eine Vermittlung fehlschlägt, fällt dieser Misserfolg auf die Reputation des Ältesten zurück. Sein öffent- liches Ansehen und seine Ehre werden beschädigt. Ein Ältester sollte deswegen dafür Sorge tragen, eine lang anhaltende Lösung zu vermit- teln und nicht, lediglich um eines Erfolges willen, eine rasche Versöh- nung zu erwirken. Jenes rasche Einfordern einer Lösung werfen die ›traditionellen‹ den ›professionellen‹ Vermittlern vor: Letztere ver-

268 Konfliktvermittlung nach dem Kanun mittelten nur, um persönliches Prestige und Geld zu erlangen. Je schneller die Einigung erfolge, desto besser und erfolgreicher strahle dies auf den Vermittler ab. Würde der Konflikt wieder ausbrechen, sei der Vermittler schon längst wieder aus dem Dorf abgereist, beklagen die Ältesten. Die Verantwortung für die Dauerhaftigkeit der gefunden Lösung wollen die Vermittler vieler NRO nicht auf sich nehmen. Und wenn diese Art von Vermittler die schnelle Arbeit auch noch bezahlen lässt, dann ist die Kritik der Ältesten an dieser neuartigen Vermittlung nachvollziehbar, obwohl NRO-Mediatoren bezahlt werden, wie es der alte Kanun verlangt. Im alten Kanun suchten sich die Konfliktparteien die Ältesten aus, die die Streitenden im Vermittlungsprozess vertraten.106 Man suchte sie aus der eigenen Bruderschaft oder dem fis. Dies ist heute nicht mehr der Fall. Früher war die Rolle der Ältesten ähnlich der eines An- walts. Die Ältesten diskutierten als Stellvertreter einer Gruppe. Heute gibt es viel weniger anerkannte Älteste. Sie werden innerhalb von Lö- sungsprozessen zu einer dritten neutralen Stimme, die zwischen den Streitenden steht und die nicht der einen oder anderen Gruppe zuge- rechnet werden kann. Früher war damit der Älteste ein Interessenver- treter, heute ist seine Rolle die eines neutralen Vermittlers. Viele Konflikte, gerade im Fall des diskutierten Konfliktes um Landbesitz, finden innerhalb von Großfamilien statt, das heißt innerhalb von fis oder Bruderschaft. Manchmal rückt der Vorstand des entsprechenden Segments in die Rolle des Schlichters. Häufiger jedoch akzeptieren die Konfliktparteien keinen Ältesten aus der eigenen Familie, auch weil der Respekt der Ältesten aus der eigenen Gruppe nicht mehr uneinge- schränkt besteht. Möglicherweise erscheint er nicht mehr als neutral oder hat nicht mehr das Prestige oder die Achtung, die man Ältesten in der eigenen Familie traditionell entgegengebracht hat. Bewusst wenden sich die streitenden Gruppen an einen externen Ratgeber, der nicht Teil der Familie ist, jedoch im gleichen Dorf wohnt und mit den sozialen Umständen des Falls vertraut ist. Gjeçov erweckt den Eindruck, dass es sich bei Konfliktvermittlung um Verhandlungen handelt, die über mehrere Instanzen erfolgen konnten.107 Das heißt nicht, dass die Konfliktparteien in eine Art von 106 Hasluck 1954: 141. 269 Die Praxis des Kanuns

Berufung gehen konnten, dass beispielsweise der Fall vom Ältesten des Weilers auf den Vorsteher des Dorfes übergeht. Die Konfliktpar- teien hatten kein Recht, von sich aus andere Älteste mit dem Fall zu betrauen, wenn sie mit den zuerst bestimmten Ältesten nicht zufrie- den waren. Waren sie mit der Lösung nicht einverstanden, gab es nur wenige Stellen, bei denen sich die Betroffenen darüber beschweren konnten, wie den Turm von Orosh in Mirdita. Nur die Ältesten selbst konnten andere Älteste zu der Mediation hinzuziehen beziehungs- weise diesen die Lösung des Konfliktes überlassen. Nach Gjeçov soll es drei Instanzen gegeben haben: Wenn die Ältes- ten, die ursprünglich von den Konfliktparteien für die Vermittlung vorgesehen waren, den Fall weitergaben, dann kamen die Ältesten zweiter Ordnung zum Zug, hier verstanden als Vorstände und Älteste von Dörfern oder ganzer fis. Die letzte Instanz war der fis der Gjon- markaj in Orosh. Diesen fis beschreibt Gjeçov als eine Art von Kö- nigsfamilie, die über den Kanun und damit das soziale Leben wachte. In diesem Sinne werden die Ältesten bei Gjeçov zu Regierungsbeam- ten, die regionale Vertreter von Recht und Ordnung sind. Wie bereits angedeutet ist dies als bewusste Konstruktion Gjeçovs zu verstehen, der im Zuge der nationalistischen und kulturellen Aufbruchsbewe- gung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Albanien ein Bild ei- ner organisierten und von einer Art Regierung verwalteten nordal- banischen Gesellschaft darzustellen suchte. Die Rolle der Ältesten bei Konflikten war vermutlich größtenteils so, wie sie Gjeçov beschrie- ben hat, aber es gab nicht diese genau strukturierte Jurisdiktion mit den Ältesten als Richter, deren Urteilen man unbedingt Folge leistete. Realistischer erscheint Haslucks Ausführung zur Position der Ältes- ten und ihrer Urteile: »Unfortunately, elders had no powers behind them with which to enforce their judgement. Their work was in fact arbitration rather than judging in the English sense. It was, therefore, common for elders in central Albania to communicate their findings to the disputants and then to add, ›Now settle the matter as you like. We have decided that this one of you is in the right!‹«108

107 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 191-193; §§ 1034-1043. 108 Hasluck 1954: 144. 270 Konfliktvermittlung nach dem Kanun

Ähnlich verhält es sich heute, wobei der normative Charakter der von den Ältesten vorgeschlagenen Vermittlungslösungen weiter an Bedeutung verloren hat. Neutrale Vermittler werden zu einem Fall gerufen. Der Vermittler hört sich die Argumente beider Seiten an und bewertet die Sachlage. Dann macht er einen Lösungsvorschlag. Dieser besagt in den seltensten Fällen, dass der eine Recht erhält und der an- dere nicht. Im Falle eines Diebstahles geht es nicht um Kompromisse. Beim Diebstahl ist der Älteste weniger ein Vermittler als eine Art offi- zielle Person, die die Angelegenheit in die Hand nimmt, die zur Be- strafung des Diebes führen soll. Beim Diebstahl hat eine Partei Recht und die andere nicht. Bei Landkonflikten ist die Lage nicht so einfach. Der Älteste schlägt meist einen Kompromiss vor, beide Konfliktpar- teien müssen etwas Land abgeben, und keine ist als Verlierer des Streits anzusehen. Heutzutage kommt es häufig vor, dass keine Partei etwas abgeben will. Der öffentliche Druck im Dorf ist nicht mehr so stark, dass die Parteien zum Nachgeben gezwungen werden. So kommt es vor, dass die von den Ältesten vorgeschlagenen Lösungen auf wenig Zustim- mung stoßen. Was geschieht in diesem Fall? Eigentlich recht wenig, denn es gibt keine zweite Instanz mit ausreichend Macht und Prestige, die sich der Angelegenheit annehmen könnte. Einige Personen berich- teten mir von unterschiedlichen Instanzen im Dorf. Beispielsweise werden manchmal in der Region um Kukës vier Ebenen genannt, auf die man bei der Konfliktlösung zurückgreifen könnte. Zunächst wer- den die Probleme innerhalb der Kernfamilie, durch den Bruder des Haushaltsvorstandes vermittelt. Auf der zweiten Ebene kommen der älteste Cousin des Hausvorstands oder der Bruder der Mutter zum Zuge. Die dritte Ebene besteht aus der Dorfversammlung (kuvendi i fshatit), die sich aus dem Dorfvorsteher (i pari i fshatit) und den Vor- stehern der Weiler (i pari i mëhallës) zusammensetzt. Auf der vierten Ebene kommen die so genannten ›zwölf Ältesten‹ zum Zuge. Wahr- scheinlich sind damit regional wichtige Älteste gemeint, die zusam- men eine Art Gremium bilden. Eine so genaue Darstellung von unterschiedlichen Instanzen bei der Konfliktvermittlung wird jedoch nur selten erwähnt.

271 Die Praxis des Kanuns

Allgemein betonen viele Älteste heute, dass der Staat und seine Insti- tutionen die zweite Instanz bei Konflikten darstellten. Wenn die Kon- fliktparteien sich trotz der Mediation eines Ältesten nicht in der Lage sehen, den Konflikt beizulegen, dann legen sie den Fall dem Gericht vor. Das ist aus Sicht der Bevölkerung aus mehreren Gründen proble- matisch. Zunächst kostet ein Verfahren, unabhängig vom Ausgang, Geld. Nur wenige Personen in Nordalbanien können sich das leisten. Ein gerichtliches Urteil kann aus diesem Grund nicht auf einer zwei- ten Instanz überprüft werden. Der Fall kann von derjenigen Partei ge- wonnen werden, die die notwendigen finanziellen Ressourcen besitzt. Die staatliche Justiz ist in der Regel kein Vermittler, sondern gibt einer Partei Recht. Damit geht die gegnerische Gruppe als Verlierer aus dem Verfahren hervor. Diese Praxis steht nicht nur im Widerspruch zu der traditionellen Kompromisssuche bei Konflikten. Diese Art von Ent- scheidungen wird meist nicht akzeptiert, weil ein Gericht als orts- fremde Einrichtung empfunden wird. Die von der Justiz vertretenen Gesetze gelten als abstrakt, als nicht mit lokalen Strukturen kompati- bel. Schließlich werden die Staatsvertreter nicht als Vertreter einer Ordnungsmacht, sondern als individuelle Protagonisten gesehen. Die Entscheidungen von staatlichen Stellen werden als willkürlich beur- teilt. Diese Situation fördert schließlich wieder die Konfliktmediation durch Älteste, obgleich diese Prozedur zunächst nicht akzeptiert wur- de: Der anfangs mittels Mediatoren vermittelte Konflikt erlaubt keine Lösung, weil der Kompromiss keine beiderseitige Anerkennung fin- det. Eine Entscheidung vor Gericht, die wie erwähnt meist zwischen Recht und nicht Recht haben urteilt, führt häufig nicht zu einer Beile- gung des Konfliktes, weil die Rechtsform nicht mit traditionellen Konfliktmechanismen harmoniert und Gerichtsurteile durch den schwachen Polizeiapparat nur bedingt durchgesetzt werden können. Die Konfliktparteien sind damit wieder unter sich. Diese Art festge- fahrener Konflikte werden, gerade in kleineren dörflichen Gemein- schaften, in denen eine funktionierende Gemeinschaft von wirtschaft- licher Notwendigkeit ist, wieder durch Älteste vermittelt. Gemeinde- vorsteher und andere wichtige Personen gehen von sich aus auf die Konfliktparteien zu, um den Streit im Sinne des Gemeinwohles über einen Kompromiss zu lösen. Dies funktioniert nicht oft, gerade in

272 Konfliktvermittlung nach dem Kanun größeren Orten, die anonymer sind. Ohne den starken Druck einer Dorfgemeinschaft wird der Konflikt häufig ›ausgesessen‹, gerade wenn es ›nur‹ um kleine Landparzellen oder um Gebäude auf einem vermeintlich fremden Land geht. Ähnlich wie Gjeçov die Rolle der Ältesten überbetont, erscheint die von Hasluck beschriebene hauptsächliche materielle Motivation der Ältesten in Mediationen etwas kurz gegriffen. Die Ältesten hatten nach Hasluck ein großes Interesse, den Konflikt zu lösen, weil sie da- für entlohnt wurden.109 Es wurde keine Bezahlung mehr fällig, wenn der Konflikt länger andauerte, daher lag es nicht im Interesse der Me- diatoren, dass eine Vermittlung unnötig in die Länge gezogen wurde. Dazu kam, dass, wenn die Vermittlung zu lang dauerte oder der Lö- sungsprozess nicht von den Ältesten zur Zufriedenheit der Konflikt- parteien geleitet wurde, man beim nächsten Problem andere Älteste mit der Vermittlung beauftragte. Die Ältesten stritten auf Grund der versprochenen Bezahlung nach erfolgreicher und zügiger Vermitt- lung nicht um jede Kleinigkeit innerhalb des Verfahrens, sonst hätte die Versöhnung zerredet werden können und damit wäre auch die Be- zahlung entfallen. Materielle Zuwendungen spielten bei der Konfliktvermittlung si- cherlich eine Rolle, den Antrieb der Mediationen durch die Ältesten aber größtenteils in diesem Bereich zu sehen, erscheint zu einfach. Wenn schon eine materielle Sichtweise in diesem Zusammenhang ein- gebracht werden muss, sollte sie weitergehender Art sein. In Anleh- nung an Bourdieu ist von verschiedenen Arten des Kapitals zu sprechen. Neben dem ökonomischen Kapital geht es um das Kapital der Ehre und des Prestiges. Vermittlungen und der Verlauf wirkten neben der Bezahlung auf die Reputation und die Stellung der Ältesten in der Gesellschaft. Ehre und Ansehen ließen sich nicht mit Geld er- kaufen, sondern über die Anerkennung von Taten, die in der Gesell- schaft als ehrenvoll angesehen wurden. Nach dem alten Kanun übergab man das Problem und die Lösung des Konfliktes den Ältesten, indem die Konfliktparteien den Vermitt- lern einen Gegenstand aushändigten. Dies war ein Pfand (peng).110

109 Hasluck 1954: 147. 110 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 189-191, §§ 1017-1033; Hasluck 1954: 142. 273 Die Praxis des Kanuns

Wenn man das Pfand einmal aus der Hand gegeben hatte, konnte es nicht mehr zurückgefordert werden. Erst nachdem der Konflikt ge- löst war, erhielten die Konfliktparteien ihr Objekt zurück. Ohne die- ses Pfand hatte ein Verfahren keine Geltung. Nachdem das Pfand aus der Hand gegeben worden war, durften die Konfliktpartner sich nicht mehr selbst um die Konfliktlösung bemühen, geschweige denn sich diesbezüglich mit anderen Ältesten zusammensetzen. Ein Pfand konnte eine Waffe, eine Uhr oder eine Tabakdose sein. Bei Gjeçov ist der materielle Wert des Gegenstands nicht zentral, eher die symboli- sche Bedeutung, dass man mittels des Objekts eine Angelegenheit in andere Hände legte. Hasluck dagegen betont den materiellen Wert des Pfandes, der den Gegenwert der Bezahlung des Ältesten darstellen musste. Das Pfand ist bei Hasluck mehr eine Garantie für die vermit- telnden Ältesten, damit sie auch ihren Lohn nach der Konfliktlösung erhielten. Gjeçov ist hier nicht sehr deutlich, denn einerseits ist zu le- sen, dass es auch ›das Wort als Pfand‹ (fjala peng) gab, deren materiel- ler Gegenwert sich nicht unmittelbar erschließt, andererseits betont Gjeçov, dass die Bezahlung des Ältesten auch nach dem Wert des Pfandes erfolgen konnte. Kamen die Ältesten mit den Konfliktparteien nicht zu einer einver- nehmlichen Lösung des Konfliktes, dann wurde das Pfand nicht zu- rückerstattet, sondern der nächsten Gruppe von Ältesten höherer Ordnung, also den Ältesten des Dorfes oder des fis, übergeben, die da- mit auch den Fall übernahmen. Im heutigen Nordalbanien kommt das Pfand noch vor. Es ist nicht möglich zu sagen, in welchem Fall ein Pfand noch erforderlich ist, ob es nur für schwerwiegende Konflikte der Fall ist oder ob es überhaupt eine Regel gibt. Das Pfand wird allerdings nicht als ein wertvolles Ob- jekt gesehen, beziehungsweise das Pfand ist heute nicht deshalb wich- tig, weil es ein wertvoller Gegenstand ist, der aus der Hand gegeben wird. Uhren oder Tabakdosen werden dafür verwendet. Wie im anschließenden Kapitel zur Blutrache deutlich werden wird, ist die abschließende Zeremonie am Ende einer geglückten Versöh- nung für den Vermittlungsprozess als Ganzes sehr bedeutend. Eine Versöhnung ohne eine solche Zeremonie kann nicht stattfinden. Die Einigung, in langen, wenig öffentlichen Verhandlungen vorbereitet,

274 Konfliktvermittlung nach dem Kanun muss öffentlich gemacht werden. Eine Zeremonie oder ein weniger feierliches öffentliches Ereignis stehen am Ende jeder Konfliktlösung. Dieser Schlusspunkt unter die Verhandlungen findet bei Gjeçov kaum Erwähnung. Der Lösung des Falles scheint nach einem ordnungsge- mäß durchgeführten Verfahren ausreichend Rechnung getragen wor- den sein. Das gemeinsame Zelebrieren der gefundenen Lösung ist jedoch ein wichtiger Bestandteil des Konfliktlösungsprozesses. Da die Lösung der Konflikte häufig für die ganze Dorfgemeinschaft von Bedeutung ist, ist die abschließende Zeremonie notwendig, um dem Weiler und dem Dorf das Ergebnis der Verhandlungen zu berichten. Die Zeremo- nie muss nicht sehr viel mehr sein als ein Kaffeetrinken im Haus einer der Konfliktparteien oder in einer Gaststätte. Die Zeremonie ist kein Dorffest, an dem alle Familien teilnehmen, sondern sie ist ein kleiner Kreis, bestehend aus den Konfliktparteien, den Ältesten, Zeugen oder Bürgen und anderen Personen, von denen man denkt, dass sie die Wichtigkeit der Veranstaltung erhöhen. Auf diesem Zusammentref- fen wird der ausgehandelte Kompromiss, der den beteiligten Parteien schon vorher bekannt ist, publik gemacht. Die beschriebene Grenzle- gung nach Landkonflikten ist auch als eine Abschlusszeremonie zu verstehen. Wichtig ist ferner, dass durch die Anwesenheit, eventuell durch Eide und besondere Versprechen verstärkt, die Konfliktpartei- en sich vor Zeugen und Bürgen mit der gefundenen Lösung einver- standen erklären. Wenn die Lösung von einem Beteiligten kurze Zeit später wieder abgelehnt wird, dann hat dies heutzutage keine direkten Konsequenzen mehr, doch die Ehre und das Ansehen der Personen nehmen Schaden, weil eine Versöhnung, die mit der Schlusszeremonie unter Anwesenheit von Ältesten zum gütlichen Abschluss gebracht wurde, nicht respektiert wurde. Die Konfliktparteien treten gemein- sam auf und zeigen den Anwesenden und sich selbst an, dass die Ver- söhnung nun abgeschlossen ist. Immer wieder betonten meine Interviewpartner, dass man sich die Hände schüttelt und Kaffee trinkt. Es gibt reihum eine Art von Trinkspruch, in dem die beteiligten Gruppen und Personen die versöhnliche Lösung des Problems beto- nen und den Respekt vor den Gästen und dem Konfliktpartner zum Ausdruck bringen. Der gemeinsame Kaffee und das Händeschütteln

275 Die Praxis des Kanuns sollen die wichtigsten Handlungen sein. Kafeja është vula, ›der Kaffee ist der Stempel‹ unter der getroffenen Vereinbarung. Manchmal wird auch ein kleiner Zettel herausgenommen, und die Konfliktparteien und die Ältesten unterschreiben eine formlose Erklärung. Letztere bleibt aber im Dorf und stellt kein offizielles Dokument dar, dass man beispielsweise staatlichen Behörden übergibt. An der die Konfliktvermittlungen abschließenden Zeremonie wird die Plurimedialität der mündlichen Kommunikation besonders deut- lich. Es geht bei der Veranstaltung nicht um das gesprochene Wort. Ein Protokoll der Reden und Gespräche alleine kann die Vielschich- tigkeit der Situation nicht einfangen. Das Wichtigste geschieht ohne den Einsatz von Worten. Die performative Situation wird durch Ge- sten wie das Händeschütteln und das gemeinsame Kaffeetrinken be- stimmt. Mündlichkeit verlangt und produziert Präsenz der Kommu- nizierenden. Alleine dadurch, dass frisch versöhnte Gruppen und an- dere Gäste gemeinsam zusammensitzen, wird ohne zu reden gezeigt, dass die Parteien innerhalb der Konfliktlösung wieder zueinander ge- funden haben. Die Zeremonie verweist auf den konkreten und situa- tionsgebundenen Aspekt des Kanuns, konkret im Sinne von anschau- lich, greifbar, gegenständlich und wirklich. Materielle Kultur wie das Pfand, das während der Zeremonie den Konfliktparteien zurückgege- ben wird, ist ein Kommunikationsträger. Blutrache Für Bernatzik (1930) ist die Blutrache in Albanien als Bewahrung ei- ner Form von Recht ähnlich alltäglich wie die Einhaltung von Ver- kehrsvorschriften in Westeuropa.111 Das Phänomen ist in der Ethno- graphie und Reiseliteratur zu Albanien bis heute das prominenteste Thema. Um die Prozessualität der Mündlichkeit des Kanuns zu be- schreiben, ist es nicht erforderlich, alle Diskussionen um die Blutrache in Albanien zu berücksichtigen. Interessant ist hingegen der Konflikt- lösungsprozess. Er gleicht im Ablauf anderen Mediationsformen, die spezifische Performativität des Versöhnungsprozesses kulminiert je- doch in einer besonderen Zeremonie, die den Abschluss der Versöh-

111 Bernatzik 1930: 34; siehe auch Gibert 1914: 19-29; Gyurkovics 1881: 27-28; Miha- cevic 1913: 27-31. 276 Blutrache nung darstellt. Eine formelle Erklärung auf einem Papier kann eine Blutrache nicht beenden. Nur die öffentliche Zelebrierung der Ver- söhnung ratifiziert den mündlichen Vortrag. Vor der Betrachtung der Versöhnungszeremonie ist ein allgemeines Verständnis des Phänomens der Blutrache erforderlich. Die Blutra- che, da sind sich die Ethnographen meist einig, ist kein Phänomen mehr, das sich mit der modernen Welt verträgt. In einer Demokratie hat sie schon gar nichts zu suchen. Man gesteht der Blutrache jedoch zu, in dem akephalen gesellschaftlichen System Albaniens vor 1944 eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Die Blutrache wird für diese Zeit als ein rechtliches Instrument gesehen, eine Form von gesell- schaftlich geregelter Selbstjustiz, die abschreckend wirken sollte.112 Blutrache soll eine Berechtigung gehabt haben, denn die Furcht vor diesem ›Volksgericht‹ habe dazu beigetragen, dass sich Mord und Tot- schlag nicht willkürlich verbreiteten würde.113 Diese Position wird von albanischen Gelehrten häufig vertreten, wie im Fall des erwähn- ten Gjergj Fishta, der Blutrache nicht als Produkt einer ›barbarischen Gesellschaft‹ verstehen will. Ähnliche Meinungen gibt es von For- schern im Sozialismus, die der Blutrache in einer Gesellschaft ohne zentralen Staat und übergreifende Gesetze einen Sinn zubilligen. Erst als gesamtstaatlich geltende Gesetze Gültigkeit erlangten, konnte die Blutrache nicht mehr toleriert werden. Ismet Elezi (1967) nennt das gesetzlich garantierte Gewaltmonopol sogar eine Verstaatlichung der Blutrache.114 Wer von der Blutrache betroffen ist, wird präzise in dem Kanun in der Version von Gjeçov beschrieben. Ursprünglich ist es so gewesen, dass nur der Mörder selbst ›ins Blut fiel‹, das heißt die Person, die den Abzug gedrückt und auf das Opfer geschossen hat. Die Familie des Toten durfte ihre Rache nur auf den Mörder selbst richten, nicht auf seine Brüder oder Cousins. Schon Gjeçov betont zu Beginn des zwan- zigsten Jahrhunderts, dass sich dieses gewandelt hatte. Die Blutrache bezog alle männlichen Mitglieder der Familien mit ein, von dem Kind in der Wiege bis zu den Cousins und Neffen. Auch Hahn beschreibt

112 Kaser, K. 1992: 276. 113 Loewe 1914: 113. 114 Elezi 1967: 3. 277 Die Praxis des Kanuns die Betroffenen der Blutrache ähnlich: Die Rache nach einer Tötung fiel auf den Täter. Wenn der Täter nicht auffindbar war, dann waren seine nächsten Verwandten das Ziel der Rache. Man hatte meist das Mitglied der Familie des Täters zu töten gesucht, das das größten Pres- tige hatte.115 Ausgeschlossen von der Blutrache waren die Frauen der Familie. Dies lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass die Frauen nicht als ein eigentlicher Bestandteil der Familie galten, in die sie eingeheiratet hatten. Sie gehörten noch immer zu ihrem gjini,dem fis ihres Vaters.116 Die Blutrache konnte nur die Antwort auf eine Tötung sein, der Be- ginn der Blutrache nach einer anderen Art von Verbrechen war nach dem Kanun nicht möglich. Auf ein Verbrechen folgte eine Strafe, nicht eine Tötung: Gjaku gjak, gjoba gjobë. (Blut ist Blut und Strafe ist Strafe). Wenn eine Person das Haus einer anderen in Brand setzte, sie beraubte, Schafe oder Rinder stahl, Gewalt androhte oder sie sogar misshandelte und die geschädigte Person den Übeltäter tötete, dann fiel das Blut auf den Rächer. Sollte es sich jedoch um Totschlag han- deln, dann führte dies nicht zu Blutrache.117 Ein klassisches Beispiel für die Blutrache ist der Fall, dass jemand in das Haus einer anderen Person kam und nachdem der Gast sein Gewehr an den hierfür vorge- sehenen Nagel hing, der Umhängegurt des Gewehres riss und sich ein Schuss löste. Wenn die Kugel einen Hausbewohner tötete, dann fiel das Blut auf den Besitzer des Gewehres. Sollte sich aber der Nagel, an dem das Gewehr aufgehängt wurde, aus der Wand fallen oder bre- chen, sich ein Schuss lösen und jemanden töten, dann fiel das Blut auf den Hausherrn, denn er hatte dafür Sorge zu tragen, dass die für die Gewehre vorgesehenen Nägel auch ihren Zweck erfüllen konnten.118 Es ist schwer vorstellbar, dass ein Nagel oder der Umhängegurt eines Gewehrs dergestalt sich löst oder reißt, dass die Waffe beim Aufprall auf dem Boden einen Schuss abgibt und dazu eine Person in der Schusslinie steht. Ich denke, es handelt sich um eine Anekdote, die die Nuancen eines idealtypischen Falles erläutert.

115 Hahn 1854: 176. 116 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 171, §§ 897-900. 117 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 173, §§ 909-916; 175, § 932. 118 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 179, §§ 946, 948. 278 Blutrache

Doch wie kommt es zur ersten Tötung, die die endlose Kette der Blutrache in Gang bringt? In Gjeçovs Kanun steht nicht konkret — wenn man von der einmal begonnenen Blutrache absieht —, dass man in bestimmten Situationen töten müsste. Gjeçov schreibt nicht aus- drücklich von einer Art Todesstrafe, wie man im Falle einer Ehrverlet- zung erkennen kann: »If a person’s honor is offended, there is no legal recourse for such an offense; the Kanun says: ›Forgive, if you see fit; but if you prefer, wash your dirty face‹. […] ›An offense to honor is not paid for with property, but by the spilling of blood or by a magna- nimous pardon (through the mediation of good friends)‹.«119 Die frühen Ethnographien erwecken den Eindruck, dass Tötungen und damit der Anfang einer Blutrache durch geringe Anlässe begon- nen werden konnten. Die Blutrache wurde angeblich bewusst weit ge- fasst, um einen willkommenen Vorwand zur Beseitigung von Neben- buhlern zu haben.120 Das erste Blutvergießen war häufig auf verletzte persönliche Ehre zurückzuführen, doch konnten ebenfalls heftige Landkonflikte zu einer Tötung führen.121 Da es in der Vergangenheit offensichtlich aus vielen Gründen zu einer Tötung kommen konnte, die dann den Anfang einer Blutrache darstellte, sind rezente Positio- nen von Forschern nicht ganz nachvollziehbar, die sich darüber bekla- gen, dass der Kanun nicht mehr gelte, weil es heutzutage Morde vielfältiger Natur gebe. Elezi berichtet von Todesfällen, die ebenfalls bei verletzter Ehre und Landkonflikten auftraten, aber auch im Streit um Wasserzuteilung. Morde gebe es ferner im Zuge von Machtkon- flikten in bestimmten Regionen.122 Mir wurde häufig erzählt, dass, da heutige Morde aus vermeintlich geringfügigen Gründen von den Be- teiligten der Blutrache erfolgen, man klar erkennen könne, dass es den alten Kanun nicht mehr gebe, da der Kanun die Blutrache nur nach ei- ner Tötung aus Blutrache und nicht nach einem Verbrechen oder so- gar einem tödlich ausgegangenem Streit erlaube. Vergessen wird hingegen in den Quellen, dass der erste Tote einer Blutrache logi- scherweise nicht aus einer Blutrache selbst entstehen kann, sondern

119 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 129, §§ 595, 598. 120 Hassert 1897: 540; 1898: 374. 121 Whitaker 1968: 265. 122 Elezi 2000b: 18, 22. 279 Die Praxis des Kanuns ganz andere Gründe hat, wie eben eine verletzte Ehre oder Landstrei- tigkeiten, also solche Gründe, von denen man heute sagt, dass sie kei- ne Gründe für Blutrache sind. Diskussionen dieser Art kann man an den zwei Begriffen gjakmarr- je (Blutrache) und hakmarrje (Rache) festmachen. Gjakmarrje wird verstanden als Reaktion auf eine frühere Tat, eine Reaktion, die ideo- logisch im Kanun eingebettet ist. Hakmarrje wird beschrieben als ein Mord aus persönlicher Rache, Beleidigung, Ehrverletzung oder, an- ders ausgedrückt, als einen Mord aus einfachem Grund.123 Gjeçov schreibt, auch die Verwaltung, die Blutrachefälle als solche behandeln will, den Unterschied zwischen Rache und Blutrache nicht mehr er- kennen würde.124 Hier wird wieder die angesprochene Fehlinterpreta- tion des Kanuns deutlich: Alle Tötungen, die im Rahmen der Blutrache stattfinden, das heißt, die Antwort auf eine vorherige Tat darstellen, sind Fälle von Blutrache im klassischen Sinne. Andere Morde, die als Reaktion auf Ehrverletzung oder einfachen Streit erfol- gen, gelten lediglich als einfache Rache und sind damit nicht Teil der Blutrache. Das stimmt sicherlich, doch es wird hier vergessen, dass die Blutrache, wie erwähnt, erst nach dem ersten Opfer beginnt, das sei- nerseits aus Ehrverletzung oder einem einfachen Streit resultieren kann. Das eine ist mit dem anderen in der vorliegenden Form nicht di- rekt vergleichbar. Black-Michaud definiert die persönliche Rache folgendermaßen: »Vengeance killing, as I have suggested, may be seen as the action of an individual who decides quite literally to ›take the law into his own hands‹. It thus presupposes that no legal machinery of any kind wha- tever exists to resolve conflicts.«125 Hakmarrje, verstanden in diesem Sinne und bezogen auf die heutige Situation in Nordalbanien, meint dann, dass die Blutrache, die Aneinanderreihung von Tötungen in dem ideologisch vorgegebenen Rahmen des Kanuns, nicht mehr exis- tiert, weil man sich nicht mehr an diesen Rahmen hält. Es gebe, um der Argumentation weiter zu folgen, keine ›legal machinery‹ mehr.

123 de Waal 1998: 32-33; Elezi 2000: 7-9. 124 Gjuraj 2000: 85. 125 Black-Michaud 1975: 29-30. 280 Blutrache

Ich will anmerken, dass ich die Diskussionen in den Quellen, ob eine Tötung im Sinne des Kanuns erfolgt oder nicht, das heißt, ob die Re- geln der Blutrache respektiert wurden und damit eine Tötung gewis- sermaßen Teil einer ›besseren‹ Kategorie oder ob ein verbrecherischer Mord mit niederen Motiven vorliegt, sehr mühsam fand. Eine NRO in Shkodra, die nicht müde wurde, mir ausführlich darzulegen, dass sie die Deklaration der Menschrechte in Nordalbanien implementie- ren will und den Wert der Erklärung immer wieder unterstrich, ver- suchte mit der erwähnten Argumentation, dass es heute keine Blutrache gebe, sondern nur noch einfache, regellose Rache, die ›Bas- tardisierung‹ des Kanuns aufzuzeigen. Die alte Blutrache habe noch einen Sinn gehabt. Statt zu sagen, dass das Gewaltmonopol in einem demokratischen Staat bei eben diesem liegen muss, argumentiert man mit Blutrache nach dem Kanun beziehungsweise nach Morden, die dem Kanun nicht entsprechen. Bedeutet dies, dass eine idealtypisch verlaufende Blutrache nach dem Kanun als gut und richtig zu werten ist? Schon die frühen Reiseberichte überschlugen sich mit Zahlen oder Mengenbeschreibung zur Blutrache in Nordalbanien. Edward F. Knight berichtet 1880, dass es schwer gewesen sei, noch alte Männer in den Bergen zu finden. Die Gefahr, dass ein Mann früher oder später der Blutrache zum Opfer fiel, sei sehr groß gewesen.126 Kurt Hassert (1898) macht eine sehr präzise Angabe und vermutet, »dass in Ober-Albanien 25-75% der männlichen Bevölkerung eines unnatürli- chen Todes sterben.«127 Es wäre möglich, noch eine lange Liste von Autoren anzufügen, die ähnlich argumentieren. Aktuelle Daten zu Blutrachefällen sind nur schwer zu bekommen, auch weil es nur allgemeine Zahlen zu Morden gibt und es nicht klar ist, ob diese in Verbindung zur Blutracheideologie stehen oder andere Gründe haben. Es sind sehr viele Gerüchte zu Blutrache-Tötungen im Umlauf, und ich habe mir schnell abgewöhnt, Zahlen, die ich von NRO oder anderen offiziellen Personen hörte, aufzuschreiben. Die Angaben variierten zwischen einigen wenigen Morden bis zu Grö-

126 Knight 1880: 135-137. 127 Hassert 1898: 374-375; ähnlich auch Bernatzik (1931: 38): »Von manchen Fami- lien starb fast kein männliches Mitglied eines natürlichen Todes«. 281 Die Praxis des Kanuns

ßenordnungen, die, wenn sie stimmen würden, einer völligen Selbst- zerstörung der albanischen Gesellschaft gleichgekommen wären. Bei Lawson und Saltmarshe liest man, dass 60.000 Menschen in Nordal- banien in die Blutrache verwickelt seien.128 Dazu ist schwer etwas zu sagen, denn man kann es kaum nachprüfen. Die Verwicklung in die Blutrache kann einfach nur bedeuten, dass große fis in Blutrache mit einem anderen stehen und deswegen viele Menschen sich in der Fehde gegenüberstehen. Die Anzahl an registrierten Morden erscheint ange- sichts der erwähnten Zahl von in Blutrache verwickelten Menschen wieder klein: »Homicide general number registered for both districts is 120. Of them, 93 were committed in Shkodra district communes and city quarters included. 7 murder cases are registered in the district of Malesi e Madhe […]. In Shkodra, 29 homicides were committed in the city, 17 in region no 2 and 12 in region no 4 […] whereas 64 other mur- der cases are reported to have taken place in the village […]. Concer- ning Malesi e Madhe, 1 case was registered in Koplik Municipality whereas 26 others took place in other communes of this district.«129 Gjuraj kritisiert im Weiteren deutlich, dass in den albanischen Medien und von einigen Organisationen offensichtlich willkürlich gewählte Statistiken zu Blutrachefällen im Norden des Landes verbreitet wer- den. Gjuraj begründet dies mit der mangelnden Kenntnis der Situati- on vor Ort.130 Doch neben dieser Tatsache sind es auch viele NRO, die im Bereich der außergerichtlichen Vermittlung arbeiten, die mit riesi- gen Zahlen operieren. Ihre Programme leben von dem Geld meist aus- ländischer Investoren, für die einige albanische NRO völlig überzo- gene Zahlen propagieren, um damit den Sinn und die Finanzierung ih- rer Organisation zu ermöglichen. Daten zu Personen und Familien, die in die Blutrache verwickelt sein sollen, sind sehr unterschiedlich. Mal ist zu lesen, dass drei bis fünf Prozent der Morde in Albanien aus Blutrache erfolgen, an einer anderen Stelle sind es sieben Prozent. In Zeitungen liest man, dass vierzig Prozent der Morde aus Blutrache er- folgen. Es gibt auch eine Aufstellung nach Jahren: 1998: 18 Prozent;

128 Lawson/Saltmarshe 2000: 138. 129 Gjuraj 2000: 83; Zahlen zu Mord im Albanien gesamten Albanien findet man un- ter www.instat.gov.al, dem Insitut für Statistik der albanischen Regierung. 130 Gjuraj 2000: 118-119. 282 Blutrache

1999: 13 Prozent; 2000: 7 Prozent; 2001: 10 Prozent. Die Anzahl der Familien, die von der Blutrache betroffen sein sollen, bewegt sich zwi- schen 2.250 und 3.200. Mal sind es 800 Familien, die wegen der Blutra- che ›eingeschlossen‹ (ngujim) sein sollen, dann ist die Zahl von 640 zu lesen. Eine andere Zahl besagt, dass über 50.000 Personen von der Blutrache betroffen seien.131 Die aktuelle Relevanz der Blutrache wird in vielen Artikeln und Bü- chern besprochen.132 In den Medien ist das Thema immer präsent, und es werden beeindruckend hohe Zahlen zur Blutrache genannt.133 Für Krasztev ist die Blutrache ein irrationales Phänomen, das manchmal unterdrückt war, doch in Krisenzeiten wieder zur alten Stärke auf- blüht. Eigentlich kennt niemand die Regeln wirklich, wie die Blutra- che funktioniere, warum sie manchmal wieder auftritt oder manchmal schläft.134 In Gura gab es während des Sozialismus kaum Fälle von Blutrache, doch nach dem Fall von Hoxhas Regime gab es einen sprunghaften Anstieg an Morden, die sich aus Landstreitigkeiten nach der Dekollektivierung ergaben oder auch aus nicht gerächten Fällen aus der Vergangenheit, an die man sich noch erinnern konnte.135 Das sind die Fälle, die Gjuraj ›alte Blutrache‹ nennt, die schon Generatio- nen vor dem Sozialismus begannen und zwischen 1944 und 1991 an- scheinend nur ausgesetzt wurden.136 Gerade bei den lang andauernden Fällen von Blutrache ist die Erinnerung an die Ursprünge des Prozes- ses verblichen. Solche Fälle nennt man Blutrache pa kujtim (ohne Er-

131 Zahlen aus Zeitungen Korrieri (Tirana) vom 12. Dezember 2001, Nr. 221; Gazeta Shqiptar (Tirana), Ausgabe Shkodra, vom 19. März 2002, Nr. 16; Shekulli (Tira- na) vom 12. Dezember 2001, Nr. V, 342 (1352); ferner stammen die Angaben von den NRO aus Selbstdarstellungen, Vorträgen bzw. aus Gesprächen: ›Verbindung der Missionare des Friedens Albaniens — Mutter Teresa‹ (Lidhja e Misionarëve të Paqes të Shqipërisë — Nëna Teresë) und ›Verbindung der Missionare des Friedens Albaniens‹ (Lidhja e Misionarëve të Paqes të Shqipërisë); zu den Vermitt- lungs-NRO siehe das folgende Unterkapitel. 132 Siehe bspw. Dedaj 2001; Elezi 2000; Gjuraj 2000; Krasztev 2000; Martini 1999, 2001; Schwandner-Sievers 1996, 1998, 1999, 2001; de Waal 1996, 1998, Waldmann 1999. 133 Santner-Schriebl Ms. [1999]: 210. 134 Krasztev 2000: 200. 135 Saltmarshe 2001:192. 136 Gjuraj 2000: 85. 283 Die Praxis des Kanuns innerung), im Gegensatz zu den Fällen me kujtim (mit Erinnerung) an die erste Tötung, die die Blutrache in Gang brachte.137 Die Konsequenzen der Blutrache für die Gesellschaft sind weit rei- chend. Schon Hahn beschreibt, dass man sich bei zufälligen Treffen auf den Straßen immer zunächst nach dem fis seines Gegenübers er- kundigte. Es konnte ja sein, dass man sich mit seinem Gegenüber in Blutrache befand.138 Tiefgreifender war die Auswirkung der Blutrache auf die Wirtschaft. Da längere Reisen in andere Dörfer für die Fami- lien in Blutrache aus Angst, erschossen zu werden, viel zu gefährlich waren, spielte sich das soziale Leben nur in unmittelbarer Umgebung ab. Abgelegene Felder wurden nicht bewirtschaftet, große Viehher- den konnten nicht betreut werden. Nur die Felder in unmittelbarer Nachbarschaft der Wohnungen wurden genutzt.139 Die eingesperrten Familien (ngujim) konnten ihre Felder nicht bestellen und darüber hinaus nicht am sozialen und kulturellen Leben der Gemeinschaft teilnehmen. Viele Männer, die die hauptsächlichen Träger der land- wirtschaftlichen Arbeit waren, starben in den Blutrachekonflikten.140 Die Tötung im Rahmen der Blutrache ist eine öffentliche Angele- genheit. Die Tat selbst kann zwar manchmal aus dem Hinterhalt ge- schehen, doch dann müssen die betroffenen Familien informiert werden. Der Täter ließ bei seinem Opfer etwas zurück, was eindeutige Rückschlüsse auf den Täter zuließ. Eine anonymer Akt der Blutrache wäre auch widersinnig, denn die Tat, die als Antwort auf eine vorher erfolgte Tötung begangen wurde, muss als solche deutlich erkennbar sein.141 Der Kanun nach Gjeçov ist in diesem Punkt ebenfalls eindeu- tig. Sobald die Tat geschehen war, musste der Täter die Familie des Opfers informieren, damit es keine Unklarheiten über die Identität des Täters gab. Der Täter musste den Toten auf den Rücken drehen und die Waffe des Opfers in der Nähe von dessen Kopf platzieren.

137 Schwandner-Sievers 1996: 110. 138 Hahn 1869: 47; siehe auch Gopcevic 1914: 178. 139 Hassert 1898: 375-376, Gopcevic 1914: 181. Boué (1840, 2. Bd.: 521-522) jedoch schreibt, dass die Blutrache nur selten die Feldarbeit unterbricht. Es sei häufig vorgekommen, dass man den ganzen Tag über arbeitete und abends kämpfen ging. 140 Hall 1994: 27-28. 141 Elezi 1959: 207; Whitaker 1968: 267. 284 Blutrache

Wenn der Täter dazu nicht in der Lage war, musste er jemand anderen dazu bewegen, dieses für ihn zu tun.142 Doch das ist nur graue Kanun-Theorie. In den Interviews sagte man mir, dass es häufig völlig unklar war und auch noch heute sein kann, wer der Mörder ist. Aber die Dorfgemeinschaft ist klein und über- schaubar, schnell werden Vermutungen laut, wer der Täter sein könn- te, beziehungsweise zu welchem fis er gehört. Wenn die Ältesten des Dorfes, denen die Tötung zugetragen wird, erfahren wollen, ob ihr Verdacht richtig ist, dann lassen sie den mutmaßlichen Täter einen Eid ablegen. Der Verdächtige muss schwören, dass er mit der Tötung nichts zu tun hat und auch nichts darüber weiß. Bis zu vierundzwan- zig Bürgen können die Ältesten und die Familie vom Verdächtigen einfordern, die alle auch den Eid ablegen müssen, in dem sie sagen, dass der Verdächtige die Tötung nicht begangen hat und sie selbst nichts darüber wissen. Wenn dieser Beweis, und als solches wird der abgelegte Eid gesehen, nicht von ihm oder von allen anderen Bürgen geleistet wird, fällt das Blut auf seine Seite. Erst nachdem die Ältesten oder Vermittler in langer Arbeit eine Übereinkunft mit den Blutracheparteien erreicht und beide Seiten ei- ner Versöhnung zugestimmt haben, kommt es zur abschließenden Versöhnungszeremonie. Die Verhandlungen der Ältesten oder Ver- mittler sind keine öffentliche Angelegenheit, die gütliche Einigung muss deswegen bekannt gegeben werden. Dafür reicht es nicht aus, die Nachricht über die Versöhnung mündlich oder schriftlich zu ver- breiten. Innerhalb der Abschlusszeremonie wird der langwierige Me- diationsprozess öffentlich gemacht und damit die Versöhnung zelebriert. Heutzutage lädt man dazu die Presse ein. Wichtige Perso- nen von internationalen Organisationen und Lokalpolitik geben der Veranstaltung weiteres Gewicht. Es gibt zwei Arten der Versöhnung: die Verzeihung und der Ver- zicht. Der Verzicht (falje e gjakut) auf die Blutrache bedeutet, dass die Familie, die das Blut eines Verwandten rächen muss, dazu bewegt wird, von ihrer Pflicht abzusehen und der anderen Familie zu verzei- hen. Das nicht gerächte Blut wird über Blutgeld ausgeglichen. Die Verzeihung (pajtim) ist eine Versöhnung nach einer ungefähr gleichen 142 Gjeçov 1989 [orig. 1989]: 846, §§ 844. 285 Die Praxis des Kanuns

Anzahl von Toten auf beiden Seiten. Die Verzeihung ist am Wahr- scheinlichsten, wenn dieses Gleichgewicht erreicht ist. Wann genau ein Verzicht oder eine Versöhnung gesucht wird, ist schwer zu sagen. Entweder einigen sich die Streitparteien selbst darauf, den Vermitt- lungsprozess zu beenden, weil sie erkannt haben, dass die Blutrache ein Ende haben muss. Oder Vermittler, Pfarrer und andere Älteste sprechen die Konfliktparteien von außen an.143 Zur Zeit der osmani- schen Herrschaft gab es auch die im ersten Kapitel erwähnte Zwangs- befriedungen durch die osmanische Verwaltung.144 Doch diese Aktionen, die in periodischen Abständen durchgeführt wurden, und die auch die Sozialisten zu Beginn ihrer Regierungszeit durchzusetzen versuchten, hatten keinen tiefgreifenden Erfolg. Bei einem Mord im Dorf, den man nicht verbergen kann, hat man Probleme mit der Polizei. Die Polizei kann im Falle eines Mordes nicht wie bei einem Diebstahl einfach übergegangen werden, man muss mit ihr sprechen. Die Polizei muss einen Mordfall bearbeiten. Aber das Problem sollte schnell gelöst werden, denn eine Tötung zieht üblicherweise Rache nach sich. Die Polizei unternimmt die Schritte, die sie für nötig hält, doch die Logik des Kanuns wird damit selten durchbrochen. Das bedeutet, dass sich die beteiligten Familien in ei- nem Mordfall zunächst zusammensetzen und fragen, aus welchem Grund die Tötung begangen wurde: Ist sie beispielsweise aus Ehrver- letzung geschehen? In diesen Fällen wird versucht, die Angelegenheit nach dem Kanun zu lösen. Dieses geschieht, damit die Familie des Ge- töteten entschädigt wird, aber auch damit sich der Konflikt nicht aus- weitet. Die Polizei kennt die Verhältnisse vor Ort und die Logik der Blutrache. Wenn eine Tötung aus Blutrache erfolgt und die Angele- genheit nach dem Kanun versöhnt wurde, soll der Mörder vom Staat häufig nur geringfügig bestraft und nach einiger Zeit aus der Haft ent- lassen werden. Bei einem Mord aus anderen Gründen als der Blutra- che handelt die Polizei nach staatlichen Vorgaben. Die Vermittler von Blutrachefällen bemühen sich, die Parteien an ei- nen Tisch zu bringen und ein Pfand zu erhalten. Diese Ältesten in dem Vermittlungsprozess heißen pleqt e gjyqit. Wenn die Familien in Blut-

143 Hecquard 1881: 375; Peinsipp 1985: 169, 174; Whitaker 1968: 268, 271-272. 144 Mjedia 1901: 356-357. 286 Blutrache rache sind, denken sie nicht über die Wurzeln und Ursachen nach. Die Ursachen des Falles sind selten bekannt, jedoch die Toten der ver- schiedenen Parteien werden aufgezählt. Meist ist es gut, dass die Ursa- chen nicht bekannt sind, denn dies bedeutet in der Regel, dass der Fall weit zurückliegt.145 Je älter die Fehde, desto einfacher lässt sich der Konflikt versöhnen, denn das Blut ist ›nicht mehr am Kochen‹, wie man sagt, und das gegenseitige Töten ist fast zu einer traurigen Routi- ne geworden. Die abschließende Zeremonie einer Blutracheversöhnung ist in der Ethnographie Albaniens vielfach beschrieben worden. Der ausführ- lichste Bericht ist auch der Älteste, er stammt von Hahn (1854) aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Viele andere Beschreibungen der Zeremonie, die zeitlich Hahns Text folgen, zeigen große Ähnlich- keiten in Wort und Handlungsverlauf mit der von Hahn beschriebe- nen Szene. Das kann daran liegen, dass die Zeremonien tatsächlich sehr ähnlich waren und es auch heute noch sind. Vermutlich wurde aber viel von Hahns Beschreibung übernommen. Basierend auf dem Bericht von Hahn werde ich die Zeremonie am Ende einer Blutrache- versöhnung beschreiben. In den Punkten, in denen andere Autoren zusätzliche oder abweichende Informationen beisteuern, werden die- se erwähnt. Der Bericht von Hahn ist mehr als einhundertfünfzig Jah- re alt, doch die Grundelemente der Zeremonie lassen sich heute genauso finden. Ich selbst konnte keiner solchen Zeremonie beiwoh- nen, denn es fand während meiner Aufenthalte im Norden keine statt, von der ich rechtzeitig gehört hätte. Die Informationen zu aktuellen Blutracheversöhnungen bezog ich aus Interviews und Videoaufzeich- nungen solcher Zeremonien.146 Hahn nennt keinen besonderen Tag, an dem die Zeremonie stattfin- det. In Interviews betonte man mir gegenüber, dass die Veranstaltung meist an besonderen Tagen vorgenommen wird, das heißt an religiö- sen Festen wie Ostern, Sankt Nikolaus oder Weihnachten. An einem

145 Siehe auch de Waal 1998: 29. 146 Versöhnungszeremonien nach Hahn 1854: 177-178; siehe auch Durham 1979 [1928]: 67-68; Gopcivic 1914: 184-187; Hasluck 1954: 256-260; Hequard 1881: 381-383; Mihaceviv [o.J.]: 28-31; Mjedia 1901: 355; Peinsipp 1985: 174-185. Die erwähnten Videoaufzeichnung sah ich bei Frrok Pernoj, Puka im Oktober 2001. 287 Die Praxis des Kanuns dieser Tage macht sich eine Gruppe von Menschen in aller Frühe auf den Weg. Vorneweg geht der Pfarrer, er trägt Kruzifix und Evangeli- um mit sich. Ihm folgen Männer, die vier bis sechs Wiegen mit Säug- lingen vor sich her tragen. Manchmal liegen die Säuglinge falsch herum in ihrer Wiege und erst nach einer erfolgten Versöhnung wer- den sie richtig herum gedreht. Der Wiege folgt der reuige Mörder. Die Albaner nennen ihn fajtor (Schuldiger) oder katil (Schlächter, Mör- der, Unmensch). Seine Hände sind auf seinen Rücken gefesselt, um den Hals trägt er einen Strick, an dem die Tatwaffe hängt. Dieses ist heutzutage nicht mehr der Fall, allerhöchsten gibt es kleine Fesseln um die Handgelenke. Hinter dem fajtor gehen Freund und Angehöri- ge, manchmal auch entfernte Familienmitglieder des Opfers. Die Fa- milienmitglieder des fajtor umringen und bewachen ihn, besonders um ihn vor plötzlich ausbrechenden Wutanfällen von Mitgliedern der verletzten Familie zu beschützen. Ziel dieser Prozession ist das Haus des nächsten Verwandten des Toten. Dies ist in der Regel der Hausherr des Haushaltes, aus dem der Tote stammt. Der Hausherr wird falësi (Vergebender) oder Herr des Blutes (zoti e gjakut) genannt. Die Prozessionsteilnehmer nehmen als Zeichen von Demut ihre Hüte ab und legen sie auf die mitgebrachten Wiegen. Die Bewohner des Hauses des falësi treten heraus. Die Besu- cher werden zunächst nicht hineingebeten. Man stellt die Wiegen so vor das Haus, dass die Füße der Säuglinge nach Osten zeigen. Allein der fajtor wird, immer noch gefesselt, in das Haus geleitet und nimmt neben dem Herdfeuer Platz. Dort bleibt er meist knien, bis die Ver- söhnung erfolgt ist. Laut Beschreibungen heutiger Zeremonien klopft der Priester nach Ankunft der Prozession an die Tür des falësi: OKol Preng hapu derën këtyre burrave dhe krishtit. (»O Kol Preng [Name], öffne diesen Männern und Christus die Tür.«) Alle Teilnehmer des Zuges werden in das Innere des Haus geleitet, doch niemand setzt sich. Es wird kein Kaffee und kein Raki gereicht. Der falësi tut, als ob er nicht wüsste, was die Anwesenden begehrten und fragt nach der Absicht des Besuches. Mal ergreift zunächst der Priester das Wort, mal ist es das eloquenteste anwesende Mitglied der Familie des fajtor,derdemfalësi antwortet. In der Rede wird betont, dass die Familie des falësi sicherlich viel Leid erfahren habe. Die Ver-

288 Blutrache zeihung jedoch sei die Pflicht eines jeden Christen und sei des Tapfe- ren viel würdiger, als Rache zu nehmen. Der Priester fleht im Namen des Kreuzes, des heiligen Buches und des unschuldigen Blutes, den Säuglingen in der Wiege, den falësi um Vergebung an. Doch der falësi gibt nicht so schnell nach. Es folgt eine längere Phase des Sträubens vor der Verzeihung auf der einen Seite und des ununter- brochenen Bittens und Flehens auf der anderen. Widerstrebend, wie in einem inneren Kampf begriffen, greift der falësi nach einer Wiege, dreht sie dreimal von links nach rechts im Kreis herum und lässt die Wiege und den Säugling diesmal mit den Beinen nach Westen ruhen. Die übrigen anwesenden Familienmitglieder des falësi tun es ihm gleich und drehen die anderen Wiegen. Hahn sieht einen Vergleich mit Begräbnissen als Grund für das Drehen der Wiegen von Westen nach Osten. Tote werden mit dem Kopf nach Westen begraben. Die erste Stellung der Wiege, mit den Füßen nach Osten, zeigt demnach die To- deswürdigkeit des Verbrechens und die Todesbereitschaft des reuigen Mörders. Die gedrehte Position verweist hingegen auf die Absicht des falësi,demfajtor das Leben zu schenken.147 Die Verzeihung ist noch nicht gewährt, der falësi lässt sich weiter bitten. Es folgt ein weiteres Flehen und Bitten. Doch der falësi bleibt weiter stur. Er zählt die Verdienste des getöteten Familienmitgliedes auf und sagt, dass sein Herz nicht bereit sei. Doch endlich, nach manchmal mehreren Stunden des Bittens und des Sträubens, ist der falësi zur Versöhnung bereit. Entweder geschieht dies sehr kurz. Der falësi sagt lediglich, dass er dem fajtor verzeihe, was auch die anderen Mitglieder der Familie des falësi der Reihe nach sagen. Oder aber die Geste der Verzeihung ist komplexer. Der falësi bittet die Angehörigen des fajtor ins Haus. Letzterem nimmt man endlich die Fesseln mit den Worten ab, es sei ihm verziehen. Heutzutage ist die Phase des Bittens und Sträubens nicht mehr so ausgeprägt. Die längst stattgefundene Einigung zur Beilegung der Blutrache wird nicht mehr so differenziert und lang gezogen aufge- führt. Die Teilnehmer der Prozession werden direkt ins Haus des falësi gebeten, allerdings nicht sofort bewirtet. Nach einigen informel- len Gesprächen gehen der Priester und alle anderen Anwesenden aus 147 Hahn 1854: 177. 289 Die Praxis des Kanuns dem Haus. Auf den Boden legt der Priester ein Lorbeerblatt, die Bibel und ein Kreuz. Alle hocken sich nacheinander vor die Bibel, legen die Hand darauf und schwören: »Ich schwöre, dass ich nicht mit Recht getötet habe, ich habe keinen Konflikt mit ihm, und ich wusste nicht wer er war.« Es war und ist scheinbar selten, dass trotz langen Flehens um Ver- söhnung diese nicht gewährt wird. Dies ist vor allem deswegen selten, weil die Zeremonie eben nur der Schlusspunkt der Verhandlungen ist, nicht aber die Verhandlung in einem Blutrachefall selbst. Die langwie- rigen Versöhnungen werden in der Zeremonie öffentlich aufgeführt, doch ihr Ausgang ist klar, denn nur positiv abgeschlossene Vorver- handlungen machen eine Versöhnungszeremonie möglich. Dennoch wird in der Ethnographie und in meinen Interviews von Fällen berich- tet, in denen die Versöhnung während der Zeremonie schwierig ist. Wenn der falësi kein Einsehen hat, kommt dem Priester eine besonde- re Bedeutung zu. Der Priester droht mit dem Fegefeuer und be- schreibt besonders ausführlich die Qualen in der Hölle. Wenn man nicht verzeihe, dann dürfe man auch nicht damit rechnen, dass einem selbst verziehen werde. Dieser Drohung kann man meist nicht wider- stehen, auch wenn Pfarrer in seltenen Fällen tatsächlich unverrichteter Dinge abziehen müssen, allerdings nicht, ohne den falësi aus der Kir- che auszuschließen. Manchmal nimmt man das jüngste Kind der Fa- milie des fajtor und lässt es von Freunden in das Haus des falësi tragen. Dort fühlt es sich nicht wohl, weil es in einer fremden Umgebung ist. Das Kind fängt an zu schreien. Nach einer Weile schafft es der falësi nicht mehr, dem Schreien des Kinds zu widerstehen. Es schneidet dem Kind die Haare und küsst es. Dies entspricht einer vollständigen Ver- zeihung. Neben dieser Praxis hat heute auch der Pfarrer eine Bedeu- tung, auch wenn er nicht mehr mit dem Fegefeuer droht. Der Pfarrer und die anderen Teilnehmer des Zugs verlassen entrüstet das Haus, lassen aber ein Kreuz zurück, das verkehrt herum liegt. Der falësi kann ein Kreuz nicht in dieser Position liegen lassen, er muss es um- drehen und die Tötung verzeihen. Nach der Verzeihung folgt ein Gastmahl im Haus des falësi.148 Meist bringen der fajtor und seine Familie alles Notwendige für das Mahl 148 Bei Gjeçov (1989 [orig. 1933]: 183, § 982) findet das Mahl im Haus des fajtor statt. 290 Blutrache mit. Es wird viel gegessen und getrunken. Nach einiger Zeit versuchen der Priester und die Familienmitglieder des fajtor, eine Verringerung oder einen Erlass des Blutgeldes beim falësi zu erreichen. Letzterer hat nach der Versöhnung das Blutgeld oder ein Pfand dafür entgegen ge- nommen. Der falësi sagt in der Regel etwas wie »Die Rache erlasse ich dir, aber die Buße will ich« und bittet dann um das Blutgeld. Bei Hahn lag das Blutgeld bei 1.000 Piaster. Heutzutage hörte ich Angaben, die zwischen 50.000 bis 600.000 Lek (ca. € 350,— bis 4.250,—) lagen. Wer das Geld nicht sofort bezahlen kann, gibt einen Pfand, das den Gegen- wert der einzulösenden Summe meist übersteigt. Während des Mahls wird immer wieder um eine Herabsetzung der Höhe des Blutgelds gebeten. Dies wird schließlich erreicht, vor allem deswegen, weil der falësi einwendet, dass er kein Geld für ein getötetes Familienmitglied nehmen wolle, dies sei ehrlos. Es wird dem falësi letztendlich nur ein Geschenk gegeben, wie etwa eine wertvolle Waf- fe. In einigen Fällen hörte ich, dass das Blutgeld heute zwar zunächst genommen, dann aber der Kirche gespendet wird. Anstelle des kost- spieligen Mahls findet man heute auch kleinere Gerichte. Die Anwe- senden trinken gemeinsam raki, und jeder der Anwesenden gibt Trinksprüche zu Ehren der Versöhnten aus. Die Frauen des Hauses teilen das so genannte Blutbrot (buka e gjakut) aus, das sich die Anwe- senden teilen und gemeinsam essen. Danach gehen sie gemeinsam in das Haus des fajtor und trinken schwarzen, ungesüßten Kaffee. Dies geschieht sonst nur bei Beerdigungen. Nach dem Gastmahl wird die Versöhnung über verschiedene weitere Gesten und Riten gefestigt. Zum Zeichen des Löschens der Blutschuld findet man heute in Mirdita die Praxis, dass der falësi zum Haus des fajtor geht und auf den rechten Türstock mit einem Nagel ein Kreuz ritzt. Manchmal wird eine Kreuzhacke verwendetet, um das Kreuz einzurit- zen. Nagel oder Hacke werden nach dem Einritzen über die Schultern hinweg über das Haus des fajtor geworfen. Das eingeritzte Kreuz ist das Zeichen für eine versöhnte Blutrache.149 Danach reicht man sich die Hän- de, zuerst der fajtor mit dem falësi, anschließend mit dem Pfarrer, dann mit den Ältesten der beteiligten Familien und schließlich mit den Gästen und den eingeladenen Journalisten. Vor allen Anwesenden verzeiht der 149 Gjeçov 1989 [orig. 1933]: 183, §§ 983-987. 291 Die Praxis des Kanuns falësi dem fajtor noch einmal die Tat. Seltener werden die heutigen Ver- söhnungen über Heirat und Blutsbruderschaften untermauert.150 Häufi- ger ist die Verbindung zweier Familien über Patenschaften. Nichtregierungsorganisationen für Konfliktmediation Das Gesetz Nr. 8465 ›Zur Vermittlung und Versöhnung von Konflik- ten‹ (Për ndermjetësimin për zgjidhjen me pajtim të mosmarrëveshje- ve) ist in Albanien seit März 1999 in Kraft. Es stellt den gesetzlichen Rahmen für außergerichtliche Konfliktlösungen dar. Mediatoren ver- mitteln bei Streitigkeiten zwischen Privatpersonen. Ziel ist eine ein- vernehmliche Beilegung der Streitigkeiten im Einklang mit beste- henden Gesetzen und den ›guten Sitten‹. Die Vermittlung ist eine eh- renamtliche und von den Konfliktparteien unvergütete Tätigkeit, die als zweiseitiger, erzieherischer Prozess beschrieben wird. Die Streitig- keiten sollen dergestalt vermittelt werden, dass der Konflikt nicht vor Gericht ausgetragen werden muss, was zu einer tiefgreifenden sozia- len Störung im Umfeld der beteiligten Parteien führen könnte. Das Gesetz nennt nur wenige Streitigkeiten ausdrücklich, die über außer- gerichtliche Mediation gelöst werden können, beispielsweise Ehe- streitigkeiten, Erziehungs- oder Unterhaltsfragen, Erbstreitigkeiten und Eigentumskonflikte. Ansonsten ist in dem Gesetz vermerkt, dass die außergerichtliche Mediation bei all jenen Streitigkeiten beschritten werden kann, in denen die Konfliktparteien diesem Weg zustimmen und das Gesetz nicht die gerichtliche Behandlung des Falles vor- schreibt.151 Im Gesetz ist vermerkt, dass die Mediation von Nichtregierungsor- ganisationen (NRO) durchgeführt wird, die für diesen Zweck bei Ge- richt eingetragen sein müssen. Neben der Mediation werden den NRO weitere Aufgaben aufgetragen, die das Engagement im Bereich der Konfliktvermittlung begleiten sollen. Die Mediatoren müssen entsprechend geschult werden, und die Gesellschaften werden dazu

150 Zur Besiegelung von Versöhnungen mittels Heirat siehe Boué 1840: 522. 151 Siehe zu der Interpretation des Gesetzes Nr. 8465 beispielsweise den Komentari i Ligjit (1999) von Ismet Elezi, Hajderedin Fuga und Marjana Semini, der von der Fondacioni Zgjidja e Konfliktevë dhe Pajtimi e Mosamarrëveshjevë herausgege- ben wird. 292 Nichtregierungsorganisationen für Konfliktmediation aufgefordert, selbst Untersuchungen zu den Rahmenbedingungen der Konflikte anzustellen. Die NRO müssen staatliche Behörden beraten können und ihre Ergebnisse und Untersuchungen veröffentlichen. Ferner gilt es, Informationsveranstaltungen in Schulen oder ähnlichen Einrichtungen durchzuführen. Die Vermittler werden von den NRO bei den öffentlichen Behör- den angemeldet und müssen mindestens fünfundzwanzig Jahre alt sein, einen Universitätsabschluss und ein polizeiliches Führungszeug- nis ohne Eintrag vorweisen können. Sie sollten sich im Weiteren durch Ehrlichkeit, Umsicht, Weisheit und Verlässlichkeit auszeich- nen und in sozialen Beziehungen allgemein erfahren sein. So weit der gesetzliche Rahmen. Natürlich wird nirgendwo in diesen Artikeln das Gewohnheitsrecht Kanun genannt. Dennoch ist es grundlegender Be- standteil der Praxis der Konfliktmediation. Die bedeutendste NRO in Albanien auf diesem Gebiet ist die ›Alba- nische Stiftung für Konfliktlösung und Versöhnung von Streitigkei- ten‹ (Fondacioni ›Zgjidhja e Konflikteve dhe Pajtimi i Mosmarrë- veshjeve‹). Die Stiftung wurde im November 1995 gegründet, ihre Be- gründer entstammen vornehmlich einem akademischen Milieu und setzen sich aus Juristen, Soziologen und so genannten ›Spezialisten im gesellschaftlichen und kulturellen Bereich‹ (Politiker, Volkskundler) zusammen. Sie erklären die Notwendigkeit der Gründung der Orga- nisation mit Konflikten, die der politische Systemwechsel Anfang der 1990er Jahre mit sich brachte. Bei den Problemen handelte es sich um Konflikte bezüglich Eigentumsfragen, Verteilung von Land und Fa- milienkonflikten. Diese Art von kleineren Streitigkeiten hätte die Jus- tiz völlig überlastet.152 Die Gründung erfolgte somit nicht, weil die Menschen Konflikte über das Gewohnheitsrecht zu vermitteln such- ten. In ihrem Strategiepapier betonen sie aber den Wunsch nach einen »cultural appropriate approach (ways of working and solutions), which respects traditional and modern cultures.«153 Ferner gründet 152 Gjoka 2000: 8; zur dieser NRO siehe auch Schwandner-Sievers 1998: 331-332. 153 Albanian Foundation for Conflict Resolution & Reconciliation of Disputes (AFCR) [Fondacioni Zgjidhja e Konfliktëve dhe Pajtimi i Mosmarrëveshjeve], Strategy 2000-2002 vom Dezember 1999, in englischer Sprache. 15 S. Siehe auch: Rasim Gjoka (2001) Behind closed doors. Sociological research on the economic, social and psychological situation of the sheltered blood feuds children, and their 293 Die Praxis des Kanuns

sich die Mediationstätigkeit ebenfalls auf die albanische Tradition der Mediation und Versöhnung, wie beispielswei- se im Zusammenhang mit der Blutrache.154 Sitz der bedeutendsten NRO ist Tirana, doch hat sie Media- tionsbüros in vielen Regionen des Landes. Dort arbeitet meist eine Person in einem Büro und koordiniert die örtlich ansässi- gen, ehrenamtlich tätigen Ver- mittler. Die Konflikte, in denen sie vermitteln, sind Landkonflikte, Eigentumsfra- gen und Familien konflikte.155 Die Organisation gibt eine zweimal im Jahr erscheinende Abb. 25: Poster der Bürgerinitiative Zeitschrift (Pajtim)heraus,in ›MJAFT!‹ (alb. für ›genug‹ oder ›Es reicht.‹), die auf die dringendsten Pro- der meist akademisch gehalte- bleme Albaniens aufmerksam machen ne Artikel von Mitgliedern der will, wie Blutrache oder Korruption. Organisation oder anderen ›Mjaft Gjakmarrjes!‹ — ›Genug Blut- Wissenschaftlern der Universi- rache!‹ tät Tirana, der Akademie der Wissenschaften oder Vertre- tern von ausländischen NRO abgedruckt werden. Die NRO gibt selbst an, dass bis zum Jahr 2000 siebzig Prozent der vermittelten Konflikte Landstreitigkeiten betreffen würden. Die anderen Bereiche, die sich auf die restlichen dreißig Prozent verteilten, seien ›Konflikte

educational problems. Unveröffenlichtes Manuskript, Kurzfassung eines zu ver- öffentlichenden längeren Textes, in englischer Sprache. 26 S. 154 Dervishi 1996: 10-11; Gjoka 2000: 9. 155 Information zu der NRO erhielt ich auch in Gesprächen mit dem Leiter Rasim Gjoka und einer nordalbanischen Mitarbeiterin (Qendra e ndërmjetësimit Shko- dra). 294 Nichtregierungsorganisationen für Konfliktmediation

Abb. 26: Konferenz: Për një front të përbashket më stetin kunder krimit or- ganisiert von Komiteti i Pajtimit Mbarëkombëtar 28. September 2001 (Ti- rana. mit geringer juristischer Tragweite‹ und ferner nicht näher bezeichne- te ›familiäre, zivilrechtliche und wirtschaftliche Konflikte‹.156 Aber diese Organisation ist bei weitem nicht die Einzige. In Tirana ist beispielsweise noch das ›Nationale Versöhnungskomitee‹ (Komit- eti i Pajtimit Mbarëkombëtar) vertreten (Abb. 26). In Shkodra ›Ver- bindung der Missionare des Friedens Albaniens — Mutter Teresa‹ (Lidhja e Misionarëve të Paqes të Shqipërisë — Nëna Teresa) und die ›Verbindung der Missionare des Friedens Albaniens‹ (Lidhja e Misio- narëve të Paqes të Shqipërisë) oder in Puka die ›Vereinigung der Ge- meindevorsteher Pukas‹ (Shoqata e Kryepleqëve Pukjanë ›Besa‹). Man könnte sicherlich noch ein paar weitere aufzählen.157 Die Zusammen-

156 Gjoka 2000: 11. 157 Weitere NRO, die sich um diese Problematik seriös engagieren, sind beispiels- weise CAFOD Albania, Gesellschaft für technische Zusammenarbeit GTZ (Pro- jekti ›Mbështetje e Praktikës Ligjore Shqiptare‹), Qendra Drejtësi dhe Paqe (Shkodra) (siehe dazu Lelçaj 2000), Grupi Shqiptar i të Drejtave të Njeriut (gibt Zeitschrift Kanun heraus), OSCE (Tirana, Shkodra). 295 Die Praxis des Kanuns arbeit der NRO untereinander ist gering. Im Gegenteil, sie streiten sich häufig. Beispielsweise sind die beiden Organisationen mit dem Namen ›Verbindung der Missionare des Friedens Albaniens‹ Ergebnis der Trennung einer 1991 gegründeten Organisation. Der Gründer und angeblich sehr erfolgreiche Vermittler ist vor einiger Zeit aus Al- banien emigriert. Die Organisation spaltete sich 1998. Eine Seite ar- beitet intensiv mit der Kirche zusammen, die andere versucht, ihr Geld über internationale Organisationen in Tirana zu erhalten. Beide bestreiten der jeweils anderen die Existenzberechtigung. Andere Ver- söhnungsorganisationen treffen nur bei größeren Veranstaltungen zu- sammen. Konflikte werden üblicherweise nicht gemeinsam gelöst. Es scheint, als wollten sie in bestimmten Regionen die Vorherrschaft, ge- wissermaßen das Monopol über die Konfliktmediation erhalten. Die Arbeit der Mediatoren vor Ort ist gesetzlich nicht besonders re- glementiert. Es passiert nur selten, dass Menschen mit ihren Proble- men direkt in die Büros der Organisation kommen. Man zeigt es nicht gerne öffentlich, dass man ein Problem hat. Der Kontakt wird über Bekannte, die gezielt Vermittler ansprechen, hergestellt, oder die ver- streuten Freiwilligen der Organisation suchen die Verbindung. Es wird sogar versucht, die Versöhnung in Blutrachefällen vorzuneh- men. Doch dies ist keine leichte Angelegenheit für die Organisatio- nen, denn die Blutrache steht im Konflikt mit dem Gesetz und kann deswegen eigentlich nicht auf diesem Wege versöhnt werden. Bemer- kenswerterweise sind jedoch einige Versöhnungs-NRO nur auf die Blutrache und ihre Folgen spezialisiert. Nur die kurz vorgestellte Or- ganisation ›Albanische Stiftung für Konfliktlösung und Versöhnung von Streitigkeiten‹ erhebt den Anspruch, in allen durch das Gesetz er- laubten Konflikten zu vermitteln. Der Verlauf einer Vermittlung ist, wie bei den Vermittlungen außer- halb dieser staatlich legitimierten Organisationen, keinem besonderen Schema unterworfen. Am Anfang jedes Falles wird geprüft, welche Mediationstechniken hier anzuwenden sind, traditionelle nach dem Kanun oder moderne Mediationspraktiken. Es wird vereinbart, ob der Konflikt sipas kanunit (nach dem Kanun) oder anders gelöst wer- den soll. In keinem Fall zieht man jedoch den Kanun von Gjeçov aus der Schublade, um darin zu suchen, ob es eine Passage in dem Text

296 Nichtregierungsorganisationen für Konfliktmediation gibt, die etwas mit dem vorliegenden Fall zu tun hat. Der Text von Gjeçov stammt aus einer anderen Zeit, und die aufgezählten Regeln haben nur wenig mit den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun. Daher hat kein Vermittler den Kanun offen vor sich liegen, wenn er mit den Konfliktparteien verhandelt. Die Praktiken des Kanuns sind regional sehr unterschiedlich und stehen nicht alle im Einklang mit Gjeçovs Version. Den Vermittlern ist darüber hinaus sehr genau bewusst, wie der Kanun nach Gjeçov einzuordnen ist. Ferner soll in den Vermittlungsgesprächen keinesfalls Recht gesprochen, sondern lediglich eine moderne Mittlertätigkeit ausgeführt werden. Was mit modernen Mediationspraktiken genau gemeint ist, konnte nicht ein- deutig in Erfahrung gebracht werden. Offensichtlich bedeutet dies hauptsächlich, dass der Lösungsprozess weniger öffentlich ist, Älteste oder fis-Vorstände nicht auftreten, und die Zeremonialität des Ka- nuns, beispielsweise der Eid, nicht zum Tragen kommt. Am Ende der Vermittlung gibt es eine gemeinsame schriftliche Er- klärung. Hier werden die Eckdaten des Konfliktes, die verschiedenen Standpunkte und die gemeinsame abschließende Vereinbarung festge- halten. Diese wird von den Konfliktparteien und auch von den Ver- mittlern unterschrieben. Das Dokument wird bei Gericht eingereicht, damit es darüber informiert ist, wie Grundstücksstreitigkeiten oder eine Blutracheversöhnung ausgegangen sind. Und hier besteht wieder ein Wiederspruch zum Gesetz. Diejenigen NRO, die sich hauptsäch- lich um die Vermittlung von Blutrachefällen kümmern, folgen nicht immer den Vorgaben des Vermittlungsgesetzes, dass die Vermittlung ehrenamtlich zu erfolgen hat. Eine NRO berechnet 1.200 Lek (ca. € 8,60) plus Spesen pro Tag und 300.000 Lek (ca. € 2.140,—) für eine er- folgreiche Versöhnung. Dieser Betrag soll für diese Art von NRO üb- lich sein. Kommt es zu einer Versöhnung der zwei in Blutrache stehenden Fa- milien, kann dies mildernde Umstände für den Mörder bei der Ver- handlung vor Gericht nach sich ziehen. Die außergerichtliche, illegale Versöhnung der ungesetzlichen Blutrache führt in Gerichtsverfahren zu einem geringerem Strafmaß. Dies ist ein Paradox. Ein demokrati- scher Staat, bei dem das Gewaltmonopol liegen muss, kann eigentlich nicht die Blutrache tolerieren. Der Staat bestraft den Mörder aus Blut-

297 Die Praxis des Kanuns rache genauso wie alle anderen Mörder. Gefängnis ist für die invol- vierten Parteien allerdings keine Lösung. Man wartet, bis der Gefangene wieder entlassen ist oder nimmt Rache durch die Tötung eines Familienmitgliedes des Mörders. Dieser Kreislauf kann nur durch traditionelle Vermittlung beendet werden. Die Vermittlung von Blutrachen bedeutet jedoch für den Staat eine offizielle Anerken- nung und damit eine Bestätigung der Blutrache. Dies darf aus rechts- staatlicher Sicht nicht erfolgen, findet aber dennoch inoffiziell statt, weil versöhnte Blutrachefälle meist geringere Haftstrafen für die Mör- der aus Blutrache bedeuten.158 Seit Mai 2001 findet schließlich die Blutrache im Gesetz Erwähnung. Während man für einen ›einfachen‹ Mord mit fünfzehn bis zwanzig Jahren Gefängnis rechnen muss, ist die Strafe für Morde aus Habgier, Rache oder Blutrache von zwanzig Jahren bis lebenslänglich. Auch werden Verantwortliche dafür, dass eine Familie sich in ihrem Haus aus Angst vor Blutrache verstecken muss, mit einer Strafe von bis zu drei Jahren Gefängnis bedacht. Die genaue Motivation hinter diesen Gesetzesänderungen ist unklar. Ist es die Frustration des Staates über seine lokalen Vertreter und deren re- gional spezifische Behandlung der Blutrache oder das Vorgehen gegen die Blutrache mit härteren Strafen?159 Eine Mediation kann auch scheitern, wenn sich die Parteien nicht ei- nigen können. Dies geschieht, wenn der Konflikt zu sehr festgefahren ist oder wenn der Vermittler parteiisch oder undiplomatisch handelt. Es muss ebenfalls ein Bericht in dem Fall angefertigt werden, wenn es nicht zu einer Lösung gekommen ist. Der Fall wird dann möglicher- weise vor Gericht verhandelt.160 Die Mitarbeiter der Organisation ›Albanische Stiftung für Konflikt- lösung und Versöhnung von Streitigkeiten‹ vor Ort sind meist Män- ner mit Ansehen, wie Anführer von fis oder Dorfvorsteher. Die Organisation arbeitetet bewusst mit Vertretern traditioneller Struktu- ren zusammen, gerade wenn es um Konflikte zwischen staatlicher Ad- ministration und traditioneller Verwaltung geht. Dies steht im

158 Zur Praxis der Blutracheversönungskomittees siehe auch Saltmarshe 2001: 193; Sampson 1996: 139. 159 Alkon/Hughes Ms. [2001]: 3. 160 Muka, Vl. 2000: 19. 298 Nichtregierungsorganisationen für Konfliktmediation

Widerspruch zu den Aussagen der Mitarbeiter der zentralen Büros der Organisationen in der Hauptstadt: Auf die Frage, ob solch wichti- ge Personen in traditionellen Ämtern im Versöhnungsprozess eine Rolle spielten, wird meist kategorisch verneint. Dies sei ein Rückfall in alte Zeiten, heißt es. Man arbeite grundsätzlich nicht mit dem Ka- nun und den laut Gewohnheitsrecht wichtigen Personen, wie Anfüh- rern von fis zusammen. Diese Praxis würde zu keiner Lösung führen. Eine solche Position erscheint verwunderlich, weil die Mitarbeiter ›im Feld‹ meist das genaue Gegenteil sagen. Sie betonen, dass es auch gar nicht möglich sei, die aktuelle Relevanz des Gewohnheitsrechts bei der Konfliktmediation zu ignorieren. Unter den NRO ist man bei die- sem Punkt aber nicht einig. Während die Organisation (›Albanische Stiftung für Konfliktlösung und Versöhnung von Streitigkeiten‹) die Anwendung des Kanuns auf offizieller Ebene zwar nicht gutheißt, sie vor Ort jedoch zulässt, argumentiert das ›Nationale Versöhnungsko- mitee‹ streng gegen den Kanun. Es mobilisiert vor allem gegen die tra- ditionell mächtigen Positionen, wie die bajraktar-Familien, die Vorstände der fis oder der Viertel. Ein regionaler Vertreter dieser Or- ganisation wurde geradezu ausfallend, als er von mir auf eine mögliche Zusammenarbeit mit den genannten Personen angesprochen wurde. Der Kanun und seine Träger seien zu entkräften, sagte er. Man dürfe das Gewohnheitsrecht nicht dadurch fördern, dass man seine Prota- gonisten in Versöhnungen einbinde. Eine weitere NRO in Shkodra, die sich nicht primär mit der Kon- fliktmediation, sondern mit der Aufklärung über Menschenrechte und Zivilgesellschaft beschäftigt, hat ebenfalls ein zwiespältiges Ver- hältnis zum Kanun. Die Mitarbeiter, größtenteils Personen von An- fang dreißig, sagen, dass der Kanun früher seinen Sinn gehabt habe, doch heute habe er keine Macht mehr. Ferner sprechen sie davon, dass man die Clan-Strukturen zerstören müsse und propagieren die Men- schrechte wie Moses die zehn Gebote. Ihr Umgang mit dem Kanun gleicht einer Abrechnung mit der Vergangenheit. Die Moderne solle endlich kommen und den Kanun aus den Köpfen der Leute vertrei- ben. Der Kanun soll gewissermaßen exorziert werden. Die Rezeption des Kanuns bei den Vermittlern in der Stadt und in der Peripherie ist höchst unterschiedlich. Besonders ins Auge fällt in

299 Die Praxis des Kanuns diesem Zusammenhang das Beispiel eines Vermittlers in Puka. Er ist bei den meisten Versammlungen seiner Organisation in der Haupt- stadt anwesend. Dort sagt er aber kein Wort und wird auch selten dazu aufgefordert. In seinem nordalbanischen Heimatort ist er ein Äl- tester des Kanuns, er wird mit ›Professor‹ angeredet, hat zwei lokale Varianten des Kanuns herausgegeben und ist sich der aktuellen Di- mension des Gewohnheitsrechts durchaus bewusst. In der Haupt- stadt wird er als freundlicher, rüstiger alter Herr gesehen, nicht als ein verdienter Kollege. Die Vermittlungsorganisationen sucht sich in den verschiedenen Regionen des Landes gezielt wichtige Persönlichkeiten aus, die dieser Rolle gewachsen sind. Meist haben sie auf Grund ihrer sozialen Stel- lung schon einen Ruf als Vermittler. Über die Organisationen wird ihre Position offizialisiert. Der Vermittler bekommt damit auch ein wenig soziales Prestige. Teilweise erhalten sie auch eine plastifizierte Karte der Organisation, die sie gerne vorzeigen. Die Vermittler werden geschult, aber es sind meiner Erfahrung nach vor allem die Mitarbeiter in der Hauptstadt oder die Mitarbeiter in den regionalen Büros, die zu diesen Veranstaltungen kommen, selten die Me- diatoren vor Ort. Dies liegt auch an der Sprache. Häufig werden diese Veranstaltungen von Ausländern auf Englisch geleitet, die offensichtlich viel von Konfliktmediation verstehen und ihr Wissen mit allen Finessen pädagogisch-medial aufbereitet vermitteln. Es sind unabhängige Perso- nen oder Vertreter der Europäischen Union, der UNICEF oder nationa- ler westeuropäischer Stiftungen, die Experten nach Albanien schicken. Die Spezialisten halten meist Vorträge zur Konfliktmediation, die sie schon in vielen anderen Ländern vorgetragen haben. Sicherlich gibt es allgemeine Überlegungen zu Mediationstechniken, die in vielen Regio- nen der Welt gelten mögen; das nordalbanische Gewohnheitsrecht ist den Vortragenden allerdings selten genau bekannt. Ich hörte beispiels- weise von einem der Mediatoren, die in Albanien Schulungen durchfüh- ren, dass ihre einzige Quelle zur albanischen Gewohnheitsrecht in dem Roman von Ismael Kadare Der zerrissene April (1980) bestünde.161

161 Mitteilung von Andreas Hemming, der einen Mediator traf. Zur Problematik der Mediatoren-Schulungen bzw. der Experten-Schulungen insgesamt siehe auch Sampson 1996: 137; de Waal 1998: 21-22. 300 Nichtregierungsorganisationen für Konfliktmediation

Die Arbeit mit der Versöhnung ist, wie im Zusammenhang mit allen anderen NRO, auch ein Geschäft. Es gibt Organisationen, deren pri- märes Ziel es zunächst einmal ist, an Mittel heranzukommen. Zu die- sem Zweck werden Versöhnungsprojekte ›en masse‹ konzipiert. Die meisten Anträge an internationale Geldgeber sind ›nach allen Regeln der Kunst verfasst‹. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass die Implementierung einer Zivilgesellschaft in Albanien von au- ßerhalb und innerhalb Albaniens verstärkt über die Förderung von mehr und mehr NRO verlief. Man kann sogar den Eindruck bekom- men, dass es ein Ziel war, so viele NRO wie möglich zu fördern, weil dies automatisch mehr Demokratie bedeuten würde.162 Hinter dem Konzept der NRO gibt es, wie Steven Sampson (1996) es ausdrückt, »a considerable amount of magic or mystical thinking«.163 ›Menschen- rechte‹ und ›Zivilgesellschaft‹, das sind Konzepte aus dem fernen Brüssel, des Europäischen Parlaments in Straßburg, von den Verein- ten Nationen in New York oder der Weltbank in Washington. Die Prozesse des ›fund-raising‹, der Operationalisierung der Konzepte aus dem supralokalen Raum vor Ort in Albanien, erhalten so eine Art Mystik. Demokratie wird in Albanien zu einem großen Teil über diese NRO verstanden, über das stete Ausformulieren von neuen Projekt- anträgen mit dem Ziel, vom Ausland Geld zu bekommen. Zivilgesell- schaft wird als eine weitgehend entpolitisierte Antrags- und Um- gangsrhetorik verstanden, als standardisierte Büroeinrichtungen, als materielle Ressource von ausländischen Stiftungen und der Hoffnung darauf, einen Job zu bekommen, weniger als eine soziale oder kultu- relle Staats- und Gesellschaftsvorstellung.164 Die NRO sind nicht nur vermeintliche magische Heilsbringer, sie geben genauso Anlass zu Ärger. Wie in Politik und Verwaltung wer- den Anstellung und Arbeit in den NRO meist von persönlichen Be- ziehungen bestimmt. Die meisten Jobangebote oder Reisemöglich- keiten ins Ausland gehen an Freunde oder andere Personen, zu denen man Verbindungen hat, so konstatiert es Sampson Mitte der 1990er

162 Zu den NRO in Albanien siehe Mai 2001; Sampson 1996. 163 Sampson 1996: 124. 164 Mai 2001: 220. 301 Die Praxis des Kanuns

Abb. 27: ›Kuvendi Pukjan‹ am 11. Juni 2001 in Puka.

Jahre. Doch während man auf der einen Seite dieses Clan-System ver- urteilt, vertraut man auf der anderen Seite selten anderen Selektions- verfahren. Persönliche Beziehungen sind wichtiger als formal kor- rekte Lösungen.165 Eine dieser NRO, die meines Wissens noch nie einen Konflikt gelöst hat, was selbst ihr Vorsitzender nicht verheimlichen konnte, organi- siert hauptsächlich Versammlungen, um für Mittel zu werben.166 Wichtig ist es, dass man ein paar offizielle Persönlichkeiten und die Medien einlädt (die auch zuhauf kommen) und ein paar Worte zur Tragik des rechtsfreien Raums im Norden des Landes vorträgt. Ganz besonders gut kommt es an, Vertreter internationaler Organisationen zu einer kleinen Rede zu überreden. Diese Konferenzen werden fast schon zu einem Wettbewerb. Ein Beispiel: Am 11. Juni 2001 richtete eine NRO eine groß angelegte Konferenz zum Thema Blutrache in Puka aus. Es waren Personen der lokalen und nationalen Politik, der

165 Sampson 1996: 134-135. 166 Es handelt sich hier nicht um die Fondacioni ›Zgjidhja e Konflikteve dhe Pajtimi i Mosmarrëveshjeve‹. Es ist eine andere, deren Namen ich an dieser Stelle nicht nennen möchte. 302 Nichtregierungsorganisationen für Konfliktmediation

Kirche und der Verwaltung anwesend (Abb. 27). Das konnte eine an- dere Organisation wohl nicht auf sich beruhen lassen und organisierte vier Tage später am selben Ort, im selben Raum mit fast den gleichen Gästen und Rednern — offensichtlich sind diese noch ein paar Tage länger geblieben — eine zweite Konferenz zu genau dem gleichen Thema.167 In dieser Werbeschlacht um das Geld ausländischer Inves- toren operiert man mit Superlativen. Besonders großspurig war eine Ankündigung in einer überregionalen Tageszeitung von dem Leiter der ›Verbindung der Missionare des Friedens Albaniens‹. Er verkün- dete, dass Papst Johannes Paul II im Jahr 2002 nach Albanien kommen sollte, um alle Blutrachefälle zu versöhnen (Abb. 28). Viele Personen aus Wissenschaft und dem NRO-Milieu konnten darüber nur lächeln, aber in der katholischen Bevölkerung Nordalbaniens hat der Papst ei- nen sehr guten Ruf. Er war 1993 das erste Mal in Nordalbanien und das zehnjährige Jubiläum seines Besuches wurde in Shkodra gefeiert. Das Werben mit dem Papst macht Eindruck bei der Bevölkerung, we- gen seines Namens und vermutlich des Glaubens, dass, wenn man sei- nen Namen benutzt, dies auch begründet geschieht. Diese Ankün- digung beeindruckte auch die anderen NRO, jedoch mehr wegen der Dreistigkeit einer solchen Pressemitteilung. Problematisch ist zeitweise das Verhalten der Organisation oder Staatsvertreter, die den NRO Geld zukommen lassen oder deren Ak- tionen symbolisch unterstützen, beispielsweise durch Anwesenheit bei öffentlichen Veranstaltungen. Es fehlt häufig der genaue Über- blick darüber, welche der albanischen NRO seriöse Arbeit leisten. Eine dieser Organisationen brüstet sich mit vermeintlich guten Kon-

167 Beispielsweise folgende Veranstaltungen: 8. Dezember 2000 (Shkodra): Seminar on Blood Feud organisiert von OSCE Field Station Shkodër; 11. Juni 2001 (Puka): Kunvendi Pukjan organisiert von Shoqata e Kryepleqeve Pukjanë ›Besa‹.14. Juni 2001 (Puka): Konferenz der Komiteti i Pajtimit Mbarëkombëtar; 28. September 2001 (Tirana): Për një front të përbashket më stetin kunder krimit organisiert von Komiteti i Pajtimit Mbarëkombëtar; 11. Dezember 2001 (Tirana): Konferenca Kombëtar: Shteti dhe Shoqeria Civile me mbrojtje të së dretës së jetës organisiert von Fondacioni i Pajtimit të Mosmarreveshjeve und Avokati i Popullit; 22. Mai 2003 (Iballa): The national initiative for setting free without conditions of the fa- sting women and children organisiert von Komiteti i Pajtimit Mbarëkombëtar; 14. Juli 2003 (Tirana): The meeting with representatives of the community and civil society organisiert von Komiteti i Pajtimit Mbarëkombëtar. 303 Die Praxis des Kanuns

Abb. 28: ›Papst Johannes Paul, Besuch in Albanien für Blutrache‹, Koha Jonë (Tirana) vom 6. Oktober 2001. takten zu einem ehemaligen deutschen Diplomaten. Letzterer beglei- tete den Vermittler auch zu einer Versöhnungszeremonie. Die dort gemachten Bilder mit dem Diplomaten werden vorgezeigt und zieren die Informationsblätter der Organisation. Nicht selten behauptete der Vermittler öffentlich, von Deutschland unterstützt zu werden und dass bald der Außenminister kommen würde, um in Shkodra über das Problem der Blutrache zu diskutieren. Andere NRO bedauern diese in ihren Augen einseitige Bevorzugung der betreffenden Versöh- nungsgesellschaft. Bei meinen Interviews sprach man mich an: Ich sol- le doch dem Botschafter mitteilen, wie dubios diese Organisation sei und dass sie selbst natürlich viel effizienter arbeiteten. Ferner kritisiert man die anderen NRO, das heißt meist solche, die nichts oder nur wenig vom großen Kuchen abbekommen. Beispiels- weise beschwert sich eine NRO, die völlig gegen die Respektierung traditioneller Autorität ist, dass die anderen NRO, weil sei mit den Ältesten zusammenarbeite, alte Strukturen bestätigt und die Lage da- durch verschlimmere. Eine andere NRO, die nur lokal operiert, wet- tert gegen die Kollegen in der Hauptstadt. Sie verstünden nichts von der Problematik vor Ort, aber dadurch, dass sie in der Hauptstadt ih- ren Sitz hätten, bekämen sie viel Geld. Eine dieser NRO ist gerade deswegen ein interessantes Beispiel für zweifelhaften Motivationen, eine NRO zu gründen, weil mir mehrere Personen versichert haben – ich konnte es selbst nicht nachprüfen – 304 Nichtregierungsorganisationen für Konfliktmediation der Leiter der besagten Organisation habe, kurz bevor er die Konflikt- mediation für sich entdeckte, einen Lady Diana-Erinnerungsfonds geleitet. Aber offensichtlich ist das Geschäft mit den Konflikten ein- träglicher. Die Arbeit der Konfliktmediations-NRO vor Ort greift auf Lö- sungsmechanismen der lokalen Bevölkerung zurück, wie sie bereits für Diebstähle, Landkonflikte und Blutrachefälle vorgestellt worden sind. Deswegen ist es sinnvoll, die NRO bei der Beschreibung der mündlichen Prozessualität einzubeziehen. Die NRO perpetuieren den Kanun, weil sie auf Konfliktmediation des Kanuns aufbauen und manchmal offen auf den Kanun verweisen. Die Praxis des Kanuns wird auf diesem Weg durch gesetzlich anerkannte Institutionen un- terstützt und gefördert. Damit bleibt die performative Dimension der Konfliktvermittlung weiter präsent.

305

Schluss

Der Kanun war und ist ein facettenreiches Forschungsfeld. Das alba- nische Gewohnheitsrecht und die Blutrache nahmen eine prominente Stellung in vielen Reiseberichten, Ethnographien und Erzählungen über Albanien ein. Nach dem Fall des Sozialismus und dem Ende der Isolation des Landes ist der Kanun wieder ein prominentes Thema in Nachrichten und Wissenschaft. Ausländische Forscher betonen im Zusammenhang mit Landstreitigkeiten, Sicherheitsfragen und der po- litischen Lage die Bedeutung der fis-Beziehungen und des Gewohn- heitsrechts der Nordalbaner. In Albanien hingegen versucht man, auf wissenschaftlicher und politischer Ebene allen Berichten über eine postsozialistische Existenz des Gewohnheitsrechts entgegenzuwir- ken. Es wird offenbar befürchtet, dass ausländische Forscher ein allzu negatives Bild Albaniens zeichnen könnten. Gewohnheitsrecht und Blutrache wurden in der Vergangenheit häufig mit ›wild‹ und ›primi- tiv‹ gleichgesetzt. Ich suchte Kontakte zu universitären Einrichtungen und Hoch- schullehrern in Tirana, um mich mit ihnen über den Kanun zu unter- halten. Ich wollte mich nach der wissenschaftlichen Untersuchung des Phänomens im postsozialistischen Albanien erkundigen und meine Thesen mit ihnen diskutieren. Mit einigen Forschern gab es gute und intensive Gespräche. Andere Professoren wiesen mich brüsk zurück; das Thema sei viel zu schwierig für mich, und außerdem sei ich viel zu jung. Ich sollte mich erst mit der Folklore beschäftigen, der materiel- len Kultur, den Tänzen, den Kostümen, der Musik, und überhaupt sei der Kanun schon längst tot. Dann folgte meist ein Vortrag über die Ausländer, die nach Albanien kommen würden, um den Kanun zu su- chen, um damit die Albaner als rückständig darstellen zu wollen.

307 Schluss

Aus einer historischen Perspektive heraus bekennt man sich aller- dings auch in Politik und Wissenschaft zum Kanun als zentralem Ele- ment der albanischen Identität. Losgelöst von politischen und wissen- schaftlichen Positionierungen begegnet man dem Kanun in der Bevöl- kerung ständig. Die Rhetorik des Kanuns wird in Zeitungen verwen- det oder von Banden benutzt, um den kriminellen Handlungen und der inneren Organisation ein ideologisches Gerüst zu geben. Einige Nichtregierungsorganisationen (NRO) im Bereich der Konfliktver- mittlung arbeiten in Nordalbanien bewusst mit dem Kanun. Andere NRO sehen ihr primäres Ziel darin, den Kanun aus den Köpfen der Leute zu exorzieren und gestikulieren mit der Deklaration der Men- schenrechte wie Missionare mit dem Wort Gottes. In Nordalbanien berichtete man mir auf eine unspektakuläre Art über das Gewohnheitsrecht. Die Menschen redeten offen über ›ihren‹ Kanun. Der Kanun stellt kein Geheimwissen dar, über das nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen werden dürfte. Sehr selten erwähnten die Gesprächspartner allerdings konkrete Konfliktfälle, in denen nicht sie selbst die Hauptpersonen waren. Die Regeln der Ehre erlau- ben die offene Diskussion anderer Konflikte nicht. Viele Nordalbaner erklärten mir häufig die Praktiken dadurch, dass man mich in einem Beispiel als den Schuldigen einsetzte, das heißt, ich habe gestohlen, war in Blutrache verwickelt, habe Häuser am falschen Ort gebaut, musste mehrere Male heiraten, und das häufig ohne die Erlaubnis mei- nes Vaters. Auch Personen aus der öffentlichen Verwaltung und Ge- meindevorsteher, von denen erwartet werden könnte, die Rolle staatlicher Regeln besonders zu betonen — zumindest einem Frem- den gegenüber —, äußerten sich sehr offen über die lokale Vermi- schung von Gewohnheit und Gesetz. Viele fühlten sich geehrt, offen über den Kanun sprechen zu dürfen. Es gab auch Stimmen, die die Be- deutung des Kanuns übertrieben. Andere vermischten historische Darstellungen des Kanuns mit aktuellen Problemen. Letztendlich ist der Kanun in der Praxis ein bedeutender Faktor des sozialen Han- delns. Und dies in einer Offensichtlichkeit, dass bei meiner Rückkehr in die Hauptstadt nach Exkursionen in den Norden und den Diskus- sionen mit Wissenschaftlern, die häufig behaupteten, im Norden gebe

308 Der Habitus Kanun und seine Beständigkeit es keinen Kanun, bei mir der Eindruck entstand, wir rededeten über unterschiedliche Länder. Der Kanun ist regional sehr unterschiedlich präsent und sicher nicht der einzige Bezugsrahmen des sozialen Handelns. Der Kanun ist so- ziale Praxis und wird als ein soziales Regelwerk nicht treffend be- schrieben. Der Kanun ist Produkt seines sozialen Umfeldes, was ich mit dem Begriff ›Habitus‹ zu fassen versucht habe. Meine Arbeit beschäftigte sich mit der Frage, warum sich der Kanun und seine spezifische Mündlichkeit im heutigen Albanien erhalten ha- ben und wodurch die Praxis des Gewohnheitsrechts charakterisiert werden kann. Ich diskutierte das Thema entlang dreier Leitlinien. Ers- tens beschrieb ich den Kanun als Habitus und versuchte mittels der Dialektik von sozialem Feld und Habitus die Beständigkeit des Ka- nuns auch nach dem Sozialismus zu erläutern. Zweitens galt es, die mündliche Charakteristik des nordalbanischen Gewohnheitsrechts herauszuarbeiten. Drittens stellte ich die Praxis des Kanuns staatli- chen Regelungen gegenüber und fragte nach der Beziehung zwischen Kanun und Staat. Auf diese drei Leitlinien will ich im Schlusskapitel nochmals eingehen. Der Habitus Kanun und seine Beständigkeit Die Beschreibung des Kanuns als Habitus im Sinne Pierre Bourdieus in der vorliegende Arbeit hatte zwei Gründe. Zum einen wollte ich ge- gen die Vorstellung des Kanuns als ausformuliertem Regelwerk argu- mentieren. Der Kanun ist keine Gesetzessammlung, die über einen gewissen Zeitraum Gültigkeit hatte. Es gab keine Aufzeichnung von Normen und Regeln, die große Relevanz für die unmittelbare nordal- banische Praxis gehabt hätten. Die Verschriftlichung des Kanuns er- folgte durch Ethnographen und andere Gelehrte. Es hat deswegen keinen Sinn zu argumentieren, dass es den Kanun, wenn die Regeln der verschiedenen verschriftlichten Versionen des Gewohnheitsrechts heute nicht mehr bekannt sind, nicht mehr gibt. Eine Erklärung des Kanuns über den Habitus erlaubt seine Darstellung über die bloße Aufzählung von Regeln hinaus. Zum anderen kann durch den Habi- tus erklärt werden, warum sich der Kanun bis in die heutige Zeit er-

309 Schluss halten konnte. Es gilt, die Dialektik zwischen sozialem Feld und dem Habitus Kanun darzustellen. Interessant für die Betrachtung des Kanuns ist die materialistische Sichtweise der Volkskundler und Juristen im Sozialismus. Wenn man über die allzu offenkundigen ideologischen Erklärungsmuster hin- wegschaut, gibt es einleuchtende Aussagen zur Genese des Kanuns. Das Gewohnheitsrecht wird nicht Lekë Dukagjini, dem Zeitgenossen Skanderbegs im vierzehnten Jahrhundert, zugeschrieben, sondern als das Produkt einer langen Entwicklung der nordalbanischen Kultur innerhalb ihrer spezifischen sozio-ökonomischen Bedingungen inter- pretiert. Regional unterschiedliche Geschichte prägte die teils sehr verschiedenen lokalen Praktiken. Es gibt keinen einzelnen Schöpfer des mündlich tradierten Rechts, sondern es ist die logische Konse- quenz der nordalbanischen Geschichte. Diese Grundüberlegung greife ich auf, wenn ich den Kanun als Ha- bitus beschreibe. Der Habitus Kanun lässt sich auf einen kleinen Satz von Vorgaben reduzieren, die die Grundlage des praktischen Han- delns beschreiben. Der Kanun wird so zu einem Leitfaden für eine Vielzahl von Situationen. Der Habitus gibt Haltungen und Bewertun- gen vor, die sich aus den gesellschaftlichen Bedingungen erklären. Der Habitus Kanun ist jedoch kein ausformuliertes Regelwerk, das man wie in Gesetzbüchern auflisten und auf das man verweisen kann. Die- se Position wäre eine legalistische Sichtweise, das heißt, man würde von unseren Rechtsbegriffen ausgehen und diese, mehr oder weniger modifiziert, auf andere Gesellschaften und ihr Recht übertragen. Der Habitus besteht in von Individuen internalisierten Dispositio- nen. Über die Sozialisation wird der Akteur durch seine Gesellschaft geprägt, was auf sein gegenwärtiges und zukünftiges Handeln wirkt. Der Akteur verinnerlicht die Bedingungen des sozialen Feldes. Die Sozialisation des Individuums und damit die Inkorporation des Habi- tus in Nordalbanien erfolgt in seinem konkreten Umfeld, den geogra- phisch abgeschlossenen Dörfern, mit den kulturellen Werten der dort lebenden Gemeinschaft. Das soziale Feld ist empirisch über die grundlegenden Strukturen des Umfeldes, seine materiellen Bedingun- gen und die objektiven Machtbeziehungen fassbar. Zwischen Habitus und sozialem Feld besteht ein dialektisches Verhältnis. Der Akteur in

310 Der Habitus Kanun und seine Beständigkeit

Nordalbanien internalisiert die Strukturen seines sozialen Feldes, die ihm einen Denk- und Handlungsrahmen bieten und durch dessen Praxis er das soziale Feld stabilisiert, weil er dessen Strukturen über das Handeln im Rahmen des Habitus bestätigt. Aber wie konnte sich der Kanun bis nach dem Sozialismus erhalten? Bis 1944, dem Beginn von Hoxhas sozialistischem Regime, ist die Existenz des Kanuns gut belegt. Während der osmanischen Herr- schaft wurde den nordalbanischen fis weitgehende Autonomie ge- währt. Die osmanischen Machthaber begnügten sich mit einem Minimum an administrativer Eingliederung der Bergregionen in ihr Verwaltungssystem. Traditionelle Strukturen wurden von den Osma- nen anerkannt und oft erst über die fünfhundertjährige Geschichte der ›Europäischen Türkei‹ dauerhaft gefestigt. Nach den Balkankrie- gen blieb das Bergland bis zur Regentschaft Zogu I weitgehend unbe- helligt von den verschiedenen politischen Strömungen im Land. Die Nordalbaner konnten ihre soziale Organisation auch unter Zogu I be- wahren, der den fis viele Zugeständnisse machte, weil sie seinen Auf- stieg erst ermöglicht hatten. Die italienische und deutsche Besatzung Albaniens bis zum Zweiten Weltkrieg änderte wenig an der Situation in Nordalbanien. Im Gegenteil, die deutsche Wehrmacht schien die fis und ihre Ideologie zu respektieren. Interessant wird es, wenn es um die Frage geht, wie sich die fis-Beziehungen und der Kanun im Sozia- lismus erhalten konnten und wie das Gewohnheitsrecht die Jahre der totalitären Herrschaft überlebt hat. Die nordalbanischen fis hatten im sozialistischen Projekt Enver Hoxhas keinen Platz, zumal sie zum Teil Kriegsgegner gewesen wa- ren: Einige fis hatten sich im Zweiten Weltkrieg auf die Seite der Wehrmacht geschlagen und mit ihr zusammen gegen die Partisanen gekämpft. Die Ideologie des Kanuns war für die Sozialisten rückstän- dig und archaisch. Schon bald nach der ›Befreiung‹ von 1944 wurde versucht, dem Kanun die Grundlage zu entziehen. Hoxha ließ promi- nente Orte der nordalbanischen Kultur, wie beispielsweise den Wehr- turm und die Abtei von Orosh, zerstören, die als Monumente des Kanun-Systems bekannt waren. Im Verlauf der sozialistischen Ge- schichte Albaniens strebte das Regime die Zerschlagung der Großfa- milien an. Es wurden die großen Häuser der Familien niedergerissen

311 Schluss und kleine Wohneinheiten errichtet. Es kam zu Umsiedlungen in neu geschaffene Ortschaften. Die Emanzipation der Frau wurde vorange- trieben. Dies führte aber nur von ihrer Unterordnung innerhalb der Familie in eine neue, durch den Staat geprägte Abhängigkeit. Der Pat- riarch war nicht mehr der Haushaltsvorstand, sondern ›Onkel Enver‹. Das Regime versuchte, traditionelle Strukturen so aufzunehmen und umzudeuten, dass sie für die sozialistischen Machthaber von Nutzen waren. So sollte der Ahnenkult patriarchaler Familien durch einen auf Hoxha fixierten Kult ersetzt werden. Es scheint paradox, dass der Kanun von den Sozialisten regional be- kämpft, auf national-ideologischer Ebene jedoch gepflegt wurde. Nordalbanien wurde als der Geburtsort der albanischen Kultur be- trachtet und der Kanun als wichtiger identitätsbildender Faktor ein- geführt. Ursprünglich soll der Kanun in ganz Albanien ähnlich gewe- sen sein. Über diese Einheitlichkeit, die auch in anderen sozialen und kulturellen Bereichen gesucht wurde, stellte man die Albaner als ho- mogenes Volk dar. Der Kanun hatte es nach Meinung der Sozialisten der albanischen Bevölkerung ermöglicht, sich gegen die verschiede- nen ›fremden Besatzer‹ zu behaupten, so dass trotz jahrhundertelan- ger Fremdherrschaft die kulturelle Einheit erhalten blieb. Es ist zweifelhaft, ob das sozialistische Regime das soziale Feld des Kanuns — bestehend aus fis-Beziehungen, einer bestimmten Ideolo- gie und Wirtschaftsform, sozialer und topographischer Isolierung — so nachhaltig beeinflussen konnte, dass die Dialektik zwischen sozia- lem Feld und Habitus Kanun unterbrochen wurde. Sozialistische Quellen bestätigen bis in die 1980er Jahre, dass sich patriarchale Fami- lienstrukturen erhalten haben. Von der Relevanz gewohnheitsrechtli- cher Regelungen wurde noch in den 1970er Jahren berichtet. Vor allem in der Landwirtschaft konnten traditionelle Strukturen nicht stark genug entkräftet werden. Die Topographie Nordalbaniens und die geringe Menge fruchtbaren Bodens ließen selten landwirtschaftli- che Großbetriebe wie in der Ebene des Landes zu. Die kleinen nutz- baren Flächen wurden zwar in Kooperativen bewirtschaftet, diese setzten sich aber aus den vor Ort lebenden Großfamilien zusammen. So blieben patriarchale Familienstrukturen und kleinbäuerliche Land- wirtschaft in Nordalbanien ein wichtiger Faktor. Die Rahmenbedin-

312 Der Habitus Kanun und seine Beständigkeit gungen des Kanuns wurden nicht vollständig genug zerschlagen, und er konnte nach dem Fall des Sozialismus wieder aufleben. Im ersten Kapitel der Arbeit habe ich die Frage erörtert, wie sich der Ka- nun bis nach 1991, dem Ende des Sozialismus, erhalten konnte. Die Bestän- digkeit des Kanuns erklärt sich dadurch, dass die gesellschaftlichen Felder, die eine geringe soziale Differenzierung und wenig Eigendynamik aufwei- sen, in der Regel durch das Handeln der Menschen dauerhaft bestätigt wer- den. Der Habitus trifft immer auf Muster, die dem Rahmen seines Entstehungszusammenhanges verwandt sind. Dies trifft für die abgeschlos- senen Dörfer in Nordalbanien zu, die nur langsam den sozialen und infra- strukturellen Anschluss an den albanischen Staat finden. Der Kanun, dessen soziales Feld auch während des Sozialismus nicht dauerhaft entkräftet wer- den konnte, trifft stets auf ähnliche soziale Strukturen. Das soziale Feld des Kanuns müsste einschneidenden Veränderungen ausgesetzt werden, damit der Habitus Kanun von den Akteuren hinterfragt würde, nämlich dann, wenn seine Praxis nicht mehr mit den gegebenen sozialen Umständen har- moniert. In der Nähe der urbanen Zentren verhält es sich mit der Fortfüh- rung des Kanuns anders. Hier ist es erstaunlich, dass sich ein Habitus ähnlich dem Kanun in den Bergen auch in Orten wie Bathore finden lässt. Die städtische Gesellschaft ist komplexer, und es gibt unter- schiedliche, einander überschneidende soziale Felder. Der Habitus Kanun trifft nicht mehr ausschließlich auf Strukturen, unter denen er entstanden ist, sondern auf andere sozio-ökomische Rahmenbedin- gungen, unter denen er nur wenig Sinn entfaltet. Die Logik des Ka- nuns wird hier ständig hinterfragt und auf die Probe gestellt. Dass der Kanun in Orten wie Bathore ein wichtiger sozialer Faktor ist, liegt ei- nerseits an der Trägheit des Habitus. Das Denken und Handeln ver- läuft noch nach dem ursprünglichen Verhaltensmuster, obgleich der Habitus nicht mehr in Bezug zu den neuen Bedingungen steht, wie sie in den großen Siedlungen vor den Toren Tiranas anzutreffen sind. An- dererseits haben staatliche Behörden es noch nicht geschafft, in Batho- re nachhaltig ihre Regeln durchzusetzen. Die Einwohner sind weitgehend auf sich selbst gestellt. Fis-Beziehungen, die Logik der Ehre und andere Themen des Kanuns wie besa, Gastfreundschaft und die Vermittlung durch Älteste sind in Bathore wichtige Aspekte des

313 Schluss sozialen Lebens. Die Menschen in Bathore sagen, der Kanun funktio- niere hier nicht, aber dennoch sei er wichtig. Die Trägheit des Habitus ordnet, obwohl der Kanun außerhalb Nordalbaniens gewissermaßen ›ins Leere‹ laufen müsste, ein über Migration neu erschlossenes sozia- les Feld, weil sich dem Habitus wenig in den Weg stellt. Man muss zwischen einem engeren und einem weiteren Kanunbegriff unterscheiden. Im weiteren Sinne kann man den Kanun mit spezifischen Wertvorstellungen (besa, Ehre), Normen und Regeln des sozialen Han- delns in Nordalbanien allgemein beschreiben. Der Kanun bezeichnet in diesem Fall gesellschaftlich adäquate Verhaltensweisen, ob es nun um ehrvolles Verhalten oder die Heiratspraxis mit der Sitzordnung der Gäste am Hochzeitsbankett geht. Er gilt für Gastfreundschaft wie für Land- wirtschaft oder Erbschaftsregeln. Der Habitus Kanun besteht als in Dis- positionen des Handelns verinnerlichtes soziales Feld, das durch seine spezifisch nordalbanischen sozio-ökonomischen Bedingungen und seine kulturellen Wertvor stellungen geprägt ist. Kanun in einem engeren Sinne, und in dieser Form wird er in der Lite- ratur zu Albanien meist besprochen, bezeichnet einen Komplex von Aussagen zu deviantem Verhalten. Durch stete Heraushebung der meist in Sprüchen ausgedrückten Normen zu sozialem Verhalten und gesell- schaftlichen Strukturen hob sich eine Ansammlung von Erklärungen aus der alltäglichen Kommunikation heraus. Es entwickelte sich jedoch kein abstraktes Recht, sondern eher von der Gesellschaft als besonders he- rausgestellt empfundene Normen der sozialen Ordnung. Wenn man Ka- nun nur in diesem Sinne versteht, dann ist es heutzutage kaum mehr möglich, von einem praktizierten albanischen Gewohnheitsrecht zu sprechen. Sowohl im Sozialismus als auch in den Jahren danach griff der Staat deutlich in den Bereich dieser Normen ein und verdrängte sie durch seine Regeln. Wenn man von einem Gewohnheitsrecht Kanun im weite- ren Sinne spricht — mit der größeren Betonung auf ›Gewohnheit‹ als auf ›Recht‹ —, dann kann in weiten Teilen Nordalbaniens und auch in urba- nen Zentren wie in Bathore die Praxis des Kanuns konstatiert werden. Die Mündlichkeit des Kanuns Die ethnologische Sichtweise auf Kommunikation zeichnet sich da- durch aus, nicht alleine die Kommunikationsmedien in das Zentrum

314 Die Mündlichkeit des Kanuns der Betrachtung zu rücken. Dies beschränkt den Blick auf den unmit- telbaren Einfluss, den ein Medium auf eine Botschaft hat. Vielmehr gilt es, das Medium als Teil eines komplexen sozialen Zusammenhan- ges zu verstehen. Kommunikationsmedien werden damit Teil eines allgemeinen kulturellen Prozesses der Kommunikation. Technozen- trische und damit medienzentrierte Sichtweisen auf Kommunikation erwecken häufig den Eindruck einer Reduzierung der Kommunikati- on einer Gesellschaft auf das untersuchte Medium und verlieren den sozialen Prozess aus dem Blick, dessen Teil das Medium ist. Kommunikation wurde in dieser Arbeit als ›performance de la cul- ture‹ (Winkin) eingeführt. Ich zeigte die spezifische Form kultureller Ausdrucksweisen am Beispiel des mündlich überlieferten nordalbani- schen Gewohnheitsrechts. Das heißt, es ging um den Kommunika- tionsstil des Kanuns, der durch die Kommunikationsverhältnisse strukturiert wird. Der Kommunikationsstil ist kein genauer Wertmaßstab oder etwa eine festgelegte Norm. Der Stil ist ein grundlegendes, in einem be- stimmten Feld überall mitschwingendes Thema. Der Stil ist nicht in jedem Ausdruck in gleicher Weise vorhanden, sondern in nicht präzi- se festgelegten Leitlinien. Der Stil wird unabgesprochen allgemein praktiziert. Aus Sicht der Kommunikation ist der Stil die Summe an Erfahrungen der kommunikativen Praxis innerhalb bestimmter Kom- munikationsverhältnisse. Diese konstituieren sich aus dem Netzwerk objektiver Beziehungen eines sozialen Feldes, das durch spezifische natürliche und technische Bedingungen charakterisiert wird. Damit reflektiert der Kommunikationsstil die gesellschaftliche und gruppen- spezifische Form der Kommunikation. Die Kommunikationsverhält- nisse werden durch den Rahmen (objektiv gegebene Erfahrungs- grenzen), die Struktur (innere Machtbeziehungen) und die Ideologie (übergreifende Wertvorstellungen) bestimmt. Das Zusammenspiel zwischen Kommunikationsverhältnissen und Kommunikationsstil verhält sich analog zu der Beziehung zwischen sozialem Feld und Habitus. Somit beschreibt der Kommunikations- stil nicht die Praxis, sondern Dispositionen des kommunikativen Handelns. Die vorliegende Arbeit befasste sich nicht mit bestimmten kommunikativen Prozessen, dargestellt an konkreten Fallbeispielen.

315 Schluss

Der Anspruch bestand vielmehr darin, die Prozessualität des Kanuns unter besonderer Berücksichtigung der Kommunikation herauszuar- beiten. Der Rahmen der Kommunikationsverhältnisse prägt die konkrete und konsensuale Dimension des mündlichen Kommunikationsstils auf drei Arten. Erstens gibt es eine natürlich-geographische Begren- zung der Kommunikation. Die Topographie Nordalbaniens wird durch die bis zu 2.600 Meter hohen ›Albanischen Alpen‹ bestimmt. Das Gebiet ist durch hohe Gebirgsketten und tiefe Täler, Senken und Schluchten geprägt. Die wenig zahlreiche Bevölkerung siedelt weit verstreut in den Tälern. In den Wintermonaten sind die Dörfer nur schwer erreichbar. Die territoriale Ordnung der Bevölkerung ist meist geprägt durch einzelne Weiler, die sich neben ihren Feldern befinden. Die Landwirtschaft wird selten von großen Betrieben bestimmt. Meist sind es die Familienhaushalte, die das Land vor ihrer Haustüre überwiegend für ihre eigenen Zwecke bewirtschaften. Die Infrastruktur ist, trotz großer Bemühungen in den letzten Jah- ren, immer noch dürftig. Selbst auf gut ausgebauten, schmalen Straßen mit unzähligen Serpentinen ist die Reise im Gebirge mühsam und zeitintensiv. Die natürlichen Bedingungen Nordalbaniens führen dazu, dass Kommunikation überwiegend auf regional begrenztem Raum stattfindet. Die hauptsächliche soziale Bezugsgruppe liegt auf der Weiler- oder Dorfebene. Von zentraler Bedeutung ist die persön- liche Kommunikation in den isolierten Ortschaften. Es ist eine ›fa- ce-to-face‹-Gesellschaft, die auf den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zum Erhalt der Lebensgrundlage angewiesen ist. Elek- tronische Kommunikationsmedien wie das Telefon sind in den Berg- regionen wenig zuverlässig. Telefone fallen ständig aus, es sind nicht überall Leitungen vorhanden und die Handynutzung ist meist nur in größeren Ortschaften oder an wichtigen Straßen möglich. Zweitens sind soziale und politische Faktoren bestimmend. Die al- ten Verwaltungsgrenzen aus osmanischer Zeit sind heute noch prä- sent. Teilweise entsprechen aktuelle Verwaltungseinheiten den alten bajrak. Dies liegt manchmal daran, dass die Topographie natürliche Grenzen vorgibt, die schon von den Osmanen berücksichtigt worden sind. Alte Grenzen, innerhalb derer bestimmte fis das Sagen hatten,

316 Die Mündlichkeit des Kanuns sind weiterhin wichtiger Bestandteil der kulturellen Einteilung der Landschaft. Außer an Gebirgsketten und Flüssen werden die alten Gebietseinteilungen auch an prominenten Orten wie Wehrtürmen, Kirchen oder traditionellen Versammlungsplätzen deutlich gemacht. Es sind ›Erinnerungsfiguren‹ (Assmann), die auf vermeintlich bessere Zeiten verweisen. Die heutige lokale Verwaltung muss mit diesen tra- ditionellen Vorstellungen konkurrieren. Dies ist schwierig, weil die Verwaltungsstrukturen nach dem Fall des Sozialismus zusammenge- brochen waren und sich erst in den letzten Jahren neu entwickeln konnten. In den regionalen Behörden gibt es viel Unwissenheit darü- ber, wie staatliche Verwaltung zu funktionieren hat. Es gibt Anschul- digungen von Korruption und Vetternwirtschaft. Das Erheben von Ansprüchen auf Verwaltungsstellen ist häufig eher von der Person und vorhandenen Beziehungen als von vorgegebenen Regeln abhän- gig. NRO im Bereich der Konfliktvermittlung festigen die nebenstaatli- chen Praktiken durch Förderung traditioneller Mediationsformen. Diese gesetzlich anerkannte Praxis der Vermittlung wird vor Ort als eine Lösung im Sinne des Kanuns verstanden. Die Polizei und andere staatliche Stellen akzeptieren nebenstaatlich erfolgte Vermittlungen, weil sie die Dauerhaftigkeit solcher Lösungen erkannt haben und da- mit einer eigenen Beteiligung an vielen kleinen Konflikten aus dem Weg gehen. Für die Kommunikation bedeutet dies die Betonung der ›nähesprachlichen Dimension‹. Die Dorfgesellschaft ist überschaubar. Es gibt kaum Rückzugsräume für Individuen. Das soziale Leben ist ständige Beziehungsarbeit. Staatliche Regeln, die eigentlich unabhän- gig davon gelten sollen, ob man eine Amtsperson kennt, mit ihr ver- wandt ist oder nicht, werden wie gewohnheitsrechtliche Praktiken aushandelbar. Im Kanun sind alle Konflikte Einzelfälle. Es gibt keinen externen Text oder Präzedenzfälle, auf die man als Referenz verweisen könnte. Konfliktlösungen sind nicht allgemeingültig sondern das Re- sultat regional begrenzter Prozesse. Jeder Konflikt wird persönlich ausgehandelt. Gesetzliche Regelungen und Verwaltungspraxis in den nordalbanischen Regionen perpetuieren die Logik des Kanuns. Die Familien handeln ihre Konflikte und weitere Bereiche ihres sozialen Lebens untereinander aus. Lösungen können nur im Konsens beste-

317 Schluss hen, der in einem Prozess erreicht wird, der auf persönlichen Gesprä- chen beruht. Kommunikation ist in diesen Regionen auch immer Kooperation. Drittens spielen spezifisch nordalbanische kulturelle Rahmenbedin- gungen eine Rolle, die auch im Kontrast zum Rest des Landes stehen. Einerseits werden die Nordalbaner von Mittel- und Südalbanern oft- mals nur belächelt. Sie werden als ›primitive Bauern‹ gesehen, die beim kleinsten falschen Wort zur Waffe greifen würden. Die Nordalbaner werden sozial ausgegrenzt. Andererseits sind die Nordalbaner stolz auf ihre relative Autarkie bis zur ›Befreiung‹ Albaniens 1944. Eine ge- wisse ›Staatsferne‹ der Bevölkerung erweckte in meinen Interviews ei- nen nahezu programmatischen Charakter. Behörden und Gesetze aus dem fernen Albanien werden als etwas Fremdes gesehen. Man lebt in seinem Dorf oder seiner Region und bleibt, trotz teilweise sehr schwieriger Lebensumstände, gerne in seinen traditionellen Familien- netzwerken. Innerhalb dieser Beziehungsgeflechte findet der Großteil der kommunikativen Beziehungen statt. Das kulturelle Erbe wie der Kanun wird in Nordalbanien in der Gemeinschaft als wichtig angese- hen. Man löst Konflikte sipas kanunit (nach dem Kanun). Gerichtliche Verfahren werden selten als sinnvoll erachtet. Es kann passieren, dass Fälle im fernen Shkodra verhandelt werden müssen. Doch in den Au- gen vieler Nordalbaner hat jede Region ihre eigenen Traditionen, die auch Unterschiede im Kanun und damit in der Konfliktlösung bedeu- ten. Die Struktur der Kommunikationsverhältnisse wird einerseits durch Patriarchalität und Familien- beziehungsweise fis-Beziehungen bestimmt und andererseits durch die lokale Praxis staatlicher und überregionaler Behörden und Organisationen. Diese wirken auf den konsensualen und univokalen Bereich des Kommunikationsstils ein. Die patriarchalen Strukturen bringen eine doppelte Machtbeziehung mit sich. Sie besteht in der Macht der Männer über die Frauen und der Autorität der Alten über Jüngere. Die Bedeutung des Familienober- hauptes ist im ländlichen Nordalbanien noch stark. Besonders wenn die Söhne sich noch keinen eigenen Haushalt leisten können, ist die Abhängigkeit vom Stammhaus groß. Frauen verlassen das Haus sel- ten. Das öffentliche Leben findet ohne sie statt. Heiraten werden in

318 Die Mündlichkeit des Kanuns der Regel nicht mehr arrangiert, doch ohne Zustimmung der Eltern kann eine Frau sich nicht vermählen. Wenn Frauen arbeiten gehen, dann können sie ihr Gehalt selten für sich behalten. Sie geben es dem Haushaltsvorstand. Während der fis in Nordalbanien meist keine greifbare Kategorie ist, gewinnt die Bruderschaft größere Bedeutung und entwickelt sich zur wichtigsten Bezugsgruppe. Der fis stellt ein großes Beziehungsnetz- werk dar. Dies kann für Arbeitsmöglichkeiten, Politik oder Verwal- tungsangelegenheiten relevant sein. Oder der fis trifft sich bei den Schutzpatronfesten des fis oder bei Ahnenkulten und feiert die ge- meinsame Abstammung. Die fis sind jedoch meist zu groß und zu zer- splittert, um eine reale Größe darzustellen. Dennoch haben einige fis, die in der Vergangenheit großes Prestige hatten, immer noch einen gu- ten Namen und öffentlichen Einfluss. Das Prestige eines fis ergibt sich aus der zahlenmäßigen Größe oder bei einer Vorherrschaft in einer Region. Die Vorsteher solcher großen fis werden auch heute respek- tiert, mächtig jedoch sind sie nicht. Das Gleiche gilt für fis, die in der Vergangenheit den bajraktar gestellt haben und diese Würde immer noch in ihrer Familie tragen. Das Amt gibt es nicht mehr, doch inoffi- ziell sind dies immer noch bajraktar-Familien mit einem gewissen Prestige. Die wichtigsten Personen im heutigen Nordalbanien sind nicht mehr die Vorsteher der fis oder von bestimmten Familien. Es sind viel- mehr die Ältesten. Dies sind Personen, die ihre Position nicht durch irgendeine Erbfolge erlangen, wie es in der Vergangenheit häufig der Fall war. Heutzutage sind es Menschen, die unabhängig von ihrer fa- miliären Herkunft in der Gesellschaft einen guten Ruf haben. Sie er- teilen gute Ratschläge, verhalten sich neutral, kennen den Geist des Kanuns und auch die staatlichen Vorgaben. Sie argumentieren beson- nen und setzen sich dafür ein, das soziale Gleichgewicht der Gemein- schaft zu erhalten. Diese Ältesten können auch Vorsteher ihrer fis, Bruderschaften, Weiler oder Dörfer sein, aber es sind auch einfache Personen, die kein traditionelles oder staatliches Amt innehaben. Sie sind die zentralen Kommunikationsträger im nordalbanischen Dorf. Sie stellen Verbindungen zwischen Familien oder Bruderschaften und Weilern her. Sie stehen zwischen traditionellen Werten und der sich

319 Schluss wandelnden Gesellschaft. Durch ihre Tätigkeit wird die nähesprachli- che Kommunikation gefördert. Sie diskutieren mit Haushaltsvorstän- den oder untereinander während der Versammlungen des Dorfes. Die Zeremonialität, mit der die Versöhnungen oder Konfliktlösun- gen öffentlich aufgeführt werden, bietet ein gutes Beispiel für eine ty- pische mündliche Mehrkanal-Kommunikation. Das vielschichtige Zusammenspiel von zahlreichen Manifestationsebenen besteht aus Gesten, Symbolen und gewählten Worten. Besonders deutlich wird dies bei der Blutracheversöhnung. Wenn sich zwei in einer Fehde ste- hende Familien mit Hilfe der Ältesten auf eine Versöhnung einigen, kann die Blutrache beendet werden. Nach meist langwierigen Ver- handlungen steht am Ende des Prozesses eine Zeremonie, die den Schlusspunkt der Versöhnung bildet. Der Schuldige kniet während der Abschlusszeremonie mit gefesselten Händen vor dem Hausherrn der Familie des Toten. Erst nach zahlreichen Überzeugungsversuchen der Ältesten oder des Pfarrers, die immer wieder vom Hausherrn zu- rückgewiesen werden, ringt Letzterer sich endlich sehr widerwillig durch, dem Schuldigen die Fesseln zu lösen und ihm zu verzeihen. Am Ende gibt es ein gemeinsames Essen oder man stößt nur gemeinsam mit raki oder Kaffee an. Wichtig ist die Präsenz von Zuschauern und damit von Zeugen und Bürgen. Bedeutende Persönlichkeiten halten kurze Ansprachen und unterstreichen damit den Wert der Zeremonie. Die abschließende Zeremonie nach Konfliktlösungen ist keinesfalls die Versöhnung selbst. Die Zeremonie erfolgt erst dann, wenn die vorhergehende Vermittlung erfolgreich war, und beide Konfliktpar- teien sich mit der Lösung einverstanden erklärt haben. Die Versöh- nungszeremonie nach einer vermittelten Blutrache mag daher wie ein übersteigertes Schauspiel wirken, das eigentlich nicht erforderlich ist, weil die Lösung schon feststeht. Es ist in der Tat eine Inszenierung, die aber einen integralen Bestandteil des Lösungsprozesses bildet. Die Lösung muss öffentlich aufgeführt werden. Sie wird auf diese Weise der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Die Konfliktparteien erkennen öffentlich an, dass sie mit der Lösung einverstanden sind und dass die Parteien sie respektieren. Zeugen aus der Lokalpolitik, von Medien und manchmal auch aus dem Ausland unterstreichen den Wert der Veranstaltung und der erreichten Ergebnisse.

320 Die Mündlichkeit des Kanuns

Die Familien äußern häufig nur eine Meinung, die durch den Haus- haltsvorstand vor der Dorföffentlichkeit vertreten wird. Das Indivi- duum spielt in diesem Fall keine herausragende Rolle. Es steht hinter der Familienmeinung zurück, die meist von den ältesten Männern im Haus vorgegeben wird. Damit tritt die Familie mit einer Stimme (uni- vokal) auf. Auf Weiler- und Dorfebene wird ebenfalls eine einheitli- che Meinung angestrebt. Dies ist erforderlich, damit das soziale Miteinander im Dorf nicht außer Kontrolle gerät. Konflikte stören den landwirtschaftlichen Alltag, der auf Grund der schwierigen natür- lichen Bedingungen häufig mit großen Anstrengungen verbunden ist. Die vielfach isoliert lebenden Haushalte lösen Konflikte mit ihren Nachbarn auf der Basis von Kompromissen, in denen sich beide Streitparteien wiederfinden müssen. Die Konfliktlösungen werden individuell über Älteste vermittelt. Diese Personen sind keine Schiedsrichter, die sich auf bestimmte Regeln berufen können. Es sind Vermittler, die die Kommunikation zwischen den Streitenden auf- rechterhalten und die Gespräche so zu leiten versuchen, dass eine Lö- sung greifbar wird. Die Ältesten können Kompromisse vorschlagen, auf deren Grundlage der Konflikt beendet werden kann. Der Lö- sungsprozess besteht in einem informellen Abwägen der verschiede- nen Argumente. Man appelliert an die Ehre oder an die gute Nach- barschaft, und die Ältesten versuchen in vielen Gesprächen, den Kon- flikt zu dämpfen, bevor er nicht mehr zu schlichten ist, oder sogar eine Blutrache ihren Anfang nimmt. Die lokale Präsenz des Staates durch Behörden, Verwaltung oder Polizei ist von Region zu Region sehr unterschiedlich. Generell gilt, dass die Polizei schon personell nicht in der Lage ist, ihren Verant- wortungsbereich nachhaltig zu überwachen. Dies fördert die Tendenz der Dörfer, nicht auf staatliche Strukturen zu bauen, sondern die von Verwandtschaft und Freundschaftsbeziehungen geprägten Netzwer- ke weiter zu pflegen. Der Gemeindevorsteher spielt eine wichtige Mittlerrolle zwischen den staatlichen Behörden und den gewohn- heitsrechtlichen Praktiken. Er ist zwar offiziell gewählt, doch weiter- hin in den traditionellen Beziehungen verwoben. Häufig wird der Gemeindevorsteher nur gewählt, wenn er seinen großen fis im Rücken weiß. Er vermittelt auch in Konflikten und versucht, die Streitigkeiten

321 Schluss

über den Kanun zu lösen. Kommt es zu einem Kompromiss, dann wird seine offizielle Stellung wichtig, denn über sein Amt kann er viele Lösungen offizialisieren und auf der Verwaltungsebene bestätigen. Über das Pflegen solcher Praktiken wird der Kanun dauerhaft gefes- tigt. Die Praxis des Kanuns wird auf diesem Weg von offiziellen Stel- len gefördert. Dies wird auch durch die erwähnten NRO erreicht, die im Bereich der Konfliktvermittlung arbeiten. Gesetzlich institutiona- lisiert, vermitteln sie zusammen mit örtlich ansässigen Ältesten, die man für ihre Organisationen gewinnen konnte. Die Ältesten vermit- teln weiter nach ihrer üblichen Taktik, sind über die Zughörigkeit zu einer NRO jedoch offizialisiert worden. Dies verstärkt ihre Position. Ähnlich verhält es sich mit den Gesetzen zur Landreform nach dem Sozialismus. Die Ländereien werden zwar offiziell an Individuen ver- teilt, doch die Gesetzgeber wollten die Familie als Wirtschaftseinheit mit ihrem ohnehin begrenzten nutzbaren Boden erhalten. Man über- gab das dekollektivierte Land deswegen stellvertretend dem Haus- haltsvorstand. Über diese Verteilungspraxis erhalten Familien und ihre patriarchale Struktur gesetzliche Anerkennung. Die Ideologie setzt sich aus grundlegenden Denkkonzepten zusam- men, die den Kanun und seine Kommunikation bestimmen. Die pluri- mediale und zeremoniale Prägung der mündlichen Kommunikation wird zum großen Teil durch die Ideologie des Kanuns gefördert. Es bestehen die ideologischen Leitlinien, die stark durch den Kanun ge- prägt sind. Man ist in Nordalbanien der Überzeugung, dass der Ka- nun in den Jahren nach dem Fall des Sozialismus 1991 und besonders während der Phase der Anarchie von 1997 die Bevölkerung vor Schlimmerem bewahrt habe. Von einem Tag zum anderen waren Ordnungskräfte und Militär quasi nicht mehr vorhanden. Die Praxis des Kanuns habe im Norden verhindert, dass es zu Morden oder Plün- derungen gekommen sei. Verschiedene Staats- und Regierungsformen seien gekommen und gegangen, doch der Kanun habe alles überlebt und die Bevölkerung vor dem Chaos bewahrt. Viele Aspekte des Ka- nuns seien zwar überholt, so betont man in Nordalbanien häufig, doch in schwierigen Zeiten biete er die einzige Stütze und Sicherheit. Die Praxis des Kanuns und der mündlichen Kommunikation bildete im postsozialistischen Chaos eine soziale Konstante und erhielt auf

322 Die Mündlichkeit des Kanuns diese Weise neuen Aufwind. Den Kanun weiterhin anzuwenden be- deutet nicht, einer fortdauernden Praxis nach einem vorliegendem Re- gelwerk nachgehen. Es ist die Aufrechterhaltung eines kommuni- kativen Beziehungsgefüges. Dieses ist gekennzeichnet durch an Per- sonen gebundene mündliche Kommunikation innerhalb des hier ge- schilderten sozio-ökonomischen Umfeldes und spezifischer ideolo- gischer Leitlinien. Ein wichtiges ideologisches Merkmal ist die Ehre. Die Ehre einer Person ist eine öffentliche Angelegenheit, denn die Dorfgemeinschaft verleiht dem Individuum sein Prestige. Die Logik der Ehre bedingt eine besondere Form der Kommunikation. Es gilt in der Öffentlich- keit sein Gesicht zu wahren. Eine Konfliktaustragung vor Gerichten, die auf der Grundlage von Gesetzen entscheiden, berücksichtigt sel- ten, dass es bei Lösungen in Nordalbanien nicht darum geht, dass die eine Partei Recht zugesprochen bekommt und die andere nicht. Häu- fig ist es wichtig, über ein behutsames beidseitiges Annähern der Kon- fliktparteien einen Kompromiss zu erwirken, in dem beide Parteien ihr Gesicht wahren können und nicht eine Partei allein den Fall ver- liert. In dieser Art Vermittlung spielt die Form, in der sie geführt wird, eine große Rolle. Selbst wenn es große Streitigkeiten gibt, sind Tref- fen, die mit der Hilfe von Ältesten vermittelt werden, sehr förmlich. Man betont den gegenseitigen Respekt und den Willen, das Problem zu lösen. Die Vermittler gehen behutsam vor, versuchen vorsichtig zu erkunden, zu welchen Zugeständnissen die Parteien bereit sind. Nach einer erfolgreichen Vermittlung setzt man sich zusammen. Zeugen und Bürgen bestätigen den Kompromiss, den die Konfliktparteien und Vermittler bei Kaffee, raki und Zigaretten alle nacheinander wür- digen, wobei sie die Qualität der Lösung betonen. Besa in ihrer vielschichtigen Bedeutung wie Ehrenwort, Treue, Ver- trauen, Glaube oder Zusicherung auf freies Geleit und Burgfrieden ist so etwas wie ein kulturelles Gewissen der Nordalbaner. Über die besa werden Handlungen oder Versprechen, die wichtige Aktionen im Ka- nun darstellen, gewissermaßen rückversichert. Besa ist ein schwer zu bestimmender Oberbegriff, gerade auch sein Zusammenspiel mit der Logik der Ehre ist nicht sehr deutlich. Der Eid bei Diebstahl und Landkonflikten steht in Zusammenhang mit der besa. Über die besa

323 Schluss erhalten mündliche Aussagen das notwendige bedeutungsstiftende Fundament. Öffentlich ausgedrückte Worte müssen mit Bedacht ge- wählt werden. Reden sind keine flüchtigen Meinungsäußerungen, sondern Aussagen, die im ganzen Dorf zu hören sind. Mit unbedach- ten Aussagen setzt man seine Ehre aufs Spiel. Der Eid ist ein Beispiel für die orale Kommunikation und ihre Be- deutung. Eine kleine Anzahl von Worten scheint auszureichen, um sich von Anschuldigungen der Dorfgemeinschaft loszusagen. Ein Verdächtiger schwört in der Anwesenheit von Bürgen und Zeugen, eine Tat nicht begangen zu haben. Damit erklärt der Verdächtige öf- fentlich, nicht schuldig zu sein und nichts von der Tat zu wissen, derer man ihn verdächtigt. Danach darf er nicht mehr beschuldigt werden. Das ideologische Fundament des Eides ist neben der Ehre, die man bei einem Meineid verliert, die besa. Sie ermöglicht eine friedliche und freundschaftliche Beziehung. Ein Meineid gefährdet die gemein- schaftliche Beziehung, weil man ihr Zusammenspiel aus dem Gleich- gewicht bringt. Sicherlich bilden in den letzten Jahren Dorfstrukturen in Nordalbanien vielerorts keine harmonierenden Netzwerke mehr. Besa als Konzept bleibt jedoch erhalten und man gefährdet sie nicht leichtfertig. Wie häufig in Oralkulturen spielt auch in Nordalbanien materielle Kultur als Kommunikationsträger eine wichtige Rolle. Während des Ablegens des Eides legt man die Hand auf einen Gegen- stand wie die Bibel, einen besonderen Stein oder ein anderes wichtiges Objekt. Ferner gibt es in Verhandlungen das Pfand. Wenn man einen Konfliktfall den Ältesten zur Vermittlung überlässt, wird dies häufig durch ein Pfand symbolisiert. Die Konfliktparteien legen mit dem Pfand den Konflikt in die Hände der Ältesten. Das Pfand erhalten die Beteiligten erst nach der Lösung des Falles zurück. Mit der besa und dem Ehrbegriff hängt ebenfalls das dichotomische Weltbild in Nordalbanien zusammen. Kategorien wie Ehre und Schande, Freund und Feind oder ›worttreu‹ und ›wortbrüchig‹ geben eine allgemeine Matrix vor, in welche viele Aspekte des sozialen Le- bens einzuordnen sind. Die Kommunikation wird stark davon be- stimmt, ob man zur ›in-group‹ gehört und so von den persönlichen Netzwerken profitieren kann. Gegenüber der ›out-group‹ ist man zu- rückhaltend und wachsam, oder man kommuniziert überhaupt nicht

324 Der Staat und der Kanun mit ihr. Zur ›out-group‹ gehört man, wenn man entehrt wird und da- mit ein ›schwarzes Gesicht‹ hat. Die entehrte Person muss sich erst das Gesicht ›waschen‹, um wieder zur Gemeinschaft zu gehören. Diese soziale Ächtung, die auch eintritt, wenn sich Familien nicht an die Re- geln der Dorfgemeinschaft halten, ist streng genommen das einzige Druckmittel oder die einzige Form einer Strafe, die der Dorföffent- lichkeit heutzutage bleibt. Soziale Ächtung bedeutet Kommunika- tionsverweigerung mit den betroffenen Personen. Diese soziale Exklusion wirkt in einer Gesellschaft, die auf nähesprachliche Kom- munikation aufgebaut ist, sehr nachhaltig. Das ist vor allem in abgele- genen Dörfern der Fall, in denen es keine alternative Kommunikation zu den vorherrschenden Beziehungen gibt. Soziale Ächtung bedeutet hier den sozialen Tod. Der Staat und der Kanun Das Verhältnis von Kanun und Staat wurde in den vergangenen zwei Abschnitten dieses Schlusskapitels deutlich. Beispielsweise wurde die Position des Gemeindevorstehers zwischen den Praktiken des Ka- nuns und den Regeln des Staates oder der von den Behörden initiierte regionale Umgang mit dem Landverteilungsgesetz beschrieben. In den letzten Absätzen dieser Arbeit möchte ich mich noch einmal mit der Praxis der NRO, die im Bereich der nebenstaatlichen Konfliktme- diation arbeiten, und der durch Politiker und Wissenschaftler vertre- tenen staatlichen Perspektive auf den Kanun beschäftigen. Peter Waldmann (2001) diskutiert das Wiederaufleben der Blutra- che am Beispiel Albaniens und vergleicht dieses ›archaische Gewalt- motiv‹ mit dem Phänomen der Rache in Kolumbien. Er stellt sich am Ende seines Textes die Frage, wie man den ausufernden Fällen von Blutrache Herr werden könnte. Ein entscheidendes Problem von Staaten wie Albanien ist, so Waldmann, dass es ihnen bis heute meist nicht gelungen ist, Gewaltausübung innerhalb der staatlichen Struk- turen zu monopolisieren. Wie sollte dies auch erreicht werden? De- mokratische Nationalstaaten haben heutzutage kaum Möglichkeiten, ihren Machtanspruch innerhalb ihrer Grenzen in allen Bereichen durchzusetzen. Das liegt an Gründen wie Glaubens- und Loyalitäts- verlust der Bürger an den Staat, wiedererstarktem Liberalismus,

325 Schluss grenzüberschreitenden modernen Technologien oder am Rückgang von zwischenstaatlichen Kriegen, die nach innen disziplinierend und mobilisierend wirken.1 Es ist kaum vorstellbar, schreibt Waldmann, dass Industriestaaten oder NRO wie Amnesty International es dulden würden, wenn die Regierung eines Entwicklungslandes auf ihrem Ge- waltmonopol genauso drastisch und brutal bestünde, wie dies im neunzehnten Jahrhundert in Westeuropa geschehen ist. — Wie ent- kommen wir diesem Dilemma, dass ein Nationalstaat keine unter- schiedlichen Rechtsformen dulden, diese aber auch nicht mit der erforderlichen Nachhaltigkeit bekämpfen kann, so dass der Zustand dauerhaft aus der Welt geschafft würde? Ich habe deutlich gemacht, wie problematisch das Verhältnis der Wissenschaftler, Politiker und der öffentlichen Meinung in der albani- schen Hauptstadt Tirana zur nordalbanischen Kultur ist. Der Kanun in seiner heutigen Form wird kaum anerkannt, das heißt, es herrscht die Meinung vor, dass das soziale Handeln in Nordalbanien nichts mit dem großen, alten Kanun zu tun habe. Was die Nordalbaner Kanun nennen, so doziert man häufig in der Hauptstadt, sei nur ein billiger Abklatsch des historischen Gewohnheitsrechts und entbehre jeglicher Rechtfertigung. Gewissen Tugenden aus dem alten Kanun wird je- doch eine große nationale Bedeutung beigemessen. Man betont die kulturellen Werte wie Ehre, besa, Tapferkeit, Gastfreundschaft, Ver- mittlung und Versöhnung.2 Auf Tagungen in der Hauptstadt zum Thema Kanun, an denen auch die politische Elite des Landes teil- nimmt, wird der Kanun als Fluch der Vergangenheit beschrieben, der den Weg in die ersehnte Moderne versperre. Nordalbanische Denk- weisen werden als primitiv und zurückgeblieben dargestellt. Oft wer- den ähnliche Argumente verwendet, wie sie schon im Sozialismus gegenüber den Nordalbanern und dem Kanun vorherrschten. Häufig sind es die gleichen Personen, gerade in der Wissenschaft, die solche Meinungen vertreten, wenn auch nicht mehr so drastisch. Interessant ist die Form der Argumentation, die verwendet wird, um die Wichtigkeit der angesprochenen Werte der nordalbanischen Kultur zu betonen, ohne jedoch den Kanun als positiv darstellen zu

1 Waldmann 2001: 188. 2 Siehe Elezi 1997a. 326 Der Staat und der Kanun müssen. Beispielsweise wird argumentiert, die Tradition der Verzei- hung oder Versöhnung sei in vielen Variationen des Kanuns zu finden. Verzeihung gehöre jedoch nicht zum Kanun, sondern spiegele ledig- lich die Tradition des albanischen Volkes wider.3 Nach dieser Argu- mentation wirkt der Kanun wie ein von außen eingeführtes Regel- werk, das die guten Traditionen der Albaner verbirgt. Nachvollziehbarer ist das am häufigsten angeführte Argument, dass es in einem demokratischen Staat nur ein für alle Bewohner gleicher- maßen geltendes Recht geben sollte. Aus dieser Sichtweise muss der Kanun ein Dorn im Auge der Juristen und Politiker sein. Es wird in Albanien häufig gefordert, dass der Staat sein juristisches Gewicht voll einbringe und beispielsweise Morde aus Blutrache hart nach dem Ge- setz bestraft werden müsse.4 Staatliche Gesetze und Richtlinien soll- ten über den Polizeiapparat und die Gerichte überall im Land mit Macht durchgesetzt werden. Doch meist muss man frustriert einge- stehen, dass selbst das sozialistische Regime es nicht geschafft habe, das Gewohnheitsrecht dauerhaft zu beseitigen. Und den Machtha- benden in dieser Zeit kann man nicht den Vorwurf machen, sehr zim- perlich gewesen zu sein. Die Mündlichkeit des Kanuns habe ich in der Arbeit ausführlich dargestellt. Der Unterschied zwischen Gewohnheitsrecht und staatli- chen Normen wird auch am Kontrast des mündlichen Kommunika- tionsstils zur Schriftlichkeit staatlicher Gesetze und Praxis deutlich. Wenn man Jack Goody (1986) folgt, dann würden bei einem Neben- einander von mündlichem und schriftlichem Recht Welten aufeinan- der treffen. Das Gewohnheitsrecht, so Goody, wird von der ›struktu- rellen Amnesie‹ mündlich geprägter Gesellschaften bestimmt. Nicht mehr Relevantes vergisst die Gruppe, weil es nicht mehr praktiziert wird. Viele Normen in den alten verschriftlichten Kanunversionen, um zum albanischen Beispiel zurückzukommen, würden heutzutage nicht mehr beachtet, weil sie keinen Sinn mehr ergeben würden. Nach Goody ist Schrift der Auslöser dieses Prozesses, weil alles niederge- schrieben wird und Normen nicht mehr so schnell vergessen werden. Regeln bleiben fixiert, obwohl sie gesellschaftlich keine Bedeutung

3 Elezi 2000b: 30-31, 109. 4 Elezi 2000b: 79. 327 Schluss mehr haben. So sagt man in Albanien häufig zu Passagen der Kanun- version von Gjeçov, dass die Regeln nicht mehr gelten würden und der Kanun deswegen veraltet sei. In der mündlichen Praxis sind solche veralteten Regeln, die auf Grund neuer sozialer Zusammenhänge un- wichtig geworden sind, vergessen. Die Schrift, so Goody, gibt dem Recht ein Eigenleben. Das Recht, wie der verschriftlichte Kanun, löste sich aus dem allgemeinen sozialen Zusammenhang und wird zu einem eigenen Feld.5 Schrift fördert die Entwicklung von Spezialistentum. Die Regeln der Gesellschaft sind der Allgemeinheit nicht mehr voll- ständig bekannt. Juristen studieren das Recht, sie werden Experten auf diesem Gebiet. Recht ist keine Sache mehr, die ›Amateuren‹ überlas- sen wird.6 Den Ältesten in Albanien wird damit die Legitimation ent- zogen. Sie erwerben ihr Verhandlungsgeschick nicht durch Studium von Texten, sondern durch Erfahrung. Die Schrift beendet die große Bedeutung der Zeremonialität des oralen Rechts. Inszenierte symbo- lische Handlungen sind nicht mehr wichtig. Im Kanun hat die öffent- liche Meinung eine große Bedeutung. Vor der Dorföffentlichkeit muss man sich rechtfertigen, erniedrigen, entschuldigen, den Eid ab- gelegen, oder man kann von ihr ausgeschlossen und geschnitten wer- den. Die Schrift blendet die Öffentlichkeit nicht aus, doch schriftlich fixierte Gesetze schränken die Performativität ein. Öffentliche sym- bolische Handlungen sind nicht mehr wichtig, weil nun ein Richter auf der Grundlage der von der Gesellschaft losgelösten Gesetze Recht spricht. Der Schuldige muss sich nicht mehr der Dorföffentlichkeit beugen, sondern den Gesetzen. Auch sind Beweise ganz anderer Art: Eide und mündliche Aussagen, deren Bedeutung in der Mündlichkeit kaum von einer anderen Form der Kommunikation übertroffen wer- den können, werden in der Schriftlichkeit zu einer flüchtigen Aussage, ohne weitreichende Konsequenzen, wenn sie nicht schriftlich fixiert in den Konfliktlösungsprozess eingebracht werden. Im Kanun stehen Personen einander gegenüber, im schriftlichen staatlichen Diskurs sind es Aussagen, die auch losgelöst von der Person, die sie gemacht hat, bestehen können.

5 Goody 1992 [1986]: 136, 142-143. 6 Goody 1992 [1986]: 144. 328 Der Staat und der Kanun

Der Kommunikationsstil des mündlichen Kanuns ist lokal und kon- kret, er ist auf die Region ausgerichtet und beruht auf Regeln, die in ei- nem Konfliktlösungsprozess unmittelbar vor Ort gefunden werden. Es gibt soziale Normen, doch der Weg zur Lösung ist nicht vorher festgelegt. Präzedenzfälle haben keine große Bedeutung, wie Goody betont,7 weil jeder Konflikt auch verschiedene Lösungen erfordert. Der schriftliche Stil staatlicher Praxis hingegen ist meist abstrakt und supralokal. Lokale Gewohnheiten werden kaum berücksichtigt, denn die Gesetze müssen für alle Menschen im Land gleich sein. Die Nor- men zur Konfliktlösung stehen für den Konflikt in der Regel vorher fest. Die Mündlichkeit des Kanuns ist plurimedial, das heißt, der Ka- nun ist zeremonial, performativ und öffentlich. Dies ist kein beglei- tender Aspekt von Handlungen, sondern es ist anders gar nicht möglich. Beispielsweise muss die Konfliktlösung im Kanun öffentlich aufgeführt werden, weil sonst die Dorföffentlichkeit von der gütli- chen Einigung nichts erfährt. Der Kanun ist univokal,weilinderRe- gel Familienmeinungen und nicht individuelle Positionen soziale Relevanz haben. Die schriftliche Praxis des Staates ist unimedial, weil die schriftliche Form letztlich dominiert. Es mag zwar Inszenierungen bestimmter Aspekte der Verhandlung geben, doch letztlich werden meist schriftliche Aussagen gegenübergestellt, und am Ende des Pro- zesses liegt ein schriftliches Urteil vor. Das Urteil kann dann bei ähnli- chen Fällen in der Zukunft herangezogen werden. Das albanische Gewohnheitsrecht regte auch ausländische Forscher dazu an, Ratschläge und Kommentare, wie der Kanun entkräftet wer- den sollte, zu geben. Krasztev beispielsweise klingt etwas naiv, wenn er auf der einen Seite einen starken und zentralistischen Staat fordert, der Macht genug habe, die Bevölkerung zu entwaffnen und einen ef- fektiveren Polizeiapparat einzurichten. Auf der anderen Seite sollte man die Menschen in Nordalbanien überzeugen, dass Demokratie und Gesetze es wert seien, eingehalten und respektiert zu werden.8 Schwandner-Sievers’ Kritik des Umgangs mit dem Kanun in Albanien ist präziser. Sie kritisiert die Praxis der Versöhnungsorganisationen und trifft damit einen wichtigen Punkt. Sie schreibt, dass durch die in

7 Goody 1992 [1986]: 154. 8 Krasztev 2000: 214. 329 Schluss

›mühsamer Kleinarbeit‹ von NRO befriedeten Familien eigentlich nur das ›janusköpfige Denksystem‹ reproduzieren, »in dem Frieden und Leben kein unantastbares Grundrecht sind, sondern kompromißlos gegen die Alternativen Gewalt und Tod ausgehandelt werden müs- sen.«9 Ich denke, dass Schwandner-Sievers Kritik an den NRO heute relativiert werden muss. Seit den frühen 1990er Jahren besuchte Schwandner-Sievers Albanien, kurz nachdem das sozialistische Regi- me gefallen war und zu einem Zeitpunkt, an dem die Erwartungen und Hoffnungen auf einen raschen Übergang zur Demokratie sehr hoch waren. Unter diesen Bedingungen kann eine NRO im Bereich der Konfliktmediation, die sich bei ihrer Arbeit auf alte Traditionen stützt, als eine Form von Gegenbewegung zu den ersten demokrati- schen Entwicklungen in Albanien verstanden werden. Da die Etablie- rung demokratischer Strukturen im Land sich langwieriger und schwieriger gestaltet hat als zunächst auch vom Ausland gehofft — hier sind beispielsweise die nicht erfüllten Erwartungen in die Wahl Berishas nach dem Fall des Sozialismus zu nennen — und der Kanun weiter praktiziert wird, gilt es, die Rolle der NRO neu zu überdenken. Sind die NRO möglicherweise nicht ein ideales Instrument, um staat- liche Praktiken und traditionelles Gewohnheitsrecht miteinander zu verbinden? Allgemeiner gesehen ist Goody nicht sehr optimistisch bezüglich ei- nes möglichen Nebeneinanders von Gewohnheitsrecht und staatli- cher Gesetzgebung beziehungsweise einer Integration von regionalen oralen Rechtsvorstellungen in einen übergeordneten, schriftlich be- stimmten staatlichen Apparat. Zwei andere Möglichkeiten würden eher in Betracht kommen. Einerseits kann die schriftliche Fixierung des Gewohnheitsrechts erfolgen. Damit können lokale Rechtsvorstel- lung zwar aufgewertet werden, es besteht jedoch die Gefahr, dass die gesamte Rechtsform einen völlig anderen Charakter erhält als sie ihn vorher hatte. Andererseits kann das Gewohnheitsrecht von der staat- lichen Gesetzgebung einfach ignoriert werden. Lokale Rechtsvorstel- lungen werden gar nicht oder nur wenig auf staatlicher Ebene berücksichtigt.10 Dieser Weg wird in Albanien beschritten. Dennoch

9 Schwandner-Sievers 1996: 124-125. 10 Goody 1992 [1986]: 133. 330 Der Staat und der Kanun scheint eine Einbettung des Kanuns in die juristische Praxis Albaniens möglich zu sein, weil dies bereits in Nordalbanien erfolgt. Die gesetz- lich legitimierten NRO im Bereich der Konfliktvermittlung versöh- nen eine Vielzahl von Konflikten auf der Basis von gewohnheits- rechtlichen Praktiken. Die NRO arbeiten mit örtlich rekrutierten Mitarbeitern zusammen, die meist Älteste oder Vermittler sind, die in der jeweiligen Region schon lange dafür bekannt sind, gute Mediatio- nen vorzunehmen. Es gibt zwar einige Organisationen, deren primä- res Ziel es nicht zu sein scheint, Konflikte zu vermitteln, sondern an die Fördergelder nationaler und internationaler Institutionen heran- zukommen. Jedoch bietet die gesetzlich verankerte nebengerichtliche Konfliktvermittlung eine Chance, lokale Rechtsvorstellungen zu be- rücksichtigen, auch wenn sie nicht im Detail im staatlichen Gesetz- buch festgehalten sind. Die konsequente und nachhaltige Bekämpfung des Kanuns und da- mit auch der kulturellen Werte der nordalbanischen Bevölkerung ist meines Erachtens kein gangbarer Weg. Die drastischen Kontrollmit- tel, die dafür installiert werden müssten, führen nur zu Unterdrü- ckung. Der nordalbanische Soziologe Tonin Gjuraj beschreibt einen anderen Weg. Gjuraj argumentiert gegen die überwiegend negative Haltung, die gegenüber dem Kanun eingenommen wird. Der Kanun stellt eine Realität dar, die objektiv betrachtet werden sollte. Es ist weitaus sinnvoller, so Gjuraj, eine genaue Untersuchung des Phäno- mens anzustreben als seine Realität zu negieren.11 Gjuraj schreibt wei- ter, dass ein häufig genanntes Argument gegen den Kanun darin besteht, dass das Gewohnheitsrecht nicht mit der Moderne zusam- menpasst. Dieser Position will Gjuraj nicht folgen. Er fragt, wie de- mokratisch die Fundamente eines Rechtsstaates sind, wenn die Traditionen und Werte der eigenen Bevölkerung unterdrückt wer- den.12 In der aktuellen Diskussion zum Kanun in Albanien wider- spricht der Kanun der individuellen Freiheit, die in Albanien als Mo- derne verstanden wird. Tradition wird nach Gjuraj als Gegenteil von Moderne dargestellt, als fest gefahrene Vorstellung, die die persönli- che Entwicklung des Einzelnen behindert. Gjuraj betont, dass sich

11 Gjuraj 2000: 104. 12 Gjuraj 2000: 105-106. 331 Schluss

Tradition und Moderne nicht ausschließen: Das albanische Recht, ebenso wie die albanische Gesellschaft, ist nicht losgelöst von Traditi- on, Geschichte und kulturellem Erbe vorstellbar, zu welchem das Ge- wohnheitsrecht Kanun gehört.13 Es kann keine einfache Formel geben, wie sich der Staat und seine Behörden gegenüber der Praxis des Kanuns positionieren sollen. Es ist jedoch nicht vorstellbar, dass der Staat über drastische Anwendung seines Gewaltmonopols seine Regeln durchsetzen kann. Diese Me- thoden würden von der internationalen Öffentlichkeit, gerade wenn man eine Annäherung an die Europäische Union sucht, nicht begrüßt werden. Der Erfolg solcher Aktionen wäre auch, wie die harte sozia- listische Herrschaft gezeigt hat, zweifelhaft. Um den Kanun zu ent- kräften, muss man sein soziales Feld verändern. Der Kanun basiert auf einem bestimmten Milieu, dass sich aus einer spezifischen sozialen Struktur, Ökonomie, sozialen und topographi- schen Isolation, mangelhaften Infrastruktur und einer charakteristi- schen Ideologie zusammensetzt. Nur wenn drastische Änderungen im sozialen Feld Nordalbanien erfolgen, kann dem Kanun seine sinn- stiftende Grundlage entzogen werden. Doch diese Veränderungen können auf Grund der Größe des Unterfangens nur langsam voran- schreiten. Der Rechtspluralismus wird noch für einige Zeit weite Teile Nordalbaniens prägen. Es ist ferner nicht anzunehmen, dass Rechtspluralismus lediglich eine Periode des Überganges zu Staaten mit einheitlichen Rechtssys- temen ist. Auf Grund der abnehmenden Bedeutung von Nationalstaa- ten und ihrem inneren Machtmonopol (Waldmann) kommt es möglicherweise gerade in jenen Staaten, in denen nebenstaatliche Rechtsformen nicht schon in den vergangenen Jahrhunderten mit zum Teil drastischen Maßnahmen aus der Welt geschaffen wurden, zu einem dauerhaften Nebeneinander von unterschiedlichen Rechts- praktiken. Für Albanien heißt das, dass der Kanun in seiner aktuellen Dimensi- on auch von Wissenschaftlern und Politikern in der Hauptstadt ernst genommen werden sollte. Damit würde nicht nur den spezifischen so- zialen Bedingungen Nordalbaniens Beachtung geschenkt, sondern 13 Siehe auch Gjuraj 2000: 107. 332 Der Staat und der Kanun auch die nordalbanische Bevölkerung besser in den albanischen Staat integriert werden. In einem weiteren Prozess gilt es den Rahmen ab- zustecken, in dem selbst regulierte Konfliktmediation vom Staat tole- riert wird und in welchen Fällen Behörden eingreifen müssen. Die Konfliktvermittlungs-NRO scheinen, trotz der angerissenen Proble- me, eine sinnvolle Einrichtung zu sein, und sind Mittler nicht nur zwi- schen den Konfliktparteien, sondern auch zwischen Staat und lokaler Praxis.

333

Literatur

Abrahams, Ray (Hrsg.) 1996. After Socialism. Land Reform and Social Change in Eastern Europe (New Directions, 6). Providence/Oxford: Berghahn. IX, 221 S. Abu-Lughod, Lila 1988 [1986]. Veiled Sentiments. Honor and Peotry in a Bedouin Society. Berkeley [u.a.]: University of California Press. XIX, 317 S. Akademia e Shkencave e RPS të Shqipërisë (Hrsg.) 1989. E drejta zakonore shqiptare. Kanuni i Lekë Dukagjinit. Tiranë: Akademia e shkencave. 633 S. Alia, Zama 1989. Die Familie und ihre Struktur in der SVR Albanien. Tiranë: 8 Nëntori. 132 S. Alkon, Cynthia und Frank Hughes Ms. [2001]. Honour and the Rule of Law in Albania. 7 S. [Text eines NRO-Mitarbeiters aus Tirana, der nicht unter seinem Namen schreiben darf.] Allcock, John B. und Antonia Young 1991. Black Lambs and Grey Falcons: Outward and Inward Frontier. In: Dies. (Hrsg.): XV-XXV. Allcock, John B. und Antonia Young (Hrsg.) 1991. Black Lambs & Grey Falcons. Woman Travellers in Balkans. Bradford: Bradford University Press. XXV, 216 S. Althammer, Walter (Hrsg.) 1969. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Südosteuropas im 19. und 20. Jahrhundert (Südosteuropa- Jahrbuch, 9). München: Trofenik. 216 S. Amery, Julian 1948. Sons of the Eagle. A Study in Guerilla War. London: MacMillan. XII, 354 S. Arce, Alberto und Norman Long (Hrsg.) 2000. Anthropological Development and Modernities. Exploring Discourses, Counter-Tendencies and Violence. London/New York: Routledge. XVI, 232 S. Aronson, Sidney H. 1971. The Sociology of the Telephone. In: International Journal of Comparative Sociology (Leiden) XII, 3: 153-167. Ashta, Nikola 1901. Das Gewohnheitsrecht der Stämme. In: Zeitschrift für Ethnologie (Berlin) [Aus den Verhandlungen der Berliner Gesellschaft

335 Literatur

für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte; Sitzung vom 20.7.1901]: 358-363. Assmann, Jan 2000 [1992]. Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (Beck’sche Reihe, 1307). München: Beck. 344 S. Backer, Berit 1979. Behind the Stone Walls: Changing Household Organization Among the Albanians in Yugoslavia (PRIO-publication S-8/79, Mediterranean studies, Working papers M 1/79). Oslo: Institutt for fredsforskning Year. 334 S. Baerlein, Henry 1921. Miss Durham and the Albanians. In: The New Statesman (London) XVI, 409: 557. Baldacci, Antonio 1912. L’Albanie économique et la politique à la veille de la guerre. In: Révue Économique Internationale (Bruxelles) IV, 2: 251-256. Bartl, Peter 1995. Albanien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Ost- und Südosteuropa). München: Pustet. 304 S. Bartl, Peter und Horst Glassl (Hrsg.) 1975. Südosteuropa unter dem Halbmond (Beiträge zur Kenntnis Südosteuropas und des Nahen Ostens, XVI). München: Trofenik. 288 S. Bateson, Gregory 1985 [orig. 1972]. Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven (stw, 571). Frankfurt am Main: Suhrkamp. 675 S. Bauman, Richard und Joel Sherzer 1989 [1974]. Introduction [zur ersten Auflage]. In: Dies (Hrsg.): 6-12. Bauman, Richard und Joel Sherzer (Hrsg.) 1989 [1974]. Explorations in the Ethnography of Speaking (Studies in the Social and Cultural Foundations of Languages). Cambridge: Cambridge University Press. XXVII, 501 S. Baxhaku, Fatos und Karl Kaser [Hrsg.] 1996. Die Stammesgesellschaften Nordalbaniens. Berichte und Forschungen österreichischer Konsuln und Gelehrter (1861-1917). Wien [u.a.]: Böhlau. 459 S. Becker, Col. 1880. L’Albanie et les Albanais. Paris: Dentu. 51 S. Becker, Hans (Hrsg.) 1991. Jüngere Fortschritte der regional- geographischen Kenntnis über Albanien. Beiträge des Herbert- Louis-Gedächtnissymposions (Bamberger Geographische Schriften, 10). Bamberg: Fach Geographie/Universität Bamberg. 184 S. Bejko, Waltraud 2003. Albanien. Mein Leben 1959-1996. Bochum: DAFG. 352 S. Benussi, Zef 2002. Përmbledhje sistematike e zakoneve juridike të vjetra shqiptare. Shkodër: Drejtësi dhe Paqe. 158 S.

336 Literatur

Bernatzik, Hugo Adolf 1931. Das moderne Albanien. In: Belhagen und Klaung Monatshefte (Berlin) 45, 7: 37-44. —— 1940 [1930]. Albanien. Das Land der Shkipetaren [Titel 1. Aufl.: Europas Vergessenes Land]. Wien: Schroll. 96 S. Bezemer, Dirk J. 2001. Post-socialist financial fragility: the case of Albania. In: Cambridge Journal of Economics (Oxford) 25, 1: 1-23. Biere, Bernd Ulrich und Rudolf Hoberg (Hrsg.) 1996. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen (Studien zur deutschen Sprache, 5). Tübingen: Narr. 206 S. Black-Michaud, Jacob 1975. Feuding Societies. Oxford: Basil Blackwell. XXVII, 270 S. Bloch, Maurice 1998a. How We Think They Think. Anthropological Approaches to Cognition, Memory, and Literacy. Boulder: Westview Press. X, 205 S. —— 1998b. Literacy and Enlightment. In: Ders. 1998a: 152-170. Bobev, Bobi 1993. The Dictatorship of Ahmet Zgou in Albania. In: Études balkaniques (Sofia) 29, 2: 16-33. Bohannan, Paul (Hrsg.) 1967. Law and Warfare. Studies in the Anthropology of Conflict. Austin/Texas: University of Texas Press. XIII, 441 S. Boucart, Jaques 1922. Les Confins Albanais administrés par la France (1916-1920). Contribution à la géologie de l’Albanie Moyenne (Revue de Geographie, X fasc. I). Paris: Lagrave. 307 S. Boué, Ami 1840. La Turquie d'Europe. 4 Bde. Paris: Bertrand. I: XVII, 526; II: 539; III: 590; IV: 589 S. Bourdieu, Pierre 1979. La distinction. Critique sociale du jugement (Le sens commun). Paris: Les Éditions de Minuit. 670 S. —— 1982. Ce que parler veut dire. L’économie des échanges linguistiques. Paris: Fayard. 243 S. —— 1987. Choses dites (Les Sens Commun). Paris: Les Éditions de Minuit. 229 S. —— 1994. Raisons pratiques. Sur la théorie de l’action (essais, 331). 245 S. —— 1999 [orig. 1980]. Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft (stw 1066). Frankfurt am Main: Suhrkamp. 503 S. —— 2000 [1972]. Esquisse d’une théorie de la pratique (essais, 405). Paris: Seuil. 415 S. —— 2001 [1958]. Sociologie de l’Algérie (Que sais-je? 802). Paris: PUF. 127 S. —— 2001 [orig. 1992]. Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes (stw, 1539). Frankfurt am Main: Suhrkamp. 551 S.

337 Literatur

—— 2002 [1980]. Le sens pratique (Le sens commun). Paris: Les Éditions de Minuit. 474 S. Bourdieu, Pierre & Loïc J. D. Wacquant 1992. An Invitation to Reflexive Sociology. Chicago: University of Chicago Press. XIV, 322 S. Boyer, Pascal 1992. Orale (Tradition). In: Encyclopaedia Universalis (Paris) Corpus No. 16: 1027-1030. Brüne, Stefan (Hrsg.) 2000. Neue Medien und Öffentlichkeit. Politik und Tele-Kommunikation in Afrika, Asien und Lateinamerika (Schriften des Deutschen Übersee-Instituts 46, 1). Hamburg: Deutsches Übersee Institut. 241 S. Buda, Aleks 1976. L’ethnographie albanaise et quelques uns de ses problèmes. In: Studia Albanica (Tirana) XIII, 2: 11-36. —— 1977. L’ethnographie albanaise et quelques uns de ses problèmes [Text ähnlich 1976]. In: Ders. (Hrsg.): 19-43. Buda, Aleks (Hrsg.) 1977. La Conférence Nationale des Études Ethnographiques (28 - 30 juin 1976). Tirana: Académie des Sciences. 650 S. Buschan, Georg 1909. Die Balkanvölker in Vergangenheit und Gegenwart. Stuttgart: Strecker & Schröder. 55 S. Byer, Doris 1999. Der Fall Hugo A. Bernatzik. Ein Leben zwischen Ethnologie und Öffentlichkeit 1897-1953 [2. Aufl.]. Köln [u.a.]: Böhlau. 456 S. Calvet, Louis-Jean 1984. La Tradition Orale (Que sais-je? 2122). Paris: PUF. 127 S. Camaj, Martin 1971. Der Niederschlag des Kanuns von Lekë Dukagjini in der albanischen Volksepik. In: Gesemann [u.a.] (Hrsg.): 104-111. Champseix, Élisabeth und Jean-Paul Champseix 1990. 57, boulevard Staline. Chroniques albanaises (enquètes). Paris: La Découverte. 311 S. —— 1992. L’Albanie ou la logique du désespoir (enquètes). Paris: La Découverte. 307 S. Champseix, Jean-Paul 1991. L’Albanie entre l’exode et la réforme. In: Hérodote (Paris) 4, 63: 154-173. —— 1996. Communisme et tradition: un syncrétisme dévastateur. In: Combe/Ditchev (Hrsg.): 53-61. Combe, Sonya und Ivaylo Ditchev (Hrsg.) 1996. Albanie utopie. Huis clos dans les Balkans (Autrement, coll. Monde H.S., 90). Paris: Autrement. 209 S. Coon, Carleton Stevens 1950. The Mountains of Giants. A Racial and Cultural Study of the North Albanian Ghegs (Papers of the Peabody Museum of American Archaelogy and Ethnology XIII, 3). Cambridge: Peabody Museum. VIII, 120 S.

338 Literatur

Cungu, Azeta und Johan F. M. Swinnen 1999. Albania’s Radical Agrarian Reform. In: Economic Development and Cultural Change (Cambridge) 47, 3: 605-619. Cyprien, Robert 1844. Les Slaves de Turquie, Serbes, Montenegrins, Bosniaques, Albanais et Bulgares. 2 Bde. Paris: Passard. I: III, 359; II: 416 S. Daniel, Odile 1989. Montagnes Tribales et Coutumiers. In: L’Ethnographie (Paris) 85, 2: 43-74. Dareste, Rodolphe 1903. Les anciennes coutûmes albanaises. In: Nouvelle Révue Historique de Droit Français et Étranger (Paris) XXVII, 4: 477-496. Dedaj, Ndue 2001. Kanuni dhe Koha e Sotme. Botim për nxënësit. Rreshën: Mirdita. 110 S. Derive, Jean 1975. Collecte et traduction des littératures orales. Un exemple négro-africain: les contes ngbaka-ma’bo de RCA (Langues et civilisations à tradition orale, 18). Paris: SELAF. 256 S. Dervishi, Zyhdi 1996. Reflektimi i modelimit subkulturor në rrugëzgjidhjet me ndërmjetësim të mosmarrëveshjeve. In: Pajtimi (Tirana) 1, 1: 35-41. Deslondes, Olivier 1995. Albanie: la transition manquee. In: Politique internationale (Paris) 68, dossier spécial ›Helsinki, 20 ans après‹: 209-230. Diefenbach, Lorenz 1880. Völkerkunde Osteuropas, insbesondere der Haemoshalbinsel und der unteren Donaugebiete. 2 Bde. Darmstadt: Brill. XII, 318 S. Dilcher, Gerhard [u.a.] (Hrsg.) 1992. Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter (Schriften zur Europäischen Recht- und Verfassungsgeschichte, 6). Berlin: Duncker & Humblot. 160 S. Ditchev, Ivaylo 1996. D’ Oncle Enver à Oncle Sam: les ruines de l’utopie. In: Combe/Ders. (Hrsg.): 28-39. Doçi, Pal 1975. Kanuni i Lekë Dukagjini, Syrja Pupovci [Buchbesprechung]. In: Studia Albanica (Tirana) VII, 1: 177-188. Doja, Albert 1999a. Morphologie traditionelle de la société albanaise. In: Social Anthropology (Cambridge) 7, 1: 37-55. —— 1999b. Amitié, alliance, parenté: idéologie et pratique dans la société traditionelle albanaise. In: Ravis Giordani (Hrsg.): 217-255. Dojaka, Abaz 1987. Transformations des rapports à l’intérieur de la famille. In: Ethnographie Albanaise (Tirana) 15: 95-103. Dracklé, Dorle 2000. Zur kulturellen Praxis von Medien: Ethnologische Perspektiven. In: Brüne (Hrsg.): 127-146. Dumont, Albert 1873. Le Balkan et l’Adriatique. Paris: Didiers et Cie. 411 S.

339 Literatur

Dumont, René 1983. Finis les lendemains qui chantent. Bd. 1: Albanie, Pologne, Nicaragua. Finis pour tous les mondes (L’histoire immédiate). Paris: Seuil. 311 S. Düning, Beate 1993. Massenmedien. In: Grothusen (Hrsg.): 615-634. Durham, Edith 1905. The Burden of the Balkan. London: Nelson. VIII, 384 S. —— 1914. The Struggle for Scutari (Turk, Slav, Albanian). London: Arnold. XI, 320 S. —— 1920. Twenty Years of Balkan Tangle. London: Allan & Unwin. 295 S. —— 1923. Head-Hunting in the Balkans. In: Man (London) XXIII, Art. 11: 19-20. —— 1979 [1928]. Some Tribal Origins, Laws and Customs of the Balkan. New York: AMS. 318 S. —— 1994 [1909]. High Albania. [o.A.]: Ayer. 352 S. —— 1995. Durch das Land der Helden und Hirten. Balkan-Reise zwischen 1900 und 1908 (Edition Frauenfahrten). Wien: Promedia. 221 S. —— 2000. Brenga e Ballkanasve (Miqte e Shqipërisë, 1) Tirana: Argeta-LMG. 351 S. —— 2001. 20 Vjet Ngatërresa Ballkanike (Miqte e Shqipërisë, 2). Tirana: Argeta-LMG. 307 S. Eagleton, Terry 1991. Ideology. An Introduction. London/New York: Verso. XV, 242 S. Eberhart, Helmut 1998. Von Ami Boué zu Hugo Adolf Bernatzik. In: Österreichische Zeitschrift für Völkerkunde (Wien) 101, 1: 9-34. Eberhart, Helmut und Karl Kaser (Hrsg.) 1995. Albanien. Stammesleben zwischen Tradition und Moderne. Wien [u.a.]: Böhlau. 197 S. Eco, Umberto 1994 [1974]. Einführung in die Semiotik (UTB, 105). München: Fink. 474 S. Eder, Klaus (Hrsg.) 1989. Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Klassentheorie (stw, 767). Frankfurt am Main: Suhrkamp. 425 S. Elezi, Ismet 1959. Lufta kundër vrasjes dhe hakmarrjes në Shqipëri. In: Bulletin i Universiteti Shtetëtor të Tiranës, Seria Shkencat Shoqëror (Tirana) XIII, 3: 177-212. —— 1966. Sur la vendetta en Albanie. In: Studia Albanica (Tirana) 1: 305-318. —— 1967. The Vendetta in Albania. In: Albanian Notes (Ilford) 8. Januar 1967: 1-5. —— 1975a. Lufta kundër mbeturinave të së drejtës zakonore në Shqipëri [frz. 1975b]. In: Studime Historike (Tirana) 2: 65-48.

340 Literatur

—— 1975b. La lutte contre les survivances du droit coutumier. In: Studia Albanica (Tirana) XII, 2: 31-46. —— 1977. Traits du droit coutumier albanais. In: Buda (Hrsg.): 235-241. —— 1980. About the Albanian Customary Laws. In: New Albania (Tirana) 5: 29. —— 1981. Burimë të së drejtës zakonore shqiptare. In: Kultura Popullore (Tirana) 1: 101-112. —— 1983. E drejta zakonore penale e shqiptarëve dhe lufta për zhdukjen e mbeturinare të saj në Shqipëri. Tiranë: 8 Nëntori. 304 S. —— 1997. Vlerat e traditës dhe zgjidhja me ndërmjetësim e mosmarrëveshjeve. In: Pajtimi (Tirana) 2, 1: 23-29. —— 2000a. Pozita e gruas në kanune dhe disa probleme aktuale. In: Të drejtat e njeriut (Tirana) 24, 4: 13-18. —— 2000b. Vrasjet për hakmarrje e për gjakmarrje në Shqipëri. Tiranë: QSDNj. 122 S. —— 2002 [1984]. E drejta zakonore e Labërisë. Tirana: Toena. 260 S. Elezi, Ismet, Hajderin Fuga und Marjana Selimi Ms. [1999]. Komentari i Ligjit ›Për ndermjetësimin për zgjidhjën me pajtim të mosmarrëveshjëve‹. Tirana. 51 S. Elsie, Robert 1993. Gjergj Fishta. The Voice of the Albanian Nation. In: Albanian Catholic Bulletin (San Francisco) XIV: 104-113. —— 1995. Keshtetuta Keshtetuta. Vier Jahre Demokratie in Albanien. In: Südosteuropa-Mitteilungen (München) 35, 3: 199-204. Elwert, Georg [u.a.] (Hrsg.) 1999. Dynamics of Violence. Processes and De-Escalation in Violent Group Conflicts (Sociologus Suppl., 1). Berlin: Duncker & Humblot. 289 S. Evans-Pritchard, Edward Evan 1971 [1940]. The Nuer. A description of the modes of livelihood and political institutions of a Nilotic people. Oxford: Clarendon. VIII, 271 S. —— 1973 [1949]. The Sanusi of Cyrenaica. Oxford: Clarendon Press. V, 240 S. Feilcke-Tiemann, Adelheid 2000. Medienlandschaft Albanien. In: http://www.br-online.de/br-intern/suedosteuropa/texte/albanien.html [5.7.2002]: 5 S. Felstehausen, Herman 1999. Urban Growth and Land use Changes in Tirana, Albania: With Cases Describing Urban Claims (Albania Series. Working Paper, 31). Madison: University of Wisconsin Press. IV, 19 S. Filipovic, Mil S. 1936. Das Zerkratzen des Gesichts bei Serben und Albanesen. In: Révue Internationale des Études Balkaniques (Belgrad) 2, I-II (3-4): 157-166.

341 Literatur

Findeisen, Hans 1957. Schamanentum dargestellt am Beispiel der Besessenheitspriester nordeurasiatischer Völker (Urban-Bücher, 28). Stuttgart. 240 S. Fine, Gary Alan und Kent Sandstrom 1993. Ideologie en Action. A Pragmatic Approach to a Contested Concept. In: Sociological Theory (Oxford) 11, 1: 21-38. Finnegan, Ruth 1970. Oral Literature in Africa. Oxford: Clarendon Press. XVIII, 558 S. —— 1988. Literacy and Orality. Studies in the Technology of Communication. Oxford: Basil Blackwell. VII, 201 S. —— 1996 [1992]. Oral Traditions and the Verbal Arts. A Guide to Research Practices (ASA Research Methods in Social Anthropology). London [u.a.]: Routledge. XVIII, 284 S. Fischer, Bernd J. 1991. Resistance in Albania During the Second World War. In: East European Quaterly (Boulder) XXV, 1: 21-47. Fischer, Klaus 1991. Herbert Louis’ Beitrag zur Landeskunde Albaniens. In: H. Becker (Hrsg.): 1-9. Fishta, Gjergj 1958 [orig. 1937]. Die Berglaute. Lahuta e Malcis (Südosteuropäische Arbeiten, 51). München: Oldenbourg. 312 S. —— 1997 [orig. 1933]. Introduction to the Canon. Tirana: Afërdita. 33 S. Fox, Leonard 1989. Introduction. In: Ders. (Hrsg.): xvi-xix. Fox, Leonard (Hrsg.) 1989. Kanuni i Lekë Dukagjinit = The Code of Lekë Dukagjini [Übersetzung von Gjeçov 1933]. New York: Gjonlekaj. XIX, 269 S. Frank, Hermann 1957. Landser/Karst und Skipetaren Bandenkämpfe in Albanien (Landser am Feind, 1). Heidelberg: Vorwinkel. 244 S. Frashëri, Kristo 1977. Remarques sur la Kanun de Skanderbeg. In: Buda (Hrsg.): 243-258. Frashëri, Sami 1913 [orig. 1899]. Was war Albanien, was ist es, was wird es werden? Wien: Holder. 69 S. —— 1962 [1899]. Shqipëria. Ç’ka qenë, ç’është e ç’do të bëhetë? Tirana: Naim Frashëri. 110 S. Frashëri, Stavre Th. Ms. [1979]. Through Mirdita in Winter [alb. orig. 1930]. San Diego. VI, V, 152 S. Ganzer, Burkhard 2000. Kommunikation. In: Streck (Hrsg.): 120-122. Gardes, Gilbert 1995. Le guide de l’Albanie [Reiseführer]. Lyon: La Manufacture. 269 S. Garnett, Lucy M. J. 1893. The women of Turkey and their Folk-Lore. London: David Nutt. 546 S.

342 Literatur

Gellner, Ernest und Charles Micaud (Hrsg.) 1973. Arabs and Berbers. From Tribe to Nation in North Africa. London: Duckworth. 448 S. Georgescu, Valentin 1963. Alte Albanische Rechtsgewohnheiten. In: Revue des Etudes Européennes (Sofia) I, 1-2: 69-102. Gerndt, Helge 1988. Sagen und Sagenforschung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Fabula (Berlin/New York) 29, 1/2: 1-20. Gesemann, Wolfgang (Hrsg.) 1971. Serta Slavia (Gedenkschrift für Alois Schmaus). München: Trofenik. LVII, 764 S. Gibert, Frédéric 1914. Les Pays d’Albanie et leurs histoire. Paris: Rosier. VI, 320 S. Gilmore, David D. (Hrsg.) 1987. Honour and Shame and the Unity of the Mediterranean (spec. publ. American Anthropological Association, 22) Washington: AAA. 136 S. Giordano, Christian 1994. Der Ehrkomplex im Mittelmeerraum: sozialanthropologische Konstruktion oder Grundstruktur mediterraner Lebensformen? In: Vogt/Zingerle (Hrsg.): 172-192. Gjeçov, Shtjefën 1913. Kanûni i Lekë Dukagjinit. In: Hylli i Dritës (Shkodra) 1, 1: 15-18; 1, 2: 53-57; 1, 3: 92-96: S. —— 1914. Kanûni i Lekë Dukagjinit. In: Hylli i Dritës (Shkodra) 1, 4: 120-128; 1, 5: 154-157; 1, 6: 182-186; 1, 7: 217-230; 1, 8: 247-250; 1, 9: 280-282; 1, 10: 316-318.: S. —— 1921. Kanûni i Lekë Dukagjinit. In: Hylli i Dritës (Shkodra) 2, 6: 271-273; 2, 7: 312-316; 2, 8: 361-369.: S. —— 1922. Kanûni i Lekë Dukagjinit. In: Hylli i Dritës (Shkodra) III, 1: 27-34; 2: 78-84; 3: 136-141; 4: 187-192; 5: 234-245; 6: 290-295; 7: 337-342; 8: 391-398; 9: 447-451; 10: 490-494; 11: 587-590.: S. —— 1924. Kanûni i Lekë Dukagjinit. In: Hylli i Dritës (Shkodra) 1-2: 60-62; 3-4: 127-132; 9: 361-366; 11: 488-499; 12: 549-551.: S. —— 1941a. Codice di Lek Dukagjini. Ossia diritto consuetudi na rio delle montangne d’Albania (Reale Accademia d’Italia. Centro per l’Albania, 2). Roma: Reale Acc. D’Italia. 327 S. —— 1941b. Codice di Lek Dukagjini ossia diritto consuetudinario delle montagne d’Albania. In: Rivista d’Albania (Mailand): 62-72. —— 1972 [1933]. Kanuni i Lekë Dukagjinit. Prishtina: Enti e Teksteve dhe i Mjeteve Mësimore. 149 S. —— 1985 [1933]. Kanuni i Lekë Dukagjinit (Vepra, 1). Prishtina: Rilindja. 187 S. —— 1989 [orig. 1933]. Kanuni i Lekë Dukagjinit. In: Fox (Hrsg.): 1-269. —— 1999 [1933]. Kanun i Lekë Dukagjinit. Tirana: Kuvendi. 135 S.

343 Literatur

—— 2001. Der Kanun. Das albanische Gewohnheitsrecht nach dem sogenannten Kanun des Lekë Dukagjini kodifiziert von Shtjefën Gjeçov. Pejë: Dukagjini Publ. House. 283 S. Gjergji, Andromaqi 1973. Disa probleme në lidhje me zhvillimin familjes se sotme fshatare. In: Studime Historike (Tirana) 4: 73-86. Gjergji, Andromaqi und Abat Dojaka 1969a. Rezultatet e punës në fushën e etnografisë gjatë 25 vjetëve [frz. 1969b]. In: Studime Historike (Tirana) XXIX (VII), 4: 107-116. —— 1969b. Un quart de siècle de travaux dans le domaine de l’ethnographie. In: Studia Albanica (Tirana) VI, 2: 57-68. Gjoka, Rasim 2000. Fondacioni ›Zgjidhja e konflikteve dhe Pajtimi i Mosmarrëveshjeve‹ në pesërvjetorin e themelimit: arritje dhe perspektiva. In: Pajtimi (Tirana) 4, 3: 7-17. Gjuraj, Tonin 2000. Gjakmarrja në rrethet Shkodër, Malësi e Madhe [alb.-engl.]. Shkodër: Qendra ›Dretësi dhe Paqe‹. 131 S. Goci, Haxhi 1987a. Vështrim historik mbi Skënderbeut [frz. 1987b]. In: Etnografia Shqiptare (Tirana) 15: 87-98. —— 1987b. Apreçu historique sur le coutumier de Scanderbeg. In: Ethnographie Albanaise (Tirana) 15: 75-87. Godin, Marie Amelie Freiin von 1953/1954/1956. Das albanische Gewohnheitsrecht. In: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft (Stuttgart) 56: 1-46; 57: 5-73; 58: 121-198. Goffman, Erving 1996 [orig. 1974]. Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen (stw, 329). Frankfurt am Main: Suhrkamp. 620 S. Goody, Jack 1968. Introduction. In: Ders. (Hrsg.): 1-26. —— 1977. The Domestication of the Savage Mind (Themes in the Social Sciences). Cambridge: Cambridge University Press. X, 179 S. —— 1992 [1986]. The Logic of Writing and the Organization of Society (Studies in Literacy, Family, Culture and the State). Cambridge: Cambridge University Press. XVII, 213 S. —— 1993 [1987]. The Interface Between the Written and the Oral (Studies in Literacy, Family, Culture and the State). Cambridge: Cambridge University Press. XX, 328 S. Goody, Jack (Hrsg.) 1968. Literacy in Traditional Societies. Cambridge: Cambridge University Press. 349 S. Gopcevic, Spiridion 1914. Das Fürstentum Albanien, seine Vergangenheit, ethnographischen Verhältnisse, politische Lage und Aussichten für die Zukunft (Veröffentlichungen des allgemeinen Vereins für deutsche Literatur 38, 4). Berlin: Paetel. 356 S.

344 Literatur

Grothusen, Klaus-Detlev (Hrsg.) 1993. Albanien (Südosteuropa- Handbuch, VII). Göttingen: Vandenhoek & Rupprecht. XI, 843 S. Gruber, Siegfried und Robert Pichler 2002. Household structures in Albania in the early 20th century. In: History of the Family (Amsterdam [u.a.]) 7, 3: 351-374. Gyurkovics, Georg von 1881. Albanien. Schilderung von Land und Leuten. Wien: Hölder. 159 S. Haberlandt, Arthur 1916. Berichte über die ethnographischen Arbeiten im Rahmen der historisch-ethnographischen Balkanexpedition. In: Mitteilungen der k.k. Geographischen Gesellschaft (Wien) 59: 736-742. —— 1917a. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Volkskunde von Montenegro, Albanien und Serbien. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde (Wien) Ergänzungsband XII zu Jahrgang XIII. —— 1917b. Ethnographische Beobachtungen in Montenegro und Albanien [Gesellschaftsnachrichten]. In: Mitteilungen der k. k. geographischen Gesellschaft in Wien (Wien) 60: 92-93. —— 1931. Aus dem albanischen Volksleben. In: Wiener Zeitschrift für Volkskunde (Wien) XXXVI, 3-4: 80-83. Hahn, Johann Georg von 1854. Albanesische Studien. 3 Bde. Wien: k. k. Hof- und Staatsdruckerei. I: XIII, 346; II: VI, 169; III: VII, 241 S. —— 1868. Reise von Belgrad nach Salonik nebst vier Abhandlungen zur alten Geschichte des Morawagebietes [2. Aufl.]. Wien: Tender. 268 S. —— 1869. Reise durch die Gebiete des Drin und des Wardar. In: Denkschriften der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Classe (Wien) 15, 2: 1-188. —— 1964. Griechische und albanesische Märchen. 2 Bde. Leipzig: Engelmann. I: XIV, 318; II: VI, 339 S. —— 1980 [orig. 1854]. Zakone familiare në Rrëzë të Tepelenës. In: Kultura Popullore (Tirana) 2: 187-196. —— 2001 [orig. 1863]. Nepër viset e Drinet. Shënime udhëtimi të vitit 1863. Tirana: Horizont. 244 S. —— 2001 [orig. 1863]. Udhëtim nëpër visit e Drinit e të Vardarit. Tirana: Geer. 198 S. Halili, Ragip 1974. Pleqnia në të drejtën kanunore të shqiptarëve dhe gjykimi sipas saj. In: Gjurmime Albanologjike (Prishtina) II: 51-72. Hall, Derek 1994. Albania and the Albanians. London/New York: Pinter. XXVI, 304 S. Hann, Chris und Elizabeth Dunn (Hrsg.) 1996. Civil Society. Challenging Western Models (EASA Series). London/New York: Routledge. VI, 248 S.

345 Literatur

Hannerz, Ulf 1992. Cultural Complexity. Studies in the Social Organization of Meaning. London/New York: Routledge. IX, 347 S. Hart, David M. 1973. The Tribe in Modern Morocco: Two Case Studies. In: Gellner/ Micaud (Hrsg.): 25-58. Hashi, Iraj und Lindita Xhillari 1999. Privatisation and Transition in Albania. In: Post-Communist Economies (Carfax) 11, 1: 99-125. Hasluck, Margaret 1933. Bride Price in Albania. A Homeric Paralel. In: Man (London) XXXIII, 202-221: 193-195. —— 1939. Couvade in Albania. In: Man (London) 18. —— 1954. The Unwritten Law in Albania. Cambridge: Cambridge University Press. XV, 275 S. —— 1967. The Albanian Blood Feud. In: Bohannan (Hrsg.) [Nachdruck aus Hasluck 1954: 219-60]: 381-401. Hassert, Kurt 1897. Streifzüge in Oberalbanien. In: Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde (Berlin) 24, 10: 529-544. —— 1898. Wanderungen in Nordalbanien. In: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft (Wien) 5-6: 351-379. Hauser, Arnold 1974. Soziologie der Kunst. München: C.H. Beck. 818 S. Havelock, Eric A. 1982 [1962]. Preface to Plato. Cambridge: Harvard University Press. XIV, 328 S. —— 1986. The Muse Learns to Write. Reflections on Orality and Literacy From Antiquity to the Present. New Haven [u.a.]: Yale University Press. 144 S. Haxhihasani, Qemal und Abaz Dojaka 1984. Achievements of Albanian Ethnography and Folklore. In: Albania Today (Tirana) 4, 77: 43-47. Heinz-B. Heller [u.a.] (Hrsg.) 2000. Über Bilder Sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft (Schriftenreihe der GFF, 8). Marburg: Schüren. 279 S. Hellwald, Friedrich von und L. C. Beck 1878. Die heutige Türkei. 1. Bd: Das osmanische Reis in Europa (Otto Spamer’s Illustrirte Bibliothek der Länder- und Völkerkunde, I). Leipzig: Spamer. VIII, 424 S. Hequard, Hyacinthe 1881. Histoire et description de la Haute Albanie ou Guégarie (Nouvelles Annales des Voyages, de Géographie et de L’Histoire). Paris: Bertrand. 513 S. Hetzer, Armin 1984. Geschichte des Buchhandels in Albanien. Prolegomena zu einer Literatursoziologie (Balkanologische Veröffentlichungen, 10). Wiesbaden: Harrassowitz. 212 S. Hildebrandt, Walter 1951. Die Volksdemokratie Albanien 1944-1951. Eine soziologische Untersuchung (Arbeitsgemeinschaft für

346 Literatur

Osteuropaforschung, Forschungsbericht und Untersuchungen zur Zeitgeschichte, 3). Göttingen: [Selbstverlag]. 132 S. —— 1983. Albanien – Geschichte und Gegenwart. Zur nationalen Identität eines kleinen Volks. In: Deutsches Studium 81: 36-47. Hill, June E. 1991. Mary Edith Durham as a Collector. In: Allcock/Young (Hrsg.): 30-34. Hodgson, John 1991. Edith Durham, Traveller and Publicist. In: Allcock/Young (Hrsg.): 8-28. Höpken, Wolfgang und Michael Riekenberg (Hrsg.). Politische und ethnische Gewalt in Südosteuropa und Lateinamerika. Köln [u.a.]: Böhlau. XX, 273 S. Hoppe, Hans-Joachim 1992. Demokratischer Machtwechsel in Albanien. In: Osteuropa (Stuttgart) 42, 6: 609-620 S. —— 1993. Das Profil der neuen Elite Albaniens (Bericht des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien 5, 1993). Köln: Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien. 54 S. Hoxha, Izet 1987a. Një paralelizëm midis kanunit të Lekë Dukagjinit, Zakonikut të car Stefan Dushanit dhe të drejtës bizantine [frz. 1987b]. In: Etnografia Shqiptare (Tirana) 15: 65-86. —— 1987b. Parallèle entre canon de Lekë Dukagjin, le code (Zakonik) du tsar Stephane Douchan et le droit byzatin. In: Ethnographie Albanaise (Tirana) 15: 53-74. —— 1999. E drejta civile në Kanunin e Lekë Dukagjinit. Tiranë. 192 S. Hughes, Thomas Stuart 1821 [orig. 1820]. Reise durch Sicilien und Griechenland nach Janina in Albanien. Jena: Braun’sche Buchhandlung. 203 S. Hutchings, Raymond 1993. International Trade, Transportation, Supply and Communications. In: Grothusen (Hrsg.): 391-416. Illia, Frano 1993. Kanuni i Skanderbegut. Shkodra: Argjipëshkvi i Shkodrës. 224 S. Innis, Harold A. 1950. Empire and Communications. Oxford: Clarendon Press. 230 S. Ippen, Theodor A. 1907a. Skutari und die nordalbanische Küstenebene (Zur Kunde der Balkanhalbinsel. Reisen und Beobachtungen, 5). Sarajevo: Kajon. 83 S. —— 1907b. Denkmäler verschiedener Alterstufen in Albanien. In: Wissenschaftliche Mitteilungen aus Bosnien und der Herzegowina (Sarajevo) 19: 3-70.

347 Literatur

—— 1908. Die Gebirge des nordwestlichen Albaniens (Abhandlungen der k. k. Geographischen Gesellschaft in Wien 7, 1). Wien: Lehner. 75 S. —— 1916a. Die Landschaft Schpat im mittleren Albanien. In: Mitteilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft in Wien (Wien) 7: 456-461. —— 1916b. Das Gewohnheitsrecht der Hochländer. In: Thallóczy (Hrsg.): 389-408. Ivanova, Julia V. 1960. Kanuni i Lekë Dukagjinit (Shprovë e karakteristikave historike). In: Buletin i Universiteti Shetëror të Tiranës, Seria Shkencat Shoqeror (Tirana) XIV, 2: 95-124. Jarvis, Christopher 2000. The rise and fall of Albania’s pyramid schemes. In: Finance and development 37, 1 (www.imf.org/ external/pubs/ft/fandd/2000/03/jarvis.htm [05.08.02]): 46-49. Kadare, Ismail 1989 [orig. 1978]. Der zerrissene April [Roman]. Salzburg/Wien: Residenz. 204 S. —— 1993 [orig. 1992]. La Pyramide. Paris: Fayard. 158 S. Kaleshi, Hasan 1975. Das türkische Vordringen auf dem Balkan. In: Bartl/Glassl (Hrsg.): 125-138. Kaser, Karl Ms. [2002]. ›The Winner Takes It All‹: Tribal Aspects of Albania’s Culture.30S. —— 1992. Hirten, Kämpfe, Stammeshelden. Ursprünge und Gegenwart des balkanischen Patriarchats. Wien [u.a.]: Böhlau. 462 S. —— 1995. Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur. Wien [u.a.]: Böhlau. 522 S. —— 2000. The History of the Family in Albania in the 20th Century: a First Profile. In: Ethnologica Balkanica (Münster [u.a.]) 4: 45-58. Kaser Karl, Robert Pichler und Stephanie Schwandner-Sievers (Hrsg.) 2002. Die weite Welt und das Dorf (Zur Kunde Südosteuropas. Albanologische Studien, 3). Wien [u.a.]: Böhlau. 296 S. Kaser, Michael 2001. Economic Continuities in Albania’s Turbulent History. In: Europe-Asia Studies (Glasgow) 53, 4: 627-637. Kastrati, Qazim 1955. Some Source on the Unwritten Law in Albania [Buchbesprechung zu Hasluck ›The Unwitten Law in Albania‹]. In: Man (London) LV, Art. 134: 124-127. Kloock, Daniela und Angela Spahr 1997. Medientheorie. Eine Einführung (UTB, 1986). München: Fink. 291 S. Knight, Edward F. 1880. Albania. A narrative of recent travel. London: Sampson Low. VIII, 278 S. Koch, Peter und Wulf Oesterreicher 1985. Sprache der Nähe, Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von

348 Literatur

Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanisches Jahrbuch (Köln) 36: 15-43. Korovilas, James P. 1999. The Albanian Economy in Transition: the Role of Remittances and Pyramid Investment Schemes. In: Post-Communist Economies (Carfax) 11, 3: 399-415. Kosack, Godula 1997. Contes mystérieux du pays mafa (Cameroun). Paris: Karthala. 270 S. —— 2001. Die Mafa im Spiegel ihrer oralen Literatur. Köln: Köppe. 854 S. Krais, Beate 1989. Soziales Feld, Macht und kulturelle Praxis. In: Eder (Hrsg.): 47-70. Krais, Beate und Gunter Gebauer 2002. Habitus (Einsichten). Bielefeld: Transcript. 94 S. Krasberg, Ulrike 2002. Die Ekstasetänzerinnen von Sîdî Mustafa. Eine theater-ethnologische Untersuchung. Berlin: Reimer. 244 S. Krasniqi, Mark 1986. Shtjefën Gjeçov – mësues dhe etnograf i shquar. In: Kultura Popullore (Tirana) 2: 147-157. Krasztev, Péter 2000. The Price of Amnesia. Interpretations of Vendetta in Albania. In: Zhelyazkova (Hrsg.): 194-217. Kressing, Frank und Karl Kaser (Hrsg.) 2002. Albania — a Country in Transition. Aspects of Changing Identities in a South-East European Country (Schriften des ZEI, 51). Baden-Baden: Nomos. 176 S. Kulpock, Alexander 1981. Europas letztes Geheimnis. Fakten und Eindrücke aus einem unbekannten Land (Das aktuelle Ullstein-Buch, 34522). Frankfurt am Main [u.a.]: Ullstein. 132 S. Lambertz, Maximilian Ms. [1949]. Die Albaner, ihre Sprache und ihre Kultur [Abschrift aus ›Blick nach Osten‹ Jan-Jun 1949, 1./2. Heft, S. 3-21 in der Albanischen Nationalbibliothek, Tirana]: 28 S. —— 1922. Albanische Märchen und andere Texte der albanischen Folklore (Schriften der Balkankommission, linguistische Abteilung, XII). Wien: Hoelder. VII, 255 Sp. S. —— 1949. Gjergj Fishta und das albanische Heldenepos Lahuta e Malcis, Laute des Hochlandes. Eine Einführung in die albanische Sagenwelt. Leipzig: Harrassowitz. 76 S. Lane, Rose Wilder 1923. Peaks of Shala. New York/London: Haper. 349 S. Lastarria-Cornhiel, Susana und Rachel Wheeler 1998. Gender, Ethnicity, and Land Property in Albania (Working Paper 18, Albania Series. Land Tenure Center). Madison: University of Wisconsin. IV, 48 S. —— 2000. Family and Property Rights. Implications for Gender and Farming. In: Lemel (Hrsg.): 126-156.

349 Literatur

Lawson, Colin und Douglas Saltmarshe 2000. Security and Economic Transition. Evidence From the North Albania. In: Europe-Asia Studies (Glasgow) 22, 1: 133-148. —— 2002. The Psychology of Economic Transformation: The Impact of the Market on Social Institutions, Status and Values in a Northern Albanian Village. In: Journal of Economic Psychology (Amsterdam) 23: 487-500. Lawson, Colin, Allister McGregor und Douglas Saltmarshe 2000. Surviving and Thriving: Differentiation in a Peri-Urban Community in Northern Albania. In: World Development (Amsterdam) 28, 8: 1499-1514. Lejean, G. 1861. Turquie d’Europe. Ethnographie der Europäischen Türkei (Ergänzungsband zu Petermanns Geographischen Mitteilungen) [deutsch-französische Ausgabe]. Gotha: Perthes. 38 S. Lelçaj, Lulzim 2000. Konfliktet dhe zgjidhja e tyre [albanisch-englische Ausgabe]. Shkodër: Qendra ›Drejtësi dhe Paqe‹. 141 S. Lemel, Harold 2000. Tenure Security, Land Use, and Investment. In: Ders. (Hrsg.): 50-74. Lemel, Harold (Hrsg.) 2000. Rural Property and Economy in Post-Communist Albania. New York/Oxford: Berghahn. XXIII, 160 S. Lévi-Strauss, Claude 1985 [1958]. Anthropologie structurale (agora). Paris: Presses Pocket. 435 S. —— 1992 [orig. 1973]. Strukturale Anthropologie II (stw, 1006). Frankfurt am Main: Suhrkamp. 426 S. —— 1993 [1992]. La pensée sauvage (Agora, 8). Paris: Plon. 347 S. Lewis, Ioan M. (Hrsg.) 1968. History and Social Anthropology (ASA monographs, 7). London: Tavistock. XXVIII, 307 S. Liebert, Erich 1909. Aus dem nordalbanischen Hochgebirge (Zur Kunde der Balkanhalbinsel, Reisen und Beobachtungen, 10). Sarajevo: Kajon. V, 74 S. Lipsius, Stephan 1997. Albanien - Dauerkrise oder Neubeginn? In: Südosteuropa-Mitteilungen (München) 37, 4: 247-276. Loewe, Philipp 1914. Rechtsleben in Albanien. In: Österreichische Rundschau (Wien/Leipzig) XL, 2: 110-120. Logoreci, Anton 1977. The Albanians. Europe’s Forgotten Survivors. London: Golllancz. 230 S. Lohse, Bernd 1936. Albanien. In: Atlantis (Leipzig/Zürich) VIII, 1: 16-23. Long, Norman 2000. Exploring Local/Global Transformations. A View from Anthropology. In: Arce/Long (Hrsg.): 184-201.

350 Literatur

Loos, Stefan 2000. Schriftlichkeit – Mündlichkeit. In: http:// www.Medienobservationen.uni-münchen.de/Schriftmund.html [23.2.00]. Lord, Albert B. 2000 [1960]. The Singer Resumes The Tale (Harvard Studies in Comparative Literature, 24). Ithaca: Cornell University Press. XXXVII, 307 S. Louis, Herbert 1927. Albanien. Eine Landeskunde vornehmlich auf Grund eigener Reisen (Geographische Abhandlungen 2, 3). Stuttgart: Engelhorn. VIII, 164 S. Louis-Jaray, Gabriel 1913. L’Albanie et les Albanais. In: Revue Politique et Parlementaire (Paris) 20: 239-255. Luarasi, Aleks 1998. Shteti dhe e drejta shqiptare në epokën e Skënderbeut. Tirana: Lurarasi. 322 S. —— 2001. Marrëdhëniet familjare (Studime për të drejtën zakonore shqiptare, 1) Tirana: Luarasi. 241 S. Luckmann, Thomas 1991. Social Communication, Dialogue and Conversation. In: Markovà/Foppa (Hrsg.): 45-61. Mai, Nicola 2001. Youth NGOs in Albania. Civil Society Development, Local Cultural Constructions of Democracy, and Strategies of Survival at Work. In: Schwandner-Sievers/Fischer (Hrsg.): 215-225. —— 2002. Jugend und italienische Medien. In: Kaser/Pichler/Schwandner-Sievers (Hrsg.): 39-62. Markgraf, Friedrich 1930. In Albaniens Bergen. Stuttgart: Strecker & Schröder. VIII, 244 S. Markovà, Ivana und F. Foppa (Hrsg.) 1991. The Dynamics of Dialogue. New York [u.a.]: Springer. VIII, 258 S. Marmullaku, Ramadan 1975. Albania and the Albanians. London: Hurst. X, 178 S. Martini, Xhafer 1999. Gjakmarrja. Komente, raste, situata. Tirana: Dardania. 113 S. —— 2001. Pajtimi në traditën popullore. Konflikte, meditime, zgjidhje. Tirana: Yehona. 117 S. Mauss, Marcel 1993a [1950]. Sociologie et anthropologie (Quadrige). Paris: PUF. LII, 482 S. —— 1993b [1950]. Essai sur le don. Form et raison de l’échange dans le sociét´s archaïques. In: Ders.: 145-279. McLuhan, Marshall 1997 [1962]. The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man. Toronto: University of Toronto Press. 293 S. —— 1999 [1964]. Understanding Media. The Extensions of Man. Massachusets: MIT. XXIII, 365 S.

351 Literatur

Meçi, Xhemal 1995. Kanuni i Lekë Dukagjinit. Varianti i Pukës. Tirana: Çabej. 265 S. —— 2002. Kanuni i Lekë Dukagjinit. Në Variantin e Mirditës. Tirana: Geer. 390 S. Mejdiaj, Bajram 1977. L’évolution de la bessa durant la lutte de liberation nationale et l’édification du socialisme. In: Buda (Hrsg.): 315-321. Mema, Shpëtim 1986. Aspektë të së drejtës zakonore shqiptare në organizimin e jetës shoqërore sipas udhëtarëve anglezë të gjysmës së parë të shek. XIX. In: Drejtësia Popullore (Tirana) XXXIX, 2: 82-88. Metaj, Ilirian und Etleva Dashi 1998. Bathorja – Mozaik subkulturash dhe mosvarrëveshjesh. In: Pajtimi (Tirana) III, 2: 49-54. Mihacevic, Lovro 1913. Durch Albanien. Reise-Eindrücke. Prag: Bonifatius. 208 S. Miller, Max 1989. Systematisch verzerrte Legitimationsdiskurse. Einige kritische Überlegungen zu Bourdieus Habitustheorie. In: Eder (Hrsg.): 191-219. Mjedia, Don L. 1901. Das Recht früher Stämme von Dukadschin. In: Zeitschrift für Ethnologie (Berlin) [Aus den Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Sitzung vom 20.7.1901]: 353-358. Moss, David 1979. Bandits and Boudanries in Sardinia. In: Man (London) N.S. 14, 3: 477-496. Muka, Ali 2001. Banesa fshatare dhe familja e madhe (tipi me shtëpi zjarri në qendër). Tirana: Akademia e shkencave. 438 S. Muka, Vladimir 2000. Pervojë pajtuese tradicionale dhe e re në rrethin e Gramshit. In: Pajtimi (Tirana) 4, 2: 106-110. Müller, Hans-Peter 1992. Sozialstrukturen und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit (stw, 982). Frankfurt am Main: Suhrkamp. 435 S. Müller, Josef 1844. Albanien, Rumelien und die österreichisch-montene- grinische Grenze. Prag: Calve. XII, 103 S. Münzel, Mark 1986. Indianische Oralkultur der Gegenwart. In: Scharlau/Ders.: 157-258. —— 1989. Bild und Drama in Oralkulturen. In: Scharlau (Hrsg.): 19-36. Nader, Laura und Harry F. Todd 1978. Introduction: The Disputing Process. In: Dies. (Hrsg.): 1-40. Nader, Laura und Harry F. Todd (Hrsg.) 1978. The Disputing Process – Law in Ten Societies. New York: Columbia University Press. XX, 372 S.

352 Literatur

Ndiaye, A. Raphaël 1999. La Tradition Orale: de la collecte à la numérisation (65th IFLA Council and General Conference). In: http://ifla.org/IV/ifla65/65rn-f.htm [25.2.2000]. Newman, Bernard [o.J.]. Albanian Journey (Pitman’s Travel Series). London: Pitman. 96 S. —— 1936. Albanian Back-Door. London: Jenkins. 315 S. —— 1944. Balkan Backround. London: Hale. 288 S. Nicholson, Beryl 1999. The Beginning of the End of a Rebellion: Southern Albania, May-June 1997. In: East European Politics and Societies (Berkeley) 13, 3: 543-565. Nopcsa, Franz [o.J.]. Topographie und Stammesorganisation in Nordalbanien [Sonderdruck aus der Festschrift für Carl Uhlig]. Öhringen: Rau. 10 S. —— 1907a. Beitrag zur Statistik der Morde in Nordalbanien. In: Mitteilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft in Wien (Wien) 50: 429-437. —— 1907b. Das katholische Nordalbanien. Ein Skizze (Separat aus ›Földrajzi Közlemények‹, Budapest). Wien: Gerold & Co. 56 S. —— 1910. Aus Sala und Klementi. Albanische Wanderungen (Zur Kunde der Balkanhalbinsel. Reisen und Beobachtungen, 11). Sarajevo: Kajon. 115 S. —— 1912a. Beiträge zur Vorgeschichte und Ethnologie Nordalbaniens. In: Wissenschaftliche Mitteilungen aus Bosnien und Herzgowina (Wien) 12: 168-253. —— 1912b. Haus und Hausrat im katholischen Nordalbanien (Zur Kunde der Balkanhalbinsel. Reisen und Beobachtungen, 16). Sarajevo: Institut für Balkanforschung. 90 S. —— 1913. Die Albaner. In: Urania (Wien) 1/2: 1-16. —— 1916. Zur Geschichte der Kartographie Nordalbaniens. In: Mitteilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft in Wien (Wien) 59, 8/9: 520-585. —— 1923. Die Herkunft des Gewohnheitsrecht, des Lek Dukadzinit. In: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft (Stuttgart) XL: 371-376. —— 1925. Albanien, Bauten, Trachten und Geräte Nordalbaniens. Berlin/Leipzig: de Gruyter. VIII, 259 S. —— 1929. Geographie und Geologie Nordalbaniens (Editio Seperata ex Geologica Hungaria; Seria Geologica, 5). Budapest: Regni Hungariae Geologicum. XIV, 703 S.

353 Literatur

—— 1996 [Ms. 1923]. Die Bergstämme Nordalbaniens und ihr Gewohnheitsrecht [Ausschnitte aus unpublizierten Manuskript]. In: Baxhaku/Kaser [Hrsg.]: 205-428. Nova, Koço 1972. Pozita e gruas sipas së drejtës zakonore të Labërisë. In: Etnografia Shpitare (Tirana) IV: 37-52. —— 1989. La justice d’après le droit coutumier. In: Ethnographie Albanaise (Tirana) 16: 73-101. Omari, Luan 1990. Droit Populaire et Droit Officiel en Albanie (XIXe et XXe siècles). In: Studia Albanica (Tirana) 2: 80-85. Ong, Walter J. 1967. The Presence of the Word: Some Prolegoma for Cultural and Religious History (The Terry Lectures). New Haven [u.a.]: Yale University Press. XIV, 360 S. —— 1999 [1982]. Orality and Literacy. The Technologizing of the Word (New Accents). London [u.a.]: Routledge. X, 201 S. Parry, Milman 1971. The Making of Homeric Verse. The Collected Papers of Milman Parry. Oxford University Press. S. Peinsipp, Walther 1985. Das Volk der Shkypetaren: Geschichte, Gesellschafts- und Verhaltensordnung. Ein Beitrag zur Rechtsarchäologie und zur soziologischen Anthropologie des Balkans. Wien [u.a.]: Böhlau. 303 S. Peristiany, John G. (Hrsg.) 1974 [1966]. Honour and Shame. The Values of Mediterranean Society (The Nature of Human Society). Chicago: University of Chicago Press. 265 S. —— 1974 [1966]. Introduction. In: Ders. (Hrsg.): 9-18. Peters, Markus W. E. 2001a. Die Geschichte der Katholischen Kirche in Albanien seit der Pariser Friedenskonferenz 1919/20 bis zur Pastoralvisite Papst Johannes Pauls II. im Jahre 1993. Bonn: [Selbstverlag]. 309 S. —— 2001b. Katholische Kirchenbauten in Albanien vom Mittelalter bis zu Gegenwart – Symbolik, Geschichte, Hintergründe. In: Raunig (Hrsg.): 90-99. —— 2003. Geschichte der Katholischen Kirche in Albanien 1919-1993 (Albanische Forschungen, 23). Wiesbaden: Harrassowitz. 340 S. Pettifer, James 2001 [1994]. Albania & Kosovo (Blue Guide) [Reiseführer]. London:A&CBlack. 511 S. Pinkau, Rainer 1981. Radio Tirana. Die Stimme der Sozialistischen Volksrepublik Albanien (Rundfunk im Ausland, 1). Göttingen: rpa publ. 68 S. —— 1986. Radio Tirana. ›Leuchtfeuer des Sozialismus‹? In: Radio Welt (Baden-Baden) 8, 86: 40-41.

354 Literatur

Pinon, René 1909. La question albanaise. In: Révue des Deux Mondes (Paris) 79, 54: 792-892. Pitt-Rivers, Julian 1997 [orig. 1977]. Anthropologie de l’honneur (Pluriel). Paris: Hachette. 273 S. Pradier, Jean Marie (Hrsg.) 1996. La Scène et la Terre. Questions d’ethnologie. Arles: Babel. 285 S. Pulaha, Selami 1977. La culture populaire albanaise comme expression des particularités ethniques et de la formation de la nation albanaise. In: Buda (Hrsg.): 177-183. Pupovci, Syrja 1967. Kanuni i Lekë Dukagjinit. Burimet, origjine, emri dhe vlefshmenija. In: Përparimi (Prishtina) XII, 8: 965-1015. —— 1968b. Le formalisme et la ›Besa‹ dans le droit des obligations du coutumier de Lek Dukagjine. In: Studia Albanica (Tirana) V, 2: 143-151. —— 1969. Një paralelë midis kanunit të Lekë Dukagjinit dhe Kanunit të Skënderbeut. In: Simpoziumi pë Skënderbeun 9.-12. Mai 1968 (Prishtina): 248-261. —— 1971a. Burimet për studimet e kanunit të Lekë Dukagjinit [frz. 1971b]. In: Studime Historike (Tirana) XXV (VIII), 2: 75-98. —— 1971b. Les sources à étudier le coutumier de Lek Dukagjine. In: Studia Albanica (Tirana) VIII, 2: 59-93. —— 1972b. Kanuni i Lekë Dukagjinit (Origjina, zvillimi dhe karakteristikat). In: Gjeçov: XVII-CX S. S. —— 1972c. Origjina dhe emri i kanunit të Lekë Dukagjinit. In: Studime Historike (Tirana) XXVI (IX), 1: 103-123. Quasthoff, Uta M. 1996. Mündliche Kommunikation als körperliche Kommunikation. Beobachtungen zur direkten Interaktion und zum Fernsehen. In: Biere/Hoberg (Hrsg.): 9-25. Rapper, Gilles de 2000. Entre masculin et feminin. La vierge jurée, l’heritiere et le gendre a la maison. In: Homme (Paris) 154/5: 457-466; 721-732. Raunig, Walter (Hrsg.) 2000. Albanien. Reichtum und Vielfalt einer Kultur. München: Staatliches Museum für Völkerkunde. 208 S. Ravis-Giordani, Georges (Hrsg.) 1999. Amitiés: Histoire er Anthropologie. Aix en Provence: Publications de l’Université de Provence. 480 S. Robel, Gert 1966. Franz Baron Nopcsa und Albanien (Albanische Forschungen, 5). Wiesbaden: Harrassowitz. 191 S. —— 1975. Betrachtungen zum nordalbanischen Gewohnheitsrecht. In: Bartl/Glassl (Hrsg.): 227-235. Roberts, Simon 1981 [orig. 1979]. Ordnung und Konflikt. Eine Einführung in die Rechtsethnologie. Stuttgart: Klett-Cotta. 232 S.

355 Literatur

Rockstroh, Edwin 1875. Reiseskizzen aus Dardanien und Albanien. In: Jahresbericht des Vereins für Erdkunde zu Dresden (Dresden) 12: 40-58. Ruesch, Jurgen und Gregory Bateson 1987 [1951]. Communication. The Social Matrix of Psychiatry. New York/London: Norton. XIV, 314 S. Ruffini, Julio L. 1978. Disputing Over Livestock in Sardinia. In: Nader/Todd (Hrsg.): 209-246. Saltmarshe, Douglas 2000. Local Government in Practice: Evidence From Two Villages in Northern Albania. In: Public administration and development (New York) 20, 4: 327-338. —— 2001. Identity in a Post-Communist Balkan State. An Albanian Village Study. Aldershot: Ashgate. 246 S. Sampson, Steven 1996. The Social Life of Projects. Importing Civil Society to Albania. In: Hann/Dunn (Hrsg.): 121-142. Santner-Schriebl, Silvia Ms. [1996]. Feldforschung in den nordalbanischen Bergen. Der Sieg der Moderne im Postkommunismus am Beispiel des schnellen Wandels brüchig gewordener Traditionen im Dukagjin [Diplomarbeit, Institut für Volkskunde der Karl-Franzens-Universität Graz]. Graz. 149 S. —— Ms. [1999]. Wertewandel in Stammesgesellschaften am Beispiel der nordalbanischen Hochgebirgsregion Dukagjin und der Ghettos in Tirana und Shkodër [Dissertation, Geisteswissenschaftliche Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz]. Graz. 246 S. —— 1995. Brüchige Traditionen. In: Eberhart/Kaser (Hrsg.): 85-99. —— 2002. Migration Within Albania. From the Northern Highlands to the Cities of the Plains. In: Kressing/Kaser (Hrsg.): 105-123. Scharlau, Birgit 1989. Oralität, Literalität und der veränderte Blick auf Lateinamerika. In: Dies. (Hrsg.): IX-XXV. Scharlau, Birgit (Hrsg.) 1989. Bild – Wort – Schrift (Frankfurter Beiträge zur Lateinamerikanistik, 1). Tübingen: Narr. XXV, 185 S. Scharlau, Birgit und Mark Münzel 1986. Qellqay. Mündliche Kultur und Schrifttradition bei Indianern Lateinamerikas. Frankfurt am Main/New York: Campus. 294 S. Schmidt, Axel 1994. ›Wo die Männer sind, gibt es Streit.‹ Ehre und Ehrgefühl in ländlichen Sardinien. In: Vogt/Zingerle (Hrsg.): 193-211. Schmidt, Bettina E. und Ingo W. Schröder (Hrsg.) 2001. Anthropology of Violence and Conflict (EASA series). London [u.a.]: Routledge. VI, 229 S. Schmidt-Neke, Michael 1987. Entstehung und Ausbau der Königsdiktatur in Albanien (1912 - 1939). Regierungsbildungen, Herrschaftsweise und Machteliten in einem jungen Balkanstaat (Suedosteuropäische Arbeiten 84). München: Oldenbourg. 371 S.

356 Literatur

—— 1998. Albanien zwischen zwei Machtwechseln. Staatsstreich oder demokratischer Neubeginn? In: Osteuropa (Stuttgart) 48, 4: 392-407. Schröder, Ingo W. und Stéphane Voell 2002. Moderne Oralität. Einleitung. Kommunikationsverhältnisse an der Jahrtausendwende. In: Dies. (Hrsg.): 11-49. Schröder Ingo W. und Stéphane Voell (Hrsg.). Moderne Oralität. Ethnologische Perspektiven auf die plurimediale Gegenwart (Curupira, 13). Marburg: Curupira. 305 S. Schwandner, Stephanie Ms. [1993]. Funktion und Bedeutung der ›Besa‹ in Vergangenheit und Gegenwart [Magisterarbeit, Osteuropainstitut Berlin]. Berlin. 125. —— 1995. Freund, Feind und Ehre. In: Eberhart/Kaser (Hrsg.): 117-132. Schwandner-Sievers, Stephanie 1996. Zur Logik der Blutrache in Nordalbanien. Ehre, Symbolik und Gewaltlegitimation. In: Sociologus (Berlin) 46, 2: 109-129. —— 1998. Gruppensolidarität und Gewaltlegitimation im aktuellen Albanien. Eine sozialanthropologische Analyse. In: Südosteuropa Mitteilungen (München) 38, 4: 326-341. —— 1999. Humilation and Reconciliation in Nothern Albania. The Logics of Feuding in Symbolic and Diachronic Perspectives. In: Elwert [u.a.]: 127-145. —— 2001. The Enactment of ›Tradition‹. Albanian Constructions of Identity, Violence and Power in Times of Crises. In: Schmidt/Schröder (Hrsg.): 97-120. Schwandner-Sievers, Stephanie und Bernd J. Fischer (Hrsg.) 2001. Albanian Identities. Myth, Narratives and Politics. Bloomington: Indiana University Press. XVI, 238 S. Schwanke, Robert 1969. Wirtschafts- und Sozialentwicklung Albaniens vor und nach dem Jahre 1912. In: Althammer (Hrsg.): 192-210. Schwingel, Markus 1993. Analytik der Kämpfe. Macht und Herrschaft in der Soziologie Bourdieus (Argumente-Sonderbände N.F. AS, 215). Hamburg: Argument. 240 S. —— 2000 [1995]. Pierre Bourdieu zur Einführung (Zur Einführung, 221). Hamburg: Junius. 186 S. Seiner, Franz 1922. Die Gliederung der albanischen Stämme. Graz: [Selbstverlag]. 19 S. Shannon, Claude E. und Warren Weaver 1976 [orig. 1949]. Mathematische Grundlagen der Informationstheorie (Scienta nova). München: Oldenbourg. 143 S.

357 Literatur

Sherzer, Joel 1987. Poetic structuring of Kuna Discourse. The Line. In: Ders./Woodbury (Hrsg.): 103-139. —— 1990 [1983]. Kuna Ways of Speaking. An Ethnographic Perspective (Texas Linguistic Series). Austin: University of Texas Press. X, 262 S. Sherzer, Joel und A.C. Woodbury (Hrsg.) 1987. Native American Discourse. Poetics and Rhetoric (Cambridge Studies in Oral and Literature, 13). Cambridge: Cambridge University Press. X, 246 S. Shkurti, Spiro 1997. Der Mythos vom Wandervolk der Albaner. Landwirtschaft in den albanischen Gebieten (13. - 17. Jahrhundert) (Zur Kunde Südosteuropas. Albanologische Studien, 1). Wien [u.a.]: Böhlau. 302 S. Siebertz, Paul 1910. Albanien und die Albanesen. Landschafts- und Charakterbilder. Wien: Manz. 274 S. Sigrist, Christian 1967. Regulierte Anarchie (Texte und Dokumente zur Soziologie). Olten/Freiburg: Walter. 275 S. Skendi, Stravo 1954. Albanian Political Thought and Revolutionary Activity 1881-1912. In: Südost-Forschungen (München) 13: 159-199. —— 1967. The Albanien National Awekening 1978-1912. Princeton: Princeton University Press. XVI, 498 S. Stadtmüller, Georg 1937/1938. Landschaft und Geschichte im albanisch-epirotischen Raum. In: Revue Internationale des Études Balkaniques (Belgrad) 3, I-II (5-6): 345-370. Stahl, Paul H. 1986a. Household, Village, and Village Confederation in Southeastern Europe (East European Monographs, CC). New York: Columbia University Press. VI, 247 S. —— 1986b. The Albanians. In: Ders. 1986a: 88-137. —— 1986c. The Southern Slaves. In: Ders. 1986a: 51-87. Stein, Helga 1989. Das Folklore-Institut in Tirana und das Folklore-Festival 1988 in Gjirokastër. In: Zeitschrift für Volkskunde (Göttingen) 2: 264-266 S. —— 1993. Hochschule. In: Grothusen (Hrsg.): 634-652. Steinmetz, Karl 1904. Eine Reise durch die Hochländergaue Oberalbaniens (Zur Kunde der Balkanhalbinsel. Reise und Beobachtungen, 1). Wien/Leipzig: Hartleben. VI, 68 S. —— 1905. Ein Vorstoß in die nordalbanischen Alpen (Zur Kunde der Balkanhalbinsel. Reisen und Beobachtungen, 3). Wien/Leipzig: Hartleben. 60 S. Stewart, Frank Henderson 1994. Honor. Chicago/New York: University of Chicago Press. XIII, 175 S.

358 Literatur

Stoppel, Wolfgang 1990a. Albanische Strafgesetze (Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung, 105). Berlin/New York: de Gruyter. VIII, 278 S. —— 1993. Rechtssystem. In: Grothusen (Hrsg.): 243-288. Streck, Bernhard (Hrsg.) 2000. Wörterbuch der Ethnologie [2. Aufl.]. Wuppertal: Edition Trickster/Peter Hammer Verlag. 431 S. Swartz, David 1997. Culture & Power. The Sociology of Pierre Bourdieu. Cambridge: Cambridge University Press. VIII, 333 S. Szamatolski, Ludwig 1910. Albanien im Lichte neuerer Forschung (Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht der 6. städt. Realschule zu Berlin, Ostern 1910). Berlin: Weidmannsche Buchhandlung. 30 S. Tarifa, Fatos 1993. Is There a Future for the Social Sciences in Albania? In: East European Politics and Societies (Berkeley) 7, 1: 33-42. —— 1996. Neither ›Bourgeois‹ nor ›Communist‹ Science: Sociology in Communist and Post-Communist Albania. In: Communist and Post-Communist Studies (Oxford) 29, 1: 103-113. Tasnádi Kubacska, András 1945. Franz Baron Nopcsa (Leben und Briefe ungarischer Naturforscher, 1). Budapest. 295 S. Teich, Gerhard 1969. Das albanische Dorf. Ein Beitrag zum Problem der Existenz patriarchalischer Strukturen in einer sozialistisch organisierten Gesellschaft (Von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Sozialer Wandel auf dem Lande in Südosteuropa, Beitrag 16, Lieferung 4). Darmstadt: Hoppstedt & Co. 34 S. Thallóczy, Ludwig von 1916. Kanuni i Lekës. In: Ders. (Hrsg.): 409-462. Thallóczy, Ludwig von (Hrsg.) 1916. Illyrisch-albanische Forschungen. 2 Bde. München/Leipzig: Duncker & Humblot. I: 54; II: 310 S. Thomo, Pirro 1977. La kulle de l’Albanie du Nord comme habitation rurale et la voie de sa formation. In: Buda (Hrsg.): 449-455. Tozer, Henry F. 1869. Researches in the Highlands of Turkey. 2 Bde. London: John Murray. I: XII, 397; II: VII, 390 S. Uçi, Alfred 1981. Le Festival folklorique national et quelques questions d’actualité des sciences ethnologiques folkloriques. In: Culture Populaire Albanaise (Tirana) 1, 1: 7-24. —— 1984. La culture traditionnelle et ses fonctions ethniques. In: Culture Populaire Albanaise (Tirana) 4: 3-18. Ulqini, Kahreman 1961. Gjurmime etnografike në trojet e Skanderbeut. In: Buletin i Universitetit, Shtetëror të Tiranës, Seria Shkencat Shoqërore (Tirana) XV, 2: 162-195. —— 1986. Le Coutumier et le conseil des anciens dans l’institution du bajrak. In: Ethnographie Albanaise (Tirana) 14: 229-250.

359 Literatur

—— 1989a. E drejta zakonore shqiptare përballë së drejtës kanonike dhe sheriatit [frz. 1989b]. In: Etnografia Shqiptare (Tirana) 16: 65-81. —— 1989b. Le droit coutumier albanais comparé au droit canonique du seriat. In: Ethnographie Albanaise (Tirana) 16: 55-72. —— 1991. Bairaku ne organizimin e vjeter shoqeror. Fundi i shek. XVII deri me 1912. Tirana: Akademia e Shkencave. 183 S. —— Organizimi i Vjetër Shoqëror tek Shqiptarët. New York: Eagle Press. 215 S. —— 1997. Ndërmjetësimi dhe pajtimi në traditën popullore sqiptare. In: Pajtimi (Tiranë) 2, 2: 81-88. Urban, Martin 1938. Die Siedlungen Südalbaniens (Tübinger geographische und geologische Abhandlungen II, 4). Öhringen: Rau. 198 S. Vansina, Jan 1985 [orig. 1961]. Oral Tradition as History. Madison: University of Wisconsin Press. XIV, 256 S. Vickers, Miranda 1997 [1995]. The Albanians. A Modern History. New York/London: Tauris. X, 280 S. Vickers, Miranda und James Pettifer 1997. Albania. From Anarchy to Balkan Identity. New York: New York University Press. XVII, 326 S. Voell, Stéphane Ms. [2003]. The Practice of the Internet. Albania as an Example of the Adoption of a New Communication Media.20S. [Vortrag im Workshop ›Modern Orality: Anthropological Perspectives on the Multimedial Present‹ im Rahmen der EASA-Konferenz in Kopenhagen (14.-17. August 2002)] —— 2003. The Kanun in the City. Albanian Customary Law As a Habitus and Its Persistence in the Suburb of Tirana, Bathore. In: Anthropos (Sankt Augustin) 98, 1 85-101 Vogt, Ludgera 1994. Ehre in traditionalen und modernen Gesellschaften. Eine soziologische Analyse des ›Imaginären‹ am Beispiel zweier literarischer Texte. In: Vogt/Zingerle (Hrsg.): 291-314. —— 1997. Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft (stw, 1306). Frankfurt am Main: Suhrkamp. 437 S. Vogt, Ludgera und Arnold Zingerle 1994. Einleitung. Zur Aktualität des Themas Ehre und zu seinem Stellenwert in der Theorie. Vogt/Zingerle (Hrsg.): 9-34. Vogt, Ludgera und Arnold Zingerle (Hrsg.) 1994. Ehre. Archaische Momente in der Moderne (stw, 1121). Frankfurt am Main: Suhrkamp. 318 S. Vollrath, Hanna 1981. Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften. In: Historische Zeitschrift (Berlin) 233, 3: 571-594.

360 Literatur

Waal, Clarissa de 1996. Decolletivisation and Total Scarcity in High Albania. In: Abrahams (Hrsg.): 169-192. —— 1997. Ground Level Economics in Post-Communist Albania. A Report. In: Ethnologia Balkanica (Münster [u.a.]) 1: 124-134. —— 1998. From Laissez-Faire to Anarchy in Post-Communist Albania. In: Cambridge Anthropology (Cambridge) 20, 3: 21-44. Waldmann, Peter 1999. Rachegewalt: Zur Renaissance eines für überholt gehaltenen Gewaltmotivs in Albanien und Kolumbien. In: http:// fsk.ethz.ch/ publ/zuercher/zu_54/ zu54_Waldmann.htm [4.10.2000]: S. —— 2001. Rache ohne Regeln. Wiederaufleben eines archaischen Gewaltmotivs in Albanien und in Boyacá (Kolumbien). In: Höpken/Riekenberg (Hrsg.): 173-194. Wallisch, Friedrich 1931. Neuland Albanien. Stuttgart: Franck’sche Verlagsbuchhandlung. 161 S. Weber, Max 1980 [1921/22]. Wirtschaft und Gesellschaft [5. Aufl]. Tübingen: Mohr. 945 S. Weitzel, Jürgen 1992. Gewohnheitsrecht und fränkisch-deutsches Gerichtsverfahren. In: Dilcher [u.a.] (Hrsg.): 67-86. Wheeler, Rachel 1998. Past and Present Land Tenure Systems in Albania. Patrilineal, Patriarchal, Family-Centered (Working Paper 13, Albanian Series). Madison: University of Wisconsin Press. 31 S. Whitaker, Ian 1968. Tribal Structure and National Politics in Albania, 1910-1950. In: Lewis (Hrsg.): 253-293. —— 1981. ›A Sack for Carrying Things‹: the Traditional Role of Women in Northern Albanian Society. In: Anthropological Quarterly (Washington) 54, 3: 146-156. Winkin, Yves 2001 [1996]. Anthropologie de la communication (points essais, sciences humaines, 448) Paris: Seuil. 332 S. —— (Hrsg.) 2000 [1981]. La Nouvelle Communication (points essais, sciences humaines, 136). Paris: Seuil. 390 S. Winkler, Hartmut 2000. Die prekäre Rolle der Technik. Technikzentrierte versus ›anthropologische‹ Mediengeschichtsschreibung. In: Heller [u.a.] (Hrsg.): 9-22. Winnifrith, Tom 1992. Albania and the Ottoman Empire. In: Ders. (Hrsg.): 74-88. Winnifrith, Tom (Hrsg.) 1992. Perspectives on Albania (Warwick Studies in the European Humanities). Hampshire [u.a.]: Macmillan. XII, 140 S. Young, Antonia 2001 [2000]. Women Who Become Men. (Dress, Body, Culture). Oxford/New York: Berg. XXVI, 168 S.

361 Literatur

—— 2002. Women’s Lack of Identity and the Myth of Their Security Under Albanian Patriarchy in Albania. In: Kressing/Kaser (Hrsg.): 93-104. Zhelyazkova, Antonina (Hrsg.) 2000. Albanian and the Albanian Identities (The Fate of Muslim Communities in the Balkan, 5). Sofia: IMIR. 277 S. Zires, Magarita 1997. Mündliche Kulturen in ihrer Wechselbeziehung zu schriftlichen und audiovisuellen Kulturen. Das Gerücht über die Schlümpfe. Frankfurt am Main: Vervuert. 397 S. Zojzi, Rrok 1956. Mbi të drejtën kanunore të popullit shqiptar. In: Buletin për Shkencat Shoqëror (Tirana) 2: 144-151. —— 1967. Questions concernant le droit coutumier albanais. In: Studia Albanica (Tirana) IV, 2: 117-126. —— 1969. Aspect du coutumier de Skanderbeg vu dans le cadre général du droit coutumier. In: Deuxième Conférence des Etudes Albanologiques (Tirana) Bd. I: 383-395. —— 1977. Survivance de l’ordre du fis dans quelques micro-régions de l’Albanie. In: Buda (Hrsg.): 185-206. —— 1981. Shtjefën Gjeçov – un patriote et homme d’études éminent de la culture populaiere. In: Culture Populaire Albanaise (Tirana) 1, 1: 171-184. Zumthor, Paul 1983. Introduction à la poésie orale (Poétique). Paris: Seuil. 307 S.

362 Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Grafik: Voell Abb. 2: Foto: Voell Abb. 3: Ulqini 1995 Abb. 4: Fox (Hrsg.) 1989 Abb. 5: Fox (Hrsg.) 1989 Abb. 6: Foto: Voell Abb. 7: Foto: Simone Lehmann Abb. 8: Luarasi 1998 Abb. 9: Foto: Simone Lehmann Abb. 10: Shannon 1949 Abb. 11: Grafik: Voell Abb. 12: Grafik: Voell Abb. 13: Seiner 1922 Abb. 14: Grafik: Voell Abb. 15: Nopcsa 1996 [Ms. 1996], leicht nachbearbeitet Abb. 16: Foto: Voell Abb. 17: Foto: Voell Abb. 18: Foto: Voell Abb. 19: Grafik: Voell, basiert auf einer Karte von Co-Plan, Tirana Abb. 20: Foto: Voell Abb. 21: Foto: Voell Abb. 22: Foto: Voell Abb. 23: Foto: Voell Abb. 24: Foto: Voell Abb. 25: http://www.mjaft.org/ [18.08.2004] Abb. 26: Foto: Voell Abb. 27: Foto überreicht von Xhemal Meçi, Fotograf unbekannt Abb. 28: Koha Jonë (Tirana) vom 6. Oktober 2001

363

Zum Autor

Stéphane Voell. Geboren 1971 in Bron/Frankreich. Studium der Ethnologie/Völkerkunde in Marburg, Köln und Montpellier (Frank- reich). Licence d’Ethnologie 1995. Magister 1999. Promotion 2003. 1999-2000 und seit 2002 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Vergleichende Kulturforschung der Philipps-Universität Marburg. Feldforschungen u.a. in Albanien.

365 Curupira Ethnologie in Marburg

Reihe Curupira

Jeanette Erazo-Heufelder Birgit M. Suhrbier Kultur und Ethnizität. Eine Die Macht der Gegenstände. Begriffsrevision am Beispiel andiner Menschen und ihre Objekte am Verhältnisse: Salasaca (Ecuador). oberen Xingú, Brasilien. Band 1 — 1994, 231 S., Band 6 — 1998, 245 S. ISBN 3-8185-0166-1, EUR 24,— ISBN 3-8185-0258-X, EUR 21,—

Bettina E. Schmidt Ulrike Prinz Von Geistern, Orichas und den ›Das Jacaré und die streitbaren Puertoricanern. Zur Verbindung von Weiber‹. Poesie und Religion und Ethnizität. Geschlechterkampf im östlichen Band 2 — 1995, 400 S. Tiefland Südamerikas. ISBN 3-8185-0181-5, EUR 26,— Band 7 — 1999, 384 S. ISBN 3-8185-0276-5, EUR 24,— Yolanda Sol Montoya Bonilla Verflechtungen. Indianische Sol Montoya Bonilla & Mythologie des Amazonasgebietes: Bettina E. Schmidt Jenseits von Wort und Bild Teufel und Heilige auf der Bühne. Band 3 — 1996, 231 S. Religiosität und Freude bei ISBN 3-8185-0220-X, EUR 24,— Inszenierungen mestizischer Feste in Südamerika. Christian Häusler Band 8 — 2000, 184 S. Kopfgeburten. ISBN 3-8185-0289-7, EUR 21,— Die Ethnographie der Yanomami als literarisches Genre Mark Münzel, Bettina E. Schmidt & Band 4 — 1997, 177 S. Heike Thote (Hrsg.) ISBN 3-8185-0231-5, EUR 18,— Zwischen Poesie und Wissenschaft. Essays in und neben der Ethnologie. Bettina E. Schmidt und Band 9 — 2000, 359 S. Mark Münzel (Hrsg.) ISBN 3-8185-0290-0, EUR 24,— Ethnologie und Inszenierung. Ansätze zur Theaterethnologie. Band 5 — 1998, 554 S. ISBN 3-8185-0248-X, EUR 32,50 Evelyn Schuler Dagmar Schweitzer de Palacios & Sein oder Nicht-Sein? Bernhard Wörrle (Hrsg.) Fragmente eines kosmologischen Heiler zwischen den Welten. Tupi-Guarani Diskurses in der Transkulturelle Austauschprozesse im neueren brasilianischen Ethnologie. Schamanismus Ecuadors. Band 10 — 2000, 199 S. Band 15 — 2003, 229 S. ISBN 3-8185-0291-9, EUR 19,— ISBN 3-8185-0381-8, EUR 19,—

Lioba Rossbach de Olmos Claudia Leipold Komplexe Beziehungen. »Our Native Thing«. Zur Rezeption und Sozialorganisation Studie zum Geschichtsbild der der Schwarzen im Chocó Sanandresanos in der (Kolumbien). kolumbianischen Karibik. Band 11 — 2000, 374 S. Band 16 — 2004, 299 S. ISBN 3-8185-0315-X, EUR 24,— ISBN 3-8185-0382-6, EUR 19,—

Ulrike Krasberg & Stéphane Voell Bettina E. Schmidt (Hrsg.) Das nordalbanische Stadt in Stücken. Gewohnheitsrecht und seine Band 12 — 2002, 272 S., mündliche Dimension. ISBN 3-8185-0342-7, EUR 23,— Band 17 — 2004, 365 S. ISBN 3-8185-0395-8, EUR 20,— Ingo W. Schröder & Stéphane Voell (Hrsg.) Andreas F. Kowalski Moderne Oralität. ›Tu és quem sabe.‹ – Ethnologische Perspektiven auf ›Du bist derjenige, der es weiß.‹ die plurimediale Gegenwart. Das kulturspezifische Verständnis der Band 13 — 2002, 305 S. Canela von Indianerhilfe. Ein ISBN 3-8185-0360-5, EUR 20,— ethnographisches Beispiel aus dem indianischen Nordost-Brasilien. Bettina E. Schmidt (Hrsg.) Band 18 — 2004, 253 S. (unter Mitarbeit von Michael Kraus, ISBN 3-8185-0396-6, EUR 19,— Heike Thote & Stéphane Voell) Wilde Denker. Unordnung und Michael Kraus Erkenntnis auf dem Tellerrand der Bildungsbürger im Urwald. Ethnologie. Festschrift für Mark Die deutsche ethnologische Münzel zum 60. Geburtstag. Amazonienforschung (1884-1929). Band 14 — 2003, 358 S. Band 19 — 2004, 539 S. ISBN 3-8185-0374-5, EUR 20,— ISBN 3-8185-0397-4, EUR 25,— Reihe Curupira Workshop Bettina E. Schmidt & Lioba Rossbach de Olmos (Hrsg.) Ulrike Krasberg (Hrsg.) Standpunkte: Afroamerika im Gespräche mit Frauen aus der Türkei interdisziplinären Dialog. in Stadtallendorf. Ergebnisse eines Beiträge der Regionalgruppe Forschungsprojektes ›Afroamerika‹ im Rahmen der Tagung Band 1 — 1996, 95 S. der Deutschen Gesellschaft für ISBN 3-8185-0202-1, EUR 6,— Völkerkunde in Heidelberg 1999. Band 6 — 2000, 142 S. Bettina E. Schmidt & ISBN 3-8185-0316-8, EUR 10,— Lioba Rossbach de Olmos (Hrsg.) Das afrikanische Amerika. Stéphane Voell (Hrsg.) Beiträge der Regionalgruppe ›... ohne Museum geht es nicht‹ Die ›Afroamerika‹ im Rahmen der Tagung Völkerkundliche Sammlung der der Deutschen Gesellschaft für Philipps-Universität Marburg. Völkerkunde in Frankfurt/Main 1997. Band 7 — 2001, 256 S. Band 2 — 1998, 113 S. ISBN 3-8185-0318-4, EUR 12,60 ISBN 3-8186-0262-5, EUR 8,— Michael Kraus & Ulrike Krasberg (Hrsg.) Mark Münzel (Hrsg.) Religion und weibliche Identität. Museum und Universität in der Interdisziplinäre Perspektiven auf Ethnologie. Wirklichkeiten. Band 8 — 2003, 249 S. Band 4 — 1999, 324 S. ISBN 3-8185-0379-6, EUR 12,50 ISBN 3-8185-0261-7, EUR 16,— Lioba Rossbach de Olmos & Michael Kraus & Bettina E. Schmidt (Hrsg.) Mark Münzel (Hrsg.) Ideen über Afroamerika — Zur Beziehung zwischen Universität Afroamerikaner und ihre Ideen. und Museum in der Ethnologie. Beiträge der Regionalgruppe Band 5 — 2000, 172 S. Afroamerika auf der Tagung der ISBN 3-8185-0317-6, EUR 11,— Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde in Göttingen 2001. Band 9 — 2003, 151 S. ISBN 3-8180380-X, EUR 9,—