Freitag, 09.05.2014 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Sabine Fallenstein

„Wenig bewegliche Stimme“

Franz Schubert „, Tenor Helmut Deutsch, Klavier Sony Classical 88883795652

„Unbedingt empfehlenswerte Kompilation“

Lucerne Festival / Historic Performances Claudio Abbado Franz Schubert Sinfonie Nr. 7, „Unvollendete“ Wiener Philharmoniker Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 36 Richard Wagner Siegfried-Idyll Chamber Orchestra of Europe Audite 95.627

„Herausragende musikalische Qualität“

Wolfgang Amadeus Mozart Le nozze di Figaro Andrej Bondarenko, Bariton (Graf Almaviva) Simone Kermes, Sopran (Gräfin Almaviva) Fanie Antelonou, Sopran (Susanna) Christian Van Horn, Bass (Figaro) Mary-Ellen Nesi, Sopran (Cherubino) Maria Forsström, Sopran (Marcellina) Nicolai Loskutkin, Bass (Bartolo) Krystian Adam, Tenor (Don Basilio) James Elliott, Tenor (Don Curzio) Gary Agadzhanian, Bass (Antonio) Natalya Kirillova, Sopran (Barbarina) MusicAeterna Leitung: Teodore Currentzis Sony Classical 88883709262

Am Mikrofon begrüßt Sie Sabine Fallenstein, heute mit diesen neuen CDs, die ich Ihnen kritisch vorstellen möchte: An Franz Schuberts „Winterreise” kommt wohl kein Liedsänger von Rang vorbei. Jonas Kaufmann hat nun zusammen mit dem Liedpianisten Helmut Deutsch beim Label Sony Classical seine „Winterreise“ vorgelegt.

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Im Gedenken an den am 20. Januar dieses Jahres verstorbenen Claudio Abbado, einen der bedeutendsten Dirigenten unserer Zeit, hat das Lucerne Festival in alter Verbundenheit bisher unveröffentlichte Orchesteraufnahmen unter der Leitung von Abbado auf CD heraus gebracht: Franz Schuberts „Unvollendete“, die zweite Sinfonie von Ludwig van Beethoven sowie Richard Wagners „Siegfried-Idyll“. Und außerdem widmen wir uns der Oper: Der Dirigent Teodor Currentzis, vielgerühmter neuer Stern der historisch informierten Aufführungspraxis, hat mit seinem Ensemble MusicAeterna und Solisten wie Simone Kermes, Andrej Bondarenko, Fanie Antonelou und Christian Van Horn eine neue Gesamteinspielung von Wolfgang Amadeus Mozarts „Le nozze di Figaro“ produziert – auch hier hören wir nachher ausführlich hinein.

Doch zunächst Schuberts „Winterreise“, erschienen beim Label Sony Classical. Unbestritten: Jonas Kaufmann ist ein Superstar unter den Operntenören dieser Welt. Wagner, Verdi, Puccini und Bizet sind die Komponisten, mit deren großen Tenorpartien er die internationalen Opernhäuser und Festivals erobert. Ob in Bayreuth oder Salzburg, in Wien, Mailand, London oder New York, überall liegt ihm das Publikum förmlich zu Füßen. Seine enorme Bühnenpräsenz, seine glanzvolle Höhe, die heldische Attacke und sein blendendes Aussehen – die Summe all dieser Qualitäten führt dazu, dass, wo auch immer Kaufmann die Opernbühne betritt, das Publikum schier aus dem Häuschen ist.

Seine Art des virilen Singens, das in der Mittellage oft rauh und kehlig klingt, in der Höhe jedoch metallische Strahlkraft entwickelt, ist bei den Opernbesuchern ungemein beliebt. Ein deutscher Weltstar mit echter „italianità“ – wann hat es das zuletzt gegeben?

Dennoch: Ich habe mich beim Abhören von Jonas Kaufmanns aktueller CD- Neuveröffentlichung immer wieder gefragt, warum ein so erfolgreicher und überzeugender Opernheld meint, sich unbedingt dem deutschen Kunstlied zuwenden zu müssen, und dann auch noch ausgerechnet einem der großartigsten, aber auch anspruchsvollsten Liederzyklen: Schuberts „Winterreise“.

