Sven Papcke

Gesellschaft

der Eliten

Zur Reproduktion

und Problematik

sozialer Distanz

2

Inhalt

Vorbemerkung 5

1 Sozialwelt ohne Individuen - und Eliten? 14 Umbruch 15 Entscheidungen 20 Geschehen 25 Historische Sozialwissenschaft 29 Streitgeschichte 34 Sachlichkeit? 38

2 Problemhintergrund 42 Ordnungstraditionen 43 Übervorteilung und Konkurrenz 59

3 Spitzenkräfte 71 Insert 1: Zur historischen Rolle der Eliten oder Unterdrückung als primäre Kommunikationsform des Sozialen 72 Wortgeschichtliches 74 Begründungsspur 78 Ursprung 84 Willfährigkeit 87 Kratokratie 90 Infragestellung 96 Elitewirken 99 Offenheit 103 Aufgabe 108 Leistung 113 Debatten 118 Beunruhigung 126

4 Reizthema 132 Rule of fear 135 Zivilisation als Macht-Verflechtung 143 Obenfixierung der Souveränität 146 Versailles als Modell 153 Tragödie der Alteliten 160 Adel verpflichtet 165

5 Ordnungsfragen 168 Deutungsprobleme 172 Staatsdistanz 179 Stimmungsumschwung 183 Überforderungsgesellschaft 191 Panikbereitschaft 203 Komplikationen 208 Insert 2: Naiv unter Eliten oder Affirmation durch Soziologie 216 Kritik als Beruf 226

6 Regulierung 236 3

Mediatisierung des Staates 240

7 Elitenprofile 253 Insert 3: Gegeneliten auf dem Prüfstand politischer Kom- petenz 257 Sozialdemokratie als Beispiel 258 Sozial- als Gesellschaftspolitik 263 Ende der Ausbaustrecke 274 Wunscheliten 278 Insert 4: Gewinner und Verlierer im post-sozialistischen Kapitalismus 288 Regulierung 290 Geistesschaffende 307 Insert 5: Freigeist als Elite oder Kognitariat der Jeweilig- keit? 312 Rollenschwierigkeiten 317 Intervention 321 Konsequenzen 324 Zweifel 326 Funktionen 328 Kritik als Profession 331 Orientierungsdefizite 340 Sapere aude? 344

8 Skandale als Fortsetzungsroman der Eliten 347 Tugendzwecke 348 Risse im Gefüge 350 Rückblick 357

9 Politik und/ oder Moral 369 Moralbedarf 372 Defizite 374 Historische Vorbehalte 382 Politikverdrossenheit 386 Anforderungen 392 Vom modernen Beruf der Eliten 397

10 Mediokratie? 403 Gegenseitigkeit 405 Medien-Karriere 415 Medien als Tribunal 419 Insert 6: Medien als Kritikelite? 423 Res claustra 427 Vermarktung 430 Kontrolle? 435

11 Eliten – was sonst? 444 Elitenwandel 445 Anforderungsprofile 455 Auslese 461 Begabung - ein Rohstoff der/für Eliten? 467

12 Leistungen, Probleme, Aussichten 481 Insert 7: Wiederkehr der Macht der Macht? 484 Staatsverdrückung 489 Übermacht 498 4

Übervorteilung 504 Reformen 508 Aufklärung 513 Ungleichgewichte 518 Lieber von oben 523 Sehnsucht nach den Rängen 534

13 Schulung der Eliten? 540 Funktionseliten 542 Hintergrund 549 Insert 8: Blick hinter die Kulissen als Aufklärung über Mängel herrschender Eliten 552 Rückständigkeit 554 Neuanfang 557 Erinnerungspflege 563 Verdienst 565 Zustandskritik 569 Blockade 574 Revolution 576 Verzweiflung 580 Realismus 582 Nachfrage nach Qualität 588

14 Risiko - und die Rolle der Eliten 600 Unwägbarkeiten 602 Irritationen 609 Einspruch 614 Blick voraus im Zorn 618 Tradition 621 Auf und Ab 623

Literatur 631

5

Vorbemerkung

Intelligenz meint laut William Stern die Lösungsfähigkeit neuer Prob- leme, keinesfalls beschränkt sie sich auf die Abarbeitung alter Fra- gen. Doch individuelle Intelligenzdefinitionen lassen sich nicht auf die

Menschheit insgesamt übertragen. Sonst wären Überlegungen etwa von Jan Assmann abwegig, der sich mit der altägyptischen ma’at als dem Ineinandergreifen von Heil und Solidarität beschäftigt. Der

Mensch ist eingebunden, zu allen Zeiten, das berührt seine wechseln- de Weltoffenheit, die keine kulturellen Vorhersagen erlaubt, wie Wil- helm Mühlmann unterstrich. Entsprechend haben Ideen, Wechsellagen oder Zustände, die human-ökologisch nicht hinreichend moderiert wirkten, noch alle Epochen und ihre Generationen beunruhigt, „zieht ein Abgrund doch leicht andere nach sich“ (Psalm 42, 8). Entgegen der Zuversicht von Karl Marx, dass die Gattung sich nur Schwierigkei- ten auflädt, die sie zu meistern vermag, wirkt die Spezies inzwischen wie die Problemumwelt ihrer selbstgemachten ‚Probleme‘, die jeden- falls system-operativ gedacht gar keine sind, sondern das Prozessie- ren von Prozessen. Solche Umpolung von Erfahrung auf Beobachtung

- und damit der kognitive Vorrang der System- über die Seinswelt - 1 wirkt hochideologisch, indem die Wissenschaft sich aus abstraktions- logischen Gründen auf die Seite des Beobachteten schlägt. Entspre- chend gerät leicht aus dem Blick, dass die Bedürfnisse und Wünsche, wenn schon nicht in ihrer spirituellen, so doch in der materiellen Di- mensionalität, trotz aller Warenraffinesse schlicht und bescheiden auszufallen pflegen. Vor allem will der Mensch „von Natur“ nicht mehr und mehr verdienen, solches diktiert die Knappheitslogik des Kapi- tals. Er möchte „einfach so leben, wie er zu leben gewohnt ist“, mit

1 Zur inhärenten Arroganz auch der Sozialwissenschaften im monetären und/oder quasi-religiösen Dienst an der szientistischen Befangenheit vgl. Armand Farrachi: Les poules préfèrent les cages, Paris: Albin Michel 2000. 6

Max Weber (Anm. 730, S. 20) zu reden, „und soviel erwerben, wie da- zu erforderlich ist“. Aber immer ist dieser Seinszufriedenheit etwas dazwischen gekommen: Krieg, Ausbeutung, Wandel, Wissensschübe und jene Gier nach einem „Plus an Macht" (Nietzsche), das ihm wo- möglich die Furcht nimmt vor Fährnissen und Unbestimmbarem. Ein

überraschender Nebeneffekt solcher Evolution ohne Zweck war der zivilisatorische und kognitive Fortschritt der Gattung; sie trieb im

Laufe der Zeit die unterschiedlichsten Blüten, nicht zuletzt die einer

Rose mit Dornen, genannt Elite.

Der Mensch sei „als Phantasiewesen so richtig bezeichnet wie als

Vernunftswesen“, kommentierte Arnold Gehlen (Der Mensch, S. 317) den anthropologischen Chancenhorizont. Elite-Vorstellungen haben daher Anteil an den Mühen der Vernunft bei einer Festlegung der Be- dingungen, wie Soziales funktioniert. Sie wirken aber auch als Projek- tion dessen, was sein sollte. Unsere soziale Bodenhaftung übersetzt ihren Bedarf an Übersichtlichkeit in Wunschbilder guter Führung. Al- lerdings antwortete die Realität darauf selten mit Heiligen, Helden oder Weisen. Üblicherweise wirkten Macher und Vorteilssucher im

Namen höherer Pflichten. Die Hoffnungen auf Spitzenkräfte sind den- noch schwer zu erschüttern, obwohl sie doch in ihrer Vergeblichkeit an Don Quichotes Angriffe auf Windmühlenflügel als Symbole des

Wandels wider Willen erinnern.

Vielleicht stellt sich deswegen die Sozialevolution als Tummelfeld nicht so sehr von Übermenschen, sondern von herausragenden

Schichten dar, die ihre Interessen auf Kosten der Gemeinschaft pfleg- ten? Mit Francis Bacon (Essays, S. 43) verriet einer, der es wissen musste: „Der Boden hoher Stellung ist schlüpfrig“. Aber nicht etwa deswegen, weil sich „kein Geschöpf bereitwillig seinesgleichen unter- wirft“, so dass man mit Bernard de Mandeville (Bienenfabel, S. 322) nicht Reiter sein möchte, „verstände ein Pferd so viel wie ein

Mensch“. Vielmehr waren die Eliten vor allem damit beschäftigt, sich 7

durchzusetzen, zu behaupten oder Konkurrenten auszustechen. Das machte die sozialen Höhenlagen so riskant. Die Völker hingegen be- trugen sich eher wie Maultiere, die ihre Eliten-Last geduldig durch die

Epochen schleppten und äußerst selten bockten. Lag das daran, weil sie neben Schlägen auch die Laufrichtung mitgeteilt bekamen? Gar an der Einsicht in die Reitkünste der hohen Herren? Oder wartete man auf eine ‚feste Hand‘, die alle Bedrückungen von Herrschaft samt Eli- ten endlich einmal aufwiegen würde durch eine gelingende Regierung mit vielfältigen Organisationsvorteile für alle Welt?

So oder so, eine Funktions-Qualität der Eliten, die vornehmlich an das Geschick der ‚Reittiere‘ dachte, gab es nur rhetorisch. Auch dann, um im Bild zu bleiben, als sich das Ross seit Beginn der Fab- rikepoche daran machte, seine Reiter aus den eigenen Reihen selbst zu wählen oder sogar hin und wieder unbeholfene beziehungsweise brutale Sattelinhaber abzuwerfen. Ganz ohne Zaumzeug schien man nie/nicht auszukommen, so dass die Lage immer besonders verfahren wirkte, wenn Reiter fehlten. Oder wenn die Bewerber auf dem Par- cours als Auswahl der zur Leitung als Beruf wirklich Geeigneten nicht ausreichend qualifiziert zu sein schienen. Was aber dann?

Die Frage nach Begründungen, Formen, Fähigkeiten und Leistungen guter Staatslenkung ist so alt wie die Gesellschaft. Aristoteles, Kon- fuzius, Ibn Khaldun oder Kautilya, alle haben sich darüber den Kopf zerbrochen, wie Herrschaft optimal aussehen sollte: Also möglichst human gestimmt und effizient gestaltet. Doch diese heikle Frage ist bis heute unbeantwortet geblieben, nicht nur auf dem Papier, obschon sich die normativen Grundfesten dieser Debatten verflüchtigten, seit

Meinungen das Ringen um Wahrheit als veredeltem Zweifel aus dem

Feld geschlagen haben. Das Volk als braves Maultier aber gibt es noch immer, inzwischen umdrängelt von alten Stallmeistern und neuen

Reitern, denn die Eliten im Sinne von Leuten, die etwas zu sagen ha- ben wollen, kommen wieder. Allerdings gerät das Politische als zent- 8

rales Elitenwirkfeld aus der Mode, es gerinnt zum Streit über ‚Finan- zierbarkeiten‘, Ulrich Becks Suche nach einer ‚neuen Politik‘ hin oder her. Stattdessen scheint das Aufblühen von Verbands- oder Privat- macht angesagt, je nach Differenzierungs-Chancen. Elite-Novizen stammen neuerdings aus der Medienwelt, der Plutokratie oder auch der Unterwelt, wovon wenig in den politikwissenschaftlichen Drehbü- chern steht; was aber auch von der Soziologie zugunsten einer kon- struktivistischen Realitätsabwehr oder empirischer Sichtverengungen

übersehen oder verdrängt wird. Offenbar bereitet die Epoche den „Ab- schied vom Staat“ (Reinhard) vor, was die Durchsetzungsgeltung von

Stärke, Präsenz und Reichtum wiederbelebt. Niklas Luhmann täuschte sich also keineswegs, als er mit Blick auf all die Vernetzungszwänge und Überkomplexitäten wieder auf den Faktor der Dezision setzte.

Und damit auf hommes forts, denen die mediale Arbeit an der

Zurschaustellung ohnehin vorarbeitet, Jörg Haider ist wohl nur ein

Vorspiel, anderslautende Zivilisationstheoreme hin oder her, die ir- gendwie alle von einer massenwirksamen Durchrationalisierung der

Moderne auszugehen scheinen.

Eliten als wertneutraler Inbegriff von Lenkungsansprüchen samt Son- derzuteilungen an Gütern, Bewunderung etc. sind im Aufbruch, so er- weist sich. Durch demokratische Spielregeln und ideologische Vorbe- halte waren sie im Zeitalter des ablaufenden Sozialausgleichs zu

‚Funktionsträgern‘ gezähmt. Erst die Anerkennung oder wenigstens - wie bei der politischen Klasse - die Duldung, die das Umfeld gewähr- te, schien die Zugehörigkeit zur Elite zu sichern. Auch hier herrschen neuerdings Angebotslehren vor. Elitäre Attitüden oder Allüren schaf- fen sich ihre Klientel selbst, in der Postmoderne wird diese Wechsel- wirkung immer auffälliger, wobei das republikanische Selbstwertge- fühl einer zur Erinnerung schrumpfenden ‚Gesellschaft‘ begrifflich und finanziell mehr und mehr austrocknet, irgendwann wohl auch emotio- nal. 9

So wie Schnee schmilzt, nimmt man ihn zur Hand, so verflüchtigen sich gesellschaftliche Erscheinungen, sobald man sie etikettiert zu haben glaubt. Nicht zuletzt daraus resultiert mit Blick auf das Elite-

Thema jene Tradition „nie enden wollender Kontroversen“ (Wasch- kuhn). Sie vernebelt das gesellschaftliche Hochland und lenkt den

Beobachter eher auf „Meditationen am Detail“, wie Maria Montessori empfohlen hat, um nicht - ob nun funktionalistisch, normativistisch, rhetorisch oder konstruktivistisch gestimmt - auf „Sémioclastie“ (Bar- thes) festgelegt zu sein oder auf Vermessungen, die noch einmal bes- tätigen, was erfragt wird. Vermutlich bleibt uns so oder so die eherne

Stratifikatorik samt Hierarchie erhalten, wie Pierre Miquel unterstellt

(Les Aristos, Paris: Michel 2000), ob sie nun psychologisch, system- theoretisch, soziobiologisch, aristotelisch etc. beschrieben oder er- klärt wird, da es keine Alternative zur Gesellung und ihren Gussfor- men gibt, höchstens Schwankungen im Herrschaftsdruck. Was auf je- ne Geschichte aus dem Talmud verweist: Drei Tropfen Öl wollen in eine Vase mit Wasser eingelassen werden. Das Wasser lehnt nach reiflicher Überlegung mit der Erklärung ab, „ihr vermengt euch nicht mit dem Wasser, steigt unweigerlich nach oben, und die Vase bleibt

ölig, trotz aller Reinigungsversuche“. Ein schönes Gleichnis, aber doch realgeschichtlich unvollständig, denn tatsächlich waren Vase und Elite ein und dasselbe, seit die Urhorde ihren familialen Charak- ter verlor und damit auch der politischen „Heterogenisierung“ (Tarde) unterlag.

10

***

Der vorliegende Band versucht eine historisierende Sichtung elitärer

Aufgaben, Strukturen und Defizite im Modus der Fragmentarik. Be- standsaufnahme, Vermessung, Literaturübersicht werden nicht ange- strebt. Eher geht es um eine Art von soziologischem Roman als be- schreibend-evaluierendes patch work eines sozialen Phänomens, das zugleich ein historisches Dilemma darstellt, da Führungsstrukturen und ihr Personal immer dahin tendieren, zu Problemeliten zu werden, wenn nicht gar - wie aktuell in Russland - zu Lumpeneliten. Idealiter wirken auch Machteliten durchaus elitärf , selbst in Demokratien, wo- hingegen Funktionseliten versagen können, wiewohl sie gewählt sind.

Anders als pointillistisch beziehungsweise im Wechselspiel von Mate- rial und Beurteilung, was eine grounded theory ohnehin empfiehlt, lässt sich Soll und Haben der Elitenfrage schwerlich einfangen, es sei denn, um den Preis einer reductio ad absurdum beziehungsweise je- ner „Agonie des Realen“, von der Jean Baudrillard spricht. Diesem

Problemknäuel lässt sich angemessen offenbar ebenso wenig mit De- skription oder Ausmessung dessen, was oben war oder ist, beikom- men wie mit bloßer Kritik. Deswegen ist die Literatur meistens repeti- tiv oder unergiebig. Diesem Dilemma ist durch Differenzierung in

Macht-,

Sinn-, Wert- und/oder Funktionseliten allein keineswegs zu entgehen, weil sie allemal definitorisch bleibt, es fließen unweigerlich Ideolo- geme in die Kalkulatorik ein. Elitetheorien enthielten in der Neuzeit immer auch Rechtfertigungslehren, ohne allerdings der Politik, Wirt- schaft oder anderen Führungsbereichen einen polierten Theoriespie- gel vorhalten zu können. Etwa um sie durch Verweise auf Nachtseiten des Themas zu ermahnen, den Idealen der Demokratie-Moderne treu zu bleiben. Dennoch gilt es, angesichts der allgemeinen Hoffnung auf wirkliche Eliten die menschlichen Sorgen, Ängste und Erwartungen 11

ebenso in Rechnung zu stellen wie die realen Härten einer Vergesel- lung, die Aufsteigermilieus - wo immer - durch Wettbewerb und Ver- hüllungsleistungen auszeichnen. Zudem scheint es immer dringlicher, dass die durch Wahlhandlungen strukturierten Agglomerationen len- kend sachlichen/materiellen Eigentendenzen gegenüber treten, um die

Lebenswelt nicht vollends dem Vernetzungsdrall der vielen Systeme untereinander samt Ausdehnungs-Neigungen zu überantworten. Es geht also nicht nur um Solidarität als Inspiration der neuzeitlichen

Sozialgebäudelehre, sondern um die Fähigkeit zur Sozionautik, was

Einsicht in die Notwendigkeit der Funktionssysteme ebenso voraus- setzt wie Ideen zu ihrer Gestalt und Gestaltbarkeit. Immerhin zieht deren Matrix ihre Energie einzig aus den Interaktionen der ‚psychi- schen Träger‘ von Vergesellung: Ebenso wie Geld ohne Investitionen von Arbeit, Zeit oder Kreativität alles mögliche vermag, aber keines- wegs Kapital hecken kann als vorgebliche Metakommunikation von

Waren.

***

Die historisch versierte Elitentheorie bleibt eine immergrüne Aufgabe, wie schon frühe Epitaphe auf dem Gottesacker von Führungsschichten belegen. Sie hat nicht nur die Notwendigkeit abzuleiten, dass und wieso wirkliche Eliten zu fördern wären; sie behält diagnostisch mit

Blick auf geschichtlich belegte Entgleisungen auch deren ständige, menschlich-allzumenschliche Versuchungen im Auge. Es handelt sich folglich bei der (Re)Formulierung von Elitebildern um Idealismus und

Skepsis zugleich; mithin um jenes Vertrauen in die Analyse, die ne- ben aller Rekonstruktion und Problematisierung, etwa im Sinne der

Staats-Ästhetik eines Friedrich Schiller, zugleich an die notwendigen 12

Obliegenheits-Funktionen jener höheren Ränge denkt. Sie haben im

Sinne eines womöglich putativen, aber eben nach wie vor der Ord- nung der Vorstellungswelt ihrer Mitwelt entsprechenden Gemeinwohl- begriffs (quod omnes tangit ab omnibus approbitur) die produktiven, kulturellen oder auch öffentlichen Angelegenheiten zu regeln, ohne dass die Nachgeordneten nüchtern jenes „Vertrauen ist gut, Kontrolle besser“ aus den Augen verlieren dürften. Es geht also - nach wie vor

- nicht um den elitären Eigenutz(en), sondern um Dienste für die Be- zugsgroßgruppen, denen die Eliten jedenfalls vor Ort entstammen. An diesen Dienstleistungen bleiben sie nicht nur zu messen, sondern ihr

Erfolg betrifft sie existentiell. In diesem Rahmen kann die Realität nicht von der reinen Theorie geleitet werden. Diese hat vielmehr zwi- schen Ideal (Was sollte normativ/utopisch etc. sein?) und Wirklichkeit

(Was ist der Fall?) im Interesse des ausgeschlossenen Dritten - also der Regierten - einen kritischen Vermittlungskurs zu halten. Nicht zu- letzt im Sinne einer Erhöhung der Gegenseitigkeit, so dass beispiels- weise weder die Politik nur auf den Stammtisch hört, noch die Wis- senschaft im Elfenbeinturm begrifflicher Fetische verharrt. Anders ausgedrückt: Elitentheorien sind keine Glasperlenspiele, sondern un- terliegen als Hervorbringungen einer sozialen Beletage (Akademiker) selbst den gleichen Beurteilungskriterien wie die Lenkungskader. Sind sie nützlich für ihre Bevölkerung, die sie bezahlt, duldet und ‚aus- wählt‘? Dienen sie einer ‚Verbesserung der Führungskräfte‘, in deren

Hände die Mitwelt unabweisbar gerät? Oder stützen solche Theorien auf Gedeih und Verderben bestehende Eliten, trotz schönster Begrün- dungsarbeit? Die seit Adam Smith und Herbert Spencer beschriebene

‚Arbeitsteilung‘ und die ihr entsprechende und inzwischen zunehmend fragmentierte Hochspezialisierung als Erfolgsschlüssel der gesell- schaftlichen Weiterentwicklung haben Unmittelbarkeit und damit

Selbstbefähigung in Produktion, Information oder Organisation fast unmöglich gemacht. So trat auch in der Politik realiter blindes Ver- 13

trauen als Investition in den Elitenkomplex an die Stelle von mehr

Mündigkeit. Max Weber hat solche Tendenz als Verkindischung der

Moderne beschrieben, aber sie darf nicht ohne Not auch in der Theo- rie gelten, jedenfalls mit Herbert A. Simon verstanden als „Kombinati- *) onsfähigkeit“ unter Nachweisdruck.

*) Da zum Begriff „Elite“/„elitär“ im Deutschen präzise Ausdrucks- Alternativen fehlen und er zudem einen ebenso breiten wie polarisier- ten Konnotationshof besitzt, werden zur besseren Unterscheidung des jeweils - deskriptiv [EliteD /elitärD ], - kritisch (EliteK /elitärK ) bzw. - positiv-funktional (EliteF /elitärF ) gemeinten Sinns gelegentlich besagte Eingrenzun- gen/Kennzeichnungen des Wortfeldes verwendet. Vorstudien zu dem vorliegenden Band sind in verschiedenen Medien (Aus Politik und Zeitgeschichte, Gewerkschaftliche Monatshefte, Mer- kur, Schweizer Monatshefte, Universitas, Vorgänge, etc.) veröffent- licht worden.

PS.: Ein großzügiger Druckkostenzuschuss hat das Erscheinen des vorliegenden Bandes erleichtert, wofür an dieser Stelle der Hans- Böckler-Stiftung herzlich gedankt sei. 14

1 Sozialwelt ohne Individuen - und Eliten?

„Für einen Kammerdiener gibt es keinen Helden“2

Am 24. Februar 1848 bricht in Paris ein Aufstand aus, ein frischer

Revolutionskalender wird aufgeschlagen. Die Unruhen in der französi- schen Hauptstadt hatten zwei Tage zuvor begonnen und waren infolge gravierender Regierungsfehler angewachsen, inzwischen hatte die

Masse sich durch Plünderung der Waffenfabrik Lepage in der rue du

Richelieu armiert. Das verhasste Ministerium des Historikers Fran-

çois-Pierre-Guillaume Guizot steht im Brennpunkt öffentlicher Kritik.

An diesem Mittwochmorgen erreicht der Tumult die politischen Ent- scheidungszentren, fassungslos sieht die Regierung dem Treiben zu, auch die liberalen Reformer sind von den Ereignissen überrascht. In letzter Minute soll ein Amtswechsel die Lage retten. Die Ernennung

Louis-Adolphe Thiers‘ („Die Flut steigt!“), ebenfalls ein bekannter Ge- schichtsschreiber, kommt zu spät. Aufgescheucht tritt der ‚Bürgerkö- nig’ Louis-Philippe zurück, der seit 1830 auf dem Thron sitzt3 und noch wenige Tage zuvor betont hatte4, „ich fürchte nichts, ich bin un- ersetzlich“. Mit der Flucht des Bourbonen endet nach fast vierzehn

Jahrhunderten in Frankreich die Monarchie.

2 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, (1822/1823), Werke in 20 Bänden, Hrsg. Eva Moldenhauer/K. M. Michel, Bd. 12, Frank- furt am Main: Suhrkamp 1970, S. 48. 3 Vgl. Augenzeugenberichte von Louis Blanc: Pages d’histoire de la Révo- lution du Février 1848, Brüssel: Meline & Cans 1850, S. 11 ff.; Charles Dunoyer: La Révolution du 24 Février, Paris: Guillaumin 1849, S. 6 ff.; Al- phons de Lamartine: Geschichte der Februar-Revolution in Frankreich, Leipzig: Lorck 1849, S. 54 ff.; Louis Ménard: Prologe d’une Révolution. Février - Juin. - 1848, Paris: Bureau du peuple 1849, S. 17 ff. 4 Zit. Jean-Franχ ois Kahn: De la révolution, Paris: Flammarion 1999, S. 135. 15

Umbruch

In der Deputiertenkammer versucht die Herzogin von Orléans, ganz in

Schwarz, als Interims-Regentin an die Politiker zu appellieren, we- nigstens die Thron-Ansprüche ihrer Kinder zu wahren. Alles ist ver- geblich, unterdessen dringen Menschenmassen in den Tagungssaal,

Umbruch steht auf der Tagesordnung, nicht Fortsetzung. Im Zurufver- fahren sieht sich eine Staatsleitung benannt, die den Beifall der An- wesenden findet. Alle Welt strömt anschließend in das von Milizen besetzte Stadthaus. Dort gelingt es erst nach heftigen Reibereien zwischen verschiedenen Faktionen, eine Kabinettsliste auszuhandeln.

Noch immer hätte ein Kavallerieangriff genügt, vermerkt Louis Héri- tier5, um „die neue Regierung in alle vier Winde zu zerstreuen“.

Nichts dergleichen geschieht in jenen unruhigen Stunden. Das lässt sich schwerlich auf das Walten soziologischer Zwänge oder subkuta- ner Dauertendenzen zurückführen. Oder auf einen von der Ge- schichtsforschung im Nachhinein als ‚Revolutionsschub’ ausgemach- ten politischen Völkerfrühling auf dem Alten Kontinent, der erst eine

Folge des politischen Anstoßes aus Paris war. Eher handelte es sich für Alexis de Tocqueville, 43jährig, der zusammen mit Alphonse de

Lamartine, damals 58, zum Gespött seiner Politiker-Kollegen die re- volutionäre Brüchigkeit der Lage vorhergesagt hatte, um eine Abnut- zung des Führungspersonals. Die Alteliten zeigten im Abruptwandel der gesellschaftlichen Entwicklung seit längerem Orientierungsprob- leme gegenüber dem „Chaotischwerden der Wirklichkeit“ (Gehlen).

Überraschung durch Realität steigerte sich zur Handlungsblockade, die in wirren Momenten die Verantwortlichen heimsucht. Das Sozial- geschehen erscheint wochentags als Aneinanderreihung von Zufällen

5 Geschichte der Französischen Revolution von 1848 und der Zweiten Re- publik, Stuttgart: Dietz o.J. (1897), S. 273. 16

und Gelegenheiten, die durch individuelle Handlungsfähigkeit zu Er- eignissen geformt und durch entschlossenes Auftreten so oder so strukturiert werden.

Da Geschichte mehr ist als Evolution oder Linearität, bestimmen nicht

‚allgemeine Bewegungsgesetze’ die Entwicklungsrichtung der Sozial- gebilde, lautet ein Ergebnis der Eliteforschung6, sondern „politisches

Handeln entscheidet über Innovation oder Stagnation“, das sich aller- dings im Kreuzpunkt einer Vielzahl „ideeller Subjekte“ (Dilthey) wie

Institutionen, Marktgegebenheiten oder Kultursysteme abspielt, wie es die Rollentheorie erweist, ohne darin aufzugehen. In jenen Tagen kam den Befürwortern der Kontinuität laut Tocqueville, der die unru- higen Vormittagsstunden in der chambre des députés miterlebte, jeder

Mut abhanden. Obschon die Machtverhältnisse im Lande pro- monarchisch gefärbt blieben, nutzten reformerische Elitezirkel die Ge- legenheit der Volksintervention (= Unordnung + Herrschaftsvakuum), um ihren Willen durchzusetzen. Das bewirkte ein ebenso überra- schendes wie tiefgreifendes changement de régime. Von transindivi- duellem Systemwirken war an der Seine wenig zu spüren. Was zählte, waren bei aller Sachzwanghaftigkeit der Situation die politischen Plä- ne und das chaotische Zusammenspiel von Personen und Gruppen.7

Von „großen Individuen“ im anspruchsvollen Verständnis eines Jacob

Burckhardt8 gab es gleichfalls wenig zu vermelden, obschon histori- sche Augenblicke durch die Geistesgegenwart der Beteiligten mitent- schieden werden.

6 Eike Ballerstedt/Wolfgang Glatzer: Soziologischer Almanach, am Main/New York: Campus 1975, S. 343. 7 Vgl. zur „Rolle des Faktors Mensch“ (S. 37) in den Zeitläuften auch A- dolph Lowe: Hat Freiheit eine Zukunft?, Marburg: Metropolis 1990, S. 57 ff. Schon Bernard Giesen/Michael Schmid: Erklärung und Geschichte. Argu- mente für eine nomothetische Historiographie, Gersthofen: Maro 1976, S. 208 ff. 8 Eher schon von jener mysteriösen „Koinzidenz“ zwischen Egoismus und Allgemeinwillen im Sinne des Baseler Denkers: Über das Studium der Ge- schichte, Hrsg. Peter Ganz, München: Beck 1982, S. 217 ff. 17

Man denke an eine Szene am Rande jener Vorgänge, die Tocqueville9

überliefert. Wir befinden uns im Hôtel de Ville, wohin sich die Masse nach dem Eklat in der Deputiertenkammer begeben hat. Es wird dun- kel auf den Straßen von Paris. Im Stadthaus herrscht heilloses

Durcheinander, man zankt sich um Ämter, während die Menge drau-

ßen ungeduldig wird. Endlich erhält der Historiker Lamartine, der für das Außenministerium vorgeschlagen ist, als guter Redner die Kandi- datenliste in die Hand gedrückt, um sie von der Freitreppe aus zu verkünden. „Ich kann das nicht“, wehrt er ab, als er die Zeilen über- flogen hat, „mein Name steht darauf“. Das Blatt wird an den Advoka- ten Isaac-Adolphe Crémieux, 52, weitergereicht. Auch er weist die

Seite zurück, wenngleich mit anderem Einwand. „Sie machen sich ü- ber mich lustig, wenn Sie mir vorschlagen“, ruft er aus, „dem Volke eine Liste zu verlesen, auf der mein Name nicht vorkommt!“.

Crémieux bekam nach einigem Hin und Her das Amt des Justizminis- ters zugeschlagen. Das unterschiedliche Verhalten zweier Personen, die in jener Zeit eine Rolle spielten oder auch nur posierten, sagt viel aus über Einfluss der Charaktere auf die Umstände, nicht nur in Kri- senzeiten. Tocqueville setzt seiner Schilderung einige Bemerkungen

über den problematischen Rohstoff aller Politik als „Verständigung

über das Wirkliche" (Hofmannsthal) hinzu. Und damit über die zwei- felhafte, da bei aller

- feinen Herkunft

- guten Schulung oder

- öffentlich-orientierten Zielsetzung im Alltag wie bei Notfällen letztlich eher zufällige Qualität der Eliten.

Sie geben als vertikal angeordnete Verwalter des Konvergenzprinzips mit Blick auf das sozialen Durcheinander im Guten wie im Schlechten

9 Erinnerungen (1850), mit einer Einleitung von C. J. Burckhardt, Stuttgart: Koehler 1954, S. 99. 18

den Ton an, jedenfalls solange sie nicht durch horizontale Selbstor- ganisations-Fähigkeiten der Bürger abzulösen sind, auch wenn sie

‚außer der Reihe’ die Macht erlangen wie im Hin und Her jener Tage in Frankreich. Den subjektiven Tenor historischer Vorkommnisse zieht er nicht in Zweifel. Nun bleiben Politik und Geschichtsschreibung zweierlei. Die Infragestellung personalisierender Mythen ist für die sozialwissenschaftliche Forschung unumgänglich. Die Zeitgenossen

überschauen Voraussetzungen der Handlungsabläufe ebenso wenig wie Langzeitfolgen ihrer Schritte. Es ist indes das eine, die Begeben- heiten aus nachträglicher Perspektive gleichsam zeit- und rollenarchi- tektonisch zu ordnen.10 Etwas ganz anderes kommt heraus, sieht sich dabei vernachlässigt, dass bei aller „bounded rationality“ (H. A. Si- mon) ihrer Absichten doch Menschen und ihre Aggregationen samt öf- fentlichen Willensbekundungen11, nicht aber ‚Sozialgesetze’ den öf- fentlichen Raum der Diversität namens Politik bestimmen und damit den „labyrinthisch irren Lauf“ (Goethe) der Dinge in Szene setzen.12

Solche Entsubjektivierung als Methode, die Geschichte als Voraus-

10 Was einen durch Beobachter willkürlichen, mithin in Kauf genommenen Abbruch von (abgeschlossener) interaktiver Komplexität bedingt, um dar- über kommunizieren (offene Komplexität) zu können: Geschichte ist folg- lich nicht nur das Ergebnis subjektiver Energien, sondern bleibt von der Beobachtung (Verständnisenergie) abhängig, also von (inter)individuellen Operationen willentlicher Akteure. Noch der in diesem Zusammenhang be- obachtbare Hang zur semantischen Reifizierung (Struktur, Prozess, System etc.) stellt nichts anderes dar als die metaphorische beziehungsweise em- pathetische Befähigung menschlicher Dynamik (Handlung, Interaktion, Ver- ständigung, Interpretation ff.), keineswegs aber eine Selbstartikulation ho- listischer Phänomene, die sich anthropoider Rollenträger bedienen. 11 Durchaus im Sinne einer Bemerkung von Tocqueville (L’ancien régime et la révolution, Bd 2, Teil 1, Hrsg. J. P. Mayer, Oeuvres Complètes, Paris: Gallimard 1953, S. 179): „Je parle des classes, elles seules doivent occu- per l’histoire“, da auch sie, wie alle Sozialphänomene, nicht zuletzt psy- chologischer Natur sind. 12 Die sittliche oder politische Weltordnung, wer schafft und hält sie in Gang? Die Menschen und ihre Interessen, Träume oder auch Ideen. Außer in der Dingwelt (Begreifen), dreht sich in Erfahrungswelt (Erklären), Ereig- niswelt (Verstehen) oder Symbolwelt (Deuten) alles um Wollen und Han- deln der Menschen, weswegen „the proper study of mankind is man“ (Po- pe). 19

setzung und Produkt menschlicher Tätigkeiten aus den Augen verliert, begünstigt die moderne Strukturgeschichtsschreibung beziehungswei- se systemische Biographieforschung mit ihrem sozialtheoretisch ein- gestellten Weitwinkelobjektiv. Es funktioniert ganz ohne human touch und pflegt insofern ein depersonalisiertes Verständnis von Vergan- genheit und Gegenwart. „Kristallisationen der Ereigniswelt“ auf der

Mikroebene im Sinne von Walter Benjamin treten aus dem Blickfeld.

Zudem verschwimmen die interindividuellen Hintergründe von Macht,

Prestige oder Ideologie. ‚Herrschaft’ lässt Niklas Luhmann13 ohnedies nur mehr als „agrargeschichtlichen Begriff“ gelten, unvereinbar mit der modernen Leistungsgesellschaft. In ihr sieht sich auch Macht als

„Kausalität unter ungünstigen Umständen“ beziehungsweise „Transfer von Entscheidungsprämissen“14 zu Autorität umdisponiert, die am En- de zur ‚Reputation’ schrumpft und ausgesprochen handzahm wirkt, trans-gesellschaftformative Gewaltsamkeitspotentiale hin oder her.15

Nicht anders ergeht es durch Ideologien zum Ausdruck kommenden

Interessen. Für Luhmann ist selbst die Denkbarkeit von Perspektiv-

Identitäten der Sozialakteure - etwa als Lobby - verschwunden, da je- denfalls kognitiv niemand mehr etwas als richtig, zuträglich oder her- vorragend reklamieren kann, er systemtheoretisch-verstanden auch gar keinen Adressaten fände, löst sich doch, im Kategoriennebel ent- personalisierter Neutra befangen, alles in Beobachtungen anderer

Beobachtungen auf. Es wird die sichtlich erfolgreichen Vertreter mächtiger Interessenverbände etwa in Brüssel ebenso entlasten wie freuen, solchermaßen zu vernehmen, dass es sie pro forma nicht nur

13 Jürgen Habermas/Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozial- technologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 400; auch Luhmann: Macht, Stuttgart: Enke 1975, S. 75 f. 14 Luhman: Macht, a.a.O., S. 1; ders.: Funktion und Folgen formaler Orga- nisation, : Duncker & Humblot 1964, S. 99. 15 Vgl. Alf Lüdtke (Hrsg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historisch- anthropologische Studien, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, S. 9 ff. 20

nicht mehr geben dürfte, sondern dass ihre elitärek Durchsetzungs- macht zudem auf nichts als Selbst- wie Fremdwahrnehmungs-

Illusionen beruhen.

Entscheidungen

Wider diese historical correctness rief Fritz Fischer16 die ausschlag- gebende Bedeutung von Entscheidungen im Strom der Geschichte ins

Gedächtnis. Soziale Phänomene, egal welcher Dimension, lassen sich nur als „Konsequenzen menschlicher Handlungen“ erklären17, was de- ren Kumulierung als ‚Tatsachen‘ zu prozessualen etc. Aktionsketten beziehungsweise überzeitlichen Handlungskonstellationen (Sozialge- bilden wie Institutionen, Regelwerken ff.) nicht ausschließt, sondern impliziert. Historikerkollegen rümpften die Nase wie über eine Fehl- leistung, und die interessierte Öffentlichkeit stutzte über so viel Un- verblümtheit. Es sei ohne Frage „die historische Wahrheit“, legt Fi- scher nach, dass im Sommer 1914 „zwei oder drei Leute das Schick- sal Europas entschieden“. Und zwar keineswegs nur, weil Ole R.

Holsti (The 1914 Case, S. 365) nachweisen konnte, dass in politi- schen Stress-Situationen nicht allein die Zeitperspektivik ebenso schrumpft wie die wahrgenommenen Handlungsalternativen, sondern sich zugleich die Anzahl der Entscheidungsträger drastisch verklei- nert, auch deswegen, weil abweichende Einschätzungen ausgeschlos- sen werden. Gerade in in derartigen Zwangslagen zähl(t)en vor allem

Eliten, keineswegs aber primär andernorts beschworene „anonyme

Kräfte einer autoritären Polykratie“ (Wehler), festliegende Ablaufdy- namiken (Aufmarschpläne usw.) oder per se der Zwang zur Risikomin-

16 Hitler war kein Betriebsunfall, München: Beck 1992, S. 47. 17 Raymond Boudon, in: ders./François Barricaud: Dictionnaire critique de la sociologie, Paris: PUF ²1986, S. 287. 21

derung (Bewältigung von Ungewissheit) durch Einsatz-Steigerungen.

Obschon sich das Weltgeschehen von Soziologie und Historiographie bei aller Individualisierung (ǂ Personalisierung) der Zeitläufte an- sonsten kaum mehr im Sinne von Johann Gustav Droysen18 auf Wille und Vorstellung der Akteure und ihrer Austauschformen zurückverfolgt sieht, blieb für den Hamburger Historiker die Tatkraft samt Zweck-,

Wert- oder auch Erlebnisrationalität das Vitalprinzip aller Geschicht- lichkeit19, Geschichte handelt immer nur von Menschen. Durch sie in- tendierte beziehungsweise ausgelöste Prozesse geraten zumeist ei- genläufig, sind aber nicht als eigenlogisch oder gar ‚eigenwillig‘ zu verstehen20, so als ob Strukturen, Systeme oder Organisationen di- rekt adressierbar wären. Sie bündeln/prolongieren/erregen vielmehr auch als diachrone, womöglich etwa in ihrer Wirkung vom Ursprungs- zweck abgelöste Erfindungen (Gericht) oder Einrichtungen (Markt) bei aller Inhärenz zugleich in vivo die Motivation, das Interesse, die E- nergie aus laufenden Interindividualitäten. Im sprichwörtlichen Kern- bereich jeder menschlichen Gebildeform wirken Entscheidungen, tag- täglich, diese wiederum reagieren, koordinieren oder transferieren und erzeugen solchermaßen Vernetzungsketten, die nolens volens

Auswahl und Verständigung bedingen, über alle funktionsgerechte

Differenzierung hinweg. Welche vielmehr ihrerseits Teil der Verflech- tungslogik bleibt, wobei dieser Zusammenhang von den Zeitgenossen mühelos in Personalia, Bildern, Sinnstrukturen, Metaphern oder Sym-

18 Denn „jede sogenannte historische Tatsache ist ... ein Komplex von Wil- lensakten", Grundriss der Historik, § 28, in ders.: Historik, Hrsg. Rudolf Hübner, München: Oldenbourg ²1967, S. 317 ff., hier S. 335. 19 Was seine früheren Annahmen über sozialökonomische Interessenzwän- ge als Movens etwa der Verkriegung jener Epoche (Griff nach der Welt- macht [1961]; Krieg der Illusionen [1969]) auf bemerkenswerte Weise kor- rigierte. 20 Auch in historischen etc. Kausalnexus-Situationen wie 1914 ist jene „Theorie der individuellen Ursachen“ nicht außer Kraft gesetzt, die Gabriel Tarde (Die sozialen Gesetze, Leipzig: Kröner 1908, S. 96) im Sinne einer Schnittmenge von Freiheit und Notwendigkeit bereits als interaktionisti- sches ‚Fenster der Gelegenheiten‘ bestimmt hat. 22

bolen kohärent gehalten wird. Selbst deren Beobachtung setzt bei- spielsweise Empathie voraus oder frei, spiegelt kein Allwissen trans- oder extrahumaner Entitäten mit Selbstverwirklichungstick, wie man der Systemtheorie entnehmen kann, die indes eher als Flucht aus al- lem Menschenwerk zu verstehen ist denn als deren Explikation. Folg- lich steht sie angesichts zu Sachzwängen eskamotierter Eliteformati- onen unter Verdacht, deren Walten metaphysische Regeln zu unter- schieben. Doch selbst „dieses Spiel setzt, und das ist das Entschei- dende, Individuen voraus“, kommentiert demgegenüber Peter Fuchs21, die (was zu bezweifeln bleibt) nicht länger „essentielle Eigenschaften haben..., sondern nur die Doppelmöglichkeit von prinzipieller Unbe- stimmtheit, Offenheit, Unvorhersehbarkeit des Verhaltens, schlicht: von Dämonie offerieren und zugleich Bestimmbarkeit im Sinne des- sen, daß sie sich trotz und wegen ihrer Unbestimmbarkeit konditionie- ren lassen.“ Ohne Beschlüsse, die allemal im Spannungsfeld zuneh- mender Sach- beziehungsweise Auflösungszwänge zu treffen wa- ren/sind22, lässt sich gesellschaftliches Funktionieren womöglich er- fassen, aber weder gestalten noch verstehen, seit Max Weber die

Endabsicht aller Sozialerkenntnis. Solcher Dezisionismus wirkt nicht ort-, umstands- oder zeitlos, noch folgt er ergebnis-bezogen notwen- dig Zweck- gar Vernunftskriterien, „denn was jeder einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat“23. Er bleibt vielmehr Wahrnehmungsmustern oder dem Druck der Umstände verpflichtet, die gründlicher Erhellung be-

21 Intervention und Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 144. 22 Sogar mehr denn je: Je chaotischer (= (f) Makrovarianz von nicht- koordinierten/-koordinierbaren Abläufen) die Handlungslagen ausfallen, um so wichtiger wird Dezision zur ‚Klärung‘, sprich Wiedereinführung akzep- tabler Unterscheidungen (richtig/falsch; oben/unten; ordent- lich/unordentlich etc.), wie sich fallweise an der Epiphanie charismatischer Führer (Napoléon, Lenin, Mussolini, Hitler, Péron ff.) aus verallgemeinert wahrgenommener Desorganisation samt Panikbereitschaft ersehen lässt. 23 Friedrich Engels am 21./22. 9.1890 an Joseph Bloch, MEW 37, S. 462 ff., hier S. 464. 23

dürfen. Über eine Auffassung, wonach die Menschen selbst, wenn auch als Rollenträger im Bedingungsraster von Struktur-Idee-Figur, nicht irgendwelche Gebilde oder Dinge die Zäsuren in der Geschichte setzen, mochte die Fachwelt nur mehr den Kopf schütteln. Seit ge- raumer Zeit sind mit den Einflüssen mentaler Strukturen, dem Agieren gesellschaftlicher Gruppierungen oder langen Wellen der Wirtschaft andere Größen in den Blickpunkt der Theorienbörse gerückt. Individu- elle Entschlusskraft im Rahmen einer stark die staatlich-politische

Dimension gewichtenden Vorstellung von der Vergangenheit und Ge- genwart sozialer Komplexe verlor an analytischer Überzeugungs- kraft.24 Man komme nur weiter, erläuterte stattdessen Luhmann25,

„wenn man die Gesellschaft als selbstreferentielles und deshalb mit

Paradoxien belastetes System auffaßt“.

Die Hinwendung zum Sachweltlichen zog eine geradezu amtliche „In- dividualitätsprüderie“26 der akademischen Geschichtsschreibung und

Sozialauffassung nach sich. Thematisch ging dieser Blickverengung gegenüber dem „Ich und seinen Umständen“ (Ortega) mitsamt ihren

Ersatz-Abstraktionen, die für sich genommen, also „getrennt von der wirklichen Geschichte, durchaus keinen Wert haben“27, neben der

Wechselwirkung von Charakter und Epoche das Gespür für die Mitent- stehung der Realität aus Ermessen und Verfügung verloren. Zudem

24 Was auf das Paradoxon verweist, wonach der Individualität selbst in un- serem Zeitalter einer emphatischen ‚Individualisierung’ kaum mehr Hand- lungsautonomie zugeschrieben zu werden scheint: Weil sie ein illusionäres Kollektivphänomen darstellt? 25 Kapital und Arbeit, Soziale Welt, Sonderband 4 (1986), S. 71: Zu denen die persistente Subjektperspektive selbst gezählt werden könnte, auch die, welche von Differenz ausgeht, und nicht mehr von Identität. 26 Wilhelm Berges: Biographie und Autobiographie heute, in: Aus Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft, Festschrift für Hans Herzfeld zum 80. Geburtstag, Berlin/New York: Gruyter 1972, S. 27 ff., hier S. 29. 27 Sie vermögen vielleicht „die Ordnung des geschichtlichen Materials“ zu erleichtern oder „die Reihenfolge seiner einzelnen Schichten“ anzudeuten, „geben aber keineswegs... ein Rezept oder Schema, wonach die geschicht- lichen Epochen zurechtgestutzt werden können“, Karl Marx & Friedrich En- gels: Deutsche Ideologie (1845/1846), MEW 3, S. 27. 24

fallen andere für das Gesellschaftsleben, überhaupt für die „Alchemie der Zeit“ (Disraeli) ausschlaggebende Dimensionen, wie etwa das

Einwirken generativer Erlebnisgruppen oder auch Zeitmoden auf die

Sozialwelt, durch das Sieb einer auf Verlaufslogiken geeichten Ursa- chenforschung oder Spurensuche. Um von Interessen oder Macht- brunft gar nicht zu reden.28 Allenfalls sind dieser Monoskopie noch jene „Zentralfiguren“ bemerkenswert, die der französische Orientalist

René Grousset für „Schicksalsstunden der Geschichte“ (Wien: Ullstein

1951) dingfest machte, indem nicht zuletzt elitäre Anwandlungen der

Macher oder Herostraten „die normale Entwicklung der Dinge stört“

(S. 356). Doch wer deutet die Gegenwart mit Thomas Carlyle, Hein- rich von Treitschke oder Carl Schmitt noch als Spielfeld bedeutender, da im Guten wie im Bösen durchsetzungsfähiger Frauen und Männer?

Niemand betrachtet die Zeitläufte als Quersumme mehr oder weniger sachgerechter Entschiedenheit, bei aller öffentlichen Rede davon,

28 Derartige Antriebe/Adiaphora/Petitessen fallen nicht zuletzt durch das Raster einer Soziologie, die vollauf mit jener postmodernen Identitätsprob- lematik beschäftigt ist, die dem Fach durch die gegenwarts-irritierende Fragestellung der Individualisierungs-Folgen aufgenötigt wurde, welche seither zudem als angebliche Befähigungsprüfung ihrer gnoseologischen Relevanz gilt. Der methodologische Streit zwischen Individualismus und Holismus, der sich durch ihre Tradition zieht, wiederholt sich dabei auf der Bühne der Prämissen. Lässt sich, lautet die bange Frage auf dem gesell- schaftlichen Zauberberg, die soziologische Analyse von der Identität her verwalten wie von einem archimedischen Punkt aus? Oder regieren Diffe- renz und Paradox das Interpretationsgewerbe, so dass wir es mit einer tex- tualisierenden Selbstbeobachtung der Gesellschaft via Soziologie zu tun haben, also gleichsam mit einer bewußtlos/ziellos ablaufenden Autogno- sis? Identitätsbewußtsein spiegelt Selbsterfahrung (Erikson) und verrät das Erleben eines eigenen, erkennbaren Stils, der trotz mancherlei Verän- derungen in sich konsistent bleibt. Im Gegensatz zur üblichen Begriffskar- tographie will die Systemtheorie hingegen ‚Identität’ als Steigerungsvari- able der Individualität durch die Opposition von Identität und Differenz verstehen. „Unterscheidungen sind der Ausgangspunkt“ (Luhmann) und nicht mehr ‚Aprioris’ wie Geist, Bewußtsein oder Person. Über eine innova- tive Identitätssemantik meint man, das Individualitätskonzept besser in den Blick zu bekommen als die Klassiker des Faches, die allesamt unter den Scheuklappen einer überlieferten ‚Subjektmetaphysik’ gelitten hätten. Die Destruktion gängiger Identitätsbegriffe scheitert indes an der tatsächlichen Widerlegungsfestigkeit/Unhintergehbarkeit der ‚normalen’ Identitätsprä- senz als Funktion der Ich-Kreativität. 25

dass der Mitwelt nichts mehr mangelt als ebenso zukunftsweisende wie kompetente Führungskräfte?29

Geschehen

Diese Sichtweise ist nicht nur in Verruf geraten, weil solchermaßen die Motorik und Befindlichkeit der gesellschaftlichen Substanz das

Ergebnis vornehmlich interindividueller Kommunikation, Handlungen oder sonstiger Impulse samt unvorhersehbarer Nebenfolgen zu sein scheinen, nicht jedoch einer invisiblen Logik sozialer Agglomeratio- nen folgen, sei es gleich wie im „Traum ohne Vernunft und Ordnung“ beziehungsweise nach „vorherbestimmter, feierlicher Bahn“30; oder weil das andere Geschlecht zu kurz kommt. Auch Treitschke wusste um die Bedingtheiten historischer Entschlusslagen, argumentierte keineswegs epagogisch. Vielmehr wirkte in Relation zu den überwälti- genden Sachzwängen der entfesselten Marktmoderne, die im Sinne einer Art von sozialwissenschaftlicher „Systemontologie“ (Illich) als selbstläufig gelten, die personale Dimension mitsamt ihren Motivati- onsperspektiven in Politik und Geschichte einfach nachrangig. Sind

„die Prägungen durch Persönlichkeiten“, denen die Zeitabschnitte so oder so unterliegen31, daher zu vernachlässigen? Nicht zuletzt diese

Infragestellung des Menschen lässt Stephen Toulmin32 in einer Studie

über „die unerkannten Aufgaben“ der Epoche von der Illegitimität der

Neuzeit sprechen. Sie läuft zudem jenem „Aufstand der Person“ zuwi-

29 Vgl. Luc Boltanski: Die Führungskräfte. Die Entstehung einer sozialen Gruppe, Frankfurt am Main/New York: Campus 1990, S. 55 ff. 30 Wie John W. Draper (Geschichte der geistigen Entwicklung Europas, 2 Bde., Leipzig: Wigand 1865, hier Bd. 2, S. 355) die Alternativen sortierte. 31 Im Detail vgl. Werner Weidenfeld: Zeitenwechsel, Stuttgart: DVA 1999, S. 24 ff. 32 Kosmopolis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. 26

der, den nicht nur Gerhard Schmidtchen33 vermessen zu können glaubt. Die seit Francis Bacon oder René Descartes mehr oder weni- ger bewusst in Schwung gesetzte Innovations-Moderne mit ihrer - im

Rahmen der technologischen Weltbeherrschung unübersehbaren -

Vervollkommnung der Apparate bilde in Wahrheit eine einzige Gegen- renaissance, so Toulmin. Erzählt doch die Chronik der Individualisie- rung zugleich von ihrer Gefährdung durch die von eben diesen Indivi- duen entfesselte Wirtschaftsdynamik samt Technik-Kumulierung. Eine

Betrachtung des Sozialgeschehens als Reihe von Handlungsserien, als Tatsachen mithin, schien einem fakturierenden Umgang mit Ge- schichte und Gesellschaft nicht einmal mehr im Sinne von Hegel vor- stellbar. Dieser hatte in seinen für die Karriere des Historismus wich- tigen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ „große Men- schen“ (Anm. 2, S. 91) zwar nur mehr als „Geschäftsführer eines

Zweckes“ bezeichnet wissen wollen, die im Namen des „Weltgeistes“ handeln. Sie blieben für ihn bei aller „Ohnmacht des Individuums ge- genüber den geschichtlichen Mächten“ (Burckhardt) zugleich Vertreter des für die Epoche jeweils Ausschlaggebenden und waren daher für deren Prozess wie Verständnis unabdingbar.

Selbst davon ist kaum die Rede. Die Vorliebe der Geschichtswissen- schaft für sozialhistorische Befunde und der Soziologie für quantitati- ve Daten oder semantische Realia übersieht leicht, dass soziostruktu- relle Gegebenheiten zwar durchaus präformierte, letztendlich jedoch intentionale Grundmuster des Geschehens darstellen. Je genauer ei- ne historische/soziale Situation betrachtet wird, ein desto geringeres

Gewicht erhalten verallgemeinernde Erklärungen, die in actu den

Handelnden ohnehin nicht oder nur sehr unvollständig be- wußt/bekannt werden. „Gesellschaften sind keine Systeme“, sondern

33 Identitätsrevolution der Manager?, Universitas Nr 629 (1998), S. 1063 ff., hier S. 1073. 27

bilden „lockere Aggregate vielfältiger, sich überlappender oder über- schneidender Machtnetzwerke“, wie Michael Mann unterstrich34. Der

Rückblick entdeckt ausnahmslos und oft ex abrupto zu treffende Be- schlüsse beziehungsweise verschleierte Entscheidungsalternativen im

Kontext materieller, mentaler, informeller oder putativer Zwänge.

Wahlfreiheit war im chaotischen Gewebe der Umstände auf der Zeit- achse gleichwohl immer vorhanden, wie nicht zuletzt das Phänomen des offenen Wandels mitsamt seinen Überraschungen, Durchbrüchen,

Windungen und Rückschlägen demonstriert. Der methodisch- angemessenen Sichtweise, also der Mikrofeineinstellung, des Ver- gangenheitsforschers/Sozialkundschafters bei der Spurensuche oder

Konjektur müsste, da frei nach Charles Horton Cooley35 das Individu- elle immer „Ursache und Wirkung von Institutionen“ ist, der personale

Faktor im Zeitverlauf entscheidungsträchtiger und damit eigentlich ausschlaggebender sein als diachrone Verlaufslogiken oder die

Selbstentfaltung dieser oder jener Einflussfaktoren.36 Die Verantwort- lichkeit im Geschichts- wie Sozialverlauf sieht sich sonst herunterge- spielt, was nicht nur

➭ „den unendlichen Reichtum der Menschengeschichte in das Prok- rustesbett schematischer Klassifikationen“ (Pöhlmann) zwängen muss, sondern zudem

➭ die politische Zurechnungsmöglichkeit ebenso erschwert wie glei- chermaßen

34 Geschichte der Macht, 3. Band/Teil 1: Die Entstehung von Klassen und Nationalstaaten, Frankfurt am Main/New York: Campus 1998, S. 360. 35 Social Organization (1909), New York: Schocken 1963, S. 313 ff. 36 Jedenfalls dann, wenn mit Edmund Husserl (Die Krisis der europäischen Wissenschaften (1936), in: Gesammelte Schriften, Hrsg. Elisabeth Ströker, Band 8/2. Teil, Hamburg: Meiner 1992, S. 124) die Wissenschaft noch „Fra- gen stellt und beantwortet“, die „von Anfang an, und so notwendig weiter, Fragen auf dem Boden dieser, an den Bestand dieser vorgegeben Welt, in der eben ihre wie alle sonstige Lebenspraxis sich hält“, sind, und die als akademische Disziplin nicht ausschließlich an der in-sich-stimmigen Beg- riffsarchitektonik historischer bzw. sozialer Anschluss-Diskussionen inte- ressiert ist. 28

➭ die Analyse von Vorteils- oder Übermachts-Ballungen als Spielregel des Sozialen.

Das lässt sich nicht zuletzt ablesen an einer Verlagerung der For- schungsinteressen auf soziale, institutionelle, wirtschaftliche oder andere Triebkräfte als causa causans der Gesellschaftsgeschichte.

Dabei schließen sich die Anerkennung der persönlichen Entscheidung im Geschichtsverlauf und die Beachtung ihrer vielen Voraussetzungen und Folgen keineswegs aus, fraglos ist mit Marx (MEW 3, S. 6) das menschliche Wesen als homo socialis immer zugleich als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ zu begreifen, das im Wirrwarr verursachter Kausalitäten den Zufall bearbeitet.

Aber auch mit Blick auf die moderne Vergangenheitsforschung oder

Zustandsauslotung und ihre Neigung, Geschichte und Zustände „nur ad probandum“ existieren zu lassen37, mag zutreffen, was Horkhei- mer/Adorno38 für die neuzeitliche Wissenschaftsentwicklung insge- samt vermutet haben. Je eingehender sich die „Denkmaschinerie“ der konsumierten Zeit oder strukturierten Dingwelt bemächtigt, „um so blinder bescheidet sie sich bei (deren) Reproduktion“. Außerhalb des akademischen Elfenbeinturms feiert die qualitas occulta der Persön- lichkeit und des Behavioralen hingegen fröhliche Urstände. Die Kon- junktur der Biographik wie phänomenologisch zugespitzter Sozialprob- lem-Darbietungen39 auf dem Buchmarkt verrät zumindest das Unver- ständnis der Mitwelt für den wissenschaftlich inszenierten Statistik-

37 Wie bereits Jacob Burckhardt kritisiert hat: Über das Studium (Anm. 8), S. 110. 38 Dialektik der Aufklärung (1944), Frankfurt am Main: Fischer 1969, S. 33. 39 Nach dem Muster des ebenso faszinierend geschriebenen wie an Ursa- che-Wirkung-Analysen desinteressierten Erfolgsbuches von Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main: Fischer ²1996. Die Moderichtung einer geradezu voyeuristischen Entdeckung des Körpers und seiner Schmerzen (vgl. Trutz von Trotha [Hrsg.]: Soziologie der Gewalt, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, SH 37/1997), der Gesellschaft zum Tummelfeld des homo brutalis gerinnt, verweist auf Rückwirkungen des öffentlichen Event-Interesses im universitären Themen- raum. 29

taumel - „die Masse, hohe Ziffer das Venerabile“40 – oder auch Be- nennungszauber und die damit verbundene Abkehr des geschichtli- chen und sozial-prüfenden Fragens von der Lebenswelt als Gärstoff ihrer Gebildeformen und deren Sinnentwürfe.

Historische Sozialwissenschaft

„Das Rohmaterial der Geschichte ist der Mensch“, mahnte der Belfas- ter Historiker Michael Barnes41. In diesem Sinne hebt Fischer trotz aller Verflochtenheit etwa die Rolle persönlicher Wahrnehmungen und

Maßnahmen während der dramatischen Tage und Stunden im Katast- rophenmonat Juli des Jahres 1914 hervor. Der Wissenschaftler, ge- storben 1999, benennt in diesem Zusammenhang neben dem Reichs- kanzler Bethmann Hollweg den Staatssekretär des Äußeren Gottlieb von Jagow und Unterstaatssekretär Wilhelm von Stumm als aus- schlaggebende Akteure, die Europa seinerzeit in den Abgrund steuern halfen, wenngleich ausländische Elitenvertreter an diesem Fehlkurs kräftig mitwirkten. Die ausdrückliche Personifizierung stellt eine Her- ausforderung dar an den in Geschichte und Sozialwissenschaft an- sonsten verbreiteten ‚interpretativen Antihumanismus’, der retrospek- tiv lauter causa causata zu vermessen wähnt.42

40 So Carl Sternheim über die Habgier als Interesse und Kalkül als Tatkraft verstehende Moderne mit ihrer die „Existenz ohne Verantwortung“ preisen- den Sachlichkeit, Berlin oder Juste Milieu, Berlin: Wolff 1920, S. 22. 41 M. J. Barnes (Hrsg.): Politics and Personality 1760 - 1827, Edin- burgh/London: Oliver & Boyd 1967, S. 1. 42 Und von Selbstläufigkeiten redet, die als Sozialprozesse immer Energie- Summierungen bilden, deren Motive zu klären bleiben. Zwar lässt sich et- wa mit Adolphe Quételet, Jahrgang 1796, das Interagieren auf Regelmä- ßigkeiten (Todesraten, Geburtszeiten, Kriminalitätstempo etc.) reduzieren, aus denen/an die sich interpretativ oder administrativ Versicherungsprä- mien errechnen, Risikospitzen voraussagen, Vorsorgepolitiken anschließen oder aber eine quasi-gesetzmäßige Systematik ableiten lassen (vgl. Fran- çois Ewald: Histoire de l‘ état providence (1986), Paris: Grasset 1996, S. 30

Deutete sich hier, durch einen der führenden Historiker der Nach- kriegszeit, eine Kurskorrektur wenigstens in der Historiographie an?

Oder zumindest eine Milderung jenes von Hans-Ulrich Wehler verlang- ten Primats einer „kritischen Gesellschaftsgeschichte“, die durch ihre

Umpolung vom Interaktiven auf Gebilde-Geschichtliches eigentlich weniger kritisch wirkt als multifaktorieller? Stand gar eine Repersona- lisierung der Kulturwissenschaften bevor, was durchaus den Erwar- tungen auf historiographische Orientierung entgegenkäme, die bei

Publikum und Medien verbreitet sind? Etwa um der Jetztzeit in den

Konturen der Vergangenheit einigen Halt durch Herkunftsdemonstrati- onen zu bieten? Jene schon von Daniel Halévy43 vermerkte „Be- schleunigung der Geschichte“ kommt ansonsten einem veritablen Ver- lust der Gegenwart gleich. „Der Zeitgeist wandelt in Finsternis“, warn- te Tocqueville44, „wenn die Vergangenheit nicht länger die Zukunft erhellen hilft“. Eine die Entscheidungs-Dimensionen berücksichtigen- de Individuierung der Erinnerung vertrüge sich mühelos mit eher so- zialtheoretisch gestimmten Forschungsmotiven. Alle Humanwissen- schaften haben nach Marc Bloch45 „wesentlich den Menschen zum

Gegenstand“. Auch im Sinne einer Sozialweltforschung bleiben sie auf den Plural als „grammatikalische Form der Relativität“ verwiesen. Der

103 ff.). Aber selbst solche Funktionen bleiben interessen-rational zu ver- stehen, dienen keineswegs als Beweis für echte Autodynamik sozialer Ab- läufe. Tatsächlich zeugen sie von der Freizügigkeit (= Ergebnis-Kondition!) und zugleich Essentialität menschlicher Unternehmun- gen/Bedürfnisse/Hoffnungen etc.: Diese kumulieren als Resultat noch dazu mit die Gewohnheiten wechselnden (vgl. Verschiebung der statistischen Geburtenspitze) Selbstverwirklichungs-Anstrengungen. Das zeugt nebenher gesagt bei aller Plastizität von der Verlässlichkeit unserer Ontologie, die gerade nicht ad nauseam chaotisch, da unendlich differenziert ausfällt, sondern individuelle Variationen gattungsgerechter Le- bens(not)wendigkeiten erprobt. 43 Essai sur l’accélération de l’histoire, Paris: Plon 1948. 44 De la Démocratie en Amérique (1835), in: Oeuvres, Hrsg. J.-P. Mayer, Paris: Gallimard 1961, Band 1, Teil 2, S. 336. 45 Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers (1949), Stutt- gart: Klett 1974, S. 43. 31

Individualismus als reine Monadologie ist hingegen ein Thema der

Philosophie, nicht der historischen oder systematischen Gesell- schaftswissenschaften, die es laut Bloch im Sinne älterer Abgrenzun- gen bei Heinrich Rickert unabweisbar „mit dem Unterschiedlichen zu tun ha(ben)“.

Es bleibt zu bezweifeln, ob sich die Vorherrschaft eines wie immer gerichteten Strukturinteresses im Fachbetrieb abschwächt, weil diese mit Abstrahierungstendenzen der Maschinerie von Weltinterpretatio- n en zusammenhängt, die seit Gaston Bachelard verzeichnet sind.

Daran änderte die Nachricht wenig, dem Münchner Fachvertreter

Thomas Nipperdey sei mit dem Preis des ‚Historischen Kollegs‘ die angesehenste Auszeichnung zugesprochen46, die hierzulande Ge- schichtsschreibern verliehen werden kann. Nipperdeys imposante

‚Deutsche Geschichte' des 19. Jahrhunderts, erschienen seit 1983, war auch für das breite Publikum formuliert; der 1992 verstorbene

Preisträger sperrte sich gegen Einseitigkeiten der strukturgeschichtli- chen Berichterstattung. Es war gleichsam eine vermittelnde Position, die gewürdigt wurde. Differenziertere Sichtweisen mit Blick auf das historisch/soziale Ineinander von Ding- und Menschenwerk bekamen keineswegs neuen Schwung. Die Beachtung der Personalität als pri- mus movens wirkt für den Fachgeschmack methodisch altbacken.47

Akteure gelten der Epochenwahrnehmung als „von Natur interdepen- dente Subjekte“ (MEW 13, S. 615), deren Wollen nicht abzulösen ist vom objektiven Können, auf das sich Soziogeschichte zentriert. Ent- sprechend erlebte die historische Sozialwissenschaft mit der ‚Deut- schen Gesellschaftsgeschichte‘ (München: Beck 1987 ff.) von Wehler

46 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. 3. 1992, S. 27. 47 Obschon gerade auch in den neuesten Spielarten der Ökonomie als so- zialwissenschaftliche Leitdisziplin (vgl. Bernard Walliser: L‘ économie cognitive, Paris: Odile Jacob 2000, S. 239 ff.) wenigstens aus theorie- konstruktivenen Gründen am Akteur als „moteur du changement“ (S. 240) festgehalten wird. 32

zeitgleich einen publizistischen Höhepunkt. Selbst den Kritikern der

Datenreihen und Verallgemeinerungspflege, auf der dieses Werk ruht, nötigt der schiere Material- und Theorieverzehr einige Bewunderung ab. Zwar wird der von dem Bielefelder Gelehrten freizügig verwendete

Gesellschaftsbegriff in der Soziologie selbst zunehmend als Mystifi- kation betrachtet, wie Michael Mann48 demonstriert. Wehler macht sich anheischig, seine Darstellung im Geiste von Max Weber zu ver- fassen. Dessen multimediales Wirklichkeitsverständnis räumt der

‚Bielefelder Schule’ erhebliche Spielräume der Interpretation ein.

Folglich fanden sich in einer Festschrift49 zu Wehlers 60. Geburtstag zwar einige Beiträge mit Verweisen auf theoretische oder inhaltliche

Defizite des Jubilars. So habe sich dieser der Alltagsgeschichts- schreibung verweigert, auch das feministische Anliegen fehle in sei- nem Werk. Ansonsten wird auf die vor allem vom Geehrten beförderte

„Durchsetzung der Sozialgeschichte“ verwiesen. Ironischerweise sieht sich in diesem Zusammenhang betont, dass man wenigstens mit Blick auf diese Erfolgsgeschichte eines Theorieprogramms nicht „umhin kommt“, trotz aller sonstigen „Polemik gegen die Auffassung, nach der vor allem ‚große Männer Geschichte machen`, die Bedeutung be- stimmter Leitfiguren zu würdigen“ (S. 10), zu denen der Gelehrte zäh- le.

Damit verrät sich eher ein Verständnis im Taschenformat jener Wech- selwirkung von Persönlichkeit und Kultur. Verstand dieser Ansatz zu- dem Max Weber richtig? Im Sinne von Nietzsche, der die Bedeutung des Handelns als Elexier des Zusammenlebens unterstrich, sagte We- ber sich vom älteren Historismus los. Entsprechend verlangte der So- ziologe eine angemessene Berücksichtigung der Motive samt ihren

48 Geschichte der Macht, Band 1: Von den Anfängen bis zur griechischen Antike, Frankfurt am Main/New York: Campus 1990, S. 14 ff. 49 Manfred Hettling u.a.: Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen, München: Beck 1991. 33

Trägern im Sozialgeschehen - auch bei der Sichtung der Vergangen- heit. Die in der „Gesellschaftsgeschichte“ vertretene Strukturauffas- sung hingegen ähnelt eher historistischem Vorgehen - mit dem man ansonsten nichts zu tun haben möchte -, weil in diesem Verständnis das Sozialleben „wie ein Naturereignis dahingleitet“, um mit Weber50 zu reden. Die Geheimgeschichte des Historismus nach dem Historis- mus bleibt eine spannende Angelegenheit, beileibe nicht nur mit Blick auf die Kulturgeschichte. Man denke an die Interpretation der Zukunft der Gegenwart im Sinne althegelscher Kategorien des amerikanischen

Politikplaners Francis Fukuyama51, Jahrgang 1945. Bei aller methodo- logischen Modernität bleiben Geschichte und Sozialwesen weiterhin

Auslegungssache, jedenfalls wenn sie neben der

Ö psychologischen (es freut mich) und

Ö kosmischen (es regnet) mehr darstellen wollen als eine weitere Di- mension

Ö des Impersonalen (es geschieht).

Nicht erst die Debatten um die Triftigkeit der Sozialgeschichtsschrei- bung, die Systemromantik der Soziologie beziehungsweise die Ratio- nal-Anthroplogie der Ökonomen machen das überdeutlich. Das Ringen um den Stellenwert des Humanfaktors im Geschichtsprozess hat eine lange Tradition, wie der Rückblick zeigen kann.

Streitgeschichte

Die Aula der Bonner Universität ist an diesem Augustmorgen des Jah- res 1864 geschmückt für die Feier zum Sieg über Dänemark. Neben anderen Würdenträgern hält der preußische Historiker Heinrich von

50 Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Hrsg. J. Winckelmann, Tübingen: Mohr 1973, S. 507 f. 51 Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München: Kindler 1992. 34

Sybel52 eine Festrede, die „Über die Gesetze des historischen Wis- sens“ meditierte. Die Geschichtswissenschaft frage „nicht nach Nei- gung und Wünschen“ (S. 20), vernimmt man im gut besuchten Saal,

„sondern nach der Wahrheit“. Dokumentarische Zuverlässigkeit soll gewährleisten, dass sich nicht „alles in Nebelbilder auflöst“ (S. 19).

Hundert Jahre später mag man solcher „Faktentreue“ nicht mehr un- besehen Wirklichkeitsnähe bescheinigen, selbst wenn man in Materi- alfülle schwelgt. In einem vielbeachteten Essay über „Was der Histo- riker zu wissen glaubt“ (1964) notierte der amerikanische Kulturchro- nist H. Stuart Hughes53, dass sich Stoffnähe und Vorurteil keines- wegs ausschlössen. Die Realgeschichte gleicht einem „von einem Idi- oten erzählten Märchen“ (Leo Strauss). Über sie zu berichten heißt allemal, das nachträglich logifizieren zu müssen, was mit Blick auf humane Zuträglichkeiten oft eher sinnlos war, wie Theodor Lessing54 die déformation professionelle aller Vergangenheits-Verwalter kom- mentierte, die mehr zu sein beansprucht als ein „Destillat von Ge- rüchten“ (Carlyle).

Die historische Perspektive spiegelt zudem wie die soziologische

Sicht bei aller Distanz den Weltanschauungs-Streit ihrer Umgebung.55

Führen Stoffdrang beziehungsweise die Behauptung einer Quiasi-

Automatik des Geschehens aus dieser Unsicherheit heraus in die Trif- tigkeit? Der Detaillismus wird zum Problem, wenn sich das Bemühen um Genauigkeit mit Verstehen verwechselt sieht. Das noch so „rastlo- se Zusammenscharren alles einmal Dagewesenen“ (Nietzsche) allein

52 Vorträge und Aufsätze, Berlin: Hofmann 1874, S. 1 ff. 53 History as Art and as Science, New York: Harper & Row 1964, S. 1 ff. 54 Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen oder die Geburt der Geschich- te aus dem Mythos (1916), Hamburg: Rütten & Loening 1962. 55 Dazu Hermann Eich: Die mißhandelte Geschichte. Historische Schuld- und Freisprüche, München: dtv 1986; Petra Bock/Edgar Wolfrum (Hrsg.): Umkämpfte Vergangenheit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 35

verhilft nicht zu dessen Erkenntnis56. So konnte die Losung von der

Wahrheit durch Vollständigkeit zuweilen zur Geschichtsklitterung ge- raten. Und die sozial-geschichtlichen Explikationsregeln von Hegel bis Luhmann wirken ungereimt, weil sie entelechetisch gestimmt sind, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Etwa wenn man sich auf die Fleißleistung en gros et en détail der Chronisten wie auf eine Autorität beruft, ohne die Verständnisklippen im Umgang mit der

Vergangenheit umschifft zu haben, die Rückblicke nur in Kladde er- möglicht, fast ebenso wie Prognostik.

Das Bild verstaubter Archivforschung ist unzutreffend. Die Arbeit an der Geschichte ist gegenwartsbezogen, selbst wenn ihre Ergebnisse coram publico wenig Aufmerksamkeit finden. Ihre Befunde berühren auf die eine oder andere Weise das Selbstverständnis einer Zeit. Das war früher nicht anders. Diente der altständischen Ordnung die ge- schichtliche Überlieferung als Beleg für ihre solide Herkunft, so er- wies sie sich spätestens seit der Aufklärung als ideale Rüstkammer für jederlei Ideologie. Die Geschichte verwandelt sich, hat Friedrich von Gentz57 zur Zeit der Zwangsherrschaft unter dem ‚Wohlfahrtsaus- schuss‘ geklagt, „in ein Magazin mörderischer Waffen für rasende

Faktionen“. Das betrifft vor allem das spannungsreiche Verhältnis von

Macht und Gedächtnis, an das ein Vorfall gemahnt: Als der römische

Herrscher Caracalla im Jahr 212 nach Christus seinen Bruder Geta in den Armen der eigenen Mutter tötete, ließ er nicht nur dessen Anhän- ger, Diener und Freunde verfolgen und umbringen. Darüberhinaus er- klärte ein „Erwähnungsverbot“ (damnatio memoriae) den beseitigten

56 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen: Mohr ²1965, S. 250 ff. 57 Betrachtungen über die Französische Revolution, nach dem Englischen des Herrn Burke neubearbeitet etc. von F. Gentz, 2 Bde., Berlin: Vieweg 1793, hier Band 2, S. 110. 36

Rivalen zur Unperson, dessen Erinnerung vollständig getilgt werden sollte.

Das Zurechtbiegen der Vergangenheit steht unter Verdacht, Interes- sen zu dienen. Geschichtsschreibung und Sozialforschung in Ge- richtsverfahren zu verwandeln, bietet ebenfalls Risiken, obschon noch der Abbé de Vertot58 sich dadurch Klarstellungen erhoffte. Auch dafür lassen sich Beispiele anführen. Verwiesen sei auf die Schwierigkeiten einer Wende zur Wahrhaftigkeit in der nach-sowjetischen Historiogra- phie, die von dem Birminghamer Wirtschaftshistoriker Robert Davies59 geschildert werden. Im ehemaligen Ostblock ging es zu, wie von

George Orwell beschrieben. Nach ideologischem Gusto wurde gelobt, verdammt oder verschwiegen, dass der Chronist sich schämen muss.

In der Diskussion um die Leistungen und Defizite der Sozialge- schichtsschreibung als historische Sozialwissenschaft bleibt ein wei- terer Hinweis zu berücksichtigen. „Eine Geschichtswissenschaft ohne einen sittlichen Beruf ist ... ein Unding“, hieß es in einem von Theo- dor Schieder60 herausgegebenen Erinnerungsband zum hundertjähri- gen Bestehen der Historischen Zeitschrift. Das ist keine schlechte

Richtschnur, nicht nur für die Historiographie. Vor allem dann nicht, wenn die verpflichtende „Sittlichkeit“ nicht mit Konformität verwech- selt wird, sondern sich der gesellschaftlichen Risiko-Solidarität ver- antwortlich weiß. Historiker und Gesellschaftswissenschaftler mit

Scheuklappen gibt es nicht nur aus politischen oder ideologischen

Gründen. Auch die Vorherrschaft dieses oder jenes wissenschaftli- chen Interpretationsansatzes trübt den Blick, wenn sich „unbequeme

Tiefen der Horizonte durch dogmatische Festsetzungen“ (Friedrich

58 Histoire des révolutions de Suède (1669), Paris: Pougin 1835, 2 Bände, hier 1, S. 1 f. 59 Perestroika und Geschichte, München: DTV 1991. 60 Josef Engel: Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissen- schaft, in: Hundert Jahre Historische Zeitschrift, München: Oldenbourg 1959, S. 223 ff., hier S. 378. 37

Jonas) reduziert sehen. Es geht dabei nicht nur um das Wagnis, für die Wahrhaftigkeit und gegen die Verhältnisse einzutreten. Urteilen war und ist weder einfach noch risikolos. Auch historiographische

Aufrichtigkeit kann fatale Folgen haben. Man denke an Cremutius

Cordus, dessen rückblickende Aufwertung von Marcus Brutus den Im- perator Tiberius veranlasste, sich der missliebigen Stimme zu entle- digen. Seiner Hinrichtung kam der Chronist durch den Hungertod zu- vor, wie Tacitus, der seinerseits als imperialer Funktionär die insge- heim verworfene Mitwelt öffentlich nicht in Frage zu stellen wagte, in

‚Ab excessu divi Augusti annalium’ (Buch IV, Kap. 34/35) berichtet.

Derart Dramatisches ist nicht gemeint. Zu sprechen aber bleibt vom

„Charme“ der Verhältnisse, der sich methodologisch in einem Ge- schichtsbild als Selbstlauf ohne wahre Akteure niederschlägt: Dem bei völliger Unterschiedlichkeit im Inhaltlichen identischen Traum al- ler Systematizismen von Jacques-Bénigne Bossuet über Karl Kautsky bis zu Niklas Luhmann. Und damit von der Gefahr, das jeweils Beste- hende mit dem Notwendigen zu verwechseln, es semantisch aufzulö- sen oder aber ungebührlich zu enttemporalisieren. Der offene oder verkleidete Positivismus als Versuchung verweist in Geschichts- schreibung und Sozialwissenschaft seit Auguste Comte zudem auf tiefsitzende Einschüchterungen durch die moderne Systemumwelt. Sie nötigt dazu, alltagsweltlich ebenso wie innerwissenschaftlich die Rol- le der Menschen und seine Intelligenz abzuwerten zugunsten angebli- cher Verlaufslogiken oder Eigenwilligkeiten von Sozialgebilden. Un- versehens pflegt derart das Vorfindliche in den Rang einer Pseudona- tur des Gesellschaftlichen erhoben zu werden, am Markt als gesell- schaftlicher Grund-Heteronomie spricht man ohnehin bereits von bio- nomischen ‚Regeln‘.

Sachlichkeit? 38

Wie ist solche Verwechslung von Ursache und Wirkung beziehungwei- se Sinn und Mechanik möglich, nicht nur im Rückblick? In den 1950er

Jahren fand die Losung von der einsamen Masse großen Anklang, die

Samuel Becketts monadologisches Zeitkolorit ins Soziologische über- trug. Besorgt wurde darüber diskutiert, inwieweit gesellschaftliche und geschichtliche Faktoren den Rahmen für die Entfaltung der Per- sönlichkeit abstecken. Seither sind mit dem ökonomischen Wandel die

Lebensverhältnisse weiter enttraditionalisiert. Die Biographie kann sich indes bei aller Optionenvielfalt ihrem sozialen Umfeld kaum ent- ziehen, paradoxerweise nicht zuletzt deswegen, weil klare Verhal- tenssignale fehlen. Eine schwer zu beschreibende Lage ist entstan- den, die insgesamt gesehen einem Soziobeben gleicht. Denn einer- seits ist seit längerem eine Individualisierung zu verzeichnen, deren

Ambivalenzen sich in einem „Trendbericht für die Zukunft“ (München:

Heyne 1992) von Faith Popcorn umrissen sehen. Andererseits ent- deckt sich mit sozialwissenschaftlichen Prognosen die moderne Ver- vielfältigung der Spielräume als quasi-kollektiver Zwang zur Teilhabe, wiewohl diesmal als Qual der Wahl. Was die entsprechende Verge- sellschaftung des Alltags für die Zukunft der Charakterbildung bedeu- tet, ist kaum auszumachen. Welche Eliten als „bevorzugte Klassen“

(Freud) entsprechen dieser fluiden Entwicklung? Mitten in der zwang- haften Ichbezogenheit plädierte ein von Manfred Hättich herausgege- bener Sammelband über „Politische Bildung nach der Wiedervereini- gung“ (München: Olzog 1992) für mehr „Bürgerkompetenz“. Es ginge um Führungsreserven, nicht zuletzt wegen der gegenseitigen Orientie- rungs-Stabilisierung. Die vom Zeitgeist hofierte Selbstbezogenheit steht sichtbar auf wackeligen Füßen. Die Epoche hat es mit Rich- tungs-Irritationen zu tun, wie immer im Sozialleben, diesmal aller- dings unter Umstellungs- und Variationsdruck. Sie schlagen sich auf die eine oder andere Weise in der Sozialvermessung und Geschichts- 39

schreibung der Gegenwart nieder. Das Resultat sind Erinnerungspfle- ge und Gesellschaftsmalerei, die aus Reaktion auf Überdifferenzie- rungen lieber strukturellen Zusammenhängen hofieren. Der alltags- weltlichen Individualperspektive scheint solche Ausblendung nicht nur methodologisch unattraktiv zu sein; mit Blick auf die offenkundigen

Entscheidungslagen der Zeitgeschichte wirken ihre Höhenlagen reali- tätsfremd. Und sie sind nicht unproblematisch, jedenfalls nicht im

Sinne einer attraktiven, zweck-orientierten Gesellschaftswissen- schaft, die als Beitrag zur neuzeitlichen „Orthopädie des aufrechten

Ganges“ (Ernst Bloch) zu verstehen wäre.

Die Objektivierung von Vergangenheit oder Sozialphänomenologie ar- beitet Tendenzen der Kulturentwicklung heraus, wenngleich die Leis- tung der Persönlichkeit verblasst, wiewohl sich selbst das AGIL-

Schema eines Talcott Parsons einzig als Funktion der Lebensenergie der Gesellschaftsmitglieder angemessen verstehen lässt. Das Dilem- ma ergibt sich weniger aus dem Kurzschluss, Geschichte und Interak- tionen als Sachevolvierung und daher tautologisch zu verstehen.

Vielmehr spiegelt diese Auffassung den in der Wissenschaftswelt gängigen Strukturalismus und sie strahlt auf die Geistesverfassung der Gegenwart zurück, unterstreicht insofern die unwillentlich- kafkaesken Tendenzen aller Interaktionsverstetigung. Die Überbeto- nung des Systemischen rechtfertigt erst die theoretische, dann wo- möglich die politische Herabsetzung der Rolle des Persönlichen in

Wirtschaft und Gesellschaft. Václav Havel redet daher einer Antipoli- tik das Wort, um die Lebenswelt als eigentliches Terrain des Öffentli- chen zu reklamieren und somit das „souveräne, integrale und würdige menschliche ‚Ich’ wieder zum Brennpunkt des gesellschaftlichen Ge- schehens zu machen“61. Ist in diesem Sinne eine Antihistorik bezie-

61 Am Anfang war das Wort, Reinbek: Rowohlt 1990, S. 102. 40

hungsweise Antisoziologie62 vonnöten, um Sachlogiken samt elitären

Steuerleuten nicht noch mehr Vorschub zu leisten? Sondern Katego- rien wie Handeln, Verantwortung oder Leiden zu legitimieren, die laut

Havel „der Wissenschaft, Objektivität, historischen Notwendigkeit,

Technik, dem System oder Apparat weichen mußten“ (S. 92)? An einer themengeschichtlichen Studie von Michael Rohrwasser63 über „die Li- teratur der Exkommunisten“ lässt sich exemplifizieren, wie unabding- bar Geschichts- und Sozial-Auffassungen sind, die sich modischen

Denkweisen widersetzen, selbst wenn diese als Ordnungsdrall und

Modetrend daherkommen. Der Autor beschäftigt sich mit dem Mut ein- zelner Autoren, vor Ort dem sowjetischen Moloch zu widersprechen.

Er registriert in diesem Zusammenhang den Zustandskonformismus einer bloß makroskopischen Geschichtsschreibung, deren Desinteres- se an ‚Einstellungen’ mit Händen zu greifen ist. Nicht nur aus ideolo- gischen Gründen sind derartige Auftritte im ‚freien Westen‘ kaum thematisiert oder gar gewürdigt worden, sie passten nicht in eine vom Anti-Antikommunismus geprägte intellektuelle Landschaft. Außerdem lagen sie quer zur strukturgeschichtlichen Fasson einer fatalisieren- den Auslegungsentwicklung64, die nach Verlaufsmustern fahndete und

Entscheidungsdimensionen zu verfehlen drohte. Daher allenthalben das große Erstaunen über 1989, obschon die Transformationsfor- schung kaum Lehren aus diesem Dilemma gezogen zu haben scheint.

Oder ist die Moderne mittlerweile derart modern, dass ihr Verständnis und damit das Funktionieren allein durch individuelle Selbstverleug-

62 Weniger im verbissenen Ton eines Helmut Schelsky oder Mahnstil von Friedrich Tenbruck, eher schon nach theatralischem Muster der anti- pièces eines Ionesco. 63 Der Stalinismus und die Renegaten, Stuttgart: Metzler 1991. 64 Die hinter gnoseologische Unschärferelationen à la Heinz von Foerster („Wir sind frei zu wählen, wir sind frei, uns zu entscheiden. Es gibt nicht irgendeine absolute Wahrheit, die einen zwingt, die Dinge so und nicht an- ders zu sehen, so und nicht anders zu handeln“, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, Die Zeit vom 15. 1. 1998, S. 41 f., hier S. 42) als Offenheit wissenschaftlicher Interpretationsspielräume zurückfällt. 41

nung zu gewährleisten ist? Müssen wir erst nichtig werden, damit nicht nur die Welt der Apparate prosperiert? Das Systemdenken wel- cher Couleur immer wäre dann Teil jener „prometheischen Scham“, von der Günther Anders gesprochen hat. Zudem hätten die Wissen- schaften sich nicht länger mit dem Versuch zu plagen, die Welt der

Menschen samt Institutionen wie Irritationen nachhaltig zu beobach- ten, um sie zu verstehen? Sind daher Vergangenheit und Sozialwelt außer als Summe versachlichter und folglich gesichtsloser Trends nicht mehr zugänglich? So dass ipso facto auch Macht und Herrschaft eigentlich nicht existieren, weil sie mitsamt ihren elitären Präsentati- onen nichts anderes darstell(t)en als dissipative Organisationsformen historischer Selbstläufigkeiten? Was antworten Vergangenheit und

Zukunft der Realia auf solche Verhüllung ihrer Antriebe und Abgrün- de? Weltgeschichte ohne Gewissen oder Weltgericht? Soziales als

Differenzierungstrieb ohne Vorstellung? 2 Problemhintergrund

„Alles Große und Gescheite ... existiert in der Minorität.“65

In seinen ‚Tischgesprächen’ beklagt William Hazlitt die Einsamkeit, mit der Originalität im Alltag bestraft zu werden pflegt.66 Ein Panora- ma von Beschwernissen wird ausgebreitet, das diejenigen Personen erwartet, die auf die eine oder andere Weise ihrem Zeitgeist voraus sind. „Sie fallen der Indifferenz zum Opfer“, ergänzte William Lecky67,

„nicht aber Kontroversen“. Am schlimmsten jedoch sei, von der Ge- genwart mit Missachtung behandelt zu werden, aus Furcht vor Unge-

65 Goethe am 12. 2. 1829 zu J. P. Eckermann, vgl. ders.: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (1836), Berlin: Aufbau 1956, S. 450. 66 Table-Talk (1821/1822), London/New York: Dent & Dutton 1936, S. 279 ff. 67 History of the rise and influence of the spirit of rationalism in Europe, 2 Bände, London: Longmans, Green ²1890, hier 1, S. XXI. 42

wöhnlichem. Solche Ambiguitätsphobie hintertreibt die Langzeitwir- kung geistiger Glanzleistungen. Um dieses Dilemma auszuleuchten, verweist der Londoner Literat auf das Geschick von Thomas Hobbes,

Jahrgang 1588. Er, den er für einen der bedeutendsten Köpfe des siebzehnten Jahrhunderts hält, sei frei nach „Ich lehre, aber vergeb- lich“, wie Hobbes selbst geklagt habe, gründlich vergessen. Seither allerdings erwies sich das Werk des englischen Philosophen als erste

Quelle für das Bemühen, genauer zu verstehen, was mit der Moderne über die Menschheit hereingebrochen war. Offenbar gibt es trotz der

Skepsis eines Chateaubriand68, dass „wir den Wohnsitz der Nachwelt nicht kennen“, Konjunkturen in der Fernwirkung origineller Weltdeu- tungen. Sie haben damit zu tun, inwieweit sich Konflikt-

Konstellationen angesprochen sehen, die spätere Generationen fes- seln, weil sie über den Erfahrungshorizont ihrer jeweiligen Epoche hinausweisen.

Solchen Weitblick für Komplikationen der Neuzeit hat nicht erst der

„edle, gelehrte Mann“ (Aubrey) in Derbyshire bewiesen, den Hazlitt schätzte. Man denke an den Scharfsinn eines Niccolò Machiavelli69,

Jahrgang 1469, der mit der Devise, in der Welt gehe es „vulgär“ zu, als Türöffner einer skeptischen Politikbetrachtung wirkte, allerdings in den engen Grenzen einer Sozialwahrnehmung, die besorgt Abstand zu den Massen hielt70. Oder berücksichtige die Aufdeckung der laten- ten Brüchigkeit aller Vergesellungsformen durch Baruch de Spinoza,

68 Mémoires d’ outre-tombe (1849), Hrsg. Pierre Clarac, 3 Bände, Paris: Livre de poche 1998, Bd. 1, S. 442. 69 „Nel mondo, non è se non volgo“, weil die „Masse Mensch“ (Toller) nach dem Offensichtlichen ‚urteilt’ und ausschließlich dem Nützlichen huldigt, zit. Georges Mounin: Machiavel, Paris: Seuil 1958, S. 206. 70 „Chi fonda in sul populo fonda in sul fonga“, Il principe IX, 6; Hrsg. Ma- rio Casella, Mailand: Libreria d’Italia 1920, S. 95; zu Machiavellis kata- skopischem und somit strikt minoritärem Politikbegriff vgl. Mounin, a.a.O., S. 207 ff. 43

geboren 1632.71 Hier wurden soziostrukturelle Schwierigkeiten ins

Auge gefasst, die anhaltend diachron sind, weil sie fortwirken, wie- wohl in wechselnder Gestalt.

Ordnungstraditionen

Zur Debatte stehen trotz aller Modernisierung seither gesellschafts- politische Ärgernisse wie Knappheit, Unordnung, Sinnverlust, der ra- sende Wandel oder Spürsinn ohne Maß, die nach der Formel „Unwis- senheit = (f ) Wissensexplosion“ jede Gewissheit vertrieben haben und alles und jeden unter Umstellungsdruck setzten. Nicht unverständlich, dass bis in die frühe Neuzeit hinein dem Zeitgeist eine ebenso hekti- sche wie pietätlose curiositas72 eher suspekt blieb, die das Praesens immer rascher zum Anachronismus werden ließ. Derartige Herausfor- derungen ziehen bei allen Einzelfortschritten seit den Tagen der Re- naissance das Kommende in Mitleidenschaft, mochte es laut Leibniz73 gleich „mit Zukunft schwanger“ wirken. Unvermutet tritt der Grenznut- zen von Innovationen ins Blickfeld, noch während man in einer veri- tablen „battle of books“ (Swift) mit der Traditionsbefangenheit ringt.

Bald wird nicht nur bei Warnern wie Baltasar Gracián y Morales oder

Luc de Vauvenargues, sondern auch bei aufgeschlossenen Geistern

71 Die mit Blick auf das individuelle Chaos der Alltagsweltlichkeit litera- risch bereits durch Geoffrey Chaucer (The Canterbury Tales, 1391) umris- sen worden waren. 72 Neu-Gier im eigentlichen Wortsinn, nicht Kenntnisse/Wissen etc, die Dante (Inferno 26, 116 –120) im Tier-Mensch-Vergleich als Quelle aller Tugend (virtute) pries (Göttliche Comödie, Leipzig/Berlin: Teubner 1904, S. 189); das verhinderte die vorerst subkutane Karriere des forschenden Fragens allerdings keineswegs, wie es der Frühstaufklärer Francis Bacon (The Advancement of Learning, 1605) der Zukunft als Wegwagnis ins Un- bekannte empfahl, trotz der Kritik eines John Donne, wonach Wissen „puts all in doubt.“ 73 La Monadologie (1714), Hrsg. Émile Boutroux, Paris: Delagrave 1975, § 22, S. 153. 44

wie Michel de Montaigne oder Edward Gibbon von ‚Fortschrott’ zu hö- ren sein74, weil Selbstläufigkeiten aller Art den jeweiligen Vorstel- lungshorizont überstiegen. Im Rückblick geht es mithin um das intel- lektuelle Anregungspotential dieser Debatten, und zwar nicht nur in

Hinsicht auf die damalige historische Lage, sondern aus dem stereo- kopischen Blickwinkel der Gegenwart.

Der „Geist des Kapitalismus“ (Sombart) hat im Strom der Kulturentfal- tung während des langen Mittelalters die Modernisierung75 als Um- bruch ohnegleichen aller Lebensverhältnisse markiert.76 In Reaktion auf Krisen jener unnachsichtigen Selbstkolonialisierung Europas durch das Effektivitäts- als Gewinnmotiv samt Freisetzung kommuni- kativer Kreativität sind vornehmlich drei auf der Zeitachse wechseln- de, sich indes ergänzend-elitäre Abfederungsstrategien auszumachen, die der zunehmend riskant wirkenden Weltläufte77 noch Herr zu wer- den versuchen.

• Am Anfang stand der bange Rückzug des neupolitischen Denkens aus jeder geschichtlichen Zielgewissheit. Dieser Ausstieg ins Unwäg- bare war nicht zuletzt Folge einer Fragmentierung der Transzendenz.

Die daraus rührende Bürger- und Staatenkriegsphase sah sich als kaum zu kontrollierende „Fluktuation der Zeit- und Weltläufte“78 ver- zeichnet. Dem Sozialleben drohte Ordnungslosigkeit aus primärer

74 Vgl. Arthur Herman: Propheten des Niedergangs, Berlin: Propyläen 1998, S. 21 ff. 75 Die schon Jakob Burckhardt in seiner ‚Kultur der Renaissance in Italien’ (1861) als Voraussetzung und Wirkung zugleich der Emanzipation des Indi- viduums aus der Unterordnungslast Alteuropas reklamierte. 76 Karl Polányi (The Great Transformation (1944), Wien: Europaverlag 1957, S. 18) spricht in diesem Zusammenhang von einer „der schwersten Krisen der Menschheitsgeschichte“. 77 Gemeint ist Realchaotik, welche die Berechenbarkeit der Lebenswelt bedroht, nicht von einem systemischen Begriff des Durcheinanders nach Regeln, vgl. Franz Josef Brüseke: Chaos und Ordnung im Prozess der In- dustrialisierung, Münster/Hamburg: LIT 1991, S. 5 ff. 78 Francesco Guicciardini: Storia d’ Italia, Hrsg. Giovanni Rosini, 6 Bände, Mailand: Giuseppe Rejna 1843, hier Band 1, S. 29. 45

Bindungsschwäche. Sie war Resultat der Kämpfe von Selbstversor- gern beziehungsweise Anerkennungsstrebern um knappe materielle wie immaterielle Güter, ebenso angetrieben vom ius omnium in omnes wie von Ehrsucht. Diese Notlage machte der bis 1679 lebende Hobbes zum Angelpunkt staatspolitischer Überlegungen79, deren radikale

Nüchternheit der Nachwelt ebenso suspekt wie klarsichtig vorkamen, weil nicht länger vom Geselligkeitstrieb (Identität) ausgegangen wer- den musste, sondern von einer Mischung aus Abstoßung und Nutzen- maximierung80, also von Differenz. Folgerichtig mündeten solche

Überlegungen in eine Art von Unterwerfungsvertrag, der die

Konkurrenz untereinander, wie sie im ungeregelten Naturzustand herrscht, durch Überdruck von oben stillstellen wollte, um wenigstens

„mit Zwang gepanzerte“ (Gramsci) Sicherheit zu garantieren. Wenn die politischen Maschinen nicht mehr von einer Zweckursache her zu begründen und damit auch zu strukturieren waren, drängte sich eine hegemoniale Optik auf, die bei Hobbes mit einer funktionalen

Argumentationsweise einherging.81 Lassen sich Grundelemente der menschlichen Verhaltenscodierung aus der kontrastiven Spannung von „appetite“ (+) und „aversion“ (-) erschließen, gerät weiter der

79 „Denn wenn es unbillig ist, daß nicht alle gleiches Recht haben, so ist auch die Herrschaft der Vornehmen unbillig“, heißt es in seinem ‚De cive’ (1642) X, 4: „Indes habe ich schon gezeigt, daß der Zustand der Gleichheit der Kriegszustand ist und daß die Ungleichheit deshalb mit Einwilligung aller eingeführt worden ist“, Vom Menschen/Vom Bürger, Berlin: Akademie 1967, S. 177). 80 Für Hobbes war die politische Anthropologie des Aristoteles ebenso verblasst wie ratiokratische Selbstkontrollideen des Thomismus, die beide zu einer relativ problemlosen Vorangigkeit von Ordnung a) durch Trieb o- der b) Einsicht in die göttliche Sinnhaftigkeit gelangt waren. Wird der Mensch aber nicht von Natur/Vernunft, sondern einzig durch Zucht/Verstand/Vorteil zur Gesellschaft geeignet (De cive, A. a. O., S. 125 ff.), dann sieht sich der Staat funktional begründet, nicht metaphysisch, wodurch ersichtlich die Macht der Stärkeren im Naturzustand zur Macht der Herrschenden im Sozialzustand gerät. 81 Auch wenn deren Zweck (Befriedung) immer in Gefahr stand, sich im Mittel (Gewalt) zu erschöpfen. Doch die wahrgenommene Dramaturgie der Umbrüche resultierte aus dem „anthropologisch und sozial begründeten“ (Schelsky) Grundbedürfnis nach Verhaltenssicherheit, das panisch rea- giert, wenn die empfundene Chaotik das Verarbeitungspotential der Men- schen übersteigt. 46

„aversion“ (-) erschließen, gerät weiter der Seinswille als Selbsterhal- tungstrieb (conatus sese conservari) zur Grundmotivation aller we- nigstens außerfamilialen Verkehrsformen, stößt man gleichermaßen auf Blaupausen wie Bausteine für eine neue Wohlgeordnetheit

( ευνοµια) der Sozialwelt. Diese sah sich zu Anbeginn der abendländi- schen Zivilisation von den Griechen zum Fundament82 einer gelingen- den Gemeinschaftlichkeit ernannt. Seither ging man von einem auch politischen Geselligkeitstrieb aus, der von der antiken über die au- gustinische an die naturrechtliche Tradition weitergereicht wurde. Bei

Hobbes hingegen ergibt sich aus der appetitiven Motorik ein Verfein- dungsszenario, das sich durch die tumultuöse Gegenwart der Crom- well-Jahre bestätigt sieht. Der bloße Appell an gegenseitige oder gar altruistische Verhaltensmuster im öffentlichen Raum verfing offenbar nicht länger. Nur über eine nutzenmaximale Versöhnung unser Dop- pelnatur als Trieb- und Vernunftswesen unter dem Dach eines für alle gleichermaßen zweckrationalen Gutes (Sekurität) konnte die allseitige

Polarisierung womöglich stillgestellt werden, wenn sie mit Zwang ausbalanciert wurde. Neben der Interessenreduktion, die menschli- ches Handeln für die politische Theorie überhaupt erst ‚handhabbar’ machte, führte Hobbes zugleich eine Optionsreduktion durch. Vernunft als Kompetenz des Addierens/Subtrahierens findet im politischen Feld danach die Möglichkeiten vor, den Naturzustand zu verlassen oder nicht. Mit diesen Denkelementen konnte man im Sinne jener resoluto- kompositiven Methode, die den Naturwissenschaften der Epochen ent- lehnt war83, an eine Staatskonstruktion gehen, noch dazu mit der Ge- wissheit, universell geltende Regeln zu operationalisieren, weil sie more geometrico erschlossen waren. Nur zutreffenden, mithin wissen-

82 Zusammen mit δικε und ειρηνε, vgl. Hesiod: Theogonie, Hrsg. Rudolf Peppmüller: Hesiodos, Halle: Verlag des Waisenhauses 1896, S 100 ff., hier S. 140. 83 Richard Peters: Hobbes, Harmondsworth: Pelican 1956, S. 67 ff. 47

schaftlich angelegten Erkenntnissen84 seien - wenn überhaupt -

Richtlinien für die Abwehr der ärgsten Beeinträchtigungen zu entneh- men, welche die Zeitgenossenschaft beunruhigen. Das bedingte nicht allein den Ausstieg aus deterministischen Geschichtsbildern, sondern zugleich einen radikalen Wechsel aller Perspektivik: Von der Zweck- innigkeit alteuropäischer Seinsgewissheit zum Wagnis entworfener

Vergesellungsformen als ebenso kühner wie unwägbarer Produkte des

„poietischen Subjektivismus“ (Willms) eines Nachtraditionalismus.

Das Verlassen des detrimentalen Naturzustandes gipfelt bei Hobbes folgerichtig in einem symbolischen Tausch – als Funktion der Selbst- einschüchterung - von Gehorsam gegen Bewachung, der am Kindbett aller neuzeitlichen Ordnungslehren steht, die nicht auf Abstimmung, sondern Botmäßigkeit fußten. Obschon oder gerade weil die Nachwelt es bei diesem Begünstigungsvertrag mit dem Risiko zu tun hatte, je- derz eit wieder in den Naturzustand zurückfallen zu können, weil der homo naturalis überdauert, blieben Zivilisation und Barbarei zwei Sei- ten einer Medaille, allgemeine Kognitions-Fortschritte hin oder her.

• Diese Sichtweise unterstellte eine Sachgüterordnung, die als relativ unbeweglich und mit Blick auf die Wertschöpfung wenig ergiebig ge- dacht war. Der Wandel, den es abzufedern galt, erschien wie eine Va- riation des Gleichen und veränderte die Versorgungsbasis selbst noch nicht. Insofern entfiel in einer Gesellschaft, die durch Wirtschafts- wachstum vom Druck des Knappheitsdiktats zwar nicht zu befreien, dennoch zu entlasten wäre, ein wesentlicher Grund für die allfällige

Verfeindung und damit für die staatlich zu organisierende Unterdrü- ckung. Bewachung als Sicherheitsgarantie blieb weiterhin nötig, schon weil Unterwerfung das individuelle Gewalttätigkeits-Vermögen als Durchbrechung von Normalität nicht verbannen konnte. Dennoch

84 „Science is knowledge of consequences“, kommentiert Hobbes 1651 (Le- viathan, Hrsg. C. B. MacPherson, Harmondsworth: Pelican 1968, S. 149) solche Kärrnerarbeit der Analyse. 48

stieg in einem salto paradoxale nicht nur der Bedarf an Selbstkontrol- le der Gesellschaftsmitglieder, „die ihren Verstand gebrauchen, um sich zur Gesellschaft zusammenzuschließen“85; auch die Nachfrage nach und die Anforderung an das Führungspersonal wuchs, weil nur elitäre Dienstleistungen im Sinne eines arbeitsteilig zu organisieren- den Beauftragten-Gedankens (a.a.O., S. 192 f.) im Stande zu sein schienen, die steigende Komplexität der Zukunft effektiv zu verwal- ten. Da sich für John Locke, geboren 1632, das eher hysterische Si- cherheitsdilemma seiner Vorgänger zu legen schien86, konnte sein politisches Modell von einer relativen Bedarfsdeckung der Mangelnöte ausgehen87 und damit von verminderten Risiken für die Ordnung. Das

Problem der Anspruchs-Begründungen heraufdrängender Unterschich- ten war noch nicht präsent88, mit dem erst David Ricardo und mit ihm das 19. Jahrhundert des- beziehungsweise integrationspolitisch be- schäftigt wurde. Lockes Gestaltungsentwurf lässt sich als produktive

Strategie der innergesellschaftlichen Ruhestiftung verstehen, die nicht mehr von der Versorgung her zu argumentieren braucht, sondern von der Erwerbbarkeit her denken kann. Hier steht nicht länger Re- pression als Fundierung des Sozialen im Zentrum der Aufmerksam- keit, sondern Erwerbsarbeit. Über Einsicht in die Notwendigkeit wer- den die ansonsten mittels Nützlichkeitserwägungen interagierenden

85 John Locke: Two Treatises of Civil Government, Hrsg. W. S. Carpenter, London/New York: Dent & Dutton 1962, S. 5. 86 Die Linkstendenzen (vgl. Martin Eisenschink: Die demokratischen und kommunistischen Strömungen in der ersten englischen Revolution, Borna- Leipzig 1919), wie sie nach 1645 im Umkreis der Leveller, Digger, Shaker etc. aufgetreten waren, konnten durch den Klassenkompromiss von 1689 auf lange Zeit wirksam stillgestellt werden. 87 Vgl. das fünfte Kapitel (Of Property) des zweiten Buches, a.a.O., S. 129 ff. 88 Oder wurde, wie bei James Harrington (The Commonwealth of Oceana [1656], in: Political Writings, Charles Blitzer [Hrsg.]: The Political Writings of James Harrington, Indianapolis/New York: Bobbs-Merrill 1955, S. 35 ff.), als militärisches Problem der Über-/Bewachung der Nichtbesitzenden poli- tisch eskamotiert. 49

Personen in Lockes Entwurf bei der Stange und zugleich im Zaum gehalten. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Verstetigung und Ergie- bigkeit des Wirtschaftswandels. Diese Hoffnung schafft im Rahmen der Arbeitsteilung zwischen den aus Vorteilserwartungen89 und nicht länger aus Angst handelnden Individuen eine zumindest reziprozitäre

Beziehung. Daher kann die Regierung als eine Art des gemeinsamen

Interessenausschusses verstanden werden, „der Zwangsgewalt aus- schloss“ (a.a.O., S. 231). Noch dazu ist sie bei Missbilligung wider- rufbar, gilt mithin nicht länger als „sterblicher Gott“ (Hobbes), ohne dessen Einschreiten als Aufhalter (κατέ χον) des Antichristen alles in

Mord und Totschlag enden müsste.

• Mit Blick auf die bei Locke eher beiläufig diskutierte Zerklüftung der

Soziallandschaft als Folge einer unvermeidlich ungleichen Streuung der Aneignungschancen, durch welche die Ungerechtigkeiten und In- effizienzen der Gesellschaftsgeschichte als Fortschritts-notwendig rationalisiert werden, ist auf eine organisatorische Denkalternative des Politischen zu verweisen, die dem Trend der Epoche zur ‚Herr- schaftlichkeit’ mit ihrer durchdringenden Zentralisierungswut gerade unter Berufung auf die ansonsten auf Zwangsinvestitionen fußende

Bedürftigkeit (imbecillitas) des Menschen entgegentritt. Diese Alter- native hat viele Quellen, christlich-antike wie radikal naturrechtliche.

Sie wird beispielhaft von Johann Althaus90 vertreten, Jahrgang 1557, der die consociatio eines Vertrages der Verbundenen nicht nur als genossenschaftliche Gegenseitigkeit via Selbstorganisation verstand, sondern vor allem die Souveränität im Rahmen des Gesellschaftsver- trages beim Volk angesiedelt wissen wollte91, wiewohl keineswegs

89 „The reason why people enter into society is the preservation of their property“, Locke (Anm. 85), S. 228. 90 Politica methodicè digesta atque exemplis sacris & profanis illustrata, Herborn ³1614, Kapitel 3 bis 5, S. 28 ff. 91 Vgl. Thomas O. Hüglin: Sozietaler Föderalismus. Die politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin: Gruyter 1991. 50

beim Plebs. Diese sozialrationale Tradition nimmt als „Grundlegung der politischen Wissenschaft“ (P. J. Winters) jene Konfliktlinien des

öffentlichen Raumes vorweg, die durch den Einbruch der Unterschich- ten und ihrer Bedürfnisse in das Kalkül der „classe élevée“ (Thiers) erst in Auseinandersetzung mit der Ideologie und Parteibildung einer umverteilungspolitisch argumentierenden Sozialopposition ausgelöst wurden. Auch in den innovatorischen Sichtweisen des 17. Jahrhun- derts fehlt diese konviviale Perspektive vollständig, jedenfalls im

Sinne einer spannungs-reduzierenden ‚Lösung’. Denn die mit der sä- kularisiert-sozialistischen Argumentationsspur seit Jean Meslier,

Jahrgang 1644, im 18. Jahrhundert als Gleichheitsforderung formu- lierte Teilhabe an Gütern, Anerkennung, Zuteilung, Bildung etc.92 lag zwar nicht jenseits des Wahrnehmungs-, wohl aber des zulässigen

Akzeptanzhorizontes tragender Eliteschichten. Zudem blieb der Druck jenes „Prinzips des dekonflikierenden Ausgleichs“ (E. V. Walter) als

Legitimationsregel neuzeitlicher Politik gering angesichts des anhal- tenden Subjugations-Volumens, das der Leipziger Jurist Carl August

Tittmann93 mit den Worten, die Menschen im Staat „heißen Untertha- nen; denn sie sind ... der Obrigkeit untergeben, und müßen unterge- ben seyn, wie Kinder ihren Aeltern und Lehrern es auch seyn müßen“, noch dem 19. Jahrhundert als Verhaltenspflicht mit auf den Weg ge- ben wollte.94

92 Max Beer: Geschichte des Sozialismus in England, Stuttgart: Dietz 1913, S. 50 ff. 93 Allgemeiner Unterricht über die Rechte und Verbindlichkeiten der Un- terthanen, Leipzig: Fleischer 1800, S. 5. 94 Den Ausführungen von Peter Blickle (Deutsche Untertanen – ein Wider- spruch, München: Beck 1981), der den seit etwa 1300 fassbaren Begriff ‚Untertan’ – mit Blick auf die Bauernschaft - in einen Art von ‚Mitbestim- mung’ über den „Kommunalismus“ (Blickle) aufzulösen sucht, nicht zuletzt, indem er auf 380 städtische und ländliche Revolten zwischen 1300 und 1800 verweist, unterliegt gleich ein mehrfacher „political bias“ (Spencer): denn zum einen handelte es sich bei diesen Erhebungen zumeist um Ab- wehrdissenz im Namen des ‚guten alten Rechts’, also gerade um Firmie- rung bestehender Abhängigkeitslagen; und zum anderen belegt die nach- 51

• Parallel zur Erwartung einer Oben-Unten-Annäherung im Sinne von

John Stuart Mill95, wonach „noch jedes Jahrhundert dazu beigetragen hat, die Mächtigen herab zu drücken und die unteren Schichten zu heben“, verläuft eine ideengeschichtliche Debatte, die jene von Hob- bes kodifizierte Vereinzelung ins Zentrum der politischen Aufmerk- samkeit rückt. Danach wird bei aller möglichen Pazifizierung der

Normalität das Auseinanderdriften von Gemeinschaft (Mensch) und

Gesellschaft (Bürger) etwa im Kontext der seit Locke vorhergesehe- nen Aneignung von Produktivitäts-Zuwächsen samt verallgemeinerten und anspruchsvolleren entitlements keineswegs gelöst. Vielmehr wei- tete der neuzeitliche Begriff der Freiheit als Funktion der Sicherheit des Eigentums, wonach „all jene, die nichts besitzen, gar nicht zur

Gesellschaft zählen“96, die Entfremdung auf den politischen Raum aus. Frei nach „Macht folgt dem Vermögen“ (John Adams) wurden hiermit grundsätzlich neue elitäre Verhältnisse begründet, seien de- ren Notablen/Amtsinhaber etc. gleich gewählt oder nicht, da „das Ei- gentumsrecht ein Herrschaftsverhältnis begründet“97. Diese ‚Verbür- gerlichung’ der Kultur war gleichwohl nicht mehr zu revidieren, höchs- tens nach vorne zu überwinden. Das wäre im Geschichtsverständnis seit Hobbes allerdings einem Rückschritt gleichgekommen. Offerierte die Erinnerung als Erbsünde beziehungsweise status naturalis doch gerade kein „Paradies“ (Jean Paul), sondern eröffnete nur erneut die

Hölle einer Allverfeindung aus Notdurft. Erst Jean-Jacques Rousseau

gewiesene Teilnahme an der Machtkontrolle durch die Untertänigen selbst doch keine Entlastung von der eigenen Machtkontrolliertheit, der Untertan blieb in der Vormoderne „Untertan“ in der neuzeitlich-kritischen Zwangsbe- deutung des Wortes. 95 Zit. Tocqueville on Democracy in America, in: Essays on Politics and Culture, Hrsg. Gertrude Himmelfarb, Garden City/New York: Doubleday 1962, S. 175. 96 So der Wirtschaftswissenschaftler Pierre Samuel Dupont de Nemours am 22. 10. 1789, in: Moniteur, 2. Jg., Nr. 77, S. 82. 97 Friedrich Fürstenberg: Wirtschaftssoziologie, Berlin: Gruyter 1961, S. 44. 52

prägte dieses Dilemma um. Vor dem Hintergrund veränderter Epo- chenerfahrungen hellte sich auch der ‚Naturzustand’ auf, ganz im

Sinne jener von Daniel Defoe (The Life and Adventures of Robinson

Crusoe of York, 1719) ausgemalten Idyllik einer Gesellschaftserschaf- fung tous les jours und ganz aus eigener Kraft. Für Rousseau ergibt sich das Reform- als Erziehungsdilemma der Epoche daraus, dass sich die Negativkonstruktion (Bourgeois > Mensch) im Sinne von Hob- bes zwar theoretisch widerlegen ließ; die heikle Verbürgerlichung gleichsam als Hereinnahme des Naturzustandes in die Zivilität bleibt davon unberührt. Was ist mit einer theoriepolitischen Retusche der schaurigen Bilder vom Urzustand gewonnen? „Die Erziehung vermag alles“ (Rousseau, 1762)! Aber eben nur auf der Ebene des personalen

Systems, denn ansonsten „hängt alles radikal von der Politik ab“, so dass „jedes Volk immer nur das sein kann, was die Natur seiner Re- gierung es sein lässt“98. Und selbst dort nur, wenn den arbeitsweltli- chen Herausforderungen der vom Bürgersinn geprägten Ära edukativ entsprochen wird. Erziehung sah sich eingebunden in Systemrealitä- ten, die marktwirtschaftlich und arbeitsteilig waren und eben nicht mehr ‚menschlich’ in einem emphatischen oder naiven Verständnis.99

Rousseau hat diese Komplikation mitreflektiert, wie die Auslegung des Erziehungsplans im „Émile“ (1762) erweist. Seine politischen

Baupläne suchen insofern nach einer Balance zwischen den Gegenpo- len Mensch/Bürger, zumindest auf dem Papier. Denn der ‚Mensch’

98 Confessions, Oeuvres complètes, Édition Pléiade, Paris: Gallimard 1959 ff., hier Band 1 (1959), S. 404. 99 Die Moderne unterliegt seit Locke manufakturweltlichen Sachgesetzen, ihre pädogogische Antinomisierung (Zurück zur Natur!) trägt fiktionalen Züge. Erziehungspraktisch besteht zudem die Gefahr, worauf Marx in sei- ner Kritik des Philanthropismus verweist, Kindheit mit einem Naturzustand zu verwechseln, so dass die realexistierenden Grenzen der bürgerlichen Kollektivbiographie (der Bürger ist der Mensch sans phrase) schlicht über- sehen würden. 53

bleibt im Sinne einer Verhaltenspotenz100, mit der kulturkritisch, in- novatorisch oder altruistisch zu rechnen wäre, nichts als eine Unter- stellung. Es geht Rousseau ohnehin um Denkarbeit. Also um Verge- genwärtigung der Existenz beider Seinsweisen, was die Verwerfung der elitären Folgen einer Vorherrschaft nur possessiver Stile ein- schließt. Und was zudem bedingt, jedenfalls postulatorisch (Contrat

Social, 1762), die Antinomie von Mensch und Bürger, die in seiner utilitär eingestellten Epoche bereits vergessen zu werden drohte, im politischen Modell einer republikanisierten Dialektik der Moderne (ci- toyen) aufzuheben. Diese Monita fanden viel Beifall, lagen als quasi- spartanische Wegweisungen im/ins Irgendwo jenseits von ‚Gemein- schaft’ und ‚Gesellschaft’ indes quer zur allgemeinen Entwicklungs- tendenz, so dass schon der Autor selbst keinerlei Umsetzungspläne seiner Vorstellungen hegte. Ohnehin verließ sich die Aufklärung eher auf Sachzwang und Überzeugung, als dass sie wirkliche Umbauarbei- ten gegen Widerstand einzuleiten versuchte101, sieht man von zaghaf- ten Reformversuchen à la Anne Robert Jacques Turgot einmal ab, die er als Generalkontrolleur der Finanzen und daher top down seit 1774 einzuleiten versuchte.

• Immerhin wirkte die zentrale Mensch-Bürger-Dichotomie politisch dort weiter, wo sie geistesgeschichtlich selten vermutet wird. Aber jene Idee „eine(r) Assoziation, worin die freie Entwicklung eines je- den die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (MEW 4, S.

482), verdeutlicht die Problemtradition, in der Karl Marx steht, der indessen gedanklich über eine bloß analytische Dimension hinaus zielte. An der politischen Realversöhnung besagter Antinomie schei- terte der Marxismus jedoch, der sich noch am idealtypischen Bild ei-

100 Was mehr meint als die banale Feststellung, dass die Lebensweltlich- keit nie vollständig im Systemfunktionieren aufgeht. 101 Vgl. Roger Chartier: Die kulturellen Ursprünge der Französischen Re- volution, Frankfurt am Main/New York: Campus 1995, S. 200 ff. 54

ner ‚heilen Welt’ des klassischen Athens orientierte, begründungslo- gisch allerdings bereits unter Nachweisdruck stand102. Das lag nicht zuletzt am aktivistischen Antrieb seines Denkmodells. Es verlangte nach einer geschichtlich-konkreten Trägerschaft (dem menschlichen

Element in bürgerlichen Zeiten, mithin zugleich dem Guten im Fal- schen), die der a(n)visierten Autonomisierung auf die Sprünge helfen können sollte. Daraus wiederum ergab sich jene identification fallacy mit dem Proletariat, dessen historisches Wirken am Ende vor allem die sozialpolitische Verbürgerlichung betreiben sollte. Wird einer Re- albeschreibung der Welt(soll)läufte der Mensch-Bürger-Kontrast un- terlegt, fehlt in der politischen Gleichung das Kontrastelement

(Mensch) der Normalität (Bürger). Im Alltag vorzufinden sind nur Zeit- geistreisende, die allerdings begabt zum Fiktionalismus sind, mithin zur Hoffnung auf Überwindbarkeit der in der Distanz zwischen Mensch und Bürger etablierten Kälte. Das unterstreicht die geistesgeschicht- liche Relevanz der Ermittlungen gegen das neuzeitlichen Entfrem- dungstrauma103 bei Marx. Er wollte die Leidensgeschichte der Bürger-

Mensch-Schizophrenie politisch kurieren, sie sei kein Fatum. Dabei wird die Erreichbarkeit (als Chance, ursprünglich nicht als Gewiss- heit) einer Art von geschichtlicher Gegenküste behauptet. Nun aller- dings an den Ufern der höchstmöglichen Produktivität, so dass sich nicht nur in der Vergangenheit, sondern gerade in der Zukunft eine aurea aetas ausgemacht sieht, in der sich der Zwiespalt von Mensch und Bürger ‚aufhebt’. Im Gegensatz zum Marxismus der II. Internatio-

102 Da dieses Modell zum einem Baustein im marxistischen Geschichtskon- strukt geriet, mit den Realia der griechischen Politikverfassung wenig zu tun hatte, vgl. zu deren Ambivalenzen Pavlos Tzermias: Für eine Hellenis- tik der Zukunft, Freiburg: Universitätsverlag Freiburg (Schweiz) 1998. 103 Was sich nicht zuletzt im Kontext einer zunehmend zur Überforde- rung: geratenden Postmoderne ablesen lässt: So werden laut ‚World Health Organisation’ der UNO um 2020 Mental-Störungen alle anderen Krankhei- ten als primäres Weltgesundheitsproblem weit hinter sich gelassen haben, zit. Times vom 5. 11. 1999, S. 10. 55

nale oder später zum Bolschewismus bleibt das Denken von Marx of- fen gegenüber der Eventualgeschichte sowie gegenüber Spontaneitä- ten der menschlichen Vergesellung. Von Zwangsläufigkeit ist anfangs keine Rede, erst die Politökonomisierung solcher Argumentation scheint die historische Indeterminaton zu verschütten. Gleichwohl ging es in diesem Argumentationsfeld um Wünsche der Epoche(n) nach einer interessenfreien (Mit)menschlichkeit - mit Blick auf den

Umgang untereinander, die Verfassung der Gesellschaft und ihre Be- ziehung zur Umwelt. Hieraus ergab sich das historische Anregungspo- tential einer nicht-affirmativen Politik, die zwar vom Bürger-als-

Mensch und seinen industrieweltlichen Selbstrealisierungsnöten aus- ging, gegentypologisch jedoch eine ursprünglichere Konstellation

(Mensch-als-Bürger) im Sinn behielt, wenigstens als Ausläufer anti- autoritärer Denktrationen.

Die politische Fortschreibung104 dieser Argumentationsansätze a) kol- lektives Ordnungsmodell nach dem Motto: Befriedung = (f ) Zwang +

Gehorsam (pactum subjectionis), das eine fatalité aveugle der Verge- sellung unterstellt und zu den Vorläufern des modernen Konservati- vismus zählt; b) individualistisches Selbstregulierungskonzept frei nach: Befriedung

= √ Wandel + Kontrolle (pactum ordinationis), das eine Gestaltbarkeit geschichtlicher Verläufe auf dem Boden einer utilitären Allokationslo- gik annimmt und den zeitgenössischen Liberalismus anregte; c) genossenschaftliches Interventionsmuster im Sinne von: Befriedung

= ∑ Anerkennung + Umverteilung (pactum unionis) , das mit der Ab- sicht, „das Schicksal zu zügeln“ (Babeuf), den Sozialismus begründe- te

104 Auch als Modifikation der Ordnungsproblematik selbst im Sinne einer langsamen Überblendung von Macht und Selbstdisziplinierung. 56

d) eher libertinäre Vorstellungen einer selbstverwalteten Zivilgesell- schaft nach dem Motto: Befriedung = Ø Fairness + Selbstverantwor- tung, die im Interesse einer Entlastung vom Bevormundungsüberhang der Vergesellschaftungsgeschichte politisch-anarchoide Argumentati- onsmuster vertrat - wäre etwa über Adam Smith, Friedrich von Gentz, Louis-Auguste

Blanqui, geboren 1805, der für seine sozialromantischen Neuord- nungsversuche länger als drei Jahrzehnte in Gefängnissen saß, oder auch Peter Kropotkin weiterzuverfolgen bis an die Schwelle der de- mokratisierten Neuzeit, wobei sich das Augenmerk auf die Notwendig- keit der Veränderung solcher Denkansätze ebenso richten muss wie auf inhärente Schwächen der genannten Alternativen. Denn während das von Adam Smith, Jahrgang 1723, fortentwickelte Modell (b) einer commercial society politisch an Spannungen zwischen egoistischer

Privatmoral und gesellschaftlichem Zusammenhalt leidet105, führt die eher verbissene Umwertung des nachrevolutionären Ordnungsdilem- mas (a) durch den 1764 geborenen Gentz nach dem Motto, „es muß wieder geglaubt, es muß wieder gehorcht, es muß tausendmal weniger als jetzt raisonniert, oder es kann nicht mehr regiert werden“106, zu einer Art von Untertänigkeits-Religiosität. Ansonsten sei es um Ruhe und Ordnung geschehen, „wo der Pöbel vernünftelt“ (Gentz). Im Na- men der vollen Bestimmungsfreiheit der Eliten ‚verkümmern’ die Bür- ger zur Staffage ihrer Obrigkeit, was zur einer Motivationsblockade führt. Sinnschwund, Fremdheit und Anpassung sind bis zu einem ge- wissen Grad ein Preis der fabrikweltlichen Freizügigkeit. Auch eine auf dem egoistischen Verve der Individuen beruhende Moderne benö- tigt zu ihrem Gelingen ein Minimum an normativer Kohäsion und insti-

105 Dazu Richard Zeys: Adam Smith und der Eigennutz, Tübingen: Laupp’ sche Buchhandlung 1889, S. 31 ff; 83 ff. 106 Gentz: Staatlichen Zentralarchiv Prag, Abteilung V (Metternichsches Familienarchiv I ) C 17 : Corr. politique Gentz I. 57

tutioneller Festigkeit, die sich keineswegs aus marktförmigen Rege- lungsprozessen mit Hilfe jener „unsichtbaren Hand“ eines Adam Smith von selbst ergibt. Sonst kann sich kein politisches Zugehörigkeitsge- fühl entwickeln und somit schwerlich Verantwortungsethik als nicht- kontraktueller Treibsatz aller Sozialabsprachen wirken. Ohne dieses

Fundament wiederum zerfasert Gesellschaftlichkeit zu einer Ansamm- lung unzusammenhängender und sich konterkarierender Einflussströ- me.107 Der Staat verliert jede gemeinschaftliche Repräsentativität, wirkt offen katalytisch. Chaotische beziehungsweise anomische Zu- stände als Folge der Zuständigkeitsverweigerung nicht zuletzt der Eli- ten - so demonstriert gegenwärtig die osteuropäische Transformati- onsregion und die Vierte Welt108 seit langem - ziehen angesichts des hohen Innovationsdrucks die Leistungsfähigkeit der politischen Kör- perschaften im Wettkampf der Regionen in Mitleidenschaft. Allerdings folgten auch den eher kollektivistischen Antworten auf die Risikomo- derne (c) erhebliche Schwächen: Besonders der über Umverteilungs- maßnahmen ausgelöste „Fahrstuhleffekt“ (Beck) nährte neben der

Staatsaufblähung ein Trittbrettfahrersyndrom109 mitsamt Sozialklien- telismus, das insgesamt das Motivationskapital der Erwerbsgesell- schaft durch Überbelastungen des einen, Anspruchshaltungen des an- deren Teils zu untergraben drohte.110 Um von herrschaftsarmen Mo-

107 Vgl. die Überlegungen von Alain Finkielkraut (L’ingratitude. Conserva- tion sur notre temps, Paris: Gallimard 1999, S. 45 ff.), wonach politische Verantwortlichkeit generell das Resultat von Zugehörigkeit ist, die im Sin- ne von Herder allerdings ihren Reiz/Wert/Impetus aus der abgrenzenden Anerkennung anderer Konstellationen erhält, so dass Identität und Diffe- renz zusammengehören. 108 Vgl. Ulrich Schiefer: Afrika – Entwicklung oder Zusammenbruch?, in: E + Z, 40. Jg./Nr. 9 (1999), S. 241 ff. 109 Zu dem Problemkomplex vgl. Gerard Radnitzky/Hardy Bouillon (Hrsg.): Government – Servant or Master?, Amsterdam/Atlanta: Edition Rodopi 1994. 110 Eine eher indirekte Botschaft dieser konkurrierenden Denktraditionen ist die Einsicht in die Aporetik schlichter Entwürfe und damit eine Warnung vor Deutungsfallen, die geschichtsnotorisch sind. 58

dell-Vorstellungen (c) zu schweigen, die höchstens als Versuchsfor- men etwa in Form von Räten hier und dort ephemere, trotz aller Er- wartungen aufgrund verworrener Umstände meist wenig erfolgreiche

Auftritte gehabt haben. Ansonsten gehörten sie im Sinne der Losung

„Anarchismus ist derjenige politische Geschmack, der den Daseins- formen von Bienen die von Flöhen vorzieht“ (Spengler) zu den Ver- folgten aller anderen Politik-Richtungen. Folglich bleiben sie in ihren unterschiedlichen Spielarten den historischen Beweis ihrer unelitären

Tragfähigkeit schuldig. Allerdings: „Die Unbekümmertheit, mit der sich

Europäer auf den Straßen und in der Landschaft bewegen, erschiene

Chinesen als sicheres Vorspiel von Durcheinander und Anarchie.“ Im

Sinne von Adam Ferguson111 zählte zur Erträglichkeit der epochen- adäquateren Politikformen eine Prise Regellosigkeit, ja Widerspens- tigkeit, wollen sie nicht allzu rechthaberisch demokratisch wirken.

Übervorteilung und Konkurrenz

Der Staat als komplexe Schöpfung der Zivilisation hat sehr verschie- dene Ausprägungen durchlaufen. Im modernen Verständnis definierte sich die Gestaltung des öffentlichen Raumes als zentralisierte Ord- nungszuständigkeit, wenngleich selbst diese Kompetenz in der Post- moderne112 nicht unumstritten ist. Im Sinne solcher ‚Staatsräson’ setzt sich in der Neuzeit nicht nur ein Politikmodell durch, das die im sozialen wie geographischen Raum verteilten Machtanmaßungen zu- sammenfasste. Sah sich der Staat als Vermittlung aller besonderen

111 An Essay on the History of Civil Society (1767), Hrsg. Duncan Forbes, Edinburgh: UP 1966, S. 221. 112 Zur neoliberalen Radikalkritik der ‚Staatsanmaßungen’ vgl. Murray N. Rothbard: Die Ethik der Freiheit, Sankt Augustin: Academia 1999, S. 167 ff. 59

Interessen definiert, dann gehörte eine auf die Förderung gemeinsa- mer Zwecke gerichtete Regierungstätigkeit zu seiner Wirkrationalität.

Einzig über diesen Idealkonsens ließ sich eine öffentliche Legitimati- onsgrammatik entwerfen, wonach die Übertragung von Entschei- dungsaufgaben vom Volk als Quelle der Souveränität ausgeht und da- her von ihm kontrolliert werden sollte. Das unterstrich zu Beginn der politischen Moderne Richard Hooker113 mit seiner gegentraditionalen

These von der Zustimmungspflichtigkeit aller public regiments. Allein diese axiomatische Verknüpfung half einer „Legitimation durch Ver- fahren“ (Luhmann) auf allen Etagen im politischen Gebäude den Weg zu ebnen, die als solche indes prinzipiell „a thing arbitrary“ (Hooker) blieb, mithin selbst im vollen Lauf immer eine Sache auf Probe.

Dieses Befriedungsmodell lässt sich nicht in die Vormoderne zurück- schreiben. Auch nicht, indem man den Begriff der ‚Rechtfertigung’ durch den der ‚Herrschaft’ ersetzt und verallgemeinern zu können glaubt: Frühere wie heutige Politikformen seien, wenngleich auf ver- schiedene Art und Weise, der Rechenschaft gegenüber der Bevölke- rung verpflichtet. Dieses Modell gilt auch nicht, wenn überdies be- hauptet wird, das aufgeklärte Regierungssystem pflege dieses Ver- hältnis im Tausch von - in Wahlen zum Ausdruck gebrachtem - Ver- trauen gegen Regelungskompetenz; wohingegen ältere Ordnungsmus- ter als Tausch von Dienst und Gehorsam gegen ‚Schutz und Schirm’ zu verstehen seien. Solcher Vergleich erweist sich im Blick zurück auf das Mittelalter als Illusion.114 In Abgrenzung zu den besonnten

Vorstellungen einer derartigen ‚Reziprozität’ etwa im Werk von Otto

Brunner, Jahrgang 1898, lässt sich nachweisen, dass die angebliche

113 Of the Laws of Ecclesiastical Polity (1593), Hrsg. Christopher Morris, London/New York: Dent & Dutton 1965, 2 Bde., hier Buch 1, Kap. 10; Bd. 1, S. 187 ff. 114 Vgl. schon Gideon Sjoberg: Folk and ‚feudal’ societies, The American Journal of Sociology 58/3 (1952), S. 231 ff. 60

‚Beschirmung’ mitnichten späteren Erwartungen an die Politik ver- gleichbar war. Herrschaft über Bauern beruhte im Mittelalter keines- wegs „auf Gegenseitigkeit“115. Eine kritische Neulektüre und vor al- lem unideologische Deutung zeitgenössischer Quellen116 vermag kei- ne geregelte Arbeitsteilung zwischen Fron und Schutz zu erkennen, vielmehr bildete durch die Jahrhunderte die ‚Beschirmung’ jener „im- mensen, unanfechtbaren Macht“ (Duby) als „Tyrannei der Grundherr- schaft“117 das eigentliche Problem für die Objekte des ElitehandelnsK .

Nicht nur ergab sich die Notwendigkeit der Beschirmung ursprünglich aus der strukturellen Gewaltsamkeit des Handelns der blaublütigen

Herren selbst, die als Dauerangst vor Druck, Abgabenlasten und Will- kür auf der Agrarwelt lastete, die über Jahrtausende fast mit mensch- licher Erfahrung gleichzusetzen war. Ihnen hatte bereits der Kölner

Stiftsherr Alexander von Roes118, der erste deutsche Theoretiker des

Reichsgedankens, „Herrschsucht, Gier und Streitlust“ attestiert. War doch trotz der schon in merowingischer Zeit beginnenden Versuche,

Landfrieden durchzusetzen119, nicht nur das Fehderecht der Feudal- familien untereinander, sondern vor allem das Raub- als Aneignungs- recht der Adeligen gegenüber den Hintersassen nicht zu brechen; je- denfalls solange nicht, bis der Staatswerdungsprozess als Zusammen- fassung und Verdichtung öffentlich relevanter Zuständigkeiten den

über die Gesellschaft verstreuten Gewaltrechten als „Spielmasse der

Privilegierten“ (Bataille) die Lizenz entzog. Besagte ‚Beschirmung’

115 Vgl. Gadi Algazi: Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mit- telalter, Frankfurt am Main/New York: Campus 1996, S. 92. 116 Vgl. Georges Duby: Guerriers et paysans, Paris: Gallimard 1973, S. 48 ff. 117 Amable-Guillaume-Prosper Brugière Baron de Barante: Des communes et de l’aristocratie, Paris: Ladvocat 1821, S. 4. 118 Memoriale (1281), in: Die Schriften des Alexander von Roes, Hrsg. Her- bert Grundmann/Hermann Heimpel, Weimar: Böhlau 1949, S. 18 ff., hier S. 86. 119 Vgl. Heinrich Zoepfl: Deutsche Rechtsgeschichte, Stuttgart: Adolph Krabbe 3 1858, S. 523 ff. 61

offenbart Regellosigkeit, die sich Vorrechte und Leistungen anmaß- te120, jedenfalls aus der Sicht der abhängigen Mehrheit. Der Schirm schloss den ‚gemeinen Mann’ nahtlos in die Herrengewalt ein, verbild- licht durch kolossale Adelssitze, die Elitenfunktion war von Unterdrü- ckung nicht zu trennen.121 Von Gegenseitigkeit konnte bis zur Früh- moderne politisch keine Rede sein. Dieser Begriff suggeriert, dass bei Pflichtverletzungen einer Seite für alle Beteiligten die Chance be- steht, sich aus dem Obrigkeitsverhältnis zurückzuziehen. Das war in jener Welt der Gebundenheit mitsamt ihrer transzendentalen Kollekti- vumnachtung sowie der „Zersplitterung der Gewalten“122 kaum mög- lich, nicht einmal mental123. Die eliten-freundliche Deutung124 verrät nicht nur hermeneutische Fehler, indem aus der ewigen Ordnungsper-

120 Dazu Michael Mann: Geschichte der Macht, Band 2, Frankfurt am Main/New York 1991, S. 204 ff. 121 Was frei nach: ‚Sozialgeschichte = (f) Übervorteilung, also verwerflich!’ keinen basalen Kritizismus pflegt. Es geht nicht um Kulturnegation post festum, denn der diachron-asymmetrische Verbrauch von Lebensenergien war/ist alltäglich zugleich die gesellschaftliche Entwicklungsbasis, mithin zumeist alternativlos. Das schließt indes rückblickende Beurtei- lung/Distanz nicht aus, so wie gegenwärtig auch mit Blick auf die rechtli- chen Errungenschaft der Hochmoderne globale Rückständigkeiten zu kons- tatieren/kritisieren bleiben. 122 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1964, S. 807. 123 Selbst die ebenso überraschende wie erfrischende Realistik eines Geoffrey Chaucer, der mit seiner These: Adel ist eine Funktion der Le- benshaltung, nicht der Geburt (The Wife of Banth’s Prologue, in: The Can- terbury Tales/Die Canterbury Erzählungen, 3 Bde., München: Goldmann 1989, Band 1, S. 347 ff., hier S. 412 f.) sowie mit seiner ironischen Herr- schaftskritik (Parlament der Vögel) oder auch der humanistischen Rüge der Unterdrückung der Frau etc. bisweilen ausgesprochen zustands-distanziert wirkt, bleibt ideologisch wie beruflich im Bestehenden verhaftet, dem er mitsamt der Gnade Eduard II sein Auskommen als clerk verdankt. Insofern ist noch die interne bzw. gegenseitige Feudalkritik, wie sie etwa durch Konrad von Megenberg, Verfasser einer wichtigen „Staatsschrift“ (Planctus ecclesiae in germaniam [1338]), angestimmt wird, nicht als Durchbrechung des Feudalismus zu verstehen, durchaus aber als Ausdruck seiner Krisen- haftigkeit. 124 Die an die ‚Argumentation’ eines Balthasar Flesche (De singulari com- modo servitutis perpetuariae prae temporia in re publica, Halle: Grunert 1740) erinnert, wonach eine lebenslängliche Knechtschaft allemal ökono- misch sinnvoller sei als eine zeitweilige. 62

spektive geurteilt wird. Sie hegt Herrschaftsmythen, so als ob Alteu- ropa jahrhundertelang von einem stillen Konsens getragen wurde, wie

Robert Filmer das nostalgisch sah125, wiewohl es sich um „stumme

Gewalt“ (Marx) in die Vergesellungsform eingebauter Übervorteilung und Furcht handelte. Mithin keineswegs um den „Kürwillen“ (Tönnies) bewusst akzeptierter Oben-Unten-Figurationen, sondern um soziale

Willkür samt Idealisierung des Zwanges.126

Nicht unverständlich, dass François Rabelais127, gestorben 1553, mit

Blick auf das unablässige mobbing der Bevölkerung durch den Her- renstand lieber von Räubern (gens-pille-hommes) sprach anstatt von

Edelleuten (gentils-hommes), wie sie sich selbst gerne sahen128. Also von „Leuten, die Menschen ausrauben“ anstatt von „Edelmännern“, wie die vielen Fürstenspiegel129 in der Tradition jener ‚Erziehung des

Kyros’ eines Xenophon aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. sie trotz der realexistierenden „canaillocratie“ (Maistre) herbeizuschreiben suchten. Es gab immer wieder Einsprüche gegen die Verwechslung

125 Patriarcha: A Defense of the Natural Power of Kings against the Un- natural Liberty of the People (1680), Hrsg. Peter Laslett: Patriarcha and other Political Works, Oxford: Basil Blackwell 1949, S. 53 ff. 126 Über die Gründe für diese Umdeutung von Unterwerfung in Zustimmung stellt Algazi nur Vermutungen an. Verwiesen wird etwa auf die Entstehung des Buches ‚Land und Herrschaft’ (1939) von Brunner im Dritten Reich. Diese Interpretation würde allerdings voraussetzen, dass Brunner bewußt gewesen sein muss, dass die braune ‚Volksgemeinschaft’ als „Flucht aus der Freiheit“ (Fromm) bei aller Anfangspopularität dennoch destruktiv war. Denn entgegen ihrer Pflege genossenschaftlicher Mythen ‚beschirmte’ man die Wünsche und Rechte der Bevölkerung keineswegs, sondern verfolgte sie als unerwünscht, ganz im Sinne der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes aus der Sicht der mittelalterlichen Untertanen. 127 Zit. Michel Ragon, Le roman de Rabelais, Paris: Albin Michel 1993, S. 90. 128 Und wie Jean Froissart, Jahrgang 1337, sie in bereits seinen ab 1373 erscheinenden „Chroniques de , d’ Angleterre etc.“ zu romantisieren versuchen musste, Hrsg. K. de Lettenhove, Paris: Renouard 1870/1877, 26 Bände. 129 Exemplarisch Erasmus von Rotterdam: Institutio principis christiani (1517), Hrsg. A. J. Gail, Paderborn: Schöningh 1968. 63

von Herrschaft mit Wohltat130. Sie blieben trotz staatskritischer Vor- haltungen von Kirchendenkern nicht nur rar, sondern bewegten sich zudem in den Grenzen der gewohnten Elitenoptik mitsamt ihren arro- ganten Sehschwächen, da im Verständnis des vorherrschenden Grup- pendrucks alle Obrigkeiten ihre „Gewalt durch göttliches und natürli- ches Recht haben und nicht vom Staat selbst oder nur von den Men- schen.“131 Zwar war frühzeitig vom „Mensch als Wunder der Schöp- fung“132 die Rede. Die These vom Menschen als Freigänger der

Schöpfung blieb frei nach der Feststellung, 133, damit sei er offenbar auch zur Unterwerfung freigegeben, eine Utopie ohne liberalisierende

Mäeutik, die zu einem crowding-out-effect gewohnter Herrschafts-

überhänge hätte führen können. Stattdessen blieb weiter vom Volk als

„Lasttier“ (Ziegenhagen) zu berichten. Zu viele quasi-automatische

Stabilisatoren der Untertänigkeit lagen vor, besonders zu einer Zeit, in der sich die Barbarei in Form von Gegen- und Gegengegenreforma- tionen mit Krieg, Plünderungen und Hexenverfolgungen anschickte, den Alten Erdteil für die nächsten Jahrhunderte fest in den Griff der

Disziplin samt Strafexzessen zu nehmen. Für die Unglücklichen am unteren Ende der Sozialleiter war, wenn überhaupt, höchstens ein ius murmurandi erlaubt. Als unterdrückter Dialog ist es historisch aller- dings kaum verbürgt, wiewohl bereits George Savile, Marquess of Ha- lifax134, Jahrgang 1633, den Grundschichten zum „Trost“ riet, „an de- nen herumzunörgeln, die über ihnen stehen“. Aber da sich politisch

130 Dazu Bertrand de Jouvenel: Du pouvoir. Histoire naturelle de sa crois- sance, Genf: Constant Bourquin 1947, S. 428 ff. 131 Francisco de Vitoria: De potestate civili/Über die staatliche Gewalt (1528), Hrsg. Robert Schnepf, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 29. 132 Giovanni Pico della Mirandola: Über die menschliche Würde (1486), Hrsg. August Buck, Hamburg: Meiner 1990, S. 2. 133 Jean-Paul Marat: Les chaînes de l’esclavage (1774), Hrsg. J. D. Sel- che, Paris: Union générale d’éditions 1972, S. 39 ff. 134 Zit. C. P. Gooch: English Democratic Ideas in the Seventeenth Century, Hrsg. H. J. Laski, Cambrige: UP ²1927, S. 292. 64

für den populo minuto die Wahl135 selten zwischen gut und böse, son- dern höchstens zwischen schlecht und weniger schlecht stellte136, ist jene Passivität der Bevölkerung im Strom der Zeiten erklärlich, die schon Francis Bacon137 mit der Formel „Die Gefahr vom gemeinen

Volk her ist nicht groß“ auf einen Bestands-garantierenden Nenner brachte.

„Ira principorum mors est“, lautete ein zeitgenössischer Erfahrungs- satz, mit hohen Herrschaften lege man sich allemal nur mit Risiko für

Leib und Gut an. Die Dinge waren nicht nur heikel, weil die Alltags- vergesellschaftung jener Epochen unaufgeklärt und verangstet war, wie Spinoza schrieb138; oder weil Aneignung und Übervorteilung, mit- hin die „Appropriation von Herrengewalten und Herrenrechten“139 sich als selbstverständliche Vorrechte aufspielten.140 Überformt wurde dieses Spektakel von großgesellschaftlichen Konfliktmustern, die sich ihrerseits in Alltagsbrutalitäten äußerten, durch Glaubenslehren nur mühsam kaschiert. Das verdeutlicht nicht zuletzt die Entstehung des

Staatensystems in Europa aus den Kriegen der um Vorherrschaft auf dem Kontinent ringenden Machtpole141, von einem veritablen „System von Gegenkräften“ ist gesprochen worden142. Es stand jener Lo-

135 Fatalerweise gerade auch im Sinne von „avide ruandam ad libertatem in servitutem elapsos“, vgl. Titus Livius: Ab urbe condita III, 37, ii. 136 Vgl. Barrington Moore: Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Un- terordnung und Widerstand, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 572. 137 So Francis Bacon: Über das Herrschen, in ders.: Essays, Hrsg. L. L. Schücking, Wiesbaden: Dieterich 1940, S. 81 ff., hier S. 89. 138 „Timor homines insanire facit“, Tractatus theologico-politicus (1670), Hrsg. Günter Gawlick/Friedrich Niewöhner, : WBG 1979, S. 6. 139 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 122), S. 189. 140 Zur Normalität solcher Usurpation vgl. Louis Ventre de la Touloubre: Jurisprudence observé en provence sur les matière féodales et les droits seigneuriaux, 2 Teile, Avignon: Girard 1756. 141 Vgl. Victor Lee Burke: The Clash of Civilizations. War-Making and State Formation in Europe, Cambridge: Polity Press 1997. 142 J. P. F. Ancillon: Tableau des révolutions du système politique de l’Europe, depuis la fin du quinzième siècle, 9 Bde., Paris: Imprimerie rue de la Harpe 1806 f., Bd. 4 (1806), S. 8. 65

sung/Forderung von Spinoza143 eher fern, wonach „der Zweck des

Staates in Wahrheit die Freiheit ist“. Ein Blick etwa in die unzähligen

‚Friedensverträge’ entdeckt die abendländische Geschichte als Dau- erkonflikt um dynastische, wirtschaftliche, kulturelle etc. Selbstbe- hauptung144, der nur Waffenstillstände zuließ. Die einzelnen Dynas- tien und ihre Territorien blieben in ein sich vielfältig überschneiden- des Netzwerk der Konkurrenz um Raum, Ressourcen oder Prestige eingeklinkt145, das den innergesellschaftlichen Konfliktraum durch- drang und oft verstärkte. In solchem Umfeld mussten die Interakti- onspartner mit Blick auf das ebenso allgemeine wie diffuse Sicher- heitsdilemma durch Vorteilsakkumulation nach Hegemonie streben146, um sich, wenn möglich, durch die Schwächung der Mitbewerber zu stärken. Komplizierter noch geriet dieses Gegeneinander dadurch, dass die konkurrierende Staatswerdung im europäischen „Bündel von

Eigenständigkeiten“, das zusammen die christlich-abendländische Zi- vilisation prägte147, außenpolitisch noch einmal überwölbt war durch einen latenten Zivilisationskonflikt. Europa wurde seit der Zeit der

Perservorstöße bis in die Phase des Bolschewismus mehrfach durch benachbarte Kulturen und ihre wechselnden Machtrepräsentationen in

143 Vgl. Anm. 138, S. 605. 144 Typisch der Westfälische Friede von 1648 (Fontes historiae iuris genti- um, Band 2, Hrsg. W. G. Grewe, Berlin/New York: Gruyter 1988, S. 182 ff.), der als neue Dominanzordnung Europas die Konflikte in sich barg wie die Wolke den Regen, nicht zuletzt deswegen, wie Georg Winter (Ge- schichte des Dreißigjährigen Krieges, Leipzig: Hendel 1934, S. 483) erläu- terte, weil „dem deutschen Volke in seiner Gesamtheit das Selbstbestim- mungsrecht über die Formen seines staatlichen Seins genommen war“. 145 Vgl. Carl Gottlieb Suarez: Vom Range und der Präzedenz unter den Völkern, in: Vorträge über Recht und Staat, Hrsg. Hermann Conrad/Gerd Kleinheyer, Köln/Opladen: WDV 1960, S. 190 ff. 146 Vgl. Georg Schwarzenberger: Machtpolitik. Eine Studie über die inter- nationale Gesellschaft, Tübingen: Mohr 1955, S. 16 ff. 147 E. L. Johnson: Das Wunder Europas, Tübingen: Mohr 1991, S. 121 ff. 66

Gefahr gebracht.148 Man denke in der Nachantike an die Hunnen im 5.

Jahrhundert, dann an den Angriff des Islam, dessen Vordringen auf den Kontinent erst 732 an der Loire abgewehrt werden konnte und der im Osten in Gestalt der Ottomanen später nicht nur Konstantinopel

überrannte, sondern noch im 17. Jahrhundert das Reich der Habsbur- ger vor Wien bedrohte. Oder es waren die Ungarn, die Wikinger, die

Hunnen beziehungsweise noch im 13. Jahrhundert die Mongolen, de- nen das Abendland militär-strategisch wenig entgegenzusetzen ge- wusst hätte, wenn diese Invasion Europas als des westlichen Zipfels von Asien nicht aus inneren Zwistigkeiten abgebrochen worden wäre.

Die wetteifernden Regionen der christlichen Zivilisation reagierten als

„nos Europäi“ (Isidor von Sevilla) mitunter gemeinsam auf die ebenso bedrohliche wie reizvolle Außenwelt149, etwa mit den Kreuzzügen seit dem 10. Jahrhundert. Und sie wurden in diesen Situationen zu organi- satorischen oder mentalen Anpassungsleistungen genötigt, die tech- nischen Aneignungsschübe (Steigbügel, Kompass, Papier etc.) nicht mitgerechnet. Doch solche Modernisierung unter Druck folgte auch auf innereuropäische Dauerzwiste. Die außenpolitisch veranlasste

Gewaltdynamik150 ist als vorrangiges Vehikel der Sozialtransformati- onen zu verstehen. Zwar bestehen trotz aller Evolutionsschemata151 keine geschichtlich sich wiederholenden Stufen, die alle Gesellschaf- ten durchlaufen müssten, wiewohl „der spezifische Entwicklungspro- zess proportional auf das allgemeine Evolutionspotential bezogen

148 Insofern beschreibt Samuel P. Huntington (Der Kampf der Kulturen, München/Wien: Europaverlag 1996, S. 49 ff.) eher frühere Epochen als un- bedingt das Geschick der Zukunft. 149 Vgl. Richard Wallach: Das abendländische Gemeinschaftsbewußtsein im Mittelalter, Leipzig/Berlin: Teubner 1928. 150 Vgl. H. J. Morgenthau: Macht und Frieden, Gütersloh: Bertelsmann 1963, S. 49 ff. 151 Vgl. Gerhard Lenski: Macht und Privileg, Eine Theorie der sozialen Schichtung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 134 ff. 67

bleibt“152. Immerhin lässt sich für den europäischen Kulturkreis al- lenthalben eine „Prädominanz des Krieges für die Staatenentwicklung“ beobachten153. Im Detail kann nachgezeichnet werden, wie etwa die

Normannengefahr154 seit Ende des 8. Jahrhunderts zum Abbruch der in der nachrömischen Epoche wieder erreichten Tendenz zur Zusam- menfassung der Macht führte und für Jahrhunderte die Durchfeudali- sierung - als Örtlichkeit von Produktion und Zusammenleben - mitsamt ihrer dem Herr-Gefolgschaft-System eigenen Gewaltbeziehungslogik förderte. Makrostrukturelle Entwicklungslinien wie diese spiegeln we- niger mentale Einsichtsschübe155 als Konfrontationsergebnisse. Sie haben in langwierigen rites du passage einer Politisierung des öffent- lichen Raumes das Pseudoprinzip der gefälligen Hegemonie inklusive deren Kastengeist ausgehebelt. Der Ausgang aus der Privilegienbe- nommenheit im Namen von ‚Schutz und Schirm’ gelang allerdings kei- neswegs durch

• die Novolatrie der Epoche,

• den Widerstand der Schutzunterworfenen oder gar

• den guten Willen der Eliten als „Masttiere“ (Ziegenhagen) dieser

Verhältnisse, um von Hegels156 eigendynamischem „Fortschritt im Bewußtsein der

Freiheit“ via Selbstenfaltung der Vernunft mit Ordnungsdrall nicht zu reden. Vielmehr wurde das Feudalsystem vor dem Hintergrund eines außenpolitischen Modernisierungsdrucks als Resultat der europäi-

152 M. D. Sahlins/E. R. Service: Evolution and Culture, Ann Arbor: Michi- gan UP 1960, S. 97. 153 V. L. Burke: The Clash (Anm. 141), S. 16. 154 Pierre Riché: Grandes invasions et empires, Paris: Tallandier 1973, S. 229 ff. 155 Von einer politischen Entwicklung als Selbstentfaltung der politischen Intelligenz im Sinne von Klaus Eder (Geschichte als Lernprozeß?, Frank- furt am Main: Suhrkamp 1985) ist historisch wenig zu spüren, eher wäre mit Dieter Senghaas von einer „Zivilisierung wider Willen“ (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998) zu sprechen. 156 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Anm. 2), S. 32. 68

schen Polymorphie zunehmend dysfunktional und in seinen Ansprü- chen auf Geltung daher parasitär. Bahnbrechend unterwarf die fran- zösische Monarchie im Bunde mit den Städten als zeitgenössisch a- vancierteste Vertretung des Staatsüberlebenswillens in den Fronde- kriegen des 17. Jahrhunderts die adelige Territorial- als Zwischenge- walt. Nun konnte der absolute Staat157, vorerst in Form der „höfi- schen Gesellschaft“ (Elias), den Wettbewerb der Staaten und Systeme reglementieren. Im Kontext eines „sich durchdringenden Systems“

(Rosenau) zwang er die Nachbarländer, diesem Weg zu folgen. Das wirkte im Sinne jener „Unabsehbarkeit der Taten“ (Hannah Arendt) wiederum auf den Verursacher zurück. Zudem ließen sich jetzt staatsbürgerliche Reserven mobilisieren.158 Frei nach ‚Partizipation im Tausch gegen nationale Emphase’ sah sich seit dem 18. Jahrhun- dert die gesellschaftliche Gewaltausübung nach außen verlagert159:

An die Grenze oder, besser noch, über sie hinaus. ‚Schutz und

Schirm’ schlossen seither frei nach Inklusion ~ Exklusion ganze Nati- onen ein und setzten sie gegeneinander160, auch um weiterhin die

157 Vgl. Perry Anderson: Lineages of the Absolutist State, London: NBL 1975, S. 15 ff. 158 Der äußere Gewaltprozeß förderte die innere Gewaltsamkeitseinschrän- kung, was als Voraussetzung der Modernisierung gelten kann. Die Normali- tät der Alltagsbrutalität einer chaotischen Vergesellschaftung sah sich nach und nach reguliert. Freilich nur, um durch die Förderung der Binnen- kohärenz die Effektivität der Außenaggressivität zu erhöhen. Diese war ein Ergebnis der innerstaatlichen Gewaltmonopolisierung, die laut Martin Din- ges (Formwandel der Gewalt in der Neuzeit, in R. P. Sieferle/Helga Breu- ninger (Hrsg.): Kulturen der Gewalt, Frankfurt am Main/New York: Campus 1998, S. 171 ff.) keineswegs zur Abnahme des interaktiven Gewaltvolu- mens führen musste. Gleichwohl zog solcher Befriedungsprozess unvor- hergesehene Weiterungen nach sich. Die Erhöhung etwa der Rechtssiche- rung löste eine Anspruchsdynamik aus. Sie ersetzte zunehmend die Pflege kollektiver Bedürfnisse wie Nationalismus oder Hegemonie durch Individu- algüter wie Versorgung, Ausbildung oder auch Anerkennung. 159 Also lange ehe das Steigen des sozialen Dissenzaufkommens zu einer bewussten Politisierung (Differenz/Gefahr//Gewinn) des Außen führte, um dem Ausgriff in die Ferne integrative Ressourcen abzugewinnen, vgl.G. W. F. Hallgarten: Imperialismus vor 1914, 2 Bände, München: Beck ²1963. 160 Vgl. J. A. Hobson: The Psychology of Jingoism, London: Grant Richards 1901. 69

Notwendigkeit von Herrschaft, aber vor allem die - jene angestamm- ten Personenkreise ablösende - unter welcher Regierungsform auch immer zuständige noblesse bureaucratique zu legitimieren.

Die Saga der Herrschaft erzählt mithin nicht nur eine Überlegenheits- legende, sie malt zugleich Traditionen als ‚Logik’ ihrer Ordnungsmus- ter aus. Wie immer die Rangeleien und Abhängigkeiten auf dem Olymp selbst aussahen, gegenüber jenen „Kröten dort unten“ (Napoléon) üb- ten die Eliten wahlweise als Autorität oder als Herrschaft verkleidete

Macht aus. Als Magnaten behaupteten sie in allen Tonlagen die

Selbstverständlichkeit des Gehorsams, bewachten deren Propagie- rung sowie die Einhaltung der Regeln und verordneten Lasten und

Pflichten. Die Geschichte, „in tiefe Nacht getaucht durch die Dauer des Despotismus“161, wirkt wie ein Tummelplatz der Rangkonkurrenz von Eliten aller Art. Auch als Effekthascherei ist ihr mit Blick auf die wechselnden Epochen - gar als Intention - ein zweckrationaler Mehr- wert schwerlich abzugewinnen. Immerhin spulte per aspera etwa ein technologischer Fortschritt ab, der ohne eine gründliche Zivilisierung der Anwender und ihrer Lebenswelten zugleich alle Mittel für „Rekur- se in die Barbarei“ (Bauman) offeriert(e), die sich ohnehin als Beglei- ter des Kulturprozesses entdeckten.

161 Stendhal: La Chartreuse de Parme (1839), Paris: Club du livre 1948, S. S. 2. 70

3 Spitzenkräfte „Das Mittelmäßige nur ist des Guten Feind,/Das Schlechte nicht, weil Schlecht und Gut sich nie vereint“162

Im Traum von einer arkadischen Urgesellschaft als „Kindesalter der

Geschichte“ (Hegel) waren die Lasten und Gaben bekanntlich gerecht verteilt unter den Menschen, die trotz geschlechtsspezifischer Rollen ihre Angelegenheiten gemeinsam regelten. Sämtliche realgeschichtli- chen Gesellschaften wurden indessen mikro-wie makroformal von O- ben-Unten-Spaltungen geprägt. Verrät die wie immer begründete Zu- weisung von mehr Macht, Reichtum oder Wissen vielleicht einen ur- sprünglichen Bauplan des Anreizsystems163 für die menschliche Ver- gesellung? Dieser Grundierung der Sozialwelt, gewebt durch Bestim- men und Folgen, entsprechen Leitfiguren, die seit den Tagen der Su- merer als ‚Eliten’ den Ton angeben. Sie sind die Repräsentanten je- ner „Erzwingungsstäbe“ (Max Weber), welche postvorzeitlich, also nach der ungleichen Teilung der Verteilung, als rituelle oder funktio- nale Zustandswächter an der Wiege aller Ordnung stehen164, weswe- gen vom „zweiten Sündenfall“ (Rousseau) des Sozialen die Rede war.

Die Entwicklung seit der frühesten Gesellschaftsgeschichte stand also im Bann der „Konzentrierung der politischen Macht in möglichst weni- gen Händen“165. Mit zunehmender Differenzierung der Sozialgebilde

162 Friedrich Rückert: Die Weisheit des Brahmanen (1836/1839), 2 Bde., Werke (Schweinfurter Edition), Hrsg. Hans Wollschläger/Rudolf Kreutner, Band 1, Göttingen: Wallstein 1998, Bd. 1, S. 167. 163 Solche Unausgewogenheit wirkt evolutionsgeschichtlich jedenfalls wie zwangsläufig, vgl. Frederic C. Jaher (Hrsg.): The Rich, The Wellborn, and The Powerful. Elites and Upper Classes in History, Secaucus, N. J.: Cita- del Press 1975. 164 Was laut Jean-William Lapierre (Essai sur le fondement du pouvoir po- litique, Aix-en-Provence: Publications des Annales de la Faculté des Let- tres 1968, S. 675) nicht ausschliesst, dass „le pouvoir politique“ als insti- tutionalisierte Sozialförmigkeit „n’est pas une nécessité absolument uni- verselle dans l’ espèce humaine“. 165 Vgl. Thorkild Jacobson: Toward the Image of Tammuz and Other Essays on Mesepotamian History and Culture, Hrsg. W. L. Moran, Cambdrige: Har- vard UP 1970, S. 158. 71

erweiterte sich durch neue Zuständigkeitsbereiche der Kreis dieser

Führungskader und ihrer Platzhalter unablässig, ein veritabler „Kom- plex regierender Einheiten“166 entstand. Vom politischen und militäri- schen über den wirtschaftlichen bis in den kulturellen Bereich hinein setzten sich - unabhängig von den Formen und mystischen Beglaubi- gungen, welche die Autorität annahm - überall Tüchtigkeitsgruppen durch, die das Geschehen ihrer Welt regelten, notfalls mit Gewalt, und sich die Versorgung mit knappen Gütern aller Art vorbehielten oder sie durch Aneignungsdruck erst erzeugten. Sie agierten durch- aus unberührt von der Tatsache, dass „sich jedes Produkt als Wahr- zeichen von Arbeit darstellt“ (Proudhon), Anordnen historisch also immer Aneignung einschloss.

Insert 1: Zur historischen Rolle der Eliten oder Unterdrü- ckung als primärer Kommunikationsform des Sozialen „Es besteht eine breite Solidarität zwischen der jeweiligen Elite und dem Milieu, aus dem sie stammt“167

Umgangssprachlich benennen die Worte Unterdrückung beziehungs- weise Repression politische Befunde. Solche Zustände gelten als be- lastend, in denen Menschen/Bürgern ein fremder Wille aufgenötigt wird, etwa um die Bedürfnisse anderer zu befriedigen.168 Eigene Inte- ressen werden abgedrängt oder untersagt, Zeit/ Arbeitskraft/ Auf- merksamkeit/ Selbstbilder sehen sich kontrolliert. Im Rückblick ist die politische, soziale oder kulturelle Formenvielfalt der Unterdrückung

166 Mit ihren „centres of control“, vgl. Herbert Spencer: The Principles of Sociology, Bd. 1, London/Edinburg: Williams & Norgate ³1885, S. 517/521. 167 G. L. Duprat: Les élites et le prestige, Revue internationale de sociolo- gie 43 (1935), S. 5 ff., hier S. 37. 168 Vgl. Roger Scruton: A Dictionary of Political Thought, London: MacMil- lan 1983, S. 335/401; Franz Neumann (Hrsg.): Lexikon der Politik, Mün- chen: Vahlen 9 1995, S. 691 f. 72

(U) unbegrenzt169, sichtbar wird sie normalerweise nur, wo offene Un- terjochung (Zwang) oder Unterwerfung (Krieg) an die Stelle von Füg- samkeit beziehungsweise Selbstorganisation tritt. In der Geschichte der Gesellschaften überlappen sich aneignende und unterdrückende

Handlungen mit dem Ziel der Übervorteilung. Als soziale Relation war

Unterdrückung im Alltag normal/natürlich und blieb dort gleichsam als

„Niederhaltung ohne Gesicht“ (Foucault) der kritischen Betrachtung, gar Distanzierung durch die Betroffenen zumeist entzogen, was be- nachteiligende oder/und repressive Verwaltungsakte einschloss.170

Erst seit dem späten 16. Jahrhundert ließ sich durch die Zustim- mungsthese171, im Sinne der Vernunftsgleichheits-Regel172 und spä- ter mit der Selbstzweckmaxime173 die Allgegenwart von Unterdrü- ckung wenigstens interpretativ dekontextualisieren. Praktisch dauerte es weit bis ins 18. Jahrhundert, ehe Alternativbegriffe wie Spontanei- tät/ Freiheitlichkeit/ Selbstverantwortung etc. öffentlichkeitswirksam ein semantisches Kontrastprogramm boten und damit die Universalität

169 „In der wirklichen Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjo- chung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle“, Karl Marx: Das Kapital, MEW 23, S. 742. 170 Zu Etappen der Unterdrückungsgeschichte vgl. Harold W. Metz/Charles A. H. Thomson: Authoritarianism and the Individual, Washington: Brookings 1950. 171 Wonach auf Unterdrückung beruht, was bezogen auf echte (Aus)wahlalternativen keine freie und mehrheitliche Zustimmung findet, zuerst bei Richard Hooker: Of the Laws of Ecclesiastical Polity (1593/1597), Hrsg. Christopher Morris, London/New York: Dent & Dutton 1965. 172 Denkkapazität hält sich nicht an Hierarchie, sondern ist ‚regelmäßig’ in der Bevölkerung verteilt, vgl. René Descartes: Discours de la méthode (1637), Hrsg. Marcelle Barjonet, Paris: Éditions sociales 1950. 173 Laut Immanuel Kant (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Hrsg. Karl Vorländer, Leipzig: Meiner ³1947, S. 52), der mit seiner Selbst- zweck-These („Der Menschen ... existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebten Gebrauche für diesen oder jenen Willen, son- dern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst als auch auf andere ver- nünftige Wesen gerichtete Handlungen jederzeit zugleich als Zweck be- trachtet werden“) die geradezu kanonische Theorie-Grundlage aller neu- zeitlichen Unterdrückungskritik formuliert. 73

beziehungsweise Ubiquität und folglich die Gültigkeit von Unterdrü- ckung im sozialen Raum auch politisch relativierten.

Wortgeschichtliches

Die Verbalform „unterdrücken“ im Bedeutungskontext von „bewältigen, unterjochen, unterwerfen, vernichten“ wurde bereits bei Johannes

Tauler, geboren um 1300, als „im Zaume halten“, „erniedrigen“, „ge- fügig machen“ verwendet.174 Das Substantiv ‚Unterdrückung’, laut

Herrmann Justius Spanutius175 als Übersetzung von oppressio176 - bei Thomas a Kempis177 auch repressio - beziehungsweise suppres- sio178 (bisweilen: depressio; vexatio) verwendet, bezeichnet mitsamt umgebendem Wortfeld (Aufhe- bung/Abschaffung/Vertuschung/Verdrängung etc.) seit dem 15. Jahr- hundert neben der inversiven Verwendung (U der Affekte, Gedanke,

Naturtriebe etc.) auch die Handlung des Unterdrückens ganzer Grup- pen, etwa „der armen“ bei Hans Sachs, gest. 1576. Das schloss wie immer motivierte Dissensäußerungen ein, weswegen bei Martin Lu-

174 Jakob Ludwig und Wilhelm Karl Grimm: Deutsches Wörterbuch (Leipzig: Hirzel 1852 ff.), Bd. 11/III. Abtlg., Leipzig 1936, Sp.1529 ff. 175 Teutsch-Orthographisches Schreib-Conservations-Zeitungs- und Sprüchwörter-Lexikon, Leipzig 1720, S. 343. 176 „probat enim legum et libertatis ... oppressionem“, Cicero: De officiis, Drittes Buch, 83. 177 „Est expulsio perversae cogitationis: est repressio carnalis temptanio- nis“, Sermones de vita passione Domini scilicet ab adventa Domini, 3. Bd, Predigt 24, S. 205, Zeile 16. 178 Zur römischen Wortherkunftstradition vgl. répression (frz. seit dem 15. Jahrhundert im Sinne von étouffer, „rare jusqu’ au 18e siècle“ [Dau- zat])/repression (eng.)/repressione (it.)/represión (sp.)/repressão (port.); oppression (fr. seit 1160)/oppression (eng.)/opresión (sp.)/opressão; supression (fr. seit 1545)/suppression (eng.)/supresión (sp.)/supressione (it.)/supressão (port.) etc. 74

ther179 die Nebenbedeutung von „Tyrannei“ als un(ge)rechte Nieder- haltung anklingt, ohne dass auf dieser semantischen Bahn die notori- sche Oben-Unten-Spaltung überkommener/jeweiliger Verteilungs- als

Unterordnungstatsachen in die Konnotationsnähe von Unterdrückung gerät. Selbst die Vagantenliteratur als Außenseitersicht mit Übung im

Gebrauch dekonstruktivistischer Tropen sowie die utopi- sche/uchronische Tradition als Hinterfragen gegebener Bedingungen mittels Phantasie (Platon/Morus/Fénelon ff.) bleibt kataskopisch und beschränkt ihre Gegenbilder auf den verwerflichen, im einzelnen ü- bertriebenen, unethischen oder areligiösen Maßnahmencharakter von

Unterdrückung, also höchstens auf Repression (R) im modernen Ver- ständnis. Die überzeitliche Gewohnheitsformel, wonach sich die Zu- mutungen der Herrschaft und/oder Aneignung unter ‚Wohlgeordnet- heit‘ verbucht sehen, das übliche Prügelregiment180 für eine normale

Kommunikationsform gehalten wird, gerät als politisches/soziales o- der humanitäres Problem nie ins Sichtfeld. Eher umgekehrt appel- liert181 die Vormoderne frei nach Druck für Obhut an die etablierten

Trägerschaften von Unterdrückung. Ihr selbst sei wenigstens in Härte- fällen zu wehren! Die dominante Gehorsamstradition identifizierte bis in die Industrieepoche die Unterdrückung im Sinne einer „Selbsterge-

179 Traktat von der christlichen Freiheit (1520), in: Die reformatorischen Grundschriften in 4 Bänden, Hrsg. Horst Beintker, Darmstadt: WBG 1983, Bd. 4., S. 24. 180 Das bis tief in die Neuzeit (Verbot der Prügelei in englischen Schulen erst durch den EU-Gerichtshof; Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Er- ziehung, Juli 2000 in Deutschland) bestand, trotz aller Versuche bei- spielsweise durch ‚Prügelmandat’ vom 4. April 1738 in Preußen (vgl. Gus- tav von Schmoller: Der preußische Beamtenstand unter Friedrich Wilhelm I (1870), in ders.: Kleine Schriften zur Wirtschaftsgeschichte, Wirtschafts- theorie und Wirtschaftspolitik, Hrsg. Wolfram Fiedler/Rolf Karl, 6 Bde., Leipzig: Zentralantiquariat der DDR 1985/1987, hier Band 6: Aus verschie- denen Zeitschriften [1870 - 1911], S. 1 ff.), das „barbarische Wesen, die Unterthanen gottloser Weise mit Prügeln und Peitschen wie das Vieh anzu- treiben“ (S. 53), nachhaltig einzuschränken. 181 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz (Die Theodicee (1705), Leipzig: Dürr 1879, S. 196): „Einem König soll in der Regel nichts so sehr angelegen sein, als seine Unterthanen vor Unterdrückung zu schützen“. 75

bung in die Knechtschaft“182 mit Vergesellung als Dauerübung in fremdbestimmter Eigenzucht (= Ordnung): „Der Bürger muß seinen

Stolz darin setzen“, erläuterte der einflussreiche Carl Friedrich

Bahrdt183 diese Bravheit noch mit Blick auf die anhebende Massenge- sellschaft, „mit vester Entschlossenheit die Majestät zu ehren, und einen unbewegbaren Abscheu gegen alle Hetzereien, Aufwiegelungen, und Meutereien empfinden, und solche bei seinen Mitbürgern, wo er sie bemerkt, mit Klugheit und stiller Betriebsamkeit zu unterdrücken suchen.“

In der Aufklärung verzeichnet Johann Christoph Adelung184 für Unter- drückung die Mitbedeutung von nichtöffentlich („daß diese Hinderung ins geheim geschehe“) und betont eine („in engerem Verstande“) so- ziale Sinnkomponente, da „man andere unterdrückt, wenn man gerin- gere Personen an der Erlangung dessen, was sie nach Recht und Bil- ligkeit fordern können, hindert“. Joachim Heinrich Campe185 vermerkt zudem eine politische Bedeutungszuspitzung („Das Volk wurde unter- drückt, anstatt der versprochenen Freiheit zu genießen“), die unter

Verweis auf eine Konjunktur kritischer Wortverbindungen („Unterdrü- ckungsgeist“ [F. H. Jacobi], „Unterdrückungsgier“ [Herder], „Unterdrü- ckungslust“ [Heine]; „Unterdrückungssucht“ [Varnhagen von Ense] etc.) über das bei Grimm angeführte Wortfeld hinausweist. Älter sind

Belege für einen zwangs-bemängelnden („die groszen unterdrücken

182 Wie Otto von Gierke (Johannes Althusius und die Entwicklung der na- turrechtlichen Staatstheorien (1879), Aalen: Scientia 6 1968, S. 5) die Posi- tion eines Hugo Grotius (Drei Bücher über das Recht des Krieges und Friedens [1625], Buch 1, Kap. 3, VIII 1; Hrsg. J. H. von Kirchmann, 2 Bde., Berlin: Heimann 1869, Band 1, S. 146 ff.) nennt, mit der dieser gegen die These von Althusius polemisierte, wonach die Volkssouveränität unveräu- ßerlich sei. 183 Handbuch der Moral für den Bürgerstand, Frankenthal: Hemmerde & Schwetschke ²1790, S. 158. 184 Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (1774 ff.), Leipzig: Breitkopf ²1793/1801, 4 Bde., Bd. 4, Sp. 906. 185 Wörterbuch der Deutschen Sprache, Braunschweig: Schulbuchhandlung 1807/1811, 5 Bde., hier Bd. 5, S. 194. 76

die kleinen“, Grimm, S. 1531) Unterton. Aber noch fehlt der Schritt vom Wort zum politischen Begriff. Mit säkularisierten Differenzfor- meln186 wie ‚Freiheit’ oder ‚Selbständigkeit’ deutet sich seit der frü- hen Neuzeit zwar die Ungeduld eines gegen die bestehende Unterdrü- ckung (U1 = normal) der - vorerst - staatlichen Gegebenheiten (U2 = anomal) gerichteten Politikkonzepts an, vorgetragen vor allem durch aufsteigende, von der Machtteilhabe indes abgesperrte Schichten187.

Frühere Jeremiaden über die menschliche, religiöse, gesellschaftliche etc. Schlechtigkeit der Welt hatten die Unterdrückungsgegebenheiten

(U3 = verwerflich, gottlos)188 hingenommen oder gar unterstrichen, indem diese Lage einzig im Himmelreich zu bessern war. Solche Ver- tröstung ging erst verloren, als Hegel sie durch eine innerweltlich vi- rulente, wenngleich unbemerkte Herr-Knecht-Beziehung ersetzte189, an die das frühsozialistische Befriedungskonzept als Unterdrückungs- kritik anschloss. Ansonsten blieb das eingeübte und nicht zuletzt durch allfällige Repression kontrollierte Gehorsamsvolumen [(= (f)

Angst + Gewohnheit + Anerkennungsstreben)] mächtiger als alle durch die Leidenserfahrung mit Unterdrückung ausgelösten expliziten

Infragestellungen190 oder gar beobachtbaren Widerspruchshaltungen.

Entsprechend korrespondierte in historischer Perspektive sozialer

186 Deren modernen Bedeutungshorizont J. J. Rousseau (Du contrat social [1762], Buch 1, Kapitel 1, Satz 1) geradezu apodiktisch („L’ homme est né libre, et partout il est dans les fers“) (er)öffnete. 187 Régine Pernoud: Les origines de la Bourgeoisie, Paris: PUF 1956, S. 115 ff. 188 Exemplarisch etwa das Unterdrückungsbild bei Agrippa von Nettesheim: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften etc. (1530), Hrsg. Fritz Mauthner, 2 Bde., München: Georg Müller 1913, Bd. 2. S. 34 f. 189 Wobei dies keineswegs frei nach „Le poison du pouvoir énervant le despot“ [Charles Baudelaire: Les fleurs du mal, Hrsg. Friedhelm Kemp, München: DTV ²1987, S. 290] geschah. Vielmehr zerfiel die Zweckhaftig- keit von Herrschaft an ihrer Unterkomplextät und damit aus Funktions- schwäche gegenüber einer arbeitsteiligen Moderne, was durchaus keine ‚Entknechtung der Knechte’ im Sinne jener „Revolution der Denkungsart“ (Kant) auslöste, die sich die Aufklärung ausgemalt hatte. 190 Die in der gesamten Vormoderne ohnehin nur punktuell beziehungswei- se eventuell vorkamen. 77

Widerstand fast ausschließlich mit zu raschen Permutationen der Un- terdrückungs-Formen als Ungleichheitssystem. Noch die selten genug bezeugte Empörung als Äußerung „unterdrückter Dialoge“ (Habermas) ruhte fest im Alltäglichen191, an das man sich gewöhnt hatte192, so dass bisweilen zwar Renitenz aufkam, selten jedoch Resistenz. Diese

‚Ordnung’ schien/wurde durch Eingriffe der Eliten allerdings zuweilen gestört, gleichermaßen als Umbau (Agrarinnovationen, Herrschafts- wechsel etc.) oder Zementierung (Abgabenlasterhöhungen, Nutzungs- beschneidungen u.a.m.) von Unterdrückung. Dann gab es Unruhen, so dass sich noch das historisch knappe Widerspruchspotential als Streit um Muster beziehungsweise um die Auslegung der/von Unterdrückung entpuppt, nicht als Aufbegehren über diese selbst.

Begründungsspur

Die antike Ideengeschichte der Politik von Hesiod über Aristoteles bis zu Cicero ist durchzogen von (selbst)kritischen Überlegungen zu poli- tisch/religiösen, zuweilen auch sozialen Aspekten und Problemen der

Machtverwaltung als variablen Spielarten von Unterdrückung. Das trifft ebenso auf die christlich-abendländische Debatte zu, die sich seit den Kirchenvätern und Thomas von Aquin bis zu Julius Friedrich

Stahl frei nach „Der Herrscher ist ein Diener des Gemeinwohls und ein Knecht der Billigkeit“193 mit der richtigen Verfasstheit der civitas terrena beschäftigte. Das von jeder Obrigkeit zu allen Zeiten beklagte

191 Zur gesellschaftlichen Produktion von Normalität vgl. Jürgen Link: Ver- such über den Normalismus, Opladen/Wiesbaden: WDV ²1999. 192 Zur zähen, bisweilen geradezu wütenden Affirmationsbereitschaft der Unterdrückung durch die Unterdrückten selbst vgl. Heinrich Popitz: Pro- zesse der Machtbildung, Tübingen: Mohr ³1976. 193 Johannes von Salisbury: Policraticus sive de nugis curialium et vesti- giis philosophorum (1156/1159), Hrsg. C. C. J. Webb, Oxford: Clarendon 1909, IV, 2. 78

„Laster der Aufmüpfigkeit“ (Innozenz III.) bezog sich dennoch nie auf mögliche Alternativen zur Bestandsnotwendigkeit von Unterdrückungs-

Figurationen wie Oben/Unten, Anordnen/Folgen oder Haben/Darben.

Insofern ist mit Blick nach unten sozialhistorisch nichts unbegründe- ter als die ewige Revolutionsfurcht194. Eine vorerst gedankliche

Durchbrechung dieser durch Macht/Gewohnheit/Glauben ff. gepanzer- ten Unterdrückungsregel wurde erst möglich, als mit dem wirtschafts- weltlichen Aufkommen neuer Wissensträger, Produktionsschichten,

Technisierungstendenzen etc. die zunehmend dysfunktional wirkende

Obrigkeitsfrömmigkeit im Dienst eines inzwischen als parasitär wahr- genommenen Establishments eher partizipatorischen Vergesellungs- modellen wich. Laut Wahrnehmung kritischer, da wertkonservativer

Zeitzeugen195 prägten diese nachfeudalen Politikmuster ihrerseits zwar veränderte und zudem in soziale Subsysteme wie in die sich mit dem 19. Jahrhundert ausbreitende „Unterwelt der Fabriken“ (Carlyle) -

„auch Werkstattdisziplin ist Unterwerfung unter eine Herrschaft“196 - verlagerte und folglich weniger sichtbare, nichtsdestoweniger gültige und wirksame, wenngleich nicht länger unumstrittene Ansprüche von

Unterdrückung mitsamt zugehörigen Regeln zum Bestandsschutz auch als Repression.197 Wirklich als unterdrückend konnte Unterdrückung

(U4 = UΣ ist aufhebbar) gleichwohl erst gelten, trotz der reichhaltigen umgangssprachlichen Wortverwendung auf der Zeitachse, nachdem

194 Frei nach Ottavio Sammarco („Tutti gli stato sono soggetti alla mutatio- ne“, Delle mutationi de regni, Neapel: Lazaro Scoriggio 1628, S. 1), der wie üblich mit dieser Herrschaftssorge weitere Sicherungsmaßnahmen (R) zum Schutz der Unterdrückung begründet. 195 Etwa bei Joseph von Radowitz: „Von allen Formen der Sklaverei ist die Geldsklaverei die schlimmste, weil sie mit der Täuschung vermeintlicher Freiheit einhergeht“, Gesammelte Schriften IV/1: Fragmente (1826), Berlin: Georg Reimer 1853, S. 5. 196 Max Weber: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, in: Grundriss der Sozialökonomik III/1, Tübingen: Mohr 1921, S. 123. 197 Vgl. Reinhart Kößler: Despotie in der Moderne, Frankfurt am Main/New York: Campus 1993. 79

nicht nur interpretatorisch/geistesgeschichtlich seit dem 17. Jahrhun- dert, sondern vor allem auch konfliktuell/sozialhistorisch im Lauf des

19. Jahrhunderts die Dominanz der überlieferten Selbstverständlich- keit von Unterdrückung und/oder Repression massenhaft in Frage ge- stellt wurde etwa durch a) die Formulierung von weniger/nicht unter- drückenden Gesellschaftsmodellen und b) den sozialoppositionell- organisierten Anspruch auf Umverteilung, Demokratisierung oder Mas- sen-Enkulturation. U1 /U3 /Repression gerieten – in einem ersten

Schritt - im Sinne von U2 nun zum politischen Skandal. Mit der „Erklä- rung der Menschen- und Bürgerrechte“ (1789) wurde die neuzeitliche

Politikauffassung des Dritten Standes vor der Anspruchsfolie demo- kratischer Mitbestimmungsmuster als Widerstand gegen Unterdrü- ckung („la résistance à l’ oppression“, vgl. Art. 2)198 in den idealtypi- schen Rang eines Verfassungsversprechens erhoben.

Mit der als aufhebbar erlebten Untertänigkeit beginnt die Karriere der

Unterdrückungsformel als Begriff, der ganz allgemein Zustände be- ziehungsweise Phänomene der Niederhaltung von etwas Freizuset- zendem zu bezeichnen vermag. Das Wortfeld erlebt einerseits eine alltagssprachliche Konjunktur ohnegleichen und damit eine Anwen- dungsausweitung bis hinein in Ordnungsstiftungsmühen199, soziale

Gegenbewegungen200, Psychoanalyse201, Antikolonialismus202 oder

198 Als Teil der Verfassung vom 3. 9. 1791, in: Les constitutions et les principales lois politiques de la France depuis 1789, Hrsg. Léon Dugu- it/Henry Monnier, Paris: Librairie générale de droit 5 1932, S. 1 ff., hier S. 2. 199 Vgl. die Repressionsregeln (wen/wie/was/wann) als Bestandsschutz (= Unterdrückungsaufhebungsverzögerung), wie sie etwa das ‚Allgemeine Landrecht für den preußischen Staat’ (1794) [Hrsg. Ernst Pappermann, Pa- derborn: Schöning 1972] mit Blick auf die anstehenden Stabilisierungs- probleme der Nachfeudalität formulierte. 200 Exemplarisch für die Sozialopposition das „Manifest des Sansculottis- mus“ vom 16. 11. 1793 (in: Walter Markov/Albert Soboul [Hrsg.]: Die San- culotten von Paris, Berlin: Akademie 1957, S. 218 - 237): „Es wäre eine unverschämte Verhöhnung der Menschheit, immer wieder von Gleichheit zu sprechen, während unermeßliche Unterschiede ... den Menschen vom Men- 80

Feminismus203. Andererseits büßt der Terminus als Allerweltswort in den arbeitsteilig inzwischen für die Gesellschaftsanalyse zuständigen

Sozialwissenschaften an Profil und Erklärungswert ein, so dass in einschlägigen Fachlexika, die den Wissens- und Problemstand ihrer

Disziplinen kodifizieren, seit langem keine entsprechenden Stichworte mehr zu finden sind204. Im Vollzug der durch fabrikweltliche Sach- zwänge (Steigerung des Qualifikationsprofils der Arbeits- welt/funktionale Differenzierung/Umpolung von Fremd- zur Eigenkon- trolle ff.) ausgelösten Emanzipationsanstrengungen der Neuzeit wird

Unterdrückung im eigentlichen Wortsinn für die Hochmoderne als Kri- tik-, gar als analytischer Kampfbegriff weitgehend irrelevant, weil a) sie fallweise abgetragen werden konnte, b) breitenwirksam nicht mehr als Problem wahrgenommen wird, c) sich in Felder verlagert hat, die als weniger heikel empfunden wer-

den und daher dort lebens- und systemweltlich nicht mehr ausdiffe-

renziert werden kann,

schen trennen, und ... wie dadurch die Erklärung von Rechten unterdrückt wird.“ (S. 221 f.). 201 Zur breiten sublimations-theoretischen Begriffsverwendung vgl. J. Laplanche/J.-P. Portalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, 2 Bde., Frank- furt am Main: Suhrkamp 1972, Bd. 2, S. 570 f. 202 Vgl. kritisch über die kolonialen Unterdrückungsformen mitsamt der Warnung, als Antikolonialismus in eigener Regie an derartige Unterdrü- ckungsweisen anzuknüpfen Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde (1961), Frankfurt am Main: Fischer 1966. 203 Zur „Unterdrückung der Frau“ als Überhang hierarchisch aufgeladener Sinn- als Ordnungsmuster siehe Gerda Lerner: Die Entstehung des Patriar- chats, Frankfurt am Main: Fischer 1991 S. 288 f. 204 Typisch das autoritative ‚Lexikon der Politik’, Hrsg. Von Dieter Nohlen, Band 7: Politische Begriffe, München: Beck 1998. Oder die Einträge erhiel- ten eine strikt unemphatische beziehungsweise eingeschränkte Bedeutung, die sich bereits bei Maurice Block (Petit dictionnaire politique et social, Paris: Perrin 1896) andeutete, indem sich Unterdrückung (oppression) auf die Frage nach legaler Übermacht (Mehrheit > Minderheit) reduziert sieht (S. 527), wohingegen Repression (répression) unter Kriminaliätsprävention abgehandelt ist (S. 674). 81

d) wie früher als „stummer Zwang“ (Adorno) für normal gehalten wird,

diesmal allerdings nicht in politicis, jedoch in der Reproduktions-

sphäre und/oder aber e) einer conservative correctness unterliegt und insofern als Thema

tabuiert/verdrängt/unterdrückt ist.

Demgegenüber hat sich im Lauf des 19. Jahrhunderts der Repressi- onsbegriff zunehmend vom verblassenden Unterdrückungsfeld ge- trennt. Einerseits wurde er geopolitisch aus den Entwicklungszentren verlagert und geriet zur Beschreibung des Wütens tyrannischer Re- gime an deren Peripherie; zum anderen hat er einen eher instrumen- tellen, um nicht zu sagen positiven Geschmack im Zusammenhang mit der Ordnungsstiftung gegenüber Risiken der Demokratie (Terroris- mus/organisierte Kriminalität etc.) angenommen, die ihrerseits mikro- sozial Unterdrückung im alten Verständnis anwenden.

Die jeweilige Ausprägung von Unterdrückung lässt sich von ih- rer/einer diachronen Rollenbeurteilung kaum trennen, nicht nur, weil schwerlich definiert werden kann, was durch und durch historisch ist;

überdies sind evolutive Begriffs-Veränderungen beziehungsweise ist ihre Aufdeckung selbst für große Strecken/Bereiche der Geschichte nur ex post möglich, weil das etablierte System organisierter Un- gleichheit nicht als unterdrückend oder repressiv galt, sondern normal wirkte. Cicero205 konnte naiv imperium mit „Obhut des Weltkreises“ gleichsetzen, obschon Rom frei nach „Gewalt ist ein bitteres Ge- schick“206 im Rückblick eine der brutalsten historischen Eliteformati- onen repräsentiert, trotz der die ratio togata dieses Unterwerfungs- staates bewundernden Beschreibungen des Gegenteils, zuletzt durch

Alexander Demandt (Der Idealstaat, Köln u.a.: Böhlau ³2000). Wie lässt sich Unterdrückung als solche identifizieren, wenn „jedes forma-

205 De officiis, Zweites Buch, 27. 206 Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia, Hrsg. Ursula Blank- Sangmeister, Stuttgart: Reclam 1991, S. 210. 82

le Gegenüber, auch wenn es inhaltlich auf Unterwerfung geht, eine

Wechselwirkung“207 darstellt(e), die realgeschichtlich immer irgendei- ne Art von gesellschaftspolitischem do ut des organisiert(e)? Die Be- antwortung dieser Frage wird noch komplizierter, unterstellt man der

Geschichtsbetrachtung eine nachträgliche „Freude über Autorität“208, die unnachsichtig/immer einem Ordnungsstandpunkt frönt(e).209 Was ist, wenn mit Auguste Comte210 etc. die kulturgeschichtliche Sublimie- rungsthese [Fortschritt = (f) U]211 aus ihrer Deskription eine Tugend der Unterdrückung - als „weise Resignation“ gegenüber „würdigen

Führern“ (Comte) - der Namenlosen in der Geschichte ableitet, nicht zuletzt zum Schutz des homo necans durch den homo hierarchicus und damit vor sich selbst und seinen Kuklturschöpfungen? Und wenn der heutige ‚Kulturalismus’ aus der allfälligen Existenz von Unterdrü- ckung nicht nur auf deren raum-zeitliche Notwendigkeit und Sinnhaf- tigkeit, sondern im Sinne konservativer Vorstellungen einer „naturge- benen Unterwürfigkeit“212 auf ihre Freiwilligkeit/Akzeptanz/Legitimität schließt, vor allem was die religiösen Fundierungen aller paterna- listisch fundierten Oben-Unten-Polarität in der Vergangenheit betrifft?

Um Geschichte nachträglich gegen die epochalen „Lügen der

Herrschgewalt“ (Constant) und damit als Stufenfolge ununterbroche-

207 Georg Simmel: Soziologie Untersuchungen über die Formen der Verge- sellschaftung, Leipzig: Duncker & Humblot 1908, S. 140. 208 Benjamin de Constant: Über die Gewalt. Vom Geist der Eroberung und von der Anmaßung der Macht (1814), Stuttgart: Reclam 1948, S. 32 f. 209 Zur Kritik dieser besonnten Vergangenheitsdeutung vgl. Algazi, Anm. 115. 210 Soziologie, 3 Bände, Band 1, Jena: Fischer ²1923, S. 43; 148 f. 211 Exemplarisch Rudolph von Ihering (Der Zweck im Recht, Band I (1877), Leipzig: Breitkopf + Härtel 5 1916): „Das ist die Mission der Gewalt, auch der wildesten, rohesten, unmenschlichsten in den frühesten Perioden der Menschheit gewesen, den Willen daran zu gewöhnen, sich unterzuordnen, einen höheren über sich anzuerkennen. Erst nachdem er dies gelernt hat- te, war es an der Zeit, daß das Recht die Gewalt ablöste, vorher wäre ers- teres ohne alle Aussicht gewesen“ (S. 197). 212 Edmund Burke: Reflections on the Revolution in France, London: Dods- ley ²1790, S. 351. 83

ner Abgrenzungskämpfe von oben/Anpassungsleistungen von unten zu entdecken, ist daher die allfällige „Gängelmoral“ (Franz Staudinger) historischer Sozialepochen (frei nach U4 > U) an späteren Emanzipa- tionsschritten zu messen. Nicht nur macht die „Anatomie des Men- schen die Anatomie des Affen“ (Marx) transparent; auch das die poli- tische Geschichte überzeitlich mittels unterschiedlichster Figuratio- nen prägende Tributverhältnis, das gleichermaßen Unterdrückung schafft und voraussetzt, unterliegt post festum Beurteilungsstandards wie etwa der Tradition des radikalen Naturrechtsgedankens. Die ma- teriellen Voraussetzungen für deren auch in Westeuropa zögerlichen

Durchsetzungserfolg sind allerdings nicht zu übersehen. Auch gilt es, allzu schlichte Muster einer Universalisierung (≠ Globalisierung) ihrer politischen Emanzipationsergebnisse zu vermeiden.

Ursprung

Der Mensch „als erster Freigelassener der Schöpfung“ (Gehlen) be- fand sich urgeschichtlich - vor der eigentlichen Gesellschaftsbildung als Strukturennetz - im Kontext segmentär/akephaler Gruppen womög- lich in einem verdünnten Unterdrückungszustand.213 Jene herr- schaftsstiftende „Teilung der Verteilung“ (Max Weber) und damit die unverdiente Aneignung fremder Arbeitsleistungen (Raub > Opfer/

Tausch) war jedenfalls intensiv anfangs kaum möglich/üblich. Den- noch ging es in jenen „Urhorden“ (Freud) keineswegs paradiesisch zu:

Unterdrückung und Repression haben viele Gesichter, selbst solche,

213 Vgl. Marvin Harris: Kannibalen und Könige. Die Wachstumsgrenzen der Hochkulturen, München: dtv 1995, S. 91 ff. Jedenfalls bei ausreichender Ernährungs-Versorgung, weil sonst kriegerische Gewalt und damit allseiti- ge Unterdrückung einen Dauerzustand bildete, nicht zuletzt auch im Ge- schlechterverhältnis, vgl. Chagnon: Die Yanomamö. Die grimmi- gen Leute, Berlin: Byblos 1994. 84

die trotz fehlender Zentralität etwa per Ritual hieratisch, gerontokra- tisch etc. über Zauberwissen, Kraft, Angst oder auch Alter gebieten und damit zivilisationstheoretisch als invisible government auftre- ten.214 Die Verstetigung von Triebverzicht/ Verdrängung/

Übervorteilung/Einschüchterung etc. als gesellschaftliche Basis jeder bisherigen Assoziationsform von Menschen macht erklärlich215, wieso sich Gängelung in allen Verkleidungen „in der Nacht der Zeiten verlie- ren“216. In ihr formierte sich die Über- als Unterordnung und fixierte, da „platte Habgier von ihrem ersten Tag“ an als „die treibende Seele der Zivilisation“ wirkte217, die Mehrheit der Menschen organisations- politisch nicht nur auf die Rolle von „Arbeitstieren“ (Prosper Enfan- tin); sie grundierte diese Verflechtung mit Marcel Mauss gesprochen zugleich als „fait social total“. Unterdrückung erscheint evolutionsge- schichtlich mithin niemals nur als Folge einer „Überlagerung“

(Rüstow) etwa durch externe Unterwerfung (Krieg), obschon Unterdrü- ckung als reine Opferrolle beispielsweise durch die normale Leidens- geschichte der Sklaverei/Leibeigenschaft u. ä. m. belegt ist218, ex ancilla natus. Im Sinne der These vom kulturhistorischen „Wert der

Hierarchie“219 (= Standortvorteil im Gruppenwettbewerb), aus der sich allerdings zugleich die unendliche Geschichte offensichtlich aller

Vergesellschaftung als wie immer organisierte Dau-

214 Vgl. zu den Dimensionen von Unterdrückung in ‚primitiven’ Gemein- schaftsformen Eugene V. Walter: Terror and Resistance. A Study of Politi- cal Violence, New York: Oxford UP 1969, S. 97 ff. 215 Vgl. Dieter Claessens: Anthropologische Voraussetzungen einer Theo- rie der Sozialisation, Zeitschrift für Soziologie, 2. Jg. (1973), S. 145 ff. 216 Jean Imbert /Georges Levasseur: Le pouvoir, les juges et les bour- reaux. 25 siècles de répression, Paris: Hachette 1972, S. 7. 217 Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884), MEW 21, S. 171. 218 Vgl. Claude Meillassoux: Anthropologie der Sklaverei, Frankfurt am Main/New York: Campus 1989. 219 Vgl. Stanley Milgram: Das Milgram-Experiment, Reinbek: Rowohlt 1982, S. 145 ff. 85

er(über)machtnahme220 entfaltet, beruht Unterdrückung zugleich auf der mehr oder weniger freiwilligen Partizipation an der eigenen Un- terordnung221, wobei „Geheimnis und Rückhalt solcher Domination“222 sowohl aus der mehr oder weniger breiten Streuung von Extrachancen für die Nutznießer von Unterdrückung als auch durch die Dauerprä- senz von Repression zu erklären sind. „Gehorsam als erste Lektion der Zivilisation“ (J. S. Mill) zeugt keineswegs von einer libido subor- dinandi. Es handelt(e) sich angesichts - noch - nicht vorhandener So- zial- und Politikalternativen vielmehr um die unvermeidliche, wenn- gleich schicksalsergebene „Einsicht in die Notwendigkeit“ (Hegel) von

(Selbst)Zwang als Funktion multipler Unterversorgung mangels mate- rieller, kognitiver, moralischer, kommunikativer etc. Güter, die meri- tokratisch oder altruistisch (Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen) zu verteilen gewesen wären. Solange die

Geschichte naturaliter (Umweltgrenzen), objektiv (Güterdefizit) bezie- hungsweise subjektiv (Anspruchsüberschuss) unter der Knappheitsre- gel operiert(e)223, beding(t)en sich ein „Minimum an Gehorchenwol- len“ (Max Weber) und Unterdrückung offenbar ebenso unausweichlich wie unnachsichtig.

Willfährigkeit

220 Vgl. Michael Mann: Geschichte der Macht, 3 Bde. Frankfurt am Main/New York: Campus 1991/1998. 221 Diese im Rückblick perverse „Unterwerfung unter Autorität“ beschrieb Gustav Ratzenhofer (Sociologische Erkenntnis, Leipzig: Brockhaus 1898, S. 235) als Logik historischer Politik: „Im socialen Proceß wechselt nur das Wesen dieser Autorität. Zuerst ist es die Autorität der körperlichen Kraft und des Muthes, dann wird es die Autorität der politischen Klugheit, und schließlich wird es die Autorität der Civilisation, welche die Völker der Staatsgewalt unterwirft“. 222 Étienne de la Boétie: Discours sur la servitude volontaire (1577), in: Oeuvres politiques, Hrsg. François Hincker, Paris: Éditions Sociales 1963, S. 70 f. 223 Dazu Gerhard Lenski: Macht und Privileg, Anm. 151. 86

Wie lässt sich die Akzeptanz derartiger Deprivationen und damit die

Persistenz machtelitärer Überhänge erklären? Ausgehend von einer

These des amerikanischen Soziologen Barrington Moore224, dass trotz offensichtlicher Mißstände etc. Auflehnungen in historischer Perspek- tive eher die Ausnahme, Fügsamkeit indes Regelstruktur der Verge- sellung war225, erhebt sich gleichsam erwartungsverkehrt die Frage, ob es Scheuklappen des Allgemeinbewusstseins sind, die eine derar- tige Anpassungsleistung erleichterten. „Wer meint, dass sich Tyrannei allein durch die Hellebarden ihrer Schutztruppen oder die Präsenz von Wächtern erhält, täuscht sich meines Erachtens erheblich“, hat lange vor der Politikmoderne Étienne de la Boétie226 vermutet. Nicht

Repression spielt(e) die ausschlaggebende Rolle bei der Staatslen- kung, obwohl sie zentraler Konfundator aller ‚Ordnung‘ ist. In Be- tracht zu ziehen bleibt vielmehr die erstaunliche Fähigkeit der Men- schen, beschädigende oder beschämende Zustände nicht nur nicht als solche wahrzunehmen, sondern diese nachgerade eifrig als zuträglich zu definieren, man denke an das Zuschauergedränge bei historischen

Strafexzessen. Die Illusionierungs-Kapazität der Generationen war und ist trotz widersprechender Gnomologie offenbar unbegrenzt, was mit

- der menschlichen Begabung zur metaphorischen Konstruktion e-

benso zusammenhängt wie mit

- sozialdarwinistischen Überhängen (Gruppenwesen) beziehungswei-

se

224 Moore (Anm. 136), S. 116 ff. 225 An der auch der richtige Hinweis (Serge Moscovici: Sozialer Wandel durch Minoritäten, Urban & Schwarzenberg: München u.a. 1979) wenig än- dert, wonach es kulturgeschichtlich immer wieder Minderheiten waren, die formelle oder informelle System in Schwung gehalten haben: Das betrifft die wechselseitige Abhängigkeit von Kollektiv und Person, sagt nichts aus über die soziale Stellung der Innovatoren. 226 Discours (Anm. 222), S. 70. 87

- sozio-kybernetischen Einbindungserfahrungen, wonach die ontoge-

netische wie phylogenetische Prägung in Sozialisation und Enkul-

turation gleichermaßen vor allem Einordnungs-Leistungen prämiert.

Nur so ist es möglich gewesen, dass nach jener alle Gussformen des

Gesellschaftlichen tragenden Quasiformel ‚Ordnung = (f) Ungleichheit‘ die Koevolution von Übervorteilung und Zivilisation nicht als reine Un- terdrückungsgeschichte ablief, trotz historisch evidenter Dauerprä- senz verschiedenartigster Gewaltinvestitionen. Mit Blick auf die Kul- turgeschichte haben wir es auf der Zeitachse vielmehr mit einem rela- tiv widerspruchsfreien Zuständigkeitsraum von Herrschaft zu tun. In ihm blieb die Interaktion allemal nicht nur semantisch durch Passiv- konstruktionen überwölbt227: Bezugsgrößen waren nicht die Betroffe- nen und ihre Bedürfnisse, sondern Gott (passivum divinum), die Ob- rigkeit (passivum regium) beziehungsweise andere Stellvertre- ter/Patriarchen etc. unerreichbarer Anordnungs- oder Fügungsgrö-

ßen.228

Insofern erweisen sich nicht zuletzt die Gerechtigkeitsentwürfe als thema probandum solcher Osmose von Unterdrückung und Legitimati- on. Historisch wirken sie zwar wie jener Archipel, von dem aus Unzu- träglichkeiten aller Art erst zu identifizieren, dann womöglich zu kriti- sieren waren. Vor allem der sozial-philosophische Gerechtigkeits-

Diskurs scheint diese Funktion zu erfüllen.229 Seine politische und ideologische Wirkmächtigkeit war indessen sehr begrenzt, wie ein diachroner Abgleich zwischen der Produktion „gerechter“ Utopien und der Persistenz faktischer Übervorteilungsverhältnisse demonstriert.

227 Vgl. Jan Assmann: Herrschaft und Heil, München/Wien: Hanser 2000, S. 49 ff. 228 Die seit der Fabrikmoderne unter anderen formal-politischen Vorzei- chen nur durch ‚objektiviertere‘ Sachzwänge (passivum commercii) abge- löst wurden. 229 Vgl. den sympathischen Essentialismus von Martha C. Nussbaum: Ge- rechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 86 ff. 88

Das Gerechtigkeits-Empfinden muss mithin eine zwar moralisierende, nicht aber ändernde Funktion in der Sozialevolution gespielt ha- ben.230 Vor allem dann, wenn man dieser Empathie als intentio recta eine zentrale Aufgabe im emotiv-kognitiven Selbststeuerungs-

Haushalt der Menschen und ihrer Sozialgebilde zubilligt. Ein Rolle vor allem, die im Gegensatz zur allgemeinen Erwartung offensichtlich die

Leidensfähigkeit der Menschen steigerte, aber gerade nicht ihren Wi- derspruch gegen Ungerechtigkeiten aller Art unterstützt hat.231 Das

Pochen auf Gerechtigkeit, so erweist sich, hat sich fast immer inner- halb der Grenzen des Gewohnten bewegt, ist höchst immanent. Es nimmt zudem Zustände als akzeptabel (da scheinbar ‚gerecht‘ = ge- wohnt) hin, die nicht nur im Rückblick (Menschenrechtstradition), sondern auch gemessen an den Willkür-Kriterien ihrer Zeit barbarisch wirken, etwa die Sklaven-Haltung im nachrevolutionären Amerika. Als

Prüfrahmen für diese ambivalenten Leistungen von Gerechtigkeit als ideologischem Substrat aller Herrschaft kann dabei die marginale

Spur des Widerstandes dienen, die uns die Sozialgeschichte zeigt.

Die oft heftige „Affirmationsreaktion selbst der Unterprivilegierten“232 erweist, dass es nicht nur schwierig ist, überhaupt das Seiende als skandalös zu durchschauen. Selbst rührige Opposition blieb/bleibt an

230 Worauf Oswald Köhler (Der Egoismus und die Civilisation, Stuttgart: Dietz 1883, S. 35 ff.) mit der Empfehlung für die Linke hinwies, rechtspoli- tische Anspruchsdurchsetzung zu betreiben statt Gerechtigkeits- Stereotypen zu pflegen. 231 Um diesen Zusammenhang zwischen Abstufungen der Gerechtigkeits- fühligkeit und realer Ungerechtigkeit zu veranschaulichen, und weil Depri- vation historisch kaum zu extrapolieren ist, kann man sich unterschiedli- cher Theorieansätze (Vertragstheorien, Machtsoziologie, Equity-Theorie, ‚Gerechte-Welt-Glaube‘ etc.) bedienen, die in diesem Zusammenhang ent- wickelt wurden. Sie müssen auf ihre soziologische Erklärungsleistung für jene opake Dialektik abgeklopft werden, wonach es am Ende gerade der Gerechtigkeits-Sinn zu sein scheint, der privat wie öffentlich ungerechten Zuständen den Sinn und Anschein einer historisch ausgesprochen belast- baren Duldung selbst von zuweilen geradezu monströsen Elite-‚Ordnungen’ verleiht, man denke nur an die Institution der ‚Unberührbaren‘. 232 Popitz: Prozesse (Anm. 192), S. 37. 89

die jeweiligen Ordnungslegenden beziehungsweise den bestimmenden

Zeitgeist gebunden.233 Entweder sahen/sehen sich funktionale Fehl- leistungen angeprangert, auf der die Ordnung der Unordnung und da- mit das Oben-Unten-Muster des die menschliche Vergesellschaftung tragenden Tausches von Sicherheit gegen Gehorsam/Dienstleistung beruht; oder Alternativität musste/muss, um Engagement zu stiften, an Elemente des „guten Alten“ appellieren, um Neues als eine gerech- tere Anordnung der Rechte und Pflichten überhaupt schmackhaft ma- chen zu können.

Kratokratie

Vor etwa 12 000 Jahren werden die Menschen sesshaft. Mit der an- schließenden Staatsbildung als κατέχοντα πρά γ µ ατα am nördlichen

Rand des ‚fruchtbaren Halbmondes’ infolge einer Steigerung der agra- rischen Produktion234 erstarkten feste Über- sprich Unterord- nungstrukturen als dauerhafte Herrschafts- und Bewachungsstäbe.

Alle sich ausformenden „sozialen Gebilde“ gewannen politische Kon- tur als „Rückhalt für die Ausbeutenden und Belastung für die Ausge- beuteten“235. Derart interagierend ließ sich die soziale Tradition scheinbar unwiderruflich auf Unterdrückung ein, in der eine poli- tisch/kulturell/ökonomisch ff. untermalte Heterotelie vorherrscht(e)

233 Zu dessen Gegenwartsverwirrungen vgl. Terry Eagleton: Die Illusionen der Postmoderne, Stuttgart/Weimar: Metzler 1997. 234 Die durch die organisierte Aneignung ihrerseits kontinuierlich gestei- gert wurde, woraus sich von Karl Marx bis Gerhard Lenski die Zivilisati- onsmotorik begründet findet. Zu den außersozialen Voraussetzungen die- ses Erfolges vgl. Jared Diamond: Arm und Reich. Die Schicksale menschli- cher Gesellschaften, Frankfurt am Main: Fischer 1998. 235 Leopold von Wiese: Der Mensch als Mitmensch, Bern/München: Dalp 1964, S. 85. Wobei die ‚Staatsbildung’ sechstausend Jahre nach der neo- lithischen Revolution, die durch die Nutzbarmachung von Tieren und Pflan- zen gekennzeichnet war, wie die kulturelle Selbstdomestikation der Men- schen erscheint. 90

und durch Sinnmuster samt Repression legitimiert und geschützt wur- de.236 Sichtbarster/extremster Ausdruck dieser Subjugation als histo- risch normale Art und Weise der Vergesellschaftung war die bis in die frühe Neuzeit hinein übliche/geduldete Sklaverei.237 Selbst wenn i- deengeschichtlich die Furcht vor dieser räuberischen Spielart der Un- terdrückung seit der Antike dazu führte, in Abgrenzung gegen ihre Ri- siken über freiheitlichere Sozialmuster nachzudenken238, haftete an

Herrschaft als Unterdrückung realiter „das Moment des Furchtbaren“

(Adorno); und selbst diese Debatten, die ‚Freiheit’ immerhin als so- ziales Privileg identifizierten und damit gedanklich die Fatalität von

Unterdrückung in Frage stellten, blieben - sogar später im Kontext der

Vision von einer Volkssouveränität - in die „Philosophie der Herr- schaftslegitimation“239 eingebettet. Trotz aller Distanz zum Feudalis- mus erschwerte es der gewohnte Obrigkeitsüberhang noch den früh- bürgerlichen Theoretikern, die überlieferte/festsitzende Oben-Unten-

Schablone zu umgehen und damit wenigstens für ihre Zukunftsbilder ohne Neuformulierungen von Unterdrückung auszukommen, indem die

Konstruktion von Ordnung auf Modellen formalisierter Zu- und Ab- stimmung fußen sollte. Die womöglich fortbestehende Oben-Unten-

Konstellation wäre solchermaßen etwa im Sinne einer sachlichen Auf- gabenteilung (Administration ~ Produktion) funktionalisiert, stellte keinen ewigen Kontrast und damit keinen Stein des politischen Ansto-

ßes mehr dar.

236 Vgl. J. Vialatoux: La répression et la torture. Essai de philosophie mo- rale et politique, Paris: Éditions ouvrières 1957. 237 Vgl. David B. Davis: The Problem of Slavery in Western Culture, New York: Cornell UP 1966. 238 Nicht zuletzt, weil sie auch die knapp darüber gelagerte Schichten ge- fährdete, vgl. Orlando Patterson: Freedom, Bd. 1: Freedom in the Making of Western Culture, New York: Basic Books 1991. 239 Wolfgang Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertra- ges, Darmstadt: WBG 1996, S. 11. 91

Der Übergang von den mit proto-institutionellen Mitteln kontrollierten,

ökonomisch weitgehend als ‚Selbstorganisation’ funktionierenden segmentären Gesellschaften (Poly- oder Akephalie) zur Stratifikatorik gestaltete sich kleptokratisch als Unterwerfung der Produktion unter die Herrschaft der Staatlichkeit als „Spätankömmling auf der Bühne“

(Shennan). Die frühen Formen der Hierarchie unterstehen dem oder kooperieren mit dem Glaubenssystem (Priester-Herrschaft), in das zugleich frei nach ‚Gewalt > Politik’ das Rechtssystem einbezogen ist.

Politik als separate Sphäre, in der/durch die Bedürfnisse der Bevölke- rung artikuliert werden, konnte sich während der Antike trotz mögli- cher secessio plebis nicht entwickeln. Zum einen fehlte das autonome

Individuum als eigenmächtiger Sozialagent seiner öffentlichen Ange- legenheiten240, zum anderen fanden sich auf dem Areopag241 oder im

Senat ausschließlich Vertreter androkratischer Sozialgruppen, die di- rekt herrschten oder an der bestehenden Unterdrückung (Sklaverei) beziehungsweise Ausgrenzung (Metöken, Frauen) teilhatten. Ein sub- jektives öffentliches Recht der Bürger gegen die Eliten wurde in den

Entscheidungszentren der Alten Welt nirgends formuliert, an eine Auf- hebung der Unterdrückung als Prius oder Reserve der Politik gar war nicht zu denken. Die partielle Freisetzung der ‘Politik’ als „Polis- gesellschaft“ (Christian Meier) im antiken Athen seit Solon, Kleisthe- nes oder Ephialtes (formal-demokratische Vormacht der Distinktion)

überzieht Herrschaft als Willkür mit einem mäßigenden Regelfilter im

240 Im Sinne von Numa-Denis Fustel de Coulanges (La cité antique (1864), Paris: Hachette 1963): „Le citoyen était en toutes choses et sans nulle réserve à la cité ... Il n’ en avait pas même l’ idée de la liberté individuel- le“ (S. 165/169). 241 Trotz der These eines Robert von Pöhlmann (Die Anfänge des Sozia- lismus in Europa, Historische Zeitung 79 (1897), S. 385 ff., a.a.O. 80 (1898), S. 193 ff.), dass sich seit den Zeiten Hesiods egalitäre Forderun- gen/Formen in der urbanen Sozialentwicklung finden, die allerdings nur zeitweilig erreichbar waren und zudem in ihrer allgemeinen Exklusivi- tät/politischen Gruppenbegrenzung mit dem Gehalt der modernen Sozial- staatlichkeit als Folge sozialistischer Impulse unvergleichbar sind. 92

Sinne einer Verringerung des Abstandes zwischen Regierenden und

Regierten242, was den δ ή µ ος (i.e. die waffenfähigen freien Männer) politisierte; indes bleibt die Subsistenzsicherung weiterhin gelenkt, schon weil sie auch auf Sklavenarbeit ruht, so dass alle Gleichstel- lungsbemühungen auf die „rein politische Sphäre“ beschränkt waren, wie Jochen Bleicken betont243. Sozial-emanzipatorische Konnotatio- nen fehlten im Umfeld dieser „Sekte, die sich heraushebt mit unerhör- ter aristokratischer Geste gegenüber ihrer Umwelt“ (Berve) völlig. Je- ne allgemeine, so oder so ideologisch geschützte Oben-Unten-

Dichotomie steht nie und nirgends zur Debatte oder Disposition.244

Die Monopolisierung der Macht (Staat > Wirt- schaft/Recht/‚Politik’/Religion(en) etc.) war in Rom noch ausgeprägter

- um von asiatischen etc. Regimen nicht zu reden -, allenthalben in der Vergangenheit platzierte die „Strukturverhältnisgewalt“ (Galtung) die Menschen als Herren/Herrscher oder Dienstpersonal/Untertanen:

Üblicherweise und/oder residual durch Gewaltsamkeit, die den Körper als Medium der Einschüchterung adressierte. Obwohl Denkarbeit245 diese Kalamität punktuell ebenso in Frage stellte wie sie zuweilen durch Krisen und Katastrophen der Reiche und Dynastien seit den Ta-

242 Vgl. kritisch zum Problem der attischen Politik Tuttu Tarkiainen: Die athenische Demokratie, Zürich: Artemis 1966. 243 Die athenische Demokratie, Paderborn u.a.: Schöningh 1986, S. 262. 244 Zwang und Hierarchie mitsamt ihrer Lastübertragung (πόνος) an die Abhängigen waren die ungeschriebenen Gesetze für die Massen der Anti- ke. Obschon laut Christian Meier (Athen. Ein Neubeginn der Weltgrschich- te, Berlin: Siedler 1993, S. 128 ff.) in der attischen Politik selbst Unter- schichten zur „politischen Gleichberechtigung“ aufsteigen konnten, blieben die aus der ‚Heroenzeit’ überlieferten Vertikalbarrieren zwischen Hoch und Niedrig trotz der Radikal-Demokratie-These von M. H. Hansen (Die atheni- sche Demokratie im Zeitalter des Demonsthenes, Berlin: Akademie 1995, S. 315 ff.) gleichwohl intakt, die sich bereits als Mahnung in der ‚Ilias’ [II 188 ff.] an das Volk finden: Bleibe an deinem Platz und verhalte dich ru- hig! 245 John E. E. Dalberg-Acton: Freedom in Antiquity, in ders.: The History of Freedom and other Essays, London: MacMillan 1909, S. 1 ff.; Belege bei Rudolf Stanka: Die politische Philosophie des Altertum, Wien/Köln: Sexl 1951. 93

gen Djosers in Altägypten oder der Autoritätsfestigung durch die chi- nesische Shang-Dynastie erkenntlich wurde, blieb Unterdrückung als

System der Ausdruck politisch-sozialer Strukturimmobilitäten im Sinne von ‚Faustrecht/Recht der Stärke = Naturrecht’.

Das Christentum als Versprechen von Gleichheit und Erlösung änder- te an der allgemeinen Unterdrückungslast wenig. Selbst in der „Spe- zialsphäre ideologischer Macht“ (Michael Mann) sah sich die Kirche mit Blick auf die Gesellschaft und auf die eigene Organisation (Häre- tikerverfolgung) genötigt, frühere Gleichheitsvisionen (Volksglaube) mit Hierarchie (Theologie + Eliteordnung) abzugleichen. Auch ihr ge- riet schon zur Zeit der Urkirche die Billigung der bestehenden Ord- nung zur Apologie, wiewohl die Bilder von einer demokratischen Ge- meinde nicht gänzlich verloren gingen, so dass sich laut Glaubensge- schichte - zuweilen - einiger Protest gegen Repression gleichermaßen im Mantel christlicher Lehre präsentierte. Machtgeschichtlich fallen im Mittelalter Ideologie (Kirche)/Herrschaft/Wirtschaft als Feudalisie- rung im Sinne jener „ursprünglichen Unterdrückung der Niederen durch die Überlegenen“246 zusammen, seit mit den Wikinger-Einfällen die Reste der antik-städtischen Großraumstrukturen zerfallen waren.

Der ‚Staat’ wirkte vorerst hilflos gegenüber lokalisierten Zuständig- keiten, die zugleich durch Privilegien/Rechte/Waffen/Mythen ge- schützt waren; überdies benötigte er geistlichen Beistand. Das „Wun- der Europas“ (Jones) als späterer Weltentwicklungsmotor und zugleich emanzipatorische Ideenwerkstatt wurde weniger durch ideo- logisch-religiöse Kritik am Bestehenden247 initiiert als vielmehr durch

246 Barante: Des communes (Anm. 117), S. 27. 247 Vgl. Fritz Kern: Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im frühen Mit- telalter, Darmstadt WBG ³1962, S. 138 ff.: Friedrich Bezold: Die Lehre von der Volkssouveränität während des Mittelalters, Historische Zeitschrift 36 (1876), S. 313 ff. 94

die innere Differenzierung der gesellschaftlichen Subsysteme248

(Glauben/Macht/Politik/Wirtschaft/Wissen ff.) ermöglicht.249 Städ- te/Bürger und Königtum vereinten sich gegen die Macht der Lokalität, der dadurch erstarkende monarchische Staatskern distanzierte sich in diesem, wenngleich noch personalisierten Prozess der Machtzentrali- sierung als Verwaltungs- und Versachlichungsvorgang vom Religions- rahmen, schuf durch Adaption römischer Kodifikationen zudem ein ob- jektiveres Recht als eigenwertiges Subsystem, kontrollierte im Mer- kantilismus zunächst noch die Wirtschaft, bis durch die Industrielle

Revolution und den Liberalismus (Laisser-faire-Prinzip) der Staat vor- erst aus dem Marktgeschehen gedrängt werden konnte. Im Lauf der

Zeit sah sich durch Eliten-Zwiste, als Folge des Aufkommens neuer

Schichten und ihrer Ansprüche auf Mitsprache und die dadurch sich artikulierende Konkurrenz um die Machtverwaltung zugleich die nor- mativ/mental/repressive Rechtmäßigkeit der Obrigkeiten angezweifelt.

Dieser Aufklärungsschub ermöglichte es letztlich, dass auch Formen,

Notwendigkeiten sowie mögliche Gegenmodelle der/zur Unterdrückung thematisiert werden konnten.

Infragestellung

Nach heftigen Kämpfen um die ideologische Vormacht zwischen den altständischen Elitefraktionen, die mit „répression brutale“ (Mandrou) und Meinungsterror noch auf dem Boden der Unterdrückungslogik um

248 Überhaupt der einzelnen Staatssysteme selbst als wettstreitende Sub- systeme des europäischen Kulturkreises, vgl. über den Vormachtwettlauf und damit die innere Modernisierung als Resultante aus dem ununterbro- chenen Zwischenstaatenkonflikt V. L. Burke (Anm. 141). 249 Im Gegensatz zur stagnierenden Verblockung [U = (ƒ) Herrschaft ↔ (R) +/= Wirtschaft +/= Glaube +/= Recht: - Alternativen/Widerspruch ff.] der Führungsstrukturen und Sozialverhältnisse in anderen Kulturgroßreichräu- men. 95

deren Kontrolle rangen, wird seit dem 17. Jahrhundert eine neue Ver- hältnisregelung von Staat (> Gesellschaft = Absolutismus) und Ge- sellschaft (via Politik > Staat) nötig/üblich. Sie erlaubte es nicht nur,

Unterdrückung überhaupt als solche zu identifizieren/zu benennen, sondern diese zugleich abzutragen. Das Politische gerät seither als

(relativ) autonome Vermittlungsinstanz zum Austragungsort konkurrie- render Sozialvorstellungen250, die sich vor der Öffentlichkeit/den

Wählern als Schieds- und Sittenrichter behaupten müssen und inso- fern die allgemeine Anspruchsrevolution der Fabrikwelt spiegeln. In der Massengesellschaft der Neuzeit wird Unterdrückung nicht nur po- litisch zum Skandalon; vermittelt durch das Ideal der Chancengleich- heit als Konsequenz der Leistungs-Zuteilung dringt die Auskundschaf- tung und Kritik von Unterdrückung zusätzlich immer tiefer in die Ge- sellschaft vor. Diese „Unterdrückungspsychose“ (Herbert A. Miller) der Moderne scheint vor nichts und niemand Halt zu machen. Der neuzeitliche Interventionsstaat hat im Interesse der Bürger sozial, kulturell, geschlechtsspezifisch etc. für Ausgleich zu sorgen, um in

Benachteiligungen aller Art verborgene Unterdrückungslagen zu min- dern.

„Ueberall wird die Mehrheit ohne Gewalt von der Minderheit mit Ge- walt ... geleitet“.251 Im Sinne der Zustimmungspflichtigkeit aller Re- gierungsarbeit hat sich Unterdrückung in diesem Verständnis für die

Hochmoderne erledigt, obschon Gewalt und ihre Gewalttätigkeitsfor- men auch offiziell allpräsent bleiben, noch im Jahr 2000 beispielswei-

250 Das Religionssystem verlor seine Prägemacht, an seine Stelle trat die Wissenschaft als Produktivkraft, hinzu kam die öffentliche Meinung (Me- dien) als Informations- und Kritikinstrument gegenüber Staat und Regie- rung: Der öffentliche Raum wurde durch Übertragung der Konkurrenzregel (Parteienwettbewerb) auf die Politik bestellt und nicht mehr durch die Macht der Macht. 251 Andreas Riem: Reise durch Frankreich vor und nach der Revolution, Leipzig: Fleischer 1799, Bd. 1, S. 205. 96

se wird in 117 Staaten der Erde gefoltert. Bestimmen + Gehorchen252 bestehen zwar weiter, sie sind in den vielen Feldern der Politik - nicht nur im Vergleich zu früher - kaum mehr mit der althergebrachten

Arroganz gleichzusetzen.253 Zwar herrscht handfeste Unterdrückung in Schattensektoren (Kriminalität etc.) der Gesellschaft oder im Pri- vatbereich (Gewalt in der Familie), freilich nicht als gebillig- tes/normales, sondern als sanktioniertes Verhalten. Aber der „allge- meine repressive Charakter jeder Gesellschaftsordnung“ bleibt erhal- ten254, weil er mit der Rollen-Vergesellschaftung als Verschattung humaner Spontaneität durch „sekundäre Systeme“ (Freyer) gleichzu- setzen ist. Zugleich reicht die öffentliche Regelungskompetenz be- grenzt in das Marktgeschehen hinein, das als Privatsphäre (Eigen- tum255) sakrosankt ist und dessen Planbarkeit gegen Null geht. Zwar unterliegen die arbeitsweltlichen Verhaltenszwänge, die auch in der

Postmoderne - wenn etwas - Unterdrückung nahekommen (Vernut- zung/Bossing/Zustimmungsentpflichtung/Gehorsam/Entfremdung/Aneig nungsverhältnisse ff.) können, der Einsprache konkurrierender Ver- bände (Gewerkschaften) und sind der Regelungsgewalt des Rechts nicht entzogen. Aber der Staat als Versuch, Zugehörigkeit mit Aner- kennung und Lageausgleich zu koppeln, findet seine Grenze am wirt-

252 Vgl. Peter Imbusch (Hrsg.): Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaft- liche Konzepte und Theorien, Opladen: Leske + Budrich 1998. 253 Mit Link (Anm. 191, S. 276 ff.) hat die Moderne es mit einer „flexibel- normalistischen Taktik“ zu tun, welche eine Adaption des Widerständigen, Paradoxen, Verqueren, Beschädigenden ff. ermöglicht, ohne realiter die Last der Anpassung zu mindern, so dass durchgehend von einer Art fideler Selbstunterdrückung für fremde Zwecke zu reden wäre, die frei nach ‚Was uns erhält, vernutzt uns’ (Adorno) indes zugleich nicht mehr als sach- zwanghaft auszumachen ist. 254 Dieter Claessens: Über gesellschaftlichen Druck, Angst und Furcht, in: Heinz Wiesbrock (Hrsg.): Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, Frankfurt am Main: EVA 1967, S. 135 - 149, hier S. 136. 255 Das laut Maximilien Robespierre (Sur les subsistances [2. 12. 1792], Textes choisis, Hrsg. Jean Poperen, 3 Bände, Paris: Éditions sociales 1957/1958/1974, Band 2, S. 82 ff., hier 85) wiederum das Recht begründe- te, „de dépouiller ... ses semblables“. 97

schaftlichen Recht des Stärkeren. Die Postmoderne erlebt die Domi- nanz des Marktes, der im Zeitalter des Globalismus kaum Hemmun- gen/Regelungen erträgt256 und sich seinerseits anschickt, das Rendi- teprinzip etwa frei nach

Ö Wertschöpfung > Lebensfreude

Ö Obsoleszenzproduktion > ökologische/kulturelle ff. Vielfalt mitsamt den innerhalb der Arbeitswelt bestehenden Zwängen zur Ü- berlebensregel der Wirtschaftsstandorte zu erklären. „Unterdrückung lässt sich schwerlich vollständig aufheben, solange Gründe bestehen, die sie hervorrufen“, kommentierte Simone Weil257 diese Lage. „Sie aber entsprechen den objektiven Bedingungen ... der Sozialorganisa- tion selbst.“ Wenn es „markt-naturalistisch“ (Max Weber) vor allem nach Rendite/Effizienz/Konkurrenz/Flexibilität geht, nicht aber nach

Solidarität (Interaktionskapital) beziehungsweise nach Selbstbestim- mung, unterliegt die Gesellschaft sozialbiologischen ‚Gesetzen’ des

Dschungels258: Unterdrückung samt Herrschaftseliten wären/würden wieder ‚normal’ - wie zu Anfang der Geschichte, wenngleich in gefäl- ligerem Gewand etwa als ‚Mediokratie’, wie bereits Balzac die Erset- zung der älteren physischen Herrschaftsformen durch unsichtbare

Meinungsfesseln kennzeichnete.

***

Elitewirken

256 Vgl. Kent E. Calder: Strategic Capitalism, Princeton: Princeton UP 1993. 257 Analyse de l’ oppression, in dies.: Oppression et liberté, Paris: Galli- mard 1955, S. 81. 258 Vgl. Philippe Thureau-Dangin: Die Beine der Konkurrenz. Wenn Wett- bewerb zur leitenden Idee wird: Eine Gesellschaft ohne Schatten und eine Gegenwart ohne Zukunft, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. 9. 1998, S. I f. 98

Solange die durchweg männliche Arroganz der Macht als regulatori- sche Unterdrückung ohne Ausweg einigermaßen reibungslos wirkte, waren Stellung und Ansehen der ersten Reihe ‚funktional’ begründet und blieben damit stabil, oft über große Zeiträume hinweg. Denn

„nicht - wie diejenigen glauben, welche hypnotisiert in die Tiefen der

Gesellschaft starren - bei den Massen liegt die Gefahr. Nicht eine

Frage nach der ökonomischen Lage der Beherrschten, sondern die vielmehr nach der politischen Qualifikation der Herrschenden... ist auch der letzte Inhalt des sozial-politischen Problems.“259 Die Bevöl- kerungen lassen sich, wo immer, jedenfalls mit Blick zurück in die

Vergangenheit sozialer Ordnungsmuster als alles mögliche bezeich- nen, sicherlich nicht jedoch als aufrührerisch: Die „Hydra der Revolu- tion“ (Franz Hitze) ließ sich selten sehen. Eher sind die Menschen

Gehorsamsstreber, ohne jenen „fatalen Instinkt“, der Balzac260 so ve- rärgte, „sich selbst regieren zu wollen“, das Sicherheitsverlangen rangiert politanthropologisch fraglos vor dem Freiheitsbedürfnis. Das müsste „alle Nachdenklichen in Erstaunen versetzen“261, hat Herr- schaft in allen ihren Spielarten ungemein erleichtert. Offenbar über- tragen die Menschen Anpassung und Vertrauen der familialen Sphäre mühelos auf den öffentlichen Raum.262 Der Entfremdungs- und Diver- sifikationsprozess per Arbeits- als Kommunikationsteilung aller Hoch- kulturen lässt sich zudem als „Selbstdomestikation“ (René König) be- schreiben. Die Menschen unterliegen dem sozialen Prozess, den sie

259 Max Weber: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (1895), Gesammelte politische Schriften, München: Drei Masken 1921, S. 29. 260 Du gouvernement moderne (1832), zit. Gerald Messadié: Balzac. La conscience insurgée, Paris: Édit1ion 1999, S. 92. 261 Denn „c’ est une ... idée presque mystérieuse“, notierte Jacques Ne- cker (Du pouvoir exécutif dans les grands états, Paris 1792, S. 20 f.), „que l’ obéissance du très grand nombre au très petit nombre.“ 262 Zur sozialhistorischen Logik dieses Verhalten vgl. Michael Mann: Ge- schichte der Macht, 1. Band, Frankfurt am Main/New York: Campus 1990, S. 23; zu deren sozialpsychologischen Begründung vgl. Popitz: Prozesse (Anm. 192), S. 33 ff. 99

interaktiv mitschaffen und in Gang halten. Das Ergebnis stellt immer anderes/mehr dar, als die Epochen intendiert haben mögen.263 Diese

Kontextualisierung folgt keinem geheimen Plan (Hegel) und wirkt auch nicht entelechetisch (Marx); sie ist man-made264, wiewohl nicht ganz

„aus freien Stücken“ (Engels). Vergesellschaftung gleicht dem perma- nenten Versuch, wenigstens kollektiv nicht wieder ins Instinktive ab- zurutschen. Unbeabsichtigte/resultierende Nebeneffekte wie Macht- verkrustungen, Distanz o.ä. sind bei aller Gegenwarts- oder Nachträg- lichkeitskritik dennoch als Ursachenursache inhärente Kultureffek- te.265 Daher rührt vielleicht jener Zug zur „heiligen Versteinerung“266, der institutionengeschichtlich allemal fixieren half, was Halt bot in

Raum, Zeit und/oder dem sozialen Labyrinth. Der Bevölkerungen we- gen jedenfalls war jener Seufzer nicht zu hören, wonach „bekrönte

Häupter unruhig schlafen“.267 Die Regierungslast ergab sich eher aus

Elitenrangeleien. Bevormundung ist offenbar leichter zu erdulden als

Unordnung, wobei es sich um höchst kulturrelative Größen handelt.

Freiheit ist eine Frage der Wahrnehmung, jedenfalls solange politi- sche Muster fehlen, durch die sich festgelegt sieht, was zur Mindest- ausstattung offener Verhältnisse zählt. Daher verharrte die Mehrheit

263 Weswegen Kant so wenig wie möglich durch Gesetzgebungsakte ein- greifen, sondern nur formale Rahmen setzen lassen wollte. 264 Die Sozialwissenschaften repräsentieren gleichsam den historischen Abstraktionsgrad, um jenes Geschehen als Kräfteparalellogramm zu erfas- sen, das aufzeigt, nach welchen Regelmäßigkeiten/Sachzwängen sich die- ses Mehrprodukt (= Quersumme aller Sozialhandlungen) gestaltet. Als ‚Ge- sellschaftlichkeit’ wurde es von Adam Ferguson bereits im 18. Jahrhundert als eigenständige Dynamik ausgemacht, die sich allen transzendenten Be- stimmungen entzieht. 265 Alternativpläne haben folglich zu begründen, welche Faktoren sie wann und warum modifizieren wollen, um etwas zu verbessern, und nicht nur zu verändern. Es gibt trotz Normalisierungsdruck nicht nur eine soziale Reali- tät, wenn auch nur eine Umwelt dieser Realitäten, und im Einzelfall nur einen Ursachennexus für soziales Handeln, das sich so oder so zu histori- schen Bedingungen verdichtet. 266 Burckhardt: Über das Studium (Anm. 8), S. 125. 267 Shakespeare: King Henry the Fourth, Teil 2, 3. Akt, 1. Szene, Vers 31. 100

samt Seinswelten im geschichtsnotorischen Gehorsamsschlaf268, bis die Industriemoderne wider Willen, wenngleich aus funktionalen

Gründen das „Aufkommen der Rotüre“ (Fontane) erzwang. „Wenige wollen Freiheit, die große Menge erhofft gerechte Herren“. Derart sah sich diese Anspruchslosigkeit269 frühzeitig kommentiert, die seit der

Renaissance allerdings durch Widerprüche zwischen

- der Existenz als ξωον πολιτικον und

- den gleichzeitigen Ansprüchen als ξωον λογικον gestört wurde. Nichts wünscht sich der Einzelne zudem mehr als Zu- gehörigkeit270, die Identität stiften soll und Gemeinschaftlichkeit ver- spricht. Und der entsprechende „Wille zur Verehrung“ (Tarde) für - je nachdem - Heilige, Helden, Führer, Stars oder sonstige Figuren mit

Nimbus und Prestige scheint eines der stärksten Gruppenbedürfnisse zu sein, da Affirmationswilligkeit pur noch jede Sozialfiguration ge- tragen hat, Anpassungsverzerrungen hin oder Unstimmigkeiten her, um von Uniformisierungstendenzen im Zeitalter der Individualisierung gar nicht zu reden.

„Regierungen werden aus Gehorsam geformt“ (Burke). Daher blieben

Eliten meist am Ruder, auch wenn sie, wie zuletzt der Adel271, längst parasitär geworden waren, weil sie - außer vielleicht in medialen

Traumwelten - keine Allgemeinwohl-Aufgaben272 mehr erfüllten, aber

268 Und der keineswegs für die - allerdings begründungspolemische - Be- hauptung von Hugo Grotius (Drei Bücher über das Recht des Krieges und Friedens [Anm. 182], S. 24) spricht, wonach der „gesellige Trieb zu einer ruhigen und nach dem Maass seiner Einsicht geordneten Gemeinschaft mit Seinesgleichen“ strebt. 269 „Pauci libertatem, pars magna iustos dominos volunt“, Sallust: Histori- ae, Hrsg. Otto Leggewie, Stuttgart: Reclam 1975, S. 66. 270 Zu den sozialkybernetischen Hintergründen vgl. Das Milgram- Experiment (Anm. 219), S. 158 ff. 271 Vgl. schon Francis Bacon: Über den Adel (1597), in Anm. 137, S. 95 ff. 272 Der Begriff des Gemeinwohls stößt in Zeiten des Pluralismus auf Skep- sis, weil er der Fragmentierung schwer standhält, höchstens noch Summe der Konsensbildung sein kann im Sinne von „bonum commune consurgit ex bonis singulorum“ (Francisco Suárez). Mit diesem Dilemma hat sich bereits Rousseau herumgequält, indem für ihn der Mehrheitswille einer mystischen 101

Ansprüche stellten. In den Wechselfällen der Politik als Kunst der

Stellvertretung auf höherer Stufe bildete das Auf und Ab der Optima- ten geschichtlich im Regelfall das Ergebnis von äußeren Einflüssen, jenen „Wechselfällen der Dinge“ mithin273, die zu sozialen Umbauten führten. Herrschaftswechsel durch Auflehnung des „großen Haufens“

(Goethe) blieb die Ausnahme, wie gesagt. Was nicht heißt, dass die unzähligen Generationen, die sich im Dunkel der Zeiten verlieren, trotz des offensichtlichen „Bedürfnisses nach Führertum“274 das Ver- halten ihrer jeweiligen Obrigkeit ohne Wenn und Aber guthießen. Vor allem dann nicht, wenn diese - aus welchen Gründen immer - „darauf verzichtet zu führen“. Solchermaßen geriet mit Arnold Toynbee275 nicht nur „der Besitz der Macht zum Missbrauch“; vielmehr sahen sich

Stadt und Land durch die Verwahrlosung der öffentlichen Belange ge- fährdet, nicht zuletzt durch eine nun ziellose libido dominandi selbst.

volonté générale nachgeordnet blieb. Wie Nationalcharakter, Stil oder An- stand teilt „Gemeinwohl“ die Bedeutungsunschärfe eines Annäherungsbeg- riffes, dessen Konnotationshorizont ausufert. Zugleich haben wir es im Rahmen nicht-kontraktueller Elemente des Sozialkontraktes mit einer regu- lativen Idee zu tun, von der jedes Gesellschaftsmitglied ahnt, worum es sich handelt, weil der Mensch als animal symbolicum mühelos Identifikati- onen schafft, vor allem in Ausnahmesituationen, wo die Soziologie nur Dif- ferenzen zu erkennen vermag. Das teleologische Mehr des Allgemeinwohl- begriffes ist unschwer zu definieren als inversive Zielsetzung, die über Einzelinteressen (Vorteil/Selbstverwirklichung/Rendite etc.) hinausweist, und doch - wie in der Umweltfrage ersichtlich - zu sichern/lösen ist, damit erstere sich futurisch überhaupt (weiter) ausleben können. Schwieriger wird es bei der Festlegung einer eher immateriellen Relevanz dieses Vor- stellungsraumes als Bezugsgröße von Verantwortlichkeit (Plessner), die bei Alain Finkielkraut oder Michael Walzer dem Mythos multikultureller Un- körperlichkeit beziehungsweise der Zeit- wie Raumlosigkeit mit Argumen- ten der Für(etwas)-Sorge und des Um-zu-Tuns aller menschlichen Initiati- ven entgegentritt. 273 Über die Otto von Freising (Chronica sive historia de duabus civitati- bus, Hrsg. Walther Lammers, Darmstadt: WBG 1961, S. 4) schon im 12. Jahrhundert klagte. 274 Max Weber: Politik als Beruf, MWG I/17, Tübingen: Mohr 1992, S. 113 ff., hier S. 225. 275 Der Gang der Weltgeschichte, 2 Bände, Zürich u.a.: Europa-Verlag 5 1961, Band 1, S. 274 f. 102

Offenheit

Mit dem Herannahen der Moderne seit dem späten 18. Jahrhundert unterlagen neue Eliten in Staat und Gesellschaft der Bestätigung durch die Mitsprache der Bevölkerung, die via Leistung ihrerseits bald in die oberen Ränge aufrücken konnte.276 Das Wirken der „Oberen-

Oberen“ (Margaret Mead) wurde in der Neuzeit zudem öffentlich erör- tert, wobei frei nach „Politik als Beruf“ (Max Weber) weniger die

Loyalitätsproduktion277, als vielmehr der Wettstreit um Anordnungs-

Anteile zum Gewerbe der front runners geriet, ohne dass durch diese

Rückkoppelung nach unten das Ausmaß der Herrschaft beziehungs- weise innergesellschaftlicher Willkür abgenommen hätte278. Aus der

Heteronomie, die bereits Pierre Leroux279 kritisch ausmalte, wurde die Epoche längst nicht entlassen, nicht einmal jenseits der Grenzen der Arbeitswelt. Im Gegenteil, mit Lorenz von Stein280, Jahrgang

1815, sahen sich neue, soziologisch-versierte Integrationslehren ent- worfen, die per

- Durchschulung (mental)

- Umverteilung (sozial)

- Beteiligung der Oppositionskräfte (politisch)

276 Vgl. Karl Otto Hondrich: Demokratisierung und Leistungsgeselsschaft, Stuttgart: Kohlhammer 1972. 277 Denn Loyalität ist ein Sozialrohstoff, der als Gruppenerbteil der Evolu- tion jede Vergesellungschance grundiert, vgl. Ranyard West: Conscience and Society. A Study of Psychological Prerequisites of Law and Order, London: Methuen 1942, S. 213 ff. 278 Vgl. Pierre Rosanvallon: Le peuple introuvable, Paris: Gallimard 1998. Das trifft trotz der Duldung/Zulassung von politischen oder auch sozialen Oppositionskräften zu. Diese Gegeneliten unterlagen ähnlichen „Oligarchi- sierungstendenzen“ (Michels), wie sie die amtierenden Rangreihen präg- ten. 279 De l’ individualisme et du socialisme (1834), in ders.: De l’ égalité etc., Hrsg. Bruno Viard, Paris/Genf: Fleuron 1996, S. 41 ff. 280 Siehe Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (1850), 3 Bände, Darmstadt: WBG 1959. 103

- Übertragung von Kontrollkosten an Gegeneliten (instrumentell)

- Zugehörigkeits-Normalisierung (symbolisch) etc. den innergesellschaftlichen Abstand trotz/wegen neuer Mobilitäts- chancen stabilisieren helfen sollten. Desorientierung als (f ) sozialer

Fragmentierung + normativer Gleichgültigkeit + Sinndiffusion, addiert zur wachsenden Komplexität samt Reduktionsanstrengunen und ge- stiegenen Leistungsanforderungen, schufen über neue Anforderungs- raster zugleich moderne Elitenprofile. Laut Ernst Robert Curtius281 sind Spitzenkräfte „für keine Staatsform unentbehrlicher als für die

Demokratie“. Die offene Gesellschaft stellt eine verwirrende Welt der

Aufgabenteilung zwischen abweichenden/unterschiedlichen Seinswei- sen, Problemfeldern beziehungsweise Produktionswelten dar, die auf

Gedeih und Verderb eine Optimierung ihres Leitungspersonals ver- langt. Obschon nur 16 Prozent der Bevölkerung für die besondere

Förderung von Leistungseliten plädieren, sich 82 Prozent hingegen für mehr Chancengleichheit282 aussprechen, durchlebte jene „Regie- rung des Volkes durch das Volk für das Volk“ (Lincoln) eine explosive

Vermehrung von Rangplätzen. Mag es neuzeitlich nach dem Kriterium der Exzellenz gehen und nicht mehr nach ererbten oder sonstwie zu- gewiesenen Rollen, das Oben-Unten-Gefälle gleichsam als „das Un- veränderliche, Regelhafte in den geschichtlichen Vorgängen" (Dilthey) wurde darum kaum geringer. Dennoch fiel der Elitenzugang poröser aus, nahmen die Abstiegsgefahren zu und spielten sich innergesell- schaftliche Einebnungsprozesse ab. Sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft - um nur diese Einflussbühnen zu nennen - haben sich trotz aller demokratischen oder sozialpolitischen Bemühungen um

Durchlässigkeit beziehungsweise Chancenöffnungen die innergesell-

281 Deutscher Geist in Gefahr, Stuttgart/Berlin: DVA 1932, S. 77. 282 In der für das Gedeihen der heutigen Wissensgesellschaft ausschlag- gebenden Bildungspolitik, vgl. Emnid-Erhebung, Der Spiegel Nr. 52 (1997), S. 37. 104

schaftliche Distinktion und somit Ausstattungs-Gefälle erhalten, wenn nicht gar ausgeweitet, so dass nach wie vor von Schichtung zu spre- chen ist283, wo sich empirisch scheinbar ausschließlich ‚Milieus’ ver- messen lassen. Die eifrige lllusionspflege der Marktmoderne, wonach ausschließlich jeder selbst sein Geschick verantwortet, erschwert in- des den Blick auf soziale Verhärtungen hinter den medial gestilten

Mobilitätsallüren unserer Zelebritätskultur. Gleichwohl erweist sich die Banalisierung der Ausgrenzung284 als „kalte Wirklichkeit“ (Hegel) nach der Formel ‚Anomie[Kriminalität, Desorientierung ff.] = (f ) Benachteili- gung[(Σ ) Ungleichheit] + x Faktoren‘ zunehmend als sozialproblematisch gleichermaßen für Oben wie Unten, weil detrimentale Folgen der neu- en Kälte ebenso unkalkulierbar über die Gesellschaft streuen wie öko- logische Gefährdungen, trotz verstärkter Abschirmungsanstrengungen der Superreichen.

Schichtung fällt von Land zu Land unterschiedlich aus, Eliten indes sind in allen Staaten federführend. Mit dem Begriff ‚Elite’ werden seit

Harold Lasswell285 summarisch wie lapidar jene Höhergestellten defi- niert, „die am meisten von allem bekommen“. Auch nach Ablösung der alten Oberschichten durch eine Vielzahl spezialisierter ElitenF ist die

Rede von einer sehr kleinen, auf weniger als 0, 3 Prozent der Bevöl- kerung beschränkten Minderheit von top dogs, die im Wirtschaftsbe- reich über weit mehr Reichtum verfügt, in der Politik größere Macht ausübt, in der Kultur breitere Wissensreserven verwendet oder als

Mitglied von Standeseliten - man denke an Richter oder Ärzte - höhe- res Ansehen genießt als der Durchschnittsbürger, so dass sich Stel- lung (Spitze einer sozialen Rangordnung) und Ausübung von Funktio-

283 Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftli- chen Urteilskraft (1979), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 707 ff. 284 Dazu Christophe Dejours: Souffrance en France, Paris: Seuil 1998. 285 Politics: Who Gets What, When, How?, New York: McGraw-Hill 1936, S. 13. 105

nen (verbindliche Entscheidungen zu treffen) ergänzen. Durch das, was die Eliteforschung als „Agglutination“286 bezeichnet, sichert sich diese crème de la crème zudem Sondervorteile einer neuen Ober- schicht, was bei aller Verbesserung der Lebensausstattung für die breite Menge durchaus an frühere Verhältnisse erinnert, wiewohl die

Medienwelt zur Frustrationsprophylaxe visuelle Gleichzugehörigkeit vorgaukelt und die Asymmetrien mit einer inszenierten „Spaßgesell- schaft“ verhüllt.287 So haben die Reichen, Mächtigen und medial

Sichtbaren einen Hochsitz inne, und ihre Position ist zugleich ein- flussreich und gut situiert. Diese nach nationaler Tradition etc. eher synarchisch, fragmentiert oder konkurrierend auftretende Statuselite besitzt, konsumiert oder reguliert auch in der demokratischen Moder- ne – bei angehobener Allgemeinversorgung mit materiellen und kultu- rellen Gütern samt Mobilitätschancen - den Löwenanteil der Versor- gung, der Macht und des Sachwissens, häuft Respekt an und rekla- miert im Rahmen der geltenden Marktideologie zudem die Unterstel- lung für sich, dass dieser Zustand ebenso verdient wie rechtschaffen sei. Die politische Eselsbrücke, über die solche Ungleichgewichtigkei- ten nicht nur als erträglich, sondern als sinnvoll zu rechtfertigen sind, ist die seit der Aufklärung in den Vordergrund tretende Leistungsideo- logie288, laut der sich Rang und Meriten – beziehungsweise ihr Ge- genteil - entsprechen. Kennzeichen der EliteF als Erfolgsjäger sei es, dass sie im Gegensatz zur Masse der Kopisten nicht nur die notwen-

286 Mithin die Häufung von Zuständigkeiten und Gütern in den Händen ei- ner aus vielerlei Gruppierungen zusammengesetzten Funktionskruste der Gesellschaft, vgl. T. B. Bottomore: Elites and Society, Harmonsworth: Pe- lican 1964, S. 129 ff. 287 Vgl. Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): Jugend ‘97, Opladen: Leske + Budrich 1997, S. 20 f.; auch dasselbe (Hrsg.): Jugend 2000, 2 Bde., Opladen: Leske + Budrich 2000, Band 1, S. 134 ff. 288 Beziehungsweise deren - etwa funktionalistische - Wissenschaftsideo- logie, für die beispielsweise Ungleichheit „ein unbewußt entwickeltes Mit- tel“ der Gesellschaft darstellt, die wichtigsten Positionen tatsächlich elitär zu besetzen, vgl. Kingsley Davis: Human Society, New York: Macmillan 1949, S. 367. 106

digen Blaupausen zeichnet, die unsere Zukunft sichern, sondern diese

„auch verbessert und gegebenenfalls überwindet“.289 Nach solchem

Epochenverständnis einer notwendig elitären Überwölbung der Ge- genwart definiert sich Elite, wo immer sie sich sichtbar bildet, nicht nur als Auswahl auf Grund von Begabung und Spitzenleistung, son- dern ihr komme auch Verantwortung für die Gesellschaft zu, sie sei zugleich als soziales Engagement aufzufassen, wenigstens im Ergeb- nis. Mit Blick auf die sich allenthalben ausbreitende

• Korruption + Sezession oben290

• Frustration und Egozentrik mittig

• Verwahrlosung, Apathie + Exklusion unten bleibt indes offen, ob die Eliten verdienen, was sie beanspruchen?291

Nach welchen Kriterien lassen sich ‚Leistungen’ der Eliten in der Mo- derne für die Bevölkerung bemessen? Und wer wäre für eventuelle

Noxalhaftungen der ruling few in der Postmoderne zuständig, wenn allenthalben eine heterarchische Unzuständigkeit/Gleichgültigkeit be- steht292? Denn eigentlich gilt sozialitär, ‚im gesellschaftlichen Notfall haben Privilegien keinen Bestand‘, was fraglos politische etc. Macht einschließt.

Aufgabe

289 Meinhart Miegel: Wie es oben aussieht, Die Zeit vom 7. 11. 1997, S. 55. 290 Zur modernen Übervorteilungslogik vgl. schon Hans Willgerodt: Grenz- moral und Wirtschaftsordnung, in J. Broermann/Philipp Herder-Dorneich (Hrsg.): Soziale Verantwortung. Festschrift für Goetz Briefs zum 80. Ge- burtstag, Berlin: Duncker & Humblot 1968, S. 141 ff. 291 Kritisch Hans Herbert von Arnim: Der Staat als Beute. Wie Politiker in eigener Sache Gesetze machen, München: Knaur 1993, S. 315 ff. 292 Zu dieser Sicht vgl. Helmut Willke: Ironie des Staates. Grundlinien ei- ner Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhr- kamp 1992, S. 11 ff. 107

Man schreibt das Sommersemester 1961. An der Universität Hamburg hält Arnold Gehlen, Jahrgang 1904, einen breit angekündigten Vortrag

über politische Fragen der Gegenwart. Im riesigen Saal des alten Au- ditorium Maximum am Von-Melle-Park herrscht an diesem schönen

Maitag gähnende Lehre. Nicht des Wetters wegen und auch nicht, weil die Vorlesung zu unchristlicher Stunde stattfindet. Der Vortragende aus Speyer wirkt mit seiner Botschaft vom Wert der Institutionen nicht gerade anziehend auf eine akademische Jugend, die unter der andau- ernden Kanzlerdemokratie Adenauers vom Ausstieg aus zuviel Bevor- mundung und damit von Offenheit und Selbstentwürfen träumt. Den- noch hätte sich der Besuch gelohnt. Gehlen wirkte an diesem Vormit- tag nicht nur brilliant, er nahm zudem frei vortragend heikle Themen der Epoche ins Visier. So streifte er die Frage der zeitgeschichtlichen

Elitenrolle, angesichts der Verstrickungen der Führungsetagen in den

Braunjahren eher ein Tabubereich. Während die Politikwissenschaft mit Otto Stammer293 seit Beginn der Bonner Republik versuchte, den

Elitebegriff ideologisch zu entlasten, indem jede Spur von Wertung, selbst im traditionellen Verständnis einer verdienten Exklusivität nach

„Das Vortreffliche ist nur für Wenige“294, zugunsten reiner Funktions- beschreibungen getilgt wurde, bezog Gehlen sich auf ältere, urteilen- de Vorstellungen der Amtsaufgaben wirklicher, auch im pluralisti- schen Westen dem Gemeinwohl/der Moral verpflichteter Eliten. Mit anschaulichen Beispielen zeichnete der Redner das Bild einer Füh- rungsschicht, die mit

- der tabellarischen Auflistung „der da oben“, wie sie seit Wolfgang

Zapf (Wandlungen der deutschen Elite, München: Piper 1965)

293 Vgl. Das Elitenproblem in der Demokratie, Schmollers Jahrbuch für Ge- setzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Band 71 (1951), Nr. 5, S. 513 ff. 294 „De poco lo perfecto“, wie Baltasar Gracián (Oráculo manual y arte de prudencia (1647), Madrid: Catédra 1995, S. 235) in diesem Sinne schrieb. 108

- der mehr oder weniger erschöpfenden Auskunfts-Suche über die

Einstellung/Haltung der unterschiedlichen Sphären der bigwigs mit

Rudolf Wildenmann (Eliten in der Bundesrepublik, Mannheim:

Selbstverlag 1968) beziehungsweise

- einer emsigen Detailanalyse regionalisierter Entscheidungsträger,

wie sie etwa Alf Ammon (Eliten und Entscheidungen in Stadtge-

meinden, Berlin: Duncker & Humblot 1967) demonstriert

- der Vermessung von Führungsstrukturen in den einzelnen Organi-

sationskomplexen der Gesellschaft nach dem Muster von Claus

Winfried Witjes (Gewerkschaftliche Führungsgruppen, Berlin: Dun-

cker & Humblot 1976)

üblich wurden, wenig gemein hatte.295 „Was ist das Höhere der

Höchstgestellten? Das Gefühl der Gesamtheit!“296 Während im Rah- men einer konstatierenden Sozialvermessung die Zusammensetzung,

Streuung, Offenheit der Rekrutierung oder das allgemeine Einfluss- gewicht der „grands décisionaires“ (Montesquieu) in Staat, Gesell- schaft, Wirtschaft und Kultur betrachtet zu werden pflegen, brachte

Gehlen in diesem Sinne Bewertungsgrößen ins Spiel, wonach die Ka- tegorie der ‚Elite’ moralisch schmeckt, indem Maßstäbe und Unter- scheidungen beibehalten werden. Es geht nicht nur um „Steuerung als

Handlungskoordinationsprozeß“297, sondern vor allem um Zielbestim- mung und -(durch)setzung. Der Vortragende erläuterte seine Quali- tätsprüfung des Eliteseins/der Elitezugehörigkeit genauer. Man denke

295 Die Skandalisierung des politischen etc. Raumes frei nach „Klüngel ist die Regel“ (Erwin K. Scheuch) war noch nicht öffentlich bewusst, wiewohl eine Chronik der Affären (vgl. Siegfried Bluth: Die korrupte Republik, Ess- lingen: Fleischmann [1983]) zeigt, dass derartige Unappetitlichkeiten schon damals endemisch waren. Stattdessen erschienen (vgl. Urs Jaeggi [Die gesellschaftliche Elite. Eine Studie zum Problem der sozialen Macht, Bern/Stuttgart: Haupt 1967] oder Hans Peter Dreitzel [Elitebegriff und So- zialstruktur, Stuttgart: Enke 1962]) innersoziologische Beiträge. 296 Friedrich Hebbel (1846): Tagebücher, Hrsg. Theodor Poppe, 2 Bände, Berlin/Leipzig: Bong & Co., o.J., Band 2, S. 32. 297 Thilo Raufer: Koordinationsprobleme politischer Steuerung, München- Neubigerg: Institut für Staatswissenschaft 1999, S. 38. 109

an eine Begebenheit, die sich in Belfast abspielte. Wir befinden uns im Spätherbst 1960, ein Generalstabsoffizier der englischen Armee besucht mit Bekannten ein Restaurant in der Innenstadt. Man sitzt privat zu Tisch, unterhält sich angeregt, der kleine Saal ist voller

Leute, als durch eine zerberstende Fensterscheibe eine Handgranate in den Raum fliegt; später bekennen sich Terroristen zu dem An- schlag. Deckung kann keiner mehr suchen. Ehe die Ladung explo- diert, wirft sich der Soldat über die Granate und schützt die Gäste im

Lokal.

Nicht alles, was Rang und Namen hat, zählt mit Notwendigkeit zur Eli- te, eine Kutte macht noch keinen Mönch. Stattdessen dachte Gehlen an „asketische Eliten“298. Der Name des Offiziers war den Nachrich- ten nicht zu entnehmen. Es handelte sich nach Einschätzung des Re- ferenten keineswegs um ‚Heldentum’ etwa im säkularisierten Ver- ständnis eines Thomas Carlyle299, der vom Heroismus als Überwin- dung des ordinären Lebenstriebes wie von einer Lichtquelle im „Dun- kel der Welt“ sprach. Gehlen erkannte keine Ausnahmehandlung. Er wertete nicht nur die Bereitschaft, sich im Extremfall für andere zu opfern, als zivilisatorische Selbstverständlichkeit; vielmehr gehöre diese Handlung zum Berufsethos des Soldaten.300 Unter anderem aus dieser Szene wollte der Soziologe ein Beurteilungskriterium echter

ElitenF gewinnen. Gefragt sei die Fähigkeit oder Bereitschaft, eigene

Interessen, die motivational selbstverständlich bleiben, auch im öf-

298 Die Rolle des Lebensstandards in der heutigen Gesellschaft, in ders.: Gesamtausgabe, Band 7, Frankfurt am Main: Klostermann 1975, S. 19. 299 On Hero, Hero-Worship and the Heroic in History (1840), Hrsg. W. H. Hudson, London/New York: Dent & Dutton 1956, S. 239. 300 Einer musste sich in der angeführten Situation opfern, um wenigstens die anderen zu retten. Moritz Goldstein (Der Wert des Zwecklosen, Dres- den: Sibyllen- Verlag 1920, S. 100 f.) schildert den Fall eines Soldaten, der sich hätte retten können, aber die Pflicht und damit den Tod vorzieht, um andere zu warnen: „Ein Held, seinen Zweck hat er nicht erreicht; nie- mand wird seine Tat erfahren: die Deutschen kennen seinen Namen nicht; die Franzosen haben einen Toten gefunden.“ 110

fentlichen Raum frei nach in serviendo consumitur höheren Zwecke hintanzustellen. Amtierende Eliten und ihr Wirken lassen sich daher einzig im Rahmen eines gemeinwohlorientierten Konzeptes ‚bewer- ten’. Ohne solchen Bezugsrahmen haben wir es mit „higher orders“

(Bagehot) zu tun, deren soziale Rolle indessen schon immer eher du- bios gewesen ist, wenn und weil die persönliche Karriere ihr wahres

Programm darstellt, um es in Kategorien der Postmoderne auszudrü- cken.301 Wo das Interesse spricht, haben andere Motive gewöhnlich zu schweigen. Ein Blick in die Geschichte offenbart diese nicht nur als einzigen „Friedhof von Aristokratien“, wie Vilfredo Pareto (Tratta- to, § 2053) notierte, sondern zudem banale oder schreckliche Fehl- leistungen302 von zu ihrer Zeit als ‚Elite’ hofierten Spitzenstrata oder

Führungskräften.

Leistung

Wenigstens in der leistungsorientierten Aufstiegsgesellschaft mit ih- rer Akzentsetzung auf „funktionale Autorität“ (Heinz Hartmann), die außer Begabung und Fähigkeiten zugeschriebene Startvorteile nicht länger kennen sollte, stellen die Erfolgreichen eine „Aristokratie des

Talents“ (Carlyle) dar, bis hinein in die Zirkel antisozialer Gegenkräf- te als Hintergrundseliten etwa im weltweiten Mafia-Milieu303. Wir ha- ben es im Guten wie im Schlechten mit Rangkletterern zu tun, keine

301 Hans Herbert von Arnim: Staat ohne Diener. Was schert die Politiker das Wohl des Volkes?, München: Knaur 1993, S. 133 ff. 302 Vgl. zu den menschen-verschlingenden Leistungskatastrophen im - für frühere Epochen politisch ausschlaggebenden - militärischen Kaderbereich nur Geoffrey Regan: Narren, Nulpen, Niedermacher. Militärische Blindgän- ger und ihre größten Schlachten, Lüneburg: Klampen 1998. 303 Vgl. Jean Ziegler: Les seigneurs du crime. Les nouvelles mafias contre la démocratie, Paris: Seuil ²1999, S. 43 ff. 111

Rede mehr von Gnadenwahl oder zustehenden Sonderchancen.304

‚Those in command’ mussten eine harte Konkurrenz um die ebenso knappen wie materiell/immateriell hochdotierten Positionen bestehen, wie sich einer umfangreichen Vermessung hiesiger Spitzenpositionen entnehmen lässt.305 Als weibliche und männliche Manager, Wissen- schaftler, Minister, Dirigenten oder Bürgermeister sind diese Stützen des Gemeinwesens unerlässlich für die gesellschaftliche Routine, zu- weilen für deren Erneuerung. Als Experten für Rendite, Erkenntnisse,

Entscheidungen, Illusionen, Sicherheit oder ähnlich öffentliche

Gebrauchs-, vielleicht sogar Bedarfsgüter zählen sie für den Volks- mund insgesamt zur Elite: Auch nachdem diese Personengruppen - eigentlich ein Knappheitsphänomen - im Gefolge der fortschreitenden

Arbeitsteilung und damit der allseitigen Aufgabenvermehrung insge- samt zugleich umfänglicher, konturloser und vor allem zunehmend bü- rokratisch gerieten in einer immer differenzierteren Soziallandschaft.

Anders als in jenem - mitsamt der Rechts-Links-Polarität306 - aus dem kollektiven Bewusstsein abgedrängten Gegensatz von Oben und Unten ist der Mitwelt eine Idealfigur/Idealrolle der Gesellschaft offenbar kaum mehr vorstellbar307. Im gängigen Elitenbegriff wird die Nützlich- keit dieser Spannung unterstellt.308 Während Gehlen alteuropäisch an

304 Vgl. W. E. Mühlmann: Gnadenwahl und Selektion, in ders.: Homo Crea- tor, Wiesbaden: Harrassowitz 1962, S. 23 ff. Zweifellos idealiter sollte es so sein, sozialiter indes präformieren (Bernstein ff) der familiale Hinter- grund (Aufmerksamkeit, Anregung, Ästhetik etc.) nach wie vor die Lebens- chancen. 305 Wilhelm Bürklin/Hilke Rebenstorf u.a.: Eliten in Deutschland. Rekrutie- rung und Integration, Opladen: Leske + Budrich 1997. 306 Die trotz sozialwissenschaftlicher Kritik (vgl. Anthony Giddens: Der dritte Weg, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 35 f.) und der Tatsache, dass sie für die Wahltaktik der Parteien an Bedeutung verliert, für den i- deologischen Magnetismus in der Postmoderne relevant bleibt, vgl. Albert O. Hirschman: Denken gegen die Zukunft, München: Hanser 1992. 307 Was laut Jürgen Habermas (Der Philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985) immerhin ein Grundziel der neuzeitli- chen Emanzipationsbewegung war, vgl. Thomas Paine: The Rights of Man [1791], Hrsg. Arthur Seldon, London/New York: Dent & Dutton 1963. 308 So Michel Guénaire: Un monde sans élites, Paris: Grasset 1995, S. 85. 112

Führungskräfte dachte, die sich wenigstens zeitweilig aus Gemeinsinn vom „Wettrennen nach Wohlleben ausschließen“ (a.a.O.) und zudem das Gute eher als das Gerechte im Auge haben, verengte sich die

Diskussion um die Elitenrolle auf gesellschaftlichen Leitungsbedarf - minus Zukunftsvisionen. Die soziale Zersplitterung und wachsende

Undurchsichtigkeit der Verhältnisse erfordern eine „Theorie komple- xer Phänomene“ (Hayek) und erzeugen Entscheidungsdefizite, die ge- deckt werden wollen. Eliten sind Eliten, weil sie high and mighty wir- ken und derart wahrgenommen werden, wenn sie am richtigen Ort und an wichtiger Stelle das jeweils Notwendige veranlassen. Diese be- schreibende Sichtweise hatte Rückwirkungen auf das Elitenverständ- nis. Es löste sich aus dem Schatten jener aristotelisch-christlichen

Tradition mit ihrem Traum von der ‚Herrschaftsbelehrung’, die schon

Andreas Alciatus309 („Nach aller hoff gemaynem brauch,/ißt gleich als wan er leg in gold/Gefangen, und wer so ein gauch,/Das er drumb het sein gfengknus hold“) für vergebliche Liebesmüh hielt. Immerhin arti- kulierte frei nach „alle Menschen sind Brüder“310 eine Pflichtenlehre bis ins 18. Jahrhundert hinein politische Aspirationsniveaus. In dieser

Überlieferung war die Notwendigkeit von ‚Obertanen’ unterstellt, denn

„wo kein Regent ist, zerstreut sich das Volk“, wie Thomas von A- quin311 zustimmend das Alte Testament zitierte. Zugleich ging dieses

Elitenmodell von einer normativen Rolle des Establishments aus.312

Denn falls Gerechtigkeit (iustitia) fehlt, fragte in diesem Sinne Augus- tinus313 zu Beginn des christlichen Abendlandes maliziös, stellen

Staatsgebilde dann anderes dar als größere Räuberbanden?

309 Emblematum libellus (1531), Darmstadt: WBG 1991, S. 245. 310 François de Fénelon: Les aventures de Télémaque (1699), Tours: Mame 1856, S. 188. 311 Über die Herrschaft der Fürsten (1265), Stuttgart: Reclam 1990, S.7. 312 Etwa Johannes von Salisbury: Policratus (Anm. 193), Buch 4. 313 De civitate dei (426), liber 4, caput 5, sententia 1. 113

Inzwischen wirkt mit Blick auf die höheren Kreise der wertende Eli- tenbegriff in allen Spielarten abgestanden. Seine Maßstäbe entspre- chen nicht der postmodernen Fuzzy-Ethik, waren vielleicht immer uto- pisch, selbst als regulative Idee. Spätestens seit „die alten großen

Quellen des Enthusiasmus“ wie Glaube oder Patriotismus abstumpf- ten314, ist auch in diesem Umfeld nicht zuletzt durch die Diffusionslo- gik von Organisisation und Arbeitsteilung das Verdienst durch den

Verdienst verdrängt worden. Wenn im Massenbetrieb keiner verant- wortlich zeichnet, oder falls, wie in der Politik/Bürokratie, selbst „ab- duktiv“ (Peirce) betrachtet überhaupt Kontrollkriterien (Effizienz etc.) fehlen, bleibt kein Prinzip übrig, das bindend genug wäre, um „Geld- liebe und Machthunger“ (J. S. Mill) als greifbare Handlungsmotivatio- nen ausbalancieren zu können. Somit ist frei nach ‚Zum eigenen Vor- teil auf Kosten anderer’ (Institutionen/Verbraucher/Wähler etc.) die

Durchschnittlichkeit der realexistierenden Leitungskräfte315 zu kons- tatieren, die selten elitär waren/sind, in der anspruchsvolleren Bedeu- tung dieses strapazierten Wortes. Vor diesem Hintergrund trat ein modisches Kriterium ins Zentrum der Aufmerksamkeit, das mit der

Verabschiedung sozialethischer Elitebilder von marktkonformen Vor- stellungen durchdrungen ist. Geht es nicht mehr um das rechte Leben im Problematischen, so doch um die seit Jeremy Bentham316, Jahr- gang 1748, der Industrieära sakrosankte ‚Nützlichkeit’ für die unter- schiedlichen Bereiche, in denen sich Eliten auf gesellschaftlichen

Hochlagen klärend, anordnend oder reklamierend über „das Vulgus

314 Um eine Klage von Wilhelm Hennis zu zitieren: Aufs Ganze gehen: Poli- tikwissenschaft als Beruf, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 2. 1998, S. 43. 315 Exemplarisch Jeremy Paxman: Friends in High Places. Who Rules Bri- tain?, Harmondsworth: Penguin 1991. 316 Of the Principle of Utility (1822), Bhikhu Parekh (Hrsg.): Bentham’s Po- litical Thought, London: Groom Helm 1973, S. 66 ff. 114

der Köpfe“ erheben, um es wie Arthur Schopenhauer317 auszudrücken.

Aber ob mit Arnold Gehlen gesprochen oder mit Joseph Schumpeter geurteilt318, so oder so stehen Eliten dem Eigenanspruch nach in der

Bringschuld, zumindest arbeitsteiligen Leistungskriterien zu entspre- chen. Je weniger gemeinnützig sie sind, weil die Pluralisierung der

Welt alle Bezugsrahmen auflöst, um so empfindlicher reagieren sie auf Kritik, zumindestens wenn diese in den Medien ausgebreitet wird319. Gerade der Prüfbericht des immer wieder eingeforderten

Gebrauchswertes hätte zur Folge, den Zuständigen in Staat und Wirt- schaft des öfteren die rote Karte zu zeigen, wie Hinweise auf allfälli- ge Vergesellungsschwächen erweisen320. Sie haben weder den hohen

Anerkennungsmehrwert verdient321 noch das Vertrauen, das ihnen je- ne geschichtsnotorische „Zutraulichkeit“ (Plessner) der Menge entge- genbringt, nicht zuletzt wegen des Fehlens praktikabler (self- government) Alternativen, jedenfalls mit Blick auf Stabilität (+ Innova- tion statt direkter Einmischung) als zentraler Leitkategorie aller poli- tischen Theorie. Weswegen E. E. Schattschneider322 behaupten konn-

317 Parerga et Paralipomena, Sämtliche Werke, Hrsg. Wolfgang Freiherr von Löhneysen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, Band 2, S. 585. 318 Der in seinem ‚Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie’ (Bern: Fran- cke ²1950) nicht nur ideenpolitisch erfolgreich den Demokratiebegriff ab- nüchterte (‚vom Volk gebilligte Regierung’ statt ‚Regierung durch das Volk’, S. 390), sondern zudem den Delegationsbegriff der Elite durch einen Karrierebegriff (Konkurrenzmodell) ersetzte (S. 427 ff.). 319 Die von der Politik bei der Wahrnehmung ihrer Rolle [„monitoring the performance of government“ (Cronkite)] regelmäßig des ‚Negativismus’ be- zichtigt werden. 320 Jacques Juillard: La faute aux élites, Paris: Gallimard 1997, S. 13 ff. 321 Den Georg Franck in seiner „Ökonomie der Aufmerksamkeit - Ein Ent- wurf“ (München: Hanser 1998) vermessen hat. 322 The Semisovereign People, New York u.a.: Holt, Rinehart & Winston 1960, S. 135. Die Komplexität moderner Industriegesellschaften erlaubt keine direkte Beteiligung aller, so dass die Demokratie an den Lebensbe- reich der Menschen heranzuführen wäre, etwa durch mehr Partizipations- möglichkeiten z.B. im Betrieb, in der Schule oder Universität. Passivität im öffentlichen Raum resultiert nicht zuletzt daraus, dass die BürgerInnen von dem, was als politisch definiert ist, zwar betroffen, aber schwerlich moti- viert werden. 115

te, „die Demokratie sei für das Volk gemacht“, dieses mangels Enga- gement offenbar „nicht für die Demokratie“, sind doch weit über 90 % der Bürger nicht organisiert und bleiben wenigstens vom System der organisierten Interessen ausgeschlossen.

Lassen wir die Kultureliten im weitesten Wortsinn beiseite, mithin auch jene „Symbolanalytiker“ (Robert Reich) im Aufwind des Arbeits- marktes, so fällt die Leistungsbilanz der für das Gedeihen der Gesell- schaftsmoderne zuständigen Leitungseliten trübe aus. Kann man schon keine sozialmoralischen Pflichten anmahnen, so stimmt die

Dauerberufung auf den Gebrauchswert dieser ‚Meritokratie’ ärgerlich.

Das gilt nicht so sehr für das Management, hier haben wir es ohne- dies mit einer jener „blinden Eliten“ zu tun323, die unter Wettbewerbs- druck und damit als Rollenträger einem Sachzweck folgen, in diesem

Fall der Rendite, nicht aber sozialverantwortlichen Spielregeln, trotz aller Debatten über Wirtschafsethik324. Weswegen die Verträglichkeit ihrer Extramacht selbst mit den Prinzipien einer normativ-tutelitären

Demokratie à la Giovanni Sartori325 fragwürdig ist, um von einer deli- berativen oder gar dialogische(re)n Form der Allokation von Macht gar nicht zu reden326, Debatten über eine interaktivere Verwaltung327 hin oder her. Diese und andere Ungereimtheiten und Tendenzen wä- ren Gegenstand einer Elitendebatte, welche nicht nur Anspruch und

323 Vgl. Christopher Lasch: Macht ohne Verantwortung, Hamburg: Hoffmann und Campe 1995. 324 Die trotz Rupert Lay (Ethik für Wirtschaft und Politik, Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein 1991) immer nur das Individualhandeln der Wirt- schaftträger extram mercatum betreffen kann, bei Strafe durch Pleite, was mit Blick auf die Lage der Beschäftigten wiederum unethisch wäre, aber nie das Wettbewerbs’verhalten’ selbst; vgl. auch Jean-François Daigne: L’ éthique financière, Paris: PUF 1991, S. 78 ff. 325 Der dabei von einem „Experiment der Vernunft“ spricht, Demokratiethe- orie, Darmstadt: WBG 1997, S. 485. 326 Vgl.Thomas Jäger: Steht das deutsche Parteiensystem vor grundlegen- den Änderungen?, in Vorgänge Nr. 144 (1998), S. 1 ff. 327 Vgl. Erhard Treutner: Verhandlungsstaat oder kooperativer Staat?, München-Neubigerg: Institut für Staatswissenschaften 1999, S. 21 ff. 116

Wirklichkeit der Alpha-PositionsinhaberInnen abgleicht, sondern sich zudem mit deren wachsender Gleichgültigkeit gegenüber jenen „be- währten Regulatorien wie Zugehörigkeit, Engagement und Selbstkon- trolle“ beschäftigt, die nicht nur Christopher Lasch328 für den Quell aller gelingenden Vergesellung hält. In einer Zeit, die einer Markt- wirtschaft sans phrase das Wort redet, ist von Fragen wie diesen in

Wissenschaft und Öffentlichkeit indessen eher weniger die Rede, je- denfalls mit Blick auf die ausgleichende Implementation von mehr

Bürgernähe.

Bleibt die Hoffnung auf die „politische Klasse“ (Mosca) als die in der

öffentlichen Wahrnehmung wichtigste Gruppierung mit elitärer Aura.

Entsprechend waren laut Demoskopie im Jahr 1968 von den zehn

„aufregendsten Menschen“ der letzten fünfzig Jahre immerhin acht

Politiker. Und zwanzig Jahre später zählen noch fünf Parteivertreter zu den zehn „wichtigsten Deutschen“ von heute, wiewohl nun Me- dienmacher und Wirtschaftsgrößen zum Einflussgipfel aufgeschlossen haben.329 Einmal abgesehen von der bangen Frage, ob politische Eli- te und Demokratie - nicht unbedingt begrifflich, aber im politischen

Alltag - über Kreuz liegen330, könnte das Vertrauen in eine Minorität, die „at any time“ (Bottomore) regiert, verwaltet, entwirft etc., wenn schon nicht durch ihre Moral, Verantwortung, Identifikation ff., im- merhin durch die Entscheidungskompetenz vor der Geschichte ge- rechtfertigt werden.

328 The Revolt of the Elites, Harper’s Magazine (November 1994), S. 39 ff., hier S. 49. 329 Vgl. Die Lieblinge der Nation, Der Stern Nr. 50 (1968), S. 52 - 58; Die 200 wichtigsten Deutschen, Bunte Nr. 4 (1998), S. 32 - 44. 330 Vgl. zu dem Widerspruchskomplex noch immer Johannes Agnoli/Peter Brückner: Die Transformation der Demokratie, Frankfurt am Main: EVA 1968, S. 55 ff. 117

Debatten

Erst um 1920 begannen Soziologen einem Bereich der Gesellschaft verstärkt ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, der auch in der Frage nach der Ausübung von Macht und Einfluss im Nahbereich eine vor- rangige Bedeutung einnimmt: der Gemeinde.331 Sie war im Interim zwischen Familie und Gesellschaft zentrales Erfahrungs- und Hand- lungsfeld der Menschen. Die erste größere Eliten-Analyse einer Ge- meinde, die dieses Forschungsfeld eröffnete, wurde in den USA vor- gelegt. Das Ergebnis dieser Untersuchung einer „machinery of go- vernment“ der städtischen Machtstruktur war als „Studie über die a- merikanische Kultur der Gegenwart“ ausgewiesen332; in Wahrheit ging es um Verkrustungen (Entscheidungskonzentrierung, Korrumpierung,

Routinisierung etc.) unter der Hülle demokratischer Formalstrukturen.

Das wurde in einer Wiederholungsstudie333 noch deutlicher, die

Boomzeiten waren einer Depression gewichen. Eine Familie X als

„Nukleus der Unternehmerschicht“ steuert das örtliche Geschehen (S.

74 ff.), „im allgemeinen eher unbewusst als zielgerichtet“ (S. 97), nichtsdestotrotz effektiv334 und keineswegs im öffentlichen Interesse, sondern nach privaten Kriterien. Gleichwohl verstehen es die Kapitä- ne der Wirtschaft, eigene Zwecke als für die Gemeinschaft wohltätig

331 Vgl. diesem Problemkomplex Edward Keynes/David M. Ricci (Hrsg.): Political Power, Community and Democracy, Chicago: Rand McNall 1970. Neuerdings Norbert Kersting: Machtstrukturen in der Gemeinde, in Imbusch (Anm. 252), S. 149 ff. 332 Robert S./Helen M.Lynd: Middletown, New York: Harcourt, Brace 1929, S. 413 ff. 333 Dies.: Middletown in Transition. A Study in Cultural Conflicts, New Y- ork: Harcourt Brace 1937. 334 „Here we are witnessing the pervasiveness of the long fingers of capi- talist ownership“, quittieren die Lynds (Anm. 332, S. 97) Vergeblichkeiten der pluralistischen Eliteheorien, die Machtverteilung auf der Oberfläche sichtbar-auszählbarer Entscheidungsakte abbilden zu wollen. 118

darzustellen.335 „Eine Elite“, kommentierte Harold D. Lasswell336 schnörkellos derartige Forschungsergebnisse, „sichert ihre Aufstiegs- chancen durch die Manipulation von Symbolen, die Kontrolle der Ver- sorgung, und Anwendung von Gewalt.“ Politiker stehen nicht im Zent- rum der Entscheidungsprozesse, haben vielmehr ausführende Funkti- onen. Und die Übereinstimmung der Grundschichten mit den medial gehätschelten Attributen der gesellschaftlichen Galeonsfiguren ver- hindert tiefergehende Auseinandersetzungen zwischen den Parteien oder Interessengruppierungen über mehr als nachgeordnete Probleme der Verteilung von innergesellschaftlichen Vergütungsmustern.

Floyd Hunter337 spitzte die Diskussion um die Macht der Eliten zu.

Vor allem die Ideologie der Gleichheit sah sich in Frage gestellt, was für heftige Diskussionen sorgte.338 Die Halbmillionenstadt Atlanta war

335 „In a civilization in which the health of the community is gauged by ist financial pulse, preoccupation with private rather than public business on the part of its ablest citizens is increasingly regarded by Middletown as not only a normal but a desitable state of affairs.“, Middletown, S. 421 f. 336 Politics and Personal Insecurity (1935), New York/London: Free Press 1965, S. 3. 337 Community Power Structure. A Study of Decision Makers, Chapel Hill: UP North Carolina 1953. 338 Vor allem gab es Vorhaltungen gegen das reputative Verfahren, das Hunter angewendet hatte, indem er nach dem Meinungs- bzw. Wissenszu- sammenhang einzelner Informanten betreffende Personen auf einer Rang- skala plazierte. Es wird unterstellt, dass in der Gesellschaft eine Klassen- und Schichtenstruktur existiert. Eine Machtelite lenkt die Gemeinschaft, die sie tragende Oberschicht regiert in eigenem Interesse. Die Kritik an diesem Ansatz begann gleich nach Erscheinen von Hunters Buch. Der in- haltlichen Kritik („unrichtig“) schlossen sich methodische Einwände an, als deren Hauptvertreter Robert Dahl (A Critique of the Ruling Elite Model, American Political Science Review (Juni 1958), S. 463 ff.) auftrat. Die Ausübung von Macht wird nicht bestritten. Auch die Vertreter des Pluralis- mus greifen auf reputative Ergebnisse zurück, allerdings mit anderer Inter- pretation: Ein System ist pluralistisch, wenn politische Ressourcen breit verteilt sind und Einfluss aller Art von Bürgern auf die öffentlichen Ent- scheidungsträger ausgeübt werden kann und „Vetogruppen“ fungieren. Die Chance der Mobilisierung wird dadurch vergrößert, dass Personen mit Zu- gang zu einigen Resourcen an andere nicht herankommen; einige Einfluß- quellen nicht alle anderen ineffektiv machen; eine Einflußquellen generell nicht in allen Bereichen einsetzbar sind. Ist die pluralistische Schule am Studium einzelner Personen und an Prozeßanalysen von Entscheidungs- vorgängen interessiert, werden durch den reputativen Ansatz die Macht- strukturen in einer Gesamtheit und zwischen Klassen ins Auge gefasst. 119

als ‚Regional City’ diesmal Ort der Erhebung, und die Ergebnisse lie- fen auf ähnliche Pyramidenbildungen der Entscheidungs- und Zutei- lungsverhältnisse hinaus wie in ‚Middletown’: Eine Situation, die sich nicht mit den Demokratie-Konzepten deckte, wie sie gelehrt wurden:

Weswegen von einer „totemistischen Maske“ (Kelsen) gesprochen worden ist, die als Demokratieformalismus den Blick auf die Zustände verstellt. Bis in die 1950er Jahre hinein war es zudem allgemeine Auf- fassung, dass zwischen Politik und Verwaltung ein grundsätzlicher

Unterschied besteht, weil Letztere rein zweckrational verordnet wur- de. Jetzt erwies sich, dass verwaltungstechnisch viele Möglichkeiten der Manipulation auf der Basis der Ermessensfreiheit bestehen. Es gibt eine Vorstrukturierung von Entscheidungen, wodurch die Verwal- tung in den politischen Prozess der Macht einbezogen ist, die wieder- um von Wirtschaftsbelangen determiniert wirkt.339

Diesen Ansatz führte C. Wright Mills340 nicht nur weiter, indem er ihn universalisierte341; er schloss mit seiner Sozialkritik zugleich an Er- gebnisse investigativer Journalisten (muckraker) an, die sich mit der

Entstehung von Riesenvermögen im Lande beschäftigt hatten. Danach

Beide Deutungen stoßen dabei auf Machtstrukturen, jedoch versteht eine Seite sie als Klassengegensätze, die andere als Einflussvielfalt. Allerdings fällt ein Schatten auf den pluralistischen Himmel, da hier „der himmlische Chor mit starkem Oberklassenakzent singt“ (Schattschneider). Überdies scheint es mehr als fraglich, ob eine Pluralität von Eliten eine Konkurrenz- situation zur Folge hat, wodurch die Einflußmöglichkeiten der Bevölkerung verbessert werden, vgl. Dietrich Herzog: Politische Führungsgruppen, Darmstadt: WBG 1982, S. 102 ff. 339 Zur komparativen Beurteilung der Ergebnisse von 33 Studien über 55 Gemeinden John Walton: Substance and Artifact - The Current Status of Research on Community Power Structure, American Journal of Sociology 71 (1966), S. 430 ff. 340 The Power Elite, New York: Oxford UP 1956 - Die amerikanische Elite, Hamburg: Holsten 1962. 341 In dieser Tradition Richard L. Zweigenhaft/G. William Domhoff: Diversi- ty in the Power Elite, New Haven/London: Yale UP 1998: Die nach und nach erzwungene Adaption neuer Rekutierungsfelder „helped to strenghten the power elite“ (S. 1191). Sie habe sich gegenüber den Tagen eines Mills machtarchitektonisch verändert, indem eine „corporate elite“ als „political directorate“ nun oberhalb der anderen Hilfs-Eliten die Ziele setzt. 120

war derartiger Reichtum das Resultat von Durchstechereien, wohinge- gen die Wirtschaftslehre die Tätigkeit der Räuberbarone als „Unter- nehmer-Innovatoren“ (Schumpeter) darstellte. Mills attestierte der Eli- te „höhere Unmoral“ (Deutsche Ausgabe, S. 389 ff.), worunter die Ü- bereinkunft verstanden wird, alles zu tun und zu dulden, um Erfolg zu haben, natürlich ohne erwischt zu werden. ‚Erfolg’ wird im Sinne des

Gelderwerbs verstanden und gilt als höchster Wertbegriff. Das Resul- tat sei der Verlust moralischer Orientierungen, was wiederum nach

Ersatz verlangt. Gefragt sei nicht mehr Tüchtigkeit, sondern die

„strahlende Persönlichkeit“ auf dem Weg zum Erfolg (S. 89 ff.). Ent- sprechend entwickelt sich die Praxis der Politik von Sachdiskussion und -entscheidungen hin zu einer publicity show: Deren Drahtzieher seien Beraterstäbe hinter den Prominenten, heute spin doctors342 ge- nannt. Politiker versuchten eine sonst Künstlern zugeschriebene Po- pularität zu erwerben, so Mills mit Blick auf die spätere Imaginisie- rung der Politik als Bühne der „secondary leaders“ prognostisch (vgl.

Kapitel 10), wodurch Wesen und Wirken ihrer Aufgaben durch Show-

Sinnlosigkeiten entleert oder konterkariert würden.

Mills übertrug die Befunde der Machteliten-Diskussion auf die natio- nale Ebene. Wichtig war der funktionale Zusammenhang zwischen Po- litik, Militär und Wirtschaft, was eine enge Zusammenarbeit und Koor- dinierung bedingte, etwa zur Vermeidung und Beseitigung von Krisen.

Ausübung von Macht sei auf die Dauer abhängig von Schlüsselpositi- on in diesen Bereichen, deren Bedeutung relativ zu Instanzen wie

Familie, Kirche oder Universität wachse. Zentraler Faktor für die Ent- stehung der Eliten Amerikas sei dabei das Fehlen einer feudalen Epo-

342 Deren zahlenmäßige Vermehrung samt Kostenexplosion bei gleichzeiti- ger öffentlicher ‚Unverantwortlichkeit’ in England inzwischen dazu geführt hat (Neill-Report), diesen Beraterkreis ‚public standards’ zu unterwerfen, vgl. David Hencke: Political advisers face curbs, Time vom 8. 1. 2000, S. 1. Auch Roland Watson: Prescott says the spin must stop, Time vom 10. 8. 2000, S. 1. 121

che. Prestige und Einfluß bedurften mithin anderer Grundlagen als in

Europa, wobei als zusätzliche Rahmenbedingung der sozialen Durch- setzung die Ideologie der Gleichheit aller hinzukommt. Primäre Be- deutung für die Zugehörigkeit zur Oberschicht hätte das Geld als In- klusions- wie Ausschließungskriterium, wobei die Abgrenzung der Eli- ten nach unten durch fehlende Tradition erschwert würde.

Es gibt eine Reihe von Selektionsmechanismen, die gewährleisten, dass Mitglieder der etwa vierhundert Spitzenfamilien (S. 64 ff.) in der

Elite verbleiben.343 Nach der Ausbildung nimmt ein Angehöriger der

Oberschicht meist eine Tätigkeit an einer auswärtigen Botschaft, beim

Militär oder in einem Industriekonzern an, die den Start in eine pro- grammierte Karriere erleichtert. Es ist nicht unüblich, daß im weiteren

Verlauf des Berufslebens ein Wechsel stattfindet, etwa vom Militär in die Wirtschaft oder andere Kombinationen. Angesichts des funktiona- len Zusammenhangs der Bereiche und der Kongruenz bei den Voraus- setzungen für solche Spitzenfunktionen ist solcher Austausch nicht nur ohne Probleme möglich, sondern wünschenswert, um den Ge- sichtskreis zu erweitern. Im Gegensatz zur Unterstellung von David

Riesman344, wonach sich die „Kosmologie der Macht ... weitgehend

343 Die wirksamste Instanz bilde dabei die Erziehung. Es sind ausschließ- lich Privatschulen, die die Kinder besuchen und die ihnen die Eigenschaf- ten und Umgangsformen vermitteln, die sie in ihrer späteren Stellung be- herrschen müssen. Nicht der Besuch des Kolleg und die resultierende Qua- lifikation, sondern die Erziehung in diesen Lehranstalten sichert die Zuge- hörigkeit zur Elite. Ebenso werden ganz spezielle Studentenverbindungen bevorzugt. Auch im weiteren Leben begegnet ein Angehöriger der Elite speziellen, für ihn und seinesgleichen vorbehaltene Einrichtungen. Etwa die Clubs, die in der Öffentlichkeit kaum bekannt sind, erfüllen eine primä- re Funktion in geschäftlichen und gesellschaftlichem Leben. In jeder grö- ßeren Stadt existieren diese Clubs und ermöglichen, daß Angehörige der Elite, etwa auf Geschäftsreisen, überall den Kreis von Personen und Um- gebung vorfinden, den sie gewohnt sind. Außerdem werden einige Glau- bensgemeinschaften bevorzugt, so dass ihre Mitgliedschaft verbindlich ist. 344 So David Riesman/Reuel Denney/Nathan Glazer (Die einsame Masse (1950), Darmstadt u.a.: Luchterhand 1956, S. 353), weil sich durch die Blockade konkurrierender „Interessengruppen“ eine „uneinheitliche, amor- phe Machtstruktur“ herausgebildet habe (S. 340), an der jene alte Frage, „wer hält nun wirklich die Macht in den Händen“ (S. 349), einfach abprallt. 122

aufgelöst hat“, sei vielmehr eine Verschmelzung der Spitzenfunkti- onsgruppen zu beobachten - ohne allerdings eine „Art geschlossenen

Verein“ zu bilden (S. 320) -, um nicht nur Krisen besser zu steuern, sondern gemeinsam als Elite überleben zu können.

Mills unterteilte die Gesellschaft in Gruppen, die vom big business bis hin zu den einfachen Lohnempfängern reichen. Innerhalb der Ober- schicht selbst werden vier Etagen unterschieden. Der ersten Stufe gehören Cliquen aus der alten Oberschicht an. Ihre Mitglieder rekru- tieren sich aus Industrie, Handel oder Finanzwelt und zwar funktional in der Weise, dass eine möglichst umfassende Einfluss-Shäre ange- strebt wird. Hinzu kommen Verbindungsglieder, welche die Abstim- mung zwischen den spezialisierten Bereichen sichern. Die zweite E- tage bildet der Bereich der neuen Oberschicht, deren Zugehörige lei- tende Stellungen in Banken, Betrieben u. ä. innehaben. Bei ver- schwimmenden Grenzen schließt sich daran die Gruppe leitender Mit- arbeiter untergeordneter Organe an, etwa Chefredakteure, während der letzten Stufe die Skala der Geschäftsleute und Schulleiter etc. zugerechnet werden.

Die Durchsetzungs-Chancen der gesellschaftlichen Großgruppen vis à vis der „Macht-Elite“ (S. 299 ff.) bestimmte Mills nach dem Kriterium der Wahrnehmung und Artikulation eigener Interessen, wobei man o- ben wie unten zu ideologisch-politischer Organisation neige, während die mittleren Abstufungen artikulationsschwach und daher außer als

Wählerreservoir (Drang zur Mitte) irrelevant blieben. Danach werde das Land trotz eines ebenso bunten wie offenen Who’s who von einer

‚Machtelite’ regiert345, die jedenfalls mit Blick auf einen elastischen

Begriff von Demokratie keineswegs der Durchlässigkeit, Verantwort- lichkeit beziehungsweise Öffentlichkeit unterliege. Sie pflegt vielmehr

345 In dieser positiv-populistischen Kritiktradition noch G. William Domhoff: Who rules America? Power and Politics in the Year 2000, Mountain View, Ca: Mayfield ²1998. 123

ein „System organisierter Verantwortungslosigkeit“ (S. 410), das funk- tioniert, nicht weil, sondern wie es eben klappt. Ein derartiger Wild- wuchs der Macht trotz formaler Regularien widerspricht Thesen346 von einer tatsächlichen Machtkonkurrenz als Ergebniss eines „Wettbe- werbs um Wählerstimmen“ (Schumpeter) unter den regierungsamtliche ff. Zuständigkeitskompetenzen anstrebenden Eliten347. Nicht nur weist das „Ostrogorski-Paradox“348 auf die Ohnmacht der Politikkon- sumenten hin, Alternativen formulieren oder wenigstens auswählen zu können; überdies steht dem Elektorat schwerlich ‚die’ Macht realer

Wahlverfügung zu, sondern höchstens ihre durch die Parteien als

Konfektionsgrößen jeweils gepflegten Interpretationsspielräume. Zu- dem ist das Konkurrenzverhältnis349 in der parlamentarischen Arena keineswegs mit Wettbewerbsbedingungen und Durchsetzungschancen auf echten Märkten zu vergleichen.350 Solcherlei Hemmnisse erschwe- ren eine faire Leistungsmessung besonders der politischen Tätigkei-

346 Wie sie von Stanley Rothman/Amy E. Black (Who Rules now? American Elites in the 1990s, in: Society, Band 35 (1998)/Nr. 6, S. 17 ff.) unter Be- rufung auf neuere Erhebungen (1995) nachgehalten werden, wobei sich wie im frühen Pluralismusstreit „power as reletively dispersed“ (S. 17) erwies, von weißer Monolithik schwerlich die Rede sein kann, was indessen weder faktisch noch argumentativ die von Mills u.a. beschriebene Einflusswirkung einer ökonomisch-elitären „overclass“ (Michael Lind) ausschließt, die ge- rade auch bestehen/wirken kann, wenn „a sort of public anarchy“ vorherr- sche, „in which the center of power ist not at all clear, perhaps because there is no one fixed power center“ (S. 20). 347 Zum Streit zwischen Pluralisten und ‚Monisten’ vgl. schon Arnold M. Rose: The Power Structure. Political Process in American Society, Lon- don/Oxford/New York: Oxford UP 1967, der selbst die economiccelite- dominance-Hypothese zurückweist. 348 Vgl. Moïse Ostrogorski: Democracy and the Organization of Political Parties, Vorwort von James Bryce (1902), 2 Bde., New York: Haskell 1970; hier Band 2, S. 632 ff. 349 Wie es etwa von Morris Janowitz/Dwaine Marvick (Competitive Pressure and Democratic Consent, Ann Arbor: Michigan UP 1956) formal als in- terplay zwischen echtem Wettbewerb oben und Wahlbeteiligung und mit- samt wirklichen Auswahlchancen unten strukturiert worden ist. 350 Vgl. Competing Elites, in John C. Leggett: Taking States Power, New York u.a.: Harper & Row 1973, S. 244 ff. 124

ten von ElitenD , die doch eigentlich erst zu deren Legitimati- on/Akzeptanz führen könnte.351

Beunruhigung

Wurde nach dem Ende des Kalten Krieges mitsamt seinen Blockzwän- gen eine „Neue Demokratiefrage“352 jenseits früherer Methologiege- fechte353 angeregt, welche die Öffentlichkeit interessiert, weil sich unter dieser Tarnkappe kaum vereinbare Regime versammeln?354 Es ging in dieser Debatte, die wieder abklingt, allerdings weniger um

Hoffnungen/Ansprüche, die sich ursprünglich mit der Idee der Demo- kratie verbunden haben und damit um eine Entideologisierung des

Repräsentationsdogmas.

- Hatte man seit der Aufklärung auf Machttransparenz und Autono-

mie gesetzt, brachte die praktizierte Demokratie die Wiederkehr

unsichtbarer oder indirekter Macht, die - nicht zuletzt als Wirken

von Eliten - einflussreicher ist als die offiziell über den Wählerwil-

len kanalisierte Amtsführung.

- War Demokratisierung - in ihren verschiedenen Spielarten - mit In-

teressen-Artikulation der Bevölkerung gleichgesetzt worden, trat

351 Zur Geschichte der Eliteforschung vgl. Ursula Hoffmann-Lange: Eliten in der Demokratie, in Hans-Georg Wehling (Hrsg.): Eliten in der Bundesre- publik Deutschland, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1990, S. 11 ff. 352 Der die Internationale Politik (Heft 4 [1998]) ein eigenes Heft widmete. Vgl. schon Ulrich Rödel/Günter Frankenberg/Helmut Dubiel (Hrsg.): Die demokratische Frage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989; auch Jean-Marie Guéhenno: Das Ende der Demokratie, München: dtv 1996; Danilo Zolo: Die demokratische Fürstenherrschaft, Göttingen: Steidl 1997. 353 Zum Streit zwischen „romantischem Pluralismus“ (Mills) und Machtmo- nolithismus vgl. Helga Neumann: Zur Machtstruktur in der Bundesrepublik deutschland. Eine empirische Untersuchung über Artikulationschancden gesellschaftlicher Interessen im politischen Entscheidungsprozes, Mell: Knoth 1979, S. 25 ff. 354 Vgl. Gianfranco Pasquino: La oposición, Madrid: Alianza 1998, S. 39 ff. 125

nach und nach die Frage nach einer „Begrenzung des Zugriffs der

Politik auf die Gesellschaft“ in den Vordergrund.355

- Wo man von der Vorherrschaft des Allgemeininteresses ausgegan-

gen war, wirken immer nachdrücklicher Partikularinteressen;

zugleich vernachlässigt die Grobsteuerung der Politik durch den

Parteienwettbewerb aber auch systematisch schwer organisations-

fähige Belange.

- Galt die Durchsetzung des Wahlrechts als höchste Schiedsstelle

politischer Machtzuweisung, beförderte die Einsicht in die strikte

Begrenzung staatsbürgerlicher Mit- oder Einredechancen das

Rückzugsverhalten der Wähler.

- Setzte man auf einen räsonablen Konsens, der die Politik als

Durchführung allgemeiner Ziele verstand, galt seither eine Mehr-

heitsregel (Majorität = Autorität), die nicht nur zu einer Mediatisie-

rung der „opinion réelle“ (Alain) führte356, sondern im Kontext der

sich etablierenden Parteidemokratisierung357 eine politische Ent-

mündigung des Elektorats/der Bevölkerung nach sich zog.

- Sah sich ursprünglich unterstellt, dass jede Form der Demokratie

zu ihrer Wahrheit populistisches Salböl benötigt, gilt das Volk/die

Bevölkerung der vorherrschenden „Diskursdemokratie“ (Kersting)

als störend, wenn nicht gar gefährlich volkstümlich.

355 Yves Cannac: Le juste pouvoir. Essai sur les deux chemins de la démocratie, Paris: Lattès 1983, S. 195. 356 Dabei ist nicht nur an das ‚Condorcet-Paradox’ (vgl. Jean-Antoine- Nicolas de Condorcet: Sur les élections et autres textes, Paris: Fayard 1986, S. 7/177) zu denken, sondern auch an die parteiendemokratisch- mögliche Ausdünnung der die Gesetzeskompetenz verwaltenden Regie- rung’mehrheit’: Man denke an Frankreich, das in den 1920er Jahren auch dank veralteter Wahlberechtigungs-Einschränkungen als ‚Demokratie’ zu- weilen politisch von 7 % der Bevölkerung kontrolliert wurde, André Tardieu (Le souverain captif, Paris: Flammarion 1936, S. 223 ff.) spricht von einer veritablen „oppression par la loi“. 357 Zu deren Ambivalenzen vgl. Hans H. Klein: Eine demokratische Not- wendigkeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. 7. 1999, S. 13. 126

- Erwartete man ursprünglich eine allgemeine Durchdemokratisierung

der Gesellschaft, setzte bald eine Begrenzung der Reichweite und

Geltung demokratischer Regeln ein.

Enttäuscht wurde nicht nur die Aussicht, Demokratie + Lenkung ver- söhnen zu können durch die im Parteienwettstreit gehärtete Auslese von Eliten mit Verantwortungssinn, weswegen laut John Dunn358 die

Demokratie „der Name für etwas ist, was wir nicht haben können“, je- denfalls im Sinne eines emphatischen Verständnis der politischen

Teilhabe. Aber auch eine Demokratie im Umbruch benötigt als zivilge- sellschaftliches Experiment zur Chancenöffnung händeringend Leis- tungsträger, die über die Froschperspektive privater Bedürfnisse oder beruflicher Professionalität hinausschauen, und keineswegs erfolgrei- che, wiewohl vor allem dem eigenen Wohl verpflichtete Chancenab- sahner. Adel im metaphorischen Sinne, notierte José Ortega y Gas- set359, „erkennt man am Anspruch an sich selbst, an den Verpflich- tungen, nicht an den Rechten“. Besteht in diesem Verständnis nach wie vor das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Elite, das einzig durch Elitenkonkurrenz gemäßigt wird360, so wächst wieder je- nes alte Dilemma einer quantitativen wie multidimensionalen Auf- spreizung der Lebenslagen, die sich mit noch so großen Anstrengun- gen der Analyse361 kaum mehr als Vervielfältigung der Milieus ausge- ben lassen. Trotz aller sozialpolitischen Umschichtun- gen/Heraufstufungen schaffte die Demokratie jedenfalls als Vertei- lungsmotor keineswegs das Ergebnis, das theoretisch von ihr erhofft

358 Western Political Theory in the Face of the Future, Cambridge u.a.: Cambridge UP 1979, S. 27. Vgl. S. F. Franke: (Ir)rationale Politik? Grund- züge und politische Auswirkungen der ‚ökonomischen Theorie der Politik‘, Marburg: Metropolis 1996, S. 122. 359 Der Aufstand der Massen (1930), Hamburg: Rowohlt 1958, S. 45. 360 Zu diesem Problemkomplex Geraint Parry: Political Elites, Landon: Al- len and Unwin 1971, S. 141 ff., hier S. 147. 361 Vgl. Uwe Schimank: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opla- den: Leske + Budrich 1996. 127

wurde. Lange hatte man geglaubt, dass ein freiheitlicheres Miteinan- der in doppelter Hinsicht dauerhaft eine über Jedem-das-seine-

Effekte hinausgehende Zuweisung von Chancen erleichtern würde.

Zum einen wurde mit Thomas Dehler (Das Parlament vom 16. 11.

1966, S. 10) davon ausgegangen, dass solchermaßen tatsächlich „die

Auslese der Besten zur Teilnahme an der Regierung ermöglicht“ wür- de, ohne die das demokratische Gewerbe auf die Dauer nicht „beste- hen“ könne; zum anderen sah sich die soziale Ausbalancierung der

Gesellschaft avisiert, wohingegen bald die Kompatibilität362 von Par- lamentarismus mit Armut, Randständigkeit und sozialem Unfrieden zu

Tage trat.

Nicht das Hervortreten und die Vermehrung von Eliten war/ist das

Problem der politischen Moderne, wiewohl nicht erst seit William

Godwin363 auf mehr Selbstrepräsentanz der Bevölkerung gehofft wur- de: „Regierung ist, unter allen Umständen, von Übel; sie sollte daher so sparsam wie möglich eingesetzt werden.“ (S. 556). Die Vervielfäl- tigung der Aufgaben, die in der Massengesellschaft anfallen und zu bewältigen sind, hat Kreativität und Entscheidung an vielen Stellen der Gesellschaft vorrangig werden lassen. Das Dilemma besteht dar- in, dass der entsprechende Leitungsbedarf nicht oder nicht hinrei- chend elitärF gedeckt wird. In einer Wirtschaftsmoderne, in der die eigene Vorteilsnahme durch Machtbesitz/Besitzmacht nicht nur zum arbeitsweltlichen Lebenszweck, sondern zur Überlebensregel einer

Ellenbogengesellschaft gerät, ist die Befriedigung durch den Dienst am Gemeinsinn eine belächelte Naivität, trotz der neuentfachten

Pflichtendebatte364 als Folge des Schwundes an Normenkapital.365

362 Vgl. Robert Greenstein/Scott Barancik: Drifting Apart, Washington: Center on Budget and Policy Priorities 1990. 363 Enquiry concerning political justice (1793), Hrsg. Isaac Kramnick, Har- mondsworth: Pelican 1976. 364 Angèle Kremer-Marietti: Morale et politique, Paris: Kimé 1995, S. 93 ff. 128

Das wird den postmodernen Führungsnachwuchs366 kaum tangieren, geht es in neoliberalen Zeiten neben der Karriere367 vor allem um den

Willen und die Befähigung, Selbständigkeit im oder als Beruf zu üben.

Wichtig genug, denn ‚Tüchtigkeit’ ist neben Innovativität und Durch- setzungsvermögen eine Grundlage, auf die Elitebildung setzt. Das sind nur Fassetten für jenes Eignungsprofil, das wirklich leistungsfä- hige Eliten in Politik, Kultur, Wirtschaft oder Gesellschaft zur Lösung der Herausforderungen einer wandelintensiven Kultur- und Wirt- schaftsmoderne benötigen.368 Wünscht sich alle Welt aus guten

Gründen auf den verschiedenen Etagen der Gesellschaft ein Regiment der Besten369, bleibt die Erfahrung mit jener „Oligarchie, die immer regiert“ (Pareto)370 auf dem Boden der Tatsachen. Die Schilderung der wochentäglichen Weltverwaltung, wie sie etwa Robert Reich371 für

Washington liefert, schwankt zwischen hohen Ansprüchen und lakoni- scher Zur-Kenntnisnahme. Der Ex-Minister beschrieb immerhin das

Machtzentrum der heutigen Weltinnenpolitik. Die Rede ist nicht von einer riskanten Elite, wohl von „Amtsinhabern“ (Guy Kirsch), die sich auf ihren vielen Rangpositionen zwar bemühen, aber die öffentlichen

365 Digby Anderson (Hrsg.): The Loss of Virtue. Moral Confusion and Soci- al Disorder in Britain and America, o. O.: Social Affairs Unit 1992 366 Vgl. Heinz Bude/Stephan Schleissing (Hrsg.): Junge Eliten. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1997. 367 Angelika Dietrich: Elite unter sich, Die Zeit vom 16. 12. 1998, S. 71. 368 Auch die hoch-nachgefragte Kompetenz, etwa durch erfolgreiche Be- triebserrichtungen (vgl. Jörg Wurzer: Pioniere, Gründer, High-Tech- Unternehmer, Stuttgart: DVA 1999) Arbeitsplätze zu schaffen, hat mit einer elitärerF Rollenwahrnehmung per se nichts zu tun, trotz der modischen Ver- wechslung von Wettbewerb und sozialer Plus-Summierung. 369 Auch weil mehr als eine Verinnerlichung der demokratischen Spielre- geln (angesichts der Arbeitsteilung, Apathie, Unkenntnis etc.) in der Be- völkerung nicht zu erwarten ist, allerdings auch nicht weniger, da sonst „the mandate of the people“ nicht funktionieren kann, vgl. Reinhard Ben- dix: Kings or People, Berkeley u.a.: UP California 1978, S. 430. 370 Trattato di sociologia generale (1916), 4 Bde., Hrsg. Giovanni Busino, Turin: Unione Tipografico-Editrice 1988, Bd. 4, S. 2081: § 2183. 371 Goodbye, Mr. President. Aus dem Tagebuch eines Clinton-Ministers, Düsseldorf/München: List 1998. 129

Angelegenheiten nach Hausmannsart verwalten. Deren Prosperieren mag zumal ihren eigenen Belangen am besten dienlich sein, wohinge- gen wertrationalere Ziele fehlen. 130

4 Reizthema

„Wo Politik ist oder Ökonomie, da ist keine Moral“372

Historisch wie sachlich war/ist die Elitefrage ein Streitthema und for- dert(e) zu Verstiegenheiten aller Art heraus. Allerdings erweist eine

Sichtung der exoterischen ebenso wie esoterischen Literatur373 zu diesem Problemkreis, deren Fülle und Kontroversität schwerlich einen

Bewertungs- oder gar Deutungskanon zulässt, den Zwang zur Axioma- tik. Mit Blick auf die historische Dimensionalität und Latenz von Ver- gesellungsdefiziten unterliegt aller Sozialinterpretation ein Behaup- tungscharakter. Selbst wissenschaftliche Systeme finden Beachtung oder nicht, weil sie dem Zeitgeist beziehungsweise - im Zeitalter der zunehmenden Außensteuerung selbst der hiesigen Sozialwissenschaf- ten durch Konzerne wie Bertelsmann, Gerling, Körber, Reemtsma,

Shell, Thyssen etc. - den Interessen ihrer Finanziers entsprechen o- der nicht. Im soziologischen Analyserahmen ist Interpretativität un- vermeidlich und reflexive Normativität angeraten. Es geht weniger um das Versenken in oder von Begriffen beziehungsweise den Versuch,

Aufhänger ins Abstrakte zu schlagen. Vielmehr interessiert der mög- lichst unverstellte Zugriff auf soziale Tatbestände, auf jenes „Rohe“ also, wie John R. Searle374 schreibt (S. 11 ff.), das sich vom „Ge- kochten“ (Ideen) ebenso abhebt wie vom „Garen“ (Theorien). Letztere haben mit der Wirklichkeit eher wenig zu tun, die jenseits der Papier- welten problematisch bleibt. Im Feld der Elitenfunktions-Debatte kann es weder um Beschönigungen gehen, noch darum, anthropologische

372 Friedrich Schlegel: Ideen (1800): In: Athenaeum. Eine Zeitschrift, Hrsg. Curt Grützmacher, 2 Bde., Reinbek: Rowohlt 1969, Bd. 2, S. 146. 373 Vgl. Joachim H. Knoll: Führungsauslese in Liberalismus und Demokra- tie. Zur Geistesgeschichte der letzten hundert Jahre, Stuttgart: Schwab 1957. 374 Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie so- zialer Tatsachen, Reinbek: Rowohlt 1997. 131

Fundamente (Bedürfniswesen), sozialgeschichtliche Begrenzungen

(Knappheit) beziehungsweise Regelungsbedarf (Kommunikationsstö- rungen) der Weitervergesellung außer Acht zu lassen. Der „Ursprung der großen und dauerhaften Verbindungen der Menschen ist nicht von wechselseitigem Wohlwollen, sondern von gegenseitiger Furcht aus- gegangen“. Derart wollte Hobbes375 das Rollenfundament der Eliten- problematik verstanden wissen. Während Adam Smith376 als Promoter der Marktmoderne später korrigierte, weder Einschüchterung noch

Wohlwollen, einzig der interaktive Nutzen bilde die gesellschaftliche

Essenz.377 Solche Positionen treffen für den Wohlfahrtsstaat so nicht mehr zu, fasst man dessen Umverteilungs-Anstrengungen ins Auge; zudem scheint in der Hochmoderne die Feindlogik entschärft zu sein378, wenigstens mit Blick auf die „tolle Freiheit“ (Kant) zwischen- staatlicher Aggressivität, wenngleich die innergesellschaftliche

Entspannungs-Euphorie, Stichwort ‚Entfeindung‘ der Politik, unter Be- rücksichtigung neuer Stressoren (verschärfende Verteilungsmängel,

Verhaltens-Irritationen, Überforderungen aller Art, Asozialisierungs- tendenzen, Kontrollverdichtungen etc.) merkwürdig gutmenschlich wirkt und auch der Nutzenaspekt durch die soziale Unwucht auf der einen, exzessiver Wohlstand auf der anderen Seite immer weniger bindet. Entsprechend hat der Bangigkeitspegel kaum abgenommen, ohnehin kommt Kultur dem Versuch gleich, Sozialängste der mensch- lichen „Orientierungswaisen“ (Lübbe) wenigstens zu mäßigen. Mehr

375 Thomas Hobbes: Vom Bürger (1642), 1. Kap./Punkt 2, in ders. (Anm. 79), S. 79. 376 Jerry Z. Muller: Adam Smith in his time and ours. Designing the decent society, New York u.a.: Free Press 1993, S. 113 ff. 377 Was erst Gabriel Tarde (Les Lois de l’imitation [1890], Paris: Alcan 4 1904) noch vor Georg Simmel mit der Begründung korrigierte (S. 64 ff.), es handele sich eher um prozedural-interaktive als um Verpflichtungs- Kontexte. 378 Hanjo Kesting: Herrschaft und Knechtschaft. Die ‚soziale Frage’ und ihre Lösungen, Freiburg: Rombach 1973, S. 84 ff. 132

als zwanzig Prozent der Bevölkerung klagen (1997) über Beklemmun- gen aller Art, insofern lassen sich Konturen einer innergesellschaftli- chen Panikbereitschaft vermessen, die von ständigen Sorgen ebenso zeugen wie von Verlassenheit und Anomie.

Hobbes ist gleichwohl eher als Smith der prognostische Elitedenker, weil er methodologisch anspruchsvoll, hinreichend realistisch und vor allem politisch konstruktiv die Geltungsfragilität aller nicht transzen- dental beziehungsweise emotional verankerten Ordnungsstrukturen in

Rechnung stellt. Sie können außer Zwang höchstens symbolische Ge- walt zu ihrer Justierung beanspruchen, ansonsten funktionieren oder nicht. Wenn „von der Qualität der Elite“ tatsächlich „in hohem Maß der Erfolg einer Gesellschaft abhängt“379, wiewohl hier eine symbioti- sche Beziehung waltet380, kann es mit der Leitungsleistung der Füh- rungskader angesichts der Katastrophen des Jahrhunderts nicht weit her gewesen sein. Offensichtlich sind auch in republikanischen Zeiten stets elitäreD Notbremsen zur Rückversicherung der Macht vorhan- den/präsent, damit Rechenschaftslegungen konterkariert werden kön- nen, wie sie im parlamentarischen Rahmen eigentlich vorgesehen sind? Elite tritt eher autoritär als im öffentlich-erwünschten Sinne ‚e- litär’ auf, wenn „Casus-belli Zonen der Gesellschaft“ (Krockow) be- rührt scheinen381: Was sich historisch allemal aus der innergesell-

379 Peter Stieglitz: Eliten. Die Stützen der Gesellschaft, Wien: Atelier 1991, S. 138. 380 Auf die Lord Chesterfield (Briefe an seinen Sohn (1774), Berlin: Deut- sche Bibliothek o.J., S. 6) am 6. August 1741 mit der Bemerkung hingewie- sen hat, dass „jeder von der Gesellschaft Vorteile erhält, die er nicht ha- ben könnte“, wenn er allein wäre. „Ist er daher nicht, gewissermaßen, ein Schuldner der Gesellschaft?“ 381 Vom ‚Peterloo massacre’ (1819) über den Straßenkrieg des Generals Eugène Cavaignac (1848), das Wüten des Marquis Gaston de Gallifet (1871), Felix Dscherschinskis Sicherungsmaßnahmen (1918 ff.), das Blut- bad von Amritsar (1919), Gustav Noskes (1920) ‚Durchgreifen’, MacArthurs „bonus war“ gegen Kriegsveteranen in Washington (1932), die Algerierver- folgung in Paris (1962), Pinochets (1973 ff.) blutiger ‚Rückkehr zur Norma- lität’ oder auch der Krieg gegen große Teile der eigenen Bevölkerung unter 133

schaftlichen Fallhöhe ergab, der die maîtres du jeu ausgesetzt waren, denn „Kultur mit allem Drum und Dran, wo vorhanden“, schloss/schließt nicht aus, dass „ein grosser Teil der Bevölkerung ebenso primitiv lebt wie der Naturmensch“382. Die Teilung der Vertei- lung materieller, organisatorischer wie kognitiver Güter bildet(e) das unableitbare, gewohnt-eingespielte oder auch ‚funktionale’ Prärogativ der Eliten, notierte schon Hobbes383, wie immer ansonsten die sozial- politischen Verhältnisse ausfallen.

Rule of Fear

Die bedeutenden Bücher in der Ideengeschichte wurden von Autoren verfasst, die angesichts ihrer Epoche entweder erschrocken oder er- regt waren oder beides zugleich. Diese Beobachtung trifft auch auf

Hobbes zu, den Vordenker der neuzeitlichen Sozialtheorie, nicht um- sonst als „unser aller Vater“ (Marx) tituliert. Erschrocken war der

Thukydides-Kenner zutiefst, noch gegen Ende seines Lebens hat er davon gesprochen, in der Nacht zum 5. April 1588 habe seine Mutter

Zwillinge zur Welt gebracht: Ihn selbst und die Furcht. Im wenig be- sonnten Rückblick auf seine Vita sind nur Kirchenkämpfe, Sozialunru- hen oder Schichtzwiste aufzuzählen. Er selbst musste vor der religi- ous correctness nach Frankreich fliehen, und bei seiner Rückkehr nach London war er keineswegs sicher. Noch im Jahr 1666 diskutierte das Parlament strafrechtliche Maßnahmen gegen diesen Ketzer, der politisch so radikale Ansichten vertrat, obschon er in letzter Konse-

Milošević (1999), um vom administrativen Zustandsschutz à la McCarthy oder dem ‚Radikalenerlass’ nicht zu reden. 382 Henry D. Thoreau: Walden oder Hüttenleben im Walde (1854), Zürich: Manesse 1972, S. 53. 383 Ramond Polin: Politique et philosophie chez Thomas Hobbes, Paris: PUF 1953, S. 53 ff. 134

quenz um eine artifizielle, sprich rationale Neubegründung des „body

Politique“ rang und gerade damit um die Festigung von Oboedienz.384

Es war jedoch nicht allein der zeitgenössische Meinungs- bezie- hungsweise Bürgerkrieg, jener Behemoth der Mythologie, der die Epo- che vergällte. Hobbes war zudem über den raschen Sozialwandel be- sorgt, der alle Institutionen und ihre Begründungshöfe in Mitleiden- schaft zog. Bei der Suche nach neuen, tragfähigen Fundamenten der

Ordnung kamen ihm die Erfindungen der Mathematik und Mechanik jener Tage gerade recht, die er zur Abmessung der sozialen und poli- tischen Dinge sowie in sozioformativer Intention in das Kalkül einbe- zog. „Die Fähigkeit, Reiche zu erschaffen und zu erhalten“, lautet seine Begründung385 für eine derartige Genremischung lange vor ihrer

Durchführbarkeit auf Grund der Öffnung des Politischen, „fußt wie A- rithmetik oder Geometrie auf gewissen Regeln; nicht aber, wie Ten- nis, auf Übung allein.“ Das intellektuelle Ergebnis dieser Verschmel- zung von Furcht und Neugier war ein Bruch mit der Konvention. Sein

‚Leviathan’ (1651) schockierte die Mitwelt, das Infragestellungspoten- tial seiner Sichtweise wirkt bis heute ungeschmälert. Diese Brisanz widerlegt die Resignation des Denkers, wonach „Wissenschaften ein geringes Gewicht haben“386. Ganz im Gegenteil, die Hobbes-Industrie ist unermüdlich. Und doch besteht keine Einigkeit darüber, wie er richtig zu verstehen sei. War Hobbes ein elitärer Amoralist oder gar

Frühfunktionalist, der mit schlichten, vielleicht allzu schlichten Codes

384 Hobbes: Leviathan, Anm. 83, S. 81 f. Bereits 1654 waren Schriften von Hobbes auf den ‘Index Librorum Prohibitorum’ gesetzt worden. Und noch drei Jahre nach seinem Tod verdammte die Universität Oxford 1683 Hob- bes’ politische Lehren. Mehrere seiner Bücher wurden zum Jubel der Stu- denten und unter großem Zulauf der Menge verbrannt. 385 The English Works of Thomas Hobbes, Hrsg. Sir William Molesworth, London: Longmanns etc. 1839 ff., Bd. III, S. 195 f. 386 Wie es etwas abschätzig unter der Überschrift Of Power, Worth, Digni- ty, Honour, and Worthiness im zehnten Kapitel des Leviathan (vgl. Anm. 84, S. 151) heißt. 135

arbeitete? Oder lässt er sich mit Howard Warrender387 als Erfinder einer im eigentlichen Wortsinn marktgängigen Ethik der Selbstbe- hauptung verstehen, die der späteren Karriere des Sozialdenkens in

Form der Wahlaktthese von einer rational choice den Weg öffnete?

Jedenfalls besteht die Nachwirkung von Hobbes darin, dass er der

Politikmoderne spezifische Gestaltungsprobleme vorbuchstabiert hat.

Sie sollte von Charles-Louis de Montesquieu388, Jahrgang 1689, mit der Losung, „die politische Freiheit besteht in der Sicherheit, oder doch wenigstens in der Illusion, die man über seine Sicherheit pflegt“, als obsessives Schutzbedürfnis der neuzeitlichen Freizügigkeitsvision entschlüsselt werden. Als erster Autor nach Machiavelli hat Hobbes jene „Zerfällung der Gemeinschaft“389 wirklich ernstgenommen, die der Herausbildung kapitalistischer Wirtschaftsbeziehungen auf dem

Fuße folgte.390 Nicht zuletzt das bewirkt seinen realpolitischen Nutz- effekt, den die Zeitläufte immer wieder ausmachen. So auch nach dem

Kalten Krieg, in einer neuen, durch

- militärisch-logistische Faktoren391

- ökologische Lageverschlechterungen

- die Volatilisierung der Marktwirtschaft als Folge der Globalisierung

und Virtualisierung der Geld- und Warenmärkte392

387 Hobbes’s Conception of Morality, Revista Critica di Storia della Filoso- fia (Florenz), Jahrgang 1962, S. 435 ff. 388 De l’esprit des lois, Buch 12, Kap. II, vgl. 2 Bde., Paris: Pourrat 1834, Bd. 1., S. 349. 389 Herfried Münkler: Thomas Hobbes, Frankfurt am Main/New York: Cam- pus 1993, S. 117. 390 Vgl.Caroline Gerschlager: Konturen der Entgrenzung. Die Ökonomie des Neuen im Denken von Thomas Hobbes. Francis Bacon und A. J. Schumpeter, Marburg: Metropolis 1996, S. 17 ff. 391 Vgl. François Géré: Demain, la guerre, Paris: Calmann-Lévy 1997. 392 Auf die Verdrängung der Wirtschaft (Versorgung der Gesellschaft mit Arbeit und Gütern) durch die Gewinnrealisierung (short-termism + share- holder-value) hat bereits Rudolf Hilferding (Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus (1910), Berlin: Dietz 1947) hingewiesen hat, wiewohl mit Blick auf dramatischere politische Konse- quenzen. 136

verstärkten Weltunordnung, in der die stabileren Jahren geschuldete

Annahme schwindet, wonach die politische beziehungsweise soziale

Sicherheit ein quasi-natürliches und damit unerschöpfliches Kollek- tivgut darstelle393. Seit die erfolgreiche Ideologie des ‚Neoliberalis- mus’ mitsamt ihrem „Managerkult“ (Musso) die etablierten Muster so- zialer Kompensationspolitik als „solidare Sicherungsveranstaltung der

Gesellschaft durch die diese Gesellschaft bildenden Menschen“394 mit

‚Kollektivismus’vorwurf belegt, unterliegt der vielbeschworene Indivi- dualismus der Epoche zunehmend auf eigenes Risiko der biographi- schen Verantwortungslast395, was als „Kapitalismus ohne Netz“396 das

Spektrum altgesellschaftlicher Sicherheitsbedürfnisse (Arbeitslosig- keit/Armut/Anomie/Alter/Krankheit/Isolierung etc.)397 wieder auf die

Agenda des postmodernen Problem-Aufkommens setzt. Die Zeiten, in denen frei nach „am Ende triumphiert die gute Sache“ (Erasmus) das

Wünschen geholfen hat, scheinen vorbei, seit eine internationalisierte

Hyperkonkurrenz die Wirtschaft antreibt. Die semantische Beschwö- rung der Solidarität oder Soziabilität reicht kaum aus, um Friedfertig- keit wie Versorgung und damit wenigstens die Sicherheit von Leib und

Leben wenn schon nicht zu stiften, so doch als legitim auszugeben, wie der Blick auf Geschichte und Mitwelt gleichermaßen erweist. Hob-

393 Jenes „Hobbesian problem of order“ (Parsons) bildet nicht nur eines der Grundfragen aller modernen Sozialwissenschaften. Es bleibt auch zentrale Frage der Politik, trotz noch so gesinnungstüchtiger Parteitagsbe- schlüsse etwa der ‘Grünen’, wonach sich die vielen Widrigkei- ten/Widerwärtigkeiten in aller Welt legen, wenn erst alle Menschen Brüder und Schwestern wären und die Waffen fielen... 394 Gerhard W. Brück: Allgemeine Sozialpolitik, Köln: Bund 1976, S. 38 f. 395 Vgl. François Dubet/Danilo Martuccelli: Dans quelle société vivons- nous?, Paris: Seuil 1998. 396 Rolf Dieter Schwartz: Was hält die Gesellschaft noch zusammen?, Ber- lin: Aufbau 1996. 397 Nicht nur der Einzelne, die Epoche insgesamt stünde wieder am Fuße jener Bedürfnishierarchie-Pyramide, die A. H. Maslow (Motivation und Per- sönlichkeit (1954), Olten/Freiburg i. Br.: Walter ²1978, S. 74 ff.) in den seinerzeitigen Wirtschaftswunderzeiten bereits auf dem Sprung über die happiness threshold wähnte. 137

bes lehrte hier Skepsis, weil er Vergangenheit, Gegenwart und Zu- kunft gleichermaßen von Knappheit, Ignoranz [als (f) Informations- mangel] oder gar „Misologie“ (Kant) überschattet sah. Insofern wech- selt er angesichts der Welthändel schon seiner Zeit erkenntnisstrate- gisch vom überlieferten, normativ ausgerichteten Verständnis des So- zialen zu einem analytisch-materialistischen Ansatz der Seinsbetrach- tung. Mit mutualistischen Appellen an einen gemeinsamen Wertehim- mel, die Güte der Menschen, die Gültigkeit der Regeln, Fairness etc. schienen die drückenden Ordnungsprobleme nicht länger lösbar zu sein. Sie ließen sich politisch nicht einmal mehr stillstellen, nachdem sich der Chor der Ansprüche durch Öffnung des Politischen für auf- strebende Schichten, wie sie im Kontext der Revolutionsereignisse des 17. Jahrhunderts durch vorerst intellektuelle Gegeneliten398 als gueux plumés vorformuliert wurde, nicht nur verbreiterte, sondern auch vervielfältigte. Galt das Schweigen der Grundschichten trotz subversiver Anklänge etwa im Lollardismus bisher als „als Argument für die Billigung“ (Hobbes), musste von Seiten der Eliten ihrem Lau- terwerden und damit der Häufung durchaus konträr artikulierter Lage- sichtweisen „in an age over-run with scribblers“ (Halifax) mit fester

Hand und Zensur entgegengetreten werden399, die nicht länger der

Wahrheit oder ‚der’ Vernunft400 verpflichtet seien, sondern einer Au- torität. Hobbes suchte nach Stabilität mit Blick auf die Chaotik der anhebenden Marktwirtschaft in agrarischer Umgebung, deren „Anar-

398 Vgl. deren verteilungspolitische Grundtendenz („all rich men live at ea- se, feeding and clothing themselves by the labours of other men, not by their own; which is their shame, not their nobility“, S. 287), wie sie etwa durch Gerrard Winstanley (The Law of Freedem in a Platform (1652), in ders.:The Law of Freedom and other Writings, Hrsg. Christopher Hill, Har- mondsworth: Pelican 1973, S. 273 ff., hier S. 287) auf den Begriff gebracht wurde. 399 Wie Hobbes es im 26. Kapitel des Leviathan entwickelt, vgl. Anm. 84, S. 311 ff. 400 „Law can never be against Reason“, heißt es maliziös“ (a.a.O., S. 316), fragt sich nur, „whose Reason it is“? 138

chie ohne Verwirrung“ (Pope) ihm schwerlich der Königsweg in eine freiere Assoziation, sondern gerade das entscheidende Zukunftsdi- lemma zu sein schien. Mit dem Gedankenbild eines Quasi-Nullpunktes der Evolution im Naturzustand sieht sich die Kontrolle der modernen

Unsicherheit handlungstheoretisch als Elitenprojekt vorbereitet. Ent- sprechend sieht sich die Nichtübereinstimmung von Mensch (als Wolf) und Bürger (als Untertan) gedanklich in einem Gesellschaftsvertrag als weitestgehende Rechtsentäußerung aufgehoben, durch welche die

Verantwortung für den Frieden als Voraussetzung eines „Common- wealth“ (Hobbes) im Staat als Inbegriff einer die Moderne allein tra- genden Gegenseitigkeitsmoral der „universal stranger“ (Titmuss) ge- bündelt wird.401 Wenngleich vorgegeben wird, rein logisch und damit gleichsam dekontextualisiert die wirklichen Elementarbausteine der

Gesellschaftswelt wie Furcht, Interesse oder Imagination in Rechnung zu stellen, spiegelt dieser Ansatz („entstanden aus den Verwerfungen der Gegenwart“, a.a.O., S. 728) mit der Betonung von Mangel, Kon- flikten oder der verbreiteten Desorientierung gleichwohl die Erfahrun- gen der damaligen Übergangszeit. Resultat ist ein Elitenverständnis von Politik, das widersprüchlich bleibt, weil es diese Zeit- als Son- dererfahrungen nicht nur dramatisiert, sondern zugleich als ontologi- sches Dilemma verallgemeinert. Die Überfrachtung des Modells wird zusätzlich verstärkt durch den undurchschauten Doppelcharakter der neuen Marktordnung, um die es geht, als zugleich natürliches und ar- tifizielles System. Die Zwangsverbürgerlichung unserer vorgeblichen

Wildheit ignoriert die seinem Ansatz zugrundeliegende Differenz von homo und civis, weil der rekonstruierte ‚Mensch’ (lupus) des Naturzu- standes sich entpuppt als das bürgerliche Bild, das die frühneuzeitli- che Konkurrenzepoche im Ringkampf mit der durch die „in Bewegung

401 Vgl. a.a.O., S. 214. 139

geratenen Dinge“ (Hobbes) ausgelösten Dynamik von sich selbst pflegte.

Dieser logische Schnitzer änderte wenig an der politischen Attraktivi- tät der Schlussfolgerungen. Der imaginierte und schwarz angemalte

‚Naturzustand’ geriet zur Projektion, mit deren Hilfe die jeweiligen

Epochen hinfort über sich selbst reflektierten. Denn ‚der Mensch’ konnte/wollte trotz aller utopischen Verweise auf einen ‚edlen Wilden’ als angeblicher Alternative, die damals modisch wurde, nicht mehr hinter den zeitgenössischen Vergesellschaftungs-Zustand zurück.

Ausgangspunkt allen Argumentierens über den öffentlichen Raum musste die neue ‚Verbürgerlichung’ der Weltläufte sein. Zugleich war die in Gang gesetzte, rapide steigende Verkomplizierung der Sozial- moderne politisch abzufedern. Doch wie? Sand-Atome können, wenn

überhaupt, nur mit geschlossener Faust zusammengehalten werden, brachte Paul Yorck von Wartenburg402, Berater König Friedrich Wil- helms IV. von Preußen, das Grundkonzept aller nichtkonsensualen

Elitepraxis auf den Begriff. Das gilt vor allem, wenn diese ‚Atome’ von

Natur aus, also um des schieren Überlebens willen, einem „ewigen und ruhelosen Streben nach Macht und noch mehr Macht“ unterliegen,

„das erst mit dem Tod endet“403, folglich um alles und jedes mitein- ander wetteifern, ob sie wollen oder nicht, damit sie über die Runden kommen: Auch noch im Kontraktzustand, wiewohl nun wenigstens oh- ne jenen „Krieg aller gegen alle“ (a.a.O., S. 189) etwa in Form von

Bürgerkriegen fürchten zu müssen. Unabhängig von dieser alarmisti- schen Psychologie beschrieb Hobbes mit der Tendenz zur Vereinze- lung das Modernitätskriterium überhaupt. Und wenngleich sich, wirt- schaftgeschichtlich gesehen, der gesellschaftpolitische Zusammenhalt später umfundierte, etwa durch jene „organische Solidarität“ (Durk-

402 Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877 - 1897, Halle: Niemeyer 1923, S. 97. 403 Leviathan, Anm. 84, S. 161. 140

heim) der Arbeitsteilung, war besagte Singularisierung als unabseh- bare Komplexitätsdynamik nicht mehr zu bannen. Entfremdung als

Folge dieser bei Hobbes zuerst auf den Begriff gebrachten Pluralisie- rung gar stellt eine wesentliche Voraussetzung der modernen Freizü- gigkeit dar404, weswegen seine Machttatsachenlehre wahlweise zu den Vorläufern des Liberalismus zählt oder als Befürwortung einer

Zwingherrschaft gilt. Auch das ist eines der Paradoxe, die dieses Eli- te-Werk hinterlassen hat. Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob Hob- bes durch die Angst vor den Massen umhergetrieben wurde. In diesem

Sinn wäre zu fragen, wer die Untertanen gegen die Kalkülrationalität der Obrigkeit schützt? Oder ob wir es mit einem elitären Plädoyer für die Volkssouveränität zu tun haben? Das behauptete bereits die Uni- versität von Oxford, die seine Schriften verdammte. So oder so, beide

Sichtweisen laufen auf einen Überhang an Herrschaft hinaus, ein poli- tisches Erbe nicht nur Alteuropas. Offensichtlich gleicht diese Hinter- lassenschaft, über die sich in der Ideengeschichte nur wenige Auto- ren wie etwa Boétie405 wunderten, jenem Horizont der Autorität, „der lange zögert, ehe er untergeht“ (Rilke), wie sich allenthalben im

Dunstkreis der Macht beobachten lässt.

Zivilisation als Macht-Verflechtung

Die historische Elitenfrage hat eine aus Sicht der Spitzenkräfte tragi- sche Rückseite, gemeint ist der Triumph der Funktion über die Anma-

ßung. Das betrifft die Chefetage selbst, die seit der Frühmoderne ei- ner Tendenz zur Durchrationalisierung ihrer Leitungsaufgaben unter-

404 Vgl. Arnold Gehlen: Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, in ders.: Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied/Berlin: Luch- terhand 1963, S. 232 ff. 405 Discours sur la servitude (Anm. 222), S. 41 ff. 141

lag. Jener epochale „Objektivierungsprozess der Kulturinhalte“406 schränkte deren herkömmliche Spielräume durch Sachzwänge als Fol- ge der wachsenden Unübersichtlichkeit der Sozialdinge (Professiona- lisierung, Aufgabenteilung, Kontrollverdichtung etc.) ein. Das Oben-

Unten-Gegenüber wurde im Verlauf dieser Versachlichung - bei gleichzeitig zunehmender Personalisierung - von Herrschaft nicht be- seitigt.407 Die etablierten beziehungsweise nachrückenden Führungs- kader durchlebten durch diesen Erwartungsdruck jedoch eine Veren- gung ihrer Position. Das hatte weniger damit zu tun, dass „Könige aus politischen Gründen tyrannisch auftreten, wenn ihre Untertanen aus

Prinzip rebellisch werden“408. Vielmehr ruht in der Moderne in allen

Subsystemen die Abwicklung von Herrschaft „notwendig und unver- meidlich in den Händen des Beamtentums“409. Die Fabrikwelt unterlag bis hinauf ins gesellschaftliche penthouse einem Zweckrationalitäts-

Verdikt. Auch das Elitehandeln wich dem allgemeinen Trend zur

Durchstrukturierung, die das Regieren vorerst zum höfischen, dann zum verwaltungstechnischen Regelwerk werden ließ. In einer Über- gangsphase, deren Kriege, Krisen und Katastrophen zugleich Ursache und Ausdruck der wachsenden Ratlosigkeit und Divergenz einer Kultur im Wandel war, wurde beim Übergang zur Neuzeit frei nach der ge- sellschaftsgeschichtlichen Grundregel ‚Oben bleibt oben, wer unter welchen Systembedingungen auch immer auf der Empore bestimmt’ ein Kreislauf der Eliten initiiert, der mit einer Entwertung älterer

406 Georg Simmel: Philosophie des Geldes, München/Leipzig: Duncker & Humblot ³1920, S. 519. 407 Was schwerlich möglich war, weil es eine Durchdringung mentaler Ord- nungsbilder verlangt hätte, die nach wie vor gelten, so dass selbst Kriti- kern der Unterwerfungstradition wie Paul Johann Anselm von Feuerbach (Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangs- recht der Bürger gegen den Oberherrn, Gießen: Müllersche Buchhandlung 1797) ihre „Unterthänigkeit“ selbstverständlich blieb (S. 25 ff.), selbst wenn sie responsiver begründet werden mochte. 408 Burke: Reflections (Anm. 212), S. 75. 409 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 122), S. 1047. 142

Herrschaftsmuster und ihrer Begründungen endete. Der ebenso schwierige wie langwierige Ablösungsprozess der politischen Struktu- ren Alteuropas sah sich von einer intellektuellen Problembeschrei- bung der alten Ordnung begleitet, die in innenpolitischen Fürchter- lichkeiten gipfelte, man denke an die Bartholomäusnacht des Jahres

1572. Solche Wahrnehmung führte im Gegenzug zu einer ideologi- schen Übersteigerung der zeitgenössischen Autoritätsvorstellungen, aber auch zu ihrer stillschweigenden Entweihung und damit politische

Aushöhlung.

Diese Tendenz zur Zusammenballung von Verfügung sah sich durch den Begriff der Souveränität abgestützt, der als Notausstieg aus dem

Epochendilemma unablässiger Religionsstreitigkeiten seit dem 16.

Jahrhundert hochelitär aufgeladen wurde und der erst in unserer Ge- genwart ins Wanken gerät, zäh genug noch immer. Jean Bodin, Jahr- gang 1530, hat ihn bei seiner Widerlegung des politischen Kalvinis- mus nicht erfunden, wohl aber sein Wesen als Appellinstanz des Poli- tischen aktualisiert. Seither besaß die politische Theorie einen auto- nomen Gegenstand, den sein Grundlagenwerk „Les six livres de la république“ (Paris: Puys 1576) entfaltet, und war nicht länger auf den

Zank um den Wirkungsbereich der Macht, auf Formenkunde oder mo- ralische Schranken der Regierenden beschränkt. Unabhängig von

Herkunft und Ziel, Mythos und Technik des Politischen - losgelöst so- gar von jeder Interpretation - galt Souveränität als fester Grund aller

Vergesellschaftung. Allein sie konnte „den Zwang, die Gewalt, den

Ehrgeiz, die Habgier, die Rache“ (Six livres I, 6) aushebeln, die vor der Staatsgründung („Vernunft und Erleuchtung haben uns dahin ge- führt“, a.a.O.) zwischen den Clans den Ausschlag gegeben hatten.

Bodin erfasst als erster diese Dynamik als Resultat der erfolgreich- organisierten Zusammenballung von Menschen, als deren wichtigste 143

Einheit die patriarchalische Familie (I, 2) gilt, die sich um den Magne- ten des Eigentums410 als Basis der geordneten und ausreichenden

Reproduktion gruppiert. Aus der Interaktion von Familien und Eigen- tum entsteht ein herrschaftliches Kraftfeld, das sich in „estats“ (Bo- din) unterteilt als raum-zeitliche Ausformungen der Souveränität. Die- se selbst soll weder ein Geschöpf der Machtpolitik sein noch deren

Spielmasse, es geht vielmehr um die Bewältigung einer gleichsam au- topoietischen Gesellschaftskraft ohne Begrenzungen. Über ihre all- gemeine Entstehung aus dem Zusammenwirken der Menschen hinaus bleibt sie eine Explikation des göttlichen Willens. Mit der Schöpfung entstand Souveränität als Rohstoff des Gemeinschaftlichen, seit der

Offenbarung allerdings schien für Christen diese Kraft am besten in

Monarchien aufgehoben.411 Wirkt die Deutung der Souveränität als vorhandener Ressource innovativ, so bleibt ihr Epochenkolorit bei

Bodin pragmatisch und damit elitär eingefärbt, hält sich keineswegs an neutestamentliche Gleichheitspostulate, die ohnedies durch Kir- chenlehren verschüttet oder vom Calvismus (Reichtum =

Erlösungschancen-Maximierung) abgewertet wurden.

Orientierungsprinzipien der Souveränität sind vielmehr Gegebenheiten wie Besitz, Privilegien oder Muße, wodurch die elitären

Bestätigungschancen ungleich verteilt bleiben. Dagegen wandten sich schon die Monarchomachen412, denen die Souveränität als unteilbar galt, weswegen sie die Formung der jeweiligen „estats“ in die Hände der Menge legen wollten.413 Bodin indes geht es um „liberties“, nicht

410 Vgl. Walter Euchner: Eigentum und Herrschaft bei Bodin, in ders.: E- goismus und Gemeinwohl, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 47 ff. 411 Vgl. Paul Lawrence Rose: Bodin and the Great God of Nature, Genf: Droz 1980. 412 Vgl. Marcel David: La souveraineté du peuple, Paris: PUF 1996, S. 61 ff. 413 Denn die unabhängig von Monarchen oder Privilegien vorhandene Kraft der Souveränität ist Objekt des gesellschaftlichen Gestaltungswillens der Kraftteile (Individuen): Einer entpersönlichten Kraft entspricht aber nur die entpersönlichte Formung des Politischen, wie Rousseau das politische Na- 144

din indes geht es um „liberties“, nicht um „liberty“. Das widerspricht zwar dem Bild vom Souverän, der alle innergesellschaftliche Ord- nungskraft an sich rafft, obschon Bodins Debatte der Demokratie

(Gleichheit = unmöglich) zugleich verdeutlicht, dass Souveränität in einem „estat populaire“ nie gedeihen könnte. Solcher Spitzenfixierung liegt mehr an Ruhe als an Fairness: Setzt Letztere voraus, dass mo- ralisch zu verfahren ist, geht es dem Prinzip der Ruhe politisch um

Eigentum, „dignitas“ oder Adelsprivilegien. Diesem Souveränitätsge- danken steht kein Freiheitsbegriff zur Seite, stattdessen nimmt Bodin die bestehenden Unfreiheiten in Kauf, um Muße, „contemplatio“ und vor allem Sicherheit einzutauschen.

Obenfixierung der Souveränität

Der Souverän erhält die Zuständigkeitsfülle allerdings durch seine

Stellung als unbegrenzter Gesetzgeber, der „jedem einzelnen Bürger das Gesetz vorschreiben kann“.414 Im Mittelalter war Recht direkt po- litische Gewalt, nicht nur ein Instrument der Macht. Das „ius huma- num positivum“ meinte keineswegs legalistische Dezision, sondern war als „ius divinum naturale“ zugleich Ausdruck des überweltlichen

Willens, „ein Stück der Weltordnung“ (Fritz Kern). Die hohen Würden, deren sich das Recht erfreute, ließen in der Sicht mittelalterlicher

Laien jede Verletzung eines Gesetzes, selbst durch den Herrscher, als Sakrileg erscheinen. Somit blieb die Bestimmung der Grenzen des

Rechtsbruches den Betroffenen überlassen, was zu ‚privaten’ Rechts- wahrungsanmaßungen führte. Das Recht bedurfte nicht nur der Set- zung, sondern der Durchsetzung. In Alteuropa wurden indes lex und

turrecht ausformulieren sollte, vgl. Pierre Mesnard: L’ essor de la philoso- pie politique au XVIe siècle, Paris: Vrin 1951, S. 309 ff. 414 Léopold Genicot: Le XIIIe siècle européen, Paris: PUF ³1994, S. 351 ff. 145

iustitia identifiziert, Fehde und Gesetz stellten keinen Widerspruch dar. Nicht zuletzt diese Kalamität (ut legatum) wollte Bodin mittels

Souveränitätsentwurf in den Griff bekommen.415 So definierte er den

Staat (république) als eine „am Recht orientierte, souveräne Regie- rungsgewalt über eine Vielzahl von Haushaltungen und das, was ih- nen gemeinsam ist“.416 Die Regierungsgewalt sieht sich historisch zwar aus einer Verleihung durch das Volk hergeleitet, das aus nicht- souveränen Teilen (Gemeinden, Körperschaften etc.) besteht, die ih- rerseits Sippengruppierungen entstammen. Da dieser Quasivertrag zwischen Oben und Unten bei seiner Beschreibung der Souveränität keine weitere Aufgabe übernimmt, spielt er eine bloß beschreibende

Rolle als Reserveargument für einen Vorgang, der bei ihm ansonsten logischer Notwendigkeit entspringt.417 Deutet einiges darauf hin, als sei der Staat, wie bei Machiavelli, nur Objekt beziehungsweise Medi- um der Herrschertätigkeit, so sieht Bodin trotz der tendentiellen

Gleichsetzung von Souverän und Republik ein Eigenrecht des Staa- tes.418 Seine Staatsdefinition umfasst daher mehrere Brückenglieder:

415 Der Wille zur Überwindung der feudal-ständischen Rechtsanschauung durch eine eindeutige und damit höchste Entscheidung in einer rechtlichen civitas perfecta - damit im Kontext der neu-europäischen Ordnungslehre vom Staat -, resultierte aus der religionspolitischen Krisensituation, die bei Bodin einen existentiell adäquaten Ausdruck fand als Notdämmung der Zwiste durch staatlich-bürokratische Übermacht. 416 Vgl. Sechs Bücher über den Staat, I, 1, Hrsg. P. C. Mayer-Tasch, Mün- chen: Beck 1981, Bd 1., S. 98. 417 Vgl. J. W. Allen: A History of Political Thought in the Sixteenth Centu- ry, London/New York: Methuen/Barnes & Nobles 1964, S. 423. 418 So führt der Souverän die Wirtschaft kraft der ihm verliehenen Souve- ränität nur im Interesse des Staates, was letztlich für Bodin identisch ist mit den Interessen des Staatsvolkes, d.h. hier, den privilegierten Schich- ten. Daher klingen in der Souveränitätstheorie ungewollt äquivalenztheore- tische Motive an, ohne dass einer legitimen Volkssouveränität das Wort geredet würde. Dennoch gilt auch für Bodin das mittelalterliche Prinzip des „singulis maior - universis minor“: Die Identität von Republik und Regie- rung bleibt somit mangels begrifflicher Schärfe bestehen, aber nur im ju- ristischen Sinne. Der Monarch ist als Träger der Souveränität die Inkarna- tion des Staates in allen seinen Funktionen; der Staat ist aber nicht um des Herrschers willen da, sondern dessen Funktion erschöpft sich darin, durch Verwaltung der Souveränität die „république bien ordonée“ zu erhal- 146

1) Regierungsrecht - Diese Bestimmung kommt dem Staat in zwei

Weisen zu. Es ist auf Grund der Stellung im Völkerrecht sein Attribut; nach innen steht es dem Staat eingeschränkt zu, da das souveräne lex der von Gott inaugurierten Ius-Ordnung verpflichtet bleibt, wie- wohl im Alltag der Souverän als sprechendes Gesetz dann doch legi- bus solutus handelt.

2) Vielzahl von Haushalten samt Gemeinbesitz - Im Gegensatz zum von Aristoteles bis Rousseau üblichen Bild vom Makro-Anthropos ist hier der Staat nicht aus Personen konzipiert, sondern aus Korporatio- nen. Ihnen gemeinsam ist ein moralisches Substrat, denn Regeln oh- ne Verankerung im Massenbewusstsein stehen auf schwachen Füs- sen. Die im Souveränitätsbegriff angelegte Konsequenz ist noch nicht gezogen - wie später im Absolutismus -, das Gemeinwesen ganz auf potestas zu stellen; noch hat der Begriff der auctoritas größeren Legi- timitätswert als der faktische Zwang à la Hobbes.

3) Souveräne Machtverfügung - Sie ist nicht nur das parabolische, sondern das instrumentelle Wesen der in der Hand eines Souveräns geeinten Staatlichkeit. So umschreibt Bodin (I, 8) diese Größe auch als „absolut und ewig“: „Weder begrenzt in ihrer Kraftentfaltung oder

Zuständigkeit noch in ihrer Dauer“. Nach außen ist die Republik als

Staatssouveränität zudem von jeder anderen Macht unabhängig.

Im Rahmen der Identifikation von Staat und Regierung findet sich bei

Bodin keine Scheidung von Staatssouveränität und Organsouveräni- tät, die erst bei Hugo Grotius auftritt, Jahrgang 1583. Da es Bodin um die Zusammenballung und Rechtfertigung der inneren Souveränität

ten. Doch hat die persönliche Identität des Souveräns als Mensch und als Inkorporation der Republik rechtlich zur Folge, dass der Herrscher gegen sich keine Rechtshandlung unternehmen kann. Über der juristischen Identi- tät besteht aber keine weitere begriffliche, denn diese wäre konsequent nur so zu deuten, daß Bodin den Herrscher als den privatrechtlichen Ei- gentümer der „sugets“ auffaßte; dies aber ist unmöglich, da der Souverän nach Bodin an Verträge mit seinen Untertanen gebunden ist, mit Eigentum sind aber keine pacta zu schließen. 147

geht, berührt er die Problematik der äußeren Reichweite der Staats- souveränität kaum.419 Die Organsouveränität als höchste, da letzte

Gewalt im Staatswesen, mag sie bei einem „primus inter inferiores“

(Monarchie), mehreren (Aristokratie) oder der Mehrheit (Demokratie) liegen, ist allen anderen Gewalten vorrangig und damit überall zu- ständig, so dass anderen Instanzen kein Kompetenzbereich bleibt.420

• Der Grundgewalt als „lois vivantes“ hingegen ist die zeitliche Unbe- grenztheit zuzurechnen: An sich hat alles, was in Gang gesetzt ist, eine begrenzte Bewegungsdauer. Die Souveränität bleibt mithin nur souverän, wenn ihre Übertragung bedingungslos und demgemäß final ist. Zudem darf die Ungebundenheit sich nicht auf die jeweilige Trä- gerperson beziehen, sondern muss die Herrschaftsinstitution umfas- sen. Dies würde am ehesten durch die Erbmonarchie gewährleistet, in der Frauen nach salischem Recht ausgeschlossen waren.

• Die Souveränität ist eine aus sich existente Gewalt: Nur der Herr- scher, der die Macht unumschränkt erhält, wobei die Übernahme gleichzeitig ihren Ursprungsmakel (Übertragung) verdeckt, ist im

Vollbesitz der Souveränität und kann einen klaren Untertanenverband schaffen/erhalten.421

419 Er definiert nur das Verhältnis der Souveränität zu damals relevanten Rechtsverhältnissen näher: Etwa die a) Tributpflicht, die er nach ihrer his- torischen Entstehung unterteilt. Ist sie Folge einer vormaligen gewaltsa- men Unterwerfung, hat der Staat seine Souveränität verloren. Bezahlt ein Staat in freiwilliger Unterwerfung Tribut, um den Frieden zu erkaufen, er- folgt keine Beeinträchtigung der Souveränität. Das b) Klientel, wenn ein Klientel einen anderen Staat vertraglich als übergeordnet anerkennt, be- sitzt es keine Souveränität mehr. Hat es sich nur in den Schutz begeben, bleibt der Staat souverän. c) Die Vassalität: Die Souveränität eines Lehens besitzt der Lehensherr, nicht der Vasall. Ein Fürst kann aber zugleich in einem Gebiet Lehensherr, in einem anderen Vasall sein. Somit ist die Sou- veränität eines Lehens territorial, nicht personal bestimmt. 420 Ist erst alles untertänig, dann löst sich selbst die Idee der Zwischen- gewalten auf. Von nun an gibt unterhalb der Ebene des Hofes nur noch de- legierte Hoheitsrechte. 421 Der Träger der Souveränität ist von jedem Eid entbunden, alles ist Ob- jekt seines materiellen und formellen Gesetzgebungswillens, der für Ein- zelne wie auf die Gesamtheit gerichtet gilt. Gebunden ist er nur durch „honneur“ als Stilprinzip der Monarchie. Allerdings unterscheidet Bodin 148

• Die Souveränität ist unteilbar: Ein Herrscher, der Teilgewalten auto- nome Rechte der Mitbesprache in politischen Fragen einräumt oder etwa einen Eid auf die Gesetze seiner Vorfahren leistet, ist nicht tat- sächlicher Inhaber der Souveränität. Da es nach Bodin keinen „status mistus“ geben kann, wäre die Staatsform in diesem Falle aristokra- tisch.

Aus diesen und anderen Bestandteilen sehen sich Funktionsrechte der Souveränität abgeleitet. „Marques de souveraineté“ sind ihre

Vollverfügung, denn erst sie unterscheidet nach innen ihren Eliteträ- ger von den Untertanen und markiert nach außen den Souveränitäts- staat gegenüber Vasallengebilden. Hatte Machiavelli die Rechte des

Staates betont, versucht Bodin im Rahmen einer definierten Souverä- nität, eine Art von feudalem Rechtsstaat zu begründen. Dieser Ver- such musste missglücken, Funktions(begrenzungs)rechte aus dem

Wesen der Souveränität als totaler Gesetzgebungsgewalt selbst abzu- leiten. In einer legitimen Monarchie heißt „citizenship“ nolens volens

Untertänigkeit mit Gleichen unter dem Herrenrecht. Bodin versucht

Widersprüchliches zusammen zu denken. Er versteht die Souveränität

zwischen Verträgen und Gesetzen: Diese Differenz betrifft die Organ- wie Staatssouveränität. Da Gesetze einseitige, aus der Souveränitätsvollmacht abfließende Willensakte sind, können sie widerrufen werden. Der Souverän ist an seinen eigenen Willen nicht gebunden, da er die dauernde Geset- zeskompetenz innehat. Verträge jedoch sind auch für den Souverän bin- dend. „Pacta sunt servanda“, weil der Souverän durch Nichteinhaltung ein- gegangener Verpflichtungen Treue und Glauben und damit die Grundbin- dungsprinzipien einer „monarchie bien ordonée“ verletzt: dadurch aber würde gleichsam der bei Bodin noch nicht als Untertanenverband pur gel- tende Politikverband entleimt. In dieser Festlegung ist zugleich die Garan- tie des Privatrechtes enthalten: Privateigentum und persönliche Freiheit bleiben dem Zugriff des Verwalters der Souveränität entzogen. Diese Um- schreibung schränkt die Entbundenheit des Souveräns vom Gesetz als ge- fährlichstes, aber logisch notwendiges Attribut einer substantiellen Souve- ränität ein. Dem Bodinschen Souverän bliebe, hielte er sich an die Vor- schriften meta-juristischer Sicherungen (denn praktisch steht ihm keine souveräne Gewalt entgegen), nur strafrechtliche Unverantwortlichkeit: „The king can do no damno“ (Common Law). Weiter bleibt das Recht, die positi- ven Gesetze zu erlassen und aufzuheben, sich selbst nicht an sie zu hal- ten. Aber auch diese Vollmacht ist durch Bodins Bindung des Vertreters der Souveränität an mos und ius beschnitten. 149

analytisch zwar als dauerndes, von den Bürgern nicht zu begrenzen- des Recht, Gesetze zu schaffen, zu interpretieren und durchzusetzen; gleichzeitig werden ihr bei der Untersuchung der Staatsformen,

Rechtsformen und Verwaltungsformen aber Begrenzungen gesetzt, die sie beachten muss.422 Der Souverän soll sich mit der Stellung als höchstes Organ begnügen. Als ‚erster Diener des Staates’ repräsen- tiert er dessen elitäre Allgemeinheit. Dieser Vorstellung liegt die mit- telalterliche officium-Auffassung zugrunde.423 Das konnte nicht so bleiben. Die Souveränitätsdoktrin war allseitiger anwendbar und führ- te unter dem Anforderungsdruck neuzeitlicher Entscheidungslagen zur

422 Bodin bezweifelt nie, daß die Souveräne durch Gottes (d.h. auch der Natur) Gesetz gebunden waren. „Le prince ne peut rien contre la loi de na- ture“. Hierbei ist das Naturrecht nur Ausdruck der dem Menschen von Gott mitgegebenen Rechte und Pflichten und erklärt sich nicht aus einem intel- lektuellen Bewußtsein, daß es eine Recht geben muß, das aller menschli- chen und göttlichen Gewalt vorangeht. Obwohl somit für Bodin die Gesetze bloßer Ausdruck eines souveränen Willens waren, konnte dieser dennoch kein Recht durch einfaches fiat schaffen. Das Naturrecht stand über der irdischen Vielfalt der Gesetze und gab als praestablisiertes Recht gewisse unabänderliche Normen. Aber es gab keine legale Möglichkeit, den Souve- rän rechtlich zu belangen, zum respondere zu zwingen. Hat in einer Mo- narchie eine Institution die Macht an sich gerafft, ist keine direkte Aufleh- nung möglich. Bezog sich ursprünglich der Begriff ‚tyrannis’ nur auf eine illegitime Herrschaftserwerbung (Usurpation), wurde der Begriff jetzt auf eine knechtende, unmoralische Herrschaft angewandt: Welche Möglichkei- ten blieben den Untertanen? Der Souverän, der sich der Usurpation schul- dig machte, kann zum einen zur Rechenschaft gezogen werden, da er sich gegen den rechtmäßigen Herren verstieß. Zwar nicht durch ein Anklagever- fahren, da auch der Tyrann über der Kriminaljustiz steht. Aber durch be- waffneten Widerstand oder Tyrannenmord. Entartete eine legitime Herr- schaft, kann diese zum anderen nur von Richtern gleichen Standes belangt werden, und so betont Bodin den völkerrechtlichen Grundsatz, daß gerech- te Fürsten anderer Staaten sich in die an die Person des Souveräns ge- bundene Staatssouveränität einmischen dürften, ja, sollten, um Tyrannen zu stürzen. Die Untertanen dürfen gegen ihn nicht vorgehen, schon der Gedanke an Widerstand ist ein todeswürdiges Verbrechen. Nur wenn ein Befehl des Herrschers sich gegen die Gesetze Gottes versündigt (Hero- desbefehl, Armenausplünderung) braucht der Magistrat nicht zu gehorchen: Jeder aktive Widerstand aber bleibt ausgeschlossen. Bodin empfiehlt die innere Emigration, zu fliehen, eher den Tod zu erleiden, als sich aufzuleh- nen. 423 An sie knüpften später unterschiedliche Richtungen einer „Volkssouve- ränität“ an, die sich gegen eine zum Absolutismus mausernde, da säkulari- sierte Auslegung des Souveränitätsgedanken wenden, vgl. Friedrich von Bezold: Die Lehre von der Volkssouveränität während des Mittelalters (Anm. 247). 150

praktischen Ausformung als Absolutismus. Vor dessen neuer potestas des Rechts, inkarniert im Herrscherbegriff, wurden alle Sonderzu- ständigkeiten eingeebnet. Die paradoxe Isonomie einer königlichen

Allzuständigkeit hatte ideengeschichtlich überraschende Folgen. Denn wenn alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen der Souveränität un- terworfen wurden, da intermediäre Zuständigkeiten oder Gruppen im

Staatsbetrieb wirkten wie „Würmer in den menschlichen Innereien“

(Hobbes), war es dann nicht ein kleiner Gedankenschritt, von solcher

Servilität aus zu Modellen der politischen Isovalie vorzustoßen? Vor- erst war der gewachsene Gegensatz zwischen Herr/Herrscher und

Knecht/Beherrschten nicht aufzuheben. Die Kluft zwischen Oben und

Unten vertiefte sich sogar, was nach dem Verlust einer bindenden Of- fenbarung und im Prozess der bürokratischen Modernisierung des po- litischen Raums zugleich den Untergang jener alteuropäischen Elite- korps besiegelte. Sie wirkten zunehmend überständig, weil ihre Gel- tung auf dem Herkommen fusste und nicht mehr durch Leistung(en) für die Sozietät abgesichert wurde, jedenfalls solange diese noch nicht wie in der Gegenwart in einer ästhetischen Wunschrepräsentanz nach dem Modell der Prinzessin Diana gesehen werden konnte(n).

Versailles als Modell

Soweit war die Epoche im 16. Jahrhundert längst nicht, die Karrierre neuer Elitestrukturen wurde im Absolutismus als Übergangsepoche zur Herrschaft der Mittelschichten erst begründet. Ein Zeitzeuge die- ser langsamen und anfangs eher ungesteuerten Ablösung der Macht der Macht durch Effizienz, Rechenschaftspflichtigkeit und Knappheit 151

des Geldes war jener Herzog Louis de Saint-Simon424, Jahrgang

1675, der als Intimchronist der bedrohten Alteliten-Perspektive nicht nur einen Kontrapunkt zur Führungslyrik von Hobbes setzte. Zudem beschrieb er die Remodelierung des Politischen als Verbürgerlichung und „Verdinglichung“ (Marx), die vorerst den intermediären Zustän- digkeiten Fesseln anlegte, später den ehemals souveränen Entschei- dungsoptionen des Regierungshandelns selbst. Diese Korsettierung vollzog sich mit der Verwandlung jener curia regis zuerst am norman- nischen Hof in England in eine sich als Chancery, Exchequer,

Wardrobe etc. spezialisierende Verwaltungsbürokratie seit dem 13.

Jahrhundert, wobei sich der traversale Zuständigkeitsraum des Staat- lichen zugleich unablässig auszuweiten begann.425

Man schreibt das Frühjahr 1709. Seit acht Jahren tobt ein Krieg um die Erbfolge in Spanien. Frankreich brachte durch die eigenmächtige

Besetzung des Throns in Madrid, seit dem Aussterben der iberischen

Habsburger vakant, die Nachbarn gegen sich auf. Das Kämpfen sollte noch vier Jahre fortwähren, ehe die Auseinandersetzung im Utrechter

Frieden (1715 ff.) beigelegt werden konnte, aus dem London als über- legener Schiedsrichter der europäischen Angelegenheiten hervorging.

1709 schon hatte sich das Schlachtenglück gegen Paris gewendet.

Die spanischen Niederlande mussten geräumt werden, jenseits der

Pyrenäen operierten die französischen Heere wenig erfolgreich, und schon im Herbst des Vorjahres war im Norden des Königreiches die

Stadt Lille an die Belagerer gefallen. In dieser Lage versuchte Ludwig

XIV., die Kräfte seines ausgepowerten Landes zusammenzuraffen.

Auch die andere Seite rüstete nach, man holte zur entscheidenden

424 Die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon; Hrsg. Sigrid von Massen- bach, 4 Bde., Frankfurt/Berlin/Wien: Ullstein 1985. 425 Nicht zuletzt ablesbar am ‚Gesetz der wachsenden Ausdehnung der Staatstätigkeit’, seit 1863 von Adolph Wagner beschrieben, zuletzt ders.: Finanzwissenschaft, 4 Bde., Leipzig/Heidelberg: Winter 1877 - 1901, hier Band 1 (³1893), S. 76. 152

Schlacht aus. Im September kam es bei Malplaquet - nahe der belgi- schen Festung Mons - zum blutigsten Zusammenstoß des ganzen

Krieges, vielleicht zur größten Kampfhandlung des 18. Jahrhunderts.

Nach heftiger Gegenwehr verlor der französische Feldherr Claude-

Louis-Hector de Villars dieses Kräftemessen. Der Sonnenkönig bot

Frieden an, bei Rückerstattung des Reichslehens Elsaß-Lothringen und unter Verzicht auf das spanische Erbe. Die gegnerische Koalition hoffte auf weitergehende Zugeständnisse. Der europäische Bürger- krieg jener Tage als einer von unzähligen Rangstreitigkeiten der ver- sippten Dynastien schleppte sich fort. Das Kriegsglück wechselte er- neut. In jenen Frühjahrsmonaten 1709, als es für alle Kontrahenten ums Ganze zu gehen schien, wurde Frankreich von einem nationalen

Taumel erfasst. Diese Masseneuphorie kurz vor dem militärischen Aus hatte vor allem unangenehme Begleiterscheinungen für die um das

Machtzentrum in Versailles angelagerte Herrschaftsentourage, be- klagte Saint-Simon426, der dort über Jahrzehnte fast Tag für Tag eine zuweilen pittoreske, meistens kritisch-distanzierte Chronik der Ereig- nisse, Werthaltungen, Intrigen sowie der großen oder kleinen Politik führte. Dieser „intime und vertrauliche Teil der historischen Literatur“

(Aubertin)427 vermittelt ein anderes Bild der Epoche als jenes hoch-

426 Montesquieu war mit ihm bekannt und hielt ihn für ein „überlegenes Ta- lent“, Taine pries ihn als Gesellschaftsbeschreiber - in Frankreich nur mit Balzac vergleichbar -, dem die Nachwelt die größte Sammlung von Doku- menten verdankt, die wir über die „nature humaine“ besitzen. Stendhal liebte sein Werk, und Proust zählte seine Aufzeichnungen zusammen mit den Tragödien von Racine zu „jenen schönen Dingen, die heute nicht mehr gelingen“. Seit längerem wird er der französischen Klassik zugerechnet, was keineswegs heißt, dass man ihn liest. Die den Zeitraum zwischen 1691 und 1723 behandelnden ‘Memoiren’ waren nicht zur Veröffentlichung ge- dacht. Sie dienten als Seelenventil, um im Hofleben erlittene Kränkungen mit beißender Feder und marodem Einfühlungsvermögen für die Schwächen der jener Elite auf Abruf zu kompensieren, die in Versailles im goldenen Käfig hofhielt. 427 Die eine ebenso plastische wie farbige Ergänzung in den Briefen findet, mit denen Liselotte von der Pfalz, Jahrgang 1652, Versailles durch die Brille der unglücklichen Schwägerin des Sonnenkönigs geschildert hat: O- 153

gestimmte Sittenbild, in dem Voltaire428 von der Regierung des Son- nenkönigs als vom „aufgeklärtesten Jahrhundert überhaupt“ schwärm- te. Der Literat schaute auf die Kulturfertigkeiten jener Tage, Saint-

Simon hingegen als Reporter avant la lettre hatte mit seinem Kolo- ristentemperament und einem durch einen ausgewachsenen Adelsdün- kel geschärften Blick für die Schwächen und Abgründigkeiten der

Macht den Alltag der Entscheidungsträger im Patrimonialstaat jener

Zeit im Auge. Die Niederungen und Niederträchtigkeiten der Obertä- nigkeit hinter den Kulissen der höfischen Selbstdarstellung entspra- chen keineswegs dem seinerzeitigen Reich der Geister. Der Wider- spruch zwischen Vorderseite (gloire) und Revers (coteries) der Epo- che war etwa 1709 mit Händen zu greifen, als die Öffentlichkeit im kollektiven Rettungspathos schwamm, bei Hofe allerdings das umlau- fende Gerücht einer „Silberabgabe“ mehr Unruhe stiftete als die nä- herrückende Front. Was spielte sich ab? Der Großkammerherr von

Frankreich, Graf Louis-François de Boufflers, suchte sich beim König einzuschmeicheln. Angesichts der Finanznot bot er sein Silberzeug der französischen Kriegskasse an. Diese Offerte fand Lob und setzte die höfische Umgebung unter Nachahmungsdruck, so Saint-Simon bis- sig über die Silberaffäre429, wobei er selbst seine Schätze sicher-

livier Amiel (Hrsg.): Lettres de la princesse Palatine, 1672 - 1722, Paris: Mercure de France 1999). 428 Siècle de Louis XIV, Oeuvres de Mr. de Voltaire, Band 18, Paris: o. V. 1775, S. 168. 429 Im ‚Finanzrat’ stellte der König die Abgabe zur Diskussion. Der Direk- tor der Finanzen, Nicolas Desmaretz, sprach sich ebenso wie der amtie- rende Kanzler Louis Graf Pontchartrain dagegen aus. Während des Krieges im Jahre 1688 habe ein ähnlicher Aufruf wenig bewirkt. Allerdings seien viele Kunstschätze vernichtet worden, deren ästhetischer Wert höher gele- gen habe als der erzielte Geldertrag. Die Maßnahme würde im Ausland womöglich als Schwäche ausgelegt. Zudem ließe sich die Schatzung kaum ohne großen Verwaltungsaufwand durchsetzen, weil Gegenstände aus E- delmetall leicht zu verbergen seien. Der König bestand auf dem Silber: Er wolle niemanden zwingen, würde aber den guten Willen sehr wohl zur Kenntnis nehmen!, hieß es in einem öffentlichen Aufruf. Wie die Finanz- fachleute vermuteten, spendeten kaum hundert Leute ihr Silberzeug. Der Reinerlös dieser Aktion brachte nicht einmal drei Millionen Livres in die 154

heitshalber verbarg. Für ihn verdeutlichte dieser Vorfall den Zuwachs an Sozialzwängen im Schaltzentrum der Macht. Anpassungsbelastun- gen machten der Nobilität mehr und mehr zu schaffen, bei allen Privi- legien und Realimmunitäten. Seit dem Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft, ab 1682 in der Zusammenballung von etwa viertau- send Personen im neuen Hofstaat von Versailles versinnbildlicht, un- terlag diese Elitefiguration einer straffen Etikette. Sie war auf den

König als - „gleichsam übernatürliche“ (Bataille) - Leibhaftigkeit der

Souveränität ausgerichtet. Laut geltender Ordnungsdoktrin (l’ état c’ est moi) präfigurierte ‚Ihre Majestät’ dabei den sich durchsetzenden

Zentralstaat im Kontext430 einer organisierten Daueranpreisung seiner

Figur. Deren Ansprüche auf Unterordnung der nach und nach zum Ob- jekt herrschaftlichen Handelns geschrumpften Gesellschaft, deren

„Zwischengewalten“ (Montesquieu) rechtlich wie organisatorisch ein- geebnet wurden, verfügten mit immer ausgreifenderer Zuständigkeit nicht nur über den Lauf der Dinge, sondern überschatteten zuneh- mend die Lebenswelt der Menschen.

Saint-Simon entstammte jenen Adelskreisen, aus dem sich - anfäng- lich jedenfalls - die Spitzenkräfte der Feudalmonarchie rekrutiert hat- ten. Die Aushebelung der Blaublütigkeit als Elitenrepräsentanz einer herrschenden Klasse durch die „despotische Herrschaft“431 am neuen

Königszentrum nahm sich das Zurückdrängen aller lokalen Bindun- gen432, gemeinschaftlichen Traditionen und sozialen Eigenrechte ge-

Kassen. Außerhalb der Hofgesellschaft blieb der Aufruf unbeachtet, und auch in Paris beteiligten sich nur Personen an der Spende, „die nicht wag- ten, sich dem zu entziehen“ (Saint-Simon). Kurze Zeit ließ Ludwig XIV. die Aktion abblasen, vgl. Saint-Simon, Anm. 424, Bd. 2. S. 244 ff. 430 Jean-Christian Petitfils: Louis XIV invente la politique de communicati- on, in: La règne der Louis XIV, Paris: Tallandier 1998, S. 138 ff. 431 Saint-Simon, Anm. 424, Bd. 3, S. 12. 432 Denn „le caractère principal de l’histoire de France a été la lutte sou- tenue contre les seigneurs“, so Barante (Anm. 117), S. 6. 155

genüber dem Druck der neuen nationalstaatlichen Machtfunktionen vorweg mit

- ihrem Hang zur Zentralisierung (Recht, Geldwesen, Ausbildung etc.) und wachsenden Aufgabenanmaßung beziehungsweise

- der Erweiterung „der Staatszwecke beim Fortschreiten der Kultur“433 sowie einer

- Kulturorganisation zur allgemeinen Vereinheitlichung.

Diese ‚Modernisierung’ als Durchetatisierung der Gesellschaft unter der Fuchtel internationaler Konkurrenz „durchdrang mehr und mehr die gesamte Sphäre der öffentlichen Autorität“434. Der Mitwelt kam solcher Wandel als ‚aufgeklärter Despotismus‘ wie selbstläufig vor, obschon sich dessen „unbeschränkte Macht“435 als Liquidation der alteuropäischen Klugheitslehre kritisiert sah.436 Saint-Simon, der Au-

ßenseiter als Elitespion437 im Zentrum der Esse, protokollierte die

Umschmiedung der Politik durch die anhebende Selbstbehauptungslo- gik (Nationalstaat) der Marktdynamik (Konkurrenz). In den „Geißeln des Staatswesens“ mit ihrer „unumschränkten Zuständigkeit“, die fast alles vermochte, was sie wollte, und nur allzu oft tatsächlich alles

433 So Wilhelm Roscher: Politik. Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie, Stuttgart: Cotta 1892, S. 565. 434 Alexis de Tocqueville: L’ ancien régime et la révolution, Paris: Calmann Lévy 1877, S. 162. 435 Luis Sanchez Agesta: El pensamiento político del despotismo ilustrado, Madrid: Instituto de Estudios Politicos 1953, S. 107. 436 Vgl. Jean Meyer: Le despotisme éclairé, Paris: PUF 1991, S. 113 ff. 437 Entsprechend verwickelt war das Geschick der vierzigtausend Seiten, die der heimliche Chronist seit seinem neunzehnten Lebensjahr füllte. Den gesamten schriftlichen Nachlaß von Saint-Simon beschlagnahmte der Pari- ser Gerichtshof in der Absicht, Staatsgeheimnisse und die Interessen noch lebender Personen zu schützen. 1760 verbannte eine königliche Anordnung die Papiere in das Depot der Auswärtigen Angelegenheiten. Schon zwanzig Jahre später gelangten erste Bruchstücke der ‘Memoiren’ an die Öffent- lichkeit. Aber erst ab 1829 erschien eine einigermaßen authentische Teil- ausgabe, und es sollte noch einmal ein halbes Jahrhundert ins Land ge- hen, ehe die Edition Boislisle den Textbestand in 41 Bänden zusammen- fasste. Gleichzeitig wurden ab 1880 in acht Bänden die „Unveröffentlichten Schriften“ Saint-Simons versammelt. 156

wollte, was sie vermochte“438, erkannte er „das unter dem Namen Po- litik firmierende Chaos“ (Sylvain Maréchal), das - bestehend aus

„Wahnsinn und Eigennutz“ - zugleich die Phantasie der Kader in den

Bann schlug. Der Autor hingegen pflegte noch Sozialbilder der Ver- gangenheit, wenn er gegen eine Verspießung und Bürokratisierung anschrieb,439 die längst nichts mehr mit der Funktion jener ‚missi do- menici’ zu tun hatte440, welche seit den Karolingern im Namen der

Autorität vor Ort die Verwaltung zu regeln hatten. Saint-Simon hielt die Erinnerung an den elitären Tonfall einer Vormoderne wach, indem sich durch kulturkritische Motivationsvergleiche die Fähigkeit der neuen Führungsriege einer monarchisch-bürgerlichen Koalition zur

Orientierung an überpersonalen Gütern oder Zwecken in Frage ge- stellt sah:

„Die Grundlagen der Staaten, die sich auf Aristokratien stützen,

wirken verlässlicher. Da Adelige ihren Ruhm aus der Herkunft

ihres Geschlechtes und den Taten ihrer Vorfahren ziehen, su-

chen sie ihre Bedeutung weniger in dem, was sich gerade ab-

spielt, als in dem, was war und sein wird... Im Gegensatz dazu

438 Anm. 424, Bd. 3, S. 286. 439 Die indes laut Barante (Des communes, Anm. 117, S. 27 f.) nichts als eine historische Nebenfolge des Ringens um Hegemonie zwischen Adel und monarchischem Prinzip darstellte: „L’ oppression inique des inférieurs par les supérieurs, la prévarication continuelle de la magistrature féodale, non-seulement révoltaient la justice, mais amoindrissaient, par le désordre, les forces de la nation et le pouvoir des rois. Ainsi la couronne se trouva faire cause commune avec les victimes de ce règne de violence; elle profitait chaque jour de leur émancipation. Plus la classe inférieur de- venait nombreuse, riche, éclairée et industrieuse, plus elle prenait d’ es- pace dans la nation, plus les rois voyaient leur rôle s’aggrandir. La per- sonne des rois demeurait entourée, investie de la classe supérieure; ils ne semblaient régner que pour elle; et cependant leur autorité, étant sans cesse en lutte avec cette aristocratie, se liguait avec tous ses ennemis. Les rois portaient secours aux opprimés, mais c’était seulement pour réprimer les indociles.“ 440 Weswegen Samuel Pufendorf (Die Verfassung des deutschen Reiches [1667], Hrsg. Horst Denzer, Stuttgart: Reclam 1985, S. 68) hervorhebt, daß „anfangs auch die ... Herzöge und Grafen eigentlich Beamte waren“, selbst wenn sie später „eine solche Bezeichnung als schwere Beleidigung anse- hen“ sollten. 157

gewinnt der Reiche seine Bedeutung nur aus Greifbarem, das er

vor Augen hat. Ihm gehört nur die Gegenwart. Das Geschick der

Zukunft regt ihn nicht an; die Idee der Dauer sagt ihm wenig;

nur auf sich selbst verwiesen fühlt er, dass der Schimmer des

Goldes seinem Namen keinen Glanz verleiht; alles lädt ihn folg-

lich dazu ein, die Dinge auszukosten und sich dabei zu spu-

ten.“441

Seit dem Aufstieg der Marktkräfte wirkte jene Welt „des „Geburts- rechts auf Macht“442 wie altbacken, in der die sozialen Zuständigkei- ten samt politischer Regulatorik (Staatsgewalt) noch Ausdruck der die

Gesellschaft tragenden Kräfte gewesen waren - zu denen die ‚Masse der Verlorenen’ (Augustin) nirgendwo zählte -, keineswegs jedoch de- ren politischer Vormund.

Tragödie der Altelite

Was reizt die Nachwelt am barocken Spleen einer längst verklungenen

Suzeränität? Welche Einsichten kann ein Demaskierer aus verletzter

Eliten-Eitelkeit am Hof des Sonnenkönigs der Nachwelt bieten? Wofür ist ein Seelendokument der europäischen Adelsdekadenz aufschluss- reich? Interessant wirkt nicht so sehr die taciteische Ausdrucksweise, die der Kritiker Sainte-Beuve pries, noch die Informationsfülle, die

Jules Michelet rühmte. Fraglos fesseln die ‚Memoiren’ durch ihr Stil- niveau, wie Henry de Montherlant betonte. Als Naturalist vor der Zeit sezierte Saint-Simon die Skala menschlicher Verhaltensweisen unter

441 So brachte Joseph-Marie-Anne Gros, Abbé de Resplas (Traité des cau- ses du bonheur public (1768), [Paris] ²1774, Bd. 2, S. 74 f.) diesen nicht ganz unbegründeten Dünkel zum Ausdruck. 442 Vgl. Jonathan Pows: Aristocracy, Oxford/New York: Basil Blackwell 1984, S. 47 ff. 158

sozialem Stress.443 Der Rückblick durch seine Brille bietet ein surrea- les Welttheater aus lauter Rollenzwängen - man fühlt sich an Franz

Kafka erinnert -, dem die Spätmoderne bei allerdings stark entstaub- tem Bühnenbild nicht nur im Umfeld der Politik ebenso ausgeliefert scheint444 wie einst die noch nicht in ihrer Stellung, wohl aber in ih- rer sozialen Funktion gefährdete Maitressenwirtschaft der Adelsclique am Hofe von Versailles.

Vergegenwärtigen wir uns den 28. Oktober 1691. An diesem Freitag stellte Saint-Simon Senior seinen sechzehnjährige Sohn dem König vor, als dieser mittags aus einer Ratssitzung kam. Ludwig XIV. erwies dem alten Herzog Claude die Ehre einer dreimaligen Umarmung und gestattete dem schmächtigen Louis, bei den „grauen Musketieren“ zu dienen, obschon das Leibregiment in der Regel nur Hochgewachsene aufnahm. Diese Gnade eröffnete das Hofleben des künftigen Memoi- renschreibers; sie galt dem Bourbonen-treuen Günstling Claude, der am Hof von Ludwig XIII. nicht nur großes Ansehen erringen konnte, sondern auch zu Vermögen kam, das vom Sohn durchgebracht wurde.

Als „Großmeister bei der Wolfsjagd“, Erster Kammerherr, Ratsmitglied und Statthalter von Blaye und Senlis wurde der ältere Saint-Simon

1635 zum „duc et pair“ ernannt und stieg dadurch auf in die neue Eli- te der frühabsolutistischen society. In ihr genügte es nicht länger, al- ten Adelsfamilien anzugehören, im Falle der Rouvroys einem picardi- schen Geschlecht. Man musste im Bannkreis des Monarchen ‚eine hofmännische Rolle’ spielen, um etwas darzustellen. Die absolutisti- sche Politik betrieb durch die Bündelung möglichst vieler in der Ge- sellschaft verstreuten politisch-rechtlichen Machtfunktionen die Ent- sorgung der altadeligen Elitefigurationen mitsamt ihren Aufgaben. Als

443 Dazu François-Régis Bastide: Saint-Simon, Paris: Seuil 1977, S. 41 ff. 444 Vgl. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck 1968, S. 264 ff. 159

Folge einer zunehmenden Dissoziation von Staat und Gesellschaft entsprang und entsprach ihr Ansehen nicht länger administrativer

Nützlichkeit. Diese Schicht wurde gleichsam „pensioniert“445, ohne dass dadurch „jener Abgrund“ eingeebnet wurde, der „den Adel vom

... Dritten Stand trennte“446. Deren Ansprüche auf Adoration überleb- ten ihre Funktionalität, und im Verlauf des 18. Jahrhunderts, in Mittel- und Osteuropa noch während des 19. Jahrhunderts, führte der „Sno- bismus des Adels“ (Furet) zu einer erheblichen Verschärfung sozialer

Differenzierungen. Der Autor Saint-Simon, der 1693 Herzogwürde und

Ordensritterschaft erbte, zählte kraft seines Ranges zur Hofelite. Ge- rade das bedingte indes den Ausschluss von aller tatsächlichen Be- fugnis. Die „Königsstrategie“ (Elias) hielt finanziell oder anderweitig unabhängige beziehungsweise ebenbürtige Kreise von der Verwaltung fern, um Einspruch und damit Friktionen zu unterbinden. Positionen mit wirklichem Einfluss und Gewicht wurden möglichst an „Leute aus dem Nichts“ (Saint-Simon) vergeben447, die als ‚Funktionäre’ vom

Monarchen als Legitimitätsspender abhängig blieben, von „serviteur- dominants“ hat Denis Richet448 treffend gesprochen. Würde, Herkunft,

Titel, Rang – all das zählte in Frankreich immer weniger, jedenfalls soweit es um staatspolitische Aufgaben ging. Aber auch in der Armee hatte Kriegsminister François-Michel de Louvois zu einer Zeit, in der

445 Vgl. Ernst Wilhelm Eschmann: Die Führungsschichten Frankreichs, Bd. 1, Berlin: Junker & Dünnhaupt 1943, S. 79 ff. 446 Jean de la Varenne: Monsieur le duc de Saint-Simon et sa comédie hu- maine, Paris: Hachette 1955, S. 433. 447 Der Aufstieg der gens de rien war nicht nur im monarchischen Macht- zentrum zu beobachten, sondern auch in der Provinz. Man denke an die ebenso einflussreiche wie ambivalente Rolle, die der Finanzmanager (trésorier) Pierre Landais seit 1460 am bretonischen Hof unter François II. spielte, bis er 1485, verfolgt durch die Animosität des Hochadels gegen seinen „statut de parvenu“ (vgl. Georges Minois: Anne de Bretagne, Paris: Fayard 1997, S. 32 ff.; 95 ff.), in Nantes am Galgen endete, der minderen Schichten vorbehalten war. 448 La France moderne: L’ esprits des institutions, Paris: Flammarion 1973, S. 79 ff. 160

die Kriegsführung als Politik dem Lebensgefühl der Epoche entsprach, durch ein „Ordre du tableau“ (1675) die Fähigkeiten vor das Dienstal- ter gerückt und dieses noch über die Distinktionsmerkmale der Ab- stammung gestellt449: „Überall setzt sich die Beamtenherrschaft durch“.450 Vergebens verwahrte Saint-Simon sich gegen den mit die- ser Machtkonzentration und Effektivisierung der Verwaltung zugleich verbundenen Übergang vom Feudalismus in den Sultanismus, entfiel doch mit der Neutralisierung der Aristokratie vorerst überhaupt alle

Herrschaftskontrolle. Die Neupositionierung nach persönlichem Ver- dienst und nicht nach dem Herkommen ließ sich nicht aufhalten. „Un- säglich gekränkt“ verließ er 1702 den Militärdienst, da er sich bei ei- nem Beförderungstermin übergangen fühlte. Der Monarch war über solchen Eigensinn verstimmt, Saint-Simon reüssierte hinfort nicht einmal mehr als „Höfling“.451 Sein Aus-der-Reihe-tanzen verletzte ü-

449 Dieser Prozess begann bereits durch die Technisierung und Professio- nalisierung des Militärischen im Hundertjährigen Krieg, nach dem das Auf- gebot („l’ ost“) der Feudalherren durch ein stehendes Heer abgelöst wurde, vgl. Georges Bataille: La tragédie de Gilles de Rais, in ders. (Hrsg.): Procès de Gilles de Rais, Documents, Paris: Club du livre 1959, S. 5 ff., hier S. 55 ff. Über den gleichen Prozess in Preußen siehe Hans Rosen- berg: The Composition of the New Bureaucratic Elite, in ders.: Bureaucra- cy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660 – 1815, Bos- ton: Beacon 1966, S. 57 ff. 450 Anm. 424, Bd. I, S. 249. 451 Er war zwar nicht so „versessen auf Hofluft“ wie der Baron de Breteuil, der 1698 Zeremonienmeister wurde und sich durch eine von Saint-Simon karikierte Lust auszeichnete, mit Berühmtheiten verkehren zu dürfen. Saint-Simon scheute die „höfische Unterwürfigkeit“ eher. Aber er passte sich mit Vorbehalten dem „schmählichen, finsteren, tyrannischen Hausre- giment“ (Anm. 424, Bd. 3, S. 326) in Versailles an, auch er bat schließlich um Erlaubnis, ob er verreisen dürfe. Dafür gab es gute Gründe, abgeson- dert vom Hof war man der provinziellen Eintönigkeit ausgeliefert. Nur im Zentrum des Geschehens gab es Anregungen, behielt man wenigstens eine zeremonielle Rangwürde. Mithin versuchte Saint-Simon ein leidlich erfolg- reicher Höfling zu werden: Durch esprit, voll finesse, aber immer mit con- tenance. So jedenfalls schrieb es Baldassare Castiglione in seinem „Il libro del cortegiano“ (Venedig 1528) als Benimmkodex der Hofepoche vor. Auch darin war Saint-Simon indes nicht zeitgemäß. Dieser Knigge für den honnête homme war zur Manierenpflege verflacht. Erfolgreicher war man als höfischer Machiavellist, eine Wendung der Dinge zum Opportunismus und Nützlichkeitsdenken, die bereits Montaigne ahnte. 161

berdies die von der neuen Oberschicht verlangte Affektkontrolle452, die deren politische Abwertung unterstrich, weil außer-funktionale

Rollen in der Frühmoderne erst an Gebrauchs-, dann an Sozialwert verloren, ohne vorerst allerdings auch unter Anerkennungsschwund zu leiden. Eine ‚Feudalreaktion’ gegen diese schleichende Bedeutungs- minderung wurde indessen rasch illusionär. Als Saint-Simon 1715 nach dem Tod des Sonnenkönigs wieder einigen Einfluss auf die Er- eignisse gewann, schöpfte er noch einmal Hoffnungen.453 Doch die höfische Aristokratie war zur praktischen Verwaltung verzwickter

Welthändel ebenso unfähig geworden wie später der Landadel, des- sen Funktionsverlust Tomasi di Lampedusa (Il Gattopardo, 1958) im

Fürstengeschlecht der Salina versinnbildlicht hat. So mündete die

Regentschaft der abgehalfterten Elite unter Philippe d’ Orléans ihrer- seits in zentralistische Fahrwasser und bediente sich gleichfalls der

„Kanaille“ (Saint-Simon) in Gestalt einer Administration aus städti- schen Schichten. Diese „uomini novi“ (Machiavelli) errangen anfangs

452 Immerhin wurde in einer Audienz am 4. Januar 1710 wieder gnädig empfangen und durfte hinfort einige höfische Pflichten wie das Kerzenhal- ten beim Coucher übernehmen. Die Wiederzulassung zum inneren Kreis des Prestiges war nützlich, weil der höfische Filter ansonsten nicht zu durchdringen war. Der König verübelte ihm übrigens nicht nur seine Ei- genmächtigkeit; er beschwerte sich auch über dessen „Rangstreitigkeiten“. Solche Händel waren dem Bourbonen lästig, bedurfte der Absolutismus in herrschaftstechnischer Hinsicht des Adels und seiner Rangabstufungen nicht länger. Entsprechend war dessen auf der Knappheit der Titel beru- hende Stellung seit dem Edikt von La Paulette (1584) über die Ämtererb- barkeit abgewertet. Endgültig bergab ging es mit dieser Schicht seit der durch die Not der Staatsfinanzen eröffneten Chance für reiche Aufsteiger, Adelsbriefe zu kaufen: Allein 1696 sahen sich fünfhundert Patente dieser Art unter die Leute gebracht, die Nachfrage nahm zu. 453 Zur Adelsreaktion vgl. Paul Violet: Le roi et ses ministres pendant les trois derniers siècles de la monarchie, Paris: Colin & Sirey 1912, S. 271 ff. Allgemeiner Lionel Rothkrug: Opposition to Louis XIV, Princeton: Princeton UP 1965, der allerdings den geistesgeschichtlichen Bruch zwischen dieser Widerrede und den Kritikthemen der späteren Aufklärung verwischt, weil er in dieser Opposition nicht ein Sonderfall des Moore-Theorems erkennt, wonach wenigstens in der Vormoderne Dissens oben wie unten aus der Re- klamation des ‚guten alten Zustandes/Rechts’ etc. resultierte und nicht aus dem Willen zur Innovation, vgl. Barrington Moore: Ungerechtigkeit (Anm. 136). 162

noch nicht den Charakter einer eigenständigen politischen Klasse; auch blieb der Standesdünkel à la „Der Mensch fängt erst beim Baron an!“, den weiter östlich Johann Nepomuk Nestroy später notierte454, virulent und sorgte immer wieder für sozialen Zündstoff. Aber bereits im Spätabsolutismus avancierte eine großbürgerliche Expertengruppe als „cadre administratif“ (Régine Robin) zur tragenden Abwicklungs- kompetenz der öffentlichen Belange455, als deren Inbegriff etwa Jean-

Baptiste Colbert 1680 zum „grand commis de l’ État“ aufstieg. Mit

Blick zurück ins Mittelalter repräsentierten diese aus bürgerlichen, also niederen Schichten stammenden Leistungsträger, derer sich zu- erst Philippe le Bel in der Chancellerie - gleichsam als Generalsekre- tariat der Monarchie - systematischer zu bedienen begann, als Kapa- zitätselite die Zukunft moderner Politikverwaltung und damit wenigs- tens visionär „eine Art von Versöhnung der Prinzipien von Freizügig- keit und Autorität“456.

Adel verpflichtet

Soweit das Misstrauen des Sonnenkönigs solche Betriebsamkeit zu- ließ, pflegte Saint-Simon wichtige Kontakte zur Kaste im Trianon. Er gewann das Vertrauen des Herzogs von Bourgogne, des zukünftigen

Thronerben; dieser verstarb 1712. Sogleich bemühte er sich um die

Gunst des Herzogs von Orléans, des späteren Regenten. All das be- wirkte politisch wenig, sicherte aber den Fluss an Nachrichten aus

454 Freiheit in Krähwinkel (1849), in ders.: Lustspiele, München: Deutsche Bibliothek 1986, S. 381 ff., hier S. 424. 455 Vgl. Charles Normand: La bourgeoisie française auf VIIe . La vie publi- que. Les idées et les actions politiques, Paris: Alcan 1908. 456 R. W. und A. J. Carlyle: A History of Mediaeval Political Theory in the West, 6 Bde., Edinburgh/London: William Blackwood 1962, hier Bd. 6, S. 526. 163

den Hinterzimmern und Konferenzsälen über die secreta und discreta jener „höfischen Realität“. Sie geriet zur Allegorie der neuzeitlichen

Rationalisierung der öffentlichen Angelegenheiten, welche unverse- hens in einen „impersonal state“ mündete, wie J. H. Shennan es aus- drückt457, der seither „die ganze Loyalität gleichermaßen von Regie- renden und Beherrschaften zu mobilisieren wusste“. Der zurückge- setzte Herzog leistete sich als „functionless genteel“ (Baltzell) den

Snobismus der Distanz, wenigstens auf dem Papier durchbrach er den zeremoniellen Zauber des ihn umfangenden Spätbarocks. Als Masken- lüfter wider Willen erkannte er das Getriebe als Farce und blieb gleichwohl darin befangen. Der Warner vor der Bürokratie und ihrer

Manien, man lese seine Verwerfung der neuen Überwachungspraxis

(a.a.O., Bd. 3, S. 291 ff.), betrieb zugleich Ideologiekritik. Versailles verdichtete sich ihm zur riesigen Selbsttäuschung der Epoche über die wahren Bedürfnisse der Mitwelt. Das Hofleben gar war ein Gleich- nis auf die gesellschaftliche Befangenheit der Menschen, die den So- zialbezug, obschon sie sich in ihm quälen, nicht nur als „Kette zur

Bändigung mächtiger Leidenschaften“ benötigen458, sondern vor allem zur Orientierung und Anregung ihrer Energie: Nicht zuletzt die Hof- chargen selbst, die in ihren verschiedenen Eliterollen schwer um Fas- sung zu ringen hatten und oft daran zerbrachen459, denn der Monarch

457 Liberty and order in early modern Europe. The subject and the state 1650 – 1800, London/New York: Longman 1986, S. VII. 458 George Savile, Marques of Halifax: The Character of a Trimmer (1699), in ders.: Complete Works, Harmondsworth: Pelican 1969, S. 45 ff., hier S. 51. 459 Um sich zu behaupten, gaben sie den absurdesten Bedürfnissen nach, wie es etwa das wilde Leben der Duchesse Geneviève de Lorge belegt. Bei näherem Zusehen waren ohnedies alle Rituale mehr als brüchig, die die Etikette zur Eigen- und Gruppenzucht vorschrieb. Selbst der Sonnenkönig als Fokus aller Verhaltenszwänge erweist sich „als Mensch“, wenn er ge- gen alle Regeln und geradezu verzweifelt (obschon erfolglos) versuchte, seine Kinder der Liebe, die sogenannten Bastarde, rechtlich aufzuwerten, wohingegen ihm seine im Königsbett gezeugten Nachkommen ziemlich gleichgültig waren. 164

„liebte es, die Aristokratie zu erniedrigen“460 - Tel est notre plaisir!

So häufen sich die literarisch verarbeiteten Szenen, aus denen her- vorgeht, wie Anstand und Würde sich der allseitigen Verschranzung des Menschen entgegenstellen, wiewohl zumeist auf tragische oder auch banale Weise vergeblich.461

„Gefühlsreligiosität“ bei Hofe war öffentlich verpönt, die zeremoniel- len Gesetze der Selbstzucht dienten aller Welt als Modell der Sozial- kontrolle. Lange vor Rousseau und seiner Modernitätskritik erwies sich der ‚angepasste Mensch’ bei Saint-Simon als Epochenproblem, obschon auch der spätere Denker das Auseinandertreten von homme und citoyen nur mehr nostalgisch beschreiben konnte. Erstes Opfer der immer dichter und fester werdenden Netzwerke waren die ehemals elitären Positionsinhaber selbst, so Saint-Simon erstaunt. Aber Re- geln herrschen, weil sich der Mensch als Sozialwesen in ihnen bewegt und findet. Daher bleiben die Zusammenhänge der politischen Magie auszuleuchten, und das Persönliche unter oder hinter der Pracht und

Macht elitärer Präsentationen mitsamt ihren Wellenbewegungen ist im

Blick zu behalten.

460 Henry de Jouvenel: Huit cent ans de révolution française 987 - 1789, Paris: Hachette 1932, S. 115. 461 Ergreifend die Schilderung einer Sitzung des Pariser ‚Parlamentes’ vom 15. März 1713. An diesem Mittwochmorgen war der Enkel des Sonnenkö- nigs außerstande, sich vor der Versammlung zu äußern. Über diese Schmach erklärte der Duc de Berry später unter Tränen, die höfische Er- ziehungspraxis habe das Kind als Person geradezu „ausgelöscht“. Solches Zeugnis menschlicher Verängstigung in allerhöchsten Kreisen belegt den Druck zur Fremdbestimmung durch die im Zusammenhang mit der Vernet- zung und Kontaktverdichtung einer anonymen Gesellschaft ausgelösten Verhaltenszwänge. 165

5 Ordnungsfragen „Überall beherrscht die sicherberechnete Kühnheit der Wenigen die furchtsame Gutmüthigkeit der Vielen“462

Das „wahre wissenschaftliche Streben“ (Börne) ist eine Reise von der

Erscheinung zum Wesen der Dinge, wie Aquin es vorformulierte463. Im ebenso metaphorischen wie abgründigen Raum des Sozialen führt der

Weg aber keineswegs durch den Irrtum stracks zur Wahrheit. Seit Gi- ambattista Vico464 Erkennen und Handeln jedenfalls im historischen

Kontext identifizierte, entgeht das vom Tun gänzlich Unberührte dem

Zugriff; „durch Gebrauch indessen wird alles verdorben“ (Keats).

Deswegen ist jener naturwissenschaftliche „Schritt vom Konkreten zum Abstrakten“ (Bachelard) im sozialen Feld schwerlich nachzuvoll- ziehen, höchstens durch dessen Auflösung in Semantik465. Hier geht es grundsätzlich um Effekte, die bei aller Systematisierung oder Dis- tanzierung zu beurteilen und bewerten sind und somit höchst kontin- gent bleiben. Der Blick auf den Auslegungsstreit um die als ‚Elite’ be- zeichnete Schlüsselvariable, die diese Unklarheit mit der Macht, der

Revolution, dem Recht etc. teilt, macht solches Dilemma deutlich, um von der allfälligen quaternio terminorum im Reich der Gesellschafts- und Geisteswissenschaften zu schweigen. Zwar bestimmt „stets das

‚Prinzip der kleinen Zahl’, d.h. die überlegene politische Manövrierfä- higkeit kleiner führender Gruppen, das politische Handeln“466, soviel schien unstrittig zu sein. Aber über die Funktion:

462 Johann Gottfried Seume: Mein Sommer 1805 (Leipzig 1806), Nördlin- gen: Greno 1987, S. 15. 463 De ente et de essentia/Über das Sein und das Wesen (1252/1253), Frankfurt am Main: Fischer 1959. 464 Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker (1725), Reinbek: Rowohlt 1966, S. 23. 465 Das ist denn auch der zutreffende Einwand von Johannes Berger (Ent- fernung von der Truppe. Realanalytische Grenzen des Konstruktivismus in der Soziologie, in: Max Miller/Hans-Georg Soeffner (Hrsg.): Modernität und Barbarei, Frakfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 231 ff.) gegen die Eskamo- tierung von Wirklichkeit etwa durch die Systemtheorie. 466 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Anm. 122, S. 1083. 166

• „Um die Herausbildung alternativer Ideologien in der Bevölkerung zu verhindern“467

• „Zum Schutz und zur Steigerung der Vorteile, die ihnen der status quo bietet“468 herrscht(e) bei aller Beschreibung von Eliten ebenso wenig Einhel- ligkeit wie über deren Definition:

• „Eine Minderheit von Leuten, die dazu bestimmt sind, einer Kollekti- vität in einem sozial positiv bewerteten Sinne zu dienen“469

• „Personen in Kommandopositionen innerhalb institutioneller Hierar- chien, die kontrolliert werden ... von Mitgliedern der Oberschicht“470

• „Personen die durch ihre soziale Position besondere Verantwortung tragen für die Standards in einem gegebenen sozialen Kontext“471.

Sozialwissenschaftliche Zentralbegriffe sind umstritten, nicht nur weil

„über alle großen Themen viel zu sagen bleibt“ (J. S. Mill). Vielmehr präsentiert sich Gesellschaft nicht zuletzt auch als eine „Summe von

Unterscheidungen“ (Luhmann), so dass alle Rollenvorstellungen der produktionsweltlichen Multivarianz unterworfen bleiben und somit je- weilige Lagerungen/Standorte spiegeln, die laut Karl Mannheim höchstens intellektuell zu transzendieren472, nicht jedoch aufzuheben wären. Folglich ist weniger dem Programm einer ‚Werturteilsenhalt- samkeit’ (Max Weber) mitsamt den „timiden Parolen der Objektivi-

467 Alan Wolfe: The Seamy Side of Democracy, New York: McKay 1973, S. 125. 468 Robert S. Lynd: Knowledge for What? The Place of Social Science in American Culture, Princeton: UP 1948, S. 181. 469 Suzanne Keller: Beyond the Ruling Class. Strategic Elites in Modern Society, New York: Random House 1963, S. 4. 470 G. William Domhoff: Who Rules America?, Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall 1967, S. 8. 471 William Kornhauser: The Politics of Mass Society, Glencoe, Ill.: Free Press 1959, S. 51. 472 Ideologie und Utopie (1929), Frankfurt am Main: Schulte-Bulmke 4 1965, S. 134 ff. 167

tät“473 zu entsprechen. Selbst empirische Reinerhebung gelingt nicht vorurteilslos - um von Dateninterpretationen zu schweigen -, was nicht zuletzt die Ergebnisse der unzähligen (Teil)-Elitestudien erwei- sen. Wertfrei, hat Bernd Rüthers474 gemeint, sei somit wertlos? Gus- tav von Schmoller als Antipode Max Webers im zweiten Methoden- streit nach 1904 hat daher schon mit seiner sozial-praktischen Um- sichtigkeit475 einen Wertvorbehalt reklamiert, wonach jeweils abzu- fragen bleibt, wer, was, wieviel ff. der Gesellschaft und ihrer Lebens- weltlichkeit wann und wo sozialiter zuträglich sei476. Andernfalls ver- falle man leicht einer „Liebe zum Paradoxen“, deren Anmaßungen die neuzeitlichen „sciences conjuncturales“ ohnedies gefährden477, wie- wohl die Probleme durchaus ohne dieselben auskommen, was nicht umgekehrt gilt. Diese Vorsicht liegt auf der Linie eines Robert von

Mohl478, der als Mitbegründer der Soziologie verlangt hatte, „daß die

Wissenschaft ... die Uebersicht erhält und auf Folgewidrigkeiten und

Unverträglichkeiten hinweist.“ Aber schon Johann Gottlieb Fichte wollte mit seinen Jenenser ‚Vorlesungen über die Bestimmung des

Gelehrten’ (1794) der Forschung ein lebensweltlich-orientiertes Pra- xisethos vermitteln, was im Prinzip die Übereinstimmung mit den je-

473 Dolf Sternberger: Grund und Abgrund der Macht, Frankfurt am Main/Wien/Zürich: Gutenberg 1964, S. 174. 474 Carl Schmitt im Dritten Reich. Wissenschaft als Zeitgeist-Verstärkung?, München: Beck ² 1990, S. 156. 475 Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode (1893), Frankfurt am Main: Klostermann 1949, S. 29 f. 476 Um gar nicht zu reden von der apo- beziehungsweise epagogischen Perspektive des Fehler-Schließen zur Vermeidung des Abträgliche(re)n. 477 So schon jener zeitkritische Anonymus (Testament politique, Paris: Les marchands de nouveautés 1826, S. 1 und 11) aus dem Umfeld des Staël- Kreis in Coppet, der zudem eine ‚ptolemäische Politiktheorie’ anmahnt: „C’est n’est pas d’ après un monde idéal que l’ on doit former des systèmes politques, mais pour les hommes tels qu’ ils sont, tels qu’ ils ont été, tels qu’ ils peuvent être“ (S. 2). 478 Politik, Tübingen: Laupp 1862, S. 130. 168

weils politisch bestimmenden Kräften ausschloss.479 Diese Sicht musste im Verlauf

• des szientistisch angehauchten 19. Jahrhunderts der Leitidee des Positivismus weichen, vulgo der Abdankung des Urteils gegenüber

der Faktizität;

• des abstrakt gestimmten 20. Jahrhunderts der Verdrängung der Realia durch Theorien unterliegen, wiewohl diese phantasieren,

veralten oder sich von selbst erledigen, wohingegen Grundproble-

me der Sozialdinglichkeit die fatate Neigung zeigen, trotz mögli-

cher Formveränderungen zu überdauern.

Das ist besonders für die Gesellschaftswissenschaften von Bedeu- tung, deren Entwicklung zum „chosisme“ (Durkheim) beziehungsweise zu einer Art von „Ideomachie“ (König) sich via Entpolitisierung, Ent-

ökonomisierung, Enthistorisierung etc. durchaus als Verlustgeschich- te ursprünglich gegenwartswissenschaftlicher Bemühungen entziffern lässt.480 Ist aber die Realität solcher „Tyrannei des Soziologismus“

(Furet) über die Wirklichkeit auch tatsachenwelt-kompatibel?

479 Weswegen er als Professor in Jena auch erhebliche Probleme mit dem Hof in Weimar hatte, vgl. W. Daniel Wilson: Geheimräte gegen Geheimbün- de, Stuttgart: Mertzler 1991, S. 232 ff. 480 Vgl. Laurent Mucchielli: La découverte du social. Naissance de la soci- ologie en France, Paris: Éditions la Découverte 1998. 169

Deutungsprobleme

Es gab Einsprüche gegen diese Verwechslung frei nach ‚Wissen- schaftsgehalt = (f ) Abbildgenauigkeit/Abstraktionsniveau’ von Mittel und Zweck zur Erklärung ohne Wenn und Aber des Bestehenden, man denke einzig an das Veto durch Leopold von Wiese481. In dieser sozi- alethisch eingefärbten Denktradition als eine Art von „indirekter Mo- rallehre“ (Schelsky) steht etwa die ‚Freiburger Schule der National-

ökonomie’ mit ihrer kühnen Idee einer sozialen Marktwirtschaft.482 Sie hätte in der weltpolitischen Systemauseinandersetzung seit dem Fall der Mauern und Grenzen eigentlich Pluspunkte verdient, gleichsam als später Erfolg der vielbeschworenen „Magnettheorie“ (1947), sah sich in der Stunde ihres Triumphes jedoch überschattet vom modi- schen Neoliberalismus483 im Kontext einer entfesselten Globalisie- rung484, welche unter anderem die Einheit und damit die politische

Gestaltbarkeit der bisherigen Wirtschaftsräume ignoriert.485 Demge- genüber waren Fritz Böhm, Walter Eucken oder Alfred Müller-Armack von einem diskursiv erschließbaren/erschlossenen Ordo-Ideal ausge- gangen, das etwa mit dem demoskopisch erhobenen Wunsch- bezie- hungsweise Sorgenprofil der Gesellschaft korrespondierte. Jenem

„theoretischen Antihumanismus“ (Luc Ferry) systemischer Ansätze

481 System der allgemeinen Soziologie, Berlin: Duncker & Humblot ³1955: „Wir wollen durch den Wust von Theorien, Philosophien, Ideologien, Uto- pien, aber auch von Dingen und Zwecken, hindurchstoßen zu den Men- schen, ihrem Leid, ihrem Glück. Wir wollen spüren, wie sie vor uns atmen, handeln, erwidern und angreifen; wir wollen die Augen öffnen für die Ver- flechtungen ihrer Schicksale, für das Verhältnis von Du und Ich, Wir und Ihr“ (S. 58). 482 Vgl. Dieter Cassel (Hrsg.): Fünfzig Jahre Soziale Marktwirtschaft, Stuttgart: Lucius & Lucius 1998. 483 Zur Sozialproblematik dieses Ansatzes vgl. Alain Boublil: Keynes re- viens! Ils sont devenus fous..., Paris: Rocher 1996. 484 Vgl. Ignacio Ramonet: Géopolitique du chaos, Paris: Galilée 1997. 485 Über die Problemfolgen dieser „délocalisation“ vgl. Michel-Édouard Leclerc: La fronde des caddies, Paris: Plon 1994, S. 135 ff. 170

sah sich widersprochen, die den Menschen mitsamt seinen Bedürfnis- se zugunsten irgendwie autopoietischer/chaotisierend- kreativer/bionomer ff. Systemselbst(ab)läufe als potentiellen Störfall aus der Funktionskompetenz der Weltläufte entlässt. Abzulesen am

Anwachsen einer Klasse der Entbehrlichen, die jeder möglichen Form der Transfergesellschaft zu schaffen machen wird. Demgegenüber war

(nicht nur) ordoliberal evident, dass die Regelungsleistung - nicht zu- letzt die elitäreF - im Sinne von „Das Leben, das uns umgibt, ist ohne

Ordnungsbegriff“486 grundsätzlich kein Naturprodukt darstellt, auch nicht als marktförmige Allokationslogik mittels Tauschwerten.487

Selbst wenn Wettbewerb frei funktionieren sollte, was selten vor- kommt, funktioniert er bestenfalls als „Halbautomat“ (Müller-Armack), der folglich nach wirtschafts- und sozialpolitischer Dauer-Steuerung verlangt. Immer handelt(e) es sich sozialiter um ein Mach- oder Wil- lenswerk aus sperrigen Realitäten, deren gedeihliche Ausrichtung nicht zuletzt Eliten obliegt. „Ordo“ gilt mithin als Modell488, welches

„das Wesen des Menschen und der Sache“ (Eucken) im weitesten

Wortsinn anti-chaotisch repräsentiert. Folglich zielt dieser Gestal- tungs-Ansatz auf eine gesellschaftliche Anordnung, in der Maß und

Billigkeit angestrebt werden, was die sinn- wie zweckhafte Zusam- menfügung des Mannigfaltigen zu einem symbolisch-pragmatischen

Ganzen verlangt. Wenn das schon nicht immer in den Entscheidungs- zentren oder auf den Hinterhöfen der Praxis zu schaffen ist, so we-

486 Robert Musil: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tau- sendste (1922), in ders.: Gesammelte Werke, Hrsg. Adolf Frisé, Bd. 2 (Pro- sa und Stücke), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 1075 ff., hier S. 1087. 487 Weswegen Alfred Müller-Armack nach dem Krieg (Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft [1947], Düsseldorf: Verlag Wirtschaft und Finanzen 1999) für eine „bewußt gesteuerte, und zwar sozial gesteuerte Marktwirt- schaft“ plädierte. 488 Zu dessen Umsetzungsschwierigkeiten vgl. Hans-Hermann Hartwich: ORDO-Modell und Konfliktgesellschaft, Gegenwartskunde 4 (1966), S. 325 ff. 171

nigstens in der Theorie: Denn wenn und wo das Denken zerfällt, hat

Ordnung ohnehin keinen Bestand im Sein, mit oder ohne mediale be- ziehungsweise polizeiliche Inszenierungen des Scheins von Stabilität.

Fragen nach einer adäquaten Wirtschafts- und Gesellschaftsord- nung489 überschneiden sich also vielfach mit dem Elitethema. Wird darüber reflektiert490, warum und wann Weltzonen reüssieren oder nicht, werden die Wirkweise, der Bedarf, das Fehlen oder Schwächen von Eliten erörtert. Insofern steht mit auf der Agenda, dass sich ‚ge- lingendes’ Gesellschaftsgeschehen als Funktion491 von Akzep- tanz/Zustimmung, relativer Versorgungshomogeni- tät/Chancenstreuung, Motivationsdynamik/Leistungsfähigkeit, Inklusi- on statt Marginalisierung etc. keineswegs als ein irgendwie autono- mer oder gar selbstläufiger, mithin ohne Verantwortungsethik, Gestal- tungswillen beziehungsweise Zugehörigkeitsbewusstsein funktionie- render Prozess auffassen lässt.492 Kein Ablauf ist ohne Wille, Vor- stellung und Instrumentalität humanverträglich möglich, wenngleich die Summe von Selbstinitialisierungen im Sinne von Volker Ger- hard493 kaum ohne die Logik der Situativität und gegen den Zwang der Sozialaggregationen aus- beziehungsweise ankommt. Vielmehr muss ein trotz aller intervenierenden, kumulierenden und vor allem unvorhersehbaren Friktionen und Nebenfolgen abstimmungs- gehärtetes Zweckhandeln von Kollektiven mit im Spiel sein. Nur wenn

489 Bruno Molitor: Zur Moral der Wirtschaftsordnung, Aus Politik und Zeit- geschichte Nr. 52/53 (1989), S. 21 ff. 490 Vgl. Michael Porter: The Competitive Advantage of Nations, New York: Free Press 1990. 491 Apogogisch abzugleichen mit mißlingender, da ‚naturwüchsiger’ Verge- sellung, vgl. beispielsweise Willibold Frehner/Wolfgang Meyer: Die politi- sche Situation der Philippinen nach dem Wahljahr 1998, in KAS- Auslandsinformationen 4 (1999), S. 23 ff., hier S. 39. 492 Vgl. Victoria Camps: Ética del buen gobernio, in Salvador Gi- ner/Sebastián Sarasa (Hrsg.): Buen gobierno y política social, Barcelona: Ariel 1997, S. 19 ff. 493 Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart: Reclam 1999, S. 231 ff. 172

„das Denken in Ordnungen“ das Argumentieren in systemischen, his- torischen oder sonstwelchen ‚Zwangsläufigkeiten‘ in Schach hält, kann Politik im weitesten Wortsinn „die Wirklichkeit gestalten“494. Al- lemal handelt es sich um Regelungsbedarf im Rahmen des Staates, der bei aller Kompetenzillusorik idealtypisch als „wichtigstes Immate- rialkapital“ (Adolph Wagner) der Gesellschaft aufzufassen ist, nicht zuletzt als einzig verbleibender Korrektor des Marktes, trotz aller

Einzelkritik seiner Funktionsschwächen. Folglich kann ‚das Ganze’ nur gelingen in Abstimmung mit seinen Teilen; diese ihrerseits gedei- hen auf lange Sicht nicht auf Kosten der Allgemeinheit, sondern sind richtig zu verstehen nur als Koordinierungs-Rahmen im Geben und

Nehmen symbiotisch verbundener Elemente.495 Die Rede ist von einer wohlfahrtsstaatlich moderierten Zivilmoderne, in der nach Schmol- ler496 „die socialen Institutionen es seien, die immer verbessert, im- mer mehr ethisiert, das Naturspiel der Erwerbskräfte, die Beutegier der Starken, der Reichen, die steigenden wirtschaftlichen Verschie- denheiten des Einkommens und ihre Ursachen immer wieder in die

Schranken weisen“. Dieser Seinsweise entspricht nicht mehr die enge

Rückkoppelung an den Obrigkeitsstaat, wie sie hierzulande gleicher- maßen der rechts- wie linkshegelianischen Traditionslinie entsprach; aber sie ist in keinem Fall dezentriert, so dass etwa im Sinne („priva- te Laster befördern die öffentliche Wohlfahrt“) von Bernard de Man- deville, Jahrgang 1670, ein Durchsetzungsindividualismus vor- herrscht497, frei nach: Jeder ist seines eigenen (Un)Glückes Schmied.

Als moderne Spielart jener altehrwürdigen utilitas publica gerät statt

494 Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Reinbek: Rowohlt 1963, S. 149. 495 Vgl. die Debatte in Günter Frankenberg (Hrsg.): Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, Frankfurt am Main: Fischer 1994. 496 Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Leipzig: Duncker & Humblot 1904, S. 1010. 497 The Grumbling Hive or Knaves turn’d Honest (1714), Hrsg. Walter Euchner, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968, S. 67 ff. 173

des anzustrebenden „honest nexus“ (Shaw) - der „cash nexus“ (Carly- le) zur ausschlaggebenden Größe für das Wunsch- und Handlungspro- fil der postmodernen Medienwelt. Republikanisches Pathos hingegen scheint ebenso überholt zu sein wie sonstige Vorstellungen einer Po- litik, die nicht dem "Gesetz der kleinen Zahl" (H. O. Ziegler) unter- liegt, sondern als Raum ich-transzendierender Zuständigkeit und sei- ner Gratifikationen durch ein nützliches Leben.

Pflichten, Obliegenheiten, Sozialengagement498 - überhaupt Nehmen und Geben - alteuropäische Stichworte wie diese sind kaum mehr ver- ständlich. Nicht nur der Staat gerät auf das Abstellgleis, die Politik ins Zwielicht499; die Gesellschaft selbst, die lange als Bedingung galt

„ohne welche Bewußtseyn, Vernunft nicht da seyn würden; sie sind aus jener erzeugt, nicht aber ist jene an sich, sondern nur... ihr

Werk“500, wirkt in diesem Denkrahmen obsolet. Differenz ist auf die

Dimension der/des Anderen beschränkt, hat mit der älteren Rollende- batte kaum noch etwas gemein, die wenigstens begrifflich der Aggre- gations-Heteronomie aller lebensweltlichen Chancenverteilung auf der

Spur war. Öffentlich zumindest akzeptierte, wiewohl nicht immer ge- pflegte Tugenden als tragendes Element der sozialen „gift relations- hip“ (Titmuss) weichen selbstischer Beliebigkeit, werden sie nicht ge- tragen von der Einsicht in die Notwendigkeit der Geltung „allgemeiner

Regeln (generalia praecepta) zur Vorstrukturierung der öffentlichen

Angelegenheiten“, um mit Melanchthon501 zu reden. Jene als Effi-

498 Nach einer Umfrage des Hamburger B.A.T. Freizeit-Forschungs- Instituts (vgl. Westfälische Nachrichten vom 18. 5.1991, S. 1) können sich nur 15% im Osten und 23% im Westen ein soziales Engagement in der Freizeit vorstellen. 499 Vgl. Anthony de Jasays (Against Politics. On Government, Anarchy and Order, London: Routledge 1997) hochelaborierte Verwerfung aller Kollek- tivregulierungen. 500 Wilhelm Wachsmuth: Entwurf einer Theorie der Gesellschaft, Halle: Hemmerde und Schwetschke 1820, S. 59. 501 Commentarii in aliquot Politicos libros Aristotelis (1530), Corpus Re- formatorum XVI, S. 417 ff. 174

zienz-Rätsel502 apostrophierte „virtù“ (Machiavelli), also die Verarbei- tung der komparativen Erfahrung, dass trotz ähnlicher Ausgangsbe- dingungen hier alles floriert, und dort wenig gelingt oder entwick- lungspolitisch nicht recht in Gang kommt, nicht zuletzt wegen einer

„Verweigerung der Eliten“503 und keineswegs erst seit gestern504. All das hat zu tun mit dem Geist des Kapitalismus, der Pflege administra- tiver Kompetenz, überhaupt jener Moralökonomie, die Adam Smith der

Wirtschaftsmoderne vorbuchstabiert hatte505. Per saldo hängen ge- sellschaftliche Entwicklungsoptionen zusammen mit der sozialen Ver- antwortungsethik regionaler Eliten in Wirtschaft, Kultur und Politik, die wiederum den Engagement-Pegel der Bevölkerung beeinflussen.

Nur wenn gewisse Standards öffentlich im Auge behalten werden, die der alteuropäischen Eubulie samt ihrer politischen Topik506 (leges si- ne moribus vanae; quod omnes tangit ab omnibus approbitur; salus populi suprema lex; non vivere, sed existere necesse est ff.) entspre- chen, lässt sich der Horizont der Elitenproblematik überhaupt ab- schreiten, die eben immer auch eine Frage nach der Gesellschaftsver- fassung mitsamt der Regelgeltung (Akzeptanz + Durchsetzung) dar- stellt.

Es ist heikel, Elite umstandslos als αριστοι zu definieren, und zwar keineswegs nur, da „Schliff in allen Schichten die Ausnahme bildet

502 Harvey Liebenstein: Allocative efficiency vs. ‚x-efficiency’, The Ameri- can Economic Review, Jahrgang 56 (1966), S. 392 ff. 503 Von der Denis Tillinac (Libération vom 9. 7. 1999, S. 16) gesprochen hat, wonach sich die Führungsschichten heute via Internet und Flugplatz- Kultur mehr um ihresgleichen kümmern als um die provinzielle Lokalität, der sie (vgl. Artikel 56 GG) mehr verpflichtet sein sollten als einer putati- ven Internationalität. 504 Vgl. über die Herkunft und Zukunft wirtschaftlicher excellency Angus Maddison: The World Economy in the 20th Century, Paris: OECD 1989. 505 Theorie der ethischen Gefühle (1759), 2 Bde., Hrsg. Walther Eckstein, Leipzig: Meiner 1926, hier Bd. 1, 3. Teil, S. 243 ff. 506 Dazu Wilhelm Hennis: Politik und praktische Philosophie, Neu- wied/Berlin: Luchterhand 1963, S. 89 ff. 175

und nicht die Regel“507. Elite ist bezogen auf ihren gesellschaftlichen

Wert keineswegs mit Notorität oder mit dem zu verwechseln, was sich im Blickfeld der Öffentlichkeit auf den Hochsitzen tummeln mag.

Zugleich eird ersichtlich, dass die Demokratie als „Modus vivendi der untereinander Uneinigen“508, der keinen vorherfixierten Souveräni- tätskern mehr kennt, folglich keinen „großen Ordnungsstifter“ (Bos- suet), dem man nach rituellen Regeln die ratio recta von den Lipppen ablesen kann, einen wesentlich höheren Bedarf an öffentlichen Tu- genden aufweist als ältere/andere Verwaltungsformen, die sich in Hie- rarchie, Routine, Schlendrian oder Herkömmlichkeiten jedweder Art erschöpfen. „Alle Macht geht vom Volke aus und kommt nie wieder zurück“509. Dieser Aphorismus scheint gelungen, bleibt in seiner

Skepsis freilich problematisch. Trifft er doch zu, je mehr er zutrifft:

Der ‚mündige Bürger’ trägt an seiner Ohnmacht selbst mit Verantwor- tung, wie an den Skandalen und anderen Unzuträglichkeiten einer je- denfalls in praxi eher moralverlassenen Politikmoderne abzulesen ist, in der unschwer „Lüge zum System“ (Plottnitz) geraten kann, das viel eher den Rücktritt der Opposition verlangt, als etwa Selbstkorrekturen vorzunehmen. Elitenschwächen oder Politikerhandeln als Risiko für die öffentlichen Belange gehen nicht zuletzt auf das Konto der Zu- schauer/Konsumenten/Wähler solcher Dienstleistungen, die aus

Gleichgültigkeit, Alternativlosigkeit und/oder Apathie als „underinvol- vement“ (Hirschman) über/an/gegenüber der Relevanz von Leistungs- kriterien auf den Führungsetagen in Wirtschaft und Gesellschaft

(ver)zweifeln. Wieviel Politikverachtung veträgt ein Staat?

507 Hazlitt, Anm. 66, S. 162. 508 Theodor Geiger: Demokratie ohne Dogma. Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit (1960), München: Szczesny 2 1964, S. 358. 509 Gabriel Laub: Denken verdirbt den Charakter, München: Hanser ²1984, S. 116. 176

Staatsdistanz

Versetzen wir uns zurück in das Frühjahr 1981. Die Ära der sozial- liberalen Koalition nähert sich ihrem Ende, politische Ordnungsprob- leme der postmodernen Zivilwelt sind mit Händen zu greifen. Großde- monstrationen gegen die Startbahn West auf dem Frankfurter Flugha- fen erregen die Gemüter ebenso wie die Szene der Hausbesetzer in fast allen Großstädten. In diesen hektischen Tagen erklärt sich der liberale Innenminister Gerhart Baum bereit, an einer studentischen

Veranstaltung in der Ruhruniversität Bochum teilzunehmen - ein Tref- fen, das für ihn zum Albtraum wurde. Die geplante Podiumsdiskussion wird zum Tribunal für den Politiker ‚umfunktioniert’, seine Mitdisku- tanten sind vom Publikum nicht gefragt. Unbarmherzig von Scheinwer- fern ausgeleuchtet wird das Bonner Kabinettsmitglied pausenlos ver- hört. Er solle gefälligst Rede und Antwort stehen, schließlich reprä- sentiere er hier das Establishment. In die Ecke getrieben und ange- sichts der erregten Menge eingeschüchtert, versucht der FDP-

Politiker die Vorwürfe abzuwehren, die auf ihn einprasseln. „Der

Staat, der Staat“, ruft er schließlich in den Saal, „der Staat, das sind wir alle. Sie doch auch!“ Darauf erhebt sich im weiten Rund des Audi- torium Maximum der Hochschule ein Gebrüll, das der 59jährige Baum nicht vergessen haben wird. Der empörte Aufschrei der jugendlichen

Besucher besteht aus einem einzigen, langgezogenen „Nein“. Es sind schwierige Zeiten. Die außenpolitische Lage hat in Gestalt der Frie- densbewegung die Gemüter aufgeheizt, die westliche Nachrüstung mit

Mittelstreckenraketen lässt das Wort Angst zum internationalen Lehn- wort werden. Um von der modischen Betroffenheit ganz zu schweigen, die den Zeitläuften einen gesinnungsethischen Zungenschlag verleiht. 177

Die Wirtschaft stagniert, überall muss mit Haushaltssicherungsgeset- zen eingegriffen werden. Überdies ist viel vom ‚Sicherheitsstaat’510 zu hören, nachdem der hausgemachte Terrorismus im Gegenzug eine beachtliche Aufrüstung der staatlichen Kontrollorgane bewirkte. Die

Epoche befindet sich in den Nachwehen jener ‚Protestgesellschaft’

(München: Artemis & Winkler 1992): Ihr hat Harry Pross mit Blick auf die „Wirksamkeit des Widerspruchs“ einen wehmütigen Erinnerungs- band gewidmet, der vor allem die Rolle des Studentenaufbruchs für die über ‚Bürgerinitiativbewegungen’ laufende Erneuerung der Partei- enlandschaft (S. 139 ff.) würdigt. Der Kommunikationswissenschaftler befasst sich zudem mit der merkwürdigen Beziehung, die zwischen

Aufmerksamkeit und Dissens zu beobachten ist (S. 45 ff.). Scheint nicht zuletzt Aufmüpfigkeit in der Mediengesellschaft die Vorausset- zung dafür zu sein, dass man überhaupt beachtet wird?511 Wenn et- was, dann ermöglicht die Dauerpräsenz der Medien, die dem Markt- wert der politischen Happenings folgt, dass sich Interessen oder Zie- le, die nicht parteigebunden daher kommen, profilieren oder gar durchsetzen lassen. Mit der ‚Wende’ von der sozial-liberalen zur liberal-konservativen Ko- alition 1983 in Bonn beruhigte sich der Zeitgeist, die Konjunktur der

Widersetzlichkeit flaute ab. Die in Bochum spürbare Verwerfung aller

Obrigkeit wanderte ab in die Randale, die sich - wie die linke Szene in Kreuzberg oder später die Aufmärsche der Rechten in Ostdeutsch- land512 – seither untereinander, mit Fremden oder mit der Polizei

510 Zu dessen Konzeptualisierung vgl. Martin Oppenheimer: The State in Modern Society, New York: Humanity Books 2000, S. 27 ff. 511 Zu sonstigen ‚Verdichtungssymbolen’ als Steuerung der öffentlichen Wahrnehmungsraster vgl. Wolfgang Bergsdorf: Herrschaft und Sprache, Pfullingen: Neske 1983, S. 30 ff. 512 Obschon mit Blick auf den anhaltenden und mittlerweile landesweiten Terror gegen Asylbewerber wohl von einer neuen sozialen Bewegung zu sprechen war, deren Dramatik sich nicht nur aus der Gewaltsamkeit, son- dern vor allem aus ihrer Jugendlichkeit und Regionalität ergab. 178

herumprügelte. Die expressive Staatsdistanz in der Bevölkerung hatte sich überlebt, mit Blick auf Umweltschäden, Gewalt in der Ehe oder

Punker selbst in eher zustands-oppositionellen Kreisen, die mit dem

Volk „als großem Lümmel“ ohnedies immer weniger im Sinn haben.513

Gleichwohl wird seit längerem nicht nur intensiv über die Grenzen des

Staates514 debattiert, sondern unter dem Stichwort ‚Unregierbarkeit’ gleichfalls über Unzulänglichkeiten wie Unzuständigkeiten der Politik.

Auch sie war offenbar zu deregulieren, sollte die Marktdynamik wie- der florieren. In diesem Zusammenhang geht es nicht mehr um die

Pflege des Ideals vom „ästhetischen Staat“, den Schiller515 anpries, weil allein in ihm „der Wille des Ganzen“ walte. Mittlerweile stellte sich die banalere Frage, ob auf die Dauer überhaupt ohne ein wie immer geartetes „antiegoistisches Zentrum“ (Troeltsch) der Gesell- schaft auszukommen ist?516 Solchermaßen war der Staat hierzulande

513 In der Begrifflichkeit von Thomas Hobbes wirkt ‚Behemoth‘ als Zustand unstaatlicher Zügellosigkeit offenbar inzwischen riskanter noch als der ‚Leviathan‘, wiewohl sich jedenfalls der frühmoderne Denker keinerlei Illu- sionen machte über den latenten Untiercharakter politischer Machtmuster, die als Zwangsstrukturen die Unordnung in sich bergen wie die Schale den Kern. 514 Vgl. Hans-Georg Wehling (Hrsg.): Zuviel Staat? Die Grenzen der Staatstätigkeit, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1982; Edgar Grande/Rainer Prätorius: Modernisierung des Staates?, Baden-Baden: Nomos: 1997. 515 Als Steigerungsform gegenüber dem „dynamischen Staat“, der „die Ge- sellschaft bloß möglich machen kann, indem er die Natur durch die Natur zähmt“, und dem „ethischen Staat“, der die Gesellschaft „bloß (moralisch) nothwenig machen kann, indem er den einzelnen Willen dem allgemeinen unterwirft“, Ueber die ästhetischer Erziehung des Menschen, in einer Rei- he von Briefen, Sämmtliche Werke in 12 Bänden, Band 12, Stutt- gart/Tübingen: Cotta 1838, S. 130 f. 516 Eigentlich nicht, hält man sich eine von Renate Mayntz (Verbände zwi- schen Mitgliederinteressen und Gemeinwohl, Gütersloh: Bertelsmann 1992) herausgebene Studie über die Präponderanz des Egoismus vor Augen, wo- nach Nehmen seliger ist als Geben. Zur gleichen Zeit, als Innenminister Baum als Staatsvertreter ‚unter Anklage’ stand, hat Robert Dahl (Dilemmas of Pluralist Democracy, New Haven: Yale UP 1982) an Defizite der Politik erinnert. Der amerikanische Politologe nennt unter anderem die Verfesti- gung von Machtstrukturen, die Kurzatmigkeit der öffentlich-zugelassenen Problemwahrnehmung, weiter den Verlust an politischen Kontroll- und da- mit auch Korrekturmöglichkeiten sowie die Deformierung des „civic consci- ousness“, was soviel heißt, daß der Moderne das Allgemeinwohlbewußtsein abhanden kommt. Diese Komplikationen stehen in Verbindung mit der Tat- 179

im Sinne einer regulativen Idee verstanden - und auch missbraucht - worden517. Also als Treuhänder einer auf Gemeinwohl + Regelgaran- tie als Quersumme und Voraussetzung der Einzelinteressen zugleich bezogene und daher wenigstens in der Tendenz alle Gruppenbelange transzendierende Veranstaltung. Noch einmal gefragt: Ist eine „Ae- quationsformel aller besonderen Interessen“ wirklich entbehrlich, in deren Sinne laut Johann Peter Friedrich Ancillon518, Jahrgang 1767,

Historiker und Prinzenerzieher, seit 1832 Außenminister in Berlin, der

Staat im ebenso allfälligen wie unplanbaren Chaos gesellschaftlicher

Differenzen, wirtschaftlicher Wechselfälle, massengesellschaftlicher

Irritationen, arbeitsteiliger Differenzierungen, technologisch- wissenschaftlicher Dynamiken und kultureller Wellen unbeirrt, wenn schon nicht Zukunft und Gemeinsinn, dann jedenfalls die rechtliche

Moderierung auseinanderstrebender Bedarfslagen und ihrer Ansprü- che vertreten muss. Wiewohl seinerzeit noch nicht durch, gleichwohl aber für das Volk (S. 46) und vor allem „nie gegen dasselbe“ (S. 77)?

sache, daß der Staat seit längerem am Pranger steht, so daß seine Funkti- on als Regulator interessen-übergreifender Belange mehr und mehr aus dem Blick gerät. Und das wiederum hat nicht nur damit zu tun, daß die Ef- fekte der Wohlfahrtspolitik einen Individualisierungsschub bewirkt haben, der die Epoche auf Selbstständigkeit verpflichtet, so dass die kollektiven Voraussetzungen des eigenen Wohlbefindens aus dem Blick treten. Hinzu kommt, daß der Staat allzu leicht mit big government verwechselt wird, so dass in einer merkwürdigen Verdrehung von Ursache und Wirkung der Mit- welt große Angst bereitet, was gedacht war als Instrument zur gesell- schafts-kongruenten Furchtkontrolle. Wie immer, wenn es in der Öffent- lichkeit um den Staat ging/geht, ist anzunehmen, daß es gegen den Staat ging/geht. Vertrauen (nicht nur) in die Instanzen/Institutionen war und ist Mangelware, und das betrifft auch die Beamten als Sachwalter der Ge- meinbelange, deren Redlichkeit laut Allensbach (zit. Frankfurter Allgemei- ne Zeitung vom 18. 9. 1992, S. 10) 55 Prozent der Mitbürger nicht länger über den Weg trauen. 517 Dazu Alfred Müller-Armack: Genealogie der Wirtschaftsstile, Stuttgart: Kohlhammer 1944; auch Ernst Michel: Sozialgeschichte der industriellen Arbeitswelt, Frankfurt am Main: Josef Knecht 1953. 518 Staatswissenschaft, Berlin: Duncker & Humblot 1820, S. 110. 180

Stimmungsumschwung

Der Staatsprüderie blieb/bleibt verborgen519, dass die Vielfalt gesell- schaftlicher Entscheidungszentren, die über die Gesellschaft streuen, immer schwieriger aufeinander abgestimmt werden konnte, wenn/weil keine bestimmten oder verabredeten, auf jeden Fall aber festen Ziel- vorgaben gelten. „Kommunikationsprobleme“ (Willke) wie diese deuten auf eine Bodenerosion der Staatlichkeit hin.520 Der Staat als steuern- der Entscheidungs- und Zuständigkeitsmanager schien nach den Er- fahrungen mit den Totalitarismen dieses Jahrhunderts ohnehin mehr als verdächtig, auch steht er populären Losungen von der Selbstver- wirklichung im Wege. Als Behördengetriebe blieb er weiter das Ande- re, ein Stör- und Kostenfaktor. Obschon laut Hermann Heller521 „die

Feststellung der immanenten Sinnfunktion des Staates für seine Er- kenntnis in allen ihren Einzelheiten von absolut entscheidender Be- deutung ist“, herrscht über Umfang, Funktion oder Wesen der Staat- lichkeit auch begrifflich keineswegs Einigkeit. Der Staat galt/gilt wahlweise als:

519 Oder sie berief sich in Form der Systemtheorie auf diese Komplikatio- nen als Post-festum-Argument gegen dessen Kompetenz, wiewohl sie vor allem ein Ergebnis der zeitgenössisch-ideologischen Dominanz der Markt- logik waren. 520 Jedenfalls verglichen mit älteren Vorstellungen, vgl. Ernest Gellner: Pflug, Schwert und Buch. Grundlinien der Menschheitsgeschichte, Stutt- gart: Klett-Cotta 1990; Michael Stolleis: Staat und Staatsräson in der frü- hen Neuzeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. 521 Staatslehre, Hrsg. Gerhart Niemeyer, Leiden: A. W. Sijthoff, 1934, S. 203: „Der Agnostizismus, der auch die berechtigte Frage nach dem ‘Zweck’ des Staates für unbeantwortbar erklärt, endet schließlich bei der trostlosen Meinung, der politische Verband sei ausschließlich durch sein Mittel, die ‚Gewaltsamkeit’ (M. Weber) ... zu definieren. Diese Lehre und erst recht die zahlreichen Lehren, welche die Macht als den begriffsnotwendigen ‚Zweck’ des Staates behaupten ... sind weniger falsch als absolut nichts- sagend. Denn Macht entwickeln alle menschlichen Institutionen, und ohne Feststellung der Sinnfunktion der spezifischen staatlichen Macht ist diese weder von einer Räuberbande noch von einem Kohlen-Kartell oder einem Kegelklub zu unterscheiden.“ 181

• „die Institutionalisierung der Klasseninteressen... der jeweiligen

Machtinhaber“522

• „das als Herrschaftsverband organisierte Aktionszentrum einer je geschichtlich bestimmten Ordnung ..., dargestellt durch ein jeweils spezifisch organisiertes System mittels einer Regelordnung auf ein- ander abgestimmter Institutionen, Gewalten und Organe“523

• „eine Einrichtung einer größeren Gesellschaft, vermöge derer die

Kräfte der Gesellschaft in allen Fällen zur Ausübung des Zwangs ver- einigt werden können“524

• „diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines be- stimmten Gebietes ... das Monopol legitimer physischer Gewaltsam- keit für sich (mit Erfolg) beansprucht“525

• „eine Institution ..., deren letztes Ziel die Sorge für das gesunde

Dasein und die gesunde Daseinsmöglichkeit des Menschen ist“526

• „eine in Klassen gegliederte Rahmengruppe, die eine mit Machtmit- teln versehene Anstalt für den Grenz- und Rechtsschutz besitzt“527

• „ein sozialer Mechanismus zur Verhütung eines Gruppenkonfliktes, der zum Zerfall der zivilen Gesellschaft führen könnte“528

• „der Gesamtkomplex praktischer und theoretischer Tätigkeit, mit dem die herrschende Klasse ihre Herrschaft nicht nur rechtfertigt und

522 Karl Loewenstein: Beiträge zur Staatssoziologie, Tübingen: Mohr 1961, S. 261. 523 Otto Stammer: Gesellschaft und Politik, in Werner Ziegenfuß (Hrsg.): Handbuch der Soziologie, Stuttgart: Enke 1965, S. 565. 524 Gottlieb Hufeland: Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbunde- nen Wissenschaften, Jena: C. H. Cuno’s Erben ²1795, § 408/S. 215. 525 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 122), S. 1043. 526 Arnold Bergsträsser: Das Wesen der politischen Bildung, in Schicksals- fragen der Gegenwart, Tübingen: Niemeyer 1959, Band 2, S. 103 ff., hier S. 104. 527 Franz Oppenheimer: Soziologie des Staates, in: Jahrbuch für Soziolo- gie, Hrsg. Gottfried Salomon, 1925, Band 1, S. 64 ff., hier S. 86. 528 G. L. Field: Governments in Modern Society, New York: McGraw-Hill 1951, S. 543. 182

aufrechterhält, sondern mit dem sie auch den tätigen Konsensus der

Regierten zu erhalten vermag“529

• „die Unterwerfung unter eine Autorität ...; im socialen Proceß wech- selt nur das Wesen dieser Autorität. Zuerst ist es die Autorität der körperlichen Kraft und des Muthes, dann wird es die Autorität der po- litischen Klugheit, und schließlich wird es die Autorität der Civilisati- on, welche die Völker der Staatsgewalt unterwirft“530

• „eine Organisation der Besitzenden zum Schutz gegen die Nichtbe- sitzenden“531

• „eine Art Organisationszentrum für die durch ihn selbst konstituier- ten Kollektivitäten, die sich eben nur durch ihn überhaupt noch als abgrenzbare Einheiten verstehen“532.

Weniger Staat? Mehr Staat? Welcher Staat? Schlanker, aber starker

Staat? Verschwindet der Staat? Nimmt er überhand? Die Staatsdis- kussion bleibt in Schwung.533 Nicht zuletzt als Folge offensichtlicher

Aufgabenüberlastungen, die zugleich Hand in Hand gingen mit dem

Gefühl, vom Staat als Übervater in seinen Entfaltungschancen einge- schränkt zu werden. So jedenfalls empfanden die 1980er Jahre jene

überkommene „Kollektivfühligkeit“ (Dumont), die ihren politischen

Nenner historisch im Staat fand; all das schien überholt zu sein. Mitt- lerweile schlägt angesichts öffentlicher Verwahrlosungstendenzen,

529 Antonio Gramsci: Philosophie der Praxis, Hrsg. Christian Riechers, Frankfurt am Main: S. Fischer 1967, S. 354. 530 Ratzenhofer: Sociologische Erkenntnis (Anm. 221), S. 235. 531 Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen (1884), in: MEW 21, S. 25 ff., hier S. 138. 532 Franz-Xaver Kaufmann: Diskurse über Staatsaufgaben, in Dieter Grimm (Hrsg.): Staatsaufgaben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 15 ff., hier S.37. 533 Zu deren Reaktion auf die Krisenempfindung vgl. Wolfgang Schluchter: Anmerkungen zur neueren staatstheoretischen Diskussion (1976), in ders.: Rationalismus der Weltbeherrschung, Frankfurt am Main: Suhrkampf 1980, S. 170 ff; auch die Debatte zwischen Christian Fenner, Pierre Bourdieu, Georg Vobruba, Christopher Hird u.a. in: Freibeuter, Heft 78 (1998), S. 33 – 102. 183

Krisenwachstum + Rückkehr von Katastrophen das Pendel zurück.534

Nicht nur eröffnet die modische Vision von der Selbstbestimmung neue Unwägbarkeiten535, obschon die salvatorische Formel ‚Freizü- gigkeit + Eigenverantwortung + Institutionalität = Versorgungsgarantie

+ Selbstverwirklichung‘ weiterhin als gültige Blaupause für eine neo- liberale, mithin unbehelligte und daher gedeihliche Zukunft ausgege- ben wird.536 Erhöhen derartige Minimalbedingungen jedoch das all- gemeine Glücksaufkommen? Gehören zum Traumbild vom ‚Wohlstand für alle’ (Erhard) nicht noch andere Dinge? Etwa die Offenhaltung der intergenerativen Chancengleichheit - auch gegen egoistische Rendite-

Erwartungen - und die Pflege der Bildungsmöglichkeiten? Passable

Infrastrukturen und öffentliche Sicherheit? Eine gelingende, mithin wirklich kompensatorische Umverteilung? Derartige Bedingungen sind trotz aller Selbstverantwortungs-Anstrengungen in vielen Bereichen wie der Arbeitslosenversicherung, dem Anomie-Schutz etc. nur durch die Gesamtheit zu sichern, für die der im Staat präsente „Gemein- drang“ (Goethe) vonnöten ist, aber zugleich ein öffentlich artikulierter

Wille zu regulativen Investitionen in ausgleichende Gerechtigkeit, wo

Selbstvorsorge versagt. Hält man sich mit Blick auf den „geselligen

Trieb zu einer ruhigen und nach dem Maß der Einsicht geordneten

Gemeinschaft mit Seinesgleichen“537 die allenthalben sichtbare Aus- breitung von Ungleichheit und Asozialität als Folge staatlicher Inter- ventionsverknappung und Investitionsdrosselung gleichermaßen trotz

Wirtschaftsboom oder aus Wachstumsschwäche vor Augen538, wird

534 Zu den Erhebungsdaten vgl. Renate Köcher: Renaissance der Sozial- staatsgläubigkeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. 12. 1998, S. 5. 535 Nicht zuletzt auch im Intimbereich der familialen Erziehungs- und Sozi- alisationschancen. 536 Walter Stahlmann: Ursachen von Wohlstand und Armut. Eine Untersu- chung von wirtschaftlichen Einflußfaktoren, München: Vahlen 1992, S. 111 ff. 537 Grotius (Anm. 182), Prolog 6, S. 24. 538 Vgl. Robert Wilson: The Dispossessed, London: Picador 1992. 184

dieser Zusammenhang als absurde Dialektik von ‚Ideologie (Deregu- lierung) + Fiktion (Selbstverwirklichung) + Einfluss (Interessiertheit)’ deutlich. Oder man denke an die Vormacht der Satten über die mo- derne Risikogesellschaft539, in der medial ausgeschmückt der „Einzi- ge und sein Eigentum“ (Stirner) zum kollektiven Leitmotiv einer gan- zen Epoche avancierte, allfällige Indizien auf die „misère du monde“

(Bourdieu) hin oder her. Vor dem Hintergrund steigender Vergesel- lungsdefizite wählte der 19. Internationale Hegelkongress (April

1992/Nürnberg) mit ‚Recht und Staat’ ein zeitgemäßes Thema.540 Re- präsentativ wirkte zudem, dass in den Diskussionen eher Ratlosigkeit

über das Weltgeschehen zu Wort kam als Zukunftsgewissheit. Gibt es doch keinen „dominanten Diskurs“ (Ricoeur) mehr, wiewohl im Sinne von Hegel der Denkarbeit aufgetragen bleibt, ihre Problemgegenwart in Gedanken zu fassen. Heinz Kimmerle (Rotterdam) unterstrich die verbreitete Skepsis mit dem Hinweis, dass die demokratischen Institu- tionen zunehmend wie ein Deckmantel wirkten, unter dem sich unkon- trollierte, vielleicht sogar unkontrollierbare Machtverhältnisse verber- gen. Wenn indes von Wolfgang Lefevre (Berlin) behauptet wurde, das

Denken Hegels wirke abgestanden, sah sich die Fragestellung des

Treffens philosophisch verfehlt. Die Risikoflut, die eine von der Sys- temkonkurrenz befreite Marktinnovation ausgelöst hat, die sich zum

Postfordismus mausert, macht nolens volens weniger die politische

Konzeption mitsamt ihrer vormodernen Individualitätsdistanz wieder aktuell, wohl aber die administrative Philosophie Hegels, wenngleich vielleicht vorerst auf Umwegen: Nämlich über die neu-alte Erfahrung, dass Gesellschaften ohne die Fähigkeit/Chance - zuweilen wider Wil-

539 John Kenneth Galbraith: Die Kultur der Zufriedenheit, Hamburg: Hoff- mann & Campe 1992. Über die Verelendung und eine entsprechende Aus- breitung von Deprivationskernen auch in Deutschland vgl. Gabi Gil- len/Michael Möller: Anschluss verpasst, Bonn: Dietz 1992. 540 Vgl. Tagungsbericht, in: Westfälische Nachrichten vom 4. Mai 1992. 185

len - zur Selbst-Regulation ihrer Mitglieder nicht zuletzt durch die

‚Notwendigkeit der Einsicht‘ schwerlich gedeihen. Denn die Freiset- zung individueller Interessen, so Hegel541, „ruft jene Freiheit gegen die höhere Regulierung an“, obschon sie in Wahrheit, je mehr die E- poche „blind in den selbstsüchtigen Zweck vertieft [ist], um so mehr einer solchen bedarf, um zum Allgemeinen zurückgeführt zu werden“.

Ganz zu schweigen von den sozialpolitischen Dauerlasten, um „die gefährlichen Zuckungen und die Dauer des Zwischenraumes, in wel- chen sich die Kollisionen auf dem Wege bewußtloser Notwendigkeit ausgleichen sollen, abzukürzen und zu mildern“. Was verlangt(e), auf der Zeitachse den sich stetig beschleunigenden Wandel der Indust- riemoderne durch interventionsstaatliche Intelligenz human- und sozi- alökologisch, also politisch wenigsten zu justieren. Dessen Stabilisie- rung war schon wegen der technologischen Evolution542 kaum mehr möglich. Das ahnte bereits die Frühsoziologie mit Claude-Henri Graf

Saint-Simon, Jahrgang 1760, eine Neffe des Memoralisten gleichen

Namens, der die losgetretene Transitorik deswegen über Planungs- maßnahmen unter Dampf und zugleich auf dem Gleis zu halten such- te. Sein Denkansatz wollte das Fabrikzeitalter von Resten der vorin- dustriellen Muße befreien, die dem Nachhall feudaler Privilegien ge- schuldet war. Durch Organisation, Leistung oder Effektivität wurde solchermaßen der utilitäre Nebenimpetus der Aufklärung vorangetrie- ben, wie er sich unübersehbar als Nützlichkeitsdebatte der frühmo- dernen Industriepädagogik niederschlug, man denke stellvertretend

541 Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 236, Johannes Hoff- meister (Hrsg.), Hamburg: Meiner 4 1955, S. 198. 542 Was in der Technik als artifizielle Evolution sinnvoll/gewollt sein mag, solange sie nicht nur der Rendite dient, wird als technische Überforderung der anthropologischen Evolution riskant und sinnlos, solange unklar ist, was ‘wir’ werden wollen/sollen - außer zu wahrhaft menschlichen und damit gemeinschaftlichen Wesen. 186

an Autoren wie Peter Villaume543. Seither wird alles und jedermann vor den Richtstuhl des gesellschaftlichen Verwendungswertes gezerrt, wobei sich von Saint-Simon544 nicht bedacht sah, dass die allgemeine

Messlatte für diesen Nachweis unter Bedingungen der Wirtschaftsmo- derne ausschließlich die Rendite sein kann. Emotional auf die vorin- dustrielle Ordnung fixiert, schwärmte er von einer elitären Vollverpla- nung der Zukunft, wäre solchermaßen die Kosten-Nutzen-Bilanz der

Gesellschaft aufs Schönste zu vervollkommnen. Das „goldene Zeital- ter“ der Industrie (als industria) sei endlich angebrochen. Sein Opti- mismus richtete sich gegen den panischen Konservativismus der Zeit, doch von einer aurea aetas der Organisations- und Produktionsge- sellschaft mochte außer unverbesserlichen Sozialisten bald keiner mehr reden. Solcher Zukunftsspiritualismus wirkte einfach fad, seiner

Rolle als Vorläufer eines technizistischen Totalitarismus stand aller- dings der Phantast Saint-Simon im Weg. Auf eine Übergangskrise re- agierte er mit einem gewagten Leben, das die Brüchigkeit einer Zeit der Umwälzungen symbolisiert, die weiterhin unabgeschlossen ist.

Trotz vollmundiger Fortschrittseuphorie spiegelt sein Werk eine Rat- losigkeit, die alle Organisationsmythologie ironisiert. „Ein Gelehrter ist ein Mensch, der vorausschaut“, kommentierte Saint-Simon 1802.

Den Sachzwängen der Zukunft, die er kommen sah, begegnete er als

Freidenker und Nonkonformist eher unwirsch. Ohne eine relativ intakte Gesellschafts-Umwelt/Umwelt der Ge- sellschaft kann auch individuelle Selbstverwirklichung schwerlich gelingen545, erweist nicht zuletzt die exzentrische Biographie

543 Ob und inwiefern bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sei?, in: Herwig Blankertz (Hrsg.): Bildung und Brauchbarkeit. Texte zur Theorie utilitärer Erziehung, Braunschweig: Westermann 1965, S. 69 ff. 544 Richard M. Emge: Saint-Simon. Einführung in ein Leben und Werk, eine Schule, Sekte und Wirkungsgeschichte, München: Oldenbourg 1987. 545 Mag eine idealistische Philosophie etwa mit Volker Gerhardt vom auto- nomen Individuum offenbar ganz ohne umbilicus schwärmen: Wie bei Erich 187

Saint-Simons, nicht einmal in den Reihen der moneyed classes, weil Biografie und Enkulturation (Sinn, Strukturen, Anerkennung, Regeln ff.) aufeinander verwiesen bleiben. Weswegen über den Tellerrand verbreiteter Ablenkungen mitsamt Wunsch- und Möch- tegernbildern von der Realität546 zu blicken bleibt, die durch die massenmedial gepflegte Sotto-in-sù-Perspektivik des Zeitgeistes gerne das gesellschaftliche Untergeschoss aus den Augen verlie- ren. Nur nüchtern lassen sich die Konturen einer politisch so o- der so möglichen Staats- als Reregulierungs-Debatte aus der Wiederkehr von Anomie verstehen/begründen, die sich allenthal- ben breit macht, selbst in den Zentren der Hochentwicklung.547 Als Folge solcher Entzivilisierung der Lage mitsamt Schwinden des öffentlichen Sinns droht dem 21. Jahrhundert womöglich die Karriere eines kompensatorischen Autoritarismus.548 Vom Fort- schreiten der Liberalität als Ausdruck einer sich beschleunigen- den Individualisierung dürfte schwerlich auszugehen sein, auch das ist ein Paradox einer mit Emanzipation verwechselten Insu- lierung der Menschen als Massenphänomen.

Überforderungsgesellschaft

Kästner (Der synthetische Mensch, in: Gesang zwischen den Stühlen, Stuttgart/Berlin: DVA 1932, S. 24 f.) entspringen sie fix und fertig der Fab- rikation und brauchen sich nur ihrer weiteren Eigenschöpfung zu widmen, die ganz ohne Konnexion mit oder Störungen von außen zu verlaufen scheint. 546 Zur Realitätsverschätzung der Epoche Anthony Skillen: Ruling Illusi- ons: Philosophy and the Social Order, Hassocks/Sussex: Harvester 1977. 547 Die übrigens durchaus Züge jener Brutalität zeigen, die George Orwell (The Road to Wigan Peer, London: Gollancz 1937) als Selbstwiderlegung der Marktwirtschaft durch ihre unsozialen Nebeneffekte schilderte. 548 Wie sie Theodor Eschenburg (Über Autorität, Frankfurt am Main: Suhr- kamp 1965) mit Blick auf ältere Sozial-Irritationen beschrieben hat. 188

Essen, Anfang Oktober 1992. Obwohl Industrieausstellungen sich auf

Grund von Wirtschaftsschwankungen schwertun, hatten Aussteller auf der ‚Security 1992’ wenig Grund zur Klage. Das Geschäft blühte, denn das Verbrechen legte in fast allen Spielarten zu, 1991 etwa wurden 5,

3 Millionen Straftaten registriert.549 In der Branche rechnet man seit- her im internationalen Rahmen mit einem Deliktzuwachs von 10 Pro- zent pro Jahr.550 Entsprechend steigt das allgemeine Sicherheitsbe- dürfnis, nicht nur hierzulande551. Ausschreitungen gegen Asylanten und ‚Fremde‘ oder Straßenschlachten zwischen ‚Skins’ und ‚Anti-Imps’ verstärken die Sorgen nicht nur über die öffentlichen Angelegenhei- ten, sondern allgemein um die Unversehrtheit am eigenen Herd. Etwa

60 Prozent der Misse- und Untaten entfallen auf Diebstähle, werden massenweise hautnah empfunden. Auch das erklärt, wieso die

Verbrechensbekämpfung in der Bevölkerung zu den besonders wichti- gen Politikfeldern zählt. In den neuen Bundesländern gar rangiert die

Garantie von Leben und Eigentum nach der Arbeitsplatzsuche auf

Rang zwei der genannten Gravamina.552 Offenbar breitete sich Irrita- tion frei nach Kriminalitätsfurcht > Opferrisiko aus, obschon die Be-

549 Die Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland. Polizeiliche Krimi- nalitätsstatistik für das Jahr 1991, Bulletin des Presse- und Informations- amtes der Bundesregierung Nr. 56 (Bonn, 29. 5. 1992), S. 525 ff. 1997 wa- ren es fast 6, 6 Millionen (vgl. Die Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland. Polizeiliche Kriminalitätsstatistik für das Jahr 1997, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 37 [Bonn, 29. 5. 1998], S. 426), 1999 6,3 Millionen erfasster Fälle, vgl. Polizeiliche Kini- nalstatistik 1999, Wiesbaden: BKA 2000, S. 27. 550 Tatsächlich sank beispielsweise 1996 die Kriminalität um 0, 3 % ge- genüber 1995 [Der Spiegel Nr. 20 (1997), S. 17], 1997 um 2, 1 % (Westfä- lische Nachrichten vom 7. 3. 1997, S. 1), 1998 um 2 % (vgl. Polizeiliche Kriminaltätsstatistik 1998, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 29 [Bonn, 25. 5. 1999], S. 273 ff., hier S. 274), 1999 um 2, 5 %, vgl. Polizeiliche Kriminalstatistik 1999, Wiesbaden: BKA 2000, S. 27. 551 Besaßen 1970 nur 1 Prozent der US-Haushalte Alarmanlagen, stieg der Anteil auf 20 % (1998). Seit 1975 haben sich die Ausgaben für Wachmann- schaften, Sicherheitsanlagen etc. auf 80 Milliarden Dollar verzehnfacht (1998). 552 Vgl. Allensbach (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. 4. 1992, S. 4) und Emnid (Der Spiegel Nr. 18 [1992], S. 65). 189

reitstellung von ‚Sicherheit’ als Abwehr von Gefahr zu den politisch ursprünglichsten Elitefunktionen zählt. Die Ordnungskräfte scheinen zu versagen, sie sind als wenigstens symbolische Generalprävention

überdies kaum sichtbar. Auf den Straßen und Plätzen treten Ord- nungshüter kaum mehr ‚in Erscheinung’. Man fühlt sich im Bereich des lebensweltlichen Sozialschutzes verlassen, Polizeikräfte sind vornehmlich im Fernsehen beim Staatsschutz zu besichtigen. Das mag den Verkaufserfolg der Sicherheitstechnik erklären, auch Privatpolizei liegt im Trend, je weiter no-go-areas reichen553, ebenso wie die Ver- sicherungsvorsorge in diesem Feld. Angesichts des auf über hundert- fünfzig Milliarden Mark im Jahr geschätzten Gesamtschadens, den al- lein organisierte Kriminalität anrichtet554, breiten sich Zweifel aus, ob die für die Verhinderung beziehungsweise Verfolgung solcher Verfeh- lungen zuständigen Einrichtungen noch angemessen sind. Bedenken wachsen nicht zuletzt, weil die Behörden wegen personeller und ma- terieller Minderausstattung dem Treiben oft eher hilflos zuschauen.555

Die Aufklärungsrate von Straftaten sank auf 42 Prozent556, das för- dert den Wunsch nach Vigilanz als Selbstschutz, um den üblichen

„Nachteilen der Tugend“ (Sade) zu wehren. Dennoch hat schon diese

553 Zur geteilten Sicherheit in der staatsfeindlichen Epoche des Vulgärlibe- ralismus vgl. Christian Bachmann/Nicole le Guennec: Violences urbaines, Paris: Albin Michel 1999, S. 401 ff. 554 Hermann Lutz: Bisherige Methoden reichen nicht, GP-Magazin 10 (1992), S. 37. 555 Wie schon in anderen Lebensbereichen, wird auch hier gefragt: Sind es die Unbedarften, die weiterhin die Spielregeln einhalten, derweil die Raffi- nierten immer ungefährdeter ihr Scherflein als unrechtmäßige Extrachance ins Trockene bringen? 556 Sie stieg bis 1997 wieder auf leicht über 50 % an, vgl. Die Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland. Polizeiliche Kriminalitäts-statistik für das Jahr 1997, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesre- gierung Nr. 37 (Bonn, 29. 5. 1998), S. 431, betrug 1998 52, 3 % (Die Kri- minalität in der Bundesrepublik Deutschland. Polizeiliche Kriminalitätssta- tistik für das Jahr 1998, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 29 [Bonn, 25. 5. 1999], S. 273 ff., hier S. 279) und 1999 52, 8 %, vgl. Polizeiliche Kriminalstatistik 1999, Wiesbaden: BKA 2000, S. 65. 190

Niedrigquote wegen der Unterversorgung des Justizapparates einen regelrechten Prozess-Stau verursacht: Bei einem Drittel aller 6, 7 Mil- lionen Straftaten kann nicht mehr ermittelt werden.557 Ist mit den

Ordnungskräften weiterhin Staat zu machen?

Verbrechen erlebt eine Konjunktur der Aufmerksamkeit, entsprechend häufen sich Veröffentlichungen558, Tagungen oder Medienberichte.

Doch das soziologische Rätsel bleibt559, warum wir Zeugen einer ra- santen Vermehrung von Delikten, vor allem von Jugendkriminalität560, auf allen Etagen der Gesellschaft werden. Ist möglichst konsequent gegen jeden Rechtsbruch vorzugehen, also schon im Alltag mit der

Vorsorge/Verhinderung zu beginnen, um das Regelbewusstsein wieder zu schärfen? Oder produziert höhere Überwachung nur ein größeres

Aufkommen an Delikten? So oder so boomt Sicherheit als Thema und

Beruf seit längerem. Die Zahl der Wachunternehmen verdoppelte sich in den letzten zehn Jahren. Der Umsatz der Branche stieg von 1, 7 auf 4, 5 Milliarden Mark, die altbekannte Symbiose von Räuber und

Gendarm sieht sich bestätigt. Auf der Sorgenskala der Bevölkerung hat die Verunsicherung zusammen mit der Arbeitslosigkeit alle ande-

557 2, 2 Millionen Straftaten bleiben ungeahndet, Welt am Sonntag vom 17. 8. 1997, S. 14. 558 Das ‚Polizei Lexikon’, Hrsg. Reinhard Rupprecht mit 2000 Schlagworten liegt in der zweiten Auflage (Heidelberg: Kriminalistik Verlag 1995) vor, das autoritative ‚Kriminalistik-Lexikon’ (Heidelberg: Kriminalistik Verlag), Hrsg. Waldemar Burghard u.a. mit ebenso vielen Stichwörtern in der dritten Überarbeitung (1996), ebenso der von Günther Kaiser u.a. besorgte (Klei- nes kriminologisches Wörterbuch, Heidelberg: C. F. Müller 1993) Nach- schlageklassiker, vgl. zudem Hans-Dieter Schwind: Kriminologie, Heidel- berg: Kriminalistik Verlag 102000. 559 Schon deswegen, weil sich die kriminologische Perspektive in doppelter Hinsicht gnoseologisch verschließt: Weder werden die systemischen Ursa- chen (ökonomische Risiko-Voruassetzungen) genügend berücksichtigt (Zweckrationalität), weil das Strukturkritik verlangte, noch sehen sich psy- chologische Faktioren (Wertratiopnalität) hinreichen beachtet, die Fehlver- halten/Gewaltsamkeit etc. als Lustgewinn rubrizieren könnten. 560 Jeder dritte Täter ist laut Jahresstatistik der Polizei (1997) (Westfäli- sche Nachrichten vom 8. 2. 1999, S. 1) unter 21 Jahre alt, vgl. auch Jür- gen Meyer: Abschreckung funktioniert nicht, Vorwärts Nr. 1 (1998), S. 14, auch die jungendliche Tatopfer-Rate ist erschreckend hoch. 191

ren Beklemmungen abgedrängt. Zwar weist Manfred Murck561 auf ein

Zuviel an Besorgnis hin, wahrnehmungspsychologisch entspricht das

Angst- keineswegs dem Tataufkommen. Aber die 70 Prozent der Bun- desbürger, die sich beunruhigt fühlen, richten sich nach gewohn- ten/erwünschten Sicherheitsstandards. Danach muss es möglich sein, sich zu jeder Tages- und Nachtzeit, als junger/alter Mensch oder als

Frau allerorten frei bewegen zu können, ohne übervorsichtig zu sein.562 Immerhin mag der Staatsschutz noch klappen, wenngleich die

Berichterstattung über organisierte Kriminalität nicht gerade von Er- folgen zu berichten weiß, eher von einer schleichenden Korrumpie- rung der unterschiedlichen Elitensegmente563. Deren Standards sin- ken, weil geldwerte Vorteile mangels anderer Orientierungen auch lei- tende Positionen zunehmend steuern, selbst in den Parlamenten er- höht bekanntlich die Verteilung von finanziellem Zubrot die Zahl will- fähriger Parteisoldaten. In der Gemeinde, in der man lebt und von der das allgemeine Sicherheitsgefühl normalerweise geprägt wird, sieht sich indessen die von Mund zu Mund verallgemeinerte Opfererfahrung zur generellen Verschlechterung der Sicherheitsleistung stilisiert.

„Die noethigen Anstalten zur Erhaltung der oeffentlichen Ruhe, Si- cherheit und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publiko... bevor- stehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizey“. So kommen-

561 Die Angst vor Kriminalität, in: Wolf-Dieter Remmele (Hrsg.): Brennpunkt Kriminalität, München: Bayrische Landeszentrale 1996, S. 95 ff. 562 In einem eindringlichen Beitrag über „Messung, Bewertung und Lage- bilddarstellung“ von Kriminalität streicht Wiebke Steffen [in: Michael Kni- esel/Edwin Kube/Manfred Murck (Hrsg.): Handbuch für Führungskräfte der Polizei, Lübeck: Schmidt-Römhild 1996, S. 545 ff.] heraus, daß die Krimi- nalität sowie die Statistiken ihrer Häufigkeit nicht nur eine Frage der Defi- nition ist, sondern zudem die Meßkriterien spiegelt, die zur Anwendung kommen. Was ist mit dieser Feststellung für die öffentliche Sicherheit ge- wonnen? Immer mehr Menschen haben das Gefühl, daß der Staat - ihre Gemeinschaft - jedenfalls im lebensweltlichen Umraum nicht mehr Herr der Lage ist. 563 Vgl. Hans Leyendecker u.a.: Mafia im Staat. Deutschland fällt unter die Räuber, Göttingen: Steidl 1992. 192

tierte das ‚Allgemeine Landrecht’ von 1794 lapidar564, denn „die Sor- ge für das öffentliche Wohl kann aus dem Begriffe der Polizei nicht wegbleiben“565. Diese Generalklausel zeugte vom Obrigkeitsüber- hang, weil die Definition dessen, was Unordnung wäre, der Exekutive oblag. Gleichwohl sieht sich für den Wochentag ein Grundrecht auf

Sicherheit unterstellt. Indem - jedenfalls programmatisch - Unsicher- heit als ‚Gefahr’ verstanden wurde, galt der öffentliche Raum noch nicht als Risikozone, in der man sich nur auf eigene Kappe bewegen konnte. Sicherheit - jedenfalls im Sinne der privaten Unversehrtheit von Leib und Besitz - galt als Gut, auf das alle Bürger gleichermaßen als Normalleistung und damit geradezu als Voraussetzung gelingen- der Vergesellschaftung einen Anspruch hatten. Tatsächlich war dieses

Abwehrmodell schon damals utopisch. Die Eingriffsmacht der Polizei reichte keineswegs überall hin und pflegte zudem milieubedingte Un- terschiede in der Relevanz-Wahrnehmung der Bedrohungslagen. Au-

ßerdem geriet die Verfügungsautorität der Behörden zuweilen selbst zum Problem, indem sie willkürlich diskriminierte, nicht nur politisch.

Gleichwohl blieb die Deckungsgleichheit von Schutzraum und Le- benswelt ein Anspruch. Abweichendes Verhalten - in welcher Form immer - sollte durch Kontrolle und Erziehung zur Selbstbeherrschung in Schach gehalten werden. Derartige Schutzvorstellungen klingen wie ein Märchen aus vergangenen Zeiten. Die allseitige Emanzipation

überforderte das neuzeitliche Miteinander, weil sich der polizeiliche

Begriff der ‚Sicherheit’ als Engführung eines breiteren Bedürfnishori- zontes entdeckte. Ohne hinreichende Versorgung war konformes Ge- baren in der Industriemoderne schwerlich gesellschaftsweit zu ge-

564 Theil II, § 10. Titel 17, Hrsg. Ernst Pappermann, Paderborn: Schöningh 1972, S. 166. 565 So noch das Stichwort ‚Polizei’, Handwörterbuch der Volkswirtschafts- lehre, Hrsg. H. Rentzsch, Leipzig: Gustav Mayer 1866, S. 652 ff., hier S. 654. 193

währleisten.566 Der Rechtsstaat musste mithin bereits im 19. Jahr- hundert an den Sozialstaat gekoppelt werden, auch um die gesamtge- sellschaftlichen Kosten der Bewachung zu senken. Zugleich stellte sich heraus, dass das frühbürgerliche Aufklärungsmodell einer kogni- tiven Selbststeuerung567 reichlich euphorisch war, nicht zuletzt des homo oeconomicus, wie der Blick auf das individuelle wie massenhaf- te Verfehlen basaler Reziprozitätsregeln aller Vergesellung568 zeigt.

Mit der Verpuppung der Fabrikwelt in die Wissensgesellschaft und ei- ner entsprechenden Ausweitung der Bedarfsdeckung beeinträchtigte zudem der durch den Optionen- und Warenrausch vermittelte Erwar- tungshorizont die Zufriedenheit und damit die Integrationsmotivation der Menschen, wie das Werk von Émile Durkheim frühzeitig verriet.

Denn die Kategorie der ‚vorsorgenden Versorgung’, die im 19. Jahr- hundert zur Abstützung der öffentlichen Sicherheit entdeckt wurde, geriet durch die Bereitstellung - etwa mittels primärer/sekundärer

Umverteilungsschübe - einer ausreichenden Daseinsfürsorge bald selbst zum Unsicherheitsfaktor. Seither hält die Anspruchsrevolution zwar die Wirtschaft durch stetige Variationen der Nachfrage in Gang; die als modern geförderte Erwartungshaltung übersteigt jedoch die

Beschaffungschancen und Hoffnungen auf Selbstverwirklichung nicht unerheblicher Teile einer noch dazu soziostrukturell immer differen- zierteren Bevölkerung.

Figur 1

1

566 Vgl. über das mit Blick auf Täter- oder Opfergruppen, Brutalitätsformen etc. wechselnde, immer aber breite Feld innergesellschaftlicher Unsicher- heiten Jean-Claude Chesnais: Histoire de la violence, Paris: Laffont 1981. 567 Vgl. Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), Hrsg. Hubert Tigges, Wup- pertal: Marées 1947, S. 45. 568 Wenigstens im Sinne jener „Theorie der wohlverstandenen Eigeninte- ressen“ (Bentham), die frei nach ‚do ut des’/‚Mir nicht – dir nicht!’ ff. zur „Einsicht in die Notwendigkeit“ (Hegel) der Beachtung/Einhaltung von Re- geln, Ritualen, Revieren etc. führt. 194

2

Erwartung (1) > Erfüllung (2)569

Spätestens vor dem Hintergrund ebenso marktkonformer wie mytho- maner ‚Du darfst!’-Werbekampagnen wird verständlich, dass jenes zeitgemäße Diktat zur Teilhabe seiner Anerkennung durch Verschul- dung, notfalls durch Regelverletzungen auf die Sprünge hilft, sollte

‚ohne Moos nichts los’ sein. Das wirft mit Blick auf das Verhältnis von

Knappheit und visuellem Überfluss ganz allgemein Probleme der In- tegration auf, nicht zuletzt mit Blick auf Sekurität, wenn durch Wirt- schaftseinbrüche/Arbeitsweltveränderungen aller Art die Kaufkraft und/oder das Stellenangebot gleichermaßen schrumpfen. Das Stich- wort ‚Beschaffungskriminalität’ im weiteren Wortsinn mag die Bugwel- le der Ladendiebstähle570 erklären helfen, die nicht etwa der Not ge- horcht, sondern einem Habenwollen ganz ohne Schuldgefühle: „Ge- setze ohne sie tragende Sitten sind brüchig“, wie Horatius Flaccus

Horaz, geboren 65 vor Christus und Zeitgenosse Vergils, Dekadenzer- scheinungen schon seiner Epoche kommentierte, die nicht zuletzt dem

Schwund elitärer Maßstäblichkeit geschuldet waren.

569 ‚Glück’ ist keine schlichte Funktion materieller Versorgung, sondern ein Resultat befriedigender Tätigkeiten + gelingender Interaktion, zu den Da- ten vgl. Elisabeth Noelle-Neumann: Ein Museum der Irrtümer, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 1. 1999, S. 5. 570 Die Zahl der - bei einer Dunkelziffer von 95 % - angezeigten Fälle (1996: 656 339; 1999: 596 000) geht zwar zurück, doch nicht nur kostet die Diebstahlsbekämpfung 1, 5 Milliarden DM/Jahr, der angerichtete Schaden betrug 5 Milliarden Mark (1999), vgl. Westfälische Nachrichten vom 8. 11. 1997; Welt am Sonntag vom 24. 9. 2000, S. 15. 195

Die Flut an Veröffentlichungen zu Sicherheitsfragen demonstriert571, dass die Verbrechenslawine der Mitwelt unter die Haut geht.572 Oder wird um den heißen Brei herumgeredet? So ist mit Blick auf die Krimi- nalitätsrate von ‚Enttraditionalisierung’ zu hören: Als sei Verbrechen als Massenprozess per se ein Individualphänomen573 und damit aus- schließlich Gegenstand von Polizeiarbeit. Realiter spiegelt das De- liktvolumen, jedenfalls de lege lata, massive soziale Beeinträchtigun- gen. Es hat primär eher mit Armut, Arbeitslosigkeit, Familienversagen und einer entsprechenden Verwahrlosung574 zu tun - um von Amorali- sierungstendenzen in den Oberschichten zu schweigen - als mit Prä- ventions- beziehungsweise Verfolgungsschwächen; wohl auch nur un- ter ‚ferner liefen‘ mit jener vielbeschworenen ‚Permissivität’, die eine

Spätfolge der 68er-Aufmüpfigkeit sein soll575, ihrerseits jedoch Aus- druck des sich seit längerem abzeichnenden Wertewandels war, wie

Abraham H. Maslow576 ihn vorhergesagt hatte. Der Staat sah sich als

„Übergewicht der organisierten über die unorganisierte Macht“577 de- finiert. Angesichts der Beunruhigung der Öffentlichkeit durch zuneh- mende Defizite der Ordnungssicherung sowie privatistische Denormie-

571 Vgl. zusammenfassend deren Thematisierung bei Hartmut Auden (Poli- zeipolitik in Europa, Opladen: WDV 1998) und Martin Winter (Politikum Po- lizei, Münster/Hamburg: Lit 1998). 572 Daher die Thematisierung des Problems durch Kanzler Schröder: Re- gierungserklärung vom 10. 11. 1998, Deutscher Bundes- tag/Stenographischer Bericht, 3. Sitzung (Plenarprotokoll 14/3), S. 47 ff., hier S. 53 (B). 573 Wiewohl der Lustfaktor („kick“) wiederum eine größere Rolle spielt als in sozialwissenschaftlicher Optik vermutet, was die Wiederholungsrate (Sucht) erklären hilft. 574 Die es sich im Fall fremdenfeindlicher Gewalt mit Händen greifen lässt, vgl. Helmut Willems: Gewalt und Fremdenfeindlichkeit, in Hans-Uwe Ot- to/Roland Merten (Hrsg.): Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutsch- land, Opladen: Leske + Budrich 1993, S. 88 ff. 575 Vgl. typische Fehldeutungen der Studentenbewegung bei Franz Walter: Die Achtundsechziger – Liberale Zäsur der Republik?, Universitas Nr. 628 (1998), S. 957 ff. 576 Vgl. Motivation und Persönlichkeit (Anm. 397), S. 74 ff. 577 Rudolph von Ihering: Zweck (Anm. 211), Bd. 1, S. 246. 196

rungen kollektiv berechenbarer Verhaltensstile begegnet die Mitwelt der Macht indes nicht länger, wie die politische Formenlehre der Mo- derne es verbissen thematisierte, vornehmlich im Polizeistaat; eher schon in den Abgründen privater, aber sozialrelevanter beziehungs- weise mafios-politischer Gewaltverfügung, man denke bei hochentwi- ckelten Ländern an Belgien oder Italien, um zu schweigen von Ma- chenschaften à la Don Kohleone beziehungsweise der „Kultur brauner

Umschläge“ in Irland unter Charles Haughey, von 1979 bis 1992 Pre- mierminister in Dublin. ‚Extramacht’ verteilt sich nicht zuletzt in Form von Bandenkriminalität578 beziehungsweise Korruption579 über die

Gesellschaft, welche dadurch ebenso obskur wirkt wie unkontrollier- bar. Diesem latenten Autoritätsschwund wäre (= könnte + müsste) mit

Blick auf das kostspielige Gewaltmonopol/Kalmierungspotential des

Staates entgegenzutreten, nicht nur im Bereich der inneren Sicher- heit: Ansonsten breitet sich im Sinne der Akzeptanz/Normalisierung des ‚öffentlichen Schlechten’ die seit längerem spür- und sichtbare

Abnahme der gesellschaftlichen Anordnungskapazität unkontrollierbar weiter aus. Zudem wird die Staatsfunktions- mitsamt der Gewaltmono- polfrage durch Überforderungs- wie Verfallserscheinungen des Sozi- alstaates virulent580, der wie eine Immunitätsreaktion der Epoche ge- gen die fabrikweltliche Chaotik wirkte und auf andere Art den seit der

Frühmoderne beobachtbaren Prozess der Monopolisierung von Zu- ständigkeiten fortsetzte. Bei dieser Herausforderung handelt es sich primär um Austausch-Insuffizienzien, die keineswegs im Sinne von

578 Pierre Lascoumes: Élites irrégulières. Essai sur la délinquance des af- faires, Paris: Gallimard 1997. 579 Vgl. Robert S. Leiken: Controlling the Global Corruption Epidemic, Fo- reign Policy Nr. 105 (Winter 1996/1997), S. 55 ff. 580 Der Druck globalisierter Kapitalverwertungsbedingungen schmälert die Chancen etwa der Heranwachsenden. Sie antworten nicht zuletzt mit Wi- derstand (Randale/Rückzugsverhalten/Anomie etc.) auf diese Lagever- schlechterungen, kognitiven Dissonanzen oder soziale Kälte, vgl. Wilhelm Heitmeyer u.a.: Gewalt. Schattenseiten der Individualisierung bei Jugend- lichen aus unterschiedlichen Milieus, München: Juventa 1995, S. 410 ff. 197

Markteuphorikern wie Murray N. Rothbard581 die Ausnahme bilden, sondern Regel sind. Aber auch Politikversagen ist im Spiel, jedenfalls dann, wenn die Parteienkonkurrenz um Parlamentsmehrheiten als

„Kampf um die gerechte Ordnung“ (O. H. von der Gablentz) gilt und nicht als bloßer Verdrängungswettbewerb frei nach „der Vorwand ist das öffentliche Wohl, in Wirklichkeit geht es um Sondervorteile“582.

Die Staatsgewalt wäre allerdings überfordert, wollte sie den Sympto- men der Destabilisierung mit erhöhten Kontrollinvestitionen begeg- nen, die ohnehin nicht zum administrativen Nihilismus des heutigen

„Vulgärliberalismus“ (Jan Roß) passen. Vorrangig wäre die „Erneue- rung der über bloße Funktionswichtigkeit und Machtposition hinaus- gehende Substanz einer gesamtgesellschaftlichen Führungsschicht“, wie bereits Helmut Schelsky583 vermutete, die zugleich einen national purpose pflegt und sich nicht aus lauter Volksdistanz als Mitspieler aufführt in einem globalen Dorfteam beziehungsweise dörflichen Welt- team. Angesichts der Tatsache, „dass alle Politik lokal ist“ (Tipp

0’Neill), mutet solche Nestflucht selbst im Kontext eines sich entwi- ckelnden ‚Glokalismus’ eher virtuell denn sachgemäß an, jedenfalls unterhalb der Ebene transnationaler Verwaltungseliten. Solche Aktua- lisierung vor Ort ihrer erwarteten Rollen ist nicht zuletzt eine „le- benswichtige Aufgabe der leitenden Gruppen“ selbst, um auf dem Lau- fenden zu bleiben. Denn unter Berücksichtigung der Koordinierungs-

Anforderungen wie Bestätigungs-Gründe bleibt es „spezifische Funk- tion der ökonomisch und politisch leitenden Schichten“, notierte We- ber584, „Träger des politischen Sinns zu sein“, der allemal auf die

581 Siehe Rothbard, Anm. 112. 582 George Halifax: Maxims of State, in Anm. 458, S. 145 ff., hier S. 148. 583 Industrie- und Betriebssoziologie, in Arnold Gehlen/Helmut Schelsky (Hrsg.): Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschafts- kunde, Düsseldorf-Köln: Diederichs 1964, S. 171. 584 Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, Anm. 259, S. 7 ff., hier S. 24. 198

Wählerschaft gerichtet zu sein hat. Konsensfähige Aufbereitung von

Zielsetzungen plus Durchsetzungs-Motivation sei in Wahrheit der

„ einzige Grund, der politisch ihr Vorhandensein rechtfertigt“. Wie war das Sicherheitsthema einst bequem585, als es nur um Tat- oder Täter- profile ging, noch nicht um asozialisierende Nebenfolgen der Markt- vergesellschaftung selbst mitsamt ihren neuzeitlichen Elitedefiziten?

Wer indes die Verteilungsfragen wenigstens im Sinne einer nachbes- sernden Offenhaltung der Chancenzuteilung ignoriert, versteht nicht nur in diesem Feld ursächlich und damit in gesellschaftstherapeuti- scher Absicht kaum etwas richtig.

585 Man denke an das Standardwerk von Hans Dechêne (Verwahrlosung und Delinquenz, München: Fink 1975): Dort handelte es sich um die Kritik einer „strafenden“ Gesellschaft, wohingegen mittlerweile die wachsenden Probleme einer durch sich selbst bedrohten Gesellschaft zur Debatte ste- hen. Kriminaltherapien zielten vor zwanzig Jahren auf die soziale Margina- lität, während heute Vergesellschaftungsdefizite der Marktmoderne ins Au- ge zu fassen sind, um kriminologisch nicht den Durchblick zu verlieren, ohne dass spezifische Fragestellungen (Dunkelziffern, Non-helping- bystander-Syndrom, Kriminalgeographie, Rückfallquotenhöhe) an Relevanz verlieren. 199

Panikbereitschaft

Aufregung und Besorgnis herrschten nicht nur mit Blick auf die sich ausbreitende Unsicherheit. 67 Prozent der Einwohner in den alten und

76 Prozent in den neuen Bundesländern fühlten sich sehr beunruhigt.

Eine derartige Gereiztheit, wie sie seit Beginn der 1990er Jahre be- stand, hat Allensbach586 kaum je vermessen. Die Nerven der Deut- schen gerieten dünner, 85 Prozent empfanden die Lage allgemein als erschreckend.587 Auslöser solcher Unruhe war neben einem unge- hemmten Zustrom von Wirtschaftsflüchtlingen (1000/Tag)588 vor allem das Dauerproblem der Arbeitslosigkeit589: Zum ersten Mal seit Jahr- zehnten zählte das Land mehr als vier Millionen Menschen (seit 1996) ohne Anstellung, eigentlich benötigten sogar über sieben Millionen

(IAB) Bürger eine Beschäftigung, die Erwerbsquote ist auf fast 71 % gesunken. Man hat sich an diesen Dauerskandal gewöhnen müssen, keineswegs nur diejenigen, die nicht direkt von der Randständigkeit betroffen sind. Regierung (Abschöpfung + Umverteilung) und Opposi- tion (Entstandardisierung + Flexibilisierung/Deregulierung) reiten in wechselnden Rollen ihre Steckenpferde, wobei sich die ausschlagge- benden Akteure im Kontext einer Durchökonomisierung aller Hand- lungsperspektiven590 trotz unterschiedlicher Zungenschläge allenthal-

586 Keine Ferienstimmung, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 8. 1992, S. 5. 587 Vgl. Daten in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. 11. 1992, S. 5. 588 Vgl. La question de l’immigration, Le Monde Documents Nr. 10 (1998), S. 4: Im Zeitraum von 1984/1995 hat Deutschland über 1, 4 Millionen ‚Aus- länder’ aufgenommen gegenüber 137 Tausend (Frankreich) oder 104 Tau- send (England). Ein Zusammenhang zwischen den Zuwanderungszahlen und der Arbeitslosenrate ist nicht zu erkennen. 589 Dazu Lothar Funke/Eckard Knappe: Neue Wege aus der Arbeitslosig- keit, Aus Parlament und Zeitgeschichte Nr. 3/4 (1996), S. 17 ff. 590 Wobei etwa Gary S. Becker (ders./Guity N. Becker: Die Ökonomik des Alltags, Tübingen: Mohr 1998) die basalen Marktsachzwänge nur gnoseolo- gisch fundiert. 200

ben auf einem „Dritten Weg“591 in die Anreizgesellschaft befinden.

Dieweil drückt der ungleich verteilte, doch insgesamt auf der Arbeits- welt lastende Stellenschwund die Stimmung. Fortdauer und Ausbrei- tung solcher Unzuträglichkeiten verhärten samt sonstiger, von Franz-

Xaver Kaufmann aufgelisteter „Herausforderungen des Sozialstaates“

(Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 69 ff.) das Meinungsklima.

Unmerklich verblasst die Betroffenheit und damit die innergesell- schaftliche Solidarität, zu allen Zeiten eine knappe Ressource. Weite- re Beunruhigungsfaktoren sind hinzu getreten. Etwa der drohende

Kollaps des Rentensystems, Abnutzungen des Gesundheitswesens oder die Staatsverschuldung als riskanter Zukunftsverzehr, welche vor allem die Wiedervereinigung dem Land bescherte. Mit fast 30 000

DM haftet jeder Bürger, dabei sind fast 10 % (1999) der etwa 27 Milli- onen Haushalte überschuldet. Mangels Zuteilungsreserven werden für bedürftige Schichten in der postmodernen Zweidrittel-Gesellschaft592 die Aussichten trübe, die Staatsquote593 ist kaum ausdehnbar. Wäh- rend sich wegen Leistungsschwächen des Führungspersonals in Wirt- schaft, Staat, Wissenschaft und Gesellschaft, das über ein Warum,

Wie und Wann des Umsteuerns verzagt, Benachteiligung und Frustra- tion ausbreiten594, obschon „politisches Knallgas“ (Steinkühler) nir- gends zu riechen ist, entdeckt die Soziologie595 den Wunsch nach Ab-

591 Vgl. S. Papcke: Dritter Weg ohne Ziel? Schwierigkeiten der europäi- schen Linken, die ‚Neue Mitte‘ zu verorten, in: Vorgänge Nr. 149 (2000), S. 88 ff. 592 65 Prozent finden (zit. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. 9. 1992, S. 13), sie lebten in einer „Ellbogengesellschaft“. 593 Sie betrug 1997 fast 49 %, vgl. Die Staatsquote in Deutschland, Frank- furter Allgemeine Zeitung vom 5. 8. 1998, S. 2. 594 Über vier Millionen Menschen sind auf Sozialhilfe angewiesen, fast drei Millionen Wohnungen fehlen und über eine Millionen Obdachlose müssen sich auf der Straße durchschlagen, mehr als 2, 5 Millionen (1996) erhalten Wohngeld. 595 Vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, Frankfurt am Main/New York: Campus 7 1997. Auch Thomas Müller-Schneider: Wandel der Milieu- landschaft in Deutschland. Von hierarchisierenden zu subjektorientierten 201

lenkung als Grundton einer höchst volatilen Postmoderne. Der Trend zum ‚Egoismus’ als Folge des allseitigen „Individualisierungsdrucks“

(Heitmeyer) ist evident, seit längerem wurde eine greed decade avi- siert. Das Ausmaß der Selbstsucht erlaubt die Vermessung neuer Zu- gehörigkeitsgruppen einer Zeitgeistreise ins Ich. Nach dem Grad der

Außenlenkung, dem Ästhetikkonsum und anderen Modernitätskriterien strukturierte Verhaltens- und Stimmungsstile596 überschneiden sich altersdifferenziert mit Lagerungen entlang überkommener Schicht- oder Generationsgrenzen beziehungsweise des Bildungsstandes. Die neue Sozialkartographie ist aufschlussreich, das empirische Material

überreich, gleichwohl schimmert ein ideologischer Zuschnitt durch.

Die sozialen Zusammenhänge werden zwar nicht tatsächlich ich- bestimmt verstanden, immerhin scheinen sie wie subjektvermittelt.

Indem die Erlebnisorientierung597 vor der Überlebenssicherung im weitesten Wortsinn rangiert, beteiligt diese Interpretation sich an der realitätsfernen aber modischen Wolkenschieberei, die das Fach598 seit längerem mehr fasziniert als averse Lebenslagen.599 Auf denen

Wahrnehmungsmustern, Zeitschrift für Soziologie, Jg. 25 (1996)/Heft 3, S. 190 ff. 596 Etwa das Niveaumilieu, Integrationsmilieu, Harmoniemilieu, Selbstver- wirklichungsmilieu oder Unterhaltungsmilieu, vgl. Schulze a.a.O., S. 277 ff. 597 Jedenfalls als demoskopisch vermessenes Wunschbild, vgl. zu neuen Daten schon Andreas Püttmann: An die Stelle von Gemeinwohl ist ‚mein Wohl’ getreten, Welt am Sonntag vom 7. 1. 1996, S. 9. 598 Auch die zur „Gegenwartswissenschaft“ (Mannheim) eigentlich wie be- rufene Soziologie drückt sich um die banalen Realitäten und huldigt eher jener „Aktualität des Ästhetischen“ (Ihr sah sich in Hannover ein internati- onaler Kongress gewidmet, vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 9. 1992, S. 33; Süddeutsche Zeitung vom 11. 9. 1992, S. 12; Die Zeit vom 11. 9. 1992, S. 63), der als public-relation-Geheimnis der Moderne allenthal- ben der Kranz geflochten wird. Nicht zuletzt diese Abgehobenheit mag den Münchener Soziologen Ulrich Beck (Die Renaissance des Politischen, Ge- werkschaftliche Monatshefte Nr. 10 (1992), S. 596 ff., hier S. 601 f.) mit Blick auf die Kunststücke der Soziologie zu seiner Forderung nach „anti- wissenschaftlicher Wissenschaftlichkeit“ veranlasst haben, die nicht länger „Erkenntnisverrat“ aus lauter „Wissenschaftsbornierung“ begeht. 599 Vgl. die realitätstüchtigere Studien von Michael Vester u.a.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Köln: Bund 1993, S. 377 ff. 202

ruht indessen auch der via Medien/Werbung geförderte Kinderglaube an eine per Info-, Edu-, Video-, auf jeden Fall aber als Entertainment gedachte Selbstverwirklichung pur.600

Auf dem Boden der Tatsachen bestimmen weiterhin/zunehmend

Knappheit, Arbeitshast, steigender Zwang zur Flexibilisierung, Le- benssorgen und Informationsdefizite - mithin lauter Unwägbarkeiten - den Alltag der Individuen als Sachzwänge, um von Umweltverschlech- terungen (Allergien etc.) zu schweigen. Die Menschen müssen unge- schützt-individueller mit diesen Herausforderungen fertig werden, weil die Einbettung in Bezugsgruppen samt Enkulturationsagenten trotz längerer Adoleszenz schwindet. Die „Erlebnisrationalität“ (Schulze) löst mithin trotz erhöhter Sozialfluidität realiter keineswegs die

Durchsetzungsrationalität einer Überforderungsgesellschaft auf, um vom Fortwirken subkutaner Traditionsbestände (Klassengesellschaft) ganz ab zu sehen: Sie wiederum wissen der Mitwelt weiterhin jenen

„sense of place“ (Goffman) zu vermitteln, der im Sinne einer offenbar unumstößlichen Faustregel des Sozialen als differentielle Assoziati- onskraft wirkt. Allerorten im Sozialraum sehen sich wie eh und je - wenngleich auf immer neue Art und Weise - nachhaltige Schließungs- prozesse (vgl. Heike Wirth: Bildung, Klassenlage und Partnerwahl,

Opladen: Leske + Budrich 2000, S. 85 ff; 184 ff.) vermittelt, gegenläu- fige Entstrukturierungstendenzen hin oder her:

600 Vgl. schon Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt am Main: Fischer 1983, S. 291 ff. 203

Figur 2: Historische Über-Unterordnungsmatrix oben

männlich alt Kultur reich Wissen Erfolg ... liberal Auskommen illiberal Unwissen weiblich jung arm ...

unten

Und das, obschon den Tüchtigen und Zähen bei zunehmend verdichte- ter Arbeit mehr Geld und Freizeitspaß winken mögen601, wiewohl auch das Elend realer wird602. Überfordernd wirken nicht nur greifbare Be- lastungen wie Stress, Lärm, Vereinsamung oder Unwägbarkeiten aller

Art. Sogar der Erlebnishunger selbst ist diesem Problemkreis hinzu zu rechnen. Er lässt sich entschlüsseln als Suche nach Ersatzsinn in ei- ner von Vertrauen, Muße, Innenlenkung oder Verantwortung zuguns- ten von Möchtegernbildern der Selbstschöpfung verlassenen, gerade- zu veloziferisch wirkenden Mobil-Moderne603, die auf dem Weg ins

„digitale Nirwana“ (Guggenberger) immer gereizter zu werden scheint.604 Treffender wäre sie als Überdrussgesellschaft bezeichet,

601 Vgl. Peter Glotz: Kritik der Entschleunigung, Die Neue Gesell- schaft/Frankfurter Hefte Nr. 7 (1999), S. 621 ff. 602 Vgl. Gero Jenner: Das Ende des Kapitalismus. Triumph oder Kollaps eines Wirtschaftssystems, Frankfurt am Main: Fischer 1999, S. 231 ff. 603 Laut Helmut Schmidt (Der Kanzler muß handeln, Der Stern Nr. 45 [1992], S. 49 ff., hier S. 60) sei es versäumt worden, „darauf hinzuweisen, daß es neben den Rechten, die der einzelne hat..., Pflichten gibt, morali- sche Pflichten; daß es die Tugend der Solidarität gibt (...); daß es Pflich- ten gibt gegenüber Eltern und Kindern und Nachbarn auch jenseits der Grenzen (...) Es gibt eine sittliche Pflicht, zum Wohl des Ganzen beizutra- gen“. 604 Vgl. Barbara Adam/Karlheinz A. Geißler/Martin Held (Hrsg.): Die Non- Stop-Gesellschaft. Vom Zeitmißbrauch zur Zeitkultur, Stuttgart: Hirzel 1998. 204

weil der ihr zugrunde liegende Hang zum Narzismus605 des gleichsam

„wirlosen Ich“ (Elias) als sozialanthropologischer Mustertypus post- moderner Befindlichkeit weder egonom befriedigt noch sozialiter kom- pensiert werden kann, wie Amitai Etzioni606 es ganz ohne Kulturpes- simismus erläutert hat. Was unter dem wachsenden Diktat einer ge- genläufigen Zeitdehnung607 bewirkt, dass aller Optimismus frei nach

‚Humanisierung des Sozialen = ∑ der Ichwerdung’ trügerisch bleibt. Die Individualisierung ist zwar Folge der besseren Einzelausstattung mit Ressourcen und damit der Chancenvermehrung, lastet zugleich als kollektiver Hang zu größerer Selbstverantwor- tung/Kostenübernahme auf der Gegenwart.608 Mangels Kollektivinter- ventionen wider die Markt-, Sach- und Technikzwänge als Folge des

Rückzugs aus dem Sozialengagement ins Private gilt paradoxerweise noch unabdingbarer als zu Zeiten der vormodern-elitären Enthaltsam- keit gegenüber Härteglättungen aller Art, dass „die Dinge im Sattel sitzen und den Menschen reiten“ (Emerson). Politik als Umsetzung normativer Willensäußerungen „sinkt auf den Rang eines Hilfmittels für die Unvollkommenheiten des ‚technischen Staates’ ab“609, wenn der öffentliche Raum zum Spielball der Meinungsrendite gerät, man- gels Anteilnahme oder Regelungskompetenz nicht aber mehr ein Kon- sultations- und Austragungsort von um Geltung/Realisierung wettei- fernder Lebenslaufentwürfe ist mitsamt passförmigen Staatszweckleh-

605 Vgl. Thomas Ziehe: Die gegenwärtige Motivationskrise Jugendlicher, Gewerkschaftliche Monatshefte 31 (1980)/Nr. 6, S. 369 ff. 606 Die faire Gesellschaft. Jenseits von Sozialismus und Kapitalismus, Frankfurt am Main: Fischer 1996. 607 Wonach der Zeitraum der Konsequenzen des Handels (Gültigkeitsdauer der Tatsachen) immer erheblicher, der Zeitraum der Treffsicherheit von Aussagen über die Tatsachen (Gültigkeitsdauer von Interpretationen) aber immer kürzer wird. 608 Vgl. Peter-Ernst Schnabel u . a.: Öffentliche Gesundheitsförderung ge- gen Individualisierung der Lebensstile, in Wolfgang Glatzer (Hrsg.): 25. Deutscher Soziologentag 1990, Opladen: Leske + Budrich 1991, S. 220 ff. 609 Helmut Schelsky: Auf der Suche nach der Wirklichkeit, Düsseldorf/Köln: Diederichs 1965, S. 456. 205

ren als „Richtungen und Weisen der Gestaltung“, wie Ernst Cassi- rer610 es haben wollte.

Komplikationen

Eine Auflistung der Schwierigkeiten, welche die Öffentlichkeit beun- ruhigen (sollten), enthält neben typischen Lasten aller Vergesellung

Figur 3

Chaotik ~ Zwang Leviathan Ordnungsstiftung + Sinnmuster + Versorgung Behemoth

Knappheit ~ Angst

Sozialhistorische Kalamitäten weitere Sorgen: Umweltprobleme sind zu nennen, eine zunehmende

Anforderungs- und Anpassungsüberflutung in der Arbeitswelt, das

Veralten aller Kenntnisse, der allseitige Übergang vom Komplexen zum Komplizierten, die Abwertung des Alters, der Verfall primärer

Kommunikationsformen... Aber auch die Erfahrung, dass Privilegien ihre Verallgemeinerung nicht überstehen. Jener „hedonistische Mate- rialismus“ (Klages) mit Namen Konsum (Haben) und Ablenkung (Sti- mulanz) unterliegt unversehens einem Gesetz abnehmender Befriedi- gung im Sein, um mit Erich Fromm zu reden. Traditionelle Ärgernisse sollen hier ausgespart bleiben, die in Machtasymmetrien611 und/oder

610 Philosophie der symbolischen Formen, 2 Teile, hier Teil 2: Das mythi- sche Denken, Oxford: Bruno Cassirer ²1954, S. 259. 611 Etwa im Sinne von Michael Walzer (Sphären der Gerechtigkeit, Frank- furt am Main/New York: Campus 1992, S. 400 f.; 436 f.), der für eine funk- tionale Machtverteilungsdifferenz plädiert, im Sinne einer begrenz- ten/meritokratischen Herrschaft allerdings zugleich entschieden einem 206

Strukturen der Übervorteilung zum Ausdruck kommen oder sie erhal- ten, je nachdem.612 Immerhin besitzt allerorten und unabhängig von den Verwaltungsformen des Politischen nach wie vor/weiterhin eine

Miniminorität den Großteil des gesellschaftlichen Produktiv-

Vermögens, um andere Verteilungs- und Verwirklichungs-

Verzerrungen außer Acht zu lassen, Erlebnismoderne hin oder Selbst- verwirklichung her. Unter Verweis auf die „Selbstzerstörung der tech- nischen Zivilisation“ ist mit Stefan Breuer folglich kaum auf eine ‚Ge- sellschaft des Verschwindens’ (Hamburg: Junius 1992) zu schließen.

Auch der durch Entdifferenzierungen aller Art eintretende Wärmetod der Kultur als Folge einer außer Kontrolle geratenen Herrschaft des

Wertgesetzes wird auf sich warten lassen.613 Eine Zumutungsgesell- schaft ohne Limit hingegen hat sich etabliert, durchzogen von lauter - inzwischen allerdings kaum mehr sichtbaren - „glass ceilings“ (Nor- man Mailer), die ‚Zugänge‘ wirkungsvoll verwehren, wiewohl Jeremy

Rifkin von ihnen wie vom Zauber der anstehenden Epoche des Hyper- kapitalismus spricht. In dieser ‚Gelöstschaft‘ nimmt nicht zuletzt aus

Mangel an Verlässlichkeit das elementare Zugehörigkeitsgefühl ab, was wiederum die Chancen einer einigermaßen kohärenten Standort- als Zielbestimmung der Individuen beeinträchtigt.614 Wozu sind sie mit ihrer Patzerneigung, Anfälligkeit, Belastungsgrenze etc. ange- sichts von KI-Forschung, Robotronisierung oder Genmanipulation

‚blockierten Tausch’ zwischen den gesellschaftlichen Subsystem (z.B.: Wirtschaftsmacht ≠ Politikeinfluss) das Wort redet. 612 Vgl. Reinhard Kreckel: Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt am Main/New York: Campus 1992. 613 Trotz der Einlassungen von Robert Kurz: Der Kollaps der Modernisie- rung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Welt- ökonomie, Frankfurt am Main: Eichborn 1991. 614 Weswegen Nobberto Bobbio (Das Zeitalter der Menschenrechte, Berlin: Wagenbach 1998, S. 38) das Ende der Geschichtsphilosophie als Schluss der Teleologiedebatte ohne Abschluss beklagt. 207

noch nütze?615 Derartige Selbstzweifel der Epoche, die im O-Ton ei- nes forcierten Technikoptimismus und der Net-Euphorie fehlen, spie- geln Unwirtlichkeiten und eine wachsende Begriffssprödigkeit der So- zial- und Lebenswelt, wodurch das allgemeine Verwirrungsvolumen weiter geschürt wird. Nicht zuletzt der eklatante Widerspruch zwi- schen Selbstwertkonjunktur einerseits, Kontrollverlust gegenüber den

Lebensumständen andererseits erzeugt Ängste. Dabei waren die Ver- hältnisse zu keiner Zeit übersichtlicher oder sicherer. Die Ge- schichtsepochen wirkten mit oder ohne rule of law immer gefährlich, man denke einzig an das (früher?) offenbar uneindämmbare Volumen der Gewaltsamkeit616. Sie kamen der Öffentlichkeit im Sinne von

‚Transparenz = (f ) Sinnguthaben + Steuerungskapazitäts-

Überschüsse’ indes durchsichtiger, weil geregelter vor, nicht zuletzt, da tradierte Autoritätskredite plus Loyalitätsreserven reichlicher vor- handen waren als in einer Zuschauergesellschaft, in der Politik als

Konsum den Bürger als Akteur verdrängt. Auf diesen Eindruck wenigs- tens von Pseudo-Stabilität kommt es offenbar an, vermittelt nicht zu- letzt durch die Geistesgegenwart einer ebenso rührig-kompetenten wie festen Staatshand. „Wir befinden uns in einer Periode von Dauer-

Übergängen“, kommentierte Simone Weil617 die Undurchschaubarkeit der Lage nicht zuletzt als Folge des allseitigen Dauerwandels, „fragt sich nur, wohin sie führen? Niemand scheint die leiseste Ahnung zu haben“. Fehlt der Mitwelt inzwischen womöglich gar jene Eliten-

Arroganz, die sich zutraute, mögliche Inhalte von Politik im voraus zu

615 Über den Mensch gleichsam als „Beta-Version“, vgl. Christian Nürnber- ger: Die Machtwirtschaft, München: dtv 1999, S. 92 ff. Dazu auch die De- batte um ganz neue Risiken der Nanonisierung etc. der technologischen Entwicklung zwischen Bill Joy und Ray Kurzweil: Die Maschinen werden uns davon überzeugen, dass sie Menschen sind, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. 7. 2000, S. 51. 616 Vgl. Rolf Peter Sieferle/Helga Breuninger (Hrsg.): Kulturen der Gewalt (Anm. 158). 617 Oppression et liberté (Anm. 257), S. 11. 208

formulieren, oft genug in Kladde und mit zuweilen höchst ambivalen- ten Folgen?

Die Verarbeitungsfähigkeit von Schwierigkeiten und Beunruhigungen aller Art durch den Volksmund hängt mit der Hoffnung zusammen, dass a) Muster der Bewältigung ebenso vorhanden sind wie b) der

Wille zur Abhilfe durch die dazu im Rahmen der innergesellschaftli- chen Arbeitsteilung berufenen Stellen beziehungsweise der durch

Führungsauslese bestallten Macht- und Funktionseliten, die sich nicht durch neumodische Soziologeme (à la Dekonstruktivismus) ins Box- horn jagen beziehungsweise entlasten lassen, wonach nichts mehr geht, wiewohl alles machbar sein soll. Es mögen mentale Überein- stimmungen oder strukturelle Vorgaben sein, die beim „Ringen um den

Anteil an der Staatswillensbildung“ (Forsthoff) trotz aller „politischen

Entfremdung“618 berechenbare Rückkoppelungseffekte zwischen den

Wählern/Verbrauchern/Bürgern und ihren Ansprechpartnern in den ge- sellschaftlichen Schaltstellen bewirken. Im öffentlichen Raum bleibt

Orientierungs- beziehungsweise Entscheidungsvermögen gefragt, das nicht allzu deutlich den Verdacht619 bestätigt, wonach „Machtpole immer nur in eigenem Interesse regieren“. Die Nachfrage nach Rege- lungseffizienz steigt, je unklarer die Zeitläufte geraten. Gleichwohl ist solche Leitungsleistung à la ‚Zustimmung im Tausch gegen Ruhe’

Mangelware.620 Da sich die Politik keine passende Klientel wählen

618 Die bereits Maurice Duverger (La démocratie sans le peuple, Paris: Seuil 1967, S. 180 ff.) für ebenso eingefahren wie problematisch hielt. 619 Alain: Propos de politique, Paris: Rieder 1934, S. 12. 620 Vgl. Hildegard Hamm-Brücher: Wege in und aus der Poli- tik(er)verdrossenheit, Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 31 (1993), S. 3 ff. Die Bürger wären schon versöhnt, wenn überhaupt ein bodennaher Diskurs über die Problemlawine stattfände, der man sich ausgesetzt sieht, statt Verlautbarungen frei nach „Die Renten sind sicher!“ (Blüm). Noch beruhi- gender schiene es allerdings, wenn Maßnahmen anstünden, die den kollek- tiven Sorgen entgegenkämen, und seien es nur symbolische Schritte in die richtige Richtung. Davon kann in vielen Konfliktfeldern indes keine Rede sein, wenigstens nicht nach Ansicht des die Mehrheitsmeinung spiegelnden Stammtisches, der in der veröffentlichen Meinung allerdings nicht vor- 209

kann, wenngleich sie ihr offensichtlich tief misstraut, verwundert es wenig, dass nur mehr 4 Prozent der Bevölkerung von der Sachkompe- tenz der Regierungen in Bund und Ländern überzeugt sind.621 Ent- sprechend halten über 80 Prozent der Befragten die Politiker für un- fähig622, die anstehenden Probleme zu erkennen, geschweige denn zu lösen. Nicht zuletzt deswegen, weil sie sich ‚im Namen des Staates’ vornehmlich um eigene Machtbelange kümmer(t)en.623 Damit missach- teten sie gerade jene Leistungsbestimmung („Politisch ist, was zu dem allgemeinen Wohl etwas beyträgt ... Was dieses nicht thut, ist eben nicht politisch“624) der öffentlichen Angelegenheiten, die allein dem republikanischen Regierungssystem seit der Frühmoderne nicht nur Legitimation, sondern den zum möglichst reibungslosen Äquiva- lententausch (Vertrauen gegen Befugnis) nötigen Respekt sichern konnte, wie Carl Schmitt625 vor langem wider das konkrete Unord- nungsdenken notierte.

Was massenhaft für real gehalten wird, spielt sich auf die Dauer als

Wirklichkeit auf.626 Es überzeugt die Mitglieder der „Zuschauerdemo-

kommt, wiewohl ein allzu krasses Auseinanderdriften trotz aller demokra- tielogischen Mediatisierung von Bevölkerung und Parteipolitik riskant wirkt. 621 Laut Forsa-Institut, vgl. Der Stern Nr. 40 [1992], S. 39. Die Zahlen se- hen heute ebenso aus: Diese Enttäuschung führt allenthalben zu einem In- teressenverlust an der Politik, in Frankreich etwa halten nur 8 Prozent die Politik wirklich für „wichtig“, 66 % aber für kaum oder überhaupt nicht mehr relevant, vgl. Hélène Riffault (Hrsg.): Les valeurs des Français, Paris: PUF 1994, S. 304. 622 Infas-Studie, zit. Westfälische Nachrichten vom 21./22. 3. 1992, S. 1. Inzwischen vertrauen laut Forsa (zit. Vorwärts Nr. 9 [1999], S. 5) nur 25 Prozent der Regierung und kaum 14 Prozent den Parteien. 623 Verlust der Bodenhaftung, Affären-Kumulierung bei SPD und CDU allein seit 1999: Affären-Zyklus = (f) der Machtdauer + Skandal-Bewältigung. 624 Seume: Mein Sommer (Anm. 462), S. 7. 625 Legalität und Legitimität, München/Leipzig: Duncker & Humblot 1932. 626 Das Land war/ist keineswegs unregierbar, es ist nicht einmal bankrott, denkt man an das Sparvermögen von weit über sechs Billionen Mark. Der Bevölkerung kommt es dennoch vor, als laufe vieles schief. Nicht zuletzt deswegen warnte CDU/CSU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble (Westfäli- sche Nachrichten vom 16. 10. 1992, S. 1) den Bundestag vor einer „Ver- fassungskrise“, die sich laut Helmut Kohl (Westfälische Nachrichten vom 210

kratie“ (Wassermann) längst nicht mehr, wenn die Politikerzunft sich gegen Vorwürfe der Bestechlichkeit oder Entscheidungsschwäche627 verwahrt. Solche Meinung über die Volksvertreter lässt sich kaum als intellektueller Vorbehalte abtun628, hielt sie doch 35 Prozent des E- lektorats vom Wahlgang fern629, mit wachsender Tendenz, wie etwa die Wahlen des Jahres 1999 demonstrierten. Das ist ein Warnsignal an die Parteien, die Gründe für solche Verstimmung ernst zu nehmen, obschon sich die Apathie der Wählerschaft durchaus zur Vorausset- zung demokratischer Stabilität (Konformitätsvolumen) deklarieren lässt. Gleichwohl geht es dabei um einen Nebenkriegsschauplatz der

Politik. Das Wechselspiel von Missmut unten und Handlungsschwäche oben spiegelt mehr als zeitgemäße Probleme der Gesellschaftsverwal- tung. Lassen sich überhaupt gemeinsame Interessen der öffentlichen

Sphäre noch benennen? Mithin ein ‚Konsens der Handlungszwecke’ erreichen als beglaubigtes Gut, der möglichst optimal die Zuträglich- keit der Sozialverläufe sichert, um eine Fokussierung der/des öffent- lichen Aufmerksamkeit/Willens als Politik zu ermöglichen? Oder ist solcher Plafond schwerlich vorstellbar, da der Mittelpunkt dezentriert oder gar leer ist? Etwa weil man „eine funktional differenzierte Ge- sellschaft nicht auf Politik zentrieren kann, ohne sie zu zerstören“630?

Dieser Schluss lässt sich abstrakt leicht ziehen. Sieht sich dabei in- dessen das ontologische Ordnungsbedürfnis anhand konkreter Rege- lungsanforderungen in Rechnung gestellt, das unter Beachtung jenes

14. 10. 1992, S. 1) gar zum „Staatsnotstand“ mausern könnte, die er im Rückblick des Jahres 2000 geradezu verkörperte. 627 Laut Alexander Hamilton ist „energy in the Executive a leading charac- ter in the definition of good government“, The Federalist (1787/88), Nr. 70, Hrsg. E. M. Earle, Washington D. C.: Modern Library o.J. (1941), S. 454. 628 Norbert Blüm, Die Macht des Staates - ein deutsches Tabu, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 8. 1992, S. 28. 629 Forsa-Institut, zit. Der Stern Nr. 40 [1992], S. 39. 630 Vgl. Niklas Luhmann: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, Mün- chen/Wien: Olzog 1981, S. 23. 211

„Mirakels des Gehorsams“631 größer zu sein scheint als das Frei- heitsverlangen der Menschen? Von den Gesellschaftswissenschaften sind Antworten auf solche Vorfragen schwerlich zu erwarten.

♦ Die akademische Politiktheorie rächt sich mit deskriptiver Überlich- tung und einer entsprechenden Reifizierung der Phänomene632 bezie- hungsweise Poetisierung normativer Folien für ihre Hilflosigkeit, em- pirisch, mithin durch wirklich-präsente Beobachtung die Arkana und

Realia der Machtverwaltung aufzuhellen. Etwa das innergesellschaft- lich-formalisierte Machtvolumen, das vielleicht dreißig Prozent des realen Machtaufkommens ausmacht, und dessen Beschreibung, Ver- messung und Moderierung sich die Wissenschaft von der Politik zent- ral widmen wollte, bleibt trotz/wegen immer abstrakterer Modellent- würfe und ressort-spezifischer Sprachcodes eher unausgeleuchtet.

Was nicht zuletzt auf Beobachter-Ebene dazu verleitet, „Politik idea- listisch zu überhöhen, um ihr den stumpfen, alltäglichen Geruch zu nehmen“, wie Manfred Zach633 es schon für die Akteursbühne be- schrieben hat.

♦ Die Soziologie verliert zugunsten semiotischer Explorationen derar- tige ‚Alltagsbanalitäten’ zunehmend aus dem Blick634, was deren kon- servativen Charakter stützt.635 In „evolutionstheoretischer Perspekti-

631 Weil (Anm. 257), S. 187. 632 Vgl. die Beiträge in Claus Leggewie (Hrsg.): Wozu Politikwisseschaft. Über das Neue in der Politik, Darmstadt: WBG 1994. 633 Monrepos oder die Kälte der Macht, Reinbek: Rowohlt 1997, S. 76. 634 Der methodologisch ohnehin für unzuständig gehalten wird, weil Beo- bachtung/Erfahrung hinter Kognitivismen aller Art verblassen. 635 Auf den schon Knut Borchardt (Wie gefährlich ist die Explosion der So- zialwissenschaften, Die Welt vom 21. 10. 1967, S. III) verwies: „Schon jetzt ist offensichtlich, daß die Gesellschaftswissenschaften der Gegen- wart, wo sie sich von den sozialkritischen Impulsen ihres Ursprunges ent- fernt haben und den Weg in Richtung auf eine empirisch-systematische Wissenschaft gegangen sind, ein im strengen Sinn des Wortes konservati- ves Element der jeweiligen Gesellschaft geworden sind, Instrumente zur Gestaltung wohl, aber in wessen Händen eigentlich? Doch in den Händen der derzeit Mächtigen. Damit ist die Sozialwissenschaft Instrument der Herrschaft der jeweils Herrschenden.“ 212

ve“ etwa werde deutlich, wieso „die Gesellschaft aus postmoderner

Sicht ihr Gesicht verliert“.636 Von ihr und ihren Emergenzen ist nicht länger als von greifbaren Gebilden zu sprechen. Geht es der Mitwelt wie Alice mit jener Cheshire Cat? Ihr Grinsen existierte weiter, nach- dem alles andere verschwunden war. Angemessener ist eine realisti- sche und nicht so abgehobene Zustandsdiagnose. Die frei nach ‚Ge- sellschaft ist nichts als die Illusion der Gesellschaft’ noch so versier- te Ausblendung637 der Tatsächlichkeiten schafft diese nicht aus der

Welt. Man liest soziologische Glasperlenspiele à la mode mit analyti- schem Gewinn, sozial-politische Pragmatik freilich bleibt auf reality- thinking angewiesen. Wohingegen System-Scholastiken aller Art, sei- en sie elegant und ausgefeilt, schwerlich den allgemeinen Handlungs- druck bewältigen helfen können, der immer willkürlicher beziehungs- weise dezisionärer gerät und die Fixierung soziologischer Rollen etwa auf Beobachtungen 2er Potenz bei Strafe der Selbstausschaltung als relevanter Wissenschafts-, Planungs- beziehungsweise auch nur Deu- tungsakteur eigentlich verbietet.

***

Insert 2: Naiv unter Eliten oder Affirmation durch Soziologie „Die Regierung durch Wenige besitzt eine lange Geschichte und eine zä- he Philosophie, vielleicht überhaupt die ... raffinierteste und überzeu- gendste.“638

636 Bernhard Giesen: Die Entdinglichung des Sozialen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 243. Zur ironischen Konsequenz Giesens, wonach ein- zig der Elfenbeinturm die kritische Aussicht auf das Ganze gestatte (S. 246), vgl. Axel Honneth: Pluralisierung und Anerkennung. Zum Selbstmiß- verständnis postmoderner Sozialtheorien, Merkur Nr. 580 (1991), S. 624 ff. 637 Wie sie Peter Fuchs (Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992) demonstriert, indem sich auf allerhöchstem Niveau überhaupt die Unantreffbarkeit der sozialen und aller sonst möglichen Wirklichkeiten bewiesen sieht. 638 Charles Merriam: Systematic Politics, Chicago: Chicago UP 1945, S. 187. 213

Vor Längerem plante das Wochenblatt Die Zeit eine Serie über Status und Zukunft der Universitätsfächer im Lande. Ob es an Unstimmigkei- ten im Pressehaus am Speersort lag oder daran, dass in den akade- mischen Wandelhallen vor lauter Drittmittelhektik im Rahmen der Pri- vatisierung des Staates die Geisteslichter inzwischen rarer geworden sind als Informationshändler in eigener Sache, das Blockprojekt wur- de vorerst nicht realisiert. Im Falle der Soziologie fielen überdies die Rückmeldungen, welche Köpfe vorzustellen wären, eher spärlich aus, so dass dieses Fach, dem vor zwei Jahrzehnten ein Massenappeal nachgesagt wurde, aus den Vorüberlegungen herausfiel.639 Es man- gelte offenbar an Gelehrten, die mehr verdienten als Respekt mit Blick auf theorien-vermehrenden Fleiß oder wissenschaftliche Emsig- keit. Kleinempirische Zustandsvermessungen reizen womöglich die Nachfrager640 von Daten in Wirtschaft und Gesellschaft.641 Alltags-

639 Mögliche Kandidaten, die neben einigen Spitzenkräften (Habermas, Luhmann) genannt wurden, betrafen Kollegen außer Amt, wenn schon nicht außer Würden. In Lehre und Forschung hingegen schien die Soziologie trotz überlaufener Soziologentage nicht länger von Persönlichkeiten reprä- sentiert zu werden, deren Werk auch fachübergreifende Beachtung ver- diente. Am Ende ist aus dem Projekt ein Streit-Austausch über die Rele- vanz des Faches geworden, ausgelöst durch eine Polemik von Warnfried Dettling (Dach ohne Boden. Brauchen wir überhaupt noch Soziologen?), den ein schmales Bändchen dokumentiert, herausgegeben von Joachim Fritz-Vannahme: Wozu heute noch Soziologie?, Opladen: Leske + Budrich 1996. An solchen Fachbezweiflungen ändert auch die etwas hagiographisch gehaltene Portraitsammlung wenig, die der Luhmann-Verehrer Armin Pongs (In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Gesellschaftskonzepte im Vergleich, 2 Bde, München: Dilemma 1999/2000) um den Versuch einer so- ziologischen Standortbestimmung versammelt hat: Weder wird die Themen- frage wirklich beantwortet, noch verraten die interviewten Autoren - mit wenigen Ausnahmen - ein intellektuelles Interesse an ideologischen, sozi- alpolitischen, machtheoretischen Dilemmata des Streites um die richti- ge(re) Verfassung des Sozialen. 640 Etwa städtische Verwaltungen, die sich um ihren finanziellen Spielraum sorgen, seit eine hohe Mobilität die Umlandgemeinden in sogenannte ‚Speckgürtel’ verwandelt. Wie lässt sich die Wohnattraktivität steigern? Oder Läden im Kampf mit der Schwellenangst, um mehr Kunden zu gewin- nen. Um von der Politik zu schweigen, die ihr Image vermessen haben will. Für derlei Problemerkundungen werden Soziologen gern um Rat gefragt. Und das ist gut so, denn ihre Sozialerkundung hat lange genug um Aner- kennung und damit um Berufsfelder ringen müssen. 641 Während die Eskamotierung von Welt durch systemische oder sonstwel- che Sprachgnoseologien nicht zuletzt im Sinne der Angebotstheorie eines 214

weltliche Hilfestellungen allein, ohne jede Prise „Ironie und Ambiva- lenz“ (Merton), verfehlen freilich jenen im traditionellen Selbstver- ständnis wie in der Außenwahrnehmung gleichermaßen gehegten An- spruch auf Orientierungswissen, das gesamtgesellschaftlich von eini- gem Belang ist.642

Vom nötigen Klarblick kann mit Blick auf die Soziologie schwerlich die

Rede sein. Laut Hans-Peter Müller643 hat sich die Disziplin in allerlei

Metadiskurse über die ‚Gesellschaft der Gesellschaft’ verlaufen, flüchtet sich in deren Widerspiegelung oder pflegt Akrobatensprünge begrifflichen/normativen Scharfsinns, die mit den Engpässen der So- zialwelt soviel zu tun haben wie der gute Wille mit wirklichen Ent- scheidungspräferenzen. Ihr Definitionspotential als gesamtgesell- schaftliches „Organ der Selbstbewusstwerdung“644 musste sie längst an die Ökonomie, „welche ihrerseits die Physik nachäfft“ (a.a.O.), und deren Pseudoverbindlichkeiten abtreten, wenn nicht die Medien allen divinatorischen Bedarf abdecken, den die Mitwelt äußert. Viel mehr als die Erinnerung an ein Rollenverständnis, das nicht nur Semantik pflegen beziehungsweise Sichtbares spiegeln, sondern Soziales als

Jean-Baptiste Say der Autorekrutierung hochelaborierter, wiewohl reali- täts-abgeschotteter Kompetenzen dienen mag. Das ist eine Entwicklung, die auf andere Weise durch die wachsende Fremdeinwirkung (man denke an Konzern-Stiftungen à la Bertelsmann, Gerling, Körber, Reemtsma, Thyssen etc.) in das Fach hinein - nicht zuletzt als Folge der durch den Rückzug des Staates ausgelösten Drittmitteleinwerbungszwänge - unter- strichen wird. Sie fördert einen sozialwissenschaftlichen Aufmerksam- keitswechsel: Weg von Kollektivgütern und ihrer optimalen Allokation, hin zu Partikularinteressen mitsamt programmiertem Ideologie- statt Wahr- heitsbedarf... Gegen solche Blickverengung hatte sich schon ein Lujo von Brentano mit der Bemerkung verwahrt, er sei schließlich Staatsprofessor, nicht aber „Trustprofessor“. 642 Indem es aus kritischer Distanz zum Etablierten mögliche Missstän- de/Fehlfunktionen/Irrationalismen etc. im Normalverlauf aufdeckte und ü- ber Abhilfen sinnierte: Akzeptanz ist eine Frage des Augenblicks, Wahrheit des Blickwinkels. 643 Zit. Jan Müller: Diesseits der Ökonomie, Frankfurter Allgemeine Zei- tung vom 21. 4. 1999, S. N 9. 644 Joan Robinson: Freedom & Necessity. An Introduction to the Study of Society, London: Allen & Unwin 1970, S. 120. 215

Geschehen und Tatbestand gleichermaßen verständlich machen woll- te, blieb kaum erhalten, Volker Kruse645 hat daher von einem fachge- schichtlichen Traditionsabbruch gesprochen. Warum kam die herme- neutische Tiefenschärfe trotz konstruktivistischer Hochblüte646 dem main stream abhanden, besonders seit den 1980er Jahren? Das hatte zum Einen kulturgeschichtliche Ursachen. Die fatale Fehlentwicklung der landständigen Politik- und Geistesgeschichte diskreditierte am

Ende unterschiedslos alle Überlieferungen.647 Der Relevanzschwund ideologiekritischer Ansätze erklärte sich zudem aus den Universali- sierungserfolgen einer empirisch-positivistisch gestimmten For- schungsentwicklung. Diese „Amerikanisierung“ (Plé) trennte seit den frühen 1950er Jahren unter anderem die historische von der theoreti- schen Sozialdiagnose. Seit Georg Friedrich Wilhelm Hegel waren sie in vielen Varianten vereint vertreten worden. Seine ‚Rechtsphiloso- phie’ (1822) hatte die Mitwelt nicht zuletzt durch einen Wechsel der

Perspektive überrascht. Der Sinn des Seins sah sich dialektisch, also vorgeblich unabweisbar, den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verbunden. Solcher Zungenschlag der hiesigen Kulturforschung648

645 Historisch-soziologische Zeitdiagnosen in Westdeutschland nach 1945, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. 646 Im Sinne der Systemtheorie, nicht aber im wissenschaftssoziologischem Verständnis (vgl. Jost Halfmann: Soziologie als Wissenschaft. Der Kon- struktivismus der modernen Soziologie, Sociologica Internationalis 33 (1995), S. 165 ff.), das durch einen klaren Trennungsstrich zwischen „Weltabgewandtheit“ und KontraaIntuitivität (S. 182) auf methodologische Voraussetzungen einer etablierten Wissenschaft verweist. 647 Wobei die Verwerfung der Vergangenheit um so moralischer und rigider zu geraten scheint, je länger die Gräuel zurückliegen. 648 Die im Sinne eines multiplen Verständnisses von Kommunikationschan- cen die Welterkenntnis und damit gesellschaftliche Steuerungsmöglichkei- ten im weitesten Wortsinn gerade nicht à la Luhmann (Erkenntnis als Kon- struktion, Bern: Benteli 1988, S. 51) „durch Abbruch von operativen Bezie- hungen zur Außenwelt“ verunmöglicht sah, sondern die ‚denkenden Syste- me’ vielmehr durch Empathie, Sprachsolidarität, Emotivität, nonverbale In- teraktion, Symbolpartizipationen, Körpererfahrungen etc. vielfältig, transgruppal und vor allem reziprok-perlokutionär verbunden sah, so dass selbstreferentionelle ‚Fremdheit’ in actu jeweils überwindbar war/ist, wes- wegen die Sozialmaterie kein eigen-artiges Gegenüber, sondern genuiner Gestaltungsspielraum der Menschen bleibt, die sich weder durch die Kom- 216

wich spätestens seit dem Wirtschaftswunder einer eher ort-, zeit- und vor allem konfrontationslosen Strukturbeschreibung. Sie beliebte im- mer entschiedener vorbeizublicken649 an Armut, Interessen, Ideolo- gien, Macht oder auch Entfremdung und Kommerzialisierung.650 Eliten etwa als „Repräsentanten von Maßstäben“ (Popitz) gerieten zum Fun- dament des Sozialen, waren als Träger und Empfänger von Extra- chancen (Einfluss, Ressourcen, Prestige ff.) nicht länger dessen ‚Me- dium’ und Problem.651 Nicht nur Geschichte und Soziologie, auch So- zialerkenntnis und der Raum der Politik gingen in der Theorie auf Dis- tanz. Womöglich deswegen, rügte Nicolaus Sombart652, weil die kom- pakte Arkanität olympischer Soziallagen sich ohnehin jener sozietären

Myopie entzog, welcher Berufsvertreter unterliegen, die durchweg aus den Mittelchichten stamm(t)en und sich elitäre Machtlagen kaum vor- stellen konnten, die über oder hinter jenen Kulissen wirkten, die der fach-standardisierten Beobachtung zugänglich waren.

plexität ihrer Institutionenschöpfungen abschrecken noch durch die kon- struktivistische Perspektive der Schwererkennbarkeit des Unentworfenen einschüchtern lassen. 649 An die demgegenüber kulturkritisch ansetzende und schärfer fragende Kombinatorik jener traditionellen, durchgängig bewusstseinsphilosophisch und vor allem historisch gestimmten Sozialwissenschaft hat Hermann Korte (Einführung in die Geschichte der Soziologie, Opladen: Leske + Budrich ²1993) erinnert. Von Karl Marx bis zur Frankfurter Schule bleibt die kriti- sche Tiefenperspektive im Blick, ohne eigene Mängel im gerontokratisier- ten, also auf der Ebene der Institutsleitungen festgefahrenen Fachbetrieb etwa der späten Weimarer Jahre auszusparen. 650 Als intellektuelles Verlustgeschäft galt solche Verharmlosung bald ne- ben Warnungen von sozialkritischer Seite (markant T. W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966) besonders in konservativen Zirkeln, man denke an die bedeutende Studie von Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart: DVA 1955. 651 Indem sie verhüllt, was sich abspielt, oder es als unvermeidlich hin- stellt, übt Soziologie nolens volens Herrschaft aus: Gleichsam als ideokra- tischer Filter eines zwar bezogen auf den politischen Überbau demokra- tisch legitimierten, gleichwohl in Teilen (Verteilungsverhältnisse, Effizienz etc.) durchaus Dauerrreform-Anstrengungen bedürftigen Establishment- Komplexes. 652 Nicolaus Sombart: Pariser Lehrjahre 1951 - 1954, Frankfurt am Main: Fischer 1996, S. 34 ff. 217

Von einer Mobilisierung der Aufmerksamkeits etwa via kulturdiagnos- tischer Kompetenz ist am Ende wenig geblieben, eine eher metaphy- sisch orientierte Entsorgung des Wirklichen im Sinne von „weniger wahrgenommen als entworfen“ (Evellin) hat sich stattdessen breit ge- macht653, die Helmut Willke nicht unpassend mit dem Willen zur Pa- radoxie beschrieb, „das Nicht-Erkennbare zu erkennen“654. Die Kri- senanfälligkeit der Vergesellung hingegen hat kaum abgenommen.

Laut Zeitgeist scheinen sich die Komplikationen aus dem sozialstruk- turellen Geschehen in lebensweltliche beziehungsweise umweltbezo- gene Bereiche verlagert zu haben. Die verbleibenden ‚Umstände’ wir- ken allerdings weder geglättet noch harmlos genug, um jene „Gering- schätzung der Sozialwissenschaften für die Elitenfrage und ihr

Machtproblem“ zu rechtfertigen, das Frédérick Sawicki655 bemängelt.

Abgesehen von wenigen risiko-bewussten Tendenzanalysen, wie etwa durch Ulrich Beck, die populär geworden sind, herrscht jedenfalls als Ö akademischer Normalbetrieb einer Erhebungs- und Ausbildungsma- schinerie unter Kapazitäts-Nachweisdruck Ö gebrauchsfertige Informationsbeschaffung, die sich beispielsweise als Demoskopie außerhalb der Universitäten vermarkten lässt, bezie- hungsweise Ö Problemberatung im Rahmen politischer, wirtschaftlicher, publizis- tischer etc. Nachfragevorgaben, die nur Chancen besitzt, wenn sie ohne Ideoglossie auftritt und sich überdies „abgebots-orientiert ver- hält“ (Miegel)

653 Über die sich der Praktiker Erhard Eppler (Die Wiederkehr der Politik, Frankfurt am Main: Insel 1998, S. 151 ff.) etwa mit Blick auf die politische Unbedarftheit der Systemtheorie zu Recht mokiert. 654 Konstruktivismus und Sachhaltigkeit soziologischer Erkenntnis: Wirk- lichkeit als imaginäre Institution, Sociologica Internationalis 31 (1992), S. 83 ff., hier S. 83. 655 Classer les hommes politiques, in Michel Offerlé: La profession politi- que: XIXe - XXe siècles, Paris: Belin 1999, 135 ff. hier S. 138. 218

gegenüber den facts and figures eher zustandsneutrale Distanzlosig- keit vor.656 Entsprechend findet die vor Zeiten als Oppositionswis- senschaft angetretene Disziplin selbst dort kaum Anerkennung, wo sie in Detailbereichen (Ethnosoziologie, Familiensoziologie, Organisati- onssoziologie, Sprachsoziologie ff.) von Bedeutung, da nicht- affirmativ geblieben beziehungsweise nicht-reduktionistisch geworden ist, wenngleich so oder so „unter Verlust ihrer Wirklichkeitsnähe“657. Aber nicht nur die gängige Empirie, selbst großtheoretische Spielar- ten der Gegenwartssoziologie verlieren an Beachtung. Ihre Begriffs- akrobatik übersteigt die öffentliche Rezeptivität bei weitem, eine Ver- bindung zur Alltags-Sozionautik ist kaum mehr auszumachen. Zumal dann nicht, wenn theorie-intern fest genug an die Unwahrscheinlich- keit einer Welt als Entwurf geglaubt wird. Letztlich wirkt der unabläs- sig seine Richtung und Gestalt wechselnde Streit zwischen den, so Viktor Vanberg658, „zwei Soziologien“ für Außenstehende verwirrend. Eher individualistisch orientierte und stärker kollektivistisch ange- hauchte Denkausfertigungen geraten immer esoterischer, um an Letztbegründbarkeit beziehungsweise Beobachtungs-Syllogistik zu gewinnen. Sie erklimmen dabei ein Abstraktionsniveau, das den sozi- algeschichtlichen Boden aus den Augen verliert, auf dem Gesellschaft als kollektive Daseinssicherung abspult. Wobei Lebens- und System- welt nur begrifflich different sind, diese semantische Fixierung indes dem Systemischen freien Lauf lässt. Denken kann sich nicht „auf die geistige Reproduktion“ dessen beschränken, was ohnehin ist. Wäh- rend Adorno659 an die kritische Wechselseitigkeit von Vernunft und

656 Vgl. Papcke: Wo bitte geht es zur Realität? Sozialwissenschaften und Zeitdiagnose, in Claus Leggewie (Hrsg.), Wozu Politikwissenschaft (Anm. 632), S. 243 ff. 657 Renate Mayntz (Hrsg.): Formalisierte Modelle in der Soziologie, Neu- wied/Berlin: Luchterhand 1967, S. 13. 658 Die zwei Soziologien, Tübingen: Mohr 1975. 659 Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 150. 219

Verhältnissen dachte, leuchten die Realia im Sinne einer „konkreten Soziologie“ (Claessens) in manchen Fachausrichtungen, wenn über- haupt, nur mehr als Schattenspiele der Kognition auf, eine Rückkehr zum Spiritalismus scheint vollzogen. Die Soziologie, kommentierte Peter Berger660 solche Entleerung, wirkt an der Gesellschaft weniger interessiert als an ihren eigenen Kunstprodukten.661 Zwar bleibt, auch gegenüber der historischen Soziologie, die Dauerdemaskierung aller Sozialbilder als „operative Begriffe“ (Piaget) geboten.662 Sie bildet die Voraussetzung für eine adäquate, mithin sich-selbst- relativierende Vorstellung über Sein, Raum oder das Begreifen selbst. Es ist das eine, die Gesellschaftswissenschaft auf eine zur sozialen Komplexität passende Erkenntnislehre zu verpflichten. Etwas anderes bedeutet es, Sozialreflexion und Realität zu verwechseln, wovor schon Schopenhauer warnte663, indem sich Gegenständliches und Er- fahrung im Kontext gnoseologischer Selbsteinschüchterungen frei

660 Invitation to Sociology. A Humanistic Perspektive, Harmondsworth: Penguin 1971, S. 24. 661 Als Beispiel solcher Weltvergessenheit mag ein Beitrag von Richard Harvey Brown dienen. Der an der Universität von Maryland Soziologie und Literaturwissenschaft lehrende Autor, Verfasser einer einschlägigen Studie über „Society as Text“ (Chicago: Chicago UP 1987), sorgt sich in einem von Herbert Simons und Michael Billig (After Postmodernism. Reconstruc- ting Ideology Critique, London u.a.: Sage 1994) publizierten Sammelband um die „Rekonstruktion der Sozialtheorie nach der Kritik durch den Post- modernismus“ (S. 12 ff.). Seine Bemühungen um die Aktualität der Sozial- lehre wirken selbst eher postmodern als realitätstüchtig. Im freien Fall hermeneutischer Spekulationen über den Verlust der Geltung aller Bedeu- tungen und Kontexte soll soziologische Bodenhaftung durch „die Konstitu- ierung der Realität durch Sprache“ (S. 33), also gleichsam post scriptum wiedergewonnen werden. Voller Emphase sieht sich der Sozialwelt als Schein eine Diskurswelt als logischer Kontrollmodus gegenübergestellt. Sollten Tatsachen mit deren rhetorischer ‚Widerspiegelung’ nicht überein- stimmen, haben sie weder Bestand noch Relevanz. 662 Vgl. Eckhard Hammel: Geschichte menschlicher Selbstwahrnehmung, in: Mike Sandbothe/Walther Zimmerli (Hrsg.): Zeit-Medien-Wahrnehmung, Darmstadt: WBG 1994, S. 60 ff. 663 Skizze einer Geschichte der Lehre vom Idealen und Realen, Parerga und Paralipomena, Sämmtliche Werke, Hrsg. Julius Frauenstädt, Band 5, Leipzig: Brockhaus ²1891, S. 3 ff. 220

nach Johann Friedrich Herbart664 als pure Denkschleifen verflüchti- gen. „Der Soziologie an sich als Erfahrungswissenschaft“, hatte Ro- bert Michels allem Konstruktionismus vorgehalten665, „muß jeder un- historische oder außerhistorische Apriorismus ... fremd und antago- nistisch sein“. ‚Als ob’ im gelehrten Diskurs über die Relativität aller Wahrnehmung tatsächlich eine Dekontextualisierung der lebensweltli- chen Gegebenheiten/Zwänge etc. stattfände. Oder durch Kommunika- tion eine Entdramatisierung ihrer Verwicklungen zu bewirken sei, nachdem man sich ‚über sie ausgetauscht‘ hat. „Reflexion vermag jedem Schicksal die Spitze zu nehmen“, kommen- tierte Rüdiger Bubner666 den Beschwörungszauber als Glauben an die Meisterung der Sozial und Sachverhalte durch gute Worte oder Spon- taneität des Willens. „Leben die Bücher bald?“ Das nicht-bloß- begriffliche, sondern sehr reale Beziehungs-, Erfahrungs- oder Empi- riefeld der Seins-, Sozial- und Umwelt bleibt davon ungerührt. Es irri- tiert die dort Verharrenden durch Zumutungen wie Sorge, Stress, Ein- samkeit oder auch Gewalt. Zudem ist es von Umwelt- Verschlechterungen bedroht: Die Erwärmung des Weltklimas stellt jenseits der Schuldfrage mehr dar als ein Auslegungsproblem667, wie Küstenregionen als Folge des steigenden Meeresspiegels erfahren. All das bedürfte sozialer, ökologischer, mithin realitätstüchtiger Ursa- che-Wirkungs-Analysen mitsamt adäquater, sprich politischer Strate- gien einer Gefahrenvermeidung als genuiner Teil der Analytik. Nur so

664 Wonach „wir in unseren Begriffen völlig eingeschlossen sind; und gera- de darum, weil wir es sind, Begriffe über die reale Natur der Dinge ent- scheiden“, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie (1813), Königsberg: Unzer 4 1837, § 114. 665 Soziologie als Gesellschaftswissenschaft, Berlin: Mauritius 1926, S. 41. 666 Wie wichtig ist das Subjekt?, in: Merkur Nr. 552 (1995), S. 229 ff., hier S. 239. 667 Zur Kontroverse zwischen Konstruktivismus und Realismus in der risi- kosoziologischen Ökologiefrage vgl. Andreas Metzner: Umwelt, Technik & Risiko - sozialwissenschaftliche Zugänge, Habilitationsschrift, Münster 2000. 221

wäre ‚Gedeihlichkeit’ im allgemeinsten Wortsinn zu erhalten, die als Zentralfrage nach dem „guten Leben“ (Hentig) zugunsten von Dauer- problemen bei der Selbstverwirklichung in den Hintergrund getreten ist. Durch Interpretations-Arbeit ändert sich an derartigen Überforde- rungen/Bedrohungen nichts, nicht einmal die Interpretationsdimension selbst. Kommt im Sinne jener Hölderlin-Frage nach dem Eigenleben der Bücher in der Entdinglichung und Verharmlosung (Was- > Wozu- Fragen) der Gesellschaftstheorie mithin Flucht zum Ausdruck oder Blindheit? Verabschiedet sich die Soziologie aus der Theorie der Wirklichkeit in eine Wirklichkeit als Theorie ganz ohne Berücksichti- gung des „aufdringlichen Vorrechts des Reellen“, von dem Clément Rosset spricht668, gerät die zurückbleibende Sozialwelt immer opa- ker.669 Je emsiger eine post-konkrete Gesellschaftslehre670 an hoch- komplexen Virtualitäten als vorgeblich angemessener forma mentis des Sozialen bastelt, desto eigenläufiger geraten die Zwangslagen soziostruktureller oder zeitmentaler Art, die Ergebnis historischer Entscheidungen beziehungsweise sozialökonomischer Ereignisse wa- ren, sind und bleiben werden. Was modischen Systemlehren als er- neuter Beleg für ihre These dient, man habe es in toto mit einem qua- si-naturalen Evolutionsprozess zu tun, der es als Eigenfolgenlogik nur mehr zulässt, Konsequenz-Etappen ‚zu beobachten’671, ohne diese bewerten, bemessen oder beheben zu können oder gar zu sollen. Die- se Verlaufsdynamik sei einzig in Gestalt semantischer Komplexitäts-

668 Le réel et son double. Essai sur l’illusion, Paris: Gallimard ²1984, S. 7. 669 Übersicht gibt es nur noch in einer ‚Theorality’, möglichst ohne Beimi- schungen der störenden Reality, so dass Beobachtung ersten, zweiten oder dritten Grades frei ihrer Deutungsästhetik frönen können. 670 Etwa bei den durch James Faubion (Rethinking the Subject, Oxford: Westview Press 1994) versammelten Autoren. 671 Solche Ausblendung der Verursachung wiederholt sich im Alltag, in dem etwa im breiten Bereich der Asozialisierung (Selbstkontrollversagen, Er- ziehungsverweigerung, Drogen etc.) niemand mehr – außer den Umständen - für die Misere, das Fehlverhalten, die Anomie etc. zustän- dig/verantwortlich zu sein scheint, am wenigstens die Verursacher selbst. 222

entsprechungen theoriefähig zu halten, mithin als Reduktionismus, weil er sich, handlungstheoretisch ausgedrückt, jenseits von Gut und Böse abspielt. Das bliebe zu hinterfragen, etwa mit Blick auf ideologische Untertöne der Systemtheorie selbst.672 „Die Hauptleistung des menschlichen Bewusstseins ist die Wahrnehmung“, hat schon Luhmann673 indes alle Kritik an dem durch das System-Argumentieren präsenten „Weltgeist“ - nicht mehr hoch zu Pferde, aber rechthaberisch genug - verworfen, denn „das Denken geht meist schief“. Belassen wir es dabei674, etwa weil die Realität, der Marktlogik überantwortet, sich ohnehin keinen Deut um sozialwissenschaftliche Rollenzwiste kümmert. Auch das ist ein Effekt, der mit dem Rückzug der Gesellschaftsdebatten aus der Weltverantwortung zusammenhängt. Sieht sich die Sozialentwicklung endgültig konkurrenzlos ökonomischen, bürokratischen oder eben eli- tären Fremdlogiken überantwortet, wenn analytische Zuträglichkeits- diskurse fehlen.

Kritik als Beruf

„Die soziale Realität erfreut sich bester Gesundheit“, betonen Ray- mond Boudon und François Bourricaud675, „sie ist mitnichten nur ein

672 Wie es die Mitarbeiter eines von Georg Hörmann unter dem Titel „Im System gefangen“ (Münster: Bessau 1994) herausgebenen Readers „zur Kritik systemischer Konzeptionen in den Sozialwissenschaften“ versucht haben. 673 Europa als Problem der Weltgesellschaft, in 4. Leutherheider Forum, Protokoll, Krefeld 1993, S. 40 ff., hier S. 45. 674 Mit gutem Grund zählte daher ein von Julian Nida-Rümelin herausgege- benes Lexikon (Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stutt- gart: Kröner 1991, S. 357 ff.) den führenden Systemdenker zur Fachkon- kurrenz. Die Ressortübergänge sind fließend geworden; Genremischungen werden immer beliebter, und sie fallen um so leichter, je abgehobener So- zialreflexion daherkommt. 675 Soziologische Stichwörter, Opladen: WDV 1992, S. 16. 223

Phantasieprodukt“. Das ist klingt beruhigend, wenn man die „sophisti- sche Rhetorik“ im Ohr hat, zu der die französischen Fachvertreter die Begriffsarbeit der Zunft „degeneriert“ (S. 10) sehen. Ihrer Ansicht nach „stiften allgemeine Theorien in der Soziologie allemal mehr Schaden als Nutzen“ (S. 15). Boudon/Bourricaud plädieren (S. 12) für eine Rückkehr zur Welt echter Probleme. Auf dieser Strecke sei die Beschäftigung mit den Fragestellungen und Lösungsvorschlägen der Klassiker überaus hilfreich. Denn wenngleich im Sinne von Max Weber die Kulturbedeutungen im Strom der Zeit einem steten Wechsel unter- liegen, sind die durch die jeweiligen Weltläufte und ihre Modestim- mungen betroffenen Menschen als „Ptolemäer“ (Benn) auszumachen. Im Alltag schleppen sie, hinweg durch Raum, Zeit und Ideologien, die gleichen Hoffnungen, Bedürfnisse und Sorgen mit sich herum. Über- dies gelten für sie seit - sagen wir - Bernard de Mandeville allenthal- ben ähnliche Modernitäts-spezifische Belästigungen, wie Anthony Giddens676 herausstreicht. Dass sich deren Dimensionen mitunter dramatisieren und die Eliten und ihre Entourage in Form von Paupe- rismus, Wirtschaftskrise, Umbruch oder Auflehnung verunsicher(te)n, rief nicht zuletzt die Soziologie als eigenständiges Forschungsgebiet mit Krisendrall ins Leben. Was wiederum jenen Vorwurf einer Iatroge- nese erklärt, den Heinrich von Treitschke vorbrachte. Im Sinne späte- rer Antisoziologen behauptete der Historiker bereits 1859, das Res- sort verursache jene Probleme mit, die es fachkompetent behandeln zu können vorgibt. Fraglos ein Missverständnis, denn die Soziologie war Frucht, nicht Befürworter oder gar Auslöser der Unruhen. Zudem

676 Capitalism & Modern Social Thought, Cambridge: Cambridge UP ²1994. Im historisch-genetischen Wurf geht es um den Nachweis der weiterwir- kenden Aktualität vieler Deutungsansätze im Werk von Marx, Durkheim o- der Weber. Sie waren durchgängig eine Reaktion auf Verwerfungen in der hochmobilen Industriemoderne mit ihrer überraschenden Eigendynamik: Passendere Ordnungsmuster für Wirtschaft, Staat und Gesellschaft waren den Zuständen seither periodisch abzuringen. 224

wirkte sie konservativ, auch wenn und wo sie kritisierte677. Sie hul- digte einem Reformverständnis, trat insofern gegenwarts- hinterfragend auf, zuweilen mit einer „Attitüde des Besserwissens“ (Luhmann), pflegte indes keine Änderungsutopien, sondern zielte auf diachrone Stabilisierungsleistungen, was einigen Abstand von der Mitwelt und ihren Selbsteinschätzungen verlangte. Entsprechend wirkt die soziologische Analyse im Rückblick als Gesellschafts-TÜV, der alle Sozialformen nicht zuletzt mit Blick auf inhärente „Unstimmigkei- ten“ (Adorno) einem zweckrationalen Härtetest unterzog. Das Fach wäre fraglos überschätzt, wollte man jene von Werner Giesselmann678 vermessenen Massenproteste seiner Schelte von Zustands- Fehlfunktionen anrechnen. Die Umwälzungen samt politischen Erre- gungsphasen verdankten sich fabrikweltlichen etc. Innovationskräften, die den Bauplan der Gesellschaft und damit die Konturen der Lebens- weltlichkeit wieder und wieder umwälzten.679 Um Domestikation sol- cher Verwerfungen samt mentaler Anpassungsnöte ringende Staats- verwaltungen griffen begierig auf sozialanalytische Erklärungskapazi- tät680 zurück. Nicht allein, um im Chaos der vielen Umbrüche wenigs- tens eine „Reorganisation der geistigen Gewalt“ zu ermöglichen, wie Auguste Comte681 sie vorschlug. Durch den Einblick in das, was wirk- lich passierte, könnte der rasende Wandel womöglich auch zeitlich

677 Über solche Dialektik von Umbau und/als Erhalt schon Jürgen Haber- mas: Theorie und Praxis, Frankfurt am Main: Luchterhand 1963, S. 215 ff. 678 Die Manie der Revolution, 2 Bde., München: Oldenbourg 1993. 679 Vgl. J.-L. de Lanessan: La lutte pour l’existence et l’évolution des so- ciétés, Paris: Alcan 1903. 680 Zudem blieben der Soziologie als Administrationshilfe neue Verhalten- muster in einer sich-verändernden Lebenswelt zu skizzieren. Gefragt wa- ren überdies tragfähigere Organisationsformen für die anstrengende Ver- waltung einer zunehmend auf öffentliche Transparenz und damit auf politi- sche Verantwortlichkeit angewiesenen Massengesellschaft, etc. 681 Plan der wissenschaftlichen Arbeit, die für eine Reform der Gesell- schaft notwendig sind (1822), München: Hanser 1973, S. 63. 225

entzerrt und solchermaßen durch Interventionen von oben politisch abgefedert werden.682 Seit der Aufklärung war es zwischen den angestammten Oberschich- ten und dem Wunsch der Mittelschichten nach Beteiligung zu Span- nungen gekommen. Nach der Französischen Revolution beteiligten sich überraschend Vertreter der ‚Unterständischen’ an der verallge- meinerten Konkurrenz um Geltung und Rangpositionen. Nicht zuletzt Zweck und Form solcher Eliten-Querelen mit unsicherem Ausgang hat- ten das Werk von Claude-Henri de Saint-Simon motiviert, gestorben 1825, der - wie gesagt - als spiritus rector einer westlich-liberalen Sozialkritik der Gesellschaftslehre des 19. Jahrhunderts zentrale Im- pulse gab. Vor allem seine Vision einer Organisationsmoderne, die zugleich, wiewohl unwillkürlich, im Rahmen neuer, alle Sozialrollen betreffenden Effektivitätskriterien einer vernunftgeordneten Gleichheit in Freizügigkeit vorarbeitete, half der Soziologie jedenfalls in ihrer Hauptrolle als Mäeutik der Modernisierungs zum Durchbruch683, wenn

682 Erhalt (Systemschutz) und Veränderung (Sozialopposition) waren fach- politisch noch ebenso verzahnt wie Analyse und Praxis. 683 Wobei theoriegeschichtlich über deren ideelle Herkunft beziehungswei- se typologischen Charakter nach wie vor Differenzen bestehen, wie Duk- Yung Kim stellvertretend in einer Studie über die Quellen der intellektuel- len Entwicklung von Max Weber verdeutlicht (Der Weg zum sozialen Han- deln, Münster/Hamburg: LIT 1994). Der Heidelberger Gelehrte wird dabei nicht dem Neukantianismus beziehungsweise der historischen Schule der Nationalökonomie zugeordnet, wenngleich, wie bei ihm Usus, in kritischer Halbdistanz. Kim verweist auf die Phänomenologie von Edmund Husserl, aber auch auf die österreichische Grenznutzentheorie. Dieser Anregungs- hintergrund macht es nötig, die Kategorie der Arbeit als zentralen Sach- zwang der Fabrikmoderne gegenüber dem Handlungsbegriff aufzuwerten. Der neuzeitliche Prozess der gesellschaftlichen Selbstdisziplinierung be- dingte eine Durchbürokratisierung aller Sozialbeziehungen, die „das sub- jektive Element des Handelns“ (S. 216) durch „das objektive Moment des Systems“ überwölbte. Weil der ‚bürgerlichen Soziologie’ die individualisti- sche Kultur am Herzen lag, verrät sie durchgängig kulturkritische Züge. So fürchtet Weber eine „Ägyptisierung“ der Zukunft als Folge einer Verwer- tungs-Gesellschaft, die nicht zuletzt mit wissenschaftlichen Mitteln die Zweckrationalität auf Kosten der Selbstverwirklichung forciert. Der le- bensweltliche Wert oder Unwert dieses modernen Apriori, das als Sach- zwang über die Zeitläufte hereinbrach, steht sozialwissenschaftlich kaum mehr ernsthaft zur Debatte: Obschon dieser Befund als detrimental emp- 226

schon nicht als deren konservative Unterströmung684. Sie verstand sich etwa in der Version des zeitgenössischen Positivismus als theo- retischer Inbegriff eines technisch-wissenschaftlichen Zukunftsmo- dells. Zwischen · dem steigenden Motivation-als-Rohstoff-Bedarf einer nach und nach alle anderen Subsysteme der Gesellschaft einbeziehenden Marktlogik685 und den · noch eher tradierten, wiewohl verbürgerlichten Notablen- Hierarchien an der Macht gab es nicht unerhebliche Ungleichzeitigkeiten. Sie führten das In- dustriesystem, durch zyklische Krisen ohnedies unter Akzeptanz- druck, wiederholt nicht nur in administrative Untiefen. Folglich geriet die staatlich-elitäre Passform der Wirtschafts- als Produktionsmoder- ne zum zentralen Epochenproblem. Aus der Diskussion über Wesen und Gestalt einer neuzeitlich-konsensfähigen Staatszwecklehre (Sys- temstabilität) entstand die politische Soziologie686, typischerweise als Streit um die Rechtfertigung durch Legitimierung von Herrschaft, nicht jedoch über die der sozialen Realdynamik angemessenere Fas- son einer Zivilgesellschaftlichkeit. Das hätte als Suche nach einer „antizipatorischen und ‚kreativen’ Integration“ (König) wenigstens a) die versuchsweise Unterstellung von Alternativen zur oder doch b) die Sondierung tragfähiger Mitgestaltungs-Ansätzen in der nachfeudalen Marktvergesellschaftung vorausgesetzt, die politisch über den Re- formhorizont etwa des Kathedersozialismus hinausweisen, ohne

funden wird, blockierte die tragische Sicht der Dinge korrigierende Uto- pien. 684 Vgl. zu dieser Interpretation u.a. Robert Spaemann: Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration. Studien über L. G. A. de Bo- nald (1959), Stuttgart: Klett-Cotta 1998. 685 Die laut Peter F. Drucker (Die postkapitalistische Gesellschaft, Düssel- dorf: Econ 1993) durch den Export ihrer Renditekriterien nach und nach alles Heilige und Profane gleichermaßen revolutionierte. 686 Vgl. Francesco Tuccari: I dilemmi della democrazia moderna, Rom/Bari: Laterza 1993. 227

gleich antiautoritär ausfallen zu müssen. Die Soziologie steigerte sich hingegen nicht nur bei Max Weber als pontifex maximus der Fachent- wicklung, sondern auch bei Émile Durkheim in Frankreich, Herbert Spencer in England oder Edward A. Ross in den USA zuweilen in apo- kalyptische Ermunterungen. Zur kulturellen, politischen etc. Nieder- gangs-Abwehr sahen sich wahlweise problematische Szenarien erör- tert wie die Errettung durch das Charisma, eine forcierte Staatsreligi- ösität, der Marktnaturalismus pur oder nicht zuletzt ... Zwangsinvesti- tionen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert schienen mit der Wirt- schaftsentwicklung zwar jene schlotindustriellen Konfliktkonstellatio- nen gemildert, man konnte sich fachpolitisch verstärkt Feinstrukturen der Gesellschaft und ihrer Geselligkeit zuwenden. Aber es drohten mit Technokratie, Entmündigung687, Tempomanie, Überforderungen aller Art, Staatsvandalismus und nicht zuletzt einer Flucht aus der Moder- ne als „end of economic man“ (Drucker) neue Verwerfungen, die einer gesellschaftswissenschaftlichen Aufklärung ebenso harrten wie sozi- aladministrativer Beharrlichkeit. Innovations-Mut, gar Advokatorik im Kontext einer makro-sozialen Problem-Durchleuchtung, die das Fach früher antrieben, hat es als „abgeklärte Aufklärung“ (Luhmann) ver- lassen, trotz der These, durch die Abkoppelung von Bündnispartnern im sozialen Raum gewinne man erst die nötige „Autonomie“ (Giesen) zur Kritik. War den kumulierenden Risiken der Vergesellung nach Maßgabe ökonomischer Vorgaben überhaupt reformtheoretisch zu be- gegnen?688 Wenigstens mit begrifflichen Korrekturmustern!, betonte

687 Also das 1917 von Max Weber (Wissenschaft als Beruf, Max Weber Ge- samtausgabe, Abteilung I/Band 17, Tübingen: Mohr 1992, S. 86 f.) ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückte kognitive Entfremdungsdilemma als Menetekel der Moderne. 688 Mit der Karriere der Losung von der Wertungsfreiheit (vgl. noch immer Werner Hofmann: Gesellschaftslehre als Ordnungsmacht. Die Werturteils- frage - heute, Berlin: Duncker & Humblot 1961) verabschiedete sich die akademische Soziologie aus diesem Dilemma, indem sie sich aller Verant- wortung für den Lauf der Dinge entledigte. Was keineswegs ausschloss - es geradezu bedingte -, dass sich die Disziplin den kommenden Stürmen der Zeitläufte hilflos auslieferte, nicht zuletzt hierzulande. Immerhin gab 228

wenig später das zustandshinterfragende Projekt der Wissenssoziolo- gie.689 Unter Verweis auf seine humanitäre690 und ideologiekritische Herkunft erinnerte Karl Mannheim691 die Disziplin zugleich an die Traditionen einer gleichermaßen politisch wie pädagogisch argumen- tierenden Krisenkontroll-Lehre, welche die Soziologen als Hüter der Sozialratio (Übersicht + Kontrolle/Planung + Vision= Erträglichkeit) gleichsam zu einer Art von Meta-Elite stilisierte. Zählte nicht das „Re- flexivmachen uns beherrschender Determinanten“ (Mannheim) zu de- ren ursprünglichen Leistungen? Solcher Aufklärungsinstanz oblag es, gleichsam fach-funktionslogisch, Theorien mit Bodenhaftung anzubie- ten, damit nicht/falls die Umstände den Menschen über den Kopf wuchsen. Nur so ließ sich deren Dingmacht zudem als fatalité modifi- able durchschauen, das hatte Auguste Comte der Soziologie im Sinne der Komplexitätsbewältigung aufgetragen, wiewohl mit hoch-elitärem Zungenschlag.

Die „ärgerliche Tatsache der Gesellschaft“ (Dahrendorf) lässt sich nicht in Theorie auflösen. „Der Tisch des Wohllebens ist nicht für alle

Menschen gedeckt“, hatte Ludwig Gumplowicz692, Jahrgang 1838, als

Verfasser des ersten Lehrbuchs für Soziologie im deutschsprachigen

Raum ein Dilemma benannt, das mit der Fabrikmoderne politisch zum

es im Fach selbst - um nicht vom breiten Spektrum der sociologie noire zu reden - Vorbehalte gegen diese Weltabgehobenheit. Man denke an die Spielarten einer Kritischen Soziologie, die international bekannteste stellt die Frankfurter Schule dar; auf andere Art und Weise pflegte die Sozialfor- schung der Chicagoer Richtung die sozialkritische Problemnähe, aber auch die sich entwickelnde politische Soziologie innergesellschaftlicher Über- machtssVerhältnisse. 689 Vgl. Wolfgang Engler: Selbst Bilder. Das reflexive Projekt der Wissens- soziologie, Berlin: Akademie Verlag 1992. 690 Dieses humanitäre Weltbild der Soziologie, kommentierte René König (Soziologische Orientierungen, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1965, S. 44), „ist nicht nur realistisch, sondern zu Zeiten auch kritisch und revoluti- onär, wenn die Voraussetzungen in Frage gestellt werden, unter denen die Soziologie einmal aufgebrochen ist“. 691 Die Gegenwartsaufgaben der Soziologie, Tübingen: Mohr 1932. 692 Sozialphilosophie im Umriss, Insbruck: Wagner’sche Universitäts Buch- handlung 1910, S. 119. 229

Zentralproblem geraten war. Akzeptanz-geschichtlich fiel der Soziolo- gie die normativ-korrektive Bearbeitung von Beschwernissen zu, die in der entwickelten Industrie-Ära immerhin mit zivilisations-bedingten, wenngleich nicht länger absoluten Mangelregeln korrespondierten.

Daher war „das Gespenst der Knappheit, das die Denker des 19.

Jahrhunderts schreckte“, laut Moritz Julius Bonn693 immerhin „einst- weilen“ zu bannen. Das konnte jeweils nur ein flüchtiger Erfolg sein, man denke an das Ringen um die Arbeitslosenversicherung (1927), da die Verteilungschancen selbst als Konjunktur-Resultante hors de con- cours blieben. Folglich galt es, immer erneut deren periodische Ver- werfungen in ihrer Rückwirkungs-Vielfalt auf die Sozietät aufzude- cken, ohne sich gleich als „Welt- oder Gesellschaftsverbesserer auf- zuspielen694; dennoch waren kurative Projekte gefragt, um - im fairen

Abgleich mit dem jeweiligen Gerechtigkeitsniveau - vermeidbaren A- symmetrien in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft begegnen zu kön- nen, die ansonsten womöglich allzu friktionell wirkten. Der Rück- blick695 auf den Strom des sozialwissenschaftlichen Denkens bestä- tigt diese meliorative Mehrfunktionalität.696 Die zeitgenössische So-

693 Das Schicksal des deutschen Kapitalismus, Berlin: Fischer 5 1930, S. 114. 694 Wovor Alphons Silbermann seine Zunft warnt: Von der Kunst der Arsch- kriecherei, Reinbek: Rowohlt 1998, S. 35. 695 Die von Eckart Pankoke (Gesellschaftslehre, Frankfurt am Main: Klas- siker Verlag 1991) herausgebene Sammlung von Texten zeigt, wie man sich von Christian Wolff über Johann Gottfried Herder und Wilhelm Hein- rich Riehl bis hin zu Ferdinand Tönnies um einen ebenso realitätstüchtigen wie reformdienlichen Gesellschaftsbegriff bemühte. Pankoke setzt viel- leicht allzu unbekümmert gemeinbetreffende Ordnungsüberlegungen mit soziologischer Argumentation im engeren Sinn gleich. Nur letztere ging von der grundsätzlichen Geworfenheit, sprich Chaotik aller Sozialgegeben- heiten im Zeitstrom aus. Zum anderen beruht sein Gliederungsprinzip auf einem „epochalen Generationsbegriff“ (S. 818). Er wirkt für die Theorie- entwicklung jedoch unerheblich, weil diese einer Sozial- als Problemge- schichte entspricht, nicht aber die Geschlechterfolge resümiert. 696 Wenn sie wegen erkenntnistheoretischer Vorbehalte den Grundkontakt verliert oder infolge der Dauersorgen um Drittmittel in naive Distanzlosig- keit verfällt, die den historischen Charakter der Gesellschaftsgegenwart ebenso übersieht wie die Widerspruchsstrukturen einer ihrem Verwer- 230

ziologie hingegen pflege kaum konkrete Vorstellung von der Gesell- schaft und ihren Widersprüchen, klagt Richard Sennett697, spiegelt stattdessen als Pendant der Massengesellschaft eher „bewußtlos die

Gegenwart“ wider. Er rügt Irving Louis Horowitz, der für diese „Deka- denz der Soziologie“698 wieder einmal die 68er-Bewegung haftbar macht, die nur artikulierte, was die Umwertung der Werte durch die

Macht des fünften Elementes - des Geldes - in den Tiefen der Gesell- schaft vorbereitet hatte. Verloren ging das Soziale als ebenso chaoti- sche wie kontradiktorische, eben lebendige Erfahrung dem Fach viel- mehr durch Stoffhuberei, Theorieseligkeit und die mangelnde Lebens- erfahrung ihrer Vertreter. Darauf machte Jacob Taubes unter Verweis auf die Biedermeierlichkeit der zeitgenössischen Sozialreflexion früh- zeitig aufmerksam, und die Mode einer „dekonstruktivistischen Sozio- logie“ (Nassehi) hebt solche Realitätscheu keineswegs auf, sondern liefert das gute Theoriegewissen für die allfällige Flucht in intellektu- ell höchst anspruchsvolle, aber eher philosophische Fragestellungen.

Wo findet sich jener „gesammelte Realismus“, den René König699 mo- bilisieren wollte, um der Epoche unter die Arme greifen zu können?

Nicht zuletzt durch nüchterne Ab- und Aufklärung über die so oder so

„bestehende Vernagelung des Status quo“ (S. 362) samt elitärf offen- bar eher inadäquatem Führungspersonal? ***

♦ Bleibt die Lehre von der Katallaktik. Ist die vielgepriesene Wirt- schaftswissenschaft als Leitfach der Gegenwart, von der John May- nard Keynes schon vermutete, „die Welt werde kaum von etwas ande-

tungsdruck überlassenen Vermarktungsdynamik, löst sich die Soziologie von ihren sozialen Zweck- als Bedingungswurzeln. 697 Das Ende der Soziologie, Die Zeit vom 30. 9. 1994, S. 61 f. 698 Vgl. D. G. Wagner: The Decomposition of Sociology, American Jounal of Sociology, Band 100/3 (1994), S. 824 ff. 699 Gesellschaftliches Bewußtsein und Soziologie, in Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie/Sonderheft 21 (1979), S. 358 ff., hier S. 369. 231

rem bewegt“, realitätstüchtiger als ihre sozialwissenschaftlichen

Schwesterdisziplinen? Jedenfalls wenn man im Sinne einer platoni- schen καλιπολιs auf ihre gesellschafts-relevante Gestaltungsspur schaut? Die Fachmethoden werden immer elaborierter, sicherlich, vom

Sonnenschein-Theorem über das Allais-, Stiglitz- oder Lucas-Paradox bis zum Nash-Equilibrium ff., ohne indes kohärenter oder problemnä- her zu wirken700: Etwa um jenem „real-world approach“ zu genügen, den Milton Friedman für sein Prestige-Ressort forderte. Die Realöko- nomie bestimmt über das Geschick ganzer Regionen, aber die Wirt- schaftswissenschaft operiert auf Stimmigkeit komm’ heraus mit „irrea- len Mathematikmodellen“ (Allais). Als elitäre „Religion unserer

Zeit“701 deckt sie nichts als das Recht der Stärkeren, das in Wahrheit statt des Gleichgewichts auf Märkten herrscht.702 Zu was ist Ökono- mie mithin als Sozialwissenschaft angetreten?, fragt Bernard Maris703 ernüchtert. Mit Blick auf ihre zeitgenössische Überschätzung fallen

ökonometrisch-versierten Beobachtern wie Paul Ormerod704 frei nach

‚Wenn der Hahn kräht auf dem Mist...’ eher wetterkundliche Diagno- sen ein als Beiträge zur Vorhersage, Beeinflussung oder gar Linde- rung zunehmend chaotischer Marktverläufe, denen es im Sinne domi- nanter Wirtschaftslehren gestattet ist, Reichtum zu produzieren705, anstatt gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen.

700 Vgl. Justin Fox: What happened to economics?, Fortune vom 15. 3. 1999, S. 91 ff. 701 Serge Latouche: L’ économie dévoilée, in: Autrement, November 1995, S. 10. 702 Das mussten nicht zuletzt die Nobelpreisträger R. C. Merton (Exitati- ons-Theorem)/M. Scholes (Optionsbewertungs-Formel) auf Kosten der An- leger erfahren: Mit ihrem Long Term Capital Management (LTCM) provo- zierten sie auf einem hochspekulativen Markt und mit Summen, die das PIB Frankreich überstiegen, unter theorie-gesättigter Berufung auf den Mythos des Nullrisikos eine weltweite Totalpleite. 703 Lettre ouverte aux gourous de l’économie, Paris: Albin Michel 1999, S. 188 ff. 704 The Death of Economics, London: Faber & Faber 1994. 705 Lester C. Thurow: Building Wealth, Atlantic Monthly 1999/Nr. 6, S. 57 ff. 232

6 Regulierung

„Der Mensch darf nicht zum Sündenbock der Gesellschaft werden“.706

Anomie und Asozialität stehen in enger Wechselbeziehung zur Panik- bereitschaft, deren politische Abgründigkeiten Eberhard Gothein707 skizziert hat. Angst ist ein schlechter Ratgeber, die Hobbesche Frage nach dem richtigen Maß der Ordnung sollte als Resultat von ‚good government‘ also möglichst nicht gestellt werden müssen. Wer indes- sen den Staat als Zwangsanstalt vermeiden will, hat ihn wenigstens als „Kunstwerk“ (Burckhardt) zu pflegen. Es muss sich nicht mehr um jenen ‚integralen Staat’ handeln, den Juristen hofier(t)en; es könnte ein ‚deliberativer Staat’ als Verhandlungsnetzwerk sein, dessen Re- gierungsverwaltung sich nicht auf die governance des öffentlichen

Sektors beschränkt, sondern die Entwicklung der Gesellschaft im Au- ge behält. Davon war in den USA zuerst in Zusammenhang mit den

Abstimmungsschwierigkeiten („social disorganization“) einer multikul- turellen Moderne seit jenem durch Präsident Johnson im Juli 1967 in

Auftrag gegebenen ‚Kerner Report’708 die Rede. Mit der These „Unse- re Nation steuert auf die Etablierung von zwei Gesellschaften zu, eine schwarze und eine weiße – in sich gespalten und ungleich“ (Vorwort) reagierte man auf die ‚urban race wars‘ der späten 1960er Jahre. Das

Allgemeinwohl709 als Rückbezug und Entscheidungsdimension muss

706 Alphons Silbermann: Flaneur des Jahrhunderts, Bergisch Gladbach: Lübbe 1999, S. 266. 707 Soziologie der Panik, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Sozio- logentages (1910), Tübingen: Mohr 1911, S. 216 ff. 708 Der ‚Report of the National Advisory Commission on Civil Disorders’ (Hrsg. Government Printing Office, New York: Bantam 1968) umfasst zu- sammen 10 Bände. Der schwarze Sozialpsychologe Kenneth Clark kommen- tierte die lange Reihe (1919, 1935, 1943 etc.) ähnlicher Berichte: „...it is a kind of Alice in Wonderland - with the same moving picture re-shown over and over again, the same analysis, the same recommendations, and the same inaction“ (S. 483). 709 Vgl. S. Papcke: Gemeinwohl und Gerechtigkeit. Passwörter der Konkur- renzgesellschaft, Gewerkschaftliche Monatshefte 6 (2000), S. 341 ff. 233

vorstellbar und damit kollektiv glaubhaft bleiben710, was wirksames, zweckgemäßes und überzeugendes Staatshandeln bedingt.711 Nicht nur, um plausible Regeln zu setzen und kontrollieren zu können, ohne deren Bereitstellung beziehungsweise Geltung der Sozialverkehr be- ziehungslos und damit inkohärent gerät. Anders ist eine demokrati- sche Moderierung des heutigen Pluralismus schwerlich sicherzustel- len. Zentrale Repräsentationsfigur einer gesellschaftlichen Herr- schaftsrationalität, der die Eliten nicht als „Neunmalweise am Ruder“

(Fontane) aufgesetzt sind, sondern interaktiv verpflichtet wurden, war seit der frühen Neuzeit der Staat als „System von Gewohnheiten“ (Ot- to Neurath), das als komplexes Kulturgut unterschiedliche Stadien der

Verpuppung zuließ.712 Als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“713 gehörte zu seinem Wesen nicht nur eine

„auf die Beförderung der gemeinsamen Zwecke gerichtete Regie- rungsthätigkeit“.714 Vielmehr setzte die Rollendefinition

- sei es als „Brandkasse“715,

- „Aktionärsgesellschaft“716 oder

- „Anstalt für den Grenz- und Rechtsschutz“717 in der Neuzeit so oder so gedanklich eine Art von Sozialvertrags-

Illusion voraus718, welche nicht nur „die einzelnen zusammenschmie-

710 Im Sinne von Cassirer (Anm. 610), Teil 2, S. 310 f. 711 Zum stattdessen populären Minimalstaatskonzept vgl. Robert Nozick: Anarchy, State and Utopia, New York: Basic Books 1974. 712 Vgl. Heide Gerstenberger: Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entste- hung bürgerlicher Staatsgewalt, Münster: Westfälisches Dampfboot 1990. 713 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten (1797), Werke, Hrsg. Wil- helm Weischedel, Bd. 4, Wiesbaden: Insel 1956, S. 431. 714 So der Kameralwissenschaftler Karl Heinrich Rau: Lehrbuch der politi- schen Oekonomie, Band III/1: ‚Grundsätze der Finanzwissenschaft’, Hei- delberg: C. F. Winter ³ 1850, S. 1. 715 A. L. Schlözer: Allgemeines Staatsrecht und Staatsverfassungslehre, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1793, S. 3. 716 Frédéric Bastiat: Harmonies économiques (1849), Paris: Guillaumin 8 1881, S. 536 ff. 717 Franz Oppenheimer: Soziologie des Staates (Anm. 527), S. 86. 234

det“ (Fehr), sondern der Bürgerwelt zugleich die Regelungskompetenz als pouvoir neutre und folglich als rechtsförmige Ordnung nach Billig- keitsregeln vorbuchstabiert(e). Während sich in der Chronik des Ge- waltmonopols die wechselvolle Modernisierung der alteuropäischen

Vergesellungsformen spiegelt und die Konflikte über die Staatsräson deren Entmündigung zugunsten hoheitlicher Eigenlogiken aufweisen, schrumpfte die Kategorie der Staatsgewalt auf funktionstüchtige Re- gelungsmechanismen der öffentlichen Belange. Zwar befanden sich die gesellschaftlichen Gewaltchancen nie vollständig in Händen des

Staates. Gleichwohl ließ sich mit diesem Oberbegriff ein passendes

Legitimationsmodell entwerfen. In der Neuzeit erhält die über den ter- ritorialen, zeitlichen, symbolischen etc. ‚Raum’ der Politik jeweils ver- fügende Regierung ihre Berechtigung zur Entscheidungs- und

Durchsetzungszuständigkeit pro forma vom Volk - nicht einmal rechte wie linke Totalitarismen wagten ohne Pseudo-Plebizität auszukommen

-, das bereits Alteuropa in einem grundstürzenden

Begründungswechsel der Machtverwaltung als mystischen Souverän erfunden hatte.719 Jede Regierung muss daher, bezogen auf ihre allgemeine Regelgerechtigkeit (Verfassungskonformität,

Mehrheitsprinzip etc.) und Tüchtigkeit (Versprechenerfüllung, Prob-

718 Weswegen laut Anna Leisner (Die Leistungsfähigkeit des Staates. Ver- fassungsrechtliche Grenzen der Staatsleistung?, Berlin: Duncker & Humblot 1998) die eingegangenen Versprechen/Verpflichtungen keines- wegs generell unter dem Vorbehalt der (weiteren) Finanzierbarkeit stehen dürfen, sondern den nichtkontraktuellen Konditionen des Politischen ent- sprechen müssen. 719 Deren sekundäre oder sogar primäre Zuständigkeit („the Authority of the People, the only authority on which Government has a right to exist in any country“, Thomas Paine: The Rights of Man [Anm. 307], S. 94) eine Grunderfindung der politischen Ideen- als Streitgeschichte darstellt, wie- wohl Werner Weber (Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfas- sungssystem, Stuttgart: Vorwerk ²1958, S. 49) dessen allfällige Mediatisie- rung betont: Früher durch Prärogative aller Art, heute durch sich selbst, in Form der Parteien. Wohingegen Léon Duguit (L’ état, le droit et la loi posi- tive, 2 Bände, Paris: Fontemoing 1901, hier Bd. 1, S. 320) schlicht von „une fiction“ sprach, da tatsächlich der Allgemeinwille nicht vom „être col- lectif“ ausgeht, sondern von den „individus investis du pouvoir politique“ selbst. 235

(Versprechenerfüllung, Problembewältigungskraft u.a.m.), durch die

Bevölkerung sanktioniert und zugleich rückrufbar bleiben. Wohl auch deswegen hat Max Weber720 den Staat als „politischen Anstaltsbe- trieb“ definiert, „wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der

Ordnungen in Anspruch nimmt“, nicht zuletzt als sozialer defensor pacis. Weber setzte freilich das Legitimitätsverständnis mit dem

„Prestige der Vorbildlichkeit oder Verbindlichkeit“ (S. 16) gleich.

„Gewaltsamkeit“ war ein für das Funktionieren des Staates als

Selbstbezug der Gesellschaft unentbehrliches Mittel. Wie in der nor- mativen Politiktradition von Aristoteles bis Aquin ohnehin, aber auch in der instrumentellen Machtheorie seit Machiavelli üblich, konnte dieses ‚Recht, zu zwingen’ sich nicht als Selbstzweck definieren. Es inkarnierte vielmehr die Geltungssicherung der Wertvorstellungen je- weiliger Kulturepochen. Nun ist der Staat realiter seit längerem nicht der einzige Gewalthaber, den die Moderne zu ertragen hat. Die De- zentrierung der Staatsmacht und die damit verbundene Denormierung des öffentlichen Raumes, die sich an der ‚Verfilzung der Verwaltung’ beziehungsweise ‚Mafiosierung von Wirtschaft und Politik’ (Scheuch) ablesen lässt, bedroht nicht nur die Allgemeingültigkeit der Regeln; auch die Rechenschaftspflichtigkeit von Verfügungsgewalt als Extra- macht steht auf Abruf.721 Die postmodernen Steuerungsproblemen des

Staates in einer zerfasernden Gesellschaft des pluri-optionalen Wan- dels kennzeichnen die Schwierigkeiten der Staatstätigkeit als Gesetz- gebung, Regierung und Verwaltung im Zeitalter der Auffächerung ge-

720 Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 122), S. 39. 721 Laut Stammer (Anm. 523, S. 540) hätten „demokratie-feindliche, esote- rische Eliten“ in einem derartigen „Zustand der Desintegration“ die Chan- ce, „sich zu entwickeln“. Dem sei nur entgegenzutreten, wenn „unter de- mokratischen Kautelen gebildete Eliten“ eine „Lahmlegung der ganzen Ap- paratur der Demokratie“ verhinderten. Das allerdings verlangte öffentliches Pathos dieser Kreise, das mit dem allgemeinen Schwinden eines common civil purpose der Politikmoderne abhanden zu kommen scheint. 236

sellschaftlicher Entscheidungskompetenzen.722 Für ‚den’ Staat wird es nicht nur immer schwieriger, sich von den privaten beziehungswei- se verbandlichen Machtballungen abzuheben, die sich über die Ge- sellschaft verteilt haben und unkontrollierbar wirken; zudem zeigen sich Handlungsblockaden, die der Summe an Aufgaben und Verpflich- tungen seiner historisch gewachsenen Leistungszuständigkeiten selbst entstammen, so dass er inzwischen mehr „rudert als steuert“

(Bodo Hombach).

Mediatisierung des Staates

„Es war einmal ein Soldat, der hatte dem König lange Jahre treu ge- dient; als aber der Krieg zu Ende war und der Soldat, der vielen Wun- den wegen, die er empfangen hatte, nicht weiter dienen konnte, sprach der König zu ihm: ‚Du kannst heimgehen, ich brauche dich nicht mehr; Geld bekommst du weiter nicht, denn Lohn erhält nur der, welcher mir Dienste dafür leistet.’ Da wußte der Soldat nicht, womit er sein Leben fristen sollte.“ Bei den Brüdern Grimm723 geht diese traurige Erfahrung gut aus, die auf die Unsicherheit aller Dienstver- hältnisse in der Vormoderne verweist. Mit Hilfe von Zauberkräften kann der tapfere Invalide das Herz der Königstochter und damit am

Ende das Reich seines Kriegsherrn gewinnen, der ihn so schäbig ver- abschiedet hat. Aufzuheben war diese Härte nur per Wunschtraum; ansonsten dürfte der Held der Geschichte als Thronnachfolger mit seinen Untergebenen ebenso sorglos umgesprungen sein. Das Mär- chen bietet keine bessere Welt, verteilt nur das Glück der Wenigen

722 Vgl. Helmut Willke: Konturen des postheroischen Staates, in ders.: Su- pervision des Staates, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 347 ff. 723 Das blaue Licht, in: Kinder- und Hausmärchen, 3 Bände, Stuttgart: Rec- lam 1984, Bd. 2, S. 151 ff, hier S. 151. 237

nach Kriterien der Tugend, nicht der Geburt. Bis zum Ausgang des 18.

Jahrhunderts blieben die Funktionseliten der Bediensteten - von

Kammerräten und Accisebeamten über die Subalternbeamten und Tor- schreiber bis zu den Polizei- und Mühlenreitern -, die trotz breiter Be- fugnisstreuung und mangelnder Kontrolle zumeist aus den Ressourcen des Amtes (Sporteln) lebten724, jederzeit und womöglich anspruchslos entlassbar. Staatsdiener vom hohen Militär bis hinunter zum Schrei- berling waren „Domestiken“, stammten sie nicht aus ‚höheren Krei- sen’, die im Fall der Remonstration oder Ungnade auf ihre Güter reti- rieren konnten, wie Graf Pudagla in Fontanes „Vor dem Sturm“

(1878).725 Wann, wie und warum das anders wurde, diese Erfolgs- chronik der sozialen Sicherung im öffentlichen Dienst nach „herge- brachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums“ gehört zur Geschichte der Bürokratie.726 In chronologischer Abfolge lassen sich Entstehung,

Zusammensetzung, Aufgliederung und Ausweitung der Verwaltung im

Kontext der Staatswerdung des ‚Staates’ nachzeichnen. Was indes für die ‚Amtsinhaber’ eine Wohltat war, musste ansonsten keineswegs dem summum bonum dienen. Das betrifft nicht nur die Kostenexplosi- on dieser Entwicklung, sondern meint jene Korsettierung der Moderne durch ihre Ämter, die diese allerdings mit ermöglicht hat. Seither wird

724 Ab 1730 handelte es sich wenigstens in Preußen überwiegend um be- rufsmäßige Soldbeamte (vgl. Gustav von Schmoller: Der preußische Beam- tenstaat [Anm. 180]), die „exact, diligent und prompt in (ihrer) Arbeit (zu) sein“ hatten (Friedrich Wilhelm I). Das Gehalt wurde pünktlich und ohne Sistierung bezahlt (S. 35), einen Rechtstitel darauf besaß der Beamte al- lerdings, blieb jederzeit entlassbar, auch sichere Ansprüche auf Pensionen oder Gnadengehalte bei Krankheit oder im Alter waren nicht üblich (S. 59). 725 Auch als unentbehrlicher Arkanpanzer blieben all die Favoriten, Ver- wältungsstäbe, Schranzen etc. austauschbar, obschon sie in den Augen der Bevölkerung frei nach „Wenn das der Souverän wüsste...“ als Machtin- sider äußerst unbeliebt waren. Das war der Grund für die alteuropäische Klugheitsregel, wonach im Verständnis der Bevölkerung der Fürst zwar herrschen, aber nicht regieren sollte. 726 Vgl. Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte, 4 Bde., Stuttgart: DVA 1983/1985. 238

darüber nachgedacht, ob eine aufgeblähte727 beziehungsweise all- zuständige Verwaltung im Sinne von Hegel mit dem Demokratiever- ständnis beziehungsweise Marktbedürfnissen vereinbar ist728, wie- wohl der administrative Überhang als „thätig werdende Verfassung“

(Lorenz von Stein) allemal politisch gewollt war/ist und daher eher eine regierungsamtliche (d.h. parteipolitische) Zuständigkeitswut spiegelt(e) als eigenwillige Arrondierungen von Zuständigkeiten durch die Beamtenschaft.729 Vom Übermut der Ämter ist gleichwohl zu hö- ren, denn „Herrschaft im Alltag heißt Verwaltung“, formulierte Max

Weber, der schon um die vorletzte Jahrhundertwende von der Büro- kratie als von einer „leblosen Maschine“ sprach, unablässig an der

Arbeit, das „stahlharte Gehäuse“730 der Hörigkeit einer Zukunft in

Verwaltungshänden herzustellen, wie verschieden deren Tätigkeit als gesellschaftliche Instrumentalisierung von Vorausschau auch zu ver- stehen bleibt:

• „In der Bürokratie ist die Identität des Staatsinteresses und des be- sonderen Privatinteresses so gesetzt, daß das Staatsinteresse zu ei- nem besonderen Privatzweck gegenüber den anderen Privatzwecken wird“731

727 1998 zählte allein die Landesverwaltung in Nordrhein-Westfalen mit 17, 8 Millionen Einwohnern 12 Ämter für Arbeitsschutz, 28 Bauämter, 50 Kreis- polizeibehörden, 54 Schulämter, 3 Seemannsämter, 12 Umweltämter, 147 Finanzämter, 6 Bergämter, 12 Eichämter, 11 Versorgungsämter, 8 Ämter für Agrarordnung etc, insgesamt über 400 landeseigene Sonderbehörden. 728 So Clemens August Andreae: Übermacht der Ämter, Wirtschaftswoche Nr. 49 (1981), S. 58 ff. 729 Obschon diese in den Augen der Öffentlichkeit für die politisch inititier- ten Zuständigkeitsanmaßungen aller Art gerade stehen muß, was sie als ‚vorderste Front des Staates’ zum geeigneten Ärgerobjekt der Bürger macht, nicht zuletzt verschuldet durch den weiterhin obrigkeitlichen Stil des Auftretens gegenüber den Steuerzahlern. 730 Die protestantische Ethik und der ‚Geist’ des Kapitalismus (1904/1905), Hrsg. Klaus Lichtblau/Johannes Weiß, Bodenheim: Athenäum etc. 1993, S. 153. 731 Karl Marx: Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW 1, S. 203 ff., hier S. 250. 239

• „Die Bürokratie ist ein Machtinstrument, das vorwiegend die Interes- sen der herrschenden Schichten verfolgt“732

• „Je weniger der produktive Mensch seinen Machwerken gewachsen ist, umso pausenloser, um so unermüdlicher, um so gieriger, um so panischer vermehrt er das Beamtenvolk seiner Geräte, seiner Ungerä- te und Untergeräte“.733

Die Ausweitung aller Staatsfunktionen mit Hilfe von „Büralisten“ (vom

Stein) samt ihrer „unseligen Regierungssucht“ (Wilhelm von Hum- boldt) schien/scheint unaufhaltbar, sie sind in einem früher unvor- stellbaren Ausmaß zum Begleiter der Moderne geworden. Was hielt/hält dieses Anwachsen in Gang? Ist es die zunehmende Unsi- cherheit der Weltläufte?734 Gar das Eigeninteresse des Systems, sich durch Ausweitung der Eingriffsspielräume mehr Macht und damit

Chancen der Selbstrekrutierung zu sichern? Der Kritik an einem förm- lichen ‚Fürsorgezwang’, der die Privatinitiative beeinträchtigt, wider- spricht die Feststellung, der Staat werde tätig, wo und wenn etwa

‚Marktversagen’ selbst Regelungsbedarf schafft.735 Der Forderung nach „Entstaatlichung“, auch als Abmagerung der Regierung, treten

Thesen von einer Verbreiterung, ja Systematisierung und Respeziali- sierung der Staatstätigkeiten angesichts wachsender Katastrophen-

Risiken736 oder sich verschärfender Krisen der Sozial- und Umwelt-

ökologie entgegen, die mitten in der Nachmoderne durch Irritationen aller Art (Wandeldruck, Regellosigkeit, Entgrenzung, Desorientierung etc.) an frühindustrielle Verhältnisse gemahnt mitsamt ihren Unzu-

732 Marris, P./M. Rein: Dilemmas of Social Reform: Poverty und Community Action in the United States, London: Routledge 1967, S. 45. 733 Günther Anders: Antiquiertheit (Anm. 444), S. 35. 734 Wie Walzer (Anm. 611, S. 113) vermutet. 735 Nicht zuletzt deswegen ist aus dem zehnbändigen Werk der 1970 vom Deutschen Bundestag eingesetzten ‚Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts’ bisher wenig geworden. 736 Tempêtes, marée noire ...: L’ état relève la tête, Libération vom 5. 1. 2000, S. 1 - 4. 240

träglichkeiten für die Sicherheit und Freiheit der betroffenen Zeitrei- senden.

Das Wesen und der Vorzug, also das Geheimnis des Staates ist die

Ordnung, denn die „verborgene Logik“ aller Gesellschaftlichkeit be- steht laut Gabriel Tarde737 in einer Art von „ursprünglichem und uni- versellem Bedürfnis nach interner Koordination“. Der komplexe Zu- sammenhang, der historisch zwischen ‚Leistungsfähigkeit der öffentli- chen Hände + kollektiver Fügsamkeit als Ausdruck von Zugehörig- keitsgefühl und Partizipationsbereitschaft’ besteht, bleibt laufenden

Debatten oft verborgen, obschon es um die Substanz des Politischen geht. Beschwerden begleiteten indes von Anfang an die Karriere der

Bürokratie. Die Bezeichnung selbst entstammt der Kritik an dem Be- vormundungswesen des Absolutismus. Seit Wilhelm von Humboldt warnten liberale Zeitgenossen vor einer Administration im Selbstlauf, die einen „omnipotenten Staat“738 nach sich zöge. Konservative Ein- sprüche gegen den ‚künstlichen Behördenstand’, der das hergebrach- te Prestigegefälle verwirbelte, bewirkten ebenso wenig, um von sozia- listischen (Assoziation), anarchistischen (Akephalie) oder räte- demokratischen Einlassungen abzusehen. „Es kann keinem Zweifel unterliegen“, kommentierte der Staatswissenschaftler Mohl739 diese

Eigendynamik, „dass die Regierungen durch die ... auch in Deutsch- land überall durchgeführte Ausbildung des Verwaltungs-Organismus ein grosses Mittel der Macht und des Gehorsams gewonnen haben.

Die logische Abtheilung der Behörden, die genau bestimmte Über- und

Unterordnung derselben, die ins Einzelnste gehende Feststellung ih- rer Zuständigkeiten geben Sicherheit und Raschheit des Handelns und verhindern Reibungen unter den Organen selbst. Das über das

737 Les transformations du pouvoir, Paris: Alcan ²1909, S. VII. 738 So Ludwig Windthorst am 24. Mai 1878 im Reichstag, Sten. Ber. 1878/Bd. 2, S. 1529. 739 Politik (Anm. 478), S. 44. 241

ganze Gebiet ausgespannte Netz von Beamten verschiedener Art ge- währt an jedem Punkt und in jeder Angelegenheit das Mittel zu ge- nauer Beobachtung und zu unmittelbarem Handeln, also zu einem ü- berall und Jedem fühlbaren Einflusse.“ Der Autor selbst bekam diese

Allgegenwart mitsamt ihrer „unbedingten Gehorsamspflicht des Unter- geordneten“ zu spüren, als er Regierungsmaßnahmen in Frage stell- te740, dennoch fand sich das Bürgertum im Aufbruch insgesamt mit dieser Entwicklung ab. Die anhebende Verwaltungsstaatlichkeit war zwar kostspielig741, sie eröffnete dem vermögenslosen Bildungsbür- gertum im „Paradiese der Bureaukratie“ (Mohl) erhebliche Aufstiegs- chancen, so dass frei nach ‚Subalternität im Tausch gegen Versor- gung’ von einem „Bündnis zwischen bürgerlicher Akademikerschaft ... und dem Reformstaat“ zu sprechen ist742. Mit der neuzeitlichen Verwaltung schufen Staat und Regierung sich

über die Folgepflicht ihres Personals ein loyales Werkzeug der

Kustodialität, das allzuständig auftrat und zugleich der heraufdrän- genden Modernisierungskrise via Analyse (Sozialwissenschaften), De- zision (Administration) und Intervention (Zuständigkeit) instrumentell gewachsen zu sein schien.743 Zwar setzte sich nach und nach das

740 Vgl. Erich Angermann: Robert von Mohl (1799 – 1875). Leben und Werk eines altliberalen Staatsgelehrten, Neuwied: Luchterhand 1962, S. 52 f. 741 Ihre Vorteile beschreibt Max Weber (Wirtschaft [Anm. 122], S. 559 ff.) als unabdingbar für die Effizienz-Moderne (S. 569 f.), wiewohl er den „durch die Mittel der Bürokratie Beherrschten“ (Gesammelte Politische Schriften, Hrsg. Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr ²1958, S. 327) mit einer Parlamentarisierung der Zeitläufte politische Entlastung entgegen zu kommen versucht: Demokratie und Verwaltung gelten als Widersacher, die nur füreinander arbeiten können, wenn sie zugleich gegeneinander organi- siert sind. 742 Bernd Wunder: Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 32. 743 Lagen die Anfänge dieser Zweckverwaltung auch in Süddeutschland, erfolgte in Preußen eine „Militarisierung der Verwaltung“ (Wunder), deren Effektivität durch die Einführung von Leistungsnachweisen gesteigert wur- de. Diese Militarisierung der Bürokultur hatte zur Folge, dass der soziale Gegensatz zwischen Offizieren und Mannschaften auf die Unterscheidung zwischen Akademikern und Nichtakademikern in der Zivilverwaltung über- tragen wurde. Derart verschmolz jenes in die höhere Verwaltung einrü- 242

Leistungsprinzip durch, berufsspezifisch geprägt als Juristenmonopol; die Verbeamtung sah sich weiterhin individuell wie gruppenspezifisch als Belohnung für Wohlverhalten eingesetzt744, und sie wirkte als

Disziplinierung. Ganze Schichten wurden an die bestehenden Verhält- nisse gebunden und gleichzeitig gegen deren angebliche Gegner mo- bil gemacht. Dabei blieb der Zugang zur Heerschar der Staatsdiener anfangs exklusiv. Frauen, Juden und „Sozis“ waren unerwünscht, erst in der Weimarer Republik wurden die Chancen vorurteilsfreier verteilt.

Als Grundmuster der Behördengeschichte lässt sich die fortschreiten- de und anhaltende Ausweitung des Verwaltungsbedarfes745 ebenso festhalten wie die Trägheit einmal eingerichteter Verfahrenswei- sen.746 Unabhängig vom wirtschaftlichen Auf und Ab, unberührt zu- dem von den politischen Zeitläuften erfüllt(e) die seit der Industriel- len Revolution zum administrativen Kernbereich der EliteD zählende

Beamtenschaft ihren Dienst nach „Schema F“747, das allerdings hand-

ckende Bildungsbürgertum mit dem gebildeten Adel zu einer monarchisch- etatistischen Elitengruppe. Dieser Anpassungsvorgang feudalisierte im weiteren auch das Besitzbürgertum. Die langsame Parlamentarisierung des Regierungsapparates, wie er sich im westlichen Ausland vollzog, wurde im Wilhelminismus fast verhindert. Auch von der vielgerühmten Neutralität der „bureaumanie“ (de Gournay) konnte keine Rede sein: Das ‚Reichsbeamten- gesetz’ (1873) verlangte nicht nur Systemtreue, der Beamtenschaft wurde vielmehr eine Art von Zustandstreue abverlangt. 744 Obschon es mit der Bezahlung des öffentlichen Dienstes lange Zeit e- her mager aussah, vor allem für die große Masse der einfachen Beam- tenstellen. 745 Allein seit 1950 hat sich die Zahl der öffentlich Beschäftigten hierzu- lande verdoppelt. 746 So war es auch in der ‚Stunde Null’ nicht möglich, das Laufbahn- durch das Effektivitätsprinzip zu ersetzen, trotz intensiver Bemühungen der Be- satzungsmächte. Nicht einmal ein ‚Trottelparagraph’ ließ sich einführen, der bei anhaltender Untätigkeit oder Unfähigkeit die Entlassung aus dem Staatsdienst ermöglichte, obschon doch bereits Pufendorf (vgl. Anm. 440, S. 68) betonte: „Wenn dem Souverän letztlich alle verkehrten Handlungen der Beamten angerechnet werden, so muß ihm mit Notwendigkeit auch das Recht zustehen, ihre Handlungen zu überprüfen und wegen Vergehen sie des Amtes zu entheben“. 747 „Die Diktatur des Beamten, nicht die des Arbeiters, ist es, die ... im Vormarsch begriffen ist“, kommentierte Max Weber (Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen: Mohr 1924, S. 508) diese Per- sistenz. 243

lungstechnisch ausgesprochen reagibel sein konnte, wie die Leis- tungsfähigkeit (Wohnungsbewirtschaftung, Infrastrukturreparatur, Ge- sundheitswesen etc.) in der Trümmergesellschaft zur Stunde Null be- wiesen hat. Jede Funktionsbeschreibung der historischen Rolle des

Staates (Abgrenzung, Schutz, Umverteilung, Integration, Regelhaftig- keit, Enkulturation, Übersichtlichkeit, Homogenisierung, Sozialanglei- chungen etc.)748 berührt nicht nur das gespannte Verhältnis von Ord- nung und Selbstbestimmung, „gerade die beste Bürokratie pflegt die drückendste und unausstehlichste zu sein“749. Vor allem stellt sich die Frage nach der Autonomie der Politik gegenüber anderen gesell- schaftlichen Mächten, wie sie sich historisch etwa seit der Verdrän- gung von sapientia durch prudentia im öffentlichen Raum als Enttradi- tionalisierung fixieren lässt, gegenwärtig erneut als Überformungsdi- lemma: Wenn auch längst nicht mehr durch religiöse, moralische oder andere Vorbehalte, so doch zunehmend im Sinne monetäre etc. Ein- flüsse, Begrenzungen oder Perspektiven... Insofern/dennoch pflegt die Öffentlichkeit erhebliche Kompetenzillusionen. Der moderne Staat erscheint als Koloss, er steht indes auf tönernen Füßen. Der Mythos staatlicher Allmacht dient(e) der Verschleierung des Ausmaßes, in dem seine Etats von mächtigen Verteilungskoalitionen ausgebeutet werden und seine externen wie operationalen Korrekturchancen blo- ckiert sind. Was bleibt vom demokratischen „Instrumentalitätsmythos“

(Jänicke), wonach gesellschaftliche Institutionen handeln, wie es die zu ihrer Zielbestimmung berufenen Wähler oder Politiker wollen? Die regierungs-staatliche Allverantwortlichkeit ist längst fiktiv, und das

„Kabinett vollzieht zumeist nach, was die Bürokratie vorbereitet

748 Zur Genese dieser Aufgaben vgl. Herfried Münkler: Im Namen des Staa- tes, Frankfurt am Main: Fischer 1987, S. 261 ff. 749 Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen De- mokratie (1911), Stuttgart: Kröner ²1925, S. 167. 244

hat“750, obschon die politischen Entscheidungsträger vor der Öffent- lichkeit für mögliche Fehler den Buckel hin zu halten haben. Die

Ohnmacht der politischen Eliten in Parteien und Parlamenten, um von schwach organisierten Allgemeininteressen zu schweigen, gegenüber dem Staatsapparat, den Vorgaben wirtschaftlicher Verbände, transna- tionalen Prozessen oder der Einflussmacht der Medien scheint evi- dent. Dass der Staat weiter den ‚ideellen Gesamtbürger’ (Hegel) dar- stellt751, der im Hier und Heute das gesellschaftliche Morgen vertre- ten kann, wirkt immer unglaubwürdiger angesichts der Dominanz von

PartiaI- beziehungsweise des Drucks von Privatinteressen nicht nur des vergangenen Kohle- und Stahl-Zeitalters, sondern auch in der globalisierten Wissensgesellschaft in nuce nicht allein mit Blick auf die Umweltbelastungen. Dieses Versagen war schwerlich zu vermei- den, seit der Staat zur Lösung aller Schwierigkeiten Verfahren wählt(e), die ihn in die Probleme verstrick(t)en752, die er zu regeln vorsah/vorgibt. So wurde/wird an Symptomen kuriert, wohingegen die sozial-strukturellen Grundlagen, denen sich die Risiken verdanken, gesellschaftspolitisch tabu bleiben, wissenschaftlich eskamotiert wer- den oder sich öffentlich ignoriert sehen. Der private Kalkül mit seiner betriebswirtschaftlichen Froschperspektive etwa steht nicht zur Dis- position, weil die Marktmoderne ohnedies von dem lebt (Produktivität als Funktion der Rendite), was sie ökologisch, kulturell, politisch etc. beeinträchtigt oder auch bedrohen kann. Der Staat übernimmt in einer

750 So Thomas Ellwein: Kontrolle der Bürokratie oder Kontrolle durch die Bürokratie?, in Politische Vierteljahresschrift 1970, Sonderheft: Probleme der Demokratie heute, S. 171. Dies Abhängigkeitsverhältnis sieht sich durch die Tatsache unterstrichen, dass auf einen Minister mehr als 26 000 öffentliche Bedienstete kommen. 751 Diese Vorstellung war selbst im Westen keineswegs selbstverständlich, in der amerikanischen, italienischen etc. Tradition galt ‚der Staat’ eher als Prämie und Pfründe, die der stärksten Gruppierung bei Machtgewinn in den Schoß fällt. 752 Vgl. Georg Vobruba: Jenseits der sozialen Frage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. 245

„Reparaturgesellschaft“ (Leggewie) mehr und mehr Entsorgungsfunk- tionen, soweit sie sich nicht privatisieren lassen. Er muss ausbügeln, was andere verwirken, für die Verhütung von Schäden ist wenig zu tun, weil die politische Klasse als Medium individueller Nutzenmaxi- mierung (Wiederwahl) in ihrer Gesamtheit kurzfristigen Veranschla- gungen unterliegt. In der Energiepolitik, der Umweltbelastung oder der Frage nach der Sicherheit, überall hinken die Behörden hinterher, werden Schadensregulierungen immer teurer, deren Ursachen hinge- gen wirken fort.753 Wie soll es ordnungspolitisch weitergehen, wenn mit dem Staat zugleich der ideelle, da per se nicht konkurrenzabhän- gige Regulator754 als Wegbereiter einer gedeihlichen Zukunft in Na- tur, Gesellschaft und Kultur weiter ins Abseits gerät?

Eine adäquate Interventionslehre müsste mithin, nicht zuletzt mit

Blick auf die Kontrolle der innergesellschaftlichen Risikoverteilung, der Pflege des Sozialkapitals sowie der Chancensicherung, dem selbstverschuldeten Zuständigkeitsschwund755 begegnen oder wenigs- tens eine Regelungsalternative756 mit gleicher Reichweite, entspre- chender Neutralitätschance und ähnlichem Niveau aufweisen. Wenn

753 In seinem Bemühen, etwa der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken, ver- schrieb sich der Staat der Zusammenarbeit mit Leitindustrien oder Druck- gruppen mit wahlentscheidendem Gewicht. Er beseitigte nicht nur deren soziale oder ökologische Hinterlassenschaften, er subventionierte sie nach Kräften. Da sich indes die Industrietechnik immer schneller wandelt, ste- cken die staatlichen Finanzressourcen in Wirtschaftszweigen fest, die über eine eng mit dem Staatsapparat verzahnte Bürokratie verfügen. Solcherart sind nicht einmal in Wirtschaftskrisen zukunftsweisende Modernisierungen einzuleiten. 754 Die mit der deutschen Einigung augenfälligen Neuordnungserfordernis- se haben die Unabdingbarkeit des Gestaltungsstaates als Klärungskompe- tenz unterstrichen. 755 Mit gutem Grund hält Ottfried Höffe (Tauschgerechtigkeit und korrekti- ve Gerechtigkeit, in Grimm [532], S. 713 ff.) diese Erosion für eine „per- spektivische Täuschung“ der polititik-soziologischen etc. Staatsredundanz- theorien. 756 Was in der Deregulierungsdebatte (kritisch z.B. Simon Jenkins: Ac- countable to None: The Tory Nationalisation of Britain, London: Hamis Ha- milton 1995) zumeist ebenso unterbleibt wie in der Minimalstaatstheorie (dazu Norman P. Barry: On Classical Liberalism and Libertarianism, Lon- don: MacMillan 1986, S. 132 ff.). 246

die öffentliche Zentralinstanz sich als Rechts- oder Sozialstaat zu- rückzieht, schwindet der Orientierungsbedarf ebenso wenig wie das

Entscheidungsvolumen abnimmt. Überdies trifft zu, dass „Macht sich nicht im gleichen Maße schwächt, wie sie verteilt wird“757. Parallel zur Demonopolisierung der gesellschaftlichen Ordnungskapazität im

Staat wird anderswo angeordnet, verfügt oder geregelt, allerdings nicht mehr kontrollierbar oder nach Kriterien der öffentlichen Nutzen- maximierung beziehungsweise Gerechtigkeitsverbesserung.758 Es muss nicht gleich wie in jenem Edikt des Kaiser Galerius aus dem

Jahr 311 um die Beschwörung gehen, dass „der Staat allerseits un- versehrt bestehen bleibt“759; gleichwohl fragt sich mit Blick auf allfäl- lige Anzeichen von Stress, ob die vielen Schwierigkeiten und Sorgen dem öffentlichen Bewusstsein zu einem angemessenen Regelungsver- ständnis verhelfen? Oder überhaupt erst für dessen Bedarf sorgen?

Die postmodernen Gegebenheiten einer funktional-notwendigen Plura- lität benötigen mehr als Glauben an den starken, wenngleich ge- schröpften Staat, soll sich die entfaltete Industriegesellschaft durch den Mangel oder Schwund an Sozialkapital760, Verlässlichkeit, Regel- gerechtheit etc. nicht den Verhältnissen annähern, wie sie in den

757 Pierre Naville: Le Nouveau Léviathan (6 Bde., 1957 ff.), Bd. 5, Paris: Anthropos 1972, S. 12. 758 Aller Deregulierung als Kosten-Nutzeneffektivierung der öffentlichen Hände zum Trotz benötigt die Hochmoderne eher mehr Steuerungskapazi- täten, um die öffentlichen Angelegenheiten in globalisierten Zeitläuften zu stabilisieren. Ohne politische Führung ist kein Durchkommen, wiewohl jede zeitgemäße Staatsdefinition auf Transparenz und Konsensualität verwiesen bleibt. Vor diesem Erfahrungshintergrund ergibt sich mithin ein weiterer Problem- und Aufgabenkreis. Es geht nicht nur um die Modernisierung der Staatsstrukturen, der Neuerungsdruck stellt ganz allgemein besondere An- forderungen an das Gewaltmonopol. Die Transformation ist ebenso tempo- gerecht wie produktiv zu inszenieren. Diese Aufgabe mutet den Eliten men- tal, finanziell und auch verwaltungspädagogisch erhebliche Kreativität ab. 759 Zit. Hans Ulrich Instinsky: Die alte Kirche und das Heil des Staates, München: Kösel 1963, S. 61 ff. 760 Vgl. Allan Wallis u.a.: Social Capital and Community Building, National Civic Review, Bd. 87/Nr. 3 (Herbst 1998), S. 253 ff. 247

Transformations-761 beziehungsweise Entwicklungsgesellschaften

herrschen: Neben Unternehmermut, Sicherheit der Eigentumstitel, Inf-

rastrukturen, Leistungsverwaltung u.a.m. fehlen diesen Gebilden vor-

nehmlich moralische und republikanische ‚Tugenden’, die sich als be-

lastbare „Ligaturen“ (Dahrendorf) nicht von oben verordnen lassen762.

Der appetitus socialis muss nicht nur von den Eliten ernstgenommen,

gepflegt und vor allem behütet werden: Unser Geselligkeitstrieb als

evolutions-konditionales Erbe der Hordenherkunft benötigt zudem

nach

- aller historischen Erfahrung

- begründungsphilosophischer Übereinkunft

soziokulturelle Voraussetzungen763, die insgesamt weder allzu pluto-

kratisch (= Asymmetrie) noch tendentiell ochlokatisch (= Anomie) aus-

fallen dürfen, soll das innergesellschaftliche Chaos- oder Dissensvo-

lumen die Epoche politisch nicht zur Pseudowahl zwischen Unordnung

und Unfreiheit nötigen.

761 Dazu die Beiträge in Arndt Hopfmann/Michael Wolf (Hrsg.): Transforma- tion und Interdependenz. Beiträge zu Theorie und Empirie der mittel- und osteuropäischen Systemwechsel, Münster/Hamburg: LIT 1998. 762 Was sie von ‚Zusammenbruchsgesellschaften’ wie etwa in Deutschland nach 1945 unterscheidet, wo trotz Verheerungen, Mangel, Fremdbestim- mung ff. sowohl die Verwaltung (etwa die Wohnungsbewirtschaftung) funk- tionierte als auch Effizienz, Leistungsgesinnung und öffentliches Verant- wortungsbewusstsein zwar durch die Diktatur beschädigt, aber in ausrei- chendem Maße vorhanden war. 763 Zu dieser Bedingungsdebatte vgl. Robert N. Bellah u.a.: The Good So- ciety, New York: Knopf 1991. 248

7: Elitenprofile „Eine Neigung, zu bewahren, und die Fähigkeit, zu erneuern, nimmt man sie zusammen, machen einen Staatsmann aus“764

Am besten ist das Bestverwaltete: Nach Alexander Pope765 wirft die

Elitenfrage erhebliche Standortprobleme auf, da sie gesellschaftspoli- tische Evaluation bedingt, will man nicht mit Joseph Schumpeter die

Führungsriegen von vornherein als ideal, da im Wettbewerb hinrei- chend gesiebt betrachten. Entsprechend beschäftigt dieser Dauer- brenner der Sozialwissenschaften noch jede Dekade766, der Zeitgeist wirkt auch hier ausgesprochen volatil. In den 1970er Jahren etwa war es kaum möglich, das Wort ‚Elite‘ nur zu erwähnen, ohne als ewig

Gestriger dazustehen. Schon in den Jahrzehnten davor war das The- ma umstritten, wenngleich aus anderen Gründen. Das Dritte Reich sah sich einem Versagen der Eliten angekreidet767, die nicht zuletzt im

Vorfeld des Dramas von 1933 alles andere als ‚elitär’ gehandelt hat- ten. Oder taten sie darin des Guten zuviel? Rief die haute volée den braunen Zuchtbesen gegen Zumutungen der Demokratie zu Hilfe, und wurde wie in Goethes ‚Zauberlehrling’ (1797) diesen „Hexenmeister“ nicht wieder los? Doch welche Bevölkerungsgruppe sah sich als Elite angesprochen? Und woher stammten die Beurteilungskriterien? Die babylonische Verwirrung, die bei Beantwortung dieser Fragen vor- herrscht, klingt kaum ab, ebenso wenig die terminologischen Zerle- gungs-Anstrengungen in politische Klasse, Oberschicht, Macht-, Wert-

, Funktionselite etc. Einwände gegen die Beschwörung von Eliten gel-

764 Burke: Reflections (Anm. 212), S. 153. 765 „Whate’er is best administer’d is best“, Essay on Man (1733/1734), in: Collected Poems, Hrsg. Bonamy Dobrée, London/New York: Dent & Dutton 1963, S. 181 ff., hier S. 204. 766 Vgl. den Diskussionsüberblick von Wilhelm Weege (Politische Klasse, Elite, Establishment, Führungsgruppe, S. 35 ff.) in Thomas Leif/Hans-Josef Legrand/Ansgar Klein (Hrsg.): Die politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand, Bonn/Berlin: Bouvier 1992. 767 Fritz Fischer sah hier eine Prolongation jenes ‚Bündnis der Eliten‘ (Düsseldorf: Droste 1979), das die deutsche Geschichte ruiniert habe. 249

ten als Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit; zugleich ist von Volks- verdummung zu hören, wird darauf verwiesen, dass die Bevölkerung nicht nur in der Politik gern souverän geführt werden will und oft ge- radezu schwärmerische Beziehungen zu einem „maître admiré“ (Tar- de) sucht. Die Mit- und Nebenbedeutungen von Elite schließen einen klaren Kopf leicht aus, Nüchternheit in der Sozialwelt ist ohnedies rar. Als Alltagsbegriff steht ‚Elite’ zudem in einem Spannungsverhält- nis zur Demokratie768, deren Politik ebenso ‚physiologisch’ fundiert zu sein scheint wie sie ideologisch temperiert wird. Folglich ist von der „Unerläßlichkeit einer Führung auf alle Gebieten des sozialen Le- bens“ die Rede769, jedenfalls „in jeder höheren Form gesellschaftli- cher Organisation“, so dass sich die Frage absurd anhört, ob es für das Funktionieren der Gesellschaft eine Rolle spielt770, wer jeweils am Ruder steht. Zu beobachten ist vielmehr ein sozial- kommunikatives Strukturphänomen, das auf die eine oder andere Wei- se wirkt, ob das den Diskutanten recht/bewusst ist oder nicht. Elite- gruppen als Dachkonstruktionen der „chefs réels“ (Alain) bestehen wie Macht oder Ungleichheit in allen Vergesellungsformen, unter wel- chen sozialen Funktionsbedingungen immer. Gleichermaßen als Not- wendigkeit, Befund und Problem sind sie nicht zu ignorieren, Schwei- gezwänge heben das Unbenannte weder auf, noch tilgen sie dessen historische Spur oder erklären den Bedarfsdruck beziehungsweise die

Vergesellungslogik, die es hervorruft.771

768 Vgl. Arno Waschkuhn: Sind Eliten (un)demokratisch?, in: Wolfgang Luthardt/Arno Waschkuhn (Hrsg.): Politik und Repräsentation, Marburg: Schüren 1988, S. 29 ff. 769 Sidney Hook: Der Held in der Geschichte. Eine Untersuchung seiner Grenzen und Möglichkeiten, Nürnberg: Nest 1951, S. 13. 770 Vgl. die Diskussionsbeiträge in Moshe M. Czudnowski (Hrsg.): Does Who Governs Matter?, DeKalb, Illinois: Northern Illinois UP 1982. 771 Die modischen Übertreibungen der immer wieder aufbrechenden Elite- debatte verweist auf ideologische Falltüren. Leicht gerät zur Elite, was man selbst zu sein meint. Oder es fasst zusammen, was abgelehnt wird. Soll hingegen auf die Eliten im Sinne demokratischer Verantwortung zu 250

In einer pluralistischen Gesellschaft, die außer Regelhaftigkeiten kei- nem Wertekanon (ver)traut, der mehr zu sein beansprucht als „eine hochmobile Gesichtspunktmenge“ (Luhmann), bleiben Erwartensprofi- le an die „key-men“ (Irving Fisher) allerdings ebenso umkämpft wie deren Aufstiegsmodalitäten oder Beurteilung. Mit Blick auf den post- autoritären Normenhorizont von Verfassungen772, wie er seit jener kühnen Menschenrechtserklärung vom 26. August 1789 der Neuzeit wenigstens als Utopie vorlag, fanden sich zugleich verbindliche Vor- stellungen

- einer zweckgerechten Zusammensetzung

- der eigentlichen Pflichten

- des angemessenen Drucks zur Rechenschaftslegung für das aufgabengerechte Handeln der nachfeudalen Eliten mitformu- liert. Nicht zuletzt haben sie „das größte Glück der größten Zahl“ zu vertreten, mithin jenes kollektive Glückskalkül, formuliert 1776 durch

Jeremy Bentham773, Modephilosoph der industriellen Frühzeit, die weitgehend angelsächsisch geprägt war.774 Zudem lässt sich eine per

Eliten vermittelte Freiheit-Macht-Relation darstellen, die das erforder- liche Entscheidungsvolumen im politischen Raum zweckhaft mit des- sen notwendiger/erwünschter Offenheit kombiniert (vgl. Figur 4). Die

Justierung von Macht und Kompetenz verringert(e) die Gefahr von

Funktionsblockaden durch elitär vermittelte Interessenüberhänge, zu-

zählen sein, muss das Gemeinwesen den sozialformativen Formkräften des Gesellschaftlichen klare Aufgaben und Grenzen stellen sowie Vergütungen definieren. 772 Beginnend mit der ‚Constitution’ vom 3. 9. 1791, vgl. Léon Duguit u.a. (Anm. 198), S. 1 ff. 773 A Fragment on Government (London 1776), Vorwort; vgl. Bentham’s Po- litical Thought, Hrsg. Bhikhu Parekh, London: Croom Helm 1973, S. 309 ff. 774 Und es beim Übergang zum mondialisierten Börsenkapitalismus mit sei- nem Begriff des ‚Arbeitskraftvermarkters’ (vgl. Richard Biernacki: The Fabrication of Labor. Berkeley u.a.: Calornia UP 1995) unserer Tage er- neut wird, vgl. zur Imitation des Neoliberalismus durch die europäische Sozialdemokratie Gérard Desportes/Laurent Mauduit: La gauche imaginaire et le noveau capitalisme, Paris: Grasset 1999. 251

dem sublimiert(e) sie jene geschichtsnotorische „Trunkenheit des

Kommandierens“. Sie hält Alain775 neben dem „Die-Dinge-Regeln-

Können“, einer „Kunst der Überzeugung“ sowie der Ambitionsbrunft zwar für die Vorausbedingung von Durchsetzungsfähigkeit776, die den

Rohstoff aller Politik bildet; ungezähmt beziehungsweise selbstzweck- haft allerdings zeitigt diese Führungsenergie ebenso wie ein

Freiheitsverständnis ohne Regeln eher gemeinschaftsschädliche Ef- fekte.

Figur 4777

pluralistisch

mehrparteilich oligarchisch

atomistisch totalitär

Freizügigkeitsgrad

Machtballung Freiheits-Machtkonzentrations-Relation

Dieses Anspruchsprofil an Führungsgruppen galt/gilt daher auch für jene Kräfte, die seit der Industrie-Epoche etwa in Form sozialistischer

Vorhaltungen wider das Etablierte als sozialoppositionelle Gegen- oder gar systemoppositionelle Anti-Eliten auftraten. ***

Insert 3: Gegeneliten auf dem Prüfstand politischer Kompe- tenz

775 Propos (Anm. 619), S. 179 f. 776 Neben objektiven Gegebenheiten/Hemmungen wie Raum, Zeit, Ressour- cen, Einstellungen oder dem jeweiligen Stand der Sozialerfindungen (Re- gelwerke) etc. 777 Der innergesellschaftliche Zustimmungsgrad muss dieser Kurve aller- dings nicht entsprechen. 252

„Die Freiheit der Welt ist solidarisch“778

Erfolgreiche Politik ist verhindertes Scheitern, was das Ertragen be- ziehungsweise die Integration von Widersprüchen erfordert, um das

Igeldilemma à la Schopenhauer, Missverständnisse unter Fremden beziehungsweise jene Feindschaftsregel nach Carl Schmitt in Schach zu halten, der als „Analytiker des Interims“ (Altmann) das Politische zum Nullsummenspiel zugespitzt hatte. Wenigstens den administrati- ven Führungskräften in Politik und Verbänden ist das Ringen um eine interaktive Auslegung des Gemeinwohlbegriffs als Leistungsnach- weis779 ebenso aufgetragen wie hinreichende Geistesgegenwart, um auf der Höhe sich rasch wandelnder Herausforderungen zu bleiben.

Das schließt jeweilige Gegeneliten ein, denn nicht nur die kataskopi- sche Arroganz der Herrschaftskreise war seit Beginn der Fabrikwelt nicht besonders problem-angemessen, auch ‚Parteivaterländer’ wirk- ten kaum offener. Mit Bezug auf die Zustände blieben Für und Wider vielmehr gleichermaßen legitimatorischen Leitbegriffen (Frei- heit/Gemeinwohl etc.) aller modernen Weltgestaltung relational ver- pflichtet.780 Die Gegeneliten teil(t)en folglich die neuzeitlichen Füh- rungsprobleme (Glaubwürdigkeit + Effizienz) samt epochalen Schwie-

778 Georg Herwegh: Xenien und Aphorismen (1841/1849), in Bruno Kaiser (Hrsg.): Der Freiheit eine Gasse, Berlin: Volk und Welt 1948, S. 191. 779 Was wenigstens formell die überkommenen Staatsparteien vorbehaltlos akzeptierten: Vgl. K. H. Biedenkopf (Auftrag und Ethos der CDU, S. 3 ff.); Erhard Eppler (Parteipolitik zwischen Machtstreben und Gemeinwohl, S. 13 ff.); Otto Graf Lambsdorff (Politik unter Sachzwängen - Gibt es noch eine politische Alternative?, S. 21 ff.); F. J. Strauss (Das Verhältnis von Pro- gramm und Pragmatismus in der politischen Praxis, S. 28 ff.), in: Aus Poli- tik und Zeitgeschichte Nr. 32/33 (1976). 780 Im Sinne von Mannheim: Ideologie (Anm. 472): Später sah Mannheim (Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, Leiden: Sijthoff 1935, S. 60 ff; 90 ff.) ElitebildungF durch „Vermassung“ bedroht, so dass es nicht nur zu einer Schwemme und damit einer Schwächung der Eliten komme, die noch dazu einem zweifelhaften Leistungsbegriff unterworfen würde: Im Er- gebnis sei eine Art von Pseudo-Elitisierung zu erwarten, weil sich in Zu- kunft vor allem die mobilen Elemente durchsetzen würden zum Schaden der Nachdenklichen und damit der Gesellschaft. 253

rigkeiten mit den amtierenden Eliten (Oligarchisierung + Hang zum pars pro toto), wiewohl politisch im Einzelnen deren Kollektiv- bezie- hungsweise Herrschaftsräson abweichend/innovativ zu interpretieren ist.

Die Sozialdemokratie als Beispiel

Eduard Bernstein, Jahrgang 1850: Wenigstens im Rückblick ist man in

Ost und West von der Triftigkeit seiner Vorstellungen überzeugt, die der Sozialopposition frühzeitig eine zwar marktverträgliche, gleich- wohl unablässige Reformarbeit nahegelegt hatten. Folgerichtig rief zu

Zeiten von glasnost in Moskau das Akademiemitglied Oleg Bobomo- low781 mit Blick auf die Schwierigkeiten, das durch den Sowjetismus verheerte Land zu modernisieren, zu einer Rehabilitierung der Lehren von Bernstein auf, den man als „alten Verräter am Marxismus“ (Bu- charin) gebrandmarkt hatte. Hierzulande gilt Bernsteins Buch über

„Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozial- demokratie“ (1899) inzwischen als ideengeschichtliches Schlüssel- werk782, obschon es bei Erscheinen mehr als umstritten war. Trat es doch unter Rückgriff auf das pragmatische Vernunftprogramm der

Aufklärung utopischen Zuspitzungen und Überhastungen der Fort- schrittseuphorie entgegen, Karl Korsch783 sprach daher vom „konse- quentesten aller unsozialistischen Sozialisten“. Mit beidem, mit der hellen Empörung wie der verzögerten Anerkennung, hatte der Autor nicht gerechnet. Bernstein war eher Schriftgelehrter als Agitator, sehr

781 Die Reformer werfen immer mehr Ballast über Bord, Die Zeit vom 20. 10. 1989, S. 1. 782 Vgl. Theo Stammen u.a. (Hrsg.): Hauptwerke der politischen Theorie, Stuttgart: Kröner 1997, S. 61 ff. In England hatte sich bereits C. A. R. Crosland (The Future of Socialism, London: Cape 1956) auf ihn berufen. 783 Schriften zur Sozialisierung, Frankfurt am Main: EVA 1969, S. 88. 254

zur Enttäuschung seiner Anhänger, die durch ihn eine aktive Kurskor- rektur der sozialdemokratischen Politik ihrer Zeit erhofft hatten, wäh- rend Bernstein gegen-elitäre Analysen der Oppositionsfunktionen vor- legte, um Änderungsmacht frei zu setzen, statt sie durch Ideologeme zu blockieren.

„Er trat an das Rednerpult“, schilderte Lily Braun784 im Jahr 1901 in

Berlin den sprichwörtlichen Anti-Marx jener Epoche. „Hinter den Bril- lengläsern sahen seine kurzsichtigen Augen mit einem verlegen- erstaunten Blick auf die Menge der Zuhörer. Dann sprach er. Mit einer

Stimme, die brüchig klang. In abgehackten Sätzen. Ein Mann, der an die Enge der Studierstube gewohnt war, nicht an die Volksversamm- lung.“ Ein Zweifler war gekommen, lautete das Resümée der Zuhöre- rin. War seine Analyse deswegen ebenso unnachsichtig wie deutlich?

Mit der Losung „den Thatsachen möglichst genau auf den Grund ge- hen“785 maß er die reale Sozialentwicklung im Lande an den Postula- ten einer Partei, die im Namen der Unterschichten die demokratische

Moderne erkämpfen wollte, zugleich jedoch frühindustriellen Lage-

Einschätzungen und Feindbildern verpflichtet blieb786, was sie, wenn auch auf andere Art und Weise, kaum von den Eliten an den Schalt- hebeln unterschied.

Dieser Bruch zwischen sozialistischen Änderungs- als Revolutions- träumen und lebensweltlicher Bedürfnislage der SPD-Anhänger ließ sich schon im Kaiserreich nicht übersehen, obschon selbst nach

Bernsteins787 Einschätzung in einer kapitalistisch verfassten Gesell- schaft „der Kampf um den Mehrwert“ als „die zuletzt bestimmende

784 Memoiren einer Sozialistin, Kampfjahre, München: Langen 1911, S. 386 f. 785 Bernstein: Vom zweiten Kaiserreich bis zur dritten Republik, in Louis Héritier: Geschichte der Französischen Revolution von 1848, Stuttgart: Dietz [1897], S. 693 ff., hier S. 710. 786 Vgl. S. Papcke: Der Revisionismusstreit und die politische Theorie der Reform, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1979, S. 37 ff. 787 Sozialismus einst und jetzt (1923), Berlin/Bonn: Dietz ³1975, S. 26. 255

Triebkraft aller großen wirtschaftlichen Bewegung“ anzusehen blieb,

„hinter denen, durch sie hervorgerufen, die großen politischen Kämp- fe ... stehen". Dennoch bemühte er sich im Sinne von „Romantik ist

Negation des Gegebenen“788 für die Gegenelite um partei-interne

Konsequenzen aus der Tatsache, dass die Arbeiter längst mehr zu verlieren hatten als ihre sprichwörtlichen Ketten. Der Kampf um

Mehrwertanteile ließ sich daher nicht länger durch die Drohung mit oder gar den Einsatz von kollektiver Gewalt führen - als ginge es

‚um‘s Ganze‘ -, sondern musste durch politische Aktionen im Sinne der Erhöhung des Umverteilungsdrucks gestaltet werden. Der „große

Kladderadatsch“ war ausgeblieben, der laut August Bebel bessere

Zeiten einläuten sollte. Stattdessen gab es Tarifkämpfe und den Ein- stieg in das Sozialversicherungswesen. Die marxistische Theoriebil- dung vermochte den immer schnelleren Wandel der Industriemoderne nicht angemessen zu verarbeiten, anderen Großtheorien jener Tage erging es kaum anders. Ideengeschichtlich entwickelte sich spätes- tens seit der Gründerzeit die Marxsche Lehre von der wissenschaftli- chen Thesenbildung zurück in eine Utopie, die für den einfachen

Mann nach und nach Züge eines Ersatzglaubens annahm.

Das war an sich nicht verkehrt. Gerade als Idealbild von einer gerech- teren Zukunft bleibt der sozialistische Gedanke ein für die Marktge- sellschaft notwendiger Anstoß zu Verbesserungen, und seine Eliten- vertreter nutzten diese Zukunftsvision auf dem Markt der Stimmen als

Kontrastprogramm. Vielen Anhängern von Bernstein war diese Rolle indes nicht hinreichend radikal. Sie glaubten weiter an jenen selbst von Rosa Luxemburg spöttisch zitierten „Hammerschlag der Revoluti- on“, der schon alles richten werde. Und sie hielten daran fest, ob- gleich die Gründungsväter Marx und Engels davor gewarnt hatten, ei-

788 Eduard Bernstein: Vom Werden und Wirken des jungen Friedrich En- gels, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1922, S. 212 ff., hier S. 215. 256

nen Umsturz vom Zaun zu brechen, ehe durch fortentwickelte Wirt- schaftsverhältnisse samt entsprechendem Änderungsbewusstsein von unten - eine „freie und gleiche Assoziation der Produzenten“ (MEW

21, S. 168) möglich wäre. Wenn Revolutionäre mit Gewalt für Brot sorgen müssten, sei der Sozialismus gründlich blamiert. Gleichwohl schwärmte der Leninismus wenig später von einer Machtergreifung im

Schwertstreich, um mit Hilfe der Staatsmacht die Entwicklung durch

Zwangsinvestitionen großen Stils nachzuholen, die im Osten des Kon- tinentes den Standards hinterher hinkte. Im Namen von Marx, aber keineswegs in seinem Sinne, sah sich 1917 ein Großexperiment in

Szene gesetzt, das den Sozialismus als nachholende Industrialisie- rung deutete. Entsprechend geriet die angebliche Diktatur der Arbei- ter nicht nur in Moskau zu einer Tyrannei über dieselben, mit Heka- tomben von Opfern. Leninismus/Maoismus/Castrismus etc. waren/sind keineswegs als fehlverstandener Marxismus zu rubrizieren; all diese

EliteK -Regimes lassen sich angemessen nur als eigenständige Herr- schaftslehren verstehen, die sich im Namen ihrer Aneignungslogik789 der sozialistischen Etikettierung als Rechtfertigungsersatz bedienten, was jenen ‚Weltbürgerkrieg‘ erst richtig in Gang setzte, den Edmund

Burke bereits während der Französischen Revolution hatte kommen sehen.

789 Vgl. Michael S. Voslensky: Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion, Wien u.a.: Molden ²1980. 257

Sozial- als Gesellschaftspolitik

Demgegenüber konnte der Sozialismus als Idee am meisten im demo- kratischen Umfeld erreichen, wo sein Gerechtigkeitsprogramm eini- germaßen unbelästigt eine politische Rolle zu spielen vermochte. Auf dem Boden der Marktwirtschaft und nicht in der gelenkten Ökonomie sah sich das freie Spiel gesellschaftlicher Kräfte, dem Friedrich En- gels in seinem Buch über „Die Lage der arbeitenden Klassen in Eng- land“ (1845) mit einigem Schauder den Spiegel vorgehalten hatte, durch Umverteilungsmaßnahmen auf allen Sozialetagen nach und nach zum Wohlfahrtsstaat gemildert. Der realexistierende als reiner

Nominalsozialismus erwies sich, mit Oskar Lafontaine790 gesprochen, historisch als ständige Aufgabe im doppelten Sinn des Wortes: Vor allem auch als Aufgabe von veralteten Ideen, wie nicht zuletzt das

„Berliner Programm“ der SPD aus dem Jahr 1989 erkennen ließ.

Trotzdem fand Bernstein mit seinem im Frühjahr 1899 bei Dietz in

Stuttgart erschienenen Longseller791 offiziell vorerst wenig Anklang, und das lag nicht am sperrigen Titel. Die von ihm in England, wo er lange Zeit im Exil verbringen musste, gewonnenen Erfahrungen ließen sich schwerlich Naht auf Naht in die Ziele und Vorgehensweisen der hiesigen Arbeiterbewegung übertragen. Das „erste sensationelle Buch in der Literatur der deutschen Sozialdemokratie“ (Kautsky) stiftete in den eigenen Reihen mehr Verwirrung als Klärung, wiewohl Filippo Tu- rati (Italien), Alexandre Millerand (Frankreich), Pablo Iglesias (Spa- nien). Azevedo Gneco (Portugal) oder H. M. Hyndman (England) ähn- liche Wege einschlugen. Zudem kostete es den Autor seinen Lebens-

790 Vor der Arbeitsgruppe „Fortschritt 90“, die das Regierungsprogramm der SPD entwerfen sollte, zit. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. 5. 1989, S. 3. 791 Die Voraussetzungen des Sozialismus und der Sozialdemokratie (zu- letzt hrsg. M. Tetzel, Berlin: Dietz 1991), zit. Reinbek: Rowohlt 1969. 258

unterhalt als Redakteur der wichtigsten Parteizeitschrift. Und es soll- te bis zum „Godesberger Programm“ (1959) dauern, ehe sich die SPD fast ohne Vorbehalte auf den Boden der Wirtschaftsmoderne stellte und damit entschieden für einen Sozialreformismus eintrat, der die

Marktkräfte förderte, um sie umverteilungspolitisch ausschöpfen zu können. Diese verzögerte Anerkennung eines nicht nur im Rückblick als zutreffend erkennbaren Programms der Gegenelite frei nach Bern- stein hatte allerdings Gründe. Sie hingen mit traumatischen Erlebnis- sen der Grundschichten bei ihrem Ringen um Gerechtigkeit zusam- men. Und wenngleich diese Erfahrungen, recht verstanden, spätes- tens seit der vorletzten Jahrhundertwende für einen Reformweg spra- chen und nicht für die Hoffnung auf den roten Morgen, wurde der Ar- beiterschaft diese Einsicht im Alltag nicht leicht gemacht. Die lang- jährige Unterdrückung durch Obrigkeitseliten all ihrer Versuche,

Stichwort ‚Sozialistengesetz’ (1878 ff.), sich im eigenen Interesse verbandlich zu organisieren und politisch zu profilieren, forderte ihren politischen Preis. Trotz polizeilicher Knebelung wuchs die Anhänger- schaft der Sozialdemokratie, zum Erschrecken aller anderen Kräfte im

Lande. Im Februar 1890, kurz nach Aufhebung der Ausnahmegesetze, wurde die Sozialdemokratie stimmenstärkste Partei. Sie erhielt im

Reichstag wegen des vorsintflutlichen Zuschnitts der Wahlkreise al- lerdings nur 35 Sitze gegenüber 106 Abgeordneten für das Zentrum, das fast hunderttausend Wähler weniger aufbieten konnte. Die Nutz- losigkeit der offenen Verfolgung hatte jedoch, wie die sozialen Bot- schaften des neuen Kaisers Wilhelm II. vom Februar 1890 verdeutli- chen, verständigere Kräfte in der Oberschicht gelehrt, dass der weite- re Entwicklungsweg der industriellen Gesellschaft erträglich nur im, wenngleich konfliktuellen, Streit der Sozialkontrahenten zu begehen war. Das brachte Georg Simmel wenig später als Integrations- durch

Konfliktlehre auf einen soziologischen Nenner. Der seinerzeit in Gang gesetzte Ausbau der Sozialpolitik wurde Vehikel einer Reformdyna- 259

mik, die weit über die Absichten der gesellschaftspolitischen Kontra- henten hinausführen sollte. Am Ende schien eine Art von Selbstzüge- lung der industriellen Abläufe eingeleitet, was nicht zuletzt den Ton zwischen den bald um Macht(anteile) statt um Autokratie konkurrie- renden Eliten mäßigte.

Auch die Arbeiterbewegung musste umlernen. Das Tocqueville-

Theorem stimmte nicht länger, wonach die Lage um so brenzliger würde, je besser es den Grundschichten ginge. Seither wurde in den eigenen Reihen diskutiert, ob die verbale Radikalität den Hoffnungen auf mehr Beteiligung nicht schade? Wilde Gesten überstiegen den To- leranzrahmen der immer vernetzteren bürgerlichen Gesellschaft und riefen unnötigerweise andere Gruppen als Gegner auf den Plan. Nicht zum wenigsten die Verfolgung nach 1878 hatte der Sozialdemokratie verdeutlicht, dass alle noch so schönen Änderungsdebatten einer op- positionellen - vorerst - Minderheit irreal bleiben mussten, solange nicht demokratische Verhältnisse eingeläutet waren, die „mit allen

Mitteln“ anzustreben blieben, wie auf dem ersten SPD-Exilkongress in

Wyden (1880) festgestellt wurde. Sie erst erlaubten es ja, die Arbeits- und Verteilungs- und auch Anordnungsverhältnisse tatsächlich zu be- einflussen. Trotz ihrer weiterhin marxistisch klingenden Programma- tik, etwa im „Erfurter Programm“ (1891), suchte die Sozialdemokratie im Alltag bald überall dort, wo sie Fuss fassen konnte, den Weg in die konkrete Mitarbeit, nicht zuletzt, indem die eigene Anhängerschaft diszipliniert wird. Selbst Karl Kautsky792 als Wächter der reinen Lehre kommentierte, „unsere Aufgabe ist es nicht, die Revolution zu organi- sieren, sondern uns für die Revolution zu organisieren; nicht die Re- volution zu machen, sondern sie zu benutzen“. Die umstürzlerische

Phrase blieb indes allgegenwärtig, nicht zuletzt als Massenstreikde-

792 Verschwörung oder Revolution?, in: Der Sozialdemokrat (Wochenzei- tung) Nr. 8 vom 20. 2.1881. 260

batte, wenngleich hier die Gewerkschaften als betrieblicher Arm der

Sozialopposition frühzeitig bremsten. So ist dieser Bewegung mitsamt ihren Spitzenleuten im Rückblick der Vorwurf nicht zu ersparen, ihrer- seits eine zivile Entwicklung der Gegebenheiten erschwert zu haben durch Förderung des Abschottungsverhaltens aller sozialmoralischen

Milieus793, ohne wirkliche Alternativstrategien zu besitzen/zu pflegen.

„Die moderne Arbeiterbewegung ist frei von aller bürgerlichen Roman- tik“, lobte Franz Mehring794 seinerzeit, aber nicht von jedweder Revo- lutionsromantik.

Angesichts eklatanter Widersprüche zwischen Drohgebärden und rea- ler Mitarbeit war in der offiziellen Parteilehre für Stimmigkeit zu sor- gen. Man hatte sich vom Antipoden zur innergesellschaftlichen Sozi- alopposition samt Gegenelite gemausert, lautete das Fazit Bern- steins, der sich als „Weltfeldmarschall der vereinigten Revisionäre“ verspottet sah795. Beeinträchtigte das Pochen auf eine revolutionäre

Umwälzung nicht die Glaubwürdigkeit der eigenen Reformpolitik in

Stadt und Land? Gab es wirklich noch jene Alternative zwischen „Nie- derwerfungs- versus Ermattungsstrategie“?796 Oder minderten sich mit den großen Parolen nicht die Wirkchancen der Partei? Es war

793 Das sozialdemokratische Macht-Integrations-Dilemma als Folge der (durch die Verhältnisse blockierten) demokratischen Programmatik bei ra- dikalen Umbau-Intentionen wiederholte sich in der Weimarer Republik, wo- nach man entweder nicht radikal genug oder aber nicht hinreichend liberal auftrat: Diese Selbstblockade hatte vor allem fatale Folgen, wenn sich das politische Umfeld verdüsterte. Deswegen sanktionierte das Prager Manifest (1934) in solchen Fällen die Gewalt, denn „ein sicheres und schlagkräfti- ges Machtinstrument wächst jedenfalls nicht aus irgendwelchen geheimnis- vollen Entwicklungsgesetzen oder aus der Dialektik von Versammlungsdis- kussionen oder gar aus der Stille wissenschaftlicher Bibliotheken, selbst wenn ihr Inhalt noch so marxistisch ist“, wie Wilhelm Sollmann (Die vier- zehn Jahre, Neuer Vorwärts Nr. 161 vom 12. 7. 1936) im zweiten Exil der Sozialdemokratie kommentierte. 794 Geschichte der deutschen Sozialdemokratie (1897/1898), Berlin: Dietz 1960, 2 Bde., hier Band 2, S. 513. 795 Kautsky: Problematischer gegen wissenschaftlicher Sozialismus, Die Neue Zeit 19/2 (1900/1901), S. 355 ff., hier S. 364. 796 Kautsky: Was nun? Die Neue Zeit 28/2 (1909/1910), S. 37. 261

Bernsteins Verdienst, in der Revolutions-Attitüde eine frühfabrikwelt- liche und damit überständige Trotzhaltung zu erkennen. Solche Klar- stellung sah sich zwar als „befreiende Tat“ (Sozialistische Monatshef- te) gewürdigt. Im Oktober 1899, auf dem Hannoveraner Parteitag der

SPD, redeten sich die Genossen über den ‚Revisionismus’ als Abwei- chung von der alten Lehre der Revolution die Köpfe heiß. Eduard Da- vid797 definierte ihn folgendermaßen: „1. eine wissenschafts- theoretrische Strömung, die gewisse Sätze und Prognosen der marxis- tischen Theorie einer Kritik unterzogen hat, und 2. eine praktisch- politische Strömung, die der positiven Gegenwartsarbeit, der Reform- arbeit auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet eine viel höhere, prinzipielle Wertung für die Emanzipationsbewegung des Pro- letariats zuspricht, als dies die sich sozialrevolutionär nennende

Richtung tut.“ Am Ende wies man offiziell jeden Versuch zurück, wie es in einem Tagungs-Beschluss heißt798, die eigenen Absichten „ge- genüber der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung zu ver- schleiern oder zu verrücken“. Bei dieser Ablehnung einer programma- tischen Anpassung der Theorie an die Alltagspraxis von Partei und

Gewerkschaften ist es lange Zeit geblieben.799 Sie hatte damit zu tun, dass Bernsteins nüchterne Sicht der Sozialwelt, aber auch seine Wie- dereinsetzung der Ethik als aktiver Sozialfaktor alle festsitzenden

Benennungstabus verletzte. Zwar zeigt der Blick zurück, dass die po- litische Ohnmacht der Opposition im Kaiserreich nicht zuletzt auch dem roten Fundamentalismus der Sozialdemokratie zu zu schreiben

797 Der Reichskanzler und die Sozialdemokratie, Sozialistische Monatshef- te 1905, S. 11 ff., hier S. 13. 798 Zit. Chronik der deutschen Arbeiterbewegung, Band 1, Berlin: Dietz 1965, S. 193. 799 Bernstein seinerseits ignorierte diese und ähnliche Verwerfungen: „Das Votum einer Versammlung, und stehe sie noch so hoch, kann mich selbst- verständlich in meinen aus der Prüfung der sozialen Erscheinungen ge- wonnene Anschauungen nicht irre machen“, zit. Christian Gneuss: Eduard Bernstein, in: Leo Labedz (Hrsg.): Revisionismus, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1965, S. 37 ff., hier S. 47. 262

war. Die SPD leistete sich aus Halsstarrigkeit lange Zeit eine Art von

Selbstausschließung von der Machtteilhabe, man denke einzig an die

Querelen über das ‚Kaiserhoch‘ zur Sessionseröffnung des Reichsta- ges. Obschon jeder Gruß auf Neue die Gesellschaftlichkeit stiftet, verweigerte sich die SPD dieser rituellen Zugehörigkeitsgestik, was erheblichen Grimm freisetzte. Immerhin spiegelte ihre Außenseiterpo- sition die Unnahbarkeit der zeitgenössisch-bestimmenden Eliten. Jede

Zuarbeit schien im Kaiserreich einer politischen Kapitulation gleich- zukommen, selbst wenn die eigenen Schwächen mit größerer Beweg- lichkeit auf Dauer besser hätten abgebaut werden können, wie Bern- stein immer wieder hervorhob.

Wechselseitiges Verständnis wenigsten im Rahmen der hierzulande insgesamt erst um Machtnutzung konkurrierenden Parteien wäre einer

Durchdemokratisierung bekömmlicher gewesen. So wie die Dinge la- gen, mochte man auf Seiten der linken Gegenelite öffentlich nicht zugeben, dass sich Partei und Gewerkschaften im Wochentag längst auf das bestehende Wirtschaftssystem eingelassen hatten. Im Gegen- satz zu Bernstein glaubte der Parteiapparat zudem, am Katastrophen- kurs festhalten zu müssen, um die eigene Anhängerschaft bei der

Stange zu halten. „Teufel auch die kleinen Sozialreformen!“, brachte

Arthur Stadthagen800 vom linken Flügel diese Überzeugung zum Aus- druck. „Sie sind mitzunehmen auf dem Wege zur Expropriation, eine notwendige Kleinarbeit, aber nicht die Hauptsache“. Man drohte wei- ter mit einer roten Revolution, die seit der Pariser Commune von 1871 hierzulande kein Verantwortlicher mehr plante. Indem Bernstein im

Umkreis der Gegenkader verriet, wie (dort) die Dinge wirklich lagen, benannte er das Unaussprechliche. Die Sozialdemokratie war eine

ändernde, aber schon lange keine Zustands-aufhebende Bewegung

800 Protokoll des SPD-Parteitages in Hannover (1899), Berlin: Vorwärts 1899, S. 206. 263

mehr. Man mochte das Indianerspielen nicht lassen, zu sehr war man an die revolutionären Phrasen wie an eine Heilsgewissheit gewöhnt.

Gleichwohl besagte „das ‚Recht auf Revolution’ unter den gegebenen

Verhältnissen nicht viel mehr als das Recht aufs Fliegen“801. Sehr zum Schaden der politischen Kommunikation sahen sich Warnungen in den Wind geschlagen802, der Widerspruch zwischen Schwärmerei und

Praxis richte nicht nur Verwirrung in den eigenen Reihen an. Missach- tet wurden gleichfalls Bernsteins Mahnungen, die aufgesetzte Radika- lität versperre Koalitionschancen mit anderen mehr oder weniger de- mokratischen Kräften. Diese ließen sich durch die pseudorevolutionä- re Gestik allzu leicht ins Bockshorn jagen und kooperierten lieber mit den herrschenden Alteliten, die so das in Untiefen steuernde Staats- schiff mehr schlecht als recht im Griff behielten.

Erschwert wurde auf Dauer jede Zusammenarbeit zwischen der Arbei- terbewegung und anderen Oppositionellen, etwa dem hiesigen Libera- lismus oder den ex officio gleichermaßen marginalisierten süd- deutsch-katholischen Kräften im Lande, was ein eklatantes Versagen dieser zentralen Gegenelite der Moderne darstellt. Darin besteht das eigentliche Drama der damaligen Epoche803, besonders hierzulande.

Rein rechnerisch konnten seit den Reichstagswahlen von 1884 die nicht-konservativen Parteien die Mehrheit der Wählerstimmen auf sich vereinen. Aus ihrer Zusammenarbeit wurde jedoch nichts, für Bis-

801 Dialektik und Entwicklung, Die Neue Zeit 17/2 (1898/1899), S. 327 ff.; 353 ff., hier S. 362. 802 Wider die Thesen von Karl Kautsky, wonach die den tatsächlichen Ver- hältnissen entspringenden Antriebe zu „rebellischer Ungeduld“ seinerzeit immer stärker gerieten. 803 Auch auf Seiten der Sozialdemokratie. Nicht zuletzt für diese Gegeneli- te wäre es darauf angekommen, wenigstens begrifflich die Begrenzung des eigenen Aktionsradius auf den Kampf für das „Parteivaterland“ in Hinblick auf die Förderung des Gemeinwohls aufzuheben, wie Victor Adler es am 1. 2. 1915 post festum in einem Schreiben an Karl Kautsky betonte, vgl. ders.: Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky sowie Briefe von und an Auer, Bernstein, Braun, Dietz, Liebknecht, Müller und Singer, Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1954, S. 608. 264

marck etwa blieb dass Bürgertum politisch daher eine chattering class. Jene politische Bündniskonstellation zwischen sozial orientier- ten liberalen etc. Gruppen und reformwilligen Sozialisten, wie sie in

England oder Frankreich vorlag, bekam keine Chance, ganz im Ge- genteil. Um sich politisch nicht zu schwächen, wie man meinte, stimmte in einer der vielen schwarzen Stunden der deutschen Ge- schichte 1878 ein Großteil der Liberalen für die Unterdrückung der

Arbeiterbewegung und damit gegen die weitere Öffnung der Demokra- tisierungs-Chancen des Reiches, die auch ihre eigenen Machtambitio- nen erst befördert hätten. Sie waren damit strukturell und mentalitär in einem Milieu eingeklemmt, in dem der Kaiser als höchster Reprä- sentant der festsitzenden Machtfiguration mitten im Ersten Weltkrieg bei einem Empfang im Neuen Palais mit den Worten: „Ihr Reichstags- abgeordneten seid alles wilde Leute“804 amtierenden Regierungsmit- gliedern gegenüber seine Urfurcht vor aller Politik (wild ↔ frei) mani- festierte.

Es gab Einwände gegen diesen „Sozialismus der Gutmütigkeit“, wie

Clara Zetkin805 spottete. Wurde unter „Verwirklichung des Sozialis- mus“ die Errichtung einer in allen Punkten streng geregelten Gesell- schaft verstanden, so sah Bernstein dieselbe in weiter Ferne. Gleich- wohl erlebe schon seine Generation viel Sozialismus, wenn nicht in der „patentierten Form, so doch in der Sache“. Zu denken war dabei an die unübersehbare Erweiterung des Umkreises der gesellschaftli- chen Pflichten und der korrespondierenden Rechte der Einzelnen ge- gen die Gesellschaft und vice versa, was die Ausdehnung des Auf- sichtsrechts der im Staat organisierten Gesellschaft über das Wirt-

804 Eugen Schiffer: Ein Leben für den Liberalismus, Berlin-Grunewald: Her- big 1951, S. 60. 805 Clara Zetkin am 29. März 1899 an Kautsky, zit. H.-J. Steinberg: Sozia- lismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem 1. Weltkrieg, Hannover: Literatur und Zeitgeschehen 1967, S. 100. 265

schaftsleben impliziert, von der Ausweitung der demokratischen

Selbstverwaltung in Stadt und Land abzusehen.

Die Epoche war im Westen einer sozialistischen Revolution als Über- rumpelung durch Sesam-Öffne-Dich-Gewaltakte entwachsen, nicht nur weil die industriellen Abläufe zu kompliziert geworden waren für die

Ersetzung des Zufalls durch den Irrtum (= Planung); zudem hatte die

Gegenelite im Ringen um mehr Mitsprache die Erwartungen ihrer ei- genen Anhänger zu berücksichtigen, die greifbare Verbesserungen verlangten, keine Abenteuer. Bernstein traf mit seinen Verweisen auf den Anachronismus marxistischer Radikalisierungserwartungen mit- samt „fast mystischem Glauben an die namenlose Menge“806 ins

Schwarze. Das war nicht mehr das Kernproblem. Vielmehr könnten die

„Saturnalien der revolutionären Phrase“ (Bernstein) in reformistische

Illusionen umschlagen807, wenn sich Revolution und Gegenrevolution umstandslos identifiziert sähen. Was jedoch, wenn die „wirkliche Ent- wicklung der Dinge“808, die Bernstein wieder und wieder Revue pas- sieren ließ, keineswegs immer zivilisiertere Formen annahm, wie sich unterstellt sah? Denn „je reicher die Gesellschaft, um so leichter und sicherer die sozialistische Verwirklichung“.809 Wenn die Weltdinge stattdessen anders, eben nicht als „Bewegung zur Genossenschaft- lichkeit“810 verlaufen würden, etwa durch reaktionäres Auftreten von

Teileliten? Das ließ sich angeblich ausschließen, da auch bei Bern- stein, allerdings reformistisch gewendet, Wirtschaftslogik und Moder-

806 Die Menge und das Verbrechen, Die Neue Zeit 16/1 (1897/1898), S. 229 ff., hier S. 229. 807 „Wir könnten die friedliche Entwicklung gefährden durch allzu große Friedlichkeit“, Karl Kautsky: Ein sozialdemokratischen Katechismus, Die Neue Zeit 12/1 (1893/1894), S. 361 ff.; 402 ff., hier S. 409. 808 Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft, Die Neue Zeit 16/1 (1897/1898), S. 484 ff.; S. 548 ff., hier S. 553. 809 A. a. O., S. S. 556. 810 Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?, in: Ein revisionisti- sches Sozialismusbild. 3 Vorträge, Hrsg. Helmut Hirsch, Berlin/Bonn: Dietz 1976, S. 65. 266

nisierung irgendwie zusammenfallen sollten. Zwischenfälle wie Revo- lutionen oder andere Gewaltereignisse unterbrächen diese Bewegung zum Guten nur! Wie das Jahr 1848 bewiesen habe, konnten „die Auf- gaben des 19. Jahrhunderts nicht mit den Formeln des 18. gelöst wer- den“811.

Dieses Resümée traf allerdings zum Teil auf den romantischen Evolu- tionismus von Bernstein selbst zu, der seiner Partei eine Eliten-

Kooperation ans Herz legte, die in den oberen Etagen niemand zu wollen schien. Er identifizierte zwar zutreffend Zwangswandel und

Diktatur, sprach mit Blick auf eine Unterklassendiktatur von einem

„politischen Atavismus“812, übersah zugleich, dass sein Modell eines gleichsam automatischen Fortschritts zum Besseren sich obwaltenden

Machtverhältnissen auslieferte. Auf die Faschismus-Welle unseres

Jahrhunderts sei verwiesen, „wir stehen mitten drin in der Gegenrevo- lution“, warnte Kautsky813 später. In Bernsteins Werken unterblieb eine realistische Analyse der elitären Machtverteilung und ihrer Illu- sionen, die an die Stelle der verworfenen Revolutionslehre als Theo- rie eines Systemwandels hätte treten müssen. Bernstein beurteilte die

Revolutionen von 1870, 1917 und 1918 nach dem Schema seines Anti- jakobinismus/Antiblanquismus814, wobei die sozio-politischen Gründe für die blockierte Demokratisierung im Lande außer Acht gerieten.

Dass er Lenins Umwälzung als „Versuchsspiel auf Kosten von Men- schenleben“ bezeichnete815, war konsequent, hier fehlten alle Vor- aussetzungen eines Sozialismus als Programm der gesellschaftlichen

811 1848 (Anm. 785), S. 717. 812 Voraussetzungen (Anm. 791), S. 157. 813 Die Aussichten der Gegenrevolution in Deutschland, in: Der Kampf 17 (1924), 1. 814 „Du konstruierst Dir einen Begriff von ‘Revolution’“, bemängelte schon Victor Adler am in einem Brief vom 17. März 1899 an Bernstein, „den kein Mensch mehr hat, außer ein paar ganz alten Polizisten, in: Briefe (Anm. 803), S. 298. 815 Voraussetzungen (Anm. 791), S. 226. 267

Humanisierung. Aber vor allem Bernsteins Beschreibung der deut- schen ‚Novemberrevolution’ lässt Defizite der revisionistischen Poli- tikdeutung erkennen.816 Seine Vorstellungen über die Gegenwart lit- ten nicht nur unter einem recht willkürlichen Begriff der ‚sozialisti- schen Reife’, sondern an einem eher betulichen Schritt-für-Schritt-

Programm bei der Implementation von Reformen, da er auf allseitige

Einsicht bei der Machtkonkurrenz setzte. Weitergehenden Vorstellun- gen der Linken verwies er ins Lager der „Illusionisten der Gewaltpoli- tik“. Die Erhebung von 1918 schien ihm unter Umständen herbeige- führt, die eine „unmittelbare Umwälzung in ein völlig sozialistisches

Gemeinwesen unmöglich“ macht, mitsamt der dazu gehörigen Herr- schaft der Unterschichten (S. 268). Nun ist unstrittig, dass die Domi- nanz der Arbeiterklasse seinerzeit Züge einer ‚Diktatur des Proletari- ats’ verlangt hätte, die keiner wollte, und zwar nicht nur, weil

„Deutschland von Verfall und Anarchie bedroht schien“ (S. 239).

Bernstein weist an anderer Stelle selbst darauf hin, dass vom ‚Rat der

Volksbeauftragten’ weitergehende sozial- und wirtschaftspolitische

Fortschritte hätten eingeleitet werden müssen, um zumindest die

Durchdemokratisierung von Staat und Gesellschaft sicherzustellen.

„All jene, die eine Revolution nur zur Hälfte durchführen“, warnte

Saint-Just817 vor verfrühtem Moderantismus, „graben sich ihr eigenes

Grab.“ Musste ein Verzicht auf Klassenherrschaft gleich die Wieder- einsetzung der alten Eliten mitsamt ihren Anmaßungen ermöglichen?

Bernstein erklärt diese Zaghaftigkeit der Gegeneliten in der Zeit des

Umbruchs mit der Bolschewismusfurcht in den Reihen der Arbeiterbe- wegung selbst. Man war zu beschäftigt, „die Republik gegen die ge- walttätigen Anstürme von links verteidigen zu müssen“; dabei habe

816 Die deutsche Revolution von 1918/1919 (1921), Hrsg. H. A. Winkler, Bonn: Dietz 1998. 817 Sur les personnes incarcérées (26. 2. 1794), in: Discours et rapports, Hrsg. Albert Soboul, Paris: Éditions sociales 1957, S. 132 ff., hier S. 145. 268

man die Fundamentalreformierung des Wilhelminismus ebenso ver- säumt, wie sich die Gefahr von rechts übersehen sah.818 Diese Fehler habe man auch aus der Sorge begangen, durch linke Eingriffe das empfindliche Wirtschaftsgewebe zu stören, weil mit den „seelischen auch die materiellen Vorbedingungen fehlten, die erforderlich waren, wenn aus dem Aufstand eine Revolution werden sollte“ (S. 199). Der wirtschaftliche Alltag kennt eben „gewisse Lebensgesetze, über die der bloße Wille der Menschen nicht hinaus kann“819. Stattdessen lob- te Bernstein das, was gleichwohl unter Dach und Fach gebracht wur- de. „Ich verstehe die Ungeduld, die viele erfaßt hat“, hebt er in die- sem Sinne hervor820, „aber ich teile sie nicht, und zwar, weil ich ü- berzeugt bin, dass Großes erreicht ist“.

Bernstein ist am 18. Dezember 1932 in seiner Heimatstadt Berlin ge- storben, ihm blieb die ‚Machtergreifung’ der Braunhemden erspart und damit die Einsicht in die Warnung durch Kautsky821 an die Gegeneli- te, man könne „die friedliche Entwicklung auch gefährden durch zu große Friedlichkeit“, was im ohnmächtigen Exil wenigstens program- matisch zu korrigieren versucht wurde. Die ‚Gleichschaltung’ hätte ihn erneut außer Landes getrieben, wäre er nicht wegen seiner Politik und jüdischen Herkunft in ein KZ geraten. Mit dem Maßstab seines

Sozialoptimismus ließ sich die braune Barbarei schwerlich als Kurz- schluss der ElitenF erklären, die Machtverwaltung zur Stabilisierung ihrer Position, die angeblich durch die Parteiendemokratie gefährdet war, einer Straßen-populistischen Elitenkonkurrenz zu übertragen.

Hätte er angesichts dieser Kehrtwende ins demokratische Aus an je- nem Vertrauen vom 28. Dezember 1918 festgehalten, als er trotz der

818 Sozialismus einst (Anm. 787), S. 132. 819 Sozialismusbild (Anm. 810), S. 114. 820 Was ist Sozialismus?, Vortrag vom 28. 12. 1918 in Berlin, Berlin: Ar- beitsgemeinschaft für staatsbürgerliche Bildung o.J. [1919], S. 21. 821 Der Weg zur Macht (1893), Berlin: Vorwärts ³1920, S. 59. 269

Tatsache, dass der SPD in jener Stunde der Gelegenheiten alle ale- xandrinische Energie abging, kühn ausrief: „Die Arbeiterklasse hat für sich die Waffe, die sich vergleichen kann mit dem, was ... Archimedes meinte, als er sagte: ‚Gib mir, wo ich feststehe, und ich will die Welt aus ihren Angeln heben’“?822

Ende der Ausbaustrecke

Bernstein absolvierte sein tagespolitisches Curriculum in London, wo- hin er Mitte April 1888 ausgewichen war, nachdem er vom Schweizer

Bundesrat auf Vorhaltungen aus Lugano vertrieben worden war, wo er seit zehn Jahren im unfreiwilligen Exil gelebt hatte. Von

England aus eroberte die industrielle Revolution den Kontinent. Alt- hergebrachte Umsturzlehren hatten dort schon länger keine Chancen mehr, wo eine breite Bürgerschicht im Duett mit angestammten Elite- zirkeln sozialen Pragmatismus pflegte und politische Vielfalt dulde- te.823 Deutschland zählte weder verfassungs- noch mentalitätsge- schichtlich zu diesem Kulturraum, insofern ließen sich Entwicklungs- muster kaum übertragen. Sie waren deshalb nicht falsch, darin war

Bernstein gegen die Linke zuzustimmen; doch mangels Demokratie im

Lande gab es für diese Modelle keinerlei Garantien, obschon der Mo- derantismus in Form kathedersozialistischer Politikberatung wesent- lich früher viel tiefer reichende Sozialinterventionen begründete als etwa in Großbritannien. Folglich musste erst gegen festsitzende Eli- ten, wie sich herausstellte, und am Ende von außen und mit Gewalt,

822 Was ist Sozialismus (Anm. 820), S. 21. 823 In England etwa war der gescheiterte Chartismus (1838/1848) war der letzte Anfall von Massenwiderstand, sieht man vom friedlichen General- streik des Jahres 1926 ab, der durch Churchill rasch isoliert und unter- drückt werden konnte. 270

die von Bernstein mit dem sozialisierenden Kooperationsprozess selbst erwartete Grundzivilisierung der Gesellschaft geleistet werden, ehe sein 1899 ausformuliertes Fortschrittsmodell einer schrittweisen

Abfederung der Marktgesellschaft frei nach „Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles“824 den Gegeneliten und ihrer Klientel auch politisch festen Boden unter den Füßen verschaff- te. Jenes Konzept einer sozialen Dauerreform als Gesellschaftspoli- tik825, das nicht nur die Errichtung von Rote-Kreuz-Stationen hinter den Fronten der Wirtschaftsmoderne im Auge hatte, sondern für Mit- verantwortung der Arbeitnehmer an der Produktivitätssteigerung plä- dierte, hat sozialtheoretisch wenig an Aktualität verloren. Denn wie- wohl in der postfordistischen Hochentwicklung der Wohlfahrtsidee keine politischen Gefahren alter Art zu drohen scheinen826, ist die

Zukunft der Solidarität wieder weniger sicher, die als ethischer An- gelpunkt der Bernsteinschen Überlegungen gelten kann: Trotz oder wegen aller Schwärmerei von Selbstverantwortlichkeit in einer singu- larisierten Erreichbarkeitsgesellschaft.

Man vergegenwärtige sich Donnerstag, den 11. März 1999. Nach Ran- geleien mit den Wirtschaftsverbänden, bei denen sein Nachfragemo- dell kaum Unterstützung durch SPD-Kanzler Gerhard Schröder fand, tritt Wirtschaftsminister Lafontaine überraschend von allen Ämtern zurück.827 Ein Feuerwerk der Spekulation bricht an den Geld- und Ak-

824 Der Kampf (Anm. 808), S. 556. 825 Das von Eduard Heimann (Soziale Theorie des Kapitalismus, Tübingen: Mohr 1929) bis zu Hans Achinger (Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, Reinbek: Rowohlt 1958) die Theorie der sozialen Marktwirtschaft beein- flusste, die nach 1949 hierzulande offiziell als Kompensationsstrategie das Wirtschaftswunder begleitete. 826 Zur Abnutzung demokratischer Stilformen durch Verbände, Medien, Frustration etc. vgl. Jean-Paul Fitoussi/Pierre Roosanvallon: Le nouvel âge des inégalités, Paris: Seuil 1996, S. 195 ff. 827 W. A. Perger: Der letzte Sozialist, Die Zeit vom 18. 3. 1999, S. 15; Da- vid Malpass: Lafontaine’s Fall is a Blow to Socialists, Wall Street Jour- nal/Europe vom 15. 3. 1999, S. 8. 271

tienmärkten aus. Der Saarländer beklagt in einer Erklärung nicht nur den mangelnden Teamgeist im Kabinett828, was ihm als typischem So- listen kaum zusteht. Er mahnt an, das Engagement für den Erhalt, ja

Ausbau des Sozialstaates werde von der deutschen Sozialdemokratie kaum noch gestützt, was das ‚Schröder-Blair-Papier’829 vom 8. Juni

1999 zu bestätigen schien. Daher spricht IG-Metall-Chef Klaus Zwi- ckel830 von einem Erfolg des Kapitals, und in Frankreich sieht sich das Bonner Geschehen als Sieg des Marktkonformismus in der SPD verbucht.831 So chaotisch und vor allem unglaubwürdig etwa die Öko-

Steuerpolitik des scheidenden Ministers wirkte, wie rechthaberisch zuweilen sein Auftreten war, gleichwohl geriet der soziale Zungen- schlag seither ins Abseits. Er ist am neoliberalen Zeitgeist abgeprallt, der am liebsten das etablierte System der Umverteilung beenden und der individuellen Leistungsfähigkeit die Sozialbeziehungen allein ü- berantworten möchte.

Kommt in dieser Lage der gegen-elitäre Denkansatz von Bernstein wieder ins Spiel?832. „Ich bin überzeugt“, rief der Vielgeschmähte un- ter dem Gelächter des Parteifußvolkes im September 1901 auf dem

Parteitag in Lübeck aus833, „es wird die Zeit kommen, wo die Sozial-

828 Ex-Minister begründet Rücktritt, zit. Westfälische Nachrichten vom 15. 3. 1999, S. 1. Vgl. Susanne Gaschke: Die SPD nach Lafontaine, Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5 (1999), S. 405 ff. 829 Abgedruckt in: Perspektiven ds 16. Jg., 1999/Heft 3, S. 4 ff. 830 Zit Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 3. 1999, S. 13. 831 Ignacio Ramonet: Socialconformisme, in: Le Monde Diplomatique Pa- ris/Nr. 4 (1999), S. 1. 832 „Mag die heutige Generation Bernstein verwerfen, die nächste wird ihm folgen. Die Bewegung ist im Gange, die die Sozialdemokratie auf neuen Wegen zu neuen Erfolgen und zum ‘Endziel’, der sozialistischen Gesell- schaft, führen wird. Sie wird aufhören, Partei der Industrieproletarier zu sein und wird dafür Vertreterin aller Ausgebeuteten gegen die organisierte Klassenherrschaft werden, was sie zwar heute auch schon sein möchte, aber nicht ist“, so Franz Oppenheimer: Bernstein - Kautsky, Sozialistische Monatshefte 3 (1899), S. 214. 833 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages zu Lübeck vom 22. – 28. 9. 1901, Berlin: Vorwärts 1901, S. 179. 272

demokratie stolz sein wird, ein solches Buch zu besitzen“. Trat er doch als Anwalt eines Dritten Weges auf, der in unseren Tagen erneut international diskutiert wird834. Damals wie aktuell ging und geht es nicht nur darum, durch Machtverlagerung von oben nach unten mehr - oder seinerzeit überhaupt erst - Demokratie zu wagen, die Öffentlich- keit zu beleben, das Gesellschaftliche gerechter zu gestalten. Nötig bleibt es auch, so Bernstein mit Nachdruck, die Sicherung der Zukunft durch Produktivitätssteigerungen zu gewährleisten. Denn „das Ziel der Wirtschaft heißt an sich nur: Herstellung des mit den gegebenen

Mitteln höchstmöglichen materiellen Wohlstandes. (...) In Hinblick auf dieses Ziel ist der Socialismus selbst nur ein Mittel, dessen Zweck- mäßigkeit sich daran bewährt, wie es dem gestellten Ziel gerecht wird.“835 Dazu musste und muss gerade die Sozialopposition beitra- gen836, schon der Marxismus zielte im Kern auf eine Ökonomie der

Zeit, plante die größtmögliche Steigerung der Effektivität. Das aller- dings, so artikuliert seit Bernstein die gegenelitäre Debatte über ei- nen Weg zwischen zentraler Planwirtschaft und Marktentfesselung pur, setzt nicht allein voraus, dass die Produzenten angemessen an

Verwaltung und Gewinn der Wirtschaftsleistung beteiligt werden. Der

Staat hat die Ökonomie gegen sich selbst zu schützen, auch damit sich die Schere zwischen Arm und Reich nicht ungebührlich öffnet.

Zudem hat ein Verständnis vom Staat gepflegt zu werden, in dem die- ser als Risikomanager und Integrator des Allgemeinwohls gleicherma-

ßen tätig bleibt. Durch sozialpolitische Ausgleichsmaßnahmen aller

Art, die möglichst wenig die Eigenverantwortung einengen, ist zu ver- hindern, dass wieder Krankheit, Sorge etc. und damit Verwahrlosung

834 Vgl. Anthony Giddens: Der Dritte Weg, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. 835 Vorwort zu F. O. Hertz: Die Agrarischen Fragen im Verhältnis zum So- cialismus, Wien: Rosner 1899, SS. III ff., hier S. VI. 836 Denn „die Mächte des Beharrens in der Gesellschaft sind ungeheuer groß“, kommentierte Kautsky: Der Weg zur Macht (Anm. 821), S. 27. 273

und Regellosigkeit bedrohlich werden für den Zeitgeist und solcher- maßen für die Befindlichkeit der Epoche samt ihren politischen Figu- rationen. ***

Wunscheliten

„Wir brauchen Eliten, die sich der Herausforderung der Zukunft stel- len, die gegen den Strom schwimmen und kritischen Abstand zum

Zeitgeist halten können. Mit diesen Worten erläuterte CDU-

Bundeskanzler Helmut Kohl837 den zeitgenössischen Elitenbedarf, den sein sozialdemokratischer Amtsnachfolger838 gleichfalls unterstrich.

Dieser Begründungseifer erinnert unbewusst an Thesen, wonach nicht

Arrivismus die Leistung der bestimmenden Schichten darstellt, son- dern ihr Beitrag zur gemeinnützigen Optimierung der Verhältnisse, wie die Gesellschaftslehre seit Aristoteles vermutet, der ohnehin das verborgene Fundament der Erwartungen des Publikums - wenn schon nicht der Theoriedebatten - beschrieb: Wonach das öffentliche Gute gilt, weil es gut ist, nicht weil die Interpreten es dafür halten. Was voraussetzt, dass Carl Schmitt839 mit seiner These noch im Trend liegt, auch für die Träger von Ordnung, Dezision, Orientierung und

Kompetenz sei keineswegs alles käuflich. Vorteilsethik (Anreizmoral) mag für den Privatbereich gelten840, im öffentlichen Raum kann es

837 Zit. Die Zeit vom 1. 7. 1988, S. 2. 838 „Diese Regierung hat nichts gegen die Herausbildung von Eliten“, Ger- hard Schröder: Regierungserklärung vom 10. 11. 1998, Deutscher Bundes- tag/Stenographischer Bericht, 3. Sitzung (Plenarprotokoll 14/3), S. 47 ff., hier S. 55 (B). 839 Der Begriff des Politischen, Hamburg: Hanseatische VA ³1933, S. 59. 840 Der Karl Homann (Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomi- schen Fundament aller Moral, Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 21 (1997), S. 13 ff.) voller Emphase und doch nur in zeitgeist-typischer Manier als 274

nur eine Wert- und Kognitionsmoral geben. So anspruchsvoll und funktional eine derartige Rollenerwartung sein mag, bleibt die ent- scheidende Frage: Über welche Elite wird zu welchem Zeitpunkt tat- sächlich geredet? Wie und wo finden sich im Zeitalter der Chancen- verteilung nach dem Prinzip der Leistung841 und nicht nach Erb- schaft/Herkunft, Daffke, Glück oder ‚Vitamin B’ - was alles nicht schadet - jene gesellschaftlichen Spitzenkräfte, die Kanzler, Zeitge- nossen und Politiklehre gleichermaßen herbeiwünschen?

① An Prominenz als das zeitlos-gängige „Lot für Höhen und Tiefen des jeweiligen Niveaus“842 kann schwerlich gedacht sein. Die ‚Sno- biety’ der „celebs“ (Time) kommt nicht notwendig durch Leistungs-

Auslese nach Maßgabe gesellschaftlicher Nützlichkeit zustande, son- dern durch Exzentrik, Luxus, Beifall oder Charme. Mithin durch Auf- fälligkeiten aller Art, die medienkulturell und ökonomisch (Luxusin- dustrie) eine große Rolle spielen843, die sich zudem besonderer, nicht zuletzt ab- beziehungsweise verbildbarer Durchsetzungsfähigkeit in sozialen Teilfeldern (Markt/Medien/Kriminalität/Politik/Kultur/ Sport etc.) verdanken, dort aber nur verharren, wenn sie mehr zu bieten haben als diese ‚Leistungen’: Nämlich Notorität irgendwelcher Art, weswegen sich Wissenschaftler/Mediziner/Militärs selten in dieser

Stratifikation finden, neben Stachanow oder Hennecke auch kaum je

Arbeiter. Es kann also nicht nach Nützlichkeitskriterien gehen, son- dern einzig nach medialer Vermarktung. Somit verwechselt nicht nur

Addition „individueller Vorteilskalkulationen“ (21), die sich irgendwie marktförmig ausgleichen, den Vorzug vor der abgestandenen „Motivmoral“ gibt. 841 Was Jenner (Anm. 602), S. 111 ff. zunehmend durch „Belohnung für unsoziales Verhalten“ verdrängt sieht. 842 So Gregor von Rezzori in seinem ‚Idiotenführer durch die Deutsche Ge- sellschaft. Hochadel, Adel, Schickeria, Prominenz’ (München: Herbig 1990, S. 221) zu einer satirischen Soziologie des Arrivierten. 843 Vgl. Birgit Peters: Prominenz. Eine soziologische Analyse ihrer Entste- hung und Wirkung, Wiesbaden: WDV 1996. 275

Claus Leggewie844 unter dem wert-entleerten Aspekt der Reputation, verstanden als Bekanntheitsgrad, Prominenz (Berühmtheit = (f) Publi- zität) mit EliteD . Er lässt die Filterfunktion beziehungsweise Produkti- onsbedingungen der Medien außer Acht, die high visibility überhaupt erst zuteilen. Die Prominenz der socialites ersetzt womöglich wahr- nehmungs-soziologisch EliteD , wie der Fall Reagan demonstrieren mag, ohne sie in der Hochkomplexität ersetzen zu können: „Die Tor- heit sitzt hoch zu Roß und Verstand und Vernunft schreiten als Knap- pen an beiden Seiten einher“, hat Hebbel845 schon mit Blick auf die damalige Welt der ‚Promis’ (Aristokratie) die notwendige Funktionali- tät dann eben beiläufiger Macht- und/oder Funktions-ElitenD be- schrieben, die bewirken, dass unter der gefälligen Oberfläche – de visibilia ad invisibilia! - prominenter Zurschaustellungen fürs Volk dennoch alles läuft und so bleibt, wie es ist, „um ihr wieder in den

Sattel zu helfen, wenn sie einmal stürzt“. Zwar gewinnen elitäref Leis- tungen im Kontext gesamtgesellschaftlicher Wahrnehmbarkeit öffentli- che Anerkennung und damit zuweilen auch ‚Prominenz’ im alten Sinne von Autorität als

• „bejahte Abhängigkeit“846

• „unabhängig von allem Interesse bestehendes Recht auf Gehorsam gegenüber den tatsächlich Beherrschten“847

• „Vermögen, Unterwürfigkeit zu erwirken“848

844 ‚You just do it‘. Der unglaubliche Donald Trump oder: Unternehmer als Politiker als Fernsehhelden, Berliner Debatte INITIAL 11 (2000)/Heft 1, S. 9 ff. 845 Tagebücher (Eintrag vom Oktober 1859 in Wien), in: Hebbels Werke (Anm. 296), Band 2, S. 262. 846 Max Horkheimer: Autorität und Familie (1936), in ders.: Kritische Theo- rie. Eine Dokumentation, Hrsg. Alfred Schmidt, 2 Bde., Frankfurt am Main: S. Fischer 1968, Bd. 1, S. 277 ff., hier S. 301. 847 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 122), S. 693. 848 Robert Presthus: Individuum und Organisation, Frankfurt am Main: Fi- scher 1966, S. 144. 276

• „Rang ..., der darum gegenüber dem Volk gilt, weil das Volk ihn nicht verleiht, sondern anerkennt“849, die somit an die Stelle der Anerkennungsgründe rückt, da mit Leib- niz850 gesprochen „persönliche Autorität allemal Vernunftgründe ü- berstrahlt“. Aber diese Stellung bleibt an Amt und Leistung gebunden, ist „Ansehensmacht“ (Geiger), heftet sich selten im Sinne medial- generierter Prominenz als neuzeitliches Ersatz-Charisma dauerhaft an deren Träger. Bestes Beispiel ist die Elite-Karriere eines erfolgrei- chen und anerkannten Bundespräsidenten wie Richard von Weizsä- cker. Er spielt a. D. als Respektsperson weiterhin wichtige Rollen, ist geachtet, aber kann sich an Prominenz bei weitem nicht mit Boris Be- cker oder Tina Turner messen. Zudem ist zwar „Macht an sich nicht

Autorität“ (McIver), aber Autorität/Prominenz haben ihrerseits selten etwas mit Macht als Fähigkeit zu tun, unter öffentlicher Begutachtung zweckrationale Willensbekundungen auch gegen Widerstand zu trans- ferieren.

Auch der exklusive Besitz etwa eines Bundesverdienstkreuzes, um neben der Mediengängigkeit nur ein anderes Insignium der Anerken- nung zu nehmen, ist wenig aussagekräftig über die Prominenz (√ So- zialtüchtigkeit) der Prominenz. Über ‚Ordensgerechtigkeit’ wird nicht erst seit dem Fall Monika Hohlmeier, geb. Strauß gemunkelt. Pflegt(e) das Establishment sich doch allezeit/allerorten gegenseitig zu behän- gen, noch dazu unablässig, Ehre in Serie. Orden als „Wechselbriefe, gezogen auf die öffentliche Meinung“ (Schopenhauer) werden „ver- dient, erdient, erdienert oder erdinnert“, steigerte aus eigener Anschauung. Solche Anerkennung erlangt man schwerlich

849 Eschenburg, Theodor: Über Autorität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1965, S. 30. 850 Zit. R. W. Meyer: Leibniz und die Europäische Ordnungskrise, Hamm- burg: Hansischer Gildenverlag 1948, S. 255. 277

durch Mut zu Eigenständigkeit und Kritik851, der stets mit der Bereit- schaft zum Nonkonformismus einhergeht852, eine Eigenschaft, die ei- ner Elite eigentlich abverlangt werden sollte. Solcher Mut ist freilich ein ebenso riskantes wie rares Sozialkapital, das den Status des Il- lustren selten befördert. Nicht nur in unserer von Stimmungsmoden und Kreuzidentitäten durchpflügten Medienepoche ist Nonkonformis- mus verpönt, die stattdessen mit Prominenz belegt, was sich an den

Zuschauer bringen lässt, egal ob diese ‚Ware‘ noch andere Werte, et- wa elitäref Leistungsfähigkeit, besitzt oder nicht.

② Von der vielzitierten Oberschicht ließ sich in diesem Zusammen- hang als Rekrutierungsebene ebenso wenig reden wie von der Gruppe der Experten, obschon zwischen den Führungsetagen synergetische

Verhältnisse herrschen. Die wirklichen Leistungsträger der Moderne müssen anderen, prozess- oder produkt-orientierten Kriterien genü- gen als den auf der Beletage nachgefragten Spielregelkenntnissen, wie bereits James Burnham (The Managerial Revolution, New York:

John Day 1941) notierte. Das schließt nicht aus, wie Moritz Julius

Bonn853 erläuterte, dass eine tragende Oberschicht mit ihrer Aner- kennung für wahre Hochleistungen eine zentrale Voraussetzung für die Präsenz und Effizienz von ElitenF sein kann. Doch aus einer „Mü-

851 Historisch eher schon durch Mut zum Mut, wie ein Blick in die Ge- schichte der Ordenszeichen (vgl. Ernst August Prinz zur Lippe: Orden und Auszeichnungen, Heidelberg/München: Keysersche Verlagsbuchhandlung 1958) bestätigt. 852 Trotz der Behauptung des Gegenteils durch Dorothea Biggenbach, Che- fin der Ordenzkanzlei im Bundeskanzleramt, für die (zit. Das Parlament vom 7. 8. 1995, S. 12) betont „der Wille, sich gegen das Establishment durchzusetzen“, gewürdigt werde. Die weit über 200 000 Medaillen, Sterne und Bänder des Verdienstordens, den Theodor Heuss 1957 „für Leistungen“ stiftete, „die im Bereich der politischen, der wirtschaftlich-sozialen und der geistigen Arbeit“ liegen, wurden nach kaum erklärlichen Kriterien ver- streut, sieht man einmal ab von der obrigkeitlichen Überrepräsentanz auf Empfängerseite. 853 Moritz Julius Bonn: Das Schicksal des deutschen Kapitalismus, Berlin: Fischer 51930, S. 28 f. 278

ßiggängerschicht“ im Sinne von Thorstein Veblen854 wird der epocha- le Elitenachwuchs kaum stammen. Sie verabsäumt, den Aristokratis- mus jener Elitehaltung855 zu fördern, die laut John F. Kennedy fragt, was sie für das Land tun kann, und nicht, was dieses ihnen bietet.

Ebenso wenig wie für Leitungs-Aspirationen allein kulturelle Fertig- keiten ausreichen, die der französische Meistersoziologe Pierre Bour- dieu als Passepartout der höheren Sphären sah.856

③ Und die Wirtschaftsführer? Verkörpern die Unternehmer oder Top- manager großer Konzerne die berufene Bewegungs-Elite der Postmo- derne, die der politischen Stratosphäre an Visionen und Entschei- dungsfähigkeit voraus ist? Sie in der anstehenden Epoche des Fi- nanzkapitalismus als Neuauflage des „gilded age“, von dem Mark

Twain sprach, in Form plutokratischer Effekte gar überformen, wie

Friedrich von Wieser857 es kommen sah? Kann man Zukunftsweisen- des von jener vielbeschworenen und rechthaberischen corporate cul- ture erhoffen, vor allem eine Milderung der zunehmend diskonnekti-

854 Vgl. The Theory of the Leisure Class (1899), New York: Viking 1931. 855 Für sie gilt jene Ostrogorski-Regel (Anm. 348, Band II, S. 745 ff.), wo- nach nur Furcht die Steuerleute „in the path of duty“ halte, nicht aber Ein- sicht in die Notwendigkeit. 856 Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 4 1987. 857 Das Gesetz der Macht, Wien, Julius Springer 1926, S. 499: „Auf ihrer Höhe bilden die großen Kapitalisten eine Plutokratie. (...) Der Plutokratie wird die Beteiligung an der Herrschaft nicht verfassungsmäßig gesichert, sie ist in den Volkshäusern nur wenig vertreten, sie organisiert sich nicht als eigene politische Partei, sondern sie übt ihren Einfluß auf die beste- henden politischen Parteien und übt ihn durch sie oder auch neben ihnen auf die Regierungen, auf die Ämter ..., und sie übt ihn durch das Mittel der Presse und der öffentlichen Meinung auch auf das souveräne Volk. Sie ge- nießt ihre Macht, ohne daß sie in den äußeren Ordnungen des Staates sichtbar hervorzutreten brauchte. Sie ... kann als Nebenregierung mächti- ger sein als die Regierung. Ohne selbst staatlicher Funktionär zu sein, macht sich der Finanzbaron die Vertreter des Staat abhängig... Die Pluto- kratie übt ihre Macht in der modernen Form der Kontrolle aus (...) Das Ge- heimnis der Macht des Kapitals ist seine Fähigkeit, sich stets in diejenige Gestalt zu verwandeln, in der es nach Lage der Dinge die stärkste Wirkung haben kann. Darum meidet der Plutokrat das öffentliche Amt, weil es ihn immobilisiert.“ 279

ven Gerechtigkeitslücke mitsamt ihrem Risiko einer anomischen Zu- spitzung? Oder sind sie „führende Individuen“ (Vierkandt), nicht aber eine nach ihrem Wert für Bestand und Dauer des gesellschaftlichen

Umfeldes relevante Ranggruppe?858 Eine Solidargemeinschaft also, die politisch mit gestaltet und Führungsqualitäten frei nach „Manager do the right things, leader do things right“ (Warren Bennis) mobili- siert, nicht nur dirigieren oder spekulieren kann oder ununterbrochen

über das „schädliche Regulierungsdickicht“ (Soltwedel) jammert, um von eigenen Leistungsschwächen abzulenken859? Angesichts der vie- len Durchstechereien860 und der in mehr als einer Hinsicht ver- schleppten Modernisierung der Technostrukturen mitsamt dazu nötiger

Ausbildungsvoraussetzungen der hiesigen Wirtschaftsregion fällt eine

Bewertung eher durchwachsen aus861, um von der anhaltenden Insol- venzen-Welle (fast 28 000/Jahr im letzten Jahrzehnt) abzusehen, ob- schon sich neuerdings bei der innergesellschaftlichen Prestige-

Verteilung die Wirtschaftskreise allenthalben im Zentrum der Auf- merksamkeit/Erwartungen finden. Das lässt die öffentliche Begutach- tung (assessement) der Wirtschaftsleistung als „Politikum ersten

Ranges“ (E. W. Mommsen) in den Hintergrund treten, trotz der Best- seller von Günter Ogger862. Sozialfatalismus breitet sich aus, „der

858 Das Phänomen der Unternehmer im alten Sinne stellte sich anders dar, weil die Schaffung von Arbeitsplätzen ebenso angestrebt wurde wie die Bereitschaft zur innergesellschaftlichen Zusammenarbeit üblich war. 859 Wilfried Herz: Standortrisiko Manager, Die Zeit vom 19. 4. 1996, S. 32; Es wird gelitten, gelitten, Report über Management, Der Spiegel Nr. 24 (1992), S. 124 f. 860 Zur Verwandlung von Wirtschaften in Übervorteilen Johannes Ludwig: Wirtschaftskriminalität, Frankfurt am Main: Fischer 1992; auch Hans see/Dieter Schenk (Hrsg.): Wirtschaftsverbrechen. Der innere Feind der freien Marktwirtschaft, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1992. 861 Weswegen nur mehr 44 % der Westdeutschen und 22 Prozent der Ost- deutschen eine positive Einstellung zur Marktwirtschaft hegen, Zit. Frank- furter Allgemeine Zeitung vom 5. 2. 2000, S. 4. 862 Vgl. Absahnen und abhauen. Deutschland vor dem Chaos, München: Knaur 1999; auch Jörg Staute: Das Ende der Unternehmenskultur - Fir- menalltag im Turbokapitalismus, Frankfurt am Main/New York: Campus 1997. 280

ökonomische Wert im Unterschied zu anderen Werten beherrscht und führt das reale Handeln der Menschen wirklich“863. Keine Rede mehr von jenem Steuerungsmut der Politik gegenüber der Firmenwelt, den eine Erklärung der „Labour Party Policy“864 in Übereinstimmung mit dem seinerzeitigen Zeitgeist bündig auf den Begriff brachte: „Jeder

Industriezweig hat einem Test nationaler Nützlichkeit unterworfen zu werden. Dient er der Öffentlichkeit, ist alles in Ordnung; wirkt er aber ineffizient oder leistet er nicht genug, dann hat sich die Nation darum zu kümmern, dass die Dinge zurecht gerückt werden.“ Aber selbst be- zogen auf heutige Vorstellungen über die „soziale Verantwortung von

Unternehmen“ (Clarance C. Walton), wie sie sich der florierenden

Wirtschaftsethik entnehmen lässt, bleibt das gesellschaftliche

Leistungsportefolio der Wirtschaftsbosse zu kritisieren865, man halte sich die Ergebnisse866 der Untersuchung von Amitai Etzioni über ‚Ca- pital Corruption’ (San Diego u.a.: Harcourt Brace 1984) in den USA vor Augen. Oder lese, weil vergnüglicher, die Bücher von Tom Wol- fe867 über die amerikanische Plutokratie samt ihren sozial- nachgefragten Alphalöwen. Allgemeinwohl-kompatible Losungen wie

„honesty pays“ wären im Zeitalter der Verwechslung von Börsennotie-

863 Arthur Salz: Macht und Wirtschaftsgesetz. Ein Beitrag zur Erkenntnis des Wesens der kapitalistischen Wirtschaftsverfassung, Berlin/Leipzig: Teubner 1930, S. 140. 864 Zit. William Wallace: Enterprise first. The relationship of the State to Industry, with particular reference to private enterprise, London u.a.: Longmans, Green 1946, S. 65. 865 Nicht nur, weil jene von Tom Peters besschriebene ‚In Search of Excel- lency’ (1982) ein Nebenprodukt der Rendite-Erwartung der Aktionäre dar- stellt, die nicht unbedingt mit denen der Verbraucher deckungsgleich ist, sondern auch, weil diese extrinische Motivation prekär bleibt, wie es das Niedergangs-Beispiel (Ian Brodie: US plane maker’s reputation nosedives, Times vom 3. 11. 1999, S. 21) der von Peters gelobten Boeing-Werke be- legt. 866 „In the interest group state, the government works overtime only for the strongest interest groups. The rest are cut in as second cousins - if the are not cut out“ (S. 4). 867 The Bonfire of the Vanities, New York: Bantam 1987, neuerdings: A man in Full, London: Jonathan Cape 1998. 281

rungen mit Wirtschaften unter Betriebschefs erst wieder zu verbrei- ten868. 62 % der größten US-Firmen wurden zwischen 1975/1984 we- gen eines Wirtschaftsvergehens verurteilt, 42 % von ihnen gleich in mehreren Fällen, die US-Wirtschaft ist zudem großflächig von Mafia-

Investitionen durchsetzt. Immerhin konnte diese Lenkungsschicht, de- ren Ehrlichkeit 55 % der US-Bürger misstrauen869, ihrem Marktinnova- tionsauftrag nachkommen, ohne allerdings die gesellschaftlichen etc.

Kosten der eingeschlagenen Strategien zu taxieren, was außerhalb ihrer Entscheidungslogik liegt, wie ein Blick auf die sozialen Risiken des Postfordismus mitsamt seinen para- oder extra-elitärenf Füh- rungskadern zeigt. Wobei diese Sozialignoranz – nicht zuletzt bezo- gen auf unbeabsichtigte Nebenfolgen des Wirtschaftshandelns - mit der Verengung der Manager-Rolle im anspruchsvollen Sinne auf „wirt- schaftende Personen“ zusammenhängt, die laut Milton Friedman nichts anderes mehr sind „als Marionetten der Marktgesetze“. Von

„Charaktermasken“ solcher Geldfunktionäre hatte schon Karl Marx

(MEW 23, S. 100) gesprochen, übrigens voller Verständnis für deren

Sachzwang-Lage. Und die Tendenz zu immer größeren und transnati- onalen Wirtschaftszusammenschlüssen wächst weiter, was die Aufga- benwahrnehmung der Wirtschaft noch mehr auf ihr eigenes Überleben schrumpfen lassen wird, gelingende Gesellschaft hin oder her. Diese

Parallelaktion von Verantwortungsverlust und Machtzuwachs hielt schon Charles E. Lindblom870 nicht nur für ein politisches Risiko der

868 Weswegen Ken Blanchard und Norman V. Peale mit ihrem ‚The Power of Ethical Management’ (New York: Fawcett Crest 1988) einen Kreuzzug für mehr Verlässlichkeit eröffneten, nicht nur im Geschäftsleben. Auch inter- national führt Washington seither einen Feldzug gegen die Korruption, vgl. Stuart E. Eizenstat: Die Förderung der Rechtstaatlichkeit und der Bekämp- fung von Korruption in einer globalisierten Wirtschaft, Amerika-Dienst vom 30. 12. 1998, S. 1 ff. 869 Die verlorene Ehre der US-Geschäftsleute, Frankfurter Rundschau vom 2. 4. 1986, S. 13. 870 Jenseits von Markt und Staat. Eine Kritik der politischen und ökonomi- schen Systeme, Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein 1983. 282

Entwicklung, sondern überhaupt für inkompatibel mit „Theorie und Vi- sion der Demokratie“ (S. 559). Deswegen geht es laut Ex-Mercedes-

Chef Edzard Reuter871 mehr denn je darum, angesichts „der Zügello- sigkeit wirtschaftlicher Egoismen“ den Primat des Politischen wieder- herzustellen, „der konstitutiv ist für die demokratische Staatsidee“.

Jedenfalls in der Hoffnung, dass der Ordnungskosmos des Politischen weiterhin von Eliten besiedelt wird, die der anzustrebenden Vorrang- stellung des Öffentlichen vor dem Privatismus gewachsen wären. ***

871 Ratlose Zauberlehrlinge, Die Zeit vom 9. 12. 1999, S. 3. 283

Insert 4: Gewinner und Verlierer im postsozialistischen Kapi- talismus

„Die Volkswirtschaft ist nicht der Produzenten wegen da.“872

Mitten in einer der tiefsten Wirtschaftskrisen der Industriemoderne gewinnt mit Franklin Delano Roosevelt der Kandidat der Demokraten

1932 in den USA die Präsidentschaftswahlen. Sein Vorgänger, Her- bert Hoover, war als Vertreter der ‚reinen Marktlehre’ eher zögerlich gegen die Depression eingeschritten. Er förderte stattdessen den Zu- sammenschluss großer Firmen. Sie sollten Selbstheilungskräfte des

Marktes aktivieren, an die man vor dem großen Produktionseinbruch fest geglaubt hatte. Dieser selbst galt als Spontanausdruck des uner- bittlichen, aber heilsamen, da untüchtige Unternehmen strafenden

Waltens eines unveränderlichen Systems in vollem Transplacement.

Durch Nachfrage nach Arbeit und gute Entlohnung würde - nach einer

‚Bereinigung’ - die Misere wie von selbst behoben, lautete das wirt- schaftsliberale Credo des Republikaners.873 Der neue Amtsinhaber im

Weißen Haus leitet demgegenüber mit einem staatlichen Hilfspro- gramm (New Deal) eine Reihe von Notmaßnahmen ein, die dem Kom- ment der zeitgenössischen Wirtschaftstheorie widersprachen. Doch wer allein das Phänomen der Macht in wirtschaftliche Überlegungen einbezieht, um von Katastrophen zu schweigen, kann geschlossene

Modelle kaum errichten. Er begibt sich vielmehr auf den unebenen

Boden der Politischen Ökonomie und damit in das weite Feld der

Wirtschaftsinterventionistik. Was nützen indes runde Theorien mit mangelndem Realitätsbezug? Roosevelts Hilfsmaßnahmen werden seinerzeit als Verstöße gegen die Eigentumsvorstellungen des Estab-

872 Adolf Weber: Übergangswirtschaft und Geldordnung, München: Pflaum 1946, S. 87. 873 Vgl. Thurman W. Arnold: The Folklore of Capitalism, New Haven: Yale UP 1937. 284

lishments zum Teil durch den Supreme Court untersagt, der etwa den

‚National Recovery Act’ (1933) für nicht verfassungskonform erklärt.

Vor allem sieht sich die Überdehnung der Aufgaben des Staates kriti- siert. Washington raffe in den Labor Relations, durch den National

Housing Act u.a.m. Zuständigkeiten an sich, die der Politik nicht zu- stünden; zudem würde eine Lawine der Machtkonzentration am Poto- mac losgetreten, die dann tatsächlich auf Kosten der bis dahin natio- nalpolitisch sehr einflussreichen Gliedstaaten ging.

Diese und andere Maßnahmen wie die Einrichtung von Unterstüt- zungskassen für Arbeitslose, Hilfe für die Farmer oder Maßnahmen zur Energiegewinnung, die durchgesetzt werden konnten, all das hat nur langsam gegriffen und die Existenzsorgen der Betroffenen nur unwesentlich erleichtert. Immerhin wurde die Zuständigkeit der im

Staat organisierten Allgemeinheit („this land is our land“) für die Er- träglichkeit der Lebensumstände anerkannt874. Und damit galt, jeden- falls theoretisch, das Kollektiv-Debakel eines Wirtschaftsabsturzes nicht länger als Schicksal. Ihm konnte, ihm musste durch die öffentli- chen Hände gegen gesteuert werden.875 Das Ausmaß der Tragödie des Marktversagens, die durch Naturkatastrophen im dust belt ver- schärft wurde, hat John Steinbeck in seinem Roman „Die Früchte des

Zorns“ (1939) als Anklage gegen anonyme Geld- und Ordnungsmächte formuliert. Sie waren, wenn nicht die Verursacher - etwa durch

Staatsverschuldung und Kreditboom -, so doch Nutznießer einer Funk- tionskatastrophe der die Gesellschaft versorgenden Produktions-

874 Vgl. zeittypisch Oscar Newfang: The Case against Capitalism, in ders.: Capitalism and Communism: A Reconciliation, New York/London: Putnam’s Sons 1932, S. 3 ff. 875 Was nicht heißt, dass diese Interventions-Politik ökonomisch (vgl. Law- rence Reed: Great Myths of the Great Depression, Midland 1998) erfolg- reich war, ganz im Gegenteil; es geht indes um das soziale Verantwor- tungsprinzip, das die Roosevelt-Administration in den Ideenhaushalt der USA einführte, dazu Richard H. Pells: Radical Visions and American Dreams: Culture and Social Thought in the Depression Years, Middletown, CT: Wesleyan UP 1973. 285

welt876, die im Interesse des cash nexus und im Namen der Selbst- verantwortung keine gemeinschaftlichen Regulative für Stockungen der Marktkräfte zugelassen hatte.

Regulierung

In den Vereinigten Staaten konnte die Regierung den Wirtschafts- kreislauf langsam wieder ankurbeln. Diese Eingriffe rechtfertigte John

Maynard Keynes wenig später theoretisch als fiskalpolitische Maß- nahmen in Zeiten des Abschwungs, um ökonomische Multiplikatoren-

Effekte anzuregen. In Deutschland schlug die Krise um in eine politi- sche Erschütterung. Sie half Hitler den Weg zur Macht ebnen. Der braune Stimmenfang als kollektive Flucht in die Unfreiheit, mit Erich

Fromm paradoxerweise als Versuch einer unifizierenden Ichstärkung durch Vermassung zu verstehen, verdeutlichte den Zusammenhang von ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklung. Wirtschaften ist ein gemeinschaftlicher Vorgang. Es geht um Versorgung der Men- schen, nicht vorrangig um private Geldvermehrung. Weil Letzteres von der Nationalökonomie heute wieder ohne Wenn und Aber gepre- digt wird, spricht Gero Jenner877 von einer „asozialen Verfallsform der Marktwirtschaft“.

Nicht zuletzt wegen der politischen Relevanz wirtschaftlicher Fakten zog man nach 1945 aus den schlimmen Erfahrungen mit unberechen- baren Marktprozessen allenthalben praktische Schlüsse. Im Namen von Freiheit und Auskömmlichkeit sollten Auf- und-Abschwünge beein- flusst werden, auch gegen Investitions-Interessen im engeren Sinne.

876 Zur Banalität solcher Existenzvernichtung durch die Wirtschaftslogik vgl. Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Markt- wirtschaft, Frankfurt am Main: Eichborn 1999. 877 Das Ende des Kapitalismus (Anm. 602), S. 10. 286

Im Zusammenspiel von Arbeitnehmer-Organisationen und politischer

Klasse war eine soziale Zügelung der unternehmerischen Dynamik angesagt, die allerdings für die technologische Entwicklung nötig blieb. Helmut Schmidt878 sprach von „nackter Marktwirtschaft“, für de- ren Opfer und Verlierer - also im Interesse der Schwächeren - es dauerhaft Rote-Kreuz-Stationen hinter den Fronten des Wettbewerbs einzurichten gelte: Um tatkräftig einen ‚Kapitalismus mit menschliche- rem Gesicht’879 zu organisieren und nicht nur in Form einer seit John

Rawls (Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp

1979) heißgelaufenen Zuteilungsdebatte das Brot der Semantik statt sozialpolitischer Realia an die Schar der Bedürftigen auszugeben880, die wieder größer wird.

Zur Erinnerung. Mit Beginn des Jahres 1950 verlagerte sich der

Schauplatz der weltpolitischen Sorgen nach Asien, wo ein maoisti- sches China vorerst für den Weltmarkt verloren ging. Auf dem Alten

Erdteil hatten sich die Nachkriegsverhältnisse konsolidiert, was eine

Europa-Bewegung beförderte. Und auf dem Gebiet der westlichen Be- satzungsmächte in Deutschland entstand eine moderne Demokratie, die sich der atlantischen Wertegemeinschaft verpflichtet fühlte. Aus- druck dieser Wende zum Besseren für die 47 Millionen Bürger der

‚Bonner Republik’ war neben steigenden Produktionsziffern nicht zu- letzt die Gründung des DGB. Er war seit dem 13. Oktober 1949 unter dem Vorsitz von Hans Böckler angetreten, um durch Mitbestimmung nach und nach die autoritären Züge einer Unternehmer-Ökonomie ab-

878 Kanzler Helmut Schmidt auf der SPD-Fachtagung: „Internationale Poli- tik“ in Bonn am 9./10. April 1976, Hrsg. Vorstand der SPD, Bonn 1976, S. 81 ff., hier S. 86 f. 879 Was Robert Kurz [(Anm. 876), S. 602 ff.] allerdings für eine paradoxe Utopie hält, so als ob man einem Lamm den Wolf wegnehmen wolle. 880 Zur Kritik der Gerechtigkeitsdiskurse vgl. Hartmut Rosa: Die prozedura- le Gesellschaft und die Idee starker politischer Wertungen - Zur morali- schen Landkarte der Gerechtigkeit, in Herfried Münkler/Marcus Llanque (Hrsg.): Konzeptionen der Gerechtigkeit, Baden-Baden: Nomos 1999, S. 395 ff. 287

zutragen; zugleich sollte den sozialen Verwerfungen durch Tarifpoli- tik, den Ausbau des Sozialstaats und durch Bildungsinvestitionen entgegengewirkt werden.

Noch hatte es die Epoche keineswegs mit jenem „plausiblen Kapita- lismus“ (Schumpeter) zu tun, der umverteilungs- und kooperationspo- litisch moderiert war und der in unseren Zeiten der Deregulierung als

Antisozial-Radikalismus auf Abruf steht.881 Schon damals hatten die

Ansprüche des Sozialen die ElitenD und ihre Öffentlichkeit immer dann gegen sich882, wenn es um die Ausweitung oder Sicherung ge- rechterer Zustände ging, obschon es der rheinischen Spielart der

Markt-Lehre um ‚Wohlstand für alle’ zu tun war. Aber auf dem Wege des Wirtschaftswachstums durch Fleiß, nicht durch allzuviel Umvertei- lung mitsamt den Kosten einer Hängematte aus Härtehilfen.

Der Zeitgeist, so lehrt die Erfahrung, sei es früher die Religion der

Obrigkeit oder heute die Ideologie des Geldes, gerät allemal derart dominant, dass die Meinungsträger/Einflussreichen seinen Trends nach dem Munde reden, um ‚in’ zu bleiben, wenn sie ihn als Kampf um

Bedeutungen883 nicht miterzeugen; diejenigen aber, die durch eine

881 Vgl. zum Wegbrechen durch Verbandsflucht, Mitgliederschwund etc. der tragenden industriellen Beziehungen zwischen den zentralen kollektiven Akteuren von Kapital und Arbeit Klaus Schmierl: Erosion oder Wandel, WSI-Mitteilungen 8 (1999), S. 548 ff. 882 Sein heißt wahrgenommen werden: Wer es versäumt, aus welchen Gründen auch immer, sich bemerkbar zu machen, gerät in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit ins Hintertreffen. Was im Umkehrschluss von den ge- sellschaftlichen Akteuren verlangt, ihr Logo ebenso unmißverständlich wie nachhaltig ins rechte Licht zu rücken: Und sei es - wie im Falle der Sozial- opposition im Namen von Gleichheit und Gerechtigkeit - durch die Provoka- tion festsitzender Macht- und Verteilungsgegebenheiten. Nur so ist man dem öffentlichen Druck gewachsen, der sich daraus ergibt, dass Forderun- gen, die den Nerv der Verteilung von Macht und Ressourcen berühren, in den Medien wie übrigens auch in der Wissenschaft eher ignoriert werden. 883 In einer luziden Studie haben Sebastian Fellmeth und Christian Rohde (Der Abbau eines Wohlfahrtsstaates. Neuseeland als Modell für das nächs- te Jahrhundert?, Marburg: Metropolis 1999) mit Blick auf die wirtschaftsli- berale Umkrempelung eines Wohlfahrtsstaates solchen Zerschlagungs- Fanatismus beschrieben, der hierzulande unter dem Titel benchmarking auf gespitzte Ohren gestoßen ist: Obschon er ohne Rücksicht auf demokrati- 288

derartige Macht der Vorstellungen benachteiligt werden, ducken sich lieber. Diese „verdammte Bedürfnislosigkeit“ (Lassalle) verwandelt laut Christian Nürnberger884 die Markt- tendentiell in eine Machtwirt- schaft. Aber kann eine „Plutodemokratie“ (Duverger) auf die Dauer bestehen oder wenigstens offene Züge tragen885, wenn sich Ord- nungsproblematik und Gerechtigkeitsfrage trennen, die politisch doch auf einander angewiesen sind? In der neuen Machtwirtschaft beherr- schen die Wohlhabenden samt Zelebritätskultur die Herzen und Köpfe der Mitwelt, da Reichtum und Macht von unten nach oben steigen, auch wenn das Newton widerspricht. Alternativen oder Widersprüche sehen sich abgedrängt. Der von der europäischen Sozialdemokratie angestrebte ‚neue Mittelweg‘ erweist sich dann nicht als Überholspur in eine besser Welt, sondern als Ausfahrt mitten ins Bestehende.

Dabei geht es angesichts der sich ausbreitenden Armut samt Verach- tung der Betroffenen, Regellosigkeit und Unterversorgung mit emotio- nalen Gütern weiter um die Klärung der Wechselfälle einer Wirt- schafts- und Gesellschaftsentwicklung als Vabanquespiel. Sie scheint sich zwar zivilisiert zu haben, wirkt nichtsdestotrotz zunehmend kom- pliziert und ist rauh geworden für immer mehr Verlierer. Können sich im Zeitalter des Globalismus überhaupt Nischen halten, die in eine

sche Spielregeln oder das Gemeinwohl und entsprechend mit erschrecken- den Folgen für die soziale Gerechtigkeit auf der fernen Insel ablief. 884 Die Machtwirtschaft (Anm. 615). 885 Ende 1998 galten 88 der 191 Staaten auf der Erde als ‚frei’, 50 waren ‚halbfrei’, wiewohl formal ‚demokratisch’ strukturiert, und 50 waren unfreie Gesellschaften, vgl. Adrian Karatnycky: The Decline of Illiberal Democra- cy, Journal of Democracy, Band 10/Nr. 1 (Januar 1999), S. 112 ff. Eine ge- nauere Sichtung auch der ‚freien Länder’ mit demokratischen Einrichtungen erweist große, nicht nur strukturelle, sondern durchaus das Maß der Frei- zügigkeit betreffende Differenzen, so dass nicht nur mit Blick auf elitäre Verhärtungen, Korruption, geringere politische Ausdruckschancen etc. zu- weilen von „Demokraturen“ (Kästner) zu sprechen wäre. Konturen solcher Verhärtung glaubt Jacques Baguernard (La démocratie. Une utopie courti- sée, Paris: ellipses 1999) auf der Folie eines anspruchsvollen Verständ- nisses dieser rationalen Herrschaftsweise auch mit Blick auf die etablier- ten Demokratien des Westens und (S. 35 ff.) zu erkennen: Nicht zuletzt deswegen, weil allerorten „le peuple se détourne de son élite“ (S. 155). 289

sozial-ökologisch moderierte Zukunft weisen? In eine Zukunft, in der beispielsweise Arbeitnehmerverbände die Risikolage samt Aufsprei- zen der Lebensverhältnisse zu drosseln vermögen? Zu den „kulturel- len Widersprüchen des Kapitalismus“ (Daniel Bell) zählen weitere Be- unruhigungen, deren Krisensteuerung, gar Lösung offen ist, obschon sie den weiteren Zusammenhalt der Gesellschaften elementar betref- fen. Die Auflösung überkommener Muster der Partnerbeziehungen ist einer dieser Dollpunkte. Die Familie als „Keimzelle des Staates“

(Riehl) steckt in Schwierigkeiten. Das Wirtschaftssystem scheint das ganze Spektrum ihrer Reproduktionsleistungen entbehren zu kön- nen.886 Dennoch bleibt jede Gesellschaft als Kulturprodukt auf Enga- gement, Effektivität, Kooperation und Kreativität ihrer Bürger ange- wiesen, deren Tugenden ihrerseits wieder auf Sozialisierungs-

Anstrengungen im Nahbereich der Menschen, also nicht zuletzt in den

Familien basieren. Der Wind des Wandels aber bläst kritischen Nach- fragen kräftig ins Gesicht. Jedes nicht-neoliberale Argument bekommt die Beachtungsregeln der Kommunikation zu spüren, die alles ver- drängen, was nicht fetzig wirkt, was nicht an den Ufern des Reibachs oder Überflusses siedelt oder was die modernistischen Macher und ihre Wächter887 stört beziehungsweise zu komplex wirkt888 für die Er-

886 Dazu Elmar Altvater: Die Welt als Markt, in Florian Müller/Michael Mül- ler (Hrsg.): Markt und Sinn. Dominiert der Markt die Werte?, Frankfurt am Main/New York: Campus 1996, S. 19 ff. 887 „[Business] corporation have marshaled behind them the bulk of scien- tific brains of the country, a resource which labor, farmers, and the go- vernment itself cannot equal“, konstatierte dieses Lage, die nicht anders geworden ist, bereits ein Bericht des Senats-Kommittees über die wirt- schaftspolitische Verwertung von Expertenmacht‚ „making its political strength almost unassailable“, Donald C. Blaisdell: Economic Power and Political Pressures’, Monograph 26 of the Investigation of Concentration of Economic Power by the Temporary National Economic Committee, Wa- shington: Government Printing Office 1941, S. 13, 22, 33. 888 Hier waltet eine Art von ‚Gresham’schen Gesetz’ der Medien, wonach das profitable Schlechte/Primitivere das weniger lohnende Gu- te/Qualitätsvolle verdrängt. 290

lebniswelt des Verbrauchs, die dem Diktat untersteht, wonach „image is everything“ (Cronkite).

Da mag mit Michel Hansenne der General-Direktor der ILO noch so laut mahnen, „den Faktor Arbeit nicht zu vergessen“. In der veröffent- lichten Wahrnehmung kommen dessen Belange kaum mehr vor, ob- schon sich bei aller scheinbaren Virtualisierung der Seins- und Pro- duktionsweisen doch an der durch Eugen von Philippovich (Grundriß der politischen Ökonomie, Tübingen: Mohr 191926, S. 155) beschrie- benen Beschäftigungslage insgesamt wenig geändert zu haben scheint: „Soweit die sachliche Natur der ausführenden Arbeit eine als

Ungunst empfundene oder eine tatsächlich ungünstige Wirkung be- sitzt, ist letztere unvermeidlich (...) Die ausführende Arbeit erfordert unter allen Umständen eine persönliche Unterordnung, eine Unterwer- fung des eigenen Willens unter einen führenden, leitenden und bringt dadurch eine Scheidung der sozialen Stellungen mit sich, die niemals zu vermeiden sein wird. Insofern ein großer Teil der ausführenden

Arbeit mit ... einer größeren Einbuße an Behagen und Wohlsein ver- knüpft ist ... liegen ... Übel vor, die unvermeidlich sind und immer von irgend einem Theile der Gesellschaft getragen werden müssen. Sie können durch keine Art des Arbeitssystems aus der Welt geschafft werden". Das zum einen; zum anderen aber benötigt die moderne Wis- sensgesellschaft mehr denn je die Energien des Humankapitals

(Motivation, Talent, Imagination) - mithin deren Arbeitswert -, nicht aber ausschließlich die Fähigkeit, Anlagen gewinnbringend zu platzie- ren. Den Beschäftigungslosen wird ihr Befinden zunehmend als Ei- genproblem vorgehalten. Die Arbeit als solche samt Lernqualifikation ist in der allgemeinen Wertschätzung tief gesunken, seit die Markt- wirtschaft der Geldanhäufung dient, nicht der Befriedigung von Be- dürfnissen der Beteiligten, soweit sie nicht ohnehin nur dem Werbe- rummel zu zu schreiben sind. Entsprechend geraten die Anstellungs- verhältnisse prekärer, alles wirkt wie auf Abruf. Nur mehr ein Viertel 291

der Arbeitenden kann in der neuen Hierarchie des „Flexcap“ der Zu- kunft mit seinem liquiden System der Produktion auf feste Einkommen rechnen.

Gleichwohl fehlt den sozialwissenschaftlichen Bestandsaufnahmen in einer ebenfalls zunehmend kommerzialisierten Universität der war- nende Unterton. Die Wirtschaftswissenschaft frönt einem fiktiven ho- mo oeconomicus et rationalis.889 Dessen Modellhandlungen sehen auf dem Papier stimmig aus890, porträtieren sie doch nichts als virtuelle

Realitäten891, aber eben nur dort: Weil das, was sich rechnet, kei- neswegs gesellschaftpolitisch sinnvoll sein muss, wie die sprichwört- lichen ‚Chicago-Boys’ in Lateinamerika oder Osteuropa vor Augen ge- führt haben, mit all den heiklen Folgen von Transformationsgesell- schaften im Stress oder gar außer Rand und Band. Denn wer deregu- liert, muss auch regulieren. Und die Soziologie, einst Königswissen- schaft eines gedeihliches Miteinanders, hat sich etwa mit dem mo- disch gewordenen Konstruktivismus in Theoriehöhen verstiegen hat, von wo aus die Realität nicht nur unter den Wolken der Unerkennbar- keit verschwunden zu sein scheint, sondern per Beobachtung xten

889 Wie es mit Blick auf ökonomische Heilslehren unserer Tage bei Paul Krugman (The Accidental Theorist and other Dispatches from a Dismal Science, New York: Norton 1999) satirisch heißt. 890 Im Kontext einer ‚neuen Politökonomie’ (Frey) ist zwar eine Annähe- rung von Ökonomismus, Mathematisierung und Soziall beziehungsweise Gesellschaftsanalyse versucht worden. Deren Rückwirkungen auf die Tem- pel der Wirtschaftswissenschaften blieben gering. Profitiert haben von die- ser Wende, etwa im Rahmen des Rational-choice-Ansatzes, eher Diszipli- nen wie die Soziologie. In der Ökonomie selbst, bis 1997 nicht zuletzt an der Nobel-Prämierung von lauter Formel-Traumwelten abzulesen, während erfolgreiche Praxisansätze der Theorie (etwa der ‚Ordoliberalismus’) leer ausgingen, herrscht mit der Verwechslung von Ziffernschrift und Hand- lungswelt eine „cabbala vera“ (Leibniz) vor. Zu prognostischen sowie poli- tischen Schwächen dieses gesellschaftstheoretischen Leitfaches vgl. Alf- red L. Malabre: Lost Prophets. An Insider’s History of the Modern Econo- mists, Boston: Harvard Business School Press 1994. 891 Vgl. die kritischen Beiträge in James G. Carrier/Daniel Miller (Hrsg.): Virtualism. A New Political Economy, Oxford: Berg 1998, die sich mit der Dominanz einer virtuellen Ökonomie beschäftigen, die aus der Sicht eines neoklassischen Wirtschaftsmodells die bestehenden Verhältnisse der Loka- lität oder Kulturalität als ‚irrational’ verwerfen. 292

Grades unter Nachweisdruck geraten ist, ob sie überhaupt ‚existiert’.

Ansonsten wird um so entschiedener an eine projektive Selbstverwirk- lichung pur geglaubt, welche die Zukunft frei nach Janosch für alle im

Gepäck führen soll. „Oh, wie schön ist Panama!“

Demgegenüber bleibt daran zu erinnern: Die kämpferische Leistung etwa der vielgeschmähten Gewerkschaften begründete jenen ‚Fahr- stuhleffekt’, der via modischer Individualisierung direkt in die Post- moderne weist. „Die Idee eines selbstregulierenden Marktes“ erwies sich laut Karl Polányi892 von Anfang an als „krasse Utopie“, wodurch das Ordnungsdilemma der nachfeudalen Politiklehre ebenso relativiert wird wie das Integrationsparadigma der Frühsoziologie. Nachdem über eine vielförmige Umverteilung die materielle wie immaterielle Güter- versorgung in der Hochmoderne gesichert und die fabrikweltliche Ri- sikenexplosion durch Versicherungs-Etablissements893 kalkulierbarer schien, gerieten die Leistungen der Gewerkschaften aus dem Blick.

Fast überall in Europa sind ihre Anhängerzahlen und damit der Orga- nisationsgrad zurück gegangen.894 Solches In-Vergessenheit-Geraten der kollektiven Voraussetzungen der sozialen Netze und ihrer Umver- teilungshöhe macht der Sozialpolitik zu schaffen. Allenthalben stehen deren Vertreter im Verdacht, Anspruchs-Dinosaurier einer vergange- nen Industrie-Epoche zu sein. Und das, obschon Armut, Entfremdung,

Ausschließung und Abwertung nicht nur der Mühseligen und Belade- nen um sich greifen. Nicht nur in technologischen Spitzenbranchen der Innovationsgesellschaft fühlt man sich über kollektiven Druck er- haben. Fällt das Sozialkapital in Form von Solidarität erst ebenso in

Misskredit wie das entsprechende Idealkapital, also die Regelungs-

892 The Great Transformation (Anm. 76), S. 17. 893 Vgl. François Ewald: Histoire (Anm. 42), S. 103 ff. 894 Er schwankt offiziell in den großen EU-Ländern zwischen 10 (Frank- reich/Spanien), 30 (Deutschland/Großbritannien) und 38 (Italien) Prozent der Beschäftigten, vgl. Einblick Nr. 1 (2000), S. 1. 293

kompetenz der Staatlichkeit, nicht zuletzt auf dem Markt895, sind A- nomie und Asozialität programmiert. Um vom Verludern des Wirt- schaftsbegriffes im Rahmen einer Share-Holder-Ökonomie zu schwei- gen, die das grenzenlose Fusionskarussell (der Gesamtwert der Fusi- onen hat sich in der vergangenen Dekade mehr als verachtfacht, die

Zahl der Unternehmenskäufe fast verdreifacht) samt Personalabbau mit Kurssteigerungen belohnt, wie etwa im Herbst 1999 bei Michelin in Frankreich oder im Frühjahr 2000 bei der Gründung eines neuen

Energieriesen (VEW + RWE) in Nordrhein-Westfalen.

Jener von Edward Luttwak beschriebene „Turbo-Kapitalismus“ (Ham- burg/Wien: Europa Verlag 1999) fordert einen hohen Preis, wie ihn

Robert Kurz (Anm. 876) allerdings in allen Phasen der Durchkapitali- sierung der Zeitläufte verbucht. Süß und angenehm ist es, für den Be- trieb zu sterben?896 Wachstum als dash for growth meint zudem nicht länger auch die Bereitstellung neuer Jobs. Hinzu kommt eine klaffen- de Schere zwischen Superreichtum einerseits und Einkommensverlus- ten auch der Mittelschichten andererseits. Der ökonomische Be- schleunigungsprozess mitsamt erforderlicher Mobilität und Flexibilität zerstört ältere Bindungsmuster, ohne neue zu schaffen. Die Freizeit- forschung spricht von einer „Konfetti-Generation“ (Opaschowski), die alles will und von allem noch viel mehr. Am Ende bleiben bruchstück- hafte Impressionen eines sinnarmen Lebens der Entäußerung. Auch das wäre ein Thema mit Exkursen, das einer medialen Pflege und

Verstärkung bedürfte, damit auch in postmodern times ein polyphoner

895 Für den Frank Hyneman Knight (Risk, Uncertainty and Profit (1922), New York: Harper & Row 1965, S. 197 ff.) nachwies, dass er im Wettbe- werbstaumel keine Eigenbalancierung erreiche/anstrebe, sondern Kartelle, Monopole etc. ausbilde, würden nicht von außen seine Funktion garantiert und ihm selbst Grenzen gesetzt. 896 Nicht zuletzt in den USA, wo sich die Arbeitszeit von 1883 Stun- den/Jahr (1980) auf 1966 Arbeitsstunden (1997) erhöht hat, während die Zeitbelastung sich in der OECD-Region sich ansonsten absenkte, vgl. Mark Hunter: Les salariés américains aimeraient le temps de vivre, in: Le Monde Diplomatique Nr. 11 (1999), S. 18 f. 294

Chor aus Analyse und Kritik erklingt. Unter den ebenso abgenüchter- ten wie in Zeitdruck stehenden Vorzeichen der modischen Neoklas- sik897 scheinen Herausforderungen wie diese jedoch kaum hinrei- chend öffentliches Interesse zu wecken.

Seitdem kein alternatives Gesellschaftsmodell mehr zu Verteilungs- rücksichten nötigt, hat die weltweite Karriere der Angebotsökonomie nicht nur die Sozialvorstellungen verändert, denn „die Auflösung einer organisierten Gesellschaft, so schon Simon Katzenstein898, „erzeugt stets Theorien, die sich gegen jede gesellschaftliche Ordnung rich- ten“; auch sozialwissenschaftliche Denkansätze gerieten in den Sog finanzkapitalistischer Abstraktionen und ihrer Paradoxe, welche „die

Kalkulierbarkeit der Welt“ in systemischen etc. Formeln suggerierten, wie Hans Georg Soeffner899 die Verwandlung soziologischer Erklärun- gen in den Glauben „an die Macht der Strukturen, an die ‚Gesetze’ des Austausches zwischen ‚interagierenden Subsystemen’ ... und an die Prozeßmechanik des Systems“ kommentiert hat. Widerstand gegen die Unterschlagung der symbolischen, folglich werthaften Grundierung aller kulturellen Gegebenheiten wird seit einiger Zeit zwar vom Komm- unitarismus beziehungsweise von neoaristotelischen Positionen formuliert. In unterschiedlichen Spielarten sieht sich die Gesellschaft- lichkeit der Menschen und ihrer Einrichtungen unterstrichen. Ange- sichts jener allgemeinen Dezentrierungs-Dynamik der Nach-

Postmoderne wird auf deren Risiken verwiesen und für eine Rückbe- sinnung auf die ontologischen Bedürfnisse plädiert. Wären diese in all der Hast und Sachzwanghaftigkeit vielleicht als neuer Gemeinwohl-

897 Zu deren einflussreichen „postulats erronés“ vgl. Paul Bairoch: Mythes et paradoxes de l’ histoire économique, Paris: La Découverte 1995. 898 Freiheit und Ordnung, Sozialistische Monatshefte 1897/1I, S. 157 ff./234 ff., hier S. 241. 899 Populisten – Profiteure, Handelsagenten und Schausteller ihrer Gesell- schaft, in Helmut Berking/Ronald Hitzler/Sighard Neckel (Hrsg.): Politiker- typen in Europa, Frankfurt am Main: Fischer 1994, S. 259 ff. , hier S. 271. 295

Archipel anzusteuern? Der kommunitäre Denkimpuls unterscheidet sich im Ansatz von aller Systemideologie oder Marktscholastik. Durch

Letztere weht so gar kein Hauch des Wissens um die Brüchigkeit aller

Vergesellungsweisen. Mitleid, Fürsorge oder Zwischenmenschlichkeit sehen sich in ihnen als theorie-ästhetische Unreinheiten weg defi- niert. Aber die Problematisierungs-Leistungen des Kommunitaris- mus900 verschaffen sich kaum Gehör im Vergleich zum vorherrschen- den Menschenbild der Kalkulatorik, das David Friedman901 derart un- terhaltsam aufblättert oder Gary S. Becker902 als Erklärungs-

Passepartout vorführt. Ohnedies fällt auf, dass die momentane Baisse des Sozialen und der Solidarität mit einem Gleiswechsel der Gesell- schaftswissenschaften verknüpft ist. Ihre Deutungs- und Kritikkompe- tenz scheint dem Austausch eher farbloser Glasperlen gewichen zu sein.

Nun lässt sich in der sozialen Ideengeschichte ein Wechselspiel zwi- schen Zeitspannen mit Sozialengagement oder mit Ellbogenmentalität feststellen. Sie korrespondieren mit der jeweiligen Wirtschaftsent- wicklung. Deren Auswirkungen auf das ideologische Klima, überhaupt auf die Allgemeinbefindlichkeit einer Epoche, beeinflusst wiederum die politischen Zustände. Arrangiert sich die Mitwelt mit den Gege- benheiten oder erhebt sich Protest? Gegenwärtig lastet auf den von aller Systemkonkurrenz befreiten Marktgesellschaften in mehrfacher

Hinsicht ein inhärenter sowie von außen kommender Veränderungs- druck. Er versetzt die Jetztzeit in eine Phase der Übergangs-

Gesellschaftlichkeit mit offenem Ausgang, die wie schon mehrmals

900 Vgl. Papcke: Kommunitarismus oder der Traum von der Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt, in P. U. Hein/Hartmut Reese (Hrsg.): Kultur und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main: Lang 1996, S. 123 ff.; 420 ff. 901 Der ökonomische Code. Wie wirtschaftliches Handeln unser Denken be- stimmt, Frankfurt am Main: Eichborn 1999. 902 G. S./G. N. Becker: Die Ökonomik des Alltags (Anm. 590). 296

seit Beginn der Fabrikwelt der Epoche erneut das ungute Gefühl ver- mittelt, „dass uns die Fatalität zermalmt“, wie Pierre-Joseph Proud- hon903 einst notiert hat, Jahrgang 1809. Dabei geht es nicht nur um neue Zwänge oder Chancen einer durch die allseitige Vernetzung - in

Echtzeit - innerhalb der globalisierten Wissenschaftsgesellschaft auf- gefrischten Konkurrenzsituation regionaler Wirtschaftsstandorte. Auch nicht um ökonomisch unabsehbare Auswirkungen des Eintritts in den

„Postfordismus“, wie Christian Marazzi904 nachgewiesen hat, die jener

‚dynamischen Theorie spontaner Ordnungen’ der österreichischen

Schule kaum entsprechen. Die dynamisierte Form des Kapitalismus wird durch Megafusionen samt Fixierung auf kognitives Kapital zu ei- ner Totalverwandlung nicht allein der ‚Arbeitswelt’ beitragen. Hinfort ist nicht länger die Kooperation im Raum ausschlaggebend, sondern innerhalb derselben Zeit. Für die Produktivität wird daher zunehmend der Faktor Kommunikation als Ersetzung von Nichts durch Beziehun- gen relevant, nicht aber mehr die reale Produktion. Überdies ist eine

Unsumme von finanziellen, politischen, kulturellen und sozialen

Rückwirkungen auf die Gesellschaftswelt zu erwarten. Sie wird über

• eine Re-Feudalisierung der Arbeitsbeziehungen

• die beschleunigte Auflösung etablierter Staatsrollen

• das Abkühlen des Sozialklimas

• eine Deregulierung aller Sicherungssysteme

• die wachsende Vereinzelung der Menschen

• den Wegfall aller Hemmungen der Konkurrenz eher an frühindustrielle Lagen gemahnen denn an jene mehr oder we- niger gelungene Zügelung der Sozialdinge durch fabrikweltliche Kon- troll- und Ausgleichsversuche. Diese immerhin stellten seit Auguste

903 Zit. Émile Faguet: Politiques et moralistes du 19e siècle, Paris: Société française d’imprimerie 6 1903, S. 130. 904 Der Stammplatz der Socken. Die lingustische Wende der Ökonomie und ihre Auswirkungen in der Politik, Zürich: Seismo 1998. 297

Comte eine intellektuelle Leistung der angesichts wachsender Binde- gewebsschwächen der Gesellschaft heiklen Ausbalancierung von So- zial- und Systemintegration dar.

Ist also ein Wiedereinstieg in jene „härteren Vergesellschaftungsmus- ter der Vormoderne“ (Roscher) zu vermuten? Dann stellt sich erneut die alte Frage nach der Reaktion der von Verschlechterungen direkt

Betroffenen. Gilt es abermals, wie zu Zeiten von Gracchus Babeuf, auf kollektivem Wege „die Umstände zu zügeln“, um auch hinfort die

Sozial- und Umweltbelastungen erträglich zu halten? Doch wie? Mit wem? Unter welcher Eliten-Regie? Und in was für einer Ordnungs- und Verteilungsperspektive könnte solche Politik als zeitgemäße Art von „Sozialkritik“ auftreten, vorerst wenigstens auf einer anpruchsvoll programmatischen Artikulationsebene?

Eines scheint immerhin sicher zu sein: Das Futurum als Projekt eines

Rentenkapitalismus mit stake holder values, der sich seit den 1960er

Jahren durch asset stripper wie Jim Slater und James Goldsmith in

England oder im Sinne jenes Unternehmens-Darwinismus frei nach

„Gier ist nützlich“ à la Ivan Boesky und Jack Welch in den USA popu- larisiert sah905, hat kaum eine chancenreiche Zukunft. Dieser kurz- sichtige Wirtschafts-Kannibalismus zerstört auf Dauer die Fundamen- te nicht nur der Gesellschaftlichkeit. Auch das Marktgeschehen gerät in Schwierigkeiten, selbst ein Casino benötigt ja „feste Regeln“, wie der Spekulant George Soros906 pragmatisch vermerkte und wie Frank

Knight (Anm. 895) theoretisch expliziert hat. Denn es handelt sich bei diesem Übernahme-Boom in einer Welt als Markt nicht um Versor- gung, Herstellung oder jene „schöpferische Zerstörung“, die Schum- peter anpries. Gesucht werden lohnende Anlagestrategien explodie- render Pensionsfonds, das Alter reguliert solchermaßen die Aussich-

905 Vgl. Jon Ashworth: When asset strippers grabbed reins from the cap- tains of industry, Times vom 24. 7. 1999, S. 30 f. 906 Zit. Wirtschaftswoche Nr. 8 (1998), S. 38. 298

ten der Nachwachsenden. Mithin geht es (noch immer) um Herrschaft der Rendite über die Produktivität, die der Mitwelt erschreckende An- passungskosten aufbürdet, wie Marine Whitman907 mit Blick auf die

Intensivierung des weltweiten Wettbewerbs darlegt. Sieht sich in die- ser Arena, die als Arbeitswelt zugleich das Auskommen der Abhängi- gen sichern muss, der Staat mit seiner ausgleichenden Zuständigkeit verdrängt, weil er in den Augen der Marktfanatiker eine „kriminelle

Zwangsorganisation“ darstellt908, die das Glück freier Wahl beschnei- det, was dann? Dann fällt Zivilisation in frühere Zustände zurück und kopiert Phasen der Regelung durch Sozialverhältnisgewalt. Diesen

Zustand hatte die Fabrikwelt in einer Notwehr-Reaktion gegen die entfesselte Marktdynamik durch Für- und Vorsorge aller Art mit den

Jahren mühsam genug kontrollieren gelernt. Dabei kann, wie das

Trittbrettfahrer-Syndrom lehrt, Wohlfahrt in Richtung auf Unmündig- keit und Fehlversorgungen übertrieben werden. Überzuständigkeiten des Kollektivs untergraben nicht nur primäre Vergesellschaftungs-

Formen, sondern hintertreiben die Eigenverantwortlichkeit. Weswegen so oder so „Bürgergesellschaft und Gemeinwohl“ neu justiert werden müssen.909 Aber entäußert sich die Wirtschaft des Sozialen und die

Politik des Partizipatorischen, dann droht der Rückschritt in gereizte- re Zeiten, keineswegs jedoch der Fort-Schritt in größere Lebenschan- cen für alle Welt, wie Marktmystiker es glauben machen.

Das lehrt nicht zuletzt der Blick zurück auf die Anfänge der Regulie- rungstradition. Die Aufklärung hat die Grundlagen jener Erwartungen,

Ansprüche und Rechte in eine human-ökologisch erträgliche Moderne

907 Global Competition and the Changing Role of the American Corporati- on, The Washington Quarterly, Band 22 (Spring 1999)/Nr. 2., S. 59 ff. 908 Vgl. Murray N. Rothbard als Prophet aller Regelungs-Allergiker: Ethik der Freiheit (Anm. 112), S. 177. 909 Wie es Ulrich von Alemann u.a. [(Hrsg.): Bürgergesellschaft und Ge- meinwohl, Analyse. Diskussion. Praxis, Opladen: Leske + Budrich 1999] zur Diskussion stellen. 299

eingebracht. Seither gerät die Öffentlichkeit zum Austragungsort riva- lisierender Sozialvorstellungen, die sich politisch behaupten müssen.

In der Massengesellschaft wurden Benachteiligungen aller Art vor dem Schieds- und Sittengericht der Öffentlichkeit nicht nur politisch zum Skandal; vermittelt durch das Ideal der Gleichheit (Isonomie) al- ler Bürger wurden Beeinträchtigungen immmer aufmerksamer ver- zeichnet. Der neuzeitliche Interventionsstaat wollte im Interesse der

Bürger sozial, kulturell oder geschlechtsspezifisch für Ausgleich sor- gen, um Ungerechtigkeiten nicht nur zu mindern, sondern deren Ver- erbbarkeit zu vermeiden.

„Der Aktus des Gehorchens ist immer ein Aktus der Furcht“, kommen- tierte Friedrich Gentz910 die Konventionen überlieferter Politik. Im

Sinne der Zustimmungspflichtigkeit aller Regierungsarbeit schienen sich Pressionen dieser Art zu erledigen. Anordnen und Folgen hinge- gen sind geblieben und spiegeln nicht zuletzt arbeitsweltliche Zwän- ge. Die Gegenwart erlebt die Alleinherrschaft des Marktes, dem es um

Gewinn, Effizienz oder Flexibilität geht, was Kenichi Ohmae als „Die neue Logik der Weltwirtschaft“ (Frankfurt am Main: Fischer 1992) um- reißt. Ohne Solidarität beziehungsweise Autonomie911 unterliegt die

Zukunft wieder ungeschützt jener „Fortsetzung des Krieges mit ande- ren Mittel“, wie Daniell Bell912 die Wirtschaft pur umschrieb. Deren

Spielregeln sahen sich auf einer Tagung913 der ‚Deutschen Bank’ in

Berlin als sittliche Qualität der Marktkräfte gepriesen, weil sie jedem das Seine böten, jetzt, wo die Systemfrage entschieden sei. Robert J.

Eaton, der amerikanische Chef von Daimler-Chrysler, sprach vom Ka- pitalismus wie von einem Naturereignis, dem sich so oder so alles zu

910 Burke (Anm. 57), Bd. 2, S. 173. 911 Laut Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart: Reclam 1999. 912 Zit. Frankfurter Rundschau vom 2. 10. 1990, S. 2. 913 Hase im Pfeffer. Die Deutsche Bank beschwört die Entfesselung des Marktes, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. 7. 1999, S. 43. 300

beugen habe. Im geräumigen Lichthof der Residenz der Deutschen

Bank wirkte die Mahnung des Ökonomie-Nobelpreisträgers Amartya

Sen914 fast subversiv, die inneren Bedingungen und externen Wirkun- gen des Wirtschaftens nicht gänzlich aus den Augen zu verlieren!

Blieb im Kreis der Nadelstreifen, die mit dem „instinct of workmans- hip“ (Veblen) kaum mehr etwas anzufangen wissen, nur eine bange

Frage offen: Mit der Politik werde man fertig, kommentierte Rolf E.

Breuer als Vorstandssprecher des einladenden Geldhauses in Anwe- senheit des amtierenden Bundeskanzlers. Riskant sei einzig die öf- fentliche Meinung, falls sie der enthemmten Marktwirtschaft ihre

Gunst entziehen sollte. Wovon in der Hochentwicklung nirgendwo die

Rede zu sein scheint, auch nicht bei dem zeitgemäßen Vorstoß der europäischen Sozialdemokratie in die angeblich bequeme Mitte der

Wählergunst. ***

Das Prinzip des wirtschaftlichen Erfolges unter dem Diktat der bottom line ist frei nach ‚Meinwohl > Gemeinwohl’ die Plusmacherei unter harten Wettbewerbsbedingungen, bei denen ausschließlich schwarze

Zahlen ins Gewicht fallen. Das schränkt nicht nur den Horizont der damit Beschäftigten ein915, das offene Engagement in der Politik916 ist eher selten, jedenfalls hierzulande. Der Gesichtskreis des homo oeconomicus ist von Bilanzen, Routine und Marktrisiken umgrenzt, so dass es auch ohne alle „neoliberale Metaphysik“ (Peter Ulrich) mehr um den betriebswirtschaftlichen Tellerrand geht als etwa um den

914 Die Moral in der Marktwirtschaft, Die Zeit vom 12. 8. 1999, S. 37. 915 Dazu Wilhelm Eberwein/Jochen Tholen: Managermentalität. Industrielle Unternehmensleitung als Beruf, Frankfurt am Main: FAZ-Verlag 1990. 916 Allerdings lässt sich in der Moderne die Politik als transformierte Öko- nomie lesen, trotz der von Niklas Luhmann behaupteten Distanz der ge- sellschaftlichen Subsysteme. Nicht nur das Geschick des Ostblocks belegt, dass gegen den Markt langfristig keine ‚autonome’ Politik durchzuhalten ist, da die finanziellen und damit motivationalen Quellen aller anderen Handlungsfelder ohne sein Plazet austrocken. 301

Wettbewerb volkswirtschaftlicher Rahmenordnungen. Auch wenn 64

Prozent der Topkräfte angaben917, Entscheidungsfreiheit sei ihr

Wunschziel, so bezieht sich diese Wertwahl der golden boys auf den beruflichen Handlungsrahmen. Die Macht dieser Fachleute in Plusma- cherei wirke zwar „oligarchisch, da höhere Kompetenzen rar sind“918; doch ihr Einfluss „beschränkt sich auf mittlere Lagen“, als „Abschät- zungs-Körperschaft“ fehle dieser Handlungsebene ja der Bezug zum

Ganzen, um vom Desinteresse an den Verbrauchern als Warenemp- fänger abzusehen. Folglich mangelt es nicht nur am Willen, sondern an der Befugnis zum Verantwortungsrisiko, das im Blickpunkt all jener steht, für die Entscheidungen zu treffen sind.

917 Vgl. die von Gruner + Jahr (Hamburg) finanzierte Untersuchung (West- fälische Nachrichten vom 25. 5. 1981, o.S.) über den „Lebensinhalt“ der westdeutschen Spitzenkräfte aus dem Management. An zweiter Stelle ran- giert das Informationsbedürfnis, an dritter Stelle das Ansehen im Beruf (35 Prozent). 22 Prozent wollen Einfluß besitzen. 918 Alain: Propos (Anm. 619), S. 262 f. 302

Geistesschaffende

Elite ist eine schöpferische Haltung, die sich zudem „durch ständige geistige Formung der Gesamtheit“919 bewähren muss. Sie verlangt ei- gene Sonderleistungen, denn wenigstens in der Gegenwart impliziert sie eine Art von Meritokratie. Deren Wirken darf allerdings nicht mit

Letzterer verwechselt werden, sonst wäre von Expertenherrschaft zu sprechen. Mit Blick auf die allgemeine Problematik der Ordnungsstif- tung in Freiheit und Auskömmlichkeit ist auf einem Begriff von ‚Elite’ zu insistieren, der funktional weit mehr umgreift als fachmännische

Exzellenz, Geschäftssinn oder die durch methodologische Reduzie- rung auf Postenzählerei eruierten Reputationsränge in Gesellschaft,

Staat und Wirtschaft.

④ Das führt zu einer weiteren Gruppe elite-verdächtiger Merkmalsträ- ger. Wie steht es mit den Wissenschaftlern920, denen Ralph E. Lapp

(The New Priesterhood: The Scientific Elite and the Uses of Power,

New York: Harper & Row 1965) frühzeitig „einen Rieseneinfluss ... auf die öffentlichen Angelegenheiten“ nachsagte? Erfüllen sie die hohen

Erwartungen an diesen Informationsorden? Nun spielen laut Odo Mar- quard die akademischen Elfenbeintürme im Ideenhaushalt der Gegen- wart seit längerem keine große Rolle mehr, wiewohl die Forschungs- ergebnisse (Innovationsproduktion) selbst frei nach know-how > knowledge in der „Wissenschaftsgesellschaft“ (Kreibich) immer rele- vanter werden. Das liegt zum einen an den dramaturgischen Bedürf- nissen des Zeitgeistes, der im öffentlichen Raum auf personalisierte

Effektivität setzt statt auf Abwägung und Beratung etwa von Teams.

919 Werner S. Landecker: Die Geltung des Völkerrechts als gesellschaftli- ches Phänomen (1936), Hrsg. Günther Lüschen, Münster/Hamburg/London: LIT 1999, S. 103. 920 Denen Peter F. Drucker eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Zukunft zuweist: Aber in welcher Funktion? Als Wissensproduzenten oder auch als gesellschaftspolitische Dirigenten? 303

Zum anderen verwandeln sich die Universitäten, früher „Häuser des

Intellekts“ (Barzun), in Fabriken zur Wissensvermittlung, wie

Veblen921 es kommen sah, in denen „Standardisierung, Rechenhaftig- keit und Kontrolle“ die Reflexion durch eine Bürokratisierung ohne

Wenn und Aber ablösen. Der Geist bleibt dabei auf der Strecke und damit jeder elitäre Charme. Überdies verschließen sich etwa die Ge- sellschaftswissenschaften nicht nur transitiv (Unverständlichkeit), sondern auch praxeologisch (Abstraktion) der öffentlichen Wahrneh- mung, vor allem haben sie sich in ihrer systemischen Zielsetzung, ausschließlich Kommunikation durch Kommunikation zu erklären, den

Rückweg zu einem Außen verlegt. Evolution sei ein Prozess, der blind verläuft, so ist ebenso vielstimmig wie obstinat aus Bielefeld zu ver- nehmen922, wo die Soziologie als Reflexionsarbeit allen wirklich- keitswissenschaftlichen Anspruch aufgegeben zu haben scheint, den

Karl Mannheim923 aus ressortpatriotischen wie zeitgeist- therapeutischen Gründen für unabdingbar hielt. Und die Polymorphie gegeneinander abgeschotteter Systeme verhindere jegliches Verste- hen „über Systemgrenzen hinweg“ (Japp), so dass „kein operatives, d.h. sich in Handlungen umsetzendes“ Zusammenwirken von Gesell- schaft, Politik oder Staat mehr sinnvoll scheint, nicht einmal möglich oder gar denkbar wäre. Solche modische, wiewohl ideologische Absa- ge der Gesellschaftswissenschaften an Faktenkenntnis und Weltver- waltung gleichermaßen ist mit Blick auf erschreckende Rückwirkungen der technologischen Kenntnisproduktion und ihrer marktwirtschaftli- chen Verwertung in Biosphäre und Lebenswelt bedenklich. Anhand

921 The Higher Learning in America : A Memorandum on the Conduct of Universities by Business Man (1918), New York: Hill & Wang 1957. 922 Aber es klingt auch vertröstend, da die Sozialreflexion angesichts des anything goes von aller Seinsverwaltung und -verantwortlichkeit entpflich- tet scheint, vgl. Sibylle Tönnies über den festgefahrenen Zustand der So- zialwissenschaften: Hinunter in die Tiefe des Details, Frankfurter Allge- meine Zeitung vom 6. 2. 1999, S. IV. 923 Die Gegenwartsaufgaben (Anm. 691), S. 19 f. 304

beobachtbarer Interferenzen von Großtechnologie, Recht, Politik etc. sind vielmehr down to earth gemeinwohlorientierte (i.S. von umwelt- und sozialökologischer Erträglichkeit) Steuerungsmedien und damit eben Sozialwissenschaften gefragt, welche die erhöhte Intransigenz der modernen „Entscheidungspluralisierung“ (Beyme) bewältigen hel- fen. Durchaus in Abgrenzung zu staatsfixierten Illusionen einer „Ma- cherära“ (Ulrich von Alemann), die z.B. Technologie-Steuerung als

Strukturpolitik noch schlicht im Kontext einer „Modernisierung der

Volkswirtschaft“ (Scharpf/Hauff) verbuchen zu können glaubte.924

Scherereien ergeben sich bei dieser Kooperation allerdings aus un- terschiedlichen - hie Wissenschaft, dort Politik - Aufgabenstellungen beider Sphären. Zwischen der Wahrheitsfindung (oder ist es fact fin- ding?) als idealem Wissenschaftsziel auf der einen Seite und den

Umsetzungszwängen beziehungsweise der alltäglichen Machtverwal- tung (oder handelt es sich um Profilierungsnöte?) auf der anderen

Seite liegen Barrieren der Kommunikation, die auch durch organisier- te Diskurse schwerlich zu überbrücken sind.925 Aber geht es nur um

Verständigungsschwierigkeiten? Tatsächlich bestehen zwischen

- der politischen, wirtschaftlichen etc. Entscheidungsebene mitsamt ihren Interessen oder Wahrnehmungsmodi

924 Dabei stehen sowohl die techniksoziologischen Dilemmata (Innovation, Folgeabschätzung usw.) als auch die verwaltungssoziologischen Komplika- tionen (Technikfolgewahrnehmung, Reaktionskompetenz der rechtlichen, parlamentarischen etc. Subsysteme ff.) im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die etwa eine Beantwortung der Frage erwartet, wie die Chancen- und Ge- fahren-Dimensionen großtechnologischer Durchbrüche gleichermaßen risi- kogerecht wie z.B. auch wettbewerbsmodal zu verorten, beurteilen und zu- dem politisch angemessen zu kontrollieren wären. 925 Zu den weiterwirkenden Dilemmata einer gedeihlichen bzw. nützlichen Interaktion schon Wolfgang Bruder (Sozialwissenschaften und Politikbera- tung, Opladen: WDV 1980), um von Parallelproblemen der distorted com- munication zwischen den an der Beratung womöglich beteiligten Diszipli- nen (Fachsprachen) nicht zu reden. 305

- und der eigentlich bei Strafe von Erkenntnis- und damit Nutzenblo- ckaden unaufgebbar kritisch-analytischen Aufgabenstellung der Ge- sellschaftswissenschaften grundsätzlichere Differenzen. Sie resultieren neben dem Widerspruch von Zeitdruck und Reflexionsbedarf aus Spannungen zwischen Argu- mentationsmustern, die faktisch gegensätzliche Partikularinteressen

(Rendite/Machterhalt) beziehungsweise generalisierende Codes (Er- kenntnis/Gemeinwohl) vertreten, ohne dass diese kognitiv wie norma- tiv abweichenden Rationalitätsmuster thematisiert oder gar abgetra- gen werden (könnten).926 Zudem bleibt bei allem Pochen auf das

Leistungsprinzip das jeweilige Establishment den Experten überge- ordnet, die man sich im Fall von Begründungsnotständen leistet. Hin- zu kommt die Distanz, die zwischen akademischen Sichtweisen und der Dynamik öffentlicher Angelegenheiten liegt, denn die Pflegestät- ten der Wissenschaft sind kaum mehr der Ort, um weltläufige Füh- rungsqualitäten zu entfalten, eher schon jene besserwisserische

Kleinkrämerei, die schon Friedrich Gottlieb Klopstock (Die deutsche

Gelehrtenrepublik (1774), Sämmtliche Werke, Band 8, Leipzig: Gö- schen 1839) ausmalte.927 Auch die vielzitierte Autonomie der univer- sitären Erkenntnispflege und damit die wesentliche Voraussetzung

926 Nicht zuletzt die Kultur- und Sozialwissenschaften stellen institutio- nengeschichtlich ein vom wie immer gearteten, unmittelbaren Interessen- druck bewusst entlastetes, weil gesamtgesellschaftlich-institutionalisiertes „Instrument der Kritik“ (Krohn) dar, nicht aber eine unter öffentlichem An- erkennungsdruck stehende Affirmationsleistung im Sinne/Kontext des an- sonsten allfälligen alltagsweltlichen Geltungsdrangs (Akzeptanz), vgl. zu diesem Problemkomplex schon Lorenz Baritz: The Servants of Power, New York: Wiley 1965. 927 Die gegenwärtig unter dem Stichwort ‚Reform’ laufende Verwandlung der Universitäten - neben der Tendenz zur Privatisierung - in Fachhoch- schulen, um die Vermassung möglichst kostenneutral kanalisieren zu kön- nen, reduziert diesen Ort unabhängiger Reflexion auch gegenüber der Poli- tik, nicht zuletzt mit Hilfe populistischer Propaganda („faule Professoren“), in ein Anhängsel jener parteipolitischen Funktionärsschicht in den Parla- menten, die durch Gleichschaltung unabhängige Kritikpotentiale austrock- nen wollen. 306

intellektueller Strahlkraft und Kritikfähigkeit nimmt nicht erst im Zeit- alter der Drittmittelsorge ab. „Die Zukunft der Wissenschaft“, um die sich Ernest Renan 1848 noch sorgte, steht als Forschungssystem in

Blüte, die Wissenschaftler hingegen treten ins Glied, keine Rede mehr von den „Versprechungen eines noblen und glücklichen Lebens“, das der Wahrheitsfindung in der Regel offenstand.928 Gut ausgebildet mögen sie sein, die Forschenden, sogar leistungsstark, kaum aber mehr elitär, so oder so. „Wissenschaftspraxis ohne Gewissen“, notier- te bereits der praktizierende Arzt und Anatom François Rabelais, ge- storben 1553, führt unweigerlich zum „Ruin der Seele“ Es ist überdies fraglich, ob die alma mater weiterhin wenigstens jenen Bedarf an

‚Möglichkeitssinn’ abdeckt, der allein den gesellschaftlichen Fortgang gegenüber allenthalben ausschlaggebenden, nur interessengesteuer- ten Selbstläufen offenzuhalten vermag. Der Dichter Arthur William

Edgar O’Shaughnessy929, Jahrgang 1844, traute daher schon zu sei- ner Zeit nicht länger dem akademischen Geistesbeamtentum, höchs- tens noch der „freischwebenden Intelligenz“ (Alfred Weber) zu, jenem stromlinienförmigen ‚Wirklichkeitssinn’ im positiven Sinne elitär vor zu buchstabieren, was sich hinter den Kulissen abspielt und welcher

Geistesblitze sich der Tiefgang der menschlichen Dinge tatsächlich verdankt(e):

„We are the music-makers,

And we are the dreamers of dreams,

Wandering by lone sea-breakers,

And sitting by desolate streams;

World-losers and world-forsakers

On whom the pale moon gleams:

928 Zit. Rémy Collin: Message social du savant, Paris: Albin Michel 1941, S. 23. 929 Ode, in Arthur Quiller-Couch (Hrsg.): The Oxford Book of English Verse 1250 - 1900, Oxford: Clarendon 1930, S.1006 f., hier S. 1006. 307

Yet we are the movers and shakers

Of the world for ever, it seems.“

Finden sich in der Gruppe der „Kopfzerbrecher“ (Brecht) indes auch entscheidungskompetente Führungskräfte für die Bewältigung von All- tagsproblemen? Oder trifft die Kritik von Rothbard930 an jener alteu- ropäischen Unterstellung zu, wonach „der Geist die Materie formt“931?

In Wirklichkeit blieben intellektuelle Dienstleistungen auf Macht an- gewiesen und somit unselbständig, trotz zeitweiligen Unmuts über die

„intellocrates“ (Pierre Leroux), weil sie ansonsten „von den meisten Konsumenten nicht in besonderem Maße verlangt werden“. ***

Insert 5: Freigeist als Elite oder Kognitariat der Jeweiligkeit? „Freiheit und Gerechtigkeit sind Schwestern, ihr Vater ist der Geist und ihre Mutter die Vernunft.“932

Der Kalender zeigt Freitag, den 31. Juli 1914. Europa schwitzt im

Sommerwetter, aber auch aus Angst vor der Kriegsgefahr, die den sich überstürzenden Ereignisse auf dem Balkan immer drückender wird. Die Logik der Bündnisse beginnt, alle Rücksichten der Diploma- tie zu überwältigen. Ist ein Völkerdrama aufzuhalten? Wo bleiben in dieser Lage die Intellektuellen, die sich seit den Tagen der Aufklä- rung „als neue Art von Mentoren“933 etwas darauf zugute hielten, ein basso continuo der Ereignisse zu sein? Galt es doch dringend, den

Trommlern nationaler Kurzsichtigkeiten mit Argumenten entgegenzu- treten, um die Zeitläufte nicht der Stimmungspolitik zu überlassen.

930 Ethik der Freiheit (Anm. 112), S. 176. 931 Vergil: Aeneis, Buch VI, Vers 727. 932 Seume: Mein Sommer (Anm. 462), S. 20. 933 Paul Johnson: Intellectuals, London: Weidenfeld and Nicolson 1988, S. 1. 308

Solche Einflussnahme zählte zu den Aufgaben, die sich ‚die Intellek- tuellen’ gestellt hatten, seit sie als Zergliederer ihre fabrikweltliche

Karriere - frei nach „Der Intellektuelle muss ... allein bleiben, um al- les sagen zu wagen“934 - antraten, um unter Absehung von Zugehö- rigkeit und Gruppeninteressen frank und frei, zudem kompetent zu benennen, was sich eigentlich abspielte. Man sah sich dabei keines- wegs „als Geist, der stets verneint“, mit Theodor Geiger935 gespro- chen eher als „Schöpfer von Beständen der repräsentativen Kultur“; das schloss die Anwaltschaft für die Vernunft (≠ Vernünftigkeit) ein, mithin die Rolle, alltagsweltliche Engstirnigkeiten sowie gesell- schaftsübliche Vorteilslagen in Frage zu stellen. Hysterischen An- wandlungen des Kollektivgeistes zu widersprechen, erfordert in politi- schen Schlechtwetterlagen allerdings einen klaren Kopf. Verblendun- gen der Mehrheit, die zuweilen in eine „Daueranbetung ihrer selbst“

(Tocqueville) fällt, sind aufzudecken. Wie in jenen Tagen vor dem 1.

Weltkrieg ergeben sich daraus leicht allerlei Fehlwahrnehmungen des

Anderen oder Fremden, besonders des Nichtdazugehörigen diesseits oder jenseits der Grenzen. Ohne Widerrede nehmen statt eines län- derübergreifenden Interesses an Frieden und Leben unversehens

Selbstüberhebung und Machtbrunft überhand, die latent vorhandene

Angstlust der Bevölkerungen sieht sich nach Käften geschürt.

Wo waren in dieser Krise jene Kritikeliten als „Menschen mit I- deen“936, die „den Glauben an das Humane und die Vernunft teilen“, um ihre Umwelt im Sinne einsichtiger Vorstellungen zu durchleuchten und gegebenenfalls Fehlverläufe anzuprangern? Nationale Krisenzei- ten sind Phasen gesteigerter, noch dazu totemistisch untermalter E-

934 Edgar Morin: Autocritique (1958), Paris: Seuil 1975, S. 182. 935 Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft, Stuttgart: Enke 1949, S. 12. 936 Wie Raymond Aron (L’opium pour des intellectuels, Paris: Calman-Lévy 1955, S. 220) die Intellektuellen nannte. 309

motionalität, denen sich auch Hochgeistige schlecht entziehen kön- nen. Sie weichen aus der Ecke der Kritik allzu gerne aus in den be- quemeren Dienst am Kollektiven und geben mit diesem „unlogischen

Sprung“ (Camus) ihren Status als „cerebrals“ preis. In diesem Sinne für eine austauschbare ‚Sache’ tauglich - sei es das Vaterland, einen

Glauben oder die Partei - erweisen sie sich, gemessen an den eige- nen Standards der Reflexion, als rückgratslos, weil sie nicht länger der allgemeinen Verständigung durch Hinterfragen der Zeitläufte die- nen. Eine Geschichte intellektueller Eliten schreibt insofern nicht nur

über Anmaßungs-Enthüllungen („ihr Einfluss ist enorm“937), sondern auch an einer Soziologie der Ignoranz. Zwischen dem Anspruch auf eine differenzierte Haltung und dem tatsächlichen Anpasserverhalten klafft(e) oft ein Abgrund. In Extremlagen trennt sich die Spreu vom

Weizen. Übrig bleiben die dissenter als die wahrhaften Intellektuel- len. Jene handverlesenen Wenigen also, die selbst in Schlechtwetter- lagen ihren kritischen Beruf nicht verleugnen. Solche Distanz im Den- ken zu bewahren ist schwierig - oft „ein pudendum“938 -, verlangt sie doch, dem Druck der politischen, kulturellen, affektuellen oder sons- tigen „Korrektheit“ zu widerstehen, um das Unbequeme zur Diskussion zu stellen, auch wenn der Pranger der Missbilligung droht.

Intellektuelle Redlichkeit kostet im Hier und Heute womöglich nicht nur öffentliche Anerkennung und damit das Auskommen; selbst als geistige Spielerei gefährdet sie unter Umständen die Freiheit oder gar das Leben. „Sich durch seine Zunge unglückseelig machen“ welches nicht leichter geschehen kann“, berichtete Oxenstierna vom Umgang

937 Hervé Hamon/Patrick Rotman: Les intellocrates. Expéditions en haute intelligentsia, Paris: Ramsay 1981, S. 91. 938 José Ortega y Gasset: Der Intellektuelle und der Andere, Stuttgart: DVA 1949, S. 125 ff., hier S. 137. 310

kluger Köpfe mit weltlicher Obhut939, „als wann man von den grossen

Herren zu sprechen sich frevelmüthig untersteht.“ Davon konnten noch die Aufklärer als räsonnierende Avantgarde ein Lied singen. Im

Jahr 1747 wurden Bücher von Saint-Médard Toussaint und Julien

Offroy de La Mettrie verbrannt, 1748 von Denis Diderot, 1762 lande- ten Werke von François Marie Voltaire und Jean-Jacques Rousseau auf dem Scheiterhaufen, ihre Autoren wurden mit Kerker bedroht. O- der man halte sich die Verfolgung und Verleumdung von Georg Büch- ner vor Augen, nachdem er brutale Unterseiten der sozialen Gege- benheiten angeprangert hatte. Außenseiter der herrschenden Ordnung oder populärer Stimmungen - das ist eine archetypische Situation der

Intellektuellen als genuine Kritiksolisten der Massengesellschaft. Als

Erzeuger des in den modernen Weltläuften besonders benötigten ‚Ori- entierungswissens’ (Scheler) durch Hinterfragen, Entwerfen und öf- fentliches Engagement unterscheiden sich die Meisterdenker überdies von der wachsenden Zahl der mit technisch-wissenschaftlichen Auf- gaben befassten Intelligenz. Letztere ist, unterteilt in verschiedene

Leistungssparten, für jene allgemeine Erkenntnispflege (Funktions- wissen) zuständig, welche die Industriemoderne seit ihren Anfängen gleichermaßen erfinderisch wie ökonomisch in Atem hält.

Im Sommer 1914 wurde intellektueller Einspruch gegen die Gewaltlo- gik der Staaten dringend gebraucht. Aber diese Gegenrede war ge- wagt und damit leise geworden. Es gab indessen hier und da Kas- sandrarufe gegen das Verhängnis, das sich in Europa zusammenbrau- te. Man denke an den französischen Intellektuellen und Politiker Jean

Jaurès, Jahrgang 1859, der in diesen hektischen Wochen an seiner

Losung vom „Krieg gegen den Krieg“ als Ringen um Frieden fest-

939 Kurzer Begriff oder Auszüge derer Gedanken des Herrn Grafen von O- xenstirn über unterschiedliche Materien (1746), 3 Teile, Franckfurt/Leipzig: Lochner und Mayer ³1755, Theil 3, S. 16. 311

hielt.940 Als „Pontifex des Optimismus“ (Péguy) trat er in der Öffent- lichkeit weiter für soziale und politische Reformen ein, deren Reali- sierungschancen allemal die Verständigung über Grenzen voraussetz- ten. Zudem stellte er mit der These, „das Frankreich der Revolution kann nicht hinter dem Russland der Muschiks gegen ein Deutschland der Reform marschieren“941, noch Ende Juli 1914 außenpolitische

Sichtverzerrungen seiner vaterlandstrunkenen Mitbürger in Frage.

Weil der einflussreiche Pazifist sich mit Warnungen vor dem „fürchter- lichen Alptraum“ eines Krieges der Massenstimmung entgegenstemm- te, wurde er - wie so viele Denker vor und nach ihm - Opfer seiner

‚Unbelehrbarkeit‘ durch Ort und Zeit. Eine Haltung der Konsequenz, die Christoph Hein942 als basale „Pflicht des Intellektuellen“ markiert.

Am Abend des 31. Juli 1914 streckt ein Attentäter aus der Provinz

Jaurès in Paris durch Kopfschüsse nieder, wenig später ist der Welt- krieg unaufhaltsam. In Frankreich lässt sich die Linke auf eine union sacrée mit dem Establishment ein. Und auch in Deutschland werden am 4. August ‚in der Stunde der Gefahr‘ die Kriegskredite fast ohne

Widerspruch von der Sozialopposition/Denkelite bewilligt beziehungs- weise gerechtfertigt. Jedenfalls auf der Bühne öffentlicher Gefühle herrschte in jenen Tagen innenpolitischer ‚Burgfrieden’. Wo Mars auf- tritt, wird die Stimme der Ratio nicht gehört; sie verstummt oder fügt sich den Verhältnissen, was einer Verletzung der ihr zugeschriebenen

Rolle gleichkommt.

Rollenschwierigkeiten

940 Vgl. Marcelle Auclair: La vie de Jean Jaurès ou la France d’ avant 1914, Paris: Seuil 1954, S. 613 ff. 941 Zit. Alexandre Zévaès: Jean Jaurès, Paris: Hachette 1934, S. 251. 942 Rede im Wiener Burgtheater bei der Verleihung des Erich-Fried-Preises am 6. Mai 1990, Frankfurter Rundschau vom 25. 5. 1990, S. 33. 312

Der wahre Intellektuelle ist Einzelgänger, hat Julien Benda943, Jahr- gang 1867, als führender Interpret dieser Zunft betont. Der „geistigen

Askese“ verpflichtetet, wirken seine Werte ebenso zeitlos wie die rei- ne Vernunft. Als Selbstdenker sei er keineswegs ungesellig, durchaus zur sachlichen Kooperation bereit, doch nicht willens, seinen

Verstand an der Garderobe irgend einer Bewegung, Hoheit oder Mode abzugeben. Nicht zuletzt daher rühren immer wieder Enttäuschungen

über diese Kaste her944; aber auch jene Voreingenommenheiten, die solcher Kritikelite seit ihren Anfängen zur Zeit der bürgerlichen Über- windung des Feudalismus begegnen, übrigens entlang der Zeitachse und quer durch alle Bevölkerungskreise. Das Misstrauen der Gewalt- haber gegen unabhängige Köpfe erklärt sich von selbst, „Macht schätzt niemals die Kritik“945. Womöglich ist auch die Ablehnung durch die sogenannten high brows verständlich946, die in wachsender

Zahl als Rechtfertigungs-, Sach- oder Verwaltungsintelligenz im

Dienst der Fabrikmoderne stehen, und deren Wirken Benda (a.a.O., S.

80) intellektuelle Weihen rundweg absprach. Diese Kopfarbeiter betreiben Auftragsdenken als Beruf und verharren an den Grenzen des Gewohnten, Erlaubten oder Bezahlten, was ihre Missgunst gegen die libres penseurs weckt. Spielräume und Ansehen dieser Querköpfe waren ärgerlich, nicht selten rächte man sich an ihnen mit dem Vor- wurf, ‚bloße Gesinnungspflege’ zu treiben. Andere Vorbehalte waren

943 Der Verrat der Intellektuellen, Frankfurt am Main u.a.: Ullstein 1983, S. 70. 944 Vgl. E. W. Said: Götter die keine sind. Der Ort des Intellektuellen, Ber- lin: Berlin Verlag 1997, S. 113 ff. 945 Alain: Propos (Anm. 619), S. 15. 946 Um vom intellektuellen Selbsthass zu schweigen, wie Paul Johnson (Anm 932) ihn mit der Losung „beware intellectuals“ (S. 342) prototypisch vorführt, indem durch Verweis auf den Lebensstil ausgewählter Köpfe de- ren intellektuelle Glaubwürdigkeit als riskantes Maulheldentum in Frage gestellt wird. 313

nicht so leicht zu erklären. Etwa wenn August Bebel947 stellvertretend für die Grundschichten forderte, man möge sich Intellektuelle etwa als

Parteigenossen „doppelt und dreifach ansehen“948. Möchten sie gleich nützlich sein, weil sie im Namen abstrakter Gerechtigkeitsnormen die

Forderungen der Benachteiligten unterstützten, fehle den Leuten der

Feder dennoch der Stallgeruch. Ihre Loyalität bleibe auf Ziele der

Seins-Auslegung oder Weltverbesserung begrenzt949, schlösse Funk- tionärsmentalität aus, die Treue höher als Freiheit schätzt.

So sollte es sein! Ein Intellektueller, betonte Heinrich Mann950 in die- sem Sinne, „begeht Verrat am Geist“, wenn er sich an Herrschaft

„heranmacht“, wo/wie immer diese den Ton angibt. „Denn der Geist ist nichts Erhaltendes“. Er „zersetzt vielmehr“ und ist vor allem „gleich- macherisch“. Nicht dadurch, dass er sich anbiedert und seine Stan- dards preisgibt, etwa um politischer Elitefunktionen oder ökonomi- scher Vorteile willen. Vielmehr hält er an der seit René Descartes und

Immanuel Kant gültigen Formel einer allgemein-menschlichen Bega- bung zur Vernunft fest. Das ist gleichsam die Grundideologie der In- tellektualität! Sie besagt zum einen, dass die durch Wissen erworbe- ne und geschulte Reflexion mitbestimmen sollte über die

(Aus)Gestaltung der Gesellschaft sowie allgemein über Sinn und Form der Weltläufte. Herkommen, Reichtum oder Macht dürften bei der Pos- tenbesetzung keine entscheidende Rolle mehr spielen. Damit wird die

947 Protokoll des SPD-Parteitages in Dresden 1903, Berlin: Vorwärts 1903, S. 225. 948 Derartige Vorbehalte hielten sich, bis Ende 1976 etwa waren - mit Aus- nahme der GEW - Hochschulabsolventen nicht in der Spitze des DGB ver- treten. 949 Das war ein Vorwurf, der aus dem bürgerlichen Lager selbst gegen die ‚Unberechenbarkeit’ geistiger Anstrengungen erhoben wurde, da es laut Benjamin Constant (Cours de politique constitutionelle, Hrsg. J. P. Pagès, Brüssel: Haumann 3 1837, S. 106 f.) unter Intellektuellen üblich sei, „de dédaigner les considérations tirées des faits, de mépriser le monde réel et sensible, et de raisonner sur l’ état social en enthousiastes“. 950 Geist und Tat (1910), in ders.: Politische Essays, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 7 ff., hier S. 14. 314

soziale sowie politische Moderne auf Denkvermögen verpflichtet951, die sich im Lauf der Durchindustrialisierung der Welt zur eigentlichen

Produktivkraft mauserte. Und zum anderen wurde unterstellt, dass die

Wissensgesellschaft ihren angemessenen Inbegriff in „freischweben- den Intellektuellen“ (Alfred Weber) findet. Reflexionseliten waren be- freit von der unmittelbaren Anwendung von Wissen und hatten sich jenseits von Beruf, Milieu, Zugehörigkeit oder anderen Partikularis- men um allgemeine Güter zu kümmern, um Wahrheit statt um Scheu- klappen, um Ausgleich statt um Interesse, um Gerechtigkeit statt um

Rendite oder um Frieden statt Vorherrschaft.

Das Verhältnis des Intellektuellen zur Erkennnis ist seit David Hume kritisch, zum Wirtschaftlichen ab Karl Marx gespannt, dem Glauben gegenüber seit Ludwig Feuerbach entfremdet, zum Kollektiven nach

Alexis de Tocqueville distanziert, zum Gefühlsmäßigen laut Sigmund

Freud skeptisch und zum Sozialen seit Ludwig von Mises gebrochen.

Der Intellektuelle mischt sich ein und meidet doch die Nähe, er spricht von Zugehörigkeit mit dem erhobenen Zeigefinger des Besser- wissers. Er ist ein Wühler, seine Einlassungen sorgen öffentlich für

Ärger, um die Ursachen für solchen Einsatz zu beheben. Das wieder- um mehrt seinen Einfluss, wenn schon nicht auf die Zeitläufte selbst, so doch auf deren Selbstverständnis. Man denke an Voltaire und sei- nen frühen und beeindruckenden Erfolg einer publizistischen Einmen- gung. Er war der prototypische Intellektuelle, der sich seit 1762 mit einem Justiz-Skandal beschäftigte und in einem mehrjährigen persön- lich-riskanten Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit die Obrigkeit nö- tigte, das geschehene Unrecht aufzuheben.952 Oder man erinnere sich

951 Zur Revolution der/durch Wissensanwendung vgl. Peter F. Drucker: Post-Capitalist Society, New York: HarperBusiness 1993. 952 Vgl. Käthe Schirmacher: Voltaire. Eine Biographie, Leipzig: Reisland 1898, S. 402 ff. 315

an Heinrich Heine953, der sich gegen die Unterdrückung in seiner

Heimat wandte, ohne dass in diesem Fall allerdings die „Männer der

Tat“ durch die „Gedankenmänner“ zu Einkehr und Korrekturen genö- tigt werden konnten. „Wohl führt letzten Ende die Intelligenz die

Welt“, erläuterte schon Gustav Le Bon954 die oft wiederholte Klage

über die tagespolitische Ohnmacht der Kritik gegenüber der Macht,

„aber sie führt sie wahrlich von weitem.“ Ihre Dienste waren unerläß- lich, als ‚Geist, der stets verneint’, wirkten Intellektuelle indes eher ex negativo. Nicht zum wenigsten, indem sie im Sinne von Hans Mag- nus Enzensberger955 versuch(t)en „festzustellen, was der Fall ist“.

Die Wissensexplosion war seit der Entfesselung einer Gesellschaft, die sich für Berechtigung und Erfolg auf Leistung berief, wiewohl die- ser Motivations- wie Gütemaßstab weder hinreichend individualisiert oder kontrolliert noch objektiviert werden konnte, zu Beginn des 19.

Jahrhunderts in vollem Gang. Boden, Arbeit und Kapital verloren zu- gunsten der grauen Zellen an Gewicht. Logistische Dienstleistungen veränderten die Wertigkeit ganzer Schichten, noch allerdings war der

Begriff des ‚Intellektuellen’ in seiner Bedeutung als „kritisches Ge- wissen der Gesellschaft“956 nicht geprägt, wiewohl die Träger solcher

Funktion von Petrus Abaelardus über Erasmus, Giordano Bruno und

John Milton bis zu Carl von Ossietzky oder Jean-Paul Sartre immer wieder für Erregung und Aufmerksamkeit sorgten.

Intervention

953 Zur Geschichte der Religion, 3. Buch (1834), Werke in 5 Bänden, Band 5, Berlin/Weimar: Aufbau 1967, S. 93 f. 954 Psychologie der Massen (1895), Stuttgart: Kröner 1961, S. 92. 955 Zit. Hubert Spiegel: Der Künder ist König. Ezensbergers ‚Diskreter Charme’, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. 10. 1999, S. 50. 956 Franz L. Neumann (1952): Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930 - 1954, Hrsg. Alfons Söllner, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 402. 316

Es bedurfte einer weltweit beachteten Affäre, um die Gruppe der In- tellektuellen eindeutig von der breiter werdenden Schicht der allge- meinen Geistesarbeiter abzusetzen. Letztere halfen zwar als „Wis- sensträger“ (Znaniecki), durch ihre Innovationsarbeit den Wirkungs- möglichkeiten der Intellektuellen den Weg zu ebnen, man denke ein- zig an die Entwicklung der Medien. Aber sie waren mit diesen nicht identisch. Die von Martin Heidegger vermerkte Umdeutung des Geis- tes zur Intelligenz trennte Kritik und Deutung von „der bloßen Ver- ständigkeit in der Überlegung, Berechnung und Betrachtung vorgege- bener Dinge und ihrer möglichen Abänderung und ergänzenden Neu- herstellung“, worauf der Philosoph957 die Rolle der modernen Denkar- beiter festgelegt sah. Immerhin steigerte die Dynamik der Informati- onsgesellschaft die Nachfrage nach im eigentlichen Wortsinn intellek- tuellen Angeboten, stöberten doch die ebenso schöpferischen wie emsigen Zerstörer alter Zusammenhänge und überlieferter Gewisshei- ten durch ihre allseitige Wissenshuberei samt „zerebralen Raffine- ments“ (Labriola) immer größere Verständnislücken in einer Welt des

Dauerwandels auf.

Experten und Intellektuelle, also das Funktionswissen und die Kritik- kompetenz, bilden laut Michel Winock958 die beiden Seiten einer Me- daille. Die Aufteilung der Symbolarbeit in hie ‚Leistungen für die

Wirtschaftswelt’ und dort den ‚Dienst am Durchblick’ zeichnete sich ab, seit mit der Bildungsexplosion in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts das Wissen zu einer Münze wurde, die zwar den sozialen

Aufstieg ermöglichte, Erkenntnispflege und Zustandskritik aber ausei- nandertrieb. Wissen garantierte das Gelingen der Moderne, es unter- lag seinerseits dem Diktat der Arbeitsteilung, und seine Spitzenver-

957 Einführung in die Metaphysik, Tübingen: Niemeyer 1953, S. 35 ff. 958 Le siècle des intellectuels, Paris: Seuil 1997. 317

treter gerieten als Fachleute zu Spezialisten für das Besondere. Wer kümmerte sich um das Geschick des Allgemeinen, nicht zuletzt im In- teresse der Wissensträger in den Fachberufen selbst? Und wer ver- mittelte der Öffentlichkeit zutreffende Deutungsmuster einer immer undurchsichtigeren Welt der Sachzwänge, die eine kontroverse Ver- ständigung über das Gemeinwesen erzwingt? Deutungsmuster dazu, die über den Erhalt liebgewonnener Strukturen und Denkfiguren hin- aus reichten.

Geklärt wurde die Aufgabenverteilung zwischen Intelligenz und Intel- lektuellen in einer Krisensituation, die zugleich einer idealtypischen

Festlegung geistiger Rollen den Weg öffnete. Sie war als Maßstab nie zu erreichen, sicherlich, sollte als Anspruchsniveau indessen Gültig- keit behalten. Am 13. Januar 1898 druckte die Zeitung L’ Aurore (Nr.

87) in Paris unter dem Titel „J’accuse!“ einen offenen Brief von Émile

Zola an den Präsidenten der französischen Republik, der in über 200

000 Exemplaren verbreitet wurde. Der Romancier prangerte die Abur- teilung des Hauptmanns Alfred Dreyfus als antisemitische Machtver- schwörung des Militärs an. Schon am nächsten Tag zirkulierte eine

Protesterklärung („Die Unterzeichner verwahren sich gegen die Ver- letzung juristischer Vorschriften ... und verlangen energisch eine Re- vision“) mit einer langen Unterschriftenliste prominenter Köpfe, oben- an stand der Name von Anatole France. Zola heimste sich böse Fol- gen für sein Engagement ein.959 Der Bestsellerautor wurde mehrfach verurteilt, musste außer Landes fliehen, sah sich bedroht und ange- feindet, verlor die Hälfte seiner Einkünfte... Zugleich scharte sich um das Anklagemanifest mit Zeitschriften, Petitionskampagnen und einer einflussreichen „Ligue des droits de l’homme et du citoyen“ der intellektuelle und politische Widerstand gegen die Dunkelmännerei im

959 Worauf Robert Badinter (Zola ou le prix du courage, Nouvel Observa- teur vom 22. bis 28. Januar 1998, S. 54) mit Blick auf die These, sein Mut habe den berühmten Autor doch nichts gekostet, zu Recht hingewiesen hat. 318

Lande. Mit einer nach langem gerichtlichen und parlamentarischen

Hin und Her erreichten Korrektur des Urteils, die Zola nicht mehr er- lebte, wurde das Ringen um Frankreichs öffentlichen Ideenhaushalt am Ende zugunsten demokratischer Verhaltensmuster entschieden.

Die Erfahrung aus diesem „Tumult der Intellektuellen“960 als Streit um den öffentlichen Sinnhorizont, der zugleich die entscheidende Bedeu- tung der Printmedien für die Meinungsfindung begründet hat, wird auch zur Geburtsstunde der ‚Intellektuellen’ im neuzeitlichen Ver- ständnis. Nicht nur deswegen, weil in diesem Zusammenhang der

Begriff seine politische Karriere beginnt. Zudem kristallisierte sich eine spezifische Moral der Gesellschaftskritik als ‚intellektuell’ her- aus, die seither nicht nur die Intellektuellen von den Gebildeten, Aka- demikern oder allgemein den Fachleuten, sondern zugleich von den

„Gegenintellektuellen“ trennte. Letztere hatten sich seinerzeit als

„Streiter mit Verben“ (Pascal Ory) auf die Seite des Establishments geschlagen. Damit sprachen sie sich für partikulare Belange aus und gegen universelle Werte, was Leuten wie Maurice Barrès, Ferdinand

Brunetière oder Charles Maurras als Wortführer der ‚Antidreyfusards’ im strikt-modernen Wortsinn den Status von Intellektuellen genommen hat.961

960 Wie Albert Thibaudet (La république des professeurs, Paris: Grasset 1927, S. 105) sich ausdrückte, der zugleich darauf hinwies, dass sich sei- nerzeit nicht nur eine fortwirkende „rupture“ (S. 18) zwischen republikani- schem und konservativ-etatistischem Lager im Lande einrichtete, sondern dass die Dreyfus-Affäre zugleich die Geburtsstunde nicht nur eines politi- schen, sondern auch des dezidierten Antiintellektualismus der „intellec- tuels de droite“ (Winock) wie Maurice Barrès selbst war. 961 Das verdeutlicht der Wutausbruch des einflussreichen Gelehrten Brune- tière im Freundeskreis, den Maurice Paléologue (Tagebuch der Affäre Dreyfus 1894 - 1899 (1955), Stuttgart: DVA 1957, S. 68) nach einem Tref- fen am Samstag, dem 15. 1. 1898 notierte: „Und diese Bittschrift (J’accuse!), die man unter den ‘Intellektuellen’ umlaufen läßt. Allein die Tatsache, daß man jüngst dieses Wort ‘Intellektuelle’ geprägt hat, um da- mit gleich einer Adelskaste (caste nobilaire) die Leute zu bezeichnen, die in Laboratorien und Bibliotheken leben - diese Tatsache kennzeichnet eine der lächerlichsten Querköpfigkeiten unserer Zeit: nämlich die Anmaßung, Schriftsteller, Gelehrte, Professoren und Philologen in den Rang von Ü- 319

Konsequenzen

Maßgeblich ausformuliert wurde ein Katechismus für Intellektuelle, der aus dem Dreyfus-Skandal abzuleiten war, allerdings erst zu einer

Zeit, als die Epochenstimmung umzuschlagen drohte. Der kritische

Gebrauch des Verstandes geriet etwa in Sozialfragen erneut unter die

Räder, auch in Frankreich. Formuliert wurde dieser Katalog von Ben- da, der mit seinem Buch „La trahison des clercs“ (Paris: Grasset

1927) die Margen für eine angemessene Beurteilung des Intellektuel- len als Vernunftswächter in den Wirren der Zeitläufte festlegte. Noch das autoritative „Dictionnaire des intellectuels“ (Paris: Seuil 1996) spricht von einem „Grundlagenbuch“ (S. 13). Zwar gilt als intellektuel- le Person, wer sein in spezifischen Leistungsbereichen wie Literatur,

Wissenschaft oder Kunst erreichtes Ansehenskapital auf Fragen der

öffentlichen Sphäre überträgt. Insofern hat sich dieser Begriff dem der Prominenz angenähert; und er wirkt inzwischen abgegriffener, als

Benda es sich hatte vorstellen können.

Gleichwohl behält die Regieanweisung ihren Wert, wonach es vor al- lem die Distanz ist, die den Intellektuellen auszeichnet; Moralisten des Zuständlichen hingegen gelten als bloße Mitläufer oder Aufmerk- samkeits-Gewinnler. Das Streben nach Wahrheit und die Suche von

Gerechtigkeit seien niemals blind loyal und unkritisch. Den ungebun- denen Denker zeichnet immer eine Art von Heimatlosigkeit aus. Nicht erst Michael Walzer962 hat allerdings vermerkt, dass durch die

Sprachzugehörigkeit und vermittelt über ihr sozialkritisches Engage-

bermenschen (surhommes) zu erheben. Die intellektuellen Fähigkeiten ... haben nur relativen Wert.“ 962 Zweifel und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Fischer 1991, S. 62 f. 320

ment gerade Intellektuelle als Geisteseliten dem So und Jetzt offen gegenüber zu treten hätten. Man denke an die Winkelried-Stimmen von Ludwig Börne über Karl Kraus bis zu Eugen Kogon oder Günter

Grass, deren Bereitschaft, sich in Problemfälle einzumischen, den

Status des Intellektuellen hierzulande mitgeprägt hat. Bendas „clercs“ hingegen, wie er Desillusionierer vom Fach nannte, sollten ein eher platonisches Verhältnis zur Gegenwart pflegen. Wird der Wissende aus lauter Angst vor Ansteckungen durch die Realität indes zum Stu- benhocker, mag er seine Rolle als Gelehrter oder Forscher erfolgreich spielen, intellektuelle Funktionen jedoch kann er nicht wahrnehmen, um von elitärenf Aufgaben zu schweigen.

Solche Weltenthobenheit war eine Verhaltenszumutung, die sich schwerlich erfüllen ließ, weswegen Benda überall Verrat an rein- geistigen Verpflichtungen witterte, falls der Lautsprecher zur Waffe der Denkelite geriet. Mit Blick auf das Anspruchsniveau eines derart spiritualisierten Intellektuellenbegriffes kann man mit Louis Bodin

(Les intellectuels existent-ils?, Paris: Bayard 1997) provokativ nach dessen Realisierung fragen. Allerdings war Bendas Programm als re- gulative Idee strikt formuliert, weil die Suche nach (der) Wahrheit sich nicht erst in seiner Zeit bei jenen Leuten, „die die Macht des ge- sprochenen und geschriebenen Wortes handhaben“963, der vorherr- schenden Ideologien annäherte, um von offenen Seitenwechseln ins

Lager der Macht, der Unvernunft oder in das Pathos nicht zu reden.

Mit Benda lässt sich festhalten, dass all jene Trittbrettfahrer, die, statt den Zweifel zu hegen, rechts wie links falsche Götter anbeteten, dies keineswegs mehr als Intellektuelle strictu sensu taten, mochten ihre Denkverdienste ansonsten noch so bedeutend sein.

963 So Schumpeter: Kapitalismus (Anm. 318), S. 237. 321

Zweifel

Gleichwohl ist von einer ‚Intellektuellendämmerung’ zu hören, ob- schon die Politik den Leuten mit Überblick durch Helmut Kohl964 hatte zubilligen lassen, „kompromißlos sein zu dürfen“. Die Ideensucher im

Land der ‚Gründlichkeit’, wo es um Wahrheit statt um bessere Argu- mente geht, weil die Intellektuellen von Theologen abstammen, strei- ten verbissen über die eigene Rolle und reden von ihrer erwiesenen

Überflüssigkeit. Doch das Ende der Systemauseinandersetzung brach- te auch anderswo die Muster geistiger Auseinandersetzungen durch- einander, etwa durch einen pazifizierenden NATO-Einsatz965 auf dem

Balkan. Überdies hat das Ansehen jener „Klasse der Meinungsma- cher“966 gelitten, seit die Debatte über intellektuelle Vorkoster totali- tärer Regime nach dem Ende des Bolschewismus967 erneut ausgebro- chen ist. Die Anfälligkeiten selbst hochsensibler Geister für die Nie- derungen der Macht und den Charme symbolträchtiger Systeme war unübersehbar.968 Oft folgten sie den Mächtigen ohne wenn und aber und bis zum bitteren Ende der jeweiligen Utopie oder Illusion. Jeden- falls mit Blick auf die Realwelt der Politik und ihre Fallstricke des

Engagements erwies sich, zählt man faschistische Verführungen hin-

964 Für einen produktiven Konflikt. Die Intellektuellen und die CDU, Sonde. Neue christlich-demokratische Politik 8 (1975)/Nr. 1., S. 4 ff., hier S. 10. 965 Vgl. Peter Schneider: Eiserne Mienen. Der Selbstbetrug der Kriegsgeg- ner, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 4. 1999, S. 43. 966 Brian Walden: Beware of these elitists with closed minds, Sunday Ti- mes vom 9. 11. 1986, S. 31. 967 Vgl. Stéphane Courtois et alii: Livre noir du communisme, Paris: Laf- font 1997. 968 Pars pro toto sei Simone de Beauvoir (Pour une morale de l’ambiguïté, Les temps modernes, Dezember 1946/Februar 1947) mit ihrem Generalpar- don für die Sowjetunion Stalins zitiert: „Supprimer cent oppositionnels, c’est sûrement un scandale, mais il y a un sens, une raison; il s’ agit de maintenir un régime qui apporte à une immense masse d’hommes une amé- lioration de leur sort. Peut-être cette mesure ... représente-t-elle seule- ment cette part nécessaire d’échec que représente toute construction posi- tive“ (S. 865 f.). 322

zu, zum zweiten Mal im 20. Jahrhundert die politische Schieflage vie- ler „Kopflanger“, wie Bertolt Brecht die Symbolarbeiter nannte. Bleibt als bedenkliches Fazit dieser Erfahrung, dass die Fassade intellektu- eller Arroganz einen oft erschreckenden Mangel an politisch- historischer Sachkenntnis und zudem moralischer Urteilskraft verber- gen kann.

„Der größte Nachteil, mehr zu wissen und weiter zu sehen als ande- re“, klagte Hazlitt969, besteht darin, „nicht richtig verstanden zu wer- den.“ Die „Ignoranz der Welt“ liefere die Denkenden „der Gnade ihrer

Bosheit aus“. Das war 1822 geschrieben, und der englische Autor, als

Essayist ein Intellektueller von Beruf, teilte die Illusion dieser

Schicht, nämlich keine Ideologie zu pflegen. Tatsächlich hatte mit

Voltaire970 die Vaterfigur der modernen Geistesarbeiter herausgestri- chen, dass die Intellektuellen, gerade weil sie „keine Sonderinteres- sen“ verträten, ihre Stimme „einzig im Namen der Vernunft und des

Allgemeinwohls erhöben.“ Funktionen

Das war schon seinerzeit mehr Programm als Zustandsbeschreibung.

Diese Sicht unterstellte eine Rollenwahrnehmung intellektueller Auf- gaben, die wenigstens als Idealtypus nachwirken sollte bis hinein in die Gegenwart. Indem schon die Aufklärung die Intellektuellen auf die

„10. Muse“ (Voltaire) und damit auf die Kritik gesellschaftlich- mentaler Verhältnisse verpflichtete, immer gemessen an fortschrittli- chen Modernitätskriterien der Verstandespflege, nahm der Vernunft- gebrauch frei nach sapere aude! zugleich Partei: Für die Schicht des

Bürgertums, mit der man sich identifizierte, weil sie im Namen des

969 On the Disadvantages of Intellectual Superiority, in: Table Talks (Anm. 66), S. 279. 970 La voix du sage et du peuple (1750), Oeuvres Complètes de Voltaire, Band 45 (Paris 1784), S. 7 ff., hier S. 15. 323

Fortschritts und gegen die festsitzende Privilegienordnung Alteuropas die Gegenwart der Zukunft zu öffnen versprach, jedenfalls solange sie noch nicht selbst am Ruder war. Aus dieser Übereinstimmung mit der

Fabrikwelt im Wartestand ergaben sich eine Reihe von Problemen, die eine zutreffende Beschreibung intellektueller Leistungen für den Lauf der Dinge schwierig machen, wie es sich einer aufschlußreichen Ar- beit des französischen Ideenhistorikers Christopher Charle971 über dieses Kreativitäts- und Widerspruchspotential entnehmen lässt. Denn zum einen stritten schon die gens de lettres etwa im Umkreis der ‚En- cyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers’ (1751 ff.) mit anderen Meinungsmachern um den Zeitgeist, die ihrerseits die bestehenden Zustände mit geistigen Mitteln zu rechtfertigen suchten. Dieser „Krieg der Bücher“ (Swift) spielte sich von anfang an im Milieu intellektueller Auseinandersetzungen ab, was etwa Auguste Comtes Eintreten für die geistige als politische Ord- nungsgewalt (Expertokratie) demonstrieren mag. Warum also sollten die ‚Konsensintellektuellen’ nicht auch als solche gelten?

Seit den Anfängen der Kulturgeschichte haben sich ‚Sinnstäbe’ aus- gebildet, die im Zusammenspiel mit den Eminenzen die angerichtete

Ordnung gutreden. Die Erben dieser Wissenssucher, Bedeutungsstif- ter und/oder Meinungskontrolleure galten der Aufklärung keineswegs als wahre Intellektuelle, sondern als begrenzte Köpfe. Waren sie doch, ebenso wie die vielen sich mit der Durchschulung der Gesell- schaft herausbildenden Geistesschaffenden, die die immer komplexer werdenden Dinge zu verwalten oder weiter zu entwickeln hatten, we- der der Transparenz verpflichtet noch der Mitmenschlichkeit. Es wa- ren Verstandesarbeiter oder Geistesbeamte hic et nunc, aus Broter- werb scharfsinnig oder schöpferisch. Ihr Denkvermögen indes hatte

971 Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frank- furt am Main: Fischer 1997, S. 13 ff. 324

nutzenrational zu bleiben, war damit heteronom; das Wahre, Schöne oder Gute blieb dabei Nebensache. Auch sie bildeten als Wissens- verwalter allerdings einen Teil jenes „Intellektualisierungsprozesses“

(Max Weber), der eine wesentliche Voraussetzung der geistigen Fer- mentierung der Neuzeit war. Zum anderen lagen jene ‚Sokratisierer’, deren Zergliederungsarbeit in Form von Kritik und Desillusionierung wiederum der Orientierung diente, in ihrer Rolle als Intellektuelle mit der nachfeudalen Bürgergesellschaft am Ende über Kreuz, als deren aufklärerische Primärziele nach und nach Rendite-Erwartungen bezie- hungsweise Stabilisierungsbedürfnissen wichen. Nun erst gerieten sozialgeschichtlich die Intellektuellen zu „Wächtern in einer sonst all- zu finsteren Nacht“. Sie wollte Karl Mannheim972 als Prinzipienreiter des Nein verstanden wissen. Ein schweres Los, denn einsam und par- teilos sind die Grübler - recht verstanden - seither im Wettstreit der

Interessen nur dem luftigen Gemeinwohlgedanken samt Zivilisie- rungshoffnung verpflichtet, was ihren Beruf nirgendwo beliebt ge- macht hat. Denn sie dürfen um ihrer Intellektuellenrolle willen kei- neswegs „im kühlen Schatten sitzen bleiben“ (Nietzsche) als Zu- schauer der Weltenbühne oder mit lauter Glasperlenspielen beschäf- tigt. Sie sind zwar kein „Bazillus des Aufruhrs“973, aber doch nur durch die Dauerartikulation humaner Wertvorstellungen präsent und damit auch Rollen-konform.

Intellektuellenschelte und Selbstkritik der Meisterdenker stehen heute auf der Tagesordnung. Anfechtungen und Rollenprobleme der Intellek- tuellen sind ebenso überliefert wie etwa die Schwierigkeiten bei dem

Versuch, Stellung und Funktion intellektueller Leistungen in der

Marktmoderne zu definieren. Was zeichnet ‚Intellektuelle’ in einer

Wissensgesellschaft aus, deren Erfolg sich der intensiven Nutzung

972 Ideologie und Utopie (Anm. 472), S. 140. 973 Rudolf Stadelmann: 1848. Soziale und politische Geschichte der Revo- lution von 1848, München: Bruckmann 1948, S. 4. 325

kognitiver Erzeugnisse verdankt, die seit der Scholarisierung der In- dustrieära selbstverständlich wurden? Der Stand gesellschaftstheore- tischer Überlegungen ist gekennzeichnet durch postmoderne Haltun- gen, die jener ,neuen Unübersichtlichkeit’ (Habermas) Rechnung tra- gen. Die Rede ist vom Verlust der Perspektive in Wirtschaft, Politik und bei modischen „Kontingenzintellektuellen“ (Assheuer), die nach

Benda keine sind, indem sie einem immer kurzfristigeren beziehungs- weise gewinnrationalen Denken öffentlich den Weg bahnen. Diese I- deenvermarkter vernachlässigen nicht nur die Gesellschaft als Ge- wohnheitenpool, sie stellen zudem mit Blick auf die Gemeinschaft auch geldwerte Glaubenssätze kaum in Frage. Unterbleibt indessen eine Folgeabschätzung der Marktüberformung, lässt sich dann nicht von einem Ende, zwar nicht der Geschichte, wohl aber gedanklicher

Alternativen zum Vorfindlichen sprechen?

Hieran schloss die These an, die Zukunft bleibe nur offen, wo Intel- lektuelle die Verhältnisse hinreichend grell ausleuchten. „Dass Ideale in der wirklichen Welt sich nicht darstellen lassen, wissen wir“, kom- mentierte bereits Johann Gottlieb Fichte974. „Wir behaupten nur, dass nach ihnen die Wirklichkeit beurteilt werden müsse“. Solche Distanz zum Selbstlauf der Rentabilität ist von erstaunlicher Aktualität. Nur sie gewährleistet einen Überblick, der heutigen Sozialdebatten vor lauter Gier und Hast oft abgeht. Wiewohl es dem intellektuellen Blick schwer fällt, die Möglichkeiten inhaltlich abzuschätzen, dem medial fixierten ,falschen Leben’ (Spaemann) etwas Richtiges entgegenzu- setzen. Es ist jedoch nicht die Aufgabe der Intellektuellen, die Wege für das Mündigwerden der Zeitgenossenschaft im Einzelnen auszu- formulieren. Das bleibt Sache der Experten oder ihrer Populisatoren.

Zunächst geht es nach klassischem Muster um die Benennung und

Kritik der Verblendungen der Gegenwart. Außerdem bleiben gängige

974 Über die Bestimmung des Gelehrten (1794), Leipzig: Reclam o.J., S. 6. 326

Gesellschaftsmodelle jeweils konkret auf ihren sozialökologischen

Gehalt zu prüfen. Wer sonst außer den Intellektuellen könnte das leisten? Denn in einer uferlosen Moderne kann das Bestreben nicht darin bestehen, einigermaßen zu überleben, sondern es gilt die Le- benswelt ebenso anspruchsvoll wie beständig zu gestalten.

Kritik als Profession

Das freilich verlangt noch immer: Die Rechtfertigungsfigur, die die intellektuelle Wahrnehmung leitet, wonach die Sozialwelt gegenüber ihren Mitgliedern und beim Stoffwechsel mit der Natur ebenso erträg- lich wie Überlebens-stabil auszustatten ist, dieses Denkmodell muss

Ausgangspunkt der Kritik unreflektierter Sachzwänge und Allokations- prozesse bleiben. In diesem Sinne haben Intellektuelle mit Blick auf den netzweltlich unter Anpassungs- und Umstellungsdruck stehenden

Gesellschaftsraum seit der Aufklärung etwa versucht, kommunitäre

Vernunftstandards zu formulieren, die den Eliten im Gestrüpp der All- tagsweltlichkeit den Weg wiesen, - ohne ihn selbst unbedingt mitzu- gehen. Die seinerzeit formulierten Maximen975 erlauben bis heute bei aller Verkomplizierung der Systemfigurationen zumindest eine zeit- gemäße Abwägung und Implikations-Gewichtung der um Anerkennung im öffentlichen Raum konkurrierenden Politikmodelle und ihrer Be- gründungen.

Die Rolle der Intellektuellen als „Schicht der Überklugen“ (Edgar

Jung) ist nicht nur politisch, sondern seit langem soziologisch ein e- benso umstrittenes Thema wie die soziale Zusammensetzung dieser

975 Als Überblick Neil Postman: Die zweite Aufklärung. Vom 18. ins 21. Jahrhundert, Berlin: Berlin Verlag 1999. 327

érudits als Sondergruppe der industrieweltlichen Kreativarbeiter976.

Aber auch deswegen fällt ihre Beschreibung schwer, weil die intellek- tuellen Leistungen für eine gedeihliche Verlaufslogik der Industrieära unerlässlich geworden sind. Gerade die postmoderne Innovationsge- sellschaft braucht nicht nur Experten und ‚Gebildete’, sondern mehr denn je Spezialisten für Destereotypisierungen sowie für den kriti- schen Umgang mit dem Allgemeinen977. Vielleicht können allein Intel- lektuelle in ihrer Rolle als Kultur- und Sozialhüter durch Kassandraru- fe vor einer Überwucherung der Zukunft durch all die Abwicklungs- oder Rechenzwänge bewahren, die wie selbstläufig wirken. Wo finden sich Eliten, die im lauter werdenden Gewirr der Marktschreier diese

Prophezeiungen heraus hören?

***

⑥ Verbleibt die Politik als Wettstreit des Willens im Kontext des par- teilichen „Phrasennebels“ (Schumpeter), will man von den oberen

Rängen der Verwaltung978 absehen, die im Verborgenen blühen und selten zu jenen „wenigen Herausragenden“979 zählen, die sichtbar die

Spitze als Vor- oder gar Leitbilder verkörpern. Ist beim Stichwort Po- litiker als zeitgenössische „Regulatoren“ (Babeuf) an Elite zu denken?

976 Vgl. Alwin W. Gouldner: Die Intelligenz als neue Klasse, Frankfurt am Main/New York: Campus 1980. 977 Auch der heutigen Positionierung von gesellschaftlichen Gruppen, die mit marktgesellschaftlichen Folgeproblemen ringen, etwa den Gewerk- schaften, empfiehlt sich eine Gemeinwohloptik: Bietet sie allein doch e- benso kritische wie begründungsfähige Argumente für eine Rückbindung der Renditelogik an den Wunschhorizont der Menschen, die gleichwohl mit heutigen Individualisierungstendenzen vereinbar wären. 978 Spitzenbeamte auch als Verwalter von Spezialwissen unterliegen Loya- litätszwängen, die nach einem ambivalenten Lob von Carl Heyland („Das Aufgehen in der über den Parteien stehenden Staatsidee hat dem deut- schen Beamten auch die Kraft verliehen, unter jedem in Deutschland herr- schenden politischen System, in der absoluten und in der konstitutionellen Monarchie, in der demokratisch parlamentarischen Republik, ebenso wie im nationalsozialistischem Führerstaat, in vorbildlicher Pflichttreue und Selbstlosigkeit zu dienen“, ‚Das Berufsbeamtentum im neuen demokrati- schen Staat’, Berlin: Gruyter 1949, S. 33) in den wechselnden Zeitläuften mit wahrhaft elitärem Verhalten selten identisch war. 979 Burke: Reflections (Anm. 212), S. 38. 328

„Überall führt die kleine Zahl die große Menge“, legte Joseph de

Maistre980 auch der Neuzeit die Fakten auf den Tisch, die sich kei- neswegs mit dem vielbeschworenen „Gesetz der Quantität“ (Sartori) decken. Wenn etwa im politischen Raum die Mitglieder dieser „Monar- chie auf Zeit“ (Beck) nicht Gemeinwohl-bezogen handeln, also eli- tärF 981, pflegen auch Sozialgebilde nicht vor Deformationen gefeit zu sein, deren Entscheidungszentren ansonsten auf geregelter Zustim- mung fußen, so unterschiedlich mit Blick auf „neurotische Arrange- ments“ (Guy Kirsch) der öffentlichen Sphäre ansonsten die nachfeu- dale Rolle der Politik und ihres Personals verstanden werden mochte:

· „Politik ist ... die Aufgabe, das Notwendige möglich zu machen“982

· „Politik ist Verfügung von kollektivem Zwang“983

· „Die wahre Politik kurz definiert ist die Fernsicht des Interesses“984

· „jedes dauerhafte Modell menschlicher Beziehungen, das in einem signifikanten Ausmaß Macht, Herrschaft oder Autorität in sich schließt“985

· „Politik besteht ... aus einem Netz von Entscheidungen und Hand- lungen zur Zuteilung von Werten“986

· „Die richtige Verteilung von Macht und Autorität ... zur Aufrechter- haltung der Ordnung“987

980 Du pape, 2 Bde., Lyon/Paris: Rusand 1830, hier Bd. 2, S. 121. 981 Frei nach „The leading statesmen in a free country have great momen- tary power. They settle the conversation of mankind“, wie Walter Bagehot (The English Constitution (1867), London: Kegan, Trench, Trubner 1925, S. XIX) notierte. 982 Carlo Schmidt: Protokoll der 144. Sitzung des Bundestages (1950), S. 5683 B. 983 Fritz W. Scharpf, zit. Die Zeit vom 21. 11. 1997, S. 3. 984 Rudolf von Ihering: Der Zweck (Anm. 211), Band I, S. 438. 985 Robert Dahl: Modern Political Analysis, Englewood Cliffs/NJ: Prentice- Hall 5 1991, S. 6. 986 David Easton: The Political System. An Inquiry into the State of Politic Science, New York: Knopf 1953, S. 130. 987 E. K. Francis: Wissenschaftliche Grundlagen des soziologischen Den- kens, Bern/München: Francke ²1965, S. 23. 329

· „Der Begriff des Politischen kann nur vom Staate her und nur als

Ausdruck staatlicher Lebensvorgänge erfaßt werden“988

· „Politik treiben heißt Menschen wie Sachen behandeln“989

· „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtver- teilung.“990

Gegenstand und Ziel der Politik sei in Wahrheit der Frieden991. Mit dieser gegen Carl Schmitt gerichteten Verpflichtung, die reichlich in- haltsleer geblieben ist, wollte etwa die bundesrepublikanische Poli- tikwissenschaft historische Verwerfungen vermeiden. Das schloss die

Konkurrenz zwischen Parteien/Politikern nicht aus, jedenfalls soweit deren Leistung/Funktionalität nicht beeinträchtigt wurde, etwa indem das genuin Politische auf der personalisierten Oberfläche ‚der Politik’ verdampfte, wie schon einmal 1933. Es sollte stattdessen um die Auf- bereitung von Entscheidungs-Alternativen für den Wählermarkt992 ge- hen, politischen Leidenschaften993 waren verpönt, so dass die Pflege von Feindschaft partei-übergreifend als Verfehlen der Elitenrolle gel- ten sollte, Herbert Wehner kannte nur noch ein ‚gegnerisches Lager‘.

Die politische Belegschaft pflegt pro forma in eigener Befugnis zu handeln, nicht jedoch auf eigene Kappe; sie nimmt stellvertretend und damit auf Abruf anfallende Kollektivaufgaben wahr. Deren Umsetzung

988 Ulrich Scheuner: Das Wesen des Staates und der Begriff des Politi- schen in der neueren Staatslehre, in: Staatsverfassung und Kirchenrecht. Festschrift für Rudolf Smend, Tübingen: Mohr 1962, S. 225 ff., hier S. 253. 989 Franz Oppenheimer: Allgemeine Soziologie, Jena: Fischer 1923, Band 2, S. 920. 990 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 122), S. 1043. 991 Dolf Sternberger: Begriff des Politischen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1961, S. 18. 992 Vgl. Gordon Tullock: On Voting, Cheltenham: Elgar 1998. 993 Wieweit solche Verlagerung von sachlichen Interessen, über die man streiten kann, zur personalen Ausblendung des Politischen als Show (vgl. Thomas Meyer: Die Inszenierung des Scheins, Frankfurt am Main: Suhr- kamp 1992) der Politik und damit der beabsichtigten Befriedung (als Funk- tion einer breiten und vor allem allseitigen Interessen-Artikulation) wirklich dienlich ist, bleibt mit Pierre Ansart (Les clinciens des passions politiques, Paris: Seuil 1997) sehr die Frage. 330

kann von Konkurrenten anders interpretiert und, wenn sich Mehrhei- ten finden, auch auf ihre Weise durchgeführt werden. Räson-Optionen sind im Parteienwettbewerb allemal legitim und zulässig, jedenfalls unter demokratischen Bedingungen, die sich ihrerseits prophylaktisch einer Abwahl durch die Bevölkerung entziehen. Statt Macht-Konkurrenten als Feinde abzustempeln, gilt es das Risiko der Korrumpierbarkeit zu bändigen, das sich als „Vorrang des Macht- kalküls vor den Sachaufgaben“ (Eppler) aufdrängt. Folglich ist das

Übergewicht von Arkanbelangen und Parapolitik gegenüber einer

Problembearbeitung abzuwehren, die nicht nur im Namen, sondern im langfristigen Interesse der Wähler/Bürger agiert. Das setzte bereits

James Harrington994 mit Politik gleich, nachdem sich mit der bürgerli- chen Revolution im England des 17. Jahrhunderts der Staat nicht län- ger traditional oder charismatisch, sondern vor allem utilitär zu recht- fertigen hatte. Jener Abgrund, der etwa jenseits der Alpen zwischen classe dirigente und Mehrheit besteht995, droht sich überall dort auf- zutun, wo die Einflusskanäle unkontrollierbar werden als Folge der

Absperrung von oben und entsprechendem Desinteresse samt „unde- rinvolvement“ (Hirschman) der Bürger von unten. Obschon „in der

Demokratie eine Elitebildung unvermeidbar ist“996, gerade weil sie - parteipolitisch Zugangs-offen - auf der Kanalisierung der Massenmei- nung beruht, gelangen keineswegs selbstläufig die Geeigneten durch die Knotenpunkte der Macht an deren Spitze. Mithin droht trotz aller spürbaren Oligarchisierung weniger die „Gefahr des Umschlags der pluralistischen Demokratie in Manipulationsregimes“997; vielmehr ist

994 „All government is interest“, in: A system of politics (1661), in: The Po- litical Writings (Anm 87), S. 3 ff., hier S. 6. 995 Vgl. Piero Ottone: Affari & Morale, Mailand: Longanesi 1988, S. 68 ff. Auch Massimo Teodori: Soldi & Partiti, Mailand: Ponte alle Grazie 1999. 996 Hans Apel: Der deutsche Parlamentarismus. Unreflektierte Bejahung der Demokratie?, Reinbek: Rowohlt 1958, S. 59. 997 Eugen Kogon: Der Parlamentarismus unter den gegenwärtigen gesell- schaftlichen Bedingungen, Frankfurter Hefte, 17. Jahrgang (1962), S. 730. 331

die Inthronisierung einer nach langer Ochsentour998 als Parteisolda- ten und infolge einer Auslese per Seilschaften unter Ausschluss der

Öffentlichkeit zustande kommenden „Pseudoelite“ (Alain) zu beobach- ten: Sie rückt entweder durch Kooptation auf oder nach Kriterien (An- passungsfähigkeit, Redseligkeit, Egomanie ff.), die womöglich viel mit

Applaus und Wendigkeit, jedoch unter Verweis auf die in Wirklichkeit ausschlagenden Laufbahn-Gesichtspunkte (Hilft es mir? Schadet es meinem Konkurrenten/Gegner? Nützt es meiner Partei? Und eher nachrangig: Ist es sachlich richtig?) nicht unbedingt etwas mit dem elitärenf Anforderungsprofil des öffentlichen Regelungsbedarfs zu tun haben.999 Kaum verwunderlich, das die gesellschaftliche Verankerung der Parteien immer vager gerät, es der Bevölkerung frei nach Karl Va- lentin („Es muß an der Leitung liegen!“) zunehmend schwer fällt, sich einen Reim auf die Kapriolen der Politik auch als „Drama der Eliten“

(Mills) zu machen1000. Allenthalben gewinnen Opportunismus, Mittel- mäßigkeit und Machenschaften an Boden1001, obschon bereits Walter

Bagehot, Jahrgang 1826, auf die politische Neuzeit mehr Leitungsbe- darf und Entscheidungsnachfrage zukommen sah.1002 Es geht folglich längst nicht mehr um jene heroische Herrschsucht im Sinne traditio- neller Beschwerden, wonach „große Männer ..., Feldherren, überlege- ne Staatsköpfe, Eroberer- und Herrschernaturen jeder Art, welche sich gewaltig über die Menschen erheben, wohl so beschaffen sein

998 Vgl. Dietrich Herzog: Politische Karrieren. Selektion und Professionali- sierung politischer Führungsgruppen, Opladen: WDV 1975. 999 Obschon die Verhältnisse noch nicht überall derart entpolitisiert, weil finanzkapitalistisch fixiert wirken, wie sie David Halberstam (The Best and the Brightest, New York: Random House 1972) mit Blick auf Washington geschildert hat. 1000 Vgl. John Dunn: The Cunning of Unreason, London: HarperCollins 2000. 1001 Laut Arnulf Baring, zit. Frankfurter Rundschau vom 2. 2. 1983, S. 4. 1002 The English Constitution (Anm. 981), S. XX. Nicht zuletzt das Parla- ment selbst sollte im Sinne expressiver, aufklärender und informierender Funktionen (a.a.O., S. 132 ff.) entscheidend an der Entschlussfindung be- teiligt sein. 332

müssen“, wie Thomas Mann1003 die historischen Bedrohungsdimensio- nen zusammen fasste, „daß die Welt ihnen klein wie ein Schachbrett erscheint, da sie sonst die Rücksichtslosigkeit und Kälte nicht hätten, keck und unbekümmert um das Einzelwohl und Einzelwehe nach ihren

übersichtlichen Plänen damit zu schalten.“ In der Hochmoderne han- delt es sich viel eher um eine politische Machtverwaltung ohne her- ausragende und oft noch nicht einmal angemessene Lenkungsleistun- gen.1004 Deswegen ist die Mitwelt über die sich häufenden mensch- lich-allzumenschlichen Schwächen der Gewählten und sonstigen

Funktionsträger besonders pikiert. Fehlt ihnen doch wenigstens der

Stil und das Savoir-faire der Arrivierten von einst. Der Grad der For- malisierung von Demokratie zu einer alterierend geeichten und kon- fliktuell geglätteten Bühnendramaturgie (Opposition/Regierung) par- teilicher Szenenwechsel, um neben der

• amtlichen Machtrollenbestellung (Regierung) und

• sachlichen Berechtigung, ja Pflicht zur Problemlösung auch Änderungen (per Dissensdruck) etwa im Sinne der wirklichen

Bedürfnislagen in der Gesellschaft durch parlamentarische Friktions- kontrolle abzufedern, ermöglicht fraglos die Rekrutierung von Partei- funktionären, deckt aber nicht notwendig den Bedarf an ebenso kom- petenten wie wohlberatenen Staatsleuten. Mit Blick auf die genannten

Elitenbereiche - andere, wie Militär oder Polizei, aber auch Gewerk- schaften als Reservoir alternativer Führungskräfte etc. ließen sich anführen - hat die Baseler Prognos AG1005 daher ein Riesendefizit

„führungsbegabter Menschen“ vorhergesagt. An ihrer Stelle aufkom-

1003 Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Stuttgart/Zürich/Salzburg: Europäischer Buchclub 1954, S. 17. 1004 Ganz ähnliche Befunde monierte bereits eine Politikkonferenz vom 16. 2. 1934 in Paris, vgl. André Maurois: Les besoins de l’état moderne, Revue des deux mondes, Jahrgang 104 (vom 15. 2. 1934), S. 814 ff. 1005 Zit. Handelsblatt vom 7. 9. 1988, S. 2. 333

mende „neue Konsum-Eliten“ füllen schwerlich diese Lücke.1006 Eben- so wenig wie karrierebewusste Yuppies1007, die vor lauter Nabelschau und Egozentrik die Rahmen-Verhältnisse mitsamt ihren Sorgen und

Existenzbedingungen kaum wahrnehmen, denen sie ihre Chancen ver- danken. Ellenbogen und Verantwortungsethik passen schlecht zu- sammen. Zusammenhänge treten daher aus dem Blick, welche die Po- litiklehre einst mit Otto von Gierke1008 auf den Nenner brachte: „Was der Mensch ist, verdankt er der Vereinigung von Mensch und

Mensch“. Stattdessen bildet sich ein parteipolitischer Kastengeist aus, der nicht nur einen „Mehrheitenschutz“ (Scheuch) gegenüber kompakten Minoritäten nötig macht; er verhindert zudem die Rekrutie- rung von ElitenF mit Rückkoppelung an das Ganze. Die Regel ist Ta- lent-Nachschub für den Überbau einer Selbstsucht-Ordnung, in der letztlich auch die Politik im Chor der neoliberalen Thesaurokratie mit- singt. Derartige Mängel des politischen Apparates begünstigen eine steigende Wahlenthaltung. Sie ist Ausdruck von Politikfrust samt Ver- trauensverlust der Parteien als öffentlich-akzeptierte „Kontaktsyste- me“ (Luhmann). Zugleich spiegelt diese Zurückhaltung den Ansehens-

1006 Vgl. Capital Nr. 6 [1987], S. 14. 1007 Die „young urban professionals“ sind out, verkündete Andreas Luko- schik in seinem in & out ‘88. Eine Zeit lang sei diese Spezies als Elitean- wärter „durch den bundesdeutschen Blätterwald gefegt“, das Trendbewußt- sein habe sie überholt. Immerhin verkaufte sich Monate danach das ‚Yup- pie Handbuch’ (Piesmann/Hartley) ebenso in hohen Stückzahlen wie Ri- chard Kerlers „Anleitung für Trend-Lemminge“ (Die Yuppies). Sie beant- worteten vor allem Outfit- und Stylingfragen der „Wohlstandsjünger“ im Al- ter zwischen 25 und 45 Jahren. Tatsächlich erlebte der Yuppie erst seither wirklich Konjunktur. Fachmagazine wie Quote, Cash Flow, 0ption, Excel etc. informierten mit Tips und Zeitgeist-Layout über das „Abenteuer Wirt- schaft“. Karriere (Auflage 300 000) bediente das Informationsbedürfnis der erfolgs- und aufstiegsorientierten Nachwuchsführungskräfte. Man will nicht nur Karriere-Utensilien tragen, sondern diese selbst machen. Yuppies sind nicht passé, kommentierte das Handelsblatt (vom 26. 8. 1988, S. 4), son- dern erwachsen geworden. 1008 Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1 [Berlin: Weidmann 1868], S. 1. 334

schwund der Parlamentarier in der Bevölkerung1009, die etwa das irri- tierende Verhalten in der Barschel-Affäre des Jahres 1987 oder die

Käuflichkeit von Entscheidungen der öffentlichen Hände mittels schwarzer Kassen für ein auch hierzulande inzwischen nicht unübli- ches Gebahren der politischen Chargen des elitären Überbaus hält.

Orientierungsdefizite

Belegen Unerfreulichkeiten wie Skandale, Korruption, Favoritismus oder Selbstbedienung1010 den Schwund überkommener Moralvorstel- lungen und ihrer Sekundärtugenden?1011 Sind derartige Patzer die

Folge eines durch die politisch-wirtschaftliche Führung mitgeprägten

Klimas der Regelverletzung1012, was als sittlicher Entfesselungseffekt auf dasselbe Ergebnis hinausläuft? Oder verraten sie die funktionale

(Selbst)Entlastung des Politischen von Anforderungen, für das gute

Leben zuständig zu sein? Ein Staat, „dessen physische Kräfte nicht von moralischen aufgewogen und durch diese unterstützt werden“, daran versuchte der unglückliche Johann Philipp Palm1013 seine

Landsleute zu erinnern, „hat nicht die Hälfte der Hülfsmittel, die er zu seiner Erhaltung und fortschreitenden Wohlfahrt bedarf“. Die mit ethi-

1009 Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Die Demontage der Politik in der Infor- mationsgesellschaft, München: Alber 1998, S. 22 ff. Die 13. Shell Jugend- studie (Anm. 287, S. 16 f.) spricht von „erdrutschartigen Vertrauensverlus- ten“ unter den Jugendlichen. 1010 Hans Herbert von Arnim: Demokratie ohne Volk, München: Knaur 1993, S. 117 ff. 1011 Vgl. Michael J. Sandel: Democracy’s Discontent: America in Search of a Public Philosophy, Cambridge: Harvard UP 1996. 1012 Über die ebenso intime wie verletzliche Dialektik, die zwischen Regel- verläßlichkeit und öffentlich/privatem Anstand herrscht, vgl. Hansjörg Sie- genthaler: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Unregelmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen Han- delns und sozialen Lernens, Tübingen: Mohr 1993, S. 178 ff. 1013 Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung (1806), abgedruckt in Martin Riegel, Der Buchhändler J. P. Palm, Hamburg: Broschek 1938, S. 141. 335

scher Selbstbescheidung, gar Unterforderung einher gehende öffentli- che Verunsicherung jedenfalls löste nicht nur eine neue politische E- thikdebatte aus1014; sie förderte zugleich die Deliberation über und das Suchen nach ElitenF , weil der Zeitgeist positiv besetzt bezie- hungsweise nachfragt, woran bei steigendem Bedarf schierer Mangel herrscht1015, weswegen ja nicht zuletzt Schwächen der Vergesell- schaftung überhand nehmen. Wieso werden in der neuen Elitendis- kussion alle möglichen Orientierungslücken ansichtig? Übrigens auch auf Seiten der Bevölkerung, die es seit längerem an politischem Inte- resse und Einsatz fehlen lässt oder meint, abseits stehen zu können.

Sieht sich dadurch das Schopenhauer-Verdikt1016 bestätigt, wonach das Volk „ein ewig unmündiger Souverän“ sei, „welcher daher unter bleibender Vormundschaft stehen muß und nie seine Rechte selbst verwalten kann“? Oder drückt sich darin gerade das Missvergnügen

über eine derartige Bevormundung aus? Solches Rückzugsverhalten etwa als Wahlverweigerung, Parteienmüdigkeit oder mangelnde Inves- titionen in das Sozialkapital erschwert jedenfalls die Wahrung der ei- genen Rechte und gefährdet womöglich noch die repräsentativen Res- te an Demokratie. Nur eine engagiert-abgleichende Eliten-Evaluierung samt high life diesseits und jenseits der dazu für die Population vor- gesehenen Ausdrucksformen hingegen vermag nach aller Erfahrung eine völlige Verselbständigung, d.h. Unverantwortlichkeit - auch - der politischen Macht zu verhindern.

1014 Vgl. etwa Amy Gutmann/Dennis Thompson: Democracy and Disagree- ment, Cambridge: Harvard UP 1996. 1015 Der zudem ökonomische Befürchtungen spiegelte, Europa als ehemali- ge Werkstatt der Welt gerate im internationalen Wettbewerb mangels Spit- zenleistungen ins Hintertreffen. Derartige Risiken hängen eher mit der richtigen Ausbildung und Allokation von Fachleuten zusammen als mit dem Elitethema. 1016 Zur Rechtslehre und Politik (1851), Parerga und Paralipomena, Sämmtliche Werke (Anm. 663), Band 6, S. 263. 336

Leistungen, welcher Art immer, haben indes mit gesellschaftlicher

Bewertung zu tun, die Aufmerksamkeit voraussetzt. Sie müssen sich nicht nur monetär lohnen, sie verlangen auch nach Anerkennung. Zu diesem Zweck benötigt der entsprechende Leistungsbegriff einen ge- sellschaftlichen Kontroll- und Resonanzboden, was einen wenigstens symbolischen Güterkonsens voraussetzt. Eine funktionierende Staats- und Zivilverfassung korrespondiert mit einer „sozialethischen Seelen- verfassung“ (Heinrich Pesch). Fehlt diese Rückkoppelung, mithin der sinnlich-normative Rahmen1017, für den man sich engagiert, wird jene republikanische virtù knapp, die von Machiavelli über Rousseau bis

Etzioni als ebenso geheimnisvoller wie flüchtiger Antrieb gilt, der die

Zeitläufte gleichermaßen als Motivationsplus und Selbstzivilisierung antreibt - oder auch nicht. Öffentlich hüten lässt sich solche Sozial-

Aspiration als Anteilnahme und Regelungseffizienz nur, wenn das

Bürgerengagement als Funktion von Zugehörigkeit offiziell gefördert wird, so oder so.1018 Der „offene Himmel des Gemeinsinns“ (Schiller) geht insofern Hand in Hand mit der Existenz von ElitenF , deren Wer- tekanon ihre Effektivität als principal agent des gesellschaftlichen

Gelingens mit sozialer Responsibilität und Responsivität verknüpft. Im

Namen jeweiliger Mehrheiten1019 tragen sie in der Politik - um von sonstigen Regelungsbereichen zu schweigen - unter anderem die Ver-

1017 Der trotz liberal-passiver Zeitgeistreise in die egoistische Teilhaber- gesellschaft für Privilegierte abgreifbar bleibt, vgl. S. Papcke: Gemeinwohl und Gerechtigkeit. Passwörter der Konkurrenzgesellschaft, Gewerkschaftli- che Monatshefte 6 (2000), S. 341 ff. 1018 Unter ordnungspolitischen Geschichtspunkten bieten viele Zonen der Welt abschreckende Beispiele für das Fehlen oder den Verlust einer im ei- gentlichen Sinne elitärenF Verantwortungsgrammatik als republikanischem Regelfall, bekanntlich sind Stagnation und/oder Despotie nicht zuletzt als Folge von brain- und money- drain die absehbaren Folgen des Mangels an Zusammenhalt, vgl. etwa Mónica Escher: Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme Lateinamerikas, Bern/Stuttgart: Haupt 1990. 1019 Vgl. Claus Offe: Politische Legitimation durch Mehrheitsentscheidung, in Bernd Guggenberger/Claus Offe (Hrsg.): An den Grenzen der Mehrheits- demokratie, Opladen: WDV 1984, S. 150. 337

antwortung dafür, dass Interessen, Privilegien oder andere Extrawün- sche die Regierungsarbeit nicht überformen oder gar pervertieren.

Und dass im Rahmen der demokratischen Machtfilter tatsächlich, wo- möglich sogar angemessen entschieden wird, in Umweltfragen, in der

Wirtschaftspolitik oder mit Blick auf die Sicherheitsprobleme. Zu- kunftsweisende Maßnahmen sind beim Wahlvolk ebenso gefragt wie eine eher medienspröde Standfestigkeit, verlässlich bei den zumeist irdenen Problemen der Bürger zu verharren. Der Wähler fügt sich da- bei nicht aus Gehorsamslust, sondern aus Gewohn- heit/Alternativlosigkeit, Nutzenerwartungen und/oder Regelverständ- nis in das allfällige Oben-Unten-Muster1020, das nota bene die übliche

Brechung der gesellschaftlichen Lagerungen fortsetzt, bei allem öf- fentlichen Geklage über eine wieder breiter werdende ‚Gerechtigkeits- lücke’.1021 Was an die Einsicht von Gottfried Arnold1022 gemahnt,

Jahrgang 1666: „Im blossen lehren, predigten und allen äusserlichen worten läßt sich viel zum schein sagen, heucheln und andern zu last auflegen“, kommentierte der Verfasser des ersten deutschen Ge- schichtswerkes aus Sicht der Unterdrückten die wortreiche Unverbind- lichkeit als Prinzip aller Politik, „ob mans aber selber mit einem finger anrühret, weist sich in der praxi aus“.

„Code-Änderungen können zwar in gewissem Umfang zur Neuvertei- lung der Chancen führen“, kommentierte beziehungsweise begründete

1020 Es spiegelt im Zeitalter der Arbeitsteilung die Professionalisierung in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft oder Wissenschaft, nicht jedermann kann/will sich um alles gleichermaßen kümmern, ist für alle Aufgaben auch nicht gleichermaßen ausgebildet oder geeignet, wenngleich Spitzenpositio- nen in jedem Handlungsfeld prinzipiell jedermann offenzustehen haben. 1021 Vgl. Hartmut Rosa: Die prozedurale Gesellschaft (Anm. 880). 1022 Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie, vom Anfang des Neuen Testaments biß auf das Jahr Christi 1688 (1699), Frankfurt am Main: Frit- schens Erben 1729, Vorrede § 38. 338

Niklas Luhmann1023 diesen Befund ebenso unaufgeregt wie zynisch.

Doch die ‚innere Logik’ des Codes, mithin die unterstellte „Nichtbelie- bigkeit ihres Symbolarrangements“ verhindere zugleich und zumeist, dass „Neuerungen zu radikalen Umverteilungen“ führen. Die Gesamt- heit der Nichteigentümer könne nie Eigentümer werden, was unter den

Bedingungen von Knappheit und bezogen auf materielle Güter - nicht aber unbedingt auf Humankapital - zutrifft. Zugleich sieht sich dabei die tatsächliche Veränderung der Verteilungsverhältnisse auf der

Zeitachse und damit die Verbesserung der allgemeinen Lebensum- stände, folglich die relative Offenheit der Sozialgeschichte vernach- lässigt, die nicht zuletzt durch innovativere Arrangements der oberen

Etagen eröffnet wurde. Der Blick zurück erweist mithin die systemthe- oretisch-evozierte ‚Logik der Codes’ zugleich als Herrschafts-

Konditionalisierung, weswegen alle Regierungs-Annalen vom Anord- nungsüberhang zeugen: Jenem politischen „ipsédixitisme“ (Gaston Ri- chard) als Versuchung aller Führung also, noch des heutigen jet set.

Aber auch die von Kant1024 notierte und von ihm wenigstens politisch begrüßte Furcht der großen Menge, sich ihres Verstandes zu bedie- nen („Misologie“), hat solche Zustände zementiert. Die kollektive

Denkkapazität konnte sozialevolutiv allerdings nie erprobt werden, sondern stand wissensgeschichtlich seit der Urhorde unter elitärerk

Quarantäne, da sich noch alle historischen Sozialfigurationen gegen-

über ihren Mitgliedern autonomisierten, ihnen folglich imponierten o- der sie einschüchterten.

Sapere aude?

1023 Weil dies hieße, „daß jeder alles, also jeder nichts hat. Die Struktur aller Medien-Codes macht ‚Revolutionen’ unmöglich“, Macht (Anm. 13), S. 90 f. 1024 Was ist Aufklärung? (1774), in Werke, Band 11 (Anm. 713), S. 53 f. 339

Es sei „der größte Fortschritt der neueren Zeit“, vermerkte Friedrich

Hebbel1025, „dass der Mensch sich jetzt nicht bloß wohl befinden, sondern auch gelten will. Die itzige Welt will lieber auf eigene Hand umherirren und Nacht und Sturm riskieren, als durch Leithammel zu

Stall geführt zu werden“. Das Anerkennungsmotiv wird für die Neuzeit ausschlaggebend, wenngleich im Zeitalter der Massen gelebte Solida- rität durch Anonymität abgelöst wurde. Doch „als blindes Instrument“

(Clausewitz) fremder Absichten wollte möglichst niemand mehr gelten.

Alle öffentlichen Einrichtungen hatten Willensbekundungen von unten zu berücksichtigen, andernfalls geriet der Wahlzettel zum Strafzettel.

Wiewohl nach wie vor „Minoritäten die Geschichte machen“1026, so doch in den fortgeschrittenen Weltzonen nicht mehr summarisch oder schlicht in eigener Regie, trotz aller Arroganz etwa des Parteiensys- tems gegenüber Neugründungen beziehungsweise öffentlichen Rügen an der Leitungs-Regie. Mit Bezug auf Wähler und Konsument handelt es sich bei den Elitefunktionen nicht länger um Generosität, sondern um Sozialdienste. Allein solcher Service sichert der Ebene der Politik den Rohstoff des ‚Vertrauens’.1027 Und dieser erst bewirkt als Erwar- tungsvermutung (Unterstellung hinreichender Reziprozität) innerge- sellschaftlich ein zureichendes Maß an Verlässlichkeit, um mit dem sozial-eingeübten Redlichkeitskredit symbolisch-kommunikativ

Raum/Zeit/Differenz etc. aufzuheben und damit gleichsam bona fide die Organisation der komplexen Hochmoderne in Gang zu halten. So sollte es laut vorherrschender Demokratielehre sein! Tatsächlich hält sich auch die postmoderne Herumschubs-Gesellschaft eher an jenes

1025 Am 23. November 1838, Werke, Tagebücher 1, (Anm. 296), S. 141. 1026 Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit, Berlin/Leipzig: Gruyter 4 1932, S. 177. 1027 Mißtrauen hingegen „gefährdet das allgemeine soziale Gefüge, das auf Vertrauen beruht“, kommentiert J. B. Rotter: Vertrauen. Das kleinere Risi- ko, Psychologie heute, 1981/3, S. 23 ff., hier S. 23. 340

‚eherne Gesetz der Delegation’, das Pierre Bourdieu1028 mit Blick auf die Gepflogenheiten der realen Establishment-Ordnung aufgedeckt hat mit ihrer mediengehärteten Sucht zur Selbstdarstellung. Danach gerät im Vollzugsrahmen einer ebenso komplizierten wie unvermeidlichen

„Selbstkonsekration der Bevollmächtigten“ der Akt der Übertragung more corporato zur Eigenbestallung. Der Apparat mitsamt Gruppen- geist hat in der „politischen Gesellschaft“ (Greven) von heute immer recht, gegen die einzelnen Funktionäre ebenso wie gegen die von ihm

Usurpierten, Deswegen habe die neuzeitliche Emanzipationsbewegung die Revolution wider „die politische Klerikatur“ (S. 54) noch vor sich, trotz aller Erweiterungen formaler Mitsprachechancen. Doch Vollkon- trolle von unten als Ersatz für Vertrauen1029 - nicht etwa nur Über- prüfbarkeit als Zuverlässigkeitsstichproben - wäre kaum eine politi- sche Alternative, da sie nicht nur enorme Folgekosten (Bürokratiespi- rale) nach sich zöge, sondern vor lauter Friktionen die notwendige

Entscheidungskapazität in Staat und Gesellschaft noch stärker beein- trächtigen müsste als deren übliche Inkompetenz.

1028 Delegation und politischer Fetischismus, in: Rolf Ebbighausen/Sighard Neckel (Hrsg.): Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt am Main. Suhrkamp 1989, S. 36 ff. 1029 Wobei es sich in einer - mit Piaget gesprochen - Erwachsengesell- schaft ohnedies um eine Art von Tauschgeschäft (Vertrauen gegen Rege- lungskompetenz) handelt und nicht etwa um die ‚Vertrauensseligkeit’ der historischen/nachwachsenden Kinderwelt, zu diesem Problemkomplex Alwin W. Gouldner: The Norm of Reciprocity. In ders.: For Sociology. Renewal and Critique in Sociology Today, Harmondsworth: Pelican 1975, S. 226 ff. 341

8 Skandale als Fortsetzungsroman der Eliten „Die Politik hat ihre Krankheiten: Ratlosigkeit und Anarchie, aber auch – Besserwisserei und Autokratie“1030

Die Veranstaltung fand in Leipzig statt. Angeordnet hatte sie Fried- rich August III., seit zwei Jahren Regent von Kursachsen, der an die- sem Morgen anwesend war. Man schrieb Sonntag, den 29. April 1765.

Der ausgewählte Kreis in der örtlichen Universitätsbibliothek freute sich über die Abwechslung. Man war auf einen berühmten Redner ge- spannt. ‚Von der Beschaffenheit, dem Umfange und dem Nutzen der

Moral’1031, so lautete das Thema, das die „churfürstliche Durchlauch- tigkeit“ seinem Landeskind und Hochschullehrer Christian Fürchtegott

Gellert, 49, an diesem Feiertag gestellt hatte. Damals keine weltfrem- de Fragestellung. Erst zwei Jahre zuvor war auf der nahegelegenen

Hubertusburg der Siebenjährige Krieg zwischen Preußen und Öster- reich beendet worden, der Mitteleuropa fürchterlich mitgenommen hat- te. Wie aufgewühlt die Weltläufte waren, zeigte sich im zeitgenössi- schen Verlangen nach Moralphilosophie. Ein vergessener Vertreter dieser Tugendliteratur war jener pietistische Schriftsteller und Philo- soph Gellert, der zu früher Stunde erwartet wurde und von seiner Mit- welt eine fast schwärmerische Verehrung erfuhr. Das lag zum Teil daran, dass Gellert die auflebende deutsche Dichtung bereichert hat- te. Stärker war wohl sein Einfluss auf den Zeitgeist. Laut Goethe, der bei ihm Rhetorik belegte, schuf er seinen Landsleuten erst „eine sitt- liche Kultur“. Vor allem Gellerts immer wieder nachgedruckte ‚Fabeln und Erzählungen’ (Leipzig: Wendler 1746/1748) waren zu einem

Volksbuch geworden und wirkten erzieherisch auf den ganzen, auch den katholischen Sprachraum.

Tugendzwecke

1030 Gabriel Tarde: Les Transformations du Pouvoir, Paris: Alcan ²1909, S. 11. 1031 Erschienen bei M. G. Weidmanns Erben & Reich Verlag, Leipzig 1766. 342

Gellerts besondere Begabung, traditionelle Klugheitsregeln auf die

Lebenswelt zu beziehen, erwies sich an diesem Sonntagmorgen in

Leipzig, als er über „die Kenntniß von der Pflicht des Menschen“ (S.

5) sprach. Ganz modern setzte er den Verstand als „Anführer“ voraus und verlangte „eine Achtsamkeit auf seine Stimme“ ebenso wie die

Pflege „eines innerlichen Gefühls dessen, was gut ist, oder nicht“ (S.

10). Belohnt sähe sich solche Selbstbeherrschung dadurch, dass der gesellige Verkehr der Menschen in Gang käme. Er floriere erst, wenn

Mäßigung, Gerechtigkeit und Arbeitsamkeit zum Allgemeingut gerie- ten. Andernfalls drohe nicht nur das Scheitern des eigenen Lebens- laufes; auch das Gemeinwohl habe als Quersumme des vernünftigen

Einzelhandelns verstanden zu werden, so wie Grotius1032 es der Mit- welt geradezu apodiktisch als Staatsverständnis vor buchstabiert hat- te: „Ein perfekter Körper freier Personen, die sich vereinigt haben, um friedlich ihre Rechte zu genießen und das ihnen Nützliche zu pfle- gen“. Solange freilich die Verwaltung jeglicher Mitsprache von unten entzogen blieb, ließ sich an die Einhaltung solcher Verbindlichkeiten nur appellieren. Es war riskant, die höheren Stände Im Alltag an ihre

Pflichten zu erinnern, denn „wer Wahrheit ausspricht, erntet Haß“1033.

Aber auch die Schicht frühneuzeitlicher Handlanger der absolutisti- schen Regierungskunst - die vielen Diplomaten, Kanzlisten, Advoka- ten oder Amtmänner jener Zeiten - vertraten durchaus andere als am

öffentlichen Wohl orientierte Interessen. Das wiederum erbitterte die

Mitwelt besonders, wie sich schon den Beschwerden eines Friedrich von Logau1034, Jahrgang 1604, entnehmen lässt, der entsprechend

1032 Über das Recht des Krieges I, 1, § 14 (Anm. 182), S. 80. 1033 Sebastian Brant: Das Narrenschiff (1494), Stuttgart: Reclam 1964, S. 9. 1034 Heutige Weltkunst, in: Erstes Hundert Teutscher Reimen-Sprüche (Breslau: David Müller 1638), Stuttgart: Reclam 1984, S. 78. 343

das politische Lied schon als garstige Weise anprangerte: „Anders sein und anders scheinen,/Anders reden, anders meinen,/Anders lo- ben, alles tragen,/Allen heucheln, stets behagen,/Allem Winde Segel geben,/Bös'- und Guten dienstbar leben,/Alles Thun und alles Tich- ten,/Blos auf eigenen Nutzen richten,/Wer sich dessen will befleis- sen,/Kann politisch heuer heißen“. Politik unter Ausschluss der Öf- fentlichkeit verdirbt den Charakter, denn Macht ohne Einspruch „zeigt die Neigung, korrupt zu werden“1035. Solange die Domäne der Politik den Herren- beziehungsweise Herrscherrechten zugezählt wurde, blieb aller Tadel ohne Echo, denn „Macht will sich ausüben, nicht er-

örtert werden“ (Mühlmann). Erst als der Staat im Lauf des 19. Jahr- hunderts über den Weg der historisch mühsam genug erstrittene Re- gierungsbestallung durch Zustimmung, an denen sich in Verfolg der

Reformbewegungen für ein offeneres Wahlrecht nach und nach immer größere Bevölkerungsteile beteiligten, mehr und mehr zur Sache der

öffentlichen Selbstverwaltung durch die Gesellschaft selbst geriet, entwickelte sich ein der Allgemeinheit nicht nur zugänglicher, sondern ihr gegenüber jedenfalls formell verantwortlicher Politikbereich.

Skandale gab es zwar zu allen Zeiten, aber vor Beginn der politischen

Kontrollneuzeit blieben sie eine Sache für den mehr oder weniger ausgeprägten Ehrenkodex der Oberschichten. Erst in der Epoche von

Massenpresse und Volksparteien wurde das Verhältnis von Politik und

Moral zu einem explosiven, da öffentlichen Thema, ohne allerdings zu einer ethischen „Revolution der Denkungsart“ (Kant) zu führen, wohl aber zur grundsätzlichen Rechenschaftspflichtigkeit wenigstens der elitären Politikzonen. Deren Okkupanten hatten sich laut Graf O- xenstirna („Es kommt dem Pöbel gar nicht zu, ihres Fürsten und Her- ren Handlungen oder Thun und Lassen zu beurtheilen, denn Gott al-

1035 Lord Acton: Historical Essays and Studies, Hrsg. J. N. Figgis/R. V. Laurence, London: Macmillan 1907, S. 504. 344

lein hat sich die Gewalt gegeben, darüber zu richten, wann er solche etwan mißbrauchet“1036) vorher alles Dreinreden verbeten.

Risse im Gefüge

Ein wichtiger Schritt zur Verringerung der alteuropäischen Gehor- samsbürde war daher paradoxerweise die Entdeckung des Skandals als Indikator für die periodische Nichtübereinstimmung von Regierten und Regierenden. Kant1037 beschäftigte sich gleichsam im Vorgriff auf freiere Zeiten 1795 mit solcher „Mißhelligkeit zwischen der Moral und der Politik“ (S. 228 f.). Der „selbstsüchtige Hange der Menschen“ ge- rate nur allzu leicht den eigenen Vernunftsmaximen ins Gehege. Der vom Königsberger Denker so genannte „moralische Politiker“ werde versuchen, derartige „Gebrechen“ zu verbessern, die „im Staatenver- hältnis angetroffen werden“ (S. 233). Anders der „politische Moralist“.

Er schmiede „seine Moral so, wie es der Vorteil des Staatsmanns sich zuträglich findet“ (a.a.O.). Auch dem Philosophen war klar, dass Re- alpolitik eine Art von Kuhhandel darstellt, bei dem es gilt, abweichen- de Interessen und Standpunkte so zu verknüpfen, dass Kompromisse möglich werden. Zwar lässt sich mit Alfred Vierkandt1038 „die Art, wie kraft jenes Mechanismus (Macht der Situation) die Menschen sich ge- genseitig treiben, drängen und disziplinieren, wie überall objektive

Ordnungen über ihnen schweben, von ihnen geschaffen, aber nicht wieder zerstörbar für sie“, vielleicht „als das größte Wunder der Welt bezeichnen“. Aber trotz aller Auto-Institutionalisierung (Vorratsent- scheidungsfähigkeit durch Routinisierung + Zuständigkeitszuständig-

1036 Kurzer Begriff (Anm. 939), Theil 3, S. 16. 1037 Zum ewigen Frieden, Werke 11, (Anm. 713), S. 191 ff. 1038 Gesellschaftslehre, Stuttgart: Enke ²1928, S. 413. 345

keit) der Sozialgebilde bleibt Handlungsfähigkeit als wesentliche, wiewohl rare Ressource der Politik von Fall zu Fall durch Überwin- dung von

- KnappheitZeit/Ressourcen/Alternativen ff

- FriktionenWiderstände/Unwägbarkeiten etc. zu sichern, weil die Summe sozialer etc. Interessen, die sich in der

Moderne politisch artikulieren, die Finanzierbarkeit, Verallgemeine- rungsfähigkeit, Umweltkompatibilität etc. der Gesellschaftsgestaltung

übersteigt. Die Pflege und Verwaltung öffentlicher Güter kann nicht mit der Regelung häuslicher Angelegenheiten gleichgesetzt werden.

Mit der Elle der Privatmoral ist die Weltverwaltung schwerlich zu

(ver)messen. Sie verlangt von den „leitenden Schichten“ (Max Weber) zu ihrer politischen oder bürokratischen Rollenerfüllung neben Au- genmaß, Fingerspitzengefühl und Redlichkeit/Pflichtbewusstsein vor allem hinreichende Kompetenz(en) und Durchsetzungsvermögen, kei- neswegs aber Gesinnungslyrik oder Moralapostelei, die Arroganz ver- deckt oder Lenkungsschwächen. Skandalös wird die Angelegenheit erst richtig, wenn das Führungspersonal a) den Erwartungen/Aufgaben/Herausforderungen, die das Gemeinwe- sen stellt oder die an das Gemeinwesen gestellt werden nicht ge- wachsen ist, diese ignoriert beziehungsweise ‚fremde’ Referenzgrö-

ßen wie Prestigepositionen im global village vorzieht, etwa weil es sich mit dem eigenen Wirkfeld mangels ‚Transzendenz’ (Wertehori- zont/Zugehörigkeit/Solidarität u.a.) nicht sittlich oder gar emotional verbunden fühlt1039;

1039 Vgl. Nikolaus Piper: Deutschland braucht mehr Beschäftigung: Seine Eliten kümmert das wenig, Die Zeit vom 25. 2. 1999, S. 1. Vgl. Michael Dobbs/Paul Blustein: Who lost Russia?, International Herald Tribune vom 13. 9. 1999, S. 2; Corruption in Russia, Times vom 13. 9. 1999, S. 8. 346

b) seine Wirkfelder nicht zuletzt als Durchsetzungsmedium von Son- dervorteilen ansieht, die ihm konkurrenzlogisch vielleicht zustehen, die aber nicht unbedingt gesellschafts-bekömmlich sind.

Das kam/kommt immer wieder vor, weil die in der Demokratie gewähl- ten „Überschichten“ (Franz Staudinger) aus der Mitte der Bevölkerung stammen und ebenso fehlbar sind wie die große Masse. Dabei geht es nicht nur um einzelne beziehungsweise systematische Vorteilsnah- men, die als „Ämterpatronage“ (Eschenburg) für regelwidrig gehalten werden, selbst wenn sie üblich sind. Sondern es handelt sich um die

Gefahr, dass sich das Allgemeinwohl1040 (> Σ der Einzelinteressen) beeinträchtigt sieht. Und das, obschon auch die Privatsphäre als ein

Gut, das nicht zuletzt im Zentrum des öffentlichen Wirkens steht, nur funktioniert, wenn allenthalben ein Übergreifendes im Blick bleibt, das wenigstens symbolisch oben wie unten Eigensinn und Egoismus steuert oder begrenzt, wobei diese Notwendigkeits-Erfahrung der

Makro-Mikro-Koppelung sehr unterschiedlich auf den Begriff gebracht werden kann:

· „Indem ich also für das Wohl des Staates sorge, sorge ich für das meinige, was ich thue zum Schutz der Freiheit aller, das thue ich auch für meine Freiheit, weil ich ein Theil aller bin, und meine Frei- heit durch die Macht des Ganzen gesichert ist“1041

· „Die öffentliche Politik bezeichnet nichts anderes als eine jeweils momentan erreichte Konflikt-Balance, die alle miteinander ringenden

1040 Die pluralistische Interessenkonkurrenz erlaube keine verbindliche Bestimmung des Gemeinwohls, meinte Joseph Schumpeter (Kapitalismus (Anm. 318), S. 397 ff.). Das ist fraglich, weil das bonnum commune sozial- geschichtlich immer Interpretationshegemonie spiegelte, also tatsächlich nie verbindlich im Sinne von konsensual war; zudem behält Ernst Fraenkel Recht mit seinem Einwand, „Gemeinwohl sei keine soziale Realität“, son- dern eine regulative Idee, die gleichwohl relevant bleibt. 1041 Feuerbach: Anti-Hobbes (Anm. 407), S. 41 f. 347

Fraktionen oder Gruppen möglichst zu ihren Gunsten zu beeinflussen suchen“1042

· „Wir wollen, soweit es in unserer Macht steht, die äußeren Verhält- nisse derart gestalten, nicht: daß die Menschen sich wohl fühlen, sondern, daß unter der Not des unvermeidlichen Existenzkampfes das

Beste in ihnen, die Eigenschaften - physische und seelische - welche wir den Nationen erhalten möchten, gewahrt bleiben“1043

·„Jedes Segment der Gesellschaft gibt vor, seine eigene Vorteilssu- che liege im Interesse des Gemeinwohls“1044

· „Das allgemeine Interesse... besteht mithin aus den Interessen der verschiedenen Mitglieder, aus denen sie sich die Gemeinschaft zu- sammensetzt“1045

· „Durch den Gemeinsinn wird der ewige, Alles zerstörende Krieg, das bellum omnium contra omnes, welches der gewissenlose Eigennutz zwischen den einzelnen Privatwirthschaften hervorrufen würde, zu ei- nem höhern, wohlgegliederten Organismus versöhnt: der Volkswirt- schaft“1046.

Selbst die Vorstellung von einem Bedingenden/Übergreifenden sieht sich indes dadurch gefährdet, dass Kodexverletzungen im „oberen

Teil der Gesellschaft“ (Mills) eine allgemeine Entriegelung gegenüber einer con-game-mentality bewirken, die auf Dauer die öffentlichen

Angelegenheiten in einen Markt der Gelegenheiten verwandelt.1047

1042 Earl Latham: The Group Basis of Politics, Indianapolis: Bobs-Merrill 1952, S. 36. 1043 Max Weber gegen den Hedonismus Friedrich Naumanns auf dem 5. Na- tional-sozialen Kongreß 1894 in Frankfurt, zit. Marianne Weber: Max We- ber. Ein Lebensbild, Tübingen: Mohr 1926, S. 144 f. 1044 Vladimir O. Key: Politics, Parties and Pressure Groups, New York: Crowell ³1955, S. 18. 1045 Jeremy Bentham: Introduction to the Principles of Morals and Legisla- tion (1789), Kapitel 1, Section 4. 1046 Wilhelm Roscher: Die Grundlagen der Nationalökonomie, Stuttgart: Cotta 6 1866, S. 21. 1047 Vgl. David W. Maurer: The Big Con. The Story of the Confidence Man and the Confidence Game, New York: Pocket Books 1940. 348

Solche Verfehlungen scheinen auch als Korrumpierung der Parteipoli- tik um sich zu greifen.1048 Ist eine Abnahme des Moralbedarfs zu ver- zeichnen? Gar zu verkraften? Oder spiegelt die Bindegewebsschwä- che des demokratischen Miteinanders nur Optionspluralisierungen der

Mediengesellschaft? Die in der modernen Fabrikära entfaltete Ar- beitsteilung prägte auch die Welt der öffentlichen Dinge. Politik geriet zur Sache für Fachleute, die beruflich und finanziell von ihr ebenso abhängen wie ihre Organisation, so dass sich öffentliche Aufgaben und Karrieremuster vermengten. Trotz formaler Entscheidungs- als

„Gewissensfreiheit“ bei der Vertretung „des ganzen Volkes“ (Artikel

38 GG) wurde der Parlamentarier als Politiker abhängig von seiner

Partei und ihren Vorgaben. Ihr verdankt er Ansehen und Brot weit mehr als seiner Wählerschaft oder gar dem vagen Allgemeinwohl.

Wem fällt im Zweifelsfall die Loyalität zu?1049 Aus der wachsenden

Anonymität und einer entsprechenden Immunisierung dieser „Schat- tenpolitik“ (Alemann) gegenüber Anstand und Moral entsteht bei den

Wählern wiederum der Generalvorbehalt, das politische Treiben der

Hoheitsträger und ihrer Entourage gehe nicht mit rechten Dingen zu, wenn es sich denn überhaupt um Wählerbelange kümmert. Die Mitwelt

1048 Vgl. George J. Church: War against Sleaze, Time vom 6. Mai 1996, S. 42 ff.; auch Arnold J. Heidenheimer (Hrsg.): Political Corruption. Readings in Comparative Analysis, New York/London: Holt 1970. Was zur Folge hat, dass - wie der Fall Romani Prodi zeigt - kaum mehr Führungspersonen zu finden sind, die nicht irgendwo/irgendwie belastet sind. Das wiederum führt, wie etwa im Fall des Parlamentes in Straßburg, bei der Neubestel- lung der EG-Kommission 1999 dazu, am Ende bei aller Berufungs- Formalisierung auf eine wirkliche Durchkontrollierung der Bewerber auf europäische Spitzenposten zu verzichten... 1049 Deswegen irrt Konrad Adam (Der Moloch, Frankfurter Allgemeine Zei- tung vom 17. 3. 1999, S. 49), wenn er mit Blick auf die Durchstechereien, deren Aufdeckung den Rücktritt der EG-Kommission im März 1999 bewirk- ten, ursächlich das Fehlen der „Figur des Bürger“ in der EU-Realität be- schuldigt: Vom Grundsatz der verantwortlichen Regierungsweise befreit, hielte sich die politische Klasse in Brüssel an diejenigen, denen sie ihre Ämter verdankten: Das trifft zwar zu, aber eben nicht nur in der EU, son- dern auch dort, wo demokratische Spielregeln gelten, die es jedoch nicht vermögen, in die Karrieremuster der politischen Macht hinein zu wirken. 349

ärgert sich seit langem, dass ein Skandal den anderen ablöst. Zwar kennt keine Verfassung das Recht auf Wahrheit oder echte Transpa- renz als Pflicht der Führungskräfte. Das Dilemma der heutigen Politik besteht indes aus ihren kleinen Unwahrheiten; deren Münchhausen-

Dimension als moderne Ableger früherer Utopien fehlt eher. Das Zeit- alter der großen Erzählungen scheint auch hier vergangen, will man absehen vom Pseudocharme des Populismus. Was bedeuten die Zwi- schen- als Störfälle indessen für den sozialen Zusammenhalt? Zwar waren Skandale in der Moderne ‚selbstverständliche’ Begleiterschei- nung der öffentlichen Angelegenheiten, schon André Tardieu1050 spricht bei der Ursachensuche von einer veritablen „Korruptionstradi- tion“. Deren „eigenartige Rolle“ hob keineswegs „im gesellschaftli- chen Leben unserer Tage“ an, wie Leo Menne meinte1051, weswegen es nicht an Untersuchungen über diese Kalamität mangelt(e)1052, oh- ne dass deren Schlussfolgerungen die Alltagsansichten der Bevölke- rung zu beeinflussen pflegen. Skandale als Sanktionsformen von Ent- gleisungen aller Art erzeugen in Form von „Ekelkrisen“ (Sloterdijk) starke Gefühle, entsprechend pauschal sind die Standpunkte, allent- halben ist vom Sittenverfall zu hören. Man denke einzig an das Steu- ergebahren großer Firmen wie etwa der Mercedes/Daimler-Chrysler

AG, die seit Mitte der 1990er Jahre trotz des üblichen Sozialdumpung immer weniger Steuern abführen. Vor allem politische Skandale ver- größern indes die Verdrossenheit. Die ‚Partei der Nichtwähler’ - ‚Wir bleiben zu Hause!‘ - wächst dann wenigstens vorübergehend, wobei die Apathie am Stimmenmarkt tendentiell zunimmt.1053 Schon nach

1050 La profession parlementaire, Paris: Flammarion 1937, S. 281 ff. 1051 Korruption, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1 (1948/1949), S. 144 ff., hier S.188. 1052 Vgl. Alfred Sturminger: Die Korruption in der Weltgeschichte, Mün- chen/Wien: Langen Müller 1982. 1053 Sie war 1990 bei den Bundestagswahlen auf über zweiundzwanzig Pro- zent gestiegen, fiel 1998 wieder auf 17, 8 %, 1972 waren es erst neun Pro- zent. Bei den Landtagswahlen sehen die Zahlen traditionell schlechter aus, 350

‚Waterkantgate‘ waren fast neunzig Prozent der Bevölkerung der Mei- nung1054, man könne Skandale wie den in Kiel kaum aufklären, noch zwei Jahre später mochten nur fünf Prozent der Bundesbürger1055 ih- ren Volksvertretern einigen Respekt zollen. Misstrauischer konnte die

Haltung kaum werden, so glaubte man wenigstens bis zur Kohl-Affäre

(1999)1056, selbst wenn Deckereignisse (Skandalhäufung) und Ver- gesslichkeit den Partitokraten zu Hilfe kommen. Doch wenn sich Re- signation ausbreitet, weil man Leistungs- und Haltungsschwäche dort verbucht, wo laut funktionalem Politikverständnis eigentlich Lösungs- kompetenz (goal-attainment) angesagt ist, dann drohen erst recht Ge- fahren. Entweder wird wie in Kärnten (‚Ja, ja, der Jörg, der traut sich was!’) nach einer starken Hand gerufen, die den Augiasstall der Prob- leme ausmisten soll/kann, was dem durch die Medien inszenierten

Trend zum ‚Volkstümlichen‘ ohnedies entspricht, der allenthalben spürbar wird. Oder die Regierenden können tun und lassen, was ihnen beliebt, da ihr Handeln nur mehr auf Gleichgültigkeit stößt, weil es für die Alltagssorgen irrelevant oder unerreichbar zu werden scheint.

Wobei trotz aller Erosion beziehungsweise ihrer systemtheoretischen

Unzuständigkeitserklärungen (i.e. Reichweitenreduktion) - die Politik jedenfalls als Störfaktor verheerende Rückwirkungen auf die Gesell- schaft haben kann, wie sich ja auch in der Postmoderne allenthalben beobachten lässt.

Rückblick

aus, man denke an die Europa- (54, 8 %), Kommunal- (in NRW: 45 %) und Landtagswahlen (Hessen: 35, 8 %,Brandenburg: 46 %, Thüringen: 40, 2 %, etc.) 1999. 1054 Der Spiegel Nr. 45 (1987), S. 51. 1055 Vgl. GEWIS-Institut, zit. Westfälische Nachrichten vom 6. 4. 1989. 1056 Laut Forsa (Westfälische Nachrichten vom 8. 12. 1999) bekundeten 86 % der Bundesbürger tiefe Enttäuschung über diese neuen Rechtsbreche- reien. 351

Ein Skandal wird im Unregelfall1057 des Bekanntwerdens zum Eklat, weil Politik neben informellen Anstandserwartungen zugleich verfas- sungsrechtlich fixierten Geboten unterliegt, dem allgemeinen Besten zu dienen. Das war keineswegs immer so, wie eine Skandalchronik verdeutlicht. Ein Bestseller des 18. Jahrhunderts notierte nur das Ei- genschaftswort ‚scandaleux’. Die französische ‚Encyclopédie’ (1751 ff.) beschäftigte sich unter diesem Stichwort vor allem mit religiösem

Fehlverhalten, „das skandalös wirkt“1058. Als anstößig empfunden wurde etwa die Ablehnung des Widerstandsrechtes durch die Jesui- ten, aber auch Korruptionsfälle von Kirchenmännern oder das unge- bührliche Auftreten hochstehender Persönlichkeiten. Von Politik war nicht die Rede. Das lag kaum daran, dass öffentliche Untunlichkeiten fehlten, es gab mangels Mitsprache jedoch keine Kontrollmittel. Über- dies war Nörgelei riskant, weswegen Richard Sheridan (The school for scandal) noch 1777 lieber das bürgerliche Publikum verspottete, wenn sein „Lästerclub“ aus Vergnügen den guten Ruf von Mitbürgern unter- grub. Lästern hat keine Verwandtschaft mit Skandalieren, ist vielmehr ein soziales Übel, weil es mangels zutreffender Informationen oder wegen verbotener Zielscheiben leicht die Falschen trifft. Bestechung,

Erpressung, Unterschlagung, Ämtermissbrauch, Vetternwirtschaft und

ähnliche Normverstöße sind nicht erst seit Cicero bekannte oder durch Gogol und Tschechow literarisierte Begleiterscheinungen aller

Staatsgeschäfte und Machthändel. Jacob van Klaveren, der Altmeister der Korruptionsforschung, hat darauf hingewiesen, dass die Bevölke- rung erst durch die Aufklärung auf ihre weltlichen Ansprüche und

1057 Wie 1975 durch die zufällige Aufdeckung einer CDU- Parteispendenwaschanlage in Lichtenstein durch den Bonner Steuerfahn- der Klaus Förster, was zu 1860 Verfahren führte, ohne dass dieses Para- dies für Schwarzgeld seither von der CDU gemieden wurde. 1058 Encyclopédie, Ausgewählt von Alain Pons, Paris: J’ai lu 1963, S. 510. 352

Rechte hingewiesen wurde. „Die Grossen und Mächtigen“, kommen- tierte Isaak Iselin1059 den sich anbahnenden Klimawechsel hin zur

Beauftragungsidee, „sind eigentlich nur Werkzeuge der Vorsehung zum Dienste der Niedern. Die ewige Weisheit erhöhet sie nur, um an- dern durch sie Gutes zu thun.“ Im Kontrast zu dieser wenigstens ge- danklich konstruierten Bringschuld der Machthaber wirkte empörend, was vordem alltäglich war, nicht zuletzt die Auspressung der Unterta- nen. Erst jetzt konnten mit Jean Paul1060 „edle Staatsbedienstete“

Bewunderung finden, die „alle Goldadern des Staates durch ihre Hän- de laufen lassen, und doch diese nicht damit füllen, sondern tugend- haft verarmen“. Der Mammutroman Jean Pauls machte zu Beginn des

19. Jahrhunderts die Schwierigkeiten solcher Ehrsamkeit im Zeitalter der Raffgier und einer entsprechenden Umpolung gesellschaftlicher

Wertschätzungen samt entsprechender Streuung der Aufmerksamkeit bekannt. Politik war zum Tummelfeld der Interessen geworden und geriet damit zum Raum der offenen Machtkonkurrenz um die/der Eli- ten. Das 19. Jahrhundert erschien seinen Zeitgenossen wegen der gestiegenen „Legitimationsempfindlichkeit“ (Ebbighausen) als Blüte- zeit der Affären und Skandale.1061 Dieser Eindruck wiederum vermit- telt und steigert sich durch die Karriere der Presse in jener Zeit. Sie diente der bürgerlichen Öffentlichkeit als Sprachrohr, formte diese zugleich und spiegelte den Dauerkonflikt über die Zielrichtung und

Triftigkeit der Politik. Seither führen trotz Schillers Vorbehalten öf- fentlich gehandelte Meinungen zu Mehrheiten und setzen diese um in

Einfluss. Dessen Wirken musste sich allerdings gegenüber abwei-

1059 Versuch über die gesellige Ordnung, Basel: Schweighauser 1772, S. 119. 1060 Komischer Anhang zum Titan (1800), Jean Paul Werke, Hrsg. Norbert Miller, Abteilung I, Band 3, München: Hanser 4 1980, S. 854. 1061 Man halte sich fallweise die ununterbrochenen Eintragungen über/zu unappetitlichen Vorkommnissen aller Art im Berliner Hof- und Verwaltungs- leben vor Augen, die der gut informierte Zeitzeuge K. A. Varnhagen von Ense zwischen 1835 und 1858 seinen ‚Tagebüchern’ (1861 ff.) anvertraute. 353

chenden Sichtweisen beziehungsweise sozialdifferenten Konstruktio- nen von Wirklichkeit rechtfertigen. Wer entzieht sich dem nicht gerne, wenn er kann? Skandale im modernen Sinne, vor allem politische

Skandale, sind eine Begleiterscheinung der Massengesellschaft, ihre

Ursachen (Korruption/Klandestinität/Vetternwirtschaft/Amtsanmaßung etc.) scheinen indes mit anthropologischen Rahmen-Bedingungen von

Vergesellung deckungsgleich zu sein.

Georg Simmel1062 hat darauf hingewiesen, dass die Verständigung,

„ohne die es überhaupt keine menschliche Gesellschaft gäbe, auf ei- ner kleinen Zahl allgemein zugegebener - wenn auch natürlich nicht abstrakt bewußter - Normen ruht“. Diese bilden „das Minimum dessen, was von allen, die überhaupt miteinander verkehren wollen, anerkannt werden muß“. Auf dieser Grundlage basiert „das flüchtigste Überein- kommen der einander fremdesten Individuen“, ohne welches die Ver- gesellung schwerlich auskommt. Eine Verletzung dieses Mindestüber- einkommens durch Eliten macht, jedenfalls im Fall der Aufdeckung, den Skandal aus1063, der um so haarsträubender wirkt, je stärker ge- gen Vorbilderwartungen verstoßen wird. Solcher Güterverschleiß ver- rät folglich Asozialität im eigentlichen Wortsinn, da „der Gehorsam des Vorstellens gegen diese einfachsten Normen“ (S. 477) einen

Handlungsrahmen sichert. Nur dessen Verinnerlichung als Beachtung maßgebender Grundanforderungen ermöglicht überhaupt gedeihliches

Zusammenleben. Die Politik hat Voraussetzungen, die der Wettkampf am Markt nicht kennt. Ein Skandal liegt mithin vor, ob offenkundig oder (noch) nicht, falls Personen oder Gruppen elitärer Positionierung die Spielregeln schneiden. Etwa wenn Politiker ihre Positionierung,

1062 Exkurs über die Negativität kollektiver Verhaltungsweisen, in: Sozio- logie (Anm. 207), S. 476 f. 1063 Woran etwa Westdeutschland keinen Mangel litt, vgl. Georg M. Haffner und Edmund Jacoby (Hrsg.): Die Skandale der Republik, Hamburg: Hoff- mann & Campe 1990. 354

Ämter oder Startvorteile für Sondervergütungen oder gemeinwohl- abträgliche Zwecke nutzen, bei womöglich suboptimaler Funktions- wahrnehmung, statt im Sinne von Bagehot1064 ihre geliehene Rolle als

Befugte und Leitfiguren hoch zu halten. Oder wenn unlautere Konkur- renzmethoden angewandt werden, um Macht zu erwerben/erhalten.

Nicht alle Skandale verletzen gleichermaßen die öffentliche Verant- wortungsethik, wie der Blick in die Skandalgeschichte erweist1065.

Und es gibt ein weniger prinzipielles Fehlverhalten von Amtsträgern, das dennoch als anstößig empfunden wird, zudem variiert der Ge- genstand der Empörung von Epoche zu Epoche und von Land zu Land.

Zu denken ist an den Profumo-Eklat1066, den Wirbel um die baden- württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger (1978) und Späth

(1991), die Dienstwagenaffäre der Bundestagspräsidentin Süßmuth, den Krause-Fall, Insidergeschäfte des Oberbürgermeister-Kandidaten in Köln 1999, dito die Kiep-Kohl-Affäre oder die parteiliche Art und

Weise, „die Instrumente des Landes fantasievoll zu nutzen“ (NRW-

Ministerpräsident Clement)1067. Faulstoff ist überreich vorhanden, und die Politik hat Skandale nicht gepachtet. Jedes soziale Subsys- tem klärt (bestätigt oder renoviert) von Zeit zu Zeit durch Anstoßneh- men seine Normen, man erinnere sich an wissenschaftliche (Enthül- lungen um Margaret Mead 1988), medizinische (Contergan-

Katastrophe 1957), literarische (der Fall Georg Forestier 1955), ge- werkschaftliche (Neue Heimat 1982 ff.), ökologische (verstrahlte Mol-

1064 The English Constitution (Anm. 981), S. 19 f. 1065 Vgl. Rüdiger Liedtke (Hrsg.): Die neue Skandalchronik. 40 Jahre Affä- ren und Skandale in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main: Eichborn 1989. 1066 Clive Irving u.a.: Scandal ‘63. A Study of the Profumo Affair, London: Heinemann 1963. 1067 Wobei das Skandalon der Flugaffäre neben Verletzungen des Haus- haltsgrundgesetzes (§§ 1, 8, 18, 53) bzw. des Sparkassengesetzes (§ 6) in der politischen Uneinsichtigkeit höchster Stellen gegenüber derartigen Mauscheleien liegt, die bei Otto Normalbeamter ohne Zweifel disziplinare oder staatsanwaltschaftliche Ermittlungen ausgelöst hätten. 355

ke 1986), wirtschaftliche (Herstatt-Krach 1974), journalistische (Sturz von Werner Höfer 1987) ff. Sittenverstöße. Pannen wie diese berüh- ren die Öffentlichkeit sehr unterschiedlich. Die Ausleuchtung der

„Selbstbedienung in Politik und Wirtschaft“1068 jedenfalls beeinträch- tigt und/oder reinigt zumindest kurzfristig das öffentliche Klima. Das erwies schon die Flick-Affäre1069, um ein besonders tiefgreifendes

Fallbeispiel zu nehmen, und die regionalen Dimensionen des „Berliner

Sumpfs“ ebenso außer acht zu lassen wie den „Hamburger Filz“, die bayrische Amigo-Stimmung oder den „Kölner Klüngel“. Korruption1070 als

• „politisches Verhalten, das um finanzieller oder positioneller Vortei- le willen von den formalen Pflichten einer öffentlichen Rolle ab- weicht“1071

• „Einsatz illegaler Marktmechanismen bei der Entscheidungsfindung, die Güterzuweisungen betreffen“1072

• „Austausch von Geld oder anderen Gütern gegen bevorzugte Be- handlung durch Amtsträger“1073

• „verdeckter Einsatz politischer Autorität“1074 ist überall, wie eine Medien-Sichtung im Zeitraffer zeigt. Das Quid- pro-quo von Geld etc. und Begünstigung wirkt epidemisch, seit die

1068 Vgl. Friedrich Bräuninger/Manfred Hasenbeck: Die Abzocker, Düssel- dorf: Econ 1994. 1069 Vgl. Rainer Burchardt/Hans-Jürgen Schlamp (Hrsg.): Flick-Zeugen. Protokolle aus dem Untersuchungsausschuß, Reinbek: Rowohlt 1985, S. 9 ff. 1070 Über Deliktabgrenzungs-Schwierigkeiten vgl, Pierre Lascoumes: Cor- ruptions, Paris: Presse de Sciences Po 1999, S. S. 27 ff. 1071 Joseph S. Nye: Corruption and political development: A cost-benefit analysis, Americal Political Science Review, Band 61 (1967), S. 419. 1072 Susan Rose-Ackerman: The Economics of Corruption. An Essay in Po- liitcal Economy, New York: Academic Press 1978, S. 1 f. 1073 John Gardiner/T. Lyman: Decisions for Sale, New York: Praeger 1978, S. 5. 1074 Bruce L. Benson/John Baden: The Political Economy of Governmental Corruption. The Logic of Underground Government, Journal of Legal Stu- dies, Band 14 (1985), S. 394 f. 356

Kosten gleichermaßen für Machterhalt und Bevorzugung ins Astrono- mische wachsen. Man denke an ‚Tangentopoli’ eines Bettino Craxi, an den Beschluss des Supreme Court gegen Begrenzungen für Partei- spenden, die USA „hat den besten Senat, den Geld kaufen kann“ (Se- nator McCain), das Spendenaufkommen großer Interessengruppen für die Demokraten und Republikaner ist bei den Präsidentschaftswahlen

2000 auf $ 750 Millionen angewachsen, 1992 waren es erst $ 86 Milli- onen. Oder an die Blair-Regierung1075, die große Dotationen für ihren

Wahlkampf mit Adelstiteln oder Posten in staatlichen Ämtern quittier- te. Hierzulande war besagter Flickskandal (1983 ff.) mitsamt parteipo- litischen Versuchen, die Schmiergeldaffäre durch Amnestiegesetze als versuchte Rechtsbeugung zu entlasten/verdunkeln, das Politspek- takel der vergangenen Jahrzehnte schlechthin, seine Bedeutung lässt sich nur mit dem Wirbel um das Wochenblatt Der Spiegel vom Oktober

1962 vergleichen beziehungsweise mit dem CDU-Schwarzkassen-

Morast nach dem Ende der Kohl-Ära. Um jener ‚Kuvertokratie’ ein En- de zu machen, die jahrelang wirtschaftlichen Einfluss in politische

Bevorzugung ummünzte, galt seit dem Januar 1984 eine Neuregelung des ‚Parteienfinanzierungsgesetzes’ (1959). Diese Skandalfrucht - die politische Einflussnahmen von Großspendern zwar steuerrechtlich weiterhin begünstigte1076, die Parteien allerdings nötigte, nicht nur

über die Herkunft, sondern auch über die Verwendung ihrer Mittel so- wie über Vermögen öffentlich Rechenschaft zu geben - konnte indes nur wirken, falls sich die Parteien an die verlangte Offenlegung der

Verwendung ihrer Mittel und der Herkunft von Spenden hielten1077,

1075 Geoffrey Wheatcroft: Why our political parties should be more like Ox- fam, Times vom 24. 1. 2000, S. 15. 1076 Ebenso wie Bestechungsgelder absetzbar blieben, weswegen Deutsch- land beim Korruptions-Ranking unter 41 Staaten auf Platz 13 rangierte, Newsweek vom 11. 9. 1995, S, 3. 1077 Darauf hat Christine Landfried (Parteienfinanzen und politische Macht, Baden-Baden: Nomos 1990) hingewiesen. Ohne allzu große Hoffnung auf Besserung beschäftigt sie sich mit dem wachsenden Verbrauch öffentlicher 357

was trotz einer weiteren Verschärfung der Gesetzeslage (1994) nicht ganz glückte. Die parlamentarische Demokratie basiere auf dem Ver- trauen der Bevölkerung, konstatierte das Bundesverfassungsgericht anlässlich eines Urteils über die Diäten der Abgeordneten [BVerGE

40, 296 (327)], aber „Vertrauen ohne Transparenz, die erlaubt zu ver- folgen, was politisch geschieht, ist nicht möglich“. Eine zutreffende

Formulierung, die freilich im Paragraphenhimmel befangen bleibt und mit Blick auf die buchstabengetreuen Funktionsunterstellungen des politischen Systems (Mitsprache durch Delegation etc.) totemistische

Züge trägt. Nicht Vertrauen kostenfrei, sondern die organisierte Op- position beziehungsweise die Observierung durch unabhängige Me- dien wären angesichts der tatsächlichen Absprachepraxis, die sich etwa als „unsichtbare Macht“ (Bachrach) allen Formalitäten entzieht, wenn überhaupt etwas, das Lebenselexier auch der resignierten Spät- demokratie als Herrschaft der Parteivorstände. Stattdessen klappt diese als alternativlose Sortierleistung ihres Personals und ihrer

Themen durch Tempokratie und/als Vergessen, sprich durch immer neue Hoffnung auf eben dieses Funktionieren. Überdies verhindern die politischen Verhältnisse und ihre Systemumwelten durch schiere

Komplexität wirkliche Durchsichtigkeit, auch wenn der Wille zum glä- sernen Parlamentarismus vorhanden wäre. Nicht nur der Normalbür- ger, das Politikeraufgebot selbst ist kaum in der Lage, den Wasserfall

Gelder durch die Parteien, verwiesen sei auf deren „dreisten Zugriff“ (Die Zeit) seit 1988. Der markttheoretische Ertragsnutzen der Korruption sieht sich nachgewiesen, die noch immer größeren Gewinn abzuwerfen ver- spricht als alle anderen Anlagearten. Nur wenn jene Transparenz tatsäch- lich hergestellt wäre, die rechtlich vorgeschrieben ist, verkommt die lobby- istische Pflege der parlamentarischen Landschaft nicht zur Balkanisierung der Politik. Die Lehren, die schon aus dem Flick-Kommissionsbericht gezo- gen wurden, dürften nicht formalrechtlicher Art bleiben. Die Untersu- chungsergebnisse verlangten eigentlich nach Konsequenzen im Alltagsver- halten von Politik und Verwaltung, geradezu nach einer Revolution der po- litischen Denkungsart à la Kant, zur Parteispendentradition vgl. Peter Ku- litz: Unternehmerspenden an politische Parteien, Berlin: Duncker & Humblot 1983. 358

der öffentlichen Ereignisse und ihrer allfälligen Entscheidungen zu durchdringen, geschweige denn zu dirigieren.1078 Überdies kann von einer eigenständigen Handlungsdimension der Politik und ihrer Akteu- re immer weniger die Rede sein. Sachzwänge rauben als verdichtete beziehungsweise konträre Handlungsimpulse, Nebenfolgendilemmata, unerwartete Effekte oder Blockaden der unerlässlichen Kommunikati- on mit anderen Akteursfeldern den Entschlüssen zunehmend ihren

Spielraum, ohne das Entscheiden indes ersetzen zu können. Genau das mag erklären, wieso die traditionelle Nahbereichsmoral frei nach

‚So etwas tut man nicht!‘ im Flickskandal der 1980er oder in „Kohlga- te“ (Times) der 1990er Jahre versagt hat. Es ging bei den Zuwendun- gen weniger um die Einhaltung oder Verletzung vertrauter Bezie- hungsformen als vielmehr um die Steuerung von Opportunitätsgütern.

Die Wirtschaft zielt(e) mit ihrer Gebefreudigkeit auf die Lenkbarkeit der Parteien unter Umgehung aller Durchsetzungsregeln; die Empfän- ger verwendeten die Gelder zur Sicherung ihrer Positionierung als

Machtbesitzer. Derartige Skandale verraten nicht allein den „Chry- sotropismus“ der Marktmoderne, wie Upton Sinclair (Das Geld schreibt, Berlin: Malik 1930) mit Blick auf amerikanische Zustände die

Geldfixierung der politischen Würdenträger nannte. Sie berühren vielmehr, wie alle Korruption, den Funktionsnerv demokratischer Poli- tik und reichen daher über die comédie humaine von Weltverwaltung hinaus. Die Orientierung am Erlaubten, gar am Sittengesetz fällt mangels Kohärenz der öffentlichen Vorstellungswelt schwerer. Wer

Macht hat oder verwaltet, kommentierte schon Machiavelli1079, kann nicht nur moralisch handeln. Er sollte sich jedoch so lange wie mög- lich am Guten orientieren, weil es friktionsfreier und damit kosten- günstiger ist. Im Zeitalter des ‚Alles ist möglich’ gerät die Staats-

1078 Vgl. Martin Jänicke: Staatsversagen. Die Ohnmacht der Politik in der Industriegesellschaft, München/Zürich: Piper 1986, S. 50 ff. 1079 Der Fürst (1532), Wiesbaden: VMA 1980, Kap. 15 (S. 64 f.). 359

zwecklehre allerdings zur Auslegungsfrage im medienverstärkten Mei- nungs- und Parteienstreit. Diesen moralischen Dämmerzustand der

Gegenwartspolitik hat Konrad Adenauer mit der Pointe gemeint, wo- nach es auf der parlamentarischen Bühne weniger darauf ankomme,

Recht zu haben als Recht zu behalten.

Skandale begraben die Illusion, die Gestaltung gemeinschaftlicher

Anliegen sei interessenfrei und damit ohne Mobbing möglich, seit Po- litik im Kontext demokratischer Regeln, begrenzter Definitionsmacht

(Grundrechte etc.) - wenngleich gewachsener Zuständigkeiten - und postideologischer Marktgläubigkeit wie entfeindet wirkte. Sie zeugen vom zweifelhaften Rohstoff, aus dem parlamentarische Entscheidun- gen ebenso geformt zu sein pflegen wie die Ermessensspielräume eli- tärerd Ordnungskomponenten. Und sie decken Verlockungen und Ar- kana im Machtgetriebe ebenso auf wie die wachsende Amorphität ver- netzter Selbstläufigkeiten. Politik wirkt - wie der zeitgenössische Fi- nanzkapitalismus - zunehmend spekulativ, weil sie sich ohne einiger- maßen verlässliche Problem-Intervention-Wirkung-Sicherheit mehr und mehr an bloßen Handlungschancen orientieren muss1080, deren

Realisierung höchstens „als ‚zufällig’ und in diesem Sinne ‚unbere- chenbar’ gewertet werden“ kann. Die Wirtschaft ist nicht alles, ohne ihren Erfolg jedoch wird alles von Verknappung überschattet. Derarti- ge Signale lassen das politische Personal „wie Marionetten am Drahte tanzen“ (Sombart).1081 Der durch Konkurrenz verstärkte Druck zur

„Appropriation der sozialen und ökonomischen Chancen“ (Max Weber)

1080 Weber: Die Wirtschaft (Anm. 196), S. 92. 1081 Diese Sicht markiert keine Verschwörungstheorie, nennt vielmehr Ab- hängigkeiten im Zeitalter der Marktgesellschaft, wobei sich jene unterstell- te Vertragstheorie der Macht, die Foucault kritisierte, als illusionäre Vor- stellung der Machtrealitäten aufdrängt. Tatsächlich beschränkt die Norma- tivität des Faktischen die Handlungschancen der Politik. Wo aber nichts mehr öffentlich zu regeln wäre, könnte es kein skandalöses Verhalten ge- ben. Es sei denn, man wollte in der Tatsache der wechselseitigen Beein- flussung von Rendite- und Politik-Entscheidungen selbst den eigentlichen Skandal einer modernen Wirtschaftswelt ohne Wenn und Aber sehen. 360

schränkt überdies die Beteiligung am politischen Wettbewerb nach- drücklich ein. Wenige Prozent der Bevölkerung sind politisch aktiv, der Kreis wirklicher Dekretäre ist winzig, von „Bonzokratie“ spricht selbst die ‚Arbeitsgemeinschaft Selbstständiger Unternehmer’ (ASU) und fordert im Sinne des Artikels 20, 2 GG mehr „Abstimmungen“ wi- der repräsentativdemokratische Verholzungen.1082 Moralfreies Han- deln kann sich ausbreiten, wo die Kräftebalance mangels Beteiligung versagt und Machenschaften unkontrolliert ablaufen. Der Kampf um die Fleischtöpfe der Macht verleitet gruppenhaft/individuell zum Griff nach unlauteren Mitteln. Darüber mag man sich aufregen. Seit in der

Mitte des vorigen Jahrhunderts Lorenz von Stein1083 unter Berufung auf Hegel – eigentlich auf David Hume - das Interesse als „Prinzip der

Gesellschaft“ beschrieb, fördert diese Sozialcodierung/Motivation zwar durch Betriebsamkeit die gesellschaftliche Wohlfahrt, steht je- doch in einem Spannungsverhältnis unter anderem zur Moral als vor- teilsfreiem Wohlverhalten. Gerät die Geldbörse zum edelsten Körper- teil, reicht es kaum aus, mit Wilhelm Hennis einen Amtsgedanken in der Politik hochhalten zu wollen, um sich vor Machtarroganz, Positi- onsmissbrauch oder Korruption zu schützen. Der Appell an das

Pflichtgefühl kann allenfalls trügerische Hoffnungen auf generelle

Einsicht in die Notwendigkeit der Absprachentreue schüren. In der

Fabrikwelt und ihren Verpuppungen wirkt(e) jene Moralapodiktik ohne

Fusshalt, die Paul Henri Thiry d’ Holbach1084, gestorben 1789, umstandslos einer sich auf Bürgerengagement als Markenzeichen po- litischer Modernität verlassenden Regierung unterstellte. Veraltet nicht etwa, weil die Neuzeit ihrer als Utopie nicht bedarf. Die Geltung

1082 ASU-Kommentar aus Berlin, Nr. 3 und 6 vom 20. Januar und 17. Feb- ruar 2000. 1083 Geschichte der sozialen Bewegung (Anm. 280), Band 1 (1849), S. 43. 1084 Vgl. L’éthocratie, ou le gouvernement fondé sur la morale (Amsterdam 1776), Hildesheim/New York: Olms 1973. 361

verbindlicher Direktiven samt Regelgerechtigkeit muss eine Vision bleiben, die Daueranstrengungen verlangt. „Gewiß ist die Politik kein ethisches Geschäft. Aber es gibt immerhin ein gewisses Mindestmaß von Schamgefühl und Anstandspflicht“, betonte Weber1085, „welche auch in der Politik nicht ungestraft verletzt werden“. Diese Sichtweise kennzeichnet das Sittliche nicht allein als Obliegenheit, sondern funk- tionsrational als wahres Interesse der Gesellschaft: Also im Sinne ei- nes Interaktionssystems, in der die Individuen ausreichend Orientie- rung, Versorgung, Ritualität und Bedeutung verlangen. Im Zeitrahmen einer Politikerkarriere kann solche Ordnung der Vorstellungswelt ei- gennützig mit einer Nach-mir-das-Chaos-Haltung außer Kraft gesetzt werden, nicht nur in herunter gewirtschafteten Entwicklungsländern mit ihren Fluchtgeld-Potentaten. Bereits Hobbes (Leviathan, Anm. 84,

S. 207) notierte, jene Vertreter der Elite seien an fünf Fingern abzu- zählen, die das öffentliche Wohl vor den Eigennutz setzten, „ein äu-

ßerst selten anzutreffender Edelmut“.

1085 Wahlrecht und Demokratie in Deutschand (1917), MWG, Abteilung I, Band 15 (Tübingen: Mohr 1984), S. 350. 362

9 Politik und/oder Moral? „Das Eigenthümliche einer schlechten Regierung ist so zu wirken, daß jeder nur an sich selbst denkt und sich um die Leiden anderer gar nicht kümmert“1086

Der Witz der demokratischen Idee sei es, dass sie funktionieren kann mit durchschnittlichen Menschen. „Dazu haben wir kontrollierende Or- gane, dafür haben wir die Öffentlichkeit. Insofern sollten wir nicht voraussetzen, wirklich eine moralische Elite zu brauchen. Was wir benötigen“, fährt der Romancier, VS-Vorsitzende und SPD-

Chefberater Johano Strasser1087 fort, „ist eine gewisse Leidenschaft der Bevölkerung für die öffentlichen Angelegenheiten, die ausreicht, um Kontrollen wirksam durchzuführen.“ Allerdings bestehe Anlass zur

Beunruhigung. „Es gibt eine große Lethargie gegenüber dem Alltags- geschäft der Demokratie. Und in erheblichem Umfang funktioniert die

Öffentlichkeit nicht mehr in dem Maße kritisch, wie es notwendig wä- re. Wohl auch deswegen, weil sie sich in Abhängigkeiten von Partei- en, wirtschaftlichen Machtgruppen oder anderen Einflüssen begeben hat“.

Seit in der öffentlichen Wahrnehmung ein Skandal den anderen jagt, halten sich Entsetzen und Enttäuschung die Waage über ‚die da o- ben‘, die sich als so alltäglich entdecken. Zugleich zeigt die Bevölke- rung erhöhte moralische Empfindsamkeit, seitdem Anstand und Ver- lässlichkeit schwinden, weswegen wiederum die aufgebrachten Regie- renden von den Regierten keine gute Meinung haben.1088 Mehrheitlich

1086 Paul Thiry d’Holbach: Sociales System oder Natürliche Principien der Moral und der Politik mit einer Untersuchung über den Einfluß der Regie- rung auf die Sitten, Leipzig: Thomas 1898, S. 23. 1087 Interview am 6. Juli 1988 in München, Archiv des Verfassers. 1088 Politikerklagen über ‚Ohnemichelei’ passen nicht zu den vielen Bür- gerinitiativen, in denen um politische Zeitfragen gerungen wird. Diese zivi- le Aufmüpfigkeit kommt den ‚Altparteien’ indes keineswegs zugute, eher ist gegenseitige Aversion zu spüren. Es handelt sich bei diesem Bürgermut weniger um Politisierung als um eine Ventilfunktion beachtlicher Bevölke- rungsgruppen, die ihre Nahbereichsbelange in Umweltfragen etc. nicht ver- treten finden. 363

würden die Bundesbürger ihren Volksvertretern kein gebrauchtes Auto abkaufen. Die meisten politischen Skandale blieben unentdeckt, da- von ist man überzeugt. Solche Skepsis zieht bisher weder den Glau- ben an die Demokratie als zeitgenössische „Oberideologie“ (Tingsten) noch die parlamentarische Verfassungsform in Mitleidenschaft, wie- wohl sich pseudo-charismatische Grundströmungen ankündigen.1089

Gewachsen ist allerdings die Distanz zu den Volksparteien und ihren

Repräsentanten und damit die republikanische Enthaltsamkeit. Auch die Tätigkeit des Bundestages - nicht zu reden von den Länderparla- menten - genießt kein besonderes Ansehen und findet normalerweise kaum Interesse. Großzügige Diätenregelungen und ständige Nachbes- serungen bei der Parteienfinanzierung bestätigen alte Vorbehalte.

Anspielungen auf die „Quasselbuden“ in Berlin und den Ländern sind frei nach „Im Parla-Parla-Parlament/Das Reden nimmt oft gar kein

End!“ (Herwegh) üblich, begleitet von einem Achselzucken über

Volksvertreter, die immer fehlen, wenn das Fernsehen in die Plenar- säle hinein leuchtet. Das alles kostet zuviel, ist lebensfern und schafft Probleme, anstatt sie zu lösen. Dass Politik ein ‚schmutziges

Geschäft’ sei, geeignet für Absahner, dessen ist man sich am Stamm- tisch nach wie vor/wieder sicher.1090 Von einem „verhängnisvollen

Vertrauensverlust“ (Hamm-Brücher) ist daher gesprochen worden. Ha- ben die sich häufende Rechtsverstöße der politischen Spitzen womög- lich Rififi-Effekte anderswo in der Gesellschaft? Der Moralvorrat der

1089 Vgl. Hans-Georg Soeffner: Populisten: Profiteure, Handelsagenten und Schausteller ihrer Gesellschaften, in. Helmut Berking u.a. (Hrsg.): Politi- kertypen in Europa, Frankfurt am Main 1994, S. 259 ff. 1090 In seiner politischen Anthropologie der Demokratie hält Schumpeter (Kapitalismus, ²1950, Anm. 318, S. 407 ff.) die Bürger grundsätzlich für derart uninformiert, emotional und/oder apathisch, dass ihre staatsbürger- lichen Urteile geradezu „infantil“ (416) wirkten; eine empirisch fragwürdige Beschwerde, die vor allem übersieht, dass sie, wenn sie zuträfe, die vor- demokratische Situation der amtierenden ‚Parteienoligarchie’ aburteilt, de- ren Machtaussperrung den Informationsfluss hemmt und damit alle Motiva- tion, sich im Interesse der ‚eigenen Angelegenheiten’ besser zu unterrich- ten und zu engagieren. 364

Industriemoderne kann nicht länger aus Unverbrüchlichem schöpfen wie Glaubensvorschriften oder Traditionen. Er entstammt formalen

Absprachen zwischen den miteinander um die Gestaltung der öffentli- chen Angelegenheiten ringenden Sozialkräften, ist mithin auf Abruf und entsprechend wenig belastbar. Nicht-kontraktuelle Elemente blei- ben unabdingbar1091, ein auf den Vertrag reduzierter Vertrag unter- gräbt sich selbst. Sichert keine Schicksalsmacht die gesellschaftli- chen Normen, da man sich „in freieren Verhältnissen ... nur auf Be- dingungen unterordnet, infolge gegenseitigen Vertrages, also mit al- len Vorbehalten des Eigennutzes“1092, verlangen diese Absprachen jedermanns Dauerrespektierung. Andernfalls schwindet Verbindlich- keit als Zement des sozialen Rechtsstaates, wie Hermann Heller

(Rechtsstaat oder Diktatur, Tübingen: Mohr 1930) ihn beschrieben hat, so dass auch die „Selbstbeschränkung des Staates durch das

Recht“ (Jellinek) untergraben wird. Und es entfällt damit die Möglich- keit, farbechte Verhaltensnormen des Soziallebens zu (er)finden und festzulegen, die im Interesse des Gemeinwohlanspruchs, den etwa das Grundgesetz im Eid formuliert und überall voraussetzt, zugleich dessen Zuständigkeit eingrenzen.

„Eine Definition des Gemeinwohls in einem substantiellen Sinn gibt es nicht mehr. Vielmehr haben wir von dem Anspruch der Politik auszu- gehen“, kommentiert der Philosoph Volker Gerhardt diese Ausgangs- lage1093 ganz postmodern, „das Leben in einem bestimmten Bereich so zu sichern, dass die Bevölkerung nach ihrer eigenen Vorstellung existieren kann. Das schließt in der Hauptsache ein, dass die Freiheit

1091 Etwa die Regeltreue selbst, vgl. Rüdiger Bubner: Voraussetzungen des Rechtsstaates, in: Drei Studien zur politischen Philosophie, Heidelberg: Winter 1999, S. 29 ff. 1092 Friedrich Nietzsche: Ein Blick auf den Staat, 8. Hauptstück des 1. Bandes (1878), Menschliches, Allzumenschliches, Werke, hrsg. Karl Schlechta, München: Hanser 3 1962, Band I, S. 667. 1093 Gespräch am 28. 6. 1988 im WDR-Studio Münster, Tonarchiv des Ver- fassers. 365

des einzelnen garantiert wird und eine gewisse Verlässlichkeit aller

öffentlichen Vollzüge gegeben ist. Es muss dem einzelnen Bürger möglich werden, mit seinem Leben einverstanden zu sein und der

Gemeinschaft zustimmen zu können, in der er lebt. Mithin tatsächlich auch das der Sache nach tun zu dürfen, was er seinem eigenen freien

Willen nach tun möchte.“

Moralbedarf

Die mannigfachen Affären der letzten Jahrzehnte verweisen auf die

Abnutzung der politischen Kultur und ihrer ElitenD . Kann die perma- nente Erörterung dieser Malaise das Stilempfinden in Politik und

Wirtschaft wieder schärfen? Oder prallen Unmut und Kritik an profes- sioneller Selbstgefälligkeit als politischem Deismus ab? Auch Politi- ker sind laut Ingo von Münch1094 ‚nur Menschen’ und werden wie an- dere Mitreisende der Moderne „vom Eigennutze getrieben“1095, nur wenige von ihnen sind auch auserwählt. Als Inhaber demokratischer

Ämter haben sie indes besondere Verpflichtungen zur Einhaltung öf- fentlicher Anstandsregeln. „Was sich ein Normalbürger leisten kann, sollte sich ein Politiker noch lange nicht erlauben. Es gibt wenige

Menschen in Deutschland, die in der Lage sind, ihr Gehalt selbst festzusetzen. Abgeordnete können dies, weil die Besoldung der Poli- tiker durch ein Parlamentsgesetz festgesetzt wird. Das halte ich für keine gute Sache, Diätenskandale sind die Folge. In solche Versu- chung sollte man Politiker nicht erst bringen. Hier zeigt der Bürger - und das hat nichts mit Hypermoral zu tun - ein sehr feines Gespür, dass es nicht fair ist, wenn die Gewählten die Macht haben, diese für

1094 Interview mit dem 2. Bürgermeister von Hamburg Ingo von Münch (FDP) am 16. August 1988 im NDR Hamburg, Tonarchiv des Verfassers. 1095 Bahrdt: Moral für den Bürgerstand (Anm. 183), S. 106. 366

sich selber materiell ausnutzen zu können.“ Verzeichnen lässt sich seit längerem nicht nur Unmut über bekannt gewordene Durchsteche- reien. Zugleich wächst der Wunsch nach moralischer Resistenz.1096

Der Ruf nach Vertrauenswürdigkeit reibt sich allerdings an lauter ge- genläufigen Tendenzen, wonach „der Geist der Gier ... wahres Kenn- zeichen der Gegenwart ist“1097. Alle Zusammenhänge und Kontexte werden nicht nur projektiver, sie geraten zudem unübersichtlicher und entsprechend anonymer. Die Änderungsgeschwindigkeit versetzt die

Sozionautik in eine Talfahrt ohne Seitenspur. Ist die Skandalträchtig- keit der Verhältnisse tatsächlich auf ein Verblassen der Zugehörig- keits-Bezüglichkeit des Denkens und Fühlens zurück zu führen? Ü- berwältigt die Selbstsucht inzwischen „jene, wenn auch begrenzte

Hochherzigkeit der Menschen“, die David Hume zur Ausbalancierung von Leidenschaften und Vernunft in stabilen Verhältnissen voraus- setzt? Oder ist von einer „Anspruchsvöllerei“ (Altmann) der Politik- konsumenten zu sprechen? Es wird nicht nur immer mehr Lebenssi- cherheit verlangt, obschon/weil die Zeitläufte riskanter werden; zugleich denkt der ‚Wohlfahrtsbürger’ selten an Gegenleistungen. Es geht dabei nicht nur um Hoffnungen auf eine „positive Leitung“ (Ru- dolf Steiner). Vielmehr erwartet man, „nicht tagtäglich mit der Welt der Politik zu tun zu haben“, so Gerhardt (a.a.O.), „sondern will sich primär mit jenen Dingen beschäftigen, die man mit Hilfe seiner eige- nen Sinne beurteilen kann. Entsprechend möchte man nicht ständig aufgestört werden durch Skandalmeldungen von oben, hat deswegen ein Bedürfnis nach Ruhe.“ Gefragt ist folglich eine Moralität der Eli-

1096 Vgl. Gerhard Schmidtchen: Wie weit ist der Weg nach Deutschland?, Opladen: Leske + Budrich ²1997, S. 24 ff.; Philip Webster: Downing Street steps up ‚moral crusade’, Times vom 7. 9. 1999, S. 1 f. 1097 Pierre Joseph Proudhon: La guerre et la paix. Recherches sur le prin- cipe et la constitution du droit des gens (1861), Paris: Rivière ²1927, S. 465. 367

ten und ihrer Politik, wie sie Kant1098 der Neuzeit in den Mund legte.

Vom Schreibtisch aus und daher etwas apodiktisch wird hervorgeho- ben, dass „die wahre Politik keinen Schritt tun kann, ohne vorher der

Moral gehuldigt zu haben“. Zwar sei Politik „für sich selbst eine schwere Kunst“, doch die „Vereinigung derselben mit der Moral ist gar keine Kunst; denn diese haut den Knoten entzwei, den jene nicht auf- zulösen vermag, sobald beide einander widerstreiten“. Denn das ei- gentliche Ziel beider Tätigkeiten sei das Recht der Menschen, das

„heilig gehalten werden muss, der herrschenden Gewalt mag es noch so große Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren, und das

Mittelding eines pragmatisch-bedingten Rechts (zwischen Recht und

Nutzen) aussinnen“, folgert der Philosoph kühn. Die Politik muss vielmehr „ihre Knie vor dem ersteren beugen, kann aber dafür hoffen, ob zwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wird.“

Defizite

Fragt sich nur, vor welchen, genauer vielleicht vor wessen Wertvor- stellungen soll die Politik ihr Knie beugen? In einer plural- differenzierten Gesellschaft ohne Autopilot gibt es ohne weiteres kei- ne vorverbindliche oder durchgängig gültige Moralität, es sei denn in

Form von Gesetzen. Recht selbst ist in der Demokratie das Ergebnis politischen Handelns, in diesem Fall als Kommunikation über Normen, soweit sie rechtens sind. Sie verkörpern und verstetigen die Fähigkeit der Politik, allgemeine Verbindlichkeit zu produzieren. Und sie bilden den Boden für das (neue) Moralbedürfnis des Epochengeistes, das

Rousseau zuerst als Leidenschaft für die öffentlichen Dinge in Form

1098 Zum ewigen Frieden, Werke 11 (Anm. 713), S. 243 f. 368

einer Beteiligung an der Gesamtwillensbildung bezeichnete. Im politi- schen Raum geht es wochentäglich nicht primär um Moral, mithin um letzte Dinge. Hier spult die Abwägung von Interessen ab, wobei Grün- de pro und contra abgewogen werden. Gesucht sind vor allem Ab- sprachen, welche die Machtreserven der Akteure realistisch in Rech- nung stellen. Die Verständigung auf tragbare Problemlösungen, wenn nicht gar die Vermeidung schlechterer Möglichkeiten, steht über dem parlamentarischen Spielplan. Solcher Schacher wird Ansprüche auf wahre Geltung nicht zufrieden stellen, geht es doch um Meinungen und nicht um Wahrheit; mehr ist ohne Verfeindung des öffentlichen

Raums schwerlich zu haben, die lauter Rationalisierungen freilegen würde, was Kompromisse fast unmöglich machte. Der Begründungs- und Gestaltungsspielraum der Politik sieht sich in der Gegenwart wei- ter eingeschränkt. Der Staat, also jene „Summe menschlicher, wir- kender und leidender Kräfte", ist als Resonanzboden politischer Ent- scheidungen längst1099 nicht mehr das, was er einmal war. Unter den obwaltenden Bedingungen stellt er eher ein in Örtlichkeit und Traditi- onen etc. befangenes1100, wenngleich nach wie vor ausschlaggeben- des Element dar in einer von Transnationalität, Interessenverbänden,

Marktdiktaten und Meinungspolen durchfurchten Sozialwirklichkeit.

Große Gesten kann sich die ‚sichtbare Hand’ kaum leisten, geschwei- ge denn zielsetzend für alle Mitglieder/Mitspieler zu wirken, wenn das noch gewollt sein sollte. Etwa weil ansonsten andere Mächte jenen

„cake of custom“ (Bagehot) mit Namen Nationalstaat ablösen, um die vernachlässigte Nachfrage nach Ordnung zu bedienen. Zu denken wä- re an Konzerne, Mafia, extremistische Bewegungen aller Art,

1099 Wilhelm von Humboldt: Ideen über Staatsverfassung (August 1791), in ders.: Abhandlungen über Geschichte und Politik, mit einer Einleitung von L. B. Förster, Berlin: Heimann 1869, S. 14 ff., S. 16. 1100 Vgl. zu den neuen Staatsgrenzproblemen Michael Zürn: Regieren jen- seits des Nationalstaates, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. 369

Clans.1101 Aber ist eine Art von ‚Daseinsvorsorgekapitalismus‘ tat- sächlich noch vorstellbar? Geldwerte Spekulation1102 rangiert inzwi- schen allemal vor Deliberation, um von Orientierungsofferten anderer

Akteure zu schweigen.

Politik findet ihre Formbestimmung in der Festlegung und Einhaltung von Spielregeln, auch wenn die moderne Gesellschaft „ohne Spitze und ohne Zentrum“1103 sein sollte, was das Risiko von Fremdüberfor- derungen des politischen Systems fraglos erhöht. Diese Vorgaben halten sich an den Sinn der naturrechtlichen etc. Verfassungs-

Normen, jedenfalls modo democratico, welche wiederum auf der Men- schenrechtstradition als Ergebnis einer apogogischen (Illiberalität- sabwehr) beziehungsweise meliorativen (Humanisierung) Pflege des

Verstandes fußen. Verallgemeinerungsfähige Rahmenbedingungen wie diese hatten von den „Mundwerkern“ (Kurt Schumacher) akzeptiert zu werden, wollten sie im Nachfeudalismus als regierende EliteF gelten.

Diese Verfassungstradition kodifiziert insgesamt so etwas wie eine

Ethik der Politik gleichermaßen für das Publikum wie für seine Eliten.

Die vielen Skandale demonstrieren allerdings, wohin die Massende- mokratie gerät, wenn sich die Öffentlichkeit mit Hoffnungen auf Moral begnügt, die Max Horkheimer selbst „als Herrschaftsmittel“ verstan-

1101 Über die allgemeine Situationskatastrophik bei Staatsversagen, kor- rupter Institutionenökologie und/oder debiler Zustimmungsbasis informiert ein Blick nach Russland, dessen BSP seit 1989 um über 50 % gefallen ist und wo inzwischen fast die Hälfte der Bevölkerung unter der sehr niedrig angesetzten Armutsgrenze vegetieren muss (vgl. Michael Dobbs/Paul Blustein: Who lost Russia, International Herald Tribune vom 13. 9. 1999, S. 2), während unverantwortliche ‚Eliten’ die nationalen Ressourcen priva- tisieren und transferieren. Zonen ähnlicher Sozialverhältnisgewalt breiten sich auch in der Hochmoderne aus, man denke an die banlieues, ghettos oder sozialen Brennpunkte in Europa oder den USA, vgl. Julien Dry: État de violence, Paris: Edition1 1999, S. 109 ff. 1102 Was Proudhon bereits 1854 (Manuel du spéculateur à la Bourse, Paris: Garnier ³1857) kommen sah, wenn er prognostizierte, dass im entfalteten Finanzkapitalismus die Macht der Börse „als Zehngebote, als Philosophie, als Politik und Sittengesetz, als Vaterland und Kirche“ gelten werde (S. 8). 1103 Luhmann: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat (Anm. 630), S. 22. 370

den wissen wollte1104, anstatt verstärkt auf Anwesenheit und Kontrol- le zu setzen. „Ich könnte mir vorstellen, dass gewisse Schwierigkei- ten, die wir in der moralischen Konvention unserer Gesellschaft beo- bachten, sich in der Weise auswirken“, erläutert Strasser (a.a.O.) diese Spannung, „dass es doch leichter vorkommt, dass Leute in öf- fentlichen Ämtern gewisse Grundsätze so nicht mehr beachten. Ob wir wirklich einen Moralverfall erleben? Nach meinen Kenntnissen der

Geschichte haben sich in früheren Zeiten Herrscher oder Politikerkas- ten kaum verantwortungsvoller verhalten“. Das klingt wenig tröstlich, stellt man in Rechnung, welcher hermeneutischer Mühen es bedarf, um den Annalen der Herrschaft nachträglich überhaupt einigen elitä- renf Anstrich zu verleihen, selbst mit Blick auf deren sozialevolutiven

Urzweck1105. Es gibt sicher nicht mehr Skandalösität als früher, mag sie gleich greller ins Auge fallen, da die demokratischen Gepflogen- heiten zunehmend hysterisiert wirken, ohne dass sich an den

Machtrealia viel geändert hätte. Vielleicht haben wir es dabei sogar mit einer Reaktion auf die Ohnmacht der Bürger zu tun? Die verbreite- te Bakschischmentalität jedenfalls stellt dieser Regierungform kei- neswegs ein schlechtes Zeugnis aus, wirft allerdings Fragen nach der politischen Auslese auf. Anders geworden ist indessen die Art und

Weise, wie Enthüllungen zustande kommen beziehungsweise wirken, weil sie inzwischen selbst zum Medienkapital geraten und die Promi- nenz der „luminaries“ (Time) befördern. Überdies zeitigen Unsitten der Höhergestellten erhebliche Rückwirkungen im Parkett, selbst wenn man mit Ernest Barker1106 einschränkt, dass Demokratie nichts

1104 Im Sinne der Verinnerlichung zustands-kompatibler Verhaltensweisen, vgl. Egoismus und Freiheitsbewegung (1936), in ders.: Kritische Theorie. Eine Dokumentation, Hrsg. Alfred Schmidt, Band 2, Frankfurt am Main: Fi- scher 1968, S. 9. 1105 Im herkömmlichen Verständnis laut Pascal (Pensées, in: L‘ Oeuvre de Pascal, Hrsg. Jacques Chevalier, Paris: Gallimard 1950, S. 815 ff., hier S. 891): „Le propre de la puissance est de protéger“. 1106 Reflection of Government, London: Oxford UP 1942, S. 314. 371

mit „Wohlstand oder Gedeihen des Volkes“ zu tun hat, sondern eine

Methode darstellt, dasselbe „zu regieren“. Die Bevölkerung neigt wo- chentäglich zu einer unpolitischen Haltung. Das demokratische Sys- tem „bietet die Freiheit, nein zu sagen. Nur wenn das absolut gesetzt wird, haben wir keinen politischen Resonanzboden mehr“, kommen- tiert Christian Hacke1107. Ebenso wenig wünschenswert wäre „eine

Emotionalisierung, denn sie würde sich auf die Straße verlagern.

Zentral bleibt die Frage nach dem Maß der Dinge. Hier hat vielleicht die Bevölkerung in zu gutgläubiger Weise den Politikern geglaubt.

Vertrauen muss die Grundlage demokratischer Politik bilden, auch in

Zukunft. Gleichzeitig kommt darin zum Ausdruck, dass man nicht im- mer alles überprüfen will. Das bleibt die Schwierigkeit dieser Katego- rie.“ Bei aller Distanz gegenüber den Alltagsgeschäften der Politik werden diese personenbezogen wahr genommen, was einer Elitisie- rung ebenso entgegen kommt wie dem sich oben und unten gleicher- maßen ausbreitenden Hang zum Populismus. Die Aufgaben, mit denen sich die Partei-Eliten abmühen, sind derart vieldimensional, dass kein

Sachwalter sie ganz begreift, am wenigsten der Wähler. Sie/er kann sich nur an das halten, wovon man etwas zu verstehen glaubt oder worüber mehr als Desinformationen zugänglich sind. Also vor allem an die Personen und ihre Aufmachung und Auftritte. Befördert von den Medien, die den biographischen Blickwinkel pflegen, gleicht sich politischer Wettbewerb einer Schönheitskonkurrenz an. Es geht mehr um ‚Glaubwürdigkeit’ statt um Sachkompetenz des Führungsperso- nals, im Sinne jener unfreiwilligen Komik, mit der etwa Ruth Wag- ner1108 mitten im Trommelfeuer der Vorwürfe mit Blick auf ihr eigenes

1107 Interview am 27. Juli 1988 im Hamburger NDR-Studio, Tonarchiv des Verfassers. 1108 Die sich gleichwohl als FDP-Vorsitzende (in Hessen) und stellvertre- tende Ministerpräsidentin verbissen weigerte, die Koalition mit der CDU unter ihrem belasteten Chef (Koch) in Frage zu stellen, vgl. die Parla- mentsdebatte in Phoenix am 17. 2. 2000. 372

Fellverhalten - auf der „Vorbildfunktion“ insistierte, „die wir auszufül- len haben“. Diese Verengung der Perspektive begünstigt die Ver- wechslung von Fähigkeit und Darstellung, worauf schon Mills1109 hin- gewiesen hatte. Wie im Alltagsleben, so spielen auch bei der Eliten-

Einschätzung - jenseits der Rechts-Links-Polarität - menschliche

Schwächen eine Hauptrolle. Ist schon nicht zu beurteilen, ob die Kan- didaten den anfallenden Schwierigkeiten, die kaum durchschaut wer- den, intellektuell oder charakterlich gewachsen sind, weiß ich doch genau, wer mir sympathisch ist und wer nicht. Damit ich den top mo- dels gewogen bleibe, darf man mich allerdings nicht allzu oft enttäu- schen. Folglich soll der Öffentlichkeit das Privatleben nicht vorenthal- ten bleiben, sie/er hat doch nichts zu verbergen? Im ‚Land der unbe- grenzten Möglichkeiten’ ist der gläserne Politiker als Musterknabe längst en vogue, die Inbesitznahme des öffentlichen Raums durch die

Alltagsmoral unumkehrbar.1110 Skandale oder Affären lassen sich al- lerdings auch als Sieg der Kontrolle und damit der Formaldemokratie verbuchen. Geht man von der Fehlbarkeit der Volksvertreter aus, sind persönliche Schwächen dem Regierungssystem kaum anzulasten. Auf

Entlarvungen reagiert die Öffentlichkeit allerdings betroffen, etwa mit

Enthaltung bei den Wahlen. Zeigen sich die bestellten ElitenD dem moralischen Anspruch nicht gewachsen, gelten Politik und Tugend als entzweit. Derart überzogene Erwartungen sind wenig enttäuschungs- fest. Abkehr von der Politik oder Machtzynik wären die Folge, beides ist mit demokratischen Anforderungen eher unvereinbar. Funktional geht es nicht um die Wahl zwischen Sittsamkeit oder Realpolitik1111,

1109 Amerikanische Elite (Anm. 340), Kapitel 4. 1110 Der Politiker als guter Familienvater? Als Kehrseite dieser Eliten- Verniedlichung blüht Personenkult auf: Er führt zu dem merkwürdigen Phä- nomen einer neuen ‚Dynastiebildung’, man denke an die Kennedys oder den Bush-Clan, an die Familie Debré in Frankreich oder das CSU- Familienunternehmen Bayern. 1111 Vor dieser ebenso unpassenden wie vorschnellen Entscheidung be- wahrt das allgemeine Desinteresse an der Verwaltung der öffentlichen An- 373

sondern um Bürger-Interesse(n) statt Stimmungspolitik. Häufen sich die Skandale, hat jenes ebenso unsentimentale wie ästhetik-ferne

Verhältnis zur Politik einen schweren Stand, das Theodor Geiger1112 der Mitwelt anriet. Er rechnete allerdings auf Einsicht in die Logik so- zialer Gegenseitigkeit. Sie verlangt nach einer „allgemein befolgten zwischenmenschlichen Lebensordnung“, nachdem wir in „unserer

Wertmoral entzweit, in der Wertüberzeugung selbst erschüttert sind“.

Das Ergebnis wäre nichts, „wofür man Fahnen schwingt und Hallelujah singt“. Aber bei aller Nüchternheit ist Kooperation in Gestalt der De- mokratie „von den bisher ausgedachten und erprobten politischen

Formen diejenige, die den unvermeidlich von der Gesamtheit gegen-

über dem Einzelnen ausgeübten Zwang, den Druck der gesellschaftli- chen Interdependenz, für alle im Durchschnitt verhältnismäßig am er- träglichsten macht. Dies ist das beste, was man von irgendeiner poli- tischen Lebensform sagen kann.“

Wie richtig, aber wie schwierig in einem Land, das Politik traditionell mit gemischten Gefühlen betrachtet. Nach wie vor wird unzureichend wahrgenommen, dass es um die Abwicklung von Sachzwängen geht statt primär um ethische oder sogar programmatische (Wahlverspre- chen) Belange. Deren Mühewaltung ruft eher Langeweile hervor oder gar Abscheu vor allzuviel Geschäftigkeit1113. Immerhin hat der Bun- destag seit 1949 über 4000 Gesetze beschlossen, es wirkt wie eine

Last, ‚mit der Politik‘ leben zu müssen. Konfliktlösung ist das Wesen

gelegenheiten. Das erklärt nicht nur, warum Deutschland das klassische Land der unpolitischen Mehrheit war/ist, sondern auch, warum die hiesige Politiktheorie ein veritables Resignationsideal (Apathie = Basis von Stabi- lität) pflegt, etwa frei nach Erwin K. Scheuch (Soziologische Aspekte der betrieblichen Mitbestimmung in Anton Rauscher [Hrsg.]: Mitbestimmung, Köln: Bachem 1968, S. 172 ff., hier S. 179 f.): „Für das Funktionieren ei- nes politischen Systems als Demokratie ist eine umfangreiche Beteiligung aller Menschen eines Landes nicht notwendig.“ 1112 Demokratie ohne Dogma (Anm. 508), S. 231/358. 1113 Vgl. Ronald Hitzler: Die banale Seite der Macht. Politik als Beruf heu- te - und morgen, in Helmut Berking (Anm. 899), S. 280 ff. 374

der parlamentarischen Arbeit, wobei deren Geheimnis die Auswahl- perspektive dessen bleibt, was jeweils Berücksichtigung findet.1114

Politiker verdienen kaum jene Beachtung/Gloriole, die ihnen Medien als neben dem der Prominenz relevantesten Fokus der Aufmerksam- keit zuschreiben, falls nicht gerade einmal wieder auf diesen Stand der Macher geschimpft wird. Solches Wechselbad ist entnervend, denn „Politik ist zu neunundneunzig Prozent Interessenausgleich“, wie Münch (a.a.O.) betont. „Das ist nicht von vornherein falsch oder gar unmoralisch, nur führt es zu einem kurzatmigen Ressortdenken in der Praxis. Bei mir etwa bündelt sich dieser Konflikt in besonderer

Weise, da ich sowohl Senator für Kultur als auch für Wissenschaft und Forschung bin. Jede Mark, die ich für das eine Ressort erkämpfe, fehlt mir anderswo, eine beinahe ausweglose Lage. Ich musste zum

Beispiel die Subventionen der Privattheater in Hamburg kürzen. Es hat einen großen Aufschrei gegeben, den ich verstehe. Wenn ich fra- ge: Wo wollt ihr kürzen, schweigen dieselben Leute, die mich eben noch verbal kreuzigen“.

1114 Vgl. Peter Bachrach/Morton S. Baratz: Entscheidungen und Nicht- Entscheidungen, in dies.: Macht und Armut, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 74 ff. 375

Historische Vorbehalte

Die zwischen Bewunderung und Skepsis schwankende Einstellung ge- genüber der Tagespolitik und ihrer ElitenD hat einen langen Vorlauf.

Das lässt sich exemplarisch an der Haltung von Max Weber darstel- len1115, gestorben 1920, dessen fragmentarisches Werk in seiner kompetenten Vieldeutigkeit bis heute fasziniert. Schauen wir zurück auf den 16. Januar 1919. An diesem trüben Donnerstagabend hielt der

Soziologe auf Einladung der ‚Freien Studentenschaft’ in München ei- nen Vortrag über drückende Fragen der Gegenwart. Der berühmte Ge- lehrte ließ sich nur widerstrebend in den Vorlesungssaal locken. Er hatte Niederlagen als aktiver Politiker einstecken müssen, im „Ver- fassungsausschuß“ zur Begründung der Weimarer Republik waren seine Vorstellungen nicht mehrheitsfähig. Er sagte erst zu, als die

Studenten drohten, Kurt Eisner an seiner statt einzuladen. Solchen gegenelitären Ersatzmann mochte er seinen jugendlichen Zuhörern keinesfalls zumuten, galt ihm der USPD-Mann doch als „Gesinnungs- politiker“, der den Problemen mit Ideologien statt mit Realismus ent- gegen trat. Was Weber aus dem Stehgreif vortrug, wurde hinter dem

Vorhang der Bühne des Saales in der Adalbertstraße mit stenogra- phiert. Seine wenig später unter dem Titel ‚Politik als Beruf’ veröf- fentlichte Beschreibung1116 der parlamentarischen Gegebenheiten hat wenig an Genauigkeit eingebüßt; auch nicht an innerer Distanz, die durchschmeckt. Ihr bedeutet „Politik ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“. Nur wer glaubt, nicht zu zerbrechen, „wenn die Welt, von seinem Stand- punkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr

1115 Vgl. Wanfried Dettling: Politik als Karriere?, in Leif (Anm. 766), S. 466 ff. 1116 Politik als Beruf, in: Gesammelte Politische Schriften (Anm. 259), S. 396 ff., hier S. 450. 376

bieten will“, erhält womöglich den hochelitären Ruf zur und damit als

„Führer“ oder „Held“ auch den Beruf der Politik. Dessen professionel- le Zeitgemäßheit („von der Politik leben“)1117 - gegen die Bismarck in

Form von ‚Diätenzahlungen’ seinen letzten Kampf als Reichskanzler führte - wurde ebenso begründet wie Zweck und Ärgernis des Frakti- onszwanges. Weber sah den Parteienstaat entstehen und deutete dessen Skandalträchtigkeit als Folge neuer Einflussrollen der Medien.

Abgründigkeiten des Politischen auf dem schwankenden Boden der

Gefälligkeitsdemokratie stehen ebenso zur Debatte wie deren Verlo- ckungen. Entsprechend muss die Auslese des Führungspersonals ge- währleisten, dass die ElitenF einer immer verwirrenderen Welt ge- wachsen sind. In seiner Gegenüberstellung von „Gesinnungs“- und

„Verantwortungsethik“ finden sich Kriterien politischer Vernünftigkeit vor formuliert und damit in Umrissen eine anspruchsvolle „Funktions- moral“ der Parteien; jene die Zeitläufte tatsächlich regierende Vor- teilsethik wird noch nicht unterstellt. Der Gesinnungspolitiker bleibt seinem Dafürhalten treu, im Spannungsfall von Ideal und Notwendig- keit durchaus zu Lasten des Gemeinwesens. Der Verantwortungsbeg- riff hingegen trägt eine Politik des gesunden Menschenverstandes, die mit „geschulter Rücksichtslosigkeit des Blicks in die Realitäten des Lebens“ (S. 448) auch deren „ethische Irrationalität“ auszuhalten lernt. Da „Politik mit dem Kopfe gemacht wird, nicht mit anderen Tei- len des Körpers oder der Seele“ (S. 436), unterliegt sie vor allem der

Selbstdisziplin. Zur Prüfliste hier tätiger Eliten zählt weiter das Ein- lassen auf Sachfragen, Verpflichtung auf das Gemeinwohl, das so gemein sein kann, und Augenmaß inmitten der Verwicklungen. Im

Kreuzpunkt jeder Ethik des Politischen aber steht statt Selbstverwirk-

1117 Diese Notwendigkeit wurde bereits durch Heinrich von Treitschke (Par- teien und Fraktionen [1906], in ders. Aufsätze, Reden und Briefe in 5 Bän- den, Hrsg. Karl Martin Schiller, Meersburg: Hendel 1929, hier Band 3, S. 611 ff.) herausgearbeitet. 377

lichung die „Distanz sich selbst gegenüber“ (a.a.O.), deren Meiste- rung, wenn etwas, zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben qualifi- ziert.

Der Soziologe blieb skeptisch, ob seine Landsleute sich für demokra- tische Spielregeln und damit für eine kooperative Zügelung der Macht erwärmen würden, wenigstens in der Rolle sachverständiger Zuschau- er. Nicht nur waren die damaligen Umbruchzeiten alarmierend; die

Mitwelt schien zudem weder politisch aufgeweckt genug, sich in einer entzauberten, da unverhüllt vorteilsrationalen Politikmoderne zurecht- zufinden; noch hielt Weber die politische Klasse für willens, sich mehrheitlichen Beschlüssen zu beugen - es sei denn aus Opportunis- mus -, oder diese wenigstens in hinreichendem Maß zustande zu brin- gen.1118 Seine an Spengler („der Cäsarismus, leise und unaufhörlich, naht“1119) gemahnende Schwarzseherei sollte Recht behalten. Er bil- ligte dem Weimarer Experiment in Demokratie eine Dauer von zwölf

Jahren zu1120, ehe eine „Polarnacht von eisiger Finsterniß und Härte“

über das Land hereinbreche, ausgelöst von einer charismatischen In- tervention in die Alltäglichkeit. Sein eigenes Verhalten unterstrich solchen Pessimismus. Vergleicht man Webers Gehversuche in der

Parteipolitik mit Thesen des Gelehrten, wie sich die Epoche demokra- tischer zu betragen hätte, stößt man auf die üblichen Vorbehalte der hiesigen Meinungsmacher gegenüber jener ebenso ordinären wie rau- hen Welt einer post-höfischen Machtverwaltung. Solche Vulgaritäts- distanz veranschaulicht nicht zuletzt sein gescheiterter Ausflug in die hohe Politik. Die von Weber mit begründete „Demokratische Partei“ mochte ihren bedeutendsten Kopf im Dezember 1918 nur auf aus-

1118 Weswegen Moritz Julius Bonn (Die Krisis der europäischen Demokra- tie, München: Meyer und Jessen 1925) Weimar eine autoritäre Zukunft vor- aussagte. 1119 Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Motphologie der Welt- geschichte (1918/1922), München: Beck 1963, S. 1194 f. 1120 Politik als Beruf (Anm. 259), S. 449. 378

sichtsloser Stelle der Kandidatenliste des 19. Abstimmungskreises

Hessen-Nassau für die ersten Wahlen zur Nationalversammlung set- zen. Anstatt im Vorfeld um eine bessere Platzierung zu kämpfen - ein

Erfolg war möglich -, oder anderswo anzutreten, zog sich der Denker gekränkt aus dem Kandidatengetümmel zurück, für das „er sich zu gut war“, wie Nicolaus Sombart (Rendevouz mit dem Weltgeist, Frankfurt am Main: Fischer 2000, S. 242) kommentierte. Er habe sich seine

Nominierung „nur ihres streng demokratischen Verlaufes wegen gefal- len“ lassen. Aber „natürlich verschmähe (er) es“, lautete sein Kom- mentar am 1. Januar 1919 in der Frankfurter Zeitung, „irgendwelchen

‚Parteihonoratioren’ ... irgendwelche Konzessionen zu machen“1121.

Dabei hatte er selbst unterstrichen, dass man als Politiker im Zweck- interesse selbst „mit diabolischen Mächten einen Pakt“ (S. 444) zu schließen hätte. Er wollte jedoch gerufen werden! Jene durch Partei- en beförderte Integrationsfunktion demokratischer Repräsentation al- lein, wie Rudolf Smend1122 sie beschrieb, konnte ihn nicht reizen, durch die Niederungen der Alltagspolitik aufzusteigen. Das Bildungs- bürgertum zeigte sich vom Prestige des politischen Feldes angetan, schwankte indes zwischen der „Nestwärme und Funktionskälte“ hin und her, die die modernen Parteien laut Heinrich Oberreuter (Zürich:

Interfrom 1983) abstrahlen. Neidisch auf die Chance, öffentlich zu wirken, wurden die dort üblichen Kalküle gemieden wie die Pest. Na- serümpfen über das Banale aller Politik war nicht nur unter den Man- darinen in Mode. Aus dem Abseits ließen sich scharfsichtig demokra- tische Schwächen verzeichnen, das war seinerzeit links wie rechts

üblich, Ergebnis einer bloß literarischen Verarbeitung parlamentari- scher Routine, die fast immer ohne öffentlichen Applaus auskommen

1121 Erklärung zum Scheitern der Kandidatur, in: MWG I/16, Tübingen: Mohr 1988, S. 156. 1122 Verfassung und Verfassungsrecht, München/Leipzig: Duncker & Humblot 1928, S. 38 ff. 379

musste. Diese Analytik mochte brilliant wirken, man denke an Carl

Schmitt1123, sie blieb durchweg gesinnungsethisch gestimmt. Damit war sie im eigentlichen Wortsinn vorpolitisch, wiewohl nicht ohne problematische Konsequenzen für die Demokratie, die im Zeitalter der

Warenhaftigkeit selbst symbolischer Güter zur Akzeptanzverstärkung dringend des intellektuellen Dauerzuspruchs bedarf, um wenigstens extrafunktional, also jenseits der im engeren Sinne politischen Leis- tungsbilanz, als plausibilisiert zu wirken.

Politikverdrossenheit

Seit Parteien aus, jedenfalls der Idee nach, offen zugänglichen und somit transparenten Organisationen zum Klüngel mutierten, förderte das breit diskutierte Missvergnügen über Anzeichen politischer „Ver- harschung“1124 die innere Abkehr der Wählerschaft von ihren Vertre- tungskörperschaften. Die These von William Kornhauser1125 traf nicht zu, wonach in der Massengesellschaft die Einfluss-Ströme von oben nach unten egalisiert würden durch jene von unten nach oben. Stras- ser (a.a.O.) stimmt gleichwohl Bürgerschelte an. „Natürlich herrschen

Sachzwänge. Darauf antwortet eine gewisse Politikmüdigkeit der Be- völkerung mit der Einschätzung, dass Politiker, selbst wenn sie woll- ten, nicht viel erreichen. Doch wenn man verlangt, dass es nicht die geringsten Störungen in unserem Konsumsystem geben darf, und gleichzeitig einschneidende Maßnahmen zur Wiederherstellung der

1123 Vgl. seine Kritik des Pluralismus als Basis der Forderung nach einer „autoritären Instanz, zu der man Vertrauen haben kann", in ders.: Verfas- sungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 bis 1954, Berlin: Duncker & Humblot 1958, S. 341. 1124 Wilfried Röhrich: Eliten und das Ethos der Demokratie, München: Beck 1991, S 19. 1125 The Politics of Mass Society (Anm. 471), S. 39. 380

Lebensbasis der Menschen fordert, ist das in sich widersprüchlich.

Die Ansprüche der Wähler an die Politik sind teilweise unerfüllbar.“

Lautet die Alternative deswegen Flüchten oder Standhalten? Mitma- chen bei der Verpflichtung von Macht auf möglichst sozial-ökologisch- rationale Gestaltungsprinzipien1126, mithin Partizipation statt Apathie, ist nach wie vor wenig beliebt, trotz vieler Einpunktbewegungen im vorpolitischen Raum.1127 Aus Furcht vor einem morbus politicus? Aus

Zeitmangel? Aus Desinteresse? Die Beteiligung der Menge am traditi- onellen Parteienwesen ist minimal. Das lässt Programmformulierung und Kandidatenauslese noch hermetischer erscheinen, die Politiker bleiben mit ihrer heiklen und verantwortungsvollen Aufgabe als Letz- tadressaten anstehender Probleme allein. Begleitmusik solcher Absti- nenz ist Besserwisserei. In den Tiefenlagen der Meinungsbildung, et- wa am Stammtisch, lässt sich alles über einen Kamm scheren, ebenso wie in trauter Gesellschaft von Büchern. Die Verwechslung von Etap- penweisheit mit Realität1128 ist seit der Ausschließung des Dritten

Standes vom Macht(t)raum, Folge aus Zagheit versäumter Reformen der Elitestrukturen von unten (1813, 1848, 1918, 1989), ein Grundak-

1126 Die nicht im Sinne von Meinhard Miegel („Der Sozialpolitik sind alle anderen Politikbereich faktisch untergeordnet“, FAZ-Magazin Nr. 896 (1992), S. 50 ff., hier S. 50) einseitig solidarisch, aber auch nicht im Sinne von Friedrich von Hayek etc. unzweideutig marktkonform, sondern ausge- wogen, weil individual- und sozialverträglich ausfallen müssen. 1127 Zwar hat das Vereinswesen quantitativ nicht abgenommen, gleichviel wird das Sozialkapital knapper, weil Freiwilligkeit zunehmend mit Entspan- nung/Lustgewinn und Geselligkeit konnotiert, nicht mehr mit Sozialpflicht, Solidarität oder Politik-Engagement, was Parteien und Verbände als Nach- wuchsmangel erleben. Insofern ist die Hoffnung auf Selbstorganisation als Gegengewicht der Zivilgesellschaft gegenüber oder als Ergänzung zur or- ganisierten Zuständigkeit wenigstens hierzulande ein Wunschbild, weil sich Selbstverwirklichung und Kollektivität schlecht vertragen, vgl. die Debatte in den USA, die Robert Putnam („bowling alone“!) mit der These losgetre- ten hat, dass die lokal verankerte und national engagierte Welt intermediä- rer Mitgliederorganisationen „is a relic“ (Theda Skocpol), dazu Paul Rich: American Voluntarism, Social Capital, and Political Culture, in: The Annals of the American Academy Nr. 565 (September 1999), S. 15 ff. 1128 Vgl. prototypisch August Ludwig von Rochau: Grundsätze der Realpoli- tik, 2 Bde., Stuttgart: Göpel 1853/1869 381

kord des hiesigen Bürger- als Biedersinns, was die Debatten über öf- fentliche Belange nie besonders inspiriert hat: die politischen Leiden- schaften fielen allenthalben eher a- oder gar antipolitisch aus.

Ein Bestseller mit dem provozierenden Titel ‚Wohin treibt die Bundes- republik?’ war daher einer der wenigen Verkaufsschlager1129 der

Traktatliteratur, ehe sich der Enthüllungsjournalismus ein Massenpub- likum erschrieb. Der Angriff auf das rhenanische Establishment kam aus unerwarteter Ecke. Mit Karl Jaspers überraschte ein berühmter

Philosoph und eben kein Zustandskritiker von Profession die Öffent- lichkeit mit einer bitterbösen Zurechtweisung. Das Buch wirkte wie ein

Lehrstück der Politikverdrossenheit, gerade weil es diese thematisier- te.1130 Der in Basel lebende Denker trug eine breite Palette von An- würfen vor. Sie gipfelten im Tadel, die Volksparteien hätten den Staat in Beschlag genommen.1131 Parteienoligarchie aber heiße „Verach- tung des Volkes“. Was brauche es die Ziele zu kennen, die sich die

Elite setzt, wenn diese denn überhaupt welche pflege? Stattdessen ventiliert man „erregende Phrasen, allgemeine Redensarten oder pompöse Moralforderungen“. Die Bevölkerung aber verharrt „in der

Passivität seiner Gewohnheiten“ (S. 140). Infolgedessen häuften sich politische Unappetitlichkeiten von der Leihwagenaffäre über die

Schützenpanzermisere bis zum Spiegeldebakel. Diese und andere

Skandale signalisierten laut Jaspers den parlamentarischen Nieder-

1129 Das Werk (München: Piper 1966) fand im Monat seines Erscheinens über dreißigtausend Leser, im ersten Jahr waren hunderttausend Exempla- re abgesetzt. 1130 Unter anderem gegen den allseitigen Vorwurf des Unpolitischen (etwa Uwe Thaysen: Jaspers und die Bundesrepublik, in: Der Politologe VII (1966), Nr 20, S. 55 ff.) verteidigte der Autor sich in einer Gegenkritik: Antwort. Zur Kritik meiner Schrift ‚Wohin treibt die Bundesrepublik?’, Mün- chen: Piper 1967. 1131 Detaillierung bei Hans Herbert von Arnim: ‚Der Staat sind wir!’. Politi- sche Klasse ohne Kontrolle?, München: Knaur 1995, S. 109 ff. 382

gang1132, gar Sittenverfall. Obschon vollauf mit der warm laufenden

‚Studentenbewegung’ beschäftigt, beunruhigte dieser Alarmruf die Öf- fentlichkeit.1133 Aber hatte die Demokratie wirklich Schaden genom- men? Als die Schrift zehn Jahre später unter der Rubrik „Wiedergele- sen“ (Die Zeit) vorgestellt wurde, rieb sich der Rezensent die Augen.

Ihre Aufgeregtheiten verwiesen auf das „hilflose Pathos der frühen

Protestbewegung der 1950er Jahre“.1134 Hatte diese Überempfindlich- keit mit Politikferne des Geisteslebens zu tun? Oder mit der Geistes- ferne der Politiker, als Revers der Entfremdungsmedaille, die zudem ihr heikles Gewerbe, das Gemeinwohl zu mehren, nicht verständlich machten? Jaspers artikulierte neben schwerwiegenden Politik-

Mängelrügen, die erst im Rückblick prophetisch wirken,

- als Ausdruck übertriebener Vorbild- und Regelungs-Erwartungen an die Parteien,

- aber auch aus Unkenntnis politischer Spielregeln, die bei allem Ein- satz von Ellenbogen doch mehr darstellen als personalisierte Ränke- spiele, reichlich platonische Maßstäbe des parlamentarischen Handwerks.

Vor allem lag eine moralische Überbelichtung vor1135, die mit der Ge-

1132 Über die übliche Bonn-Kritik seit Wolfgang Koeppen, Eugen Kogon, Walter Dirks etc. vgl. Klaus Harpprecht: Totgesagt und sehr lebendig. Bonn und die intellektuelle Verweigerung, Die Zeit vom 21. 6. 1996, S. 42. 1133 Viel mehr als die zeitgleich erscheinende Klage (Gert Schäfer/Carl Nedelmann [Hrsg.]: Der CDU- Staat, München: Szczesny 1967) über das Auseinanderdriften von ratio legis und Verfassungswirklichkeit. 1134 Viele Thesen erinnerten an Jaspers (Die geistige Situation [Anm. 1026]) Mahnruf aus Weimarer Tagen. Zur Konstanz dieser Position vgl. Ralf Kadereit: Karl Jaspers und die Bundesrepublik Deutschland, Pader- born u.a.: Schöningh 1999. 1135 Jaspers Buch war ausgegangen von der politischen Verjährungsdebat- te für NS-Verbrechen: Mit Blick auf spätere Versäumnis-Erkenntnisse samt Versuchen (Zwangsarbeiterentschädigung, Holocaust-Mahnmal etc.), Ver- fehltes nachzuholen, erweist sich der Ansatz eines humanistischen Exis- tentialismus, den Jaspers vertrat, und der gegenüber strukturgeschichtli- chen, systemischen oder quantophrenen Theoremen, die seinerzeit populär wurden, nur mehr veraltet wirkte, in Wahrheit zeitlos-zeitgemäßer und vor allem auch realitätstüchtiger, indem Jaspers den Parteien zu aktiven Be- wältigungsanstrengungen riet. 383

lassenheit eines Friedrich Hebbel1136 wenig im Sinn hatte, wonach es auch im politischen Drama „immer sittlich“ zugehen muss, „gesittet kann es aber nicht immer sein“.

Ließen sich derartige Vorhaltungen wie gleichermaßen Sichtverzer- rungen vielleicht entkräften, wenn die Kluft zwischen Berufspolitik und Öffentlichkeit geringer ausfiele? Wenn plebiszitäre Elemente,

Amtszeitverkürzung oder mehr direkte Wahlmöglichkeiten bestünden?

Wenn die politischen ElitenD durch Abstimmungschancen, Deprofessi- onalisierung, Kandidatenauslese in aller Öffentlichkeit etc. volksnäher operieren würden1137, um die „fundamentale Nichtrepräsentativität der

Politik gegenüber dem Zivilbereich“1138 wenigstens zu mindern? Oder wenn die Wechselbeziehungen zwischen der parlamentarischen und der geistigen Ebene reger wären? Etwa durch ausgedehnteren Perso- nenaustausch zwischen den Lagern? Könnten dann Wähler, Bürger,

Verbraucher und Meinungsmacher jene Spielräume, Eigengesetzlich- keiten, Zwänge und Versuchungen des politischen Betriebes besser einschätzen? Oder würde die Entleerung der Politik als Verhüllung polyarchischer Interaktionen nur evidenter?1139 Durchlässigkeit könn- te das gegenseitige Verständnis fördern, ohne allerdings die Abnut- zung demokratischer Glaubwürdigkeit zu beheben.1140 Auch die von

1136 Tagebücher, Eintrag vom November 1846 in Wien, (Anm. 296), Band 2, S. 31. 1137 Was laut Walter Cronkite [A Reporters Life, New York: Ballantine 1997, S. 182 f.] auf den ersten Blick: paradoxerweise, in Wirklichkeit mit Notwendigkeit, durch die Öffnung des politischen Gewerbes gegenüber dem Fernsehen unterbunden wurde, weil sich mit Blick auf die parallele Personalisierung des Politischen eine kulturindustrielle Vermarktung zwi- schen ElitenD und Dirigierte einschaltete, die der distorted communication als Regelfall verpflichtet ist, trotz Dauerpräsenz von Phönix am Ort des ‚Geschehens’, vgl. Thomas Schuster: Staat und Medien. Über die elektro- nische Konditionierung der Wirklichkeit, Frankfurt am Main: Fischer 1995, S. 137 ff.; 186 ff. 1138 Cannac (Anm. 355), S. 198. 1139 Zur „exercise d’artifice et d’illusion“, genannt Gegenwartspolitik, vgl. Roger-Gérard Schwartzenberg: La politique mensonge, Paris: Odile Jacob 1998. 1140 Vgl. Philippe Braud: La démocratie, Paris: Seuil 1997, S. 217 ff. 384

Jaspers schwarz in schwarz gemalten Fehlleistungen wären nicht vermieden. Die Geschichte der Bundesrepublik lässt sich unschwer als Chronik der Skandale entziffern, von der Hauptstadtaffäre des

Jahres 1949 über die Parteienfinanzierungs-Peinlichkeiten der 1980er

Jahre bis zu den Durchstechereien bei der Wiedervereinigung und de- ren Fortsetzungskolportage via schwarze Regierungskassen. Selbst wenn die Bevölkerung das nicht so sieht, nachträglich belegen aufge- deckte Skandale indes die Kontrollfähigkeit des Systems; gleichwohl beeinträchtigen sie die Stimmung. Die Öffentlichkeit verliert durch allzu viele Enthüllungen nicht nur den Glauben an ihre Volksvertreter, sondern womöglich die Zuversicht in die bestehende „Vormund- schaftsdemokratie“1141. Etwa im Sinne des Unbehagens, das Hacke,

Jahrgang 1943, mit Blick auf solche Anstößigkeiten zum Ausdruck bringt (a.a.O.): „Unsere demokratische Tradition ist in den vergange- nen hundert Jahren sporadisch ausgebildet und wurde zuweilen von totalitären Tendenzen verschüttet. Für mich ist es daher erstaunlich, dass die Bundesrepublik relativ wenige moralische Affären erlebt hat.

Aber in der Tat zwingen die Skandale zur Besinnung. Und es ist die große Frage, die sich kaum verifizieren lässt: Wieviel Vorgänge die- ser Art sind in der Vergangenheit unbemerkt oder ungesühnt geblie- ben?“ Anforderungen

So unangemessen ein moralisierendes Politikverständnis wirkt, es wird von der Bevölkerung gehegt. Im Zeitalter der Differenzierung korrespondiert Verlässlichkeit als Kitt der Gesellschaft mit jenem me- taphorischen „Alltagsplebiszit“ (Renan), das Volksherrschaft als Ge- genseitigkeitsmodell versteht. „Keine Demokratie kann ohne Eliten

1141 Oliver Duhamel: Les démocraties, Paris: Seuil 1993, S. 27 ff. 385

existieren“, kommentierte Hans Jonas1142 dieses Zusammenspiel, die

„von besonderem Verantwortungsbewußtsein und der Bereitschaft“ geprägt sein sollte, „Bürden auf sich zu nehmen“. Der politische Be- reich unterliegt bei allem Machthunger, der die Durchsetzungsauslese steuert, gleichwohl nicht nur Regeln des Anstandes, sondern grund- sätzlichen Absprachen, um Glaubwürdigkeit und damit die knappe

Ressource der Akzeptanz zu fördern. Die breite Entrüstung darüber, dass Politiker selten so handeln, wie sie sollten, wirkt im Sinne der

Gewohnheiten („Grundsätze, Freund, Prinzipien/Sind’s, die den

Staatsmann führen,/Sie geben Haltung, hält man sie,/Und lassen sich ignorieren“1143) des dort ablaufenden Spiels allerdings übertrieben.

Das größte Problem einer moralischen Einschätzung von Politik, lau- tet Gerhardts (a.a.O.) Fazit, „liegt darin, dass wir keineswegs mit diesen Maßstäben alle Vorgänge in der Politik beurteilen können. Es wäre verhängnisvoll, wollte man glauben, diese könne nach Regeln beurteilt werden, nach denen ich meine Kinder erziehe oder meinen

Haushalt führe.“ Politik ist nicht länger Privatbereich der Regierenden als Monarchie-Ersatz auf Abruf, Ehrenworte sind hier fehl am Platz.

Seit in der frühen Industrie-Epoche alle Befugnis an die Zustimmung der Regierten gebunden wurde, fand jedoch eine Entflechtung von

Moral und Machtverwaltung statt. Im Kontext der Arbeitsteilung bilde- te Politik eigene Sachgesetzlichkeiten, Verhaltenssysteme und Kon- trollmechanismen aus. Die Wähler sind seither gehalten, ihren Dele- gierten zu vertrauen, erwarten aber dafür spezifische Dienstleistun- gen, zu denen nicht zuletzt die Lauterkeit der Bestellten zählt. Diese

Wechselbeziehung wird paradoxerweise durch die Skandalisierung un- terstrichen, nicht aufgelöst. Affären gehören politik-geschichtlich zum

1142 Diskussion über Ethik und Politik, in: Björn Engholm/Wilfried Röhrich (Hrsg.): Ethik und Politik heute, Opladen: Leske + Budrich 1990, S. 80. 1143 Franz Grillparzer: Politisch (1839), Werke, Hrsg. J. Minor, Stutt- gart/Leipzig: DVA o.J., S. 95. 386

Bestand der Demokratie.1144 „Der größte Teil der Skandale beruht auf

Verletzungen moralischer Empfindungen“, betont Gerhardt. „Dabei ist das Moralische dasjenige, was wir für selbstverständlich halten. Und in der Politik sollten die Dinge, die wir im alltäglichen Leben für selbstverständlich halten, auch als solche gelten. An sie sind mithin besondere moralische Anforderungen zu stellen. Und je mehr wir zu der Einsicht gelangen, dass die eigentliche Rechtfertigungsgrundlage aller Politik jene Ansichten und Regeln sind, von denen wir im norma- len Leben ausgehen, um so entschiedener wird von den Politikern verlangt, das zu berücksichtigen“. Skandale beleuchten die Tatsache, dass die Allgemeinheit von einer Schönwetterdemokratie träumt; ge- messen an dieser Vision zeigen die Politik-Betreiber erheblich Män- gel. Dabei soll von strukturellen Schwächen der parlamentarischen

Gegenwart gar nicht die Rede sein. Etwa von der Neigung, in Wahlpe- rioden zu denken, was der Kurzatmigkeit der neuen Ökonomie ent- spricht; der Tendenz, Staat und Parteien zu verschmelzen; der Not- wendigkeit, die Vorgaben von Bürokratie oder Lobby abzunicken; oder von der Schwierigkeit der Volksvertreter, im Parteibetrieb (auch) ih- rem „Gewissen“ (38, 1 GG) zu folgen. Was immer das anderes verrie- te als die Zugehörigkeits-Kommunikation der Bezugsgruppen? Im Zu- sammenhang mit der Moralfrage beunruhigen indes andere Auffallig- keiten. Sie haben mehr mit Stilfragen zu tun als mit verfahrenstechni- schen Überlegungen, die aus ihnen herrühren. Es geht um die Aus- wahl des Führungspersonals, um dessen Eignung als EliteF , nicht so

1144 Ohne Verrechtlichung des Politischen besteht, wie gesagt, kein öffent- licher Begründungszwang. Es kann keine Skandale geben als Aufschrei über Vertrauens-Missbräuche oder Regelverletzungen. Entweder dürfen entsprechende Vorkommnisse nicht ausgeplaudert werden, gelten in Totali- tarismen aller Art als heimtückischer Verrat. Oder sie können nicht als skandalös wahrgenommen werden, weil es sich um hochherrschaftliche Anmaßungen handelt, über die das ebenso stumme Volk in allen vorreprä- sentativen Herrschaftsformen nicht mitzureden hatte. Folglich bilden nicht zuletzt Skandale - wenngleich betrübliche - Beweise für demokratische Gegebenheiten und ihre Prüffähigkeit. 387

sehr um sinkende Standards des Regierungsapparates. „Die politi- schen Karrieremuster zeigen eine erschreckende Tendenz zur Verbe- ruflichung. Es handelt sich nicht so sehr um individuelle Probleme, sondern um die Struktur und Beschaffenheit von Massenparteien. In

Übereinstimmung mit einer spezifisch deutschen Tradition zieht sich das Bürgertum zunehmend vom politischen Geschäft zurück. Dabei

überlässt man einem bestimmten Typus von Karrieremenschen die

Parteien. Den Frustrierten, den im Privatleben nicht ganz Glücklichen, den auch im Berufsleben wenig Erfolgreichen. Dieser Karrieretyp wird sich, weil er massiv auftaucht, immer wieder selbst unterstützen. Das ist eine gefährliche Entwicklung - die man in den Jugendorganisatio- nen aller Parteien erkennen kann -, dass sozusagen der Angepasste, der Geschniegelte, der Stromlinienförmige, den etwa ein Barschel repräsentiert hat, die Zukunft unserer Parteien beherrschen wird.“

Was Hacke (a.a.O.) als Nachwuchsdilemma aller Parteien anspricht, lässt sich verallgemeinern. Dem Hang zur Selbstprivilegierung ent- spricht „eine immer mittelmäßigere Führungsschicht“ (Baring). Der

Kriechgang durch die Parteien und Ämter wirkt abstoßend, er fördert

überdies die Devotion, die Unangepassten bleiben stecken. In Gre- mien feiern Sitzfleisch, Gefälligkeit und Aktenfreude sichere Triumphe

über andere Qualitäten. Da es in der Politik keine den Pleiten in der

Wirtschaft vergleichbaren Maßstäbe gibt, sind Selbstkorrekturen kaum möglich. Auch Erfolg oder Misserfolg bei Wahlen bieten kein Regula- tiv. Sie beziehen sich vor allem auf vage Größen wie Beliebtheit1145,

Erscheinung/Auftreten1146 oder Redekunst; zudem hat mit dem Zeit- faktor das Phänomen des ‚Aus-den-Nachrichten-aus-dem-Sinn‘ eine

1145 Das als ‚Anziehungskredit’ (Moreno) eine wichtige sozialpsychologi- sche Größe darstellt, keineswegs aber die verlässliche/‚rationale’ Basis etwa für politische Wahlakte. 1146 Vgl. Kim K. P. Johnson/Sharron J. Lennon (Hrsg.): Appearance and Power, Oxford: Berg 1999. 388

abfedernde Wirkung. Das lässt sich am üblichen ‚Aussitzen’ von

Skandalen durch das politische Gespann erkennen. Trotz schönster

Expertisen, was zu tun wäre, sehen sich Änderungen durch die kom- pakte Trägheit der Gepflogenheiten verhindert. Außerdem lässt sich durch eine Politik der Wahlgeschenke manifestes Fehlverhalten auf

Kosten des Gemeinwesen vertuschen. Wenn weder die Moral zustän- dig ist, noch Leistungen es erlauben, das Handeln der Politiker zu bewerten, welche Kriterien bleiben übrig? Oder läuft die Suche nach

Verbindlichkeit ins Aus, weil Krisen und Sachzwänge statt prozedura- ler und wertrationaler Bestleistungen die Politik bestimmen? Weil nur

Postenjagd den Politiker anspornt? Das trifft womöglich zu. Bleibt Po- litik aus lauter Frustration über mangelndes Feingefühl, geringe Kom- petenz oder Fremdbestimmung in dieser Branche, durch die der Bür- ger sich schwerlich repräsentiert fühlt1147, daher den Zuständigen

überlassen? Um solcher Entwicklung vorzubeugen, müssten laut

Münch (a. o. O.) politischer Alltag und Lebenswelt kompatibler wir- ken: „Eines ist wirklich phänomenal. Es kann niemand nur die kleins- ten Handreichungen in diesem Staat machen, ohne bestimmte Prüfun- gen ablegen zu müssen. Aber Bausenator kann man werden ohne ir- gend etwas. Andererseits ist die Vorstellung erschreckend, dass man

‚auf Politik’ studieren könne. Etwa auf einer Hochschule mit dem Ab- schluss - nicht Diplom-Politologe -, sondern Diplom-Politiker. Die beste Ausbildung für den Politiker bleibt ein normaler Beruf. Dort et- was leisten, Sensibilität zeigen, wach bleiben, zuhören können, was die wenigsten Politiker vermögen. Und sich dann fest vorzunehmen, rechtzeitig - lieber einen Tag zu früh als einen Tag zu spät - in sei- nen Beruf zurück zu gehen. Das ist der beste Schutzschild gegen Ver-

1147 Nicht nur nicht in Deutschland, beispielsweise auch die Franzosen fühlen sich weder durch die politischen Parteien (67 %), noch die Gewerk- schaften (77 %) oder politische Eliten (68 %) vertreten, vgl. Gérard Cour- tois: Divorce entre les Français et la politique, Le Monde vom 17. 10. 1996, S. 7. 389

Versuchungen, gegen Affären. Denn die Gefahr besteht immer, dass man als Politiker ‚abhebt’ - im wahrsten Sinne des Wortes - aus dem täglichen Leben“. Ob das politische Qualitätsprofil durch Verkürzung der Wahldienstzeiten erfreulicher ausfiele? Gewährleistet schiene im

Sinne von ‚Auch Politiker haben einen ordentlichen Beruf’, dass

Volksvertreter den Bodenkontakt und damit einen Maßstab für ihre

Relevanz behielten. Also jenem Cincinnatus nacheifern könnten, der sich laut Livius (ab urbe condita III, 25 ff.) nach Erfüllung politischer

Pflichten zurückzog, ohne aus Öffentlichkeitshunger oder Versor- gungsbedarf der Epoche nach dem Peter-Prinzip allzu lange auf die

Nerven zu fallen. Die Abhängigkeit des politischen Personals (‚an Ü- berweisungen gebunden‘) von den als Quasi-Arbeitgeber auftretenden

Parteien würde vermindert. Diese blieben zuständig für ihre Karriere, aber nicht unbedingt für ihre Existenzsicherung. Überdies förderte die

Verzahnung von Arbeitswelt und Politik das allgemeine Interesse am

öffentlichen Handlungsfeld. Die Schotten zwischen Parteipolitik und

Lebenserfahrung wären nicht derart dicht. Das beträfe auch das Ver- hältnis von Politik und Moral. Ist es wirklich so gespannt, wie unter- stellt wird? Besteht die ‚Moral von der Geschichte‘ vielleicht darin,

Politik als Zeremonie oder sportliche Veranstaltung zu begreifen? Das klappt allerdings nur, wenn ihre Spielregeln ebenso verstanden wür- den wie die sonstigen Machtturniere der Eliten. Gesellschaftliche In- teressen wetteifern um Rangplätze. Das geht nicht immer fein zu.

Falls wir deswegen nicht mehr genau hinschauen, wird noch mehr gemogelt. Die Beweggründe der Mitstreiter sind eher egoistisch und keineswegs edel, denn wenn wir allesamt Altruisten wären, gäbe es keine Notwendigkeit für Politik. Die Bürger sollten diesen Wettstreit aufmerksam verfolgen. Sie befinden sich zwar in der angenehmen La- ge, als Wähler zugleich Punktrichter dieser Auseinandersetzungen zu sein; andererseits geht es in der Arena um ihre Angelegenheiten, die in fremden Händen liegen. Auch in der Politik gibt es im Sinne von 390

Erich Kästner nichts Gutes, außer man tut es, für das Wahlvolk eben- so wie für den politisch aktiven Personenkreis mit Mandat, wenn schon nicht für die Funktionäre.

Vom modernen Beruf der Eliten

Die Chance, Schamlosigkeiten abzuwehren, liegt in der Furcht vor der

Ächtung, die nach einem Skandal droht, denn der Ruin folgt der An- klage, keineswegs der Verfehlung. Im pragmatischen Alltag des Wes- tens war dieser Zusammenhang immer gegenwärtig. Im Sinne von

‚Das Anrüchige ist die Normalität‘ unterstellte man die Skandalträch- tigkeit nicht nur aller Politik, denn „hinter dem Traum von einem Ge- meinwesen ohne Korruption steht entweder ein utopisches Staats- o- der ein utopisches Menschenbild“1148. Gerade die geringeren Anfor- derungen an die Tugenden als Einsicht in die Dialektik von Frevel und

Gesellschaft erlaubten es, sich des Skandals als eines Impulses für

Innovationen zu bedienen. Er besitzt zumeist genügend Schwung, um gesetzgeberische Energien loszutreten und so das ‚freie Spiel’ der politischen Kräfte in Gang zu halten.1149 Aber ändert sich auch et- was? Nun, die Öffentlichkeit kann sich im Sinne von T. D. Weldon1150

1148 Paul Noack: Korruption – die andere Seite der Macht, München: Kind- ler 1985, S. 181. 1149 Im Falle des Flickskandals führte er immerhin zu Reformen, erhöhte die Sensibilität der Bürger für das politische System und stärkte die Rol- lenchancen der Medien als „vierte Staatsgewalt“, wie Robert von Mohl (System der Präventiv-Justiz oder Rechts-Polizei, Tübingen: Laupp 1834, S. 185) die Presse getauft hatte. Sie vermochte, die Politiker frei nach Ehrlich währt am längsten vorübergehend Mores zu lehren. Auf die Einhal- tung allgemeinverbindlicher Richtlinien kann in der Moderne offenbar nur die veröffentlichte Meinung einigen Einfluß nehmen, wenn auch vertreten von Medien, durch deren Filter allein Informationen in die Umwelt der all- gemeinen Wahrnehmung gelangen. 1150 „Einen Dogmatismus politischer und daher moralischer Theorien ... sollte man vermeiden“, States and Morals. A Study about Political Con- flicts, London: Murray 1962, S. 300. 391

nüchterner mit dem Verhältnis zwischen Politik und Regeltreue ausei- nandersetzen. Dass schließt den Abgleich von materiellen (Kosten) und immateriellen (Anerkennung etc.) Investitionen der/in die ElitenD und ihren Lenkungsleistungen ein. Die Skandal-Notwehr der Demokra- tie1151 steckt allerdings in einem Dilemma. Als Belebung des Parla- mentarismus können Skandale diesen zugleich gefährden, wenn sie

Rückzugsverhalten fördern. Ein erstrebenswertes Ergebnis wäre dem- gegenüber die Enttäuschungsfestigkeit der Bürger, die solche Ärger- nisse mit politischer Beteiligung beantworten: Quasi als Anerkennung des öffentlichen Dauerdilemmas, das die heikle Gegenwart erträglich- keitsrational, wenn überhaupt, nur in gemeinsamer Anstrengung und eben nicht exklusivistisch zu meistern ist.

Ihre Berechtigung und damit auch die Maßstäbe, mit denen ihr Amts- vollzug zu beurteilen sind, gewinnen zeitgenössische Eliten einzig aus ihrer öffentlichen Unentbehrlichkeit, nicht aus diskreter Willens- bildung. Ebenso apodiktisch wie zutreffend heißt es im Artikel 1 der

Pariser Revolutionsverfassung vom 3. September 17911152, die an der

Wiege aller neuzeitlichen Staatsgrundsätze steht: „Soziale Abstände können sich einzig auf ihre öffentliche Nützlichkeit stützen“. Gesell- schaftliche Höhenunterschiede folgen in diesem Verständnis einer dy- namischen, wenngleich - wie die Verteilungsgeschichte erweisen soll- te - am Ende trügerischen Sozial-Proxemik, nicht aber mehr Eigenan- sprüchen auf den Abstand des Erlauchten. Solchermaßen lassen sich die Elite-Anforderungen im Medium der Politik eingrenzen. Gemeint sind nicht Honoratioren, Experten oder Hochleistungen des Spezialis- tentums, die Rede ist auch nicht von ins Auge stechenden Stars der

1151 Es sei denn wie im Fall des belgischen Korruptionsbrauchtum erweisen sich die mafiosen Parteien infolge einer perversen Wahlpflicht durabler als das sie alimentierende Gemeinwesen, vgl. Dirk Schümer: Die Selbstauflö- sung des Staates, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. 2. 2000, S. II. 1152 Les constitutions et les principales lois politiques de la France depuis 1789, Hrsg. Léon Duguit u.a. (Anm. 198), S. 1. 392

Medienkultur. Gedacht ist seit der Industrialisierung an ein Führungs- personal, das nicht nur intellektuellen, sondern auch charakterlichen

Anforderungen im Leitungs-Stress einer hochmotorischen Produkti- onsgesellschaft unter Gewinndruck gewachsen ist. Um von jener

„Schaffensenergie“ (Jouvenel) nicht zu reden, die das Ethos der Rep- räsentation zugleich einer sozietären Rechnungslegung unterzieht, welche erst erweisen muss, ob die Elite verdient, was sie an materiel- len wie ideellen Zuwendungen erhält. „Was ist einleuchtender“, fragte schon 1818 mit Friedrich Leopold Stolberg1153 ein führender Intellek- tueller und Politiker seiner Zeit, „als daß das Große der bürgerlichen

Gesellschaft darin besteht, daß durch sie der rohe Volkswille dem

Willen der Wenigen untergeordnet werde, deren idealische, aber durch weise Gesetze genau bestimmte und balancirte Macht der phy- sischen Gewalt des Volkes Obstand halte.“ Führung, der Auftrag der

ElitenF , besteht folglich in der Kunst, Leistungen zu ermöglichen, nicht wie früher in der Erwartung irgendwelcher Sonderverfügung über

Autorität1154, die sich auf Herkommen stützte oder durch Panikanfälle mit Blick auf den Bauch der Gesellschaft begründet wurde. Die Risi- kolast des Leitens werde durch das „Recht zu befehlen und den Stolz, dass einem gehorcht wird“ wettgemacht, bekannte Charles de

Gaulle1155. Der neuzeitliche Kontaktzwang zwischen Bestimmen und

Folgen stellt weder eine dankbare noch eine einfache Aufgabe dar.

Gleichwohl heißt ‚Rückkoppelung’ im Zeitalter individualisierter Mas- sen die Entstehungs- und Rechtfertigungs-Devise aller Eliten. Sie er- möglicht das soziale Zusammenspiel, trotz arbeitsteiliger Zerlegung in Subsysteme, die allerdings keine echten Zwischengewalten wie

1153 Zit. Johannes Janssen: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, 2 Bde., Freiburg: Herder 1877, Band 2, S. 380. 1154 „Constat ex admiratione et metu“, Johannes Althusius: Politica metho- dice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata, Herborn ³1614, S. 507. 1155 Le fil de l’épée (1932/1 1944), Paris: 10/18 1964, S. 83 f. 393

Stände, Verbände oder Klassen mehr bilden. Der elitärenf Bewerkstel- ligung verdanken sich bestenfalls die öffentliche Förderung und Kana- lisation von Motivation als wesentlichem Motor des innergesellschaft- lichen Aufkommens gleichermaßen an

- Kreativität als Schöpfung aus dem Nichts sowie

- Produktivität als Herstellung durch Arbeit.

Wenig schadet der Sozialwelt hingegen so sehr, wie das Auf und Ab der Reiche demonstriert, wie gravierende Eliten-Fehler (Infights, Rea- litätsblockaden, Hysterien, Kontaktverlust, Kooptation, Inkompetenz), die lange Phasen der politischen etc. Stagnation auslösen können.

Führungsgruppen sind demnach ElitenF , wenn ihr Wirken dem Ge- meinwohl als notwendige Metaphysik des Politischen dient, das zugleich ihren Status zuweist, obschon es paradoxerweise durch poli- tische Artikulation raum-zeitlich erst präsent wird. Diesen Zusammen- hang brachte bereits Francisco Suárez1156 der frühen Neuzeit wieder in Erinnerung. Seinerzeit allerdings als Wunschtraum, denn die Hö- henlagen nahmen kaum Rücksicht auf ihre überhaupt nicht oder je- denfalls nicht als ‚gleichwertig’ wahrgenommenen Unterlingen. Ent- sprechend hatten die Epochen es auf dem Nadir allenfalls mit Herr- schaftskreisen zu tun, deren Wirken im wahren Wortsinn unverant- wortlich blieb. Einzig wo Führungsqualitäten - nicht als petitio princi- pii - mit sozial-relevanter Leistung und Gerechtigkeitssinn konvergie- ren, lässt sich emphatisch und funktional von ElitenF sprechen, denen

Glaubwürdigkeit samt Akzeptanz zukommt. Daran mangelt(e) es frei- lich in allen Bereichen und auf allen Etagen der Gesellschaft. Eliten - was sonst, wenngleich nicht länger als „Personen mit Sonderstatus“:

Deren Anspruch ohne Gegenleistung und damit Rechtfertigung gilt der

1156 „Das öffentliche geht dem privaten Wohl voran“, da es von ersterem abhängt, De legibus ac deo legislatore (1613), 1, I, ch. VII, 14. 394

Moderne seit Babeuf1157 auch politisch gerade als unelitär, was der normativen Tradition des Gesellschaftlichen schon immer bewusst war, wie Mencius (§ 515) belegen mag.

Fragt sich nur, ob in diesem Sinn der Bestand an zeitgemäßen Eliten seither gesichert war/ist? Oder überspielt ihre Beschwörung die Ver- legenheit, dass unter Bedingungen der Konkurrenzgesellschaft samt

Verwechslung von Effizienz mit Optimierung und Quantität mit Gü- te/Vortrefflichkeit die üblichen Ausleseprozesse in Dienstleistungspo- litik, Wirtschaft und Verwaltung der Förderung von ElitenF zum Nach- teil gereichen? Heuzutage ist seit längerem eher eine negative Sie- bung zu beobachten. Nicht nur in der Politik triumphiert Beharrungs- vermögen über das Rückgrat, und Speichelleckerei ist in der Wirt- schaft nicht unbekannt, um von Katzbuckelei als Beförderungsprinzip in der Verwaltung zu schweigen. Das Publikum hört viel von Eliten. Es hat aber deren Veranschaulichung selten vor Augen. Wo finden sich also geeignete Spitzenräfte? Kein neues Dilemma übrigens, David

Hume1158 wusste von gleichen Sorgen zu berichten, normal ist eben immer banal. „In den letzten Jahren ist ... von Männern des prakti- schen Lebens so viel von Gemeinsinn, und von Männern der Wissen- schaft so viel Wohlwollen zur Schau getragen worden, wobei ohne

Zweifel so viele falsche Anmaßungen bei ihnen aufgedeckt wurden, dass Männer von Welt, ohne jede böse Absicht, geneigt sind, diesen beiden moralischen Vorzügen eine hartnäckige Ungläubigkeit entge- genzubringen und manchmal sogar ihre Existenz und Wirklichkeit gänzlich zu leugnen“. Was aber dann?

1157 Le manifeste des plébéiens, im Tribun du peuple, Nr 35 vom 30. 11. 1795, Hrsg. Armando Saïtta, Paris: Verlag 10/18 1969, S. 151 ff., S. 152. 1158 Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral [1777], Stuttgart: Reclam 1984, S. 167. 395

10 Mediokratie? „Allzulange haben wir gesagt, die Meinung sei die Königin der Welt (...) In Wirklichkeit ist sie eine unzuverlässige, leicht erregbare und kaprizi- öse Tyrannin, vor der wir uns genau so hüten müssen wie vor anderen Tyranneien.“1159

Auch über die gesellschaftspolitische Rolle der Medien in der Moder- ne ist im Umkreis der Elitefrage zu reden, existiert doch nicht nur

„kein Einfluss ohne Kommunikation“, wie Herbert A. Simon1160 notiert hat; allgemein lässt sich Institutionalisierung schwerlich „ohne Media- lität“ begründen oder gar aufrecht erhalten.1161 Es geht in diesem

Kontext allerdings nicht darum, ihren eigenen Aufmerksamkeitsregeln zu folgen, die wie manisch „um sich selbst kreisen“ (Franck). Eher spielt jene unwillkürliche „Tyrannei der Medien“ über die Moderne ei- ne Rolle, von der Ignacio Ramonet1162 spricht, wobei deren ‚willkürli- che‘ Varianten nicht außer Acht zu lassen wären, wie der Maxwell-

Fall demonstriert1163. Jede politische Formation verfügt(e) über ein

Netzwerk zur - meist elitären - Bedürfnisübermittlung. Es beruht auf einer Kommunikationsstruktur, „deren Elemente mit unterschiedlichen

Machtpotentialen versehen sind und durch die Bedürfnