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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst

Aus Trossingen zum Hohner-Akkordeone in Kolumbien

Autor: Kai Laufen Redaktion: Rudolf Linßen

Sendung: 28.12.2010 um 10.05 Uhr in SWR2

Wiederholung: 30.08.2012 um 10.05 Uhr in SWR2

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MANUSKRIPT

Atmo: Plaza

Erzähler: Ein Marktplatz voller Menschen, 35 Grad im Schatten, den Magnolien und Akazienbäume spenden. Auf einer großen Bühne stehen drei Jungs, 13, vielleicht 15 Jahre alt: Musiker. Einer schlägt die Handtrommel, der zweite rührt mit einem Metallbesen auf einem geriffelten ausgehöhlten Stück Ast, der Guacharaca. Der dritte spielt mit Bravour und großer Konzentration ein Akkordeon. Was macht dieser Inbegriff alpenländlicher Gemütlichkeit, dieses Sinnbild einer ausgestorbenen volkstümlich deutschen Kultur hier im Hinterland der kolumbianischen Karibikküste? Wie konnte ausgerechnet dieser halbmechanischer Vorläufer des Synthesizers seinen Weg aus der deutschen Guten Stube in die palmenbedeckten Hütten des südamerikanischen Dschungels finden?

Musik: Alejo Duran „Pedazo de Acordeón” Este pedazo de acordeón hay donde tengo el alma mía. Allí tengo mi acordeón y parte de mi alegría Muchachos si yo me muero les vengo a pedir el favor. Hay me llevan al cementerio este pedazo de acordeón. Eso dicen mis amigos que esto es una vanidad Hay si nadie me da cariño como mi acordeón me da.

Sprecher Overvoice: In diesem Akkordeon steckt meine Seele. Dieses Akkordeon ist ein Teil meines Glücks. Freunde, wenn ich mal sterbe, bitte ich euch, nehmt dieses Akkordeon mit zum Friedhof. Es ist keine Kleinigkeit, wenn ich sage, dass niemand mir so viel Zärtlichkeit gab, wie dieses Akkordeon.

Erzähler: Die Worte Alejo Duráns bringen sie noch heute am besten auf den Punkt, die tiefen Gefühle der Nord-Kolumbianer für ihre Musik - ihren Vallenato.

Musik: Alejo Duran „Pedazo de Acordeón”

Erzähler: Alejo Durán, 1919 geboren, gestorben 1989, wurde zu Lebzeiten nur liebevoll „El Negro Grande“ genannt - Der Große Schwarze -, so wie in Kolumbien fast jeder Mensch, jeder Ort, einen zärtlichen Spitznamen bekommt. Durán ist eine Legende des Vallenato, so wie seine Zeitgenossen Juancho Polo oder . Es sind die großen Namen der Frühzeit des Vallenato. Denn noch vor wenigen Jahren waren diese Musik, dieser Lebensstil in Kolumbien selbst als provinziell verpönt und außerhalb der Karibikregion unbekannt. Mit jungen Musikern und vor allem einem neu aufkommenden kulturellen Selbstbewusstsein in dem krisengeschüttelten Flächenstaat kam auch die eigene Volksmusik in den 90er Jahren wieder in Mode.

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Mittlerweile wird Vallenato nicht nur in Kolumbien gefeiert: Von Mexiko bis Peru tanzt Lateinamerika heute zu den vier verschiedenen Grundrhythmen, lässt sich von der Trommel, vor allem aber vom akrobatisch schnell gespielten Akkordeon anfeuern. Instrumente mit einem deutschen Schriftzug. 1968 wurde Alejo Durán zum ersten „Rey del Vallenato“, zum König dieser Volksmusik gekrönt. Bis dahin waren die Musiker als tropische Troubadoure von Dorf zu Dorf gezogen. So sagte der kolumbianische Journalist Ernesto McCausland, dass die Vallenato-Kultur ohne dieses Instrument, das aus Deutschland nach Kolumbien gelangte, schlicht undenkbar sei:

Ernesto McCausland: Sprecher overvoice: Die Deutschen haben da ein Instrument zum Reisen erfunden. Und es traf hier auf eine Zivilisation, die genau so etwas brauchte, ein transportfähiges aber vollwertiges Instrument. Denn in jedem Fall war das Akkordeon den hier typischen Blasinstrumenten überlegen, es hatte mehr Klangvielfalt als zum Beispiel Flöten. So war es logisch, dass die nomadische Bevölkerung, die zum großen Teil Hirten waren, dieses Instrument aufgriff. Sie nahmen es mit, wenn sie auf Eseln durch die Gegend zogen.

Erzähler: Vor gut 40 Jahren wurde die nomadische Volkskultur ein Stückchen sesshafter, als Musiker und Freunde in einen ersten öffentlichen Wettstreit austrugen. Dabei wurde bewertet, die originell eine Komposition war, wie virtuos der Akkordeonspieler oder die Sänger forderten sich gegenseitig heraus: Einer begann mit einer improvisierten Strophe, sein Konkurrent mussten nicht nur deren Sinn und Inhalt fortführen, sondern seine Strophe auch noch mit dem letzten Wort des Vorgängers beginnen - bis einer aufgab. Die Legende, die erzählt, wie überhaupt das Akkordeon an die kolumbianische Karibikküste kam, ist so phantastisch, dass sie vom berühmtesten Sohn dieser Region stammen könnte, dem Nobelpreisträger Gabriel García Márquez. „Irgendwann einmal sei ein Dampfer aus Deutschland auf dem Weg nach Buenos Aires gewesen ...“

Wilhelm Wlassow: ... und das Schiff hatte einen Motorschaden und ist vor der kolumbianischen Küste gesunken. Damals waren unsere Akkordeons in Holzkisten verpackt. Also sind sie geschwommen. Sind an Land gekommen, die Indios haben die Kisten dann eben auf gemacht, wussten nicht, was drin war und haben dann angefangen, damit rumzuspielen. Und das ist, laut der Legende, der Anfang der Vallenato-Musik gewesen.

Erzähler: So jedenfalls wird die Legende bis heute in der Region erzählt und so hat sie auch Wilhelm Wlassow gehört. Wlassow ist Vertriebschef bei Hohner, der traditionsreichen Musikinstrumentenfirma mit Sitz im schwäbischen Trossingen. Er ist dieses Jahr zum zweiten Mal nach Valledupar auf das große Festival des Vallenato gekommen. Nun steht er in den Katakomben des großen Stadions, in dem einmal im Jahr das Vallenato-Festival perfekt inszeniert wird.

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Wilhelm Wlassow: Es gibt natürlich auch andere Produzenten, die ein ähnliches Instrument machen. Warum gerade Hohner so eine dominante Rolle spielt, ist selbst mir nicht erklärlich. Es gibt natürlich Konkurrenten und natürlich ist so ein Instrument für die Kolumbianer sehr teuer. Wir haben deswegen auch zwei neue Modelle gemacht. Das eine heißt „Rey del Vallenato“ und das andere heißt „Compadre“ - zum halben Preis.

Erzähler: Mit dieser Marketingstrategie folgt die Firma ihrer eigenen, mittlerweile 150 Jahre währenden Tradition, sich schnell und offenbar erfolgreich an die Märkte rund um die Welt anzupassen. (Wochenschau 1957) Als die Deutsche Wochenschau 1957 ein Jubelbeitrag zum 100sten Firmenjubiläum von Hohner zeigte, war das Akkordeon auch hierzulande noch weit verbreitet und beliebt. Zu ihren besten Zeiten hatte die Firma rund 3.000 Angestellte, man fertigte in Trossingen und exportierte in alle Welt. Davon zeugt heute das Deutschen Harmonika-Museum. Leiter Martin Heffner hütet einen Schatz, der viel über die deutsche Industriegeschichte verrät, aber auch über das ewige Fernweh, das im Hohner-Design der 40er oder 50er Jahre ein wenig an Karl-May-Romantik erinnert:

Martin Heffner: Die ganzen Schachteln zum Beispiel der Mundharmonika. Für alle Welt, auch Südamerika, die Farbenfrohen „Bellos Cantores“ oder für die Schwarzafrikanerin die Mundharmonika zum über’s Ohr hängen, für Australien der Boomerang. Man wollte den Geschmack der Völker treffen und das natürlich wunderschön verpackt. Es gibt sicher kein Produkt das so viel Kulturgeschichte, Zeitgeschichte widerspiegelt.“

Erzähler: Die bunten Motive der Schachteln und Plakate, mit Papageien und Fächer- wedelnden Damen verraten wohl mehr über das Bild, dass die Deutschen sich damals von exotischen Regionen machten, als über die Realität in diesen Weltgegenden. Zwar hatte Firmengründer Matthias Hohner von Beginn an den Weltmarkt von Trossingen aus fest im Blick, aber was die Menschen in Übersee tatsächlich mit seinen Instrumenten anstellten, konnten er und seine Erben lange Zeit mehr ahnen als wissen. Dennoch hatte der Patriarch stets das richtige Gespür, meint der heutige Geschäftsführer Klaus Stetter.

Klaus Stetter: Das war ein ganz klares Konzept, man möchte international sich entwickeln, man sucht sich die Märkte und das ging bis dahin, dass man bereits in den 1920er Jahren Fabriken aufgebaut hat zum Beispiel in Indien, später in Brasilien, weil man einfach gesehen hat: da sind Märkte, die Leute spielen auch die Instrumente und dass man dort die Instrumente zur Verfügung haben muss. Heute kann man das natürlich mit der modernen Logistik ganz anders betreiben, aber das waren ganz wichtige Meilensteine, sich zu entwickeln. Und über den Weg hat man natürlich auch gesehen, man muss für Südamerika ganz andere Marketing und Vertriebskonzepte fahren, als vielleicht für die USA und für Asien wieder andere und so sind dann auch viele weitere Marketingthemen entstanden, wie zum Beispiel das Hohner- Konservatorium, wo auch heute noch Akkordeonlehrer ausgebildet werden und das hat man bereits 1920 gegründet und es hat bis heute Bestand und hat eine Einzigartigkeit.

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Erzähler: Das Stadtbild von Trossingen wird bis heute von Hohner geprägt, auch wenn ein großer Teil der ehemaligen - teils im Jugendstil errichteten Fabrikgebäude mittlerweile verkauft und umgewidmet sind. Denn am Stammsitz werden heute nur noch die Spitzenprodukte produziert, bei denen es auf akkurate Handarbeit und langjährige Erfahrung ankommt. Für die Massenproduktion hat sich das Unternehmen einen Partner in Shanghai gesucht, erläutert Klaus Stetter.

Klaus Stetter: Was ganz wichtig ist für uns: Der Partner arbeitet nur für uns. So ist auch sichergestellt, dass auch unsere Instrumente tatsächlich nur aus diesem Werk kommen und dass kein anderer versucht, das zu kopieren. Das machen sie natürlich, aber da kommt natürlich wieder ins Spiel: Wie will ich es kopieren, wenn ich keine Leute habe, die in der dritten, vierten Generation genau wissen, wie sich das anfühlen muss.

Erzähler: Dabei könnten sich die geistigen Erben von Matthias Hohner gar nicht so recht über Plagiate beschweren, schließlich stand der Ideenklau am Beginn der Erfolgsgeschichte:

Klaus Stetter: Angefangen hat’s ja dahingehend, dass der Matthias Hohner festgestellt hat, dass da ein anderer ist in Trossingen, der baut Mundharmonikas. Dann hat er sich mit dem angefreundet, hat ihm über die Schulter geguckt und hat dann entschieden: Das mach ich jetzt selber. Und als der Freund das dann festgestellt hat, hat er ihn natürlich aus dem Unternehmen rausgeworfen, aber da war’s schon zu spät.“

Erzähler: Offensichtlich war Matthias Hohner aber mehr als nur ein guter Nachahmer - seine frühe Globalisierungsstrategie war im Nachhinein gesehen genial - oder hatten der Patriarch und seine Erben einfach nur Glück? Der Historiker und Museumsleiter Martin Heffner bezweifelt, ob man damals in Trossingen zum Beispiel wirklich verstand, warum ausgerechnet in Kolumbien ausgerechnet das Akkordeon-Modell „Corona“ so gefragt war:

Martin Heffner: Also sicher ist ja, dass schon in den 1950er Jahren viele „Coronas“ gebaut wurden, aber es dürfte auch relativ sicher sein, dass die Hohner-Manager in Trossingen keine Ahnung hatten, welche Art von Musik damit gespielt wird. Sie haben sich auf die deutsche Orchestermusik konzentriert und wollten das Akkordeon in den Konzertsaal bringen und ein Höhepunkt für die Hohnerdirektoren - und auch für die Akkordeongeschichte muss man sagen - war die Gründung eines Profiorchesters, das von Hohner bezahlt wurde, das durch die Welt geschickt wurde. 1947 bis 1963 bestand dieses Orchester des Hauses Hohner, auf Englisch hieß es Accordeon Symphony Orchstra unter Rudolph Wirth, ein großer Virtuose, Dirigent und Komponist. Und das Ende dieses Orchesters 1963, zeigt aber auch, wann die großen Zeiten dieser Geschichte vorüber waren. Hohner wollte sich dann mehr auf die Elektronik konzentrieren und sie haben sogar Computer gebaut, Buchhhaltungscomputer, aber das waren dann Sackgassen sozusagen.

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Erzähler: In den 1970ern war Hohner fast pleite, aber die Rückbesinnung auf die echten Stärken gelang. Präzisionshandarbeit Made in Germany. Die ist teuer und trotzdem weltweit gefragt. Horst Fausel, Produktionsleiter für Akkordeone zeigt auf die Adressen der versandfertigen Stücke in der Fabrik:

Horst Fausel: Hier sind wir im Zentrallagerbereich: Kolumbien, Korea, Venezuela, China ...

Erzähler: Es geht relativ ruhig zu in der großen Fabrikhalle: Ein Akkordeon aus rund dreitausend Bauteilen zusammenzusetzen dauert 20 bis 40 Stunden und es kommt mehr auf Genauigkeit als auf Geschwindigkeit an. Stimmplatten, also die Seele des Instruments, werden mit Wachs auf handgemachte Holzgestelle aufgetragen:

Horst Fausel: Solche Stimmplatten sind ja eigentlich die Tonerzeugung.

Erzähler: Auffallend ist die Zusammenstellung des Maschinen - nicht alles ist modern und computergesteuert, so manches mechanische Gerät überlebt hier, einfach, weil es sich bewährt hat

Horst Fausel: Das wird weitgehend noch so gemacht, nur die Ausführungsqualität hat sich natürlich mit den Maschinen verändert, die präziser geworden sind. Andererseits hat sich auch etwas verschlechtert: Der Stahl, der früher einen bestimmten Klang gemacht hat, den gibt es nicht mehr. Also diese Stahllegierung wird nicht mehr hergestellt.

Erzähler: So muss nun Alexander Hollmann am Ende der Produktionskette sein ganzes Können aufbieten: Er ist Stimmer - aber ein Akkordeon zu stimmen, heißt weit mehr, als nur die richtigen Tonlagen finden und fixieren: Nach Gehör achtet der Stimmer darauf, dass das Tremolo, vibrierende Schweben der Töne in den verschiedenen Lagen gleich klingt. Dafür kratzt er an verschiedenen Stellen etwas Metall von den Stimmzungen.

Atmo: Stimmen eines Akkordeon

Erzähler: Für den Laien grenzt das an Magie und man kann sich leicht vorstellen, dass der berühmteste Sohn Kolumbiens, der Literaturnobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez Gefallen daran gefunden hätte. Nicht umsonst wurden seine Schilderungen wundersamer Begebenheiten, die sich niemand so recht erklären kann, als „Magischer Realismus“ bezeichnet. In der Tat ist es ja auch Magie, wenn ein bisschen verleimtes Holz, gefaltete Pappe und kleine Stückchen Stahl eine Klangmaschine bilden, die in der Lage ist, die Menschen zu verzaubern - das erinnert an die Zauberkraft, die vom ersten Magneten, vom ersten Kompass, von einem Spiegel oder der ersten Eismaschine ausgingen, die in der abgeschiedenen Dschungelwelt auftauchen, die Garcia Márquez in seinem bekanntesten Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ beschreibt. 6

Dem „Magischen Realismus“ ist auch Ernesto Macausland verfallen - das bringt schon die berufliche Position des in Kolumbien sehr bekannten Journalisten mit sich, denn seit einigen Jahren ist Macausland Chefredakteur der Tageszeitung „El Heraldo“ in der Küstenstadt Barranquilla, für die auch schon Gabriel García Márquez in den 1950er Jahren schrieb.

Ernesto Macausland: Sprecher overvoice: Tatsächlich hat er viele Kolumnen über den Vallenato geschrieben. Und er reiste oft nach Valledupar, um seinen engen Freund, den Vallenato-Komponisten Rafael Escalona zu besuchen. So ist das hier an der Küste: Leute aus Monteria sind mit anderen aus Valledudupar befreundet und so wird bis heute viel gereist in dieser Region.

Erzähler: Eine Region, die kulturell von einem Völkergemisch geprägt ist: Vor der Ankunft der Europäer gab es hier verschiedene Hochkulturen, deren ökologische Anpassungsfähigkeit heute wieder als vorbildlich entdeckt wird. Wellen von europäischen Einwanderern folgten der frühen spanischen Eroberung. Dazu kam die Tragödie des Sklavenhandels. Diese drei großen Kulturgruppen prägen bis heute die karibischen Kulturen und sie prägen auch den Vallenato, erläutert Ernesto Macausland:

Ernesto Macausland: Sprecher overvoice: Es ist das perfekte Abbild dieses Schmelztiegels aus indianischen, europäischen und afrikanischen Kulturen. Und die Texte bilden unsere Liebe für Geschichten und Erzählungen ab. Daher hat Gabriel García Marquez über sein bekanntestes Buch „Hundert Jahre Einsamkeit“ auch gesagt: „Es sei ein Vallenato mit 400 Seiten“.

Erzähler: Denn auch in den Texten der Vallenato-Lieder geht es um komplizierte Familienverhältnisse, Liebe und Leidenschaft, aber immer wieder auch Magie. Ernesto Macausland hat sich von seinem großen journalistischen Vorbild inspirieren lassen und selber einen Roman geschrieben: „El alma del accordeón“ - „Die Seele des Akkordeons“ erzählt die Geschichte eines Trossinger Akkordeonvirtuosen, den das Hohner-Konservatorium nach Kolumbien schickt, weil man hofft, dort noch ein Exemplar einer längst eingestellten Baureihe zu finden. In dem Roman wurde dieses alte Originalstück von dem Vallenato-Troubadour Juancho Polo gespielt. Als dessen Frau Alicia schwer erkrankt, macht sich Juancho Polo auf, einen Arzt zu holen. Doch auf dem Weg laden ihn Hirten ein zu spielen, zu singen und zu trinken - schon sind drei Tage um und als Juancho Polo in sein Dorf zurückkehrt, ist Alicia tot. Auch Juancho stirbt, aber sein Geist findet keine Ruhe - und erscheint nächtens dem Gast aus Deutschland. Der hat sich mittlerweile in eine schöne Ärztin verliebt, die allerdings in einem Gewissenskonflikt steht: Darf sie mit paramilitärischen Banden zusammenarbeiten, die drohen, ansonsten ihr Hospital zu zerstören? Eine Menge Stoff aus dem kolumbianischen Alltag hat Ernesto Macausland geschickt in dem Roman verwoben, der aber bisher leider nur in auf Spanisch erschienen ist.

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Das Stück „Alicia Adorada“, in dem der echte Juancho Polo eine unglückliche Liebe - eine von vielen! - verarbeitet hat, ist ein Vallenato-Klassiker und so hat auch eine Version eingespielt:

Musik: Carlos Vives „Alicia Adorada“

Erzähler: Mitten in der Region geboren, in der Hafenstadt Santa Marta, hat Carlos Vives vor rund 15 Jahren damit begonnen, dem Vallenato einen modernen Sound zu verleihen. Beim Festival in Valledupar, ist Carlos Vives in diesem Jahr der große Star. Und so spontan und lebenslustig die Menschen der Karibik sind, wundert es nicht, wenn am letzten Abend, zum krönenden Abschluss des Festivals, völlig überraschend auf einmal der Hohner-Vertreter Wilhelm Wlassow auf der Bühne sitzt - und zwar als Teil der Jury, die den diesjährigen König der Akkordeonspieler auswählt:

Wilhelm Wlassow: Ich war dieses Jahr zum zweiten Mal dort. Ich hatte ja meine Erfahrungen letztes Jahr dort gesammelt. Und sobald Sie die Stadt betreten, das fängt schon am Flughafen an, wo Sie mit der Vallenato-Musik begrüßt werden. Tausende von Touristen, Tausende von Musikliebhabern – das ist einfach ein Feeling, das man hier in Europa nicht beschreiben kann. Das kommt aus der Natur der Menschen, aus dem Vallenato-Zauber, der um die Musik gemacht wird. Das kommt vom Klima, vom Wetter und natürlich steht und fällt so eine Veranstaltung mit den Organisatoren. Dieses Jahr hatte ich das Glück mit den beiden Brüdern, die das Festival organisiert haben, eine Stunde sprechen zu können. Und als wir gesprochen haben und ich mich so erfreut gezeigt habe, was das für ein tolles Festival für die Leute und für die Musiker ist, natürlich auch für Hohner, da war es eine spontane Entscheidung von den Beiden, die mich gebeten haben: „Wenn wir schon mal einen Mann von Hohner bei diesem Festival haben, tun Sie uns den Gefallen – setzen Sie sich in die Jury!“ – Es war ein wunderbares Erlebnis rechts und links Leute in der Jury zu haben, die früher selbst „King of Vallenato“ waren, die selbst wunderbare Spieler waren.

Erzähler: So hat der Hohner-Mann in diesem Jahr einen neuen König des Vallenato mitgekrönt - ein Krone allerdings hat dieser König nicht. Eine Krone bekommt nur der König der Könige. Der „Rey de Reyes“ wird alle zehn Jahr aus dem Kreis der Besten gewählt. Zur Zeit ist das Hugo Carlos Granados. Er ist zwar kein Superstar wie etwa Carlos Vives, aber er lebt mit Frau und Kindern in einem schmucken Reihenhäuschen in einer Neubausiedlung am ruhigen Stadtrand von Valledupar. Wäre es nicht so heiß, man könnte sich fast in Trossingen wähnen. Und auch wie der König der Könige die Rolle der Musik in seinem Leben beschreibt erinnert irgendwie an schwäbische Genügsamkeit:

Hugo Carlos Granados: Sprecher overvoice: Abgesehen von meiner Musik, mache ich nichts weiter. Ich kann meine Familie durch meine Musik ernähren,. Und die Musik hilft mir auch, mich zu organisieren. Man braucht schließlich Disziplin, denn die Musik verleitet ja immer wieder zu Leidenschaft und Unordnung. Aber ich will und muss davon leben und daher bin ich heute sehr diszipliniert und versuche, alles richtig zu machen.

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Erzähler: Das Lied von Alejo Durán über sein Schmuckstück von einem Akkordeon findet sich übrigens auf einer Sammel-CD mit dem schönen Titel: 32 Lieder mit denen Alejo Durán 32 Frauen verführt hat ...

CD-Tipp: Alejo Durán El Juglar - 32 canciones con las que Alejo Durán enamor´a 32 mujeres Label: Disco Fuentes REF E20017

Carlos Vives La gota fria LC 00305 Philips 856163-2

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