Sicher ehrt es Kaufmann, dass er sich zum Lied hingezogen fühlt, als gefeierter Star den Mut hat, künstlerisches Neuland zu betreten. Doch ist das Lied – zumindest bis dato – nicht sein Metier. Das mussten vor ihm schon einige große Opernsänger beiderlei Geschlechts erfahren, die im fortgeschrittenen Sängeralter – also mit etwa Mitte 40 – ihre Liebe zum Lied entdeckt haben. Und so bleibt auch die „Winterreise“ von Jonas Kaufmann letztendlich eine Enttäuschung.

Die alte Weisheit, dass man für die Liedinterpretation eine perfekte Gesangstechnik benötigt, vor allem im Mezzavoce und im Piano, gilt noch immer und kann auch durch einen Star vom Schlage eines Jonas Kaufmann nicht einfach ignoriert werden. Denn gerade da hapert es bei Kaufmann hörbar. Seine Stimme sitzt weit hinten am Gaumen; sie ist wenig beweglich, klingt in der Mittellage häufig verhaucht und verschleiert. Durch diese Art des Singens kommt es zu unnatürlichen Vokalfärbungen; die Stimme fließt nicht natürlich auf dem Atem. Wo hingegen dramatische Ausbrüche angebracht sind, da kann Kaufmann opernhaft heldentenoralen Glanz entwickeln.

Hören wir aus dieser Neueinspielung der „Winterreise“ nun zunächst die Lieder Nr. 1 und Nr. 4, „Gute Nacht“ und „Erstarrung“. Kaufmanns Begleiter ist der langjährig erfahrene Liedpianist Helmut Deutsch, der seinerseits zu sehr auf schöne Rundung und zu wenig auf Interpretation im Sinne einer rhetorischen Ausdeutung des Klavierparts setzt.

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Musik 1: Franz Schubert: „Gute Nacht“ „Erstarrung“ aus „Winterreise“ Jonas Kaufmann, Tenor Helmut Deutsch, Klavier Track 1 5„32 Track 4 3‟00 =8„32

… Zwei Lieder aus Franz Schuberts „Winterreise“: „Gute Nacht“ und „Erstarrung“, gesungen von Jonas Kaufmann. Am Klavier war Helmut Deutsch – in diesen Hörbeispielen aus der aktuellen Neuerscheinung, die heute Thema dieser Sendung „SWR2 Treffpunkt Klassik – neue CDs“ ist.

Die Geschichte der „Winterreise“ ist die eines Einsamen, Verlassenen, der nach zerbrochener Liebe in den Winter hinaus zieht. Franz Schubert hat mit seiner Vertonung der 24 Gedichte von Wilhelm Müller einen düster-depressiven Endzeitzyklus und zugleich eines der bedeutendsten Meisterwerke der Musikgeschichte geschaffen.

Jonas Kaufmann wird in seiner neuen Einspielung diesen Aspekten weder sängerisch- stimmtechnisch noch interpretatorisch gerecht. Vergleicht man seine Aufnahme mit einigen CD-Einspielungen der letzten Jahre, beispielsweise von Christoph Prégardien, oder Christian Gerhaher, so bleibt er um einiges hinter den Genannten zurück.

Denn offenkundig bringt Jonas Kaufmann nicht die gesangstechnischen Voraussetzungen für die Liedinterpretation mit. Stattdessen versucht er mit einer überemotionalen, an Oper gemahnenden Interpretation das wettzumachen, was ihm im Bereich der Tongebung und Klangdifferenzierung fehlt. Doch diese Art von „Dauererregung“ kann die im Liedgesang erforderliche Farbpalette, den Nuancierungsreichtum und die Schlichtheit der Stimmführung nicht ersetzen.

Leider bleibt auch Helmut Deutsch, ausgewiesener Experte als Liedbegleiter, in dieser Aufnahme hinter seinen Möglichkeiten zurück: Zu häufig ergeht er sich in bloßem Wohlklang, in Klavierdekoration; zu selten ist in seinem Spiel die düstere, fahle Dimension dieser Musik zu erspüren.

Lassen Sie uns nun noch in zwei weitere Lieder dieser „Winterreise“ hinein hören: Nr. 7, „Auf dem Fluss“, und Nr. 8, „Rückblick“. Auch hier fällt wieder einerseits die vordergründig beeindruckende Opernattacke mit Glanz und Strahlkraft auf, andererseits die klanglichen Defizite in der Mittellage, im Mezzavoce und im Piano. Jonas Kaufmann und Helmut Deutsch:

Musik 2: „Winterreise“ Track 7 „Auf dem Fluss“ 3„34 Track 8 „Rückblick“ 2‟11 = 5„44

Das waren zwei weitere Beispiele aus Schuberts „Winterreise“ mit Jonas Kaufmann und Helmut Deutsch: die Lieder „Auf dem Fluss“ und „Rückblick“.

Welche Unterschiede, ja Welten und Dimensionen zwischen Interpretationen der „Winterreise“ liegen können, erschließt sich sofort, wenn wir nun im Vergleich das eben

3 letztgehörte Lied, „Rückblick“, in der Aufnahme mit dem Bariton Christian Gerhaher und mit am Klavier hören. Sie ist übrigens ebenfalls bei Sony Classical erschienen.

Musik 3: Franz Schubert: „Rückblick“ aus „Winterreise“ Christian Gerhaher, Bariton Gerold Huber, Klavier CD 2, Track 8 2„10

Das war das Lied „Rückblick“ in der Vergleichsaufnahme zur neuen CD von Jonas Kaufmann und Helmut Deutsch, in der Interpretation von Christian Gerhaher (Bariton) und Gerold Huber (Klavier).

Sie hören die Sendung „SWR2 Treffpunkt Klassik – neue CDs“, heute mit Sabine Fallenstein. Wir kommen nur zur Orchestermusik, zu historischen Aufnahmen mit dem Dirigenten Claudio Abbado. Im Januar ist er 80-jährig nach langer Krankheit verstorben, und die Musikwelt trauert um einen der bedeutendsten Dirigenten der letzten 50 Jahre. Auch ein Mann wie der italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano erwies dem im August 2013 zum Senator auf Lebenszeit ernannten Dirigenten die letzte Ehre und begleitete seinen Sarg bis zum Grab; in Abbados Heimatstadt Mailand hingen die Fahnen an allen öffentlichen Gebäuden auf Halbmast. Große offizielle Trauergesten in Italien für einen großen Künstler.

Die außerordentliche Beliebtheit Claudio Abbados, die sich darin offenbart, ist nicht nur mit seiner herausragenden Bedeutung für das Musikleben zu erklären, sondern auch mit seiner geradezu sprichwörtlichen Bescheidenheit und Menschlichkeit. Typisch für ihn war beispielsweise seine Aussage: „Der Begriff ‚großer Dirigent„ hat für mich keine Bedeutung – es ist der Komponist, der groß ist.“

Seine fast sanfte Zurückhaltung wurde Abbado manchmal als Schwäche ausgelegt, aber alle „seine“ Orchester – seien es die Berliner, Wiener, Londoner Philharmoniker oder aber die Spitzen-Jugendorchester, die er gegründet und zeitlebens gefördert hat – sie alle trugen ihn gleichsam auf Händen; sie waren wie eine große Familie für ihn. Er beschenkte sie mit seiner Spiritualität und Humanität; sie revanchierten sich dafür mit musikalischen Sternstunden unter seiner Leitung.

Claudio Abbado war aber auch ein homo politicus; seine Freundschaft zu Luigi Nono und Maurizio Pollini hat ihn stark geprägt. Er wollte die Gesellschaft gegen politisches Unrecht aufrütteln, für mehr Toleranz und Respekt sensibilisieren. Die Menschen sollten einander zuhören, so, wie er es von seinen Orchestermusikern verlangte. Dieses „Aufeinanderhören“ war für ihn die Grundlage einer funktionierenden Orchester- und übertragen auch einer funktionierenden Gesellschaftsstruktur.

Die neue Abbado-CD, beim Label Audite erschienen, umfasst Franz Schuberts unvollendete siebte Sinfonie, die zweite Sinfonie D-Dur von Ludwig van Beethoven sowie das „Siegfried- Idyll“ von Richard Wagner.

Alle drei Aufnahmen sind bislang unveröffentlichte Mitschnitte vom Festival in Luzern, die der Schweizer Rundfunk, Radio SRF 2 Kultur, in seinen Archiven aufbewahrte. Schuberts „Unvollendete“ wurde unter Abbados Leitung im Jahr 1978 mit den Wiener Philharmonikern aufgeführt, Beethovens Zweite und das Siegfried-Idyll 1988 mit dem von Abbado gegründeten Chamber Orchestra of Europe.

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Die CD ist in der Edition des Lucerne Festival veröffentlicht, mit dem Claudio Abbado bereits seit 1966 eng verbunden war. Schubert mit den Wienern ist noch recht konventionell musiziert, in der philharmonischen Tradition verwurzelt und in Artikulation und Agogik von historisch informierter Aufführungspraxis heutigen Zuschnitts noch gänzlich unberührt, wenngleich interpretatorisch eindrucksvoll durch starke Kontrastwirkungen und betörende Klangschönheit.

Ganz anders die zehn Jahre später aufgenommene zweite Sinfonie von Beethoven, die Abbado mit dem Chamber Orchestra of Europe schlank und federnd musiziert, mit schnellen Tempi, die Beethovens Metronomangaben folgen. Die Besetzung mit rund 50 Musikern ist klein und garantiert orchestrale Beweglichkeit. Der helle Klang wird von sehr präsenten Bläsern beherrscht; dass die Erkenntnisse der damals so genannten authentischen Aufführungspraxis in diese Aufnahme eingeflossen sind, ist deutlich hörbar. Abbado hatte „sein“ Chamber Orchestra schon früh damit vertraut gemacht. Hören wir aus dem ersten Satz von Ludwig van Beethovens zweiter Sinfonie nun das Allegro con brio. Claudio Abbado leitet das Chamber Orchestra of Europe.

Musik 4: Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 36 1. Satz, Allegro con brio Lucerne Festival / Historic Performances Chamber Orchestra of Europe Leitung: Claudio Abbado Track 3, ab 2‟46 bis Satzende (bei 12‟20) 11„34

„SWR2 Treffpunkt Klassik – neue CDs“ heißt diese Sendung, heute von und mit Sabine Fallenstein.

„Historic Performances“, historische Aufführungen veröffentlichte das Lucerne Festival in seiner festivaleigenen Edition. Gerade kam die CD mit bisher noch nicht erschienenen Aufnahmen unter der Leitung von Claudio Abbado heraus, die ich Ihnen heute als sehr hörenswert vorstelle. Soeben erklang daraus das Allegro con brio aus dem ersten Satz der Sinfonie Nr. 2 D-Dur von Ludwig van Beethoven. Partner von Claudio Abbado war das Chamber Orchestra of Europe.

Und einen weiteren Ausschnitt aus dieser unbedingt empfehlenswerten Kompilation möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: aus Richard Wagners “Siegfried-Idyll”. Wagner und Luzern, das ist bekanntlich eine geschichtsträchtige Verbindung, lebte doch der Komponist und Revolutionär auf seiner Flucht durch Europa auch einige Jahre in Triebschen bei Luzern, wo er zum 33. Geburtstag von Gattin Cosima das so genannte „Siegfried-Idyll“ als Reminiszenz an die Geburt seine Sohnes Siegfried komponierte.

Das Ergebnis war quasi eine Sinfonische Dichtung für Kammerorchester mit Themen aus „Siegfried“, dem dritten Teil der Ring-Tetralogie. Sie soll im Treppenhaus der Wagner-Villa in Triebschen an Cosimas Ehrentag uraufgeführt worden sein; Triebschen ist heute ein Stadtteil von Luzern, das Haus ein Wagner-Museum.

Bereits 1938, im Jahr der Gründung des dortigen Festivals, hat Arturo Toscanini das Siegfried-Idyll dort aufgeführt, allerdings im Garten neben der Villa. Eine Plakette erinnert heute noch daran. Das Festival hat also seit jeher einen engen Bezug zu dieser Komposition.

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Claudio Abbado spielte sie 1988 mit seinem Chamber Orchestra of Europe in kleiner Besetzung, nahe an den kammermusikalischen Ursprüngen ihrer Entstehung, mit schlankem, transparentem Klang, hoher Intensität und konzentrierter Innerlichkeit, wie sie typisch sind für Abbados Musizierstil.

Leider würde das komplette Siegfried-Idyll den zeitlichen Rahmen dieser Sendung sprengen, daher kann ich Ihnen jetzt nur ein Ausschnitt daraus spielen. Claudio Abbado, das Chamber Orchestra of Europe und Richard Wagner: Hier ist das Siegfried-Idyll.

Musik 5: Richard Wagner: „Siegfried-Idyll“ Lucerne Festival/Historic Performances Chamber Orchestra of Europe Leitung: Claudio Abbado Track 7, ab ca. 9‟00 bis Ende (bei 19‟00) ca. 10„00

Claudio Abbado leitete das Chamber Orchestra of Europe in diesem Ausschnitt aus dem „Siegfried-Idyll“ von Richard Wagner, zu finden auf der neuen CD, mit der das Lucerne Festival den vor wenigen Monaten verstorbenen Dirigenten Abbado ehrt: drei bis dato unveröffentlichte Aufnahmen vom Festival in Luzern – meine uneingeschränkte Empfehlung für Sie.

Kommen wir nun zur Oper in dieser Sendung „SWR2 Treffpunkt Klassik – neue CDs“, und zwar zu Wolfgang Amadeus Mozarts „Hochzeit des Figaro“. „Le nozze die Figaro“, so der italienische Originaltitel, ist zweifellos eines der beliebtesten und meistgespielten Stücke der gesamten Opernliteratur. Auch die Zahl der Platteneinspielungen ist gewaltig und unüberschaubar; schätzungsweise existieren deutlich mehr als einhundert Figaro- Gesamtaufnahmen.

Und nun also schon wieder ein neuer Figaro – warum? Die Frage stellt sich, sind doch alle interpretatorischen Spielarten von klassisch romantisierend bis historisierend in ausreichender Zahl bereits vorhanden. Doch spätestens nach dem ersten Hineinhören in diese neue Aufnahme ist diese Frage auch ganz schnell schon wieder vergessen.

Diese Gesamteinspielung hat eine ungewöhnliche Vorgeschichte, allein das macht schon neugierig. Der mittlerweile 42-jährige griechische Dirigent und Shooting Star Teodor Currentzis, der u.a. in Sankt Petersburg studierte, hat fernab der Musikzentren, in Novosibirsk, ein Orchester gegründet, das der historischen Aufführungspraxis verpflichtet ist. Sein Name: Musicaeterna.

Zusammen mit Currentzis zog Musicaeterna alsbald nach Perm im Ural, wo man dem Dirigenten und seinem Klangkörper am dortigen Opernhaus ideale Arbeitsbedingungen bot. Und genau dort, im tiefsten Russland, ist diese neue Figaro-Einspielung mit internationalen Solistinnen und Solisten entstanden – aber nicht, wie so häufig, als Zusammenschnitt mehrerer Aufführungen, sondern als Studioproduktion, also ohne Publikum im Opernhaus.

Currentzis hat sich nach eigenen Angaben besonders intensiv auf diese Produktion vorbereitet, viele historische Quellen studiert und die bisherigen Aufführungstraditionen, auch die historisch informierten Interpretationsansätze, kritisch hinterfragt. Er ist ein Präzisionsfanatiker, aber kein akademisch-trockener, sondern ein leidenschaftlicher Musiker, der sich immer aufgeschlossen zeigt für Neues.

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Sein Orchester Musicaeterna hat sich längst zu einem der besten Ensembles der historischen Aufführungsart entwickelt und ist in dieser neuen Figaro-Aufnahme durchweg Garant für herausragende musikalische Qualität.

Höchste Zeit demnach für einen ersten Musikeindruck: Beginnen wir – naheliegend – mit der Ouvertüre, die aufregend und ausdrucksstark musiziert wird, klangschön, rhythmisch federnd und mit viel Drive. Das schnelle Tempo geht nie zu Lasten der kompositorischen Details und Facetten, das Orchester ist in Hochform.

Das gilt ebenso für das gleich anschließende zweite Klangbeispiel, Rezitativ und Arie des Figaro aus dem ersten Akt, „Se vuol ballare, signor contino“. Der Solist ist Christian Van Horn.

Musik 6: Wolfgang Amadeus Mozart: „Ouvertüre“ „Se vuol ballare, signor contino“ aus „Le nozze di Figaro“ Christian Van Horn, Bass Musicaeterna Leitung: Teodor Currentzis CD 1, Track 1 4„00 CD 1, Track 6 und 7 3‟30 = 7„28 Achtung: Hinten blenden, Raum reißt ab!

Die Ouvertüre und die erste Figaro-Arie aus der neuen Gesamtaufnahme von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Le nozze di Figaro“ unter der Leitung von Teodor Currentzis; es spielte Musicaeterna, das von Currentzis gegründete Orchester des Opernhauses von Perm im Ural.

Den Figaro in dieser Produktion singt der 36-jährige amerikanische Bassbariton Christian Van Horn, der bereits auf eine erfolgreiche Karriere zurückblickt: Die Metropolitain Opera in New York gehört ebenso zu seinen Gastbühnen wie die Opernhäuser von Chicago, San Francisco und München – eine ausdrucksstarke, dunkel grundierte und klangschöne Stimme, hervorragend fokussiert.

Mit großer Emphase hat Teodor Currentzis im umfangreichen Booklet dieser auch optisch sehr ansprechend aufgemachten Neuveröffentlichung seine Motive für die Produktion dieses „Figaro“ dargelegt; sein Anspruch: nicht weniger, als eine neue musikalische Figaro- Sichtweise vorzustellen.

Ob er dies wirklich einzulösen vermag, sei zunächst einmal dahin gestellt; aber in der Tat lassen einige Überraschungen aufhorchen: zum Beispiel vokale Verzierungen, die – dem damaligen Usus gemäß – nicht in der Partitur vermerkt sind, die allerdings zur Mozart-Zeit absolut üblich und allgegenwärtig waren. Dadurch, dass die Werk- und Texttreue im 19. und 20. Jahrhundert zum Maß aller Dinge wurde und eben keine Verzierung notiert war, verlernten die Sänger allmählich die alte klassische Tradition, ihre Arien mit stilistisch passenden Ornamenten auszuschmücken; dies war nicht mehr gewünscht.

Teodor Currentzis hat diese Verzierungen in seiner Aufnahme wiederbelebt. Nicht allen Hörern wird diese ungewohnte „Bereicherung“ des Notentexts gefallen, aber es ist eine mutige Innovation der Hörgewohnheiten, die Currentzis auf eine durch große Akribie gewonnene und somit historisch „wasserdichte“ Basis intensiven Quellenstudiums stellt.

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Der nächste Musikausschnitt: das Duettino Susanna-Marcellina aus dem ersten Akt. Zur Situation in der Oper: Der Zickenkrieg zwischen den beiden ist voll entbrannt; mit beißender Ironie und hinterlistiger Attacke überbieten sie sich mit gespielten Höflichkeiten: ein Kabinettstückchen musikalischer Vielfarbigkeit. Die beiden Sängerinnen dieser Aufnahme, Fanie Antonelou und Maria Forsström, begeistern durch herzhaften komödiantischen Witz.

Musik 7: Wolfgang Amadeus Mozart: 1. Akt “Duettino” aus “Le nozze di Figaro“ Fanie Antonelou, Sopran Maria Forsström, Sopran Musicaeterna Leitung: Teodor Currentzis CD 1, Track 11 2„15

Das waren Fanie Antonelou und Maria Forsström als Susanna und Marcellina in ihrem Duettino aus dem ersten Akt des „Figaro“ von Wolfgang Amadeus Mozart. Und es folgt nun gleich der nächste Ausschnitt aus dieser neuen, bei Sony Classical erschienenen Gesamtaufnahme dieser Oper unter der Leitung von Teodor Currentzis:

Die Arietta des Cherubino, „Voi che sapete“, singt Mary-Ellen Nesi; auch hier hören Sie die vorhin schon erwähnten ungewohnten, doch historisch belegten Verzierungen des Vokalparts.

Der hübsche Page Cherubino erzählt der Gräfin und Susanna, beides durchaus erfahrene Frauen, von seinen pubertären Seelen-Irrungen und -Wirrungen.

Musik 8: Wolfgang Amadeus Mozart: “Voi che sapete” aus “Le nozze di Figaro“ Mary-Ellen Nesi, Sopran Musicaeterna Leitung: Teodor Currentzis 2„58 CD 1, Track 26

Mary-Ellen Nesi sang die Arietta des Cherubino, „Voi che sapete“.

Mozarts opera buffa „Le nozze di Figaro“ von 1786 basiert auf dem revolutionären Theaterstück „La folle journée ou le Mariage de Figaro“ von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais. Darin wird der Absolutheitsanspruch des Adels in allen Lebenslagen in Frage gestellt, bei Beaumarchais sicher radikaler als bei Mozarts kongenialem Librettisten Lorenzo da Ponte, dennoch ein Thema, das vom Komponisten wie vom Librettisten und Literaten Mut zur Kritik an dem Stand verlangte, von dem sie alle drei schließlich immer noch abhängig waren.

Dieser Zündstoff wird unter dem Dirigat von Teodor Currentzis zum musikalischen Feuerwerk: Er lässt mit enormem Drive auf historischen Instrumenten spielen; seine musikalischen Kontrastbildungen erinnern an die wilden Zeiten von Nikolaus Harnoncourt. Dabei geht es auch Currentzis nachvollziehbar nie nur um den bloßen Effekt, sondern um die plastische Darstellung musikdramatischer Entwicklungen, um atmendes Musiktheater. Und eines ist ebenfalls wichtig: Bei allem Kontrastreichtum und Temperament wird stets äußerst präzise und mit hohem Klanganspruch musiziert.

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Zwischenfazit: Dieser neue „Figaro“, der aus der Kälte kommt – in Perm im Ural produziert – ist künstlerisch eine positive Überraschung, selbst angesichts der eingangs gestellten Frage: warum noch ein Figaro auf CD? Das Sängerensemble – bis auf Simone Kermes hierzulande weitgehend unbekannt – bietet wirklich lohnende neue Entdeckungen: beispielswiese der junge Ukrainer Andrej Bondarenko, der für diese Aufnahme ein Glücksfall ist. Er singt, interpretiert, mehr noch: er lebt diesen Grafen, der seine absolutistischen Feudalansprüche trotz gegenteiliger Behauptungen rigoros durchsetzen will, bevor Mozart ihm und seinesgleichen eine unvergessliche Lektion erteilt. Bondarenko ist ein aufgehender Stern am Sängerhimmel; das hat er bereits in Glyndebourne, Salzburg und anderswo eindrucksvoll bewiesen: eine prachtvolle Stimme mit dem notwendigen „Biss“, intelligent geführt.

Hören Sie Andrej Bondarenko jetzt in Rezitativ und Arie „Hai già vinta la causa“ – „Vedrò, mentr‟io sospiro“ aus dem dritten Akt des „Figaro“.

Musik 9: Wolfgang Amadeus Mozart: „Hai già vinta la causa“ „Vedrò, mentr‟io sospiro“ aus “Le nozze di Figaro“ Andrej Bondarenko, Bariton Musicaeterna Leitung: Teodor Currentzis CD 2, Track 18 1„18 CD 2, Track 19 3‟17 = 4‟35

Andrej Bondarenko mit Rezitativ und Arie des Grafen aus dem dritten Akt von Wolfgang Amadeus Mozarts “Hochzeit des Figaro”. Musicaeterna spielte unter der Leitung von Teodor Currentzis. Nach dieser Hörprobe sind wir uns sicher einig: Dieser junge ukrainische Bariton mit der markig-männlichen Stimme, an der Marijnsky-Akademie in Sankt Petersburg ausgebildet, ist auf dem Weg zu einer großen internationalen Karriere.

Auch die Gräfin von Simone Kermes, als umjubelte Barock-Diva hierzulande vielfach präsent, ist in dieser Produktion eine echte Überraschung. Kermes, die ich viele Male als ungemein temperamentvolle und ausgesprochen extrovertierte Sängerin erlebt habe, zeigt hier eine gänzlich andere Facette, wirkt stark zurückgenommen, fast reduziert. Ihre vibratolose Tongebung ist einerseits überirdisch schön, doch andererseits etwas zu überirdisch für das betrogen pulsierende, auf Vergeltung drängende Weib, das die Gräfin ja auch verkörpert. Stattdessen klingt Kermes fast mädchenhaft und körperlos.

Hören Sie jetzt das berühmte „Dove sono“ aus dem dritten Akt mit der wehmütigen Erinnerung der Gräfin an einst glückliche Ehetage – hier ist Simone Kermes.

Musik 10: Wolfgang Amadeus Mozart: “Dove sono” aus “Le nozze di Figaro“ Simone Kermes, Sopran Maxim Emelyanychev, Hammerklavier Musicaeterna Leitung: Teodor Currentzis CD 2, Track 25 4„41

Simone Kermes mit „Dove sono“, der Arie der Gräfin aus dem dritten Akt des „Figaro“ von Wolfgang Amadeus Mozart. Es soll in dieser Sendung „SWR2 Treffpunkt Klassik – neue 9

CDs“ nun noch ein letzter Ausschnitt aus dieser Neuproduktion der Oper folgen, doch zuvor noch der Hinweis auf die virtuos sprudelnden Secco-Rezitative, die ebenfalls mit vielen zusätzlichen Verzierungen ungemein lebendig daherkommen und die Handlung energisch vorantreiben.

Der Virtuose auf dem begleitenden Hammerklavier heißt Maxim Emelyanychev und spielt ein Walter-Fortepiano von 1805 – nur eines von vielen wunderbar ausgearbeiteten Details, die diese Produktion so unverwechselbar machen.

Und nun, wie angekündigt, das letzte Musikbeispiel: ein Ausschnitt aus dem Finale des vierten Akts, musikdramatischer Höhepunkt der Oper. Das Verwirrspiel im nächtlichen Garten gipfelt in dem einzigartigen Augenblick, in dem Stillstand eintritt und der Graf die Gräfin um Verzeihung bittet: „Contessa, perdono!“.

Musik 11: Wolfgang Amadeus Mozart: „Scena ultima“ aus “Le nozze di Figaro“ Simone Kermes, Sopran Maxim Emelyanychev, Hammerklavier Musicaeterna Leitung: Teodor Currentzis CD 3, Track 17 bis 19 5„27

Die „scena ultima“ aus dem Finale von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper „Le nozze di Figaro“ in der Neuaufnahme des Ensembles Musicaeterna unter der Leitung von Teodor Currentzis. Die sehr gut besetzte Sängerriege habe ich Ihnen bereits ausführlich vorgestellt.

„Ein toller Tag“ im wahrsten Wortsinn; dieser Figaro macht Freude: historisch fundiert, dabei lustvoll und energiegeladen musiziert. Da ist Teodor Currentzis insgesamt ein echter Wurf gelungen, und wir können uns mit ihm schon auf die weiteren Neueinspielungen der noch ausstehenden Da Ponte-Opern Mozarts freuen: Cosé fan tutte und Don Giovanni sind bereits in Arbeit.

Damit sind wir am Ende dieser Sendung „SWR2 Treffpunkt Klassik – neue CDs“. Die detaillierten Angaben zu den heute vorgestellten Produktionen finden Sie, wie immer, auf unserer Internetseite www.swr2.de. Dort können Sie die die Sendung sowohl nachlesen als auch eine Woche lang nachhören.

Hier im Programm SWR2 geht es jetzt weiter mit dem Kulturservice und den neuesten Nachrichten. Fürs Zuhören bedankt sich Sabine Fallenstein.

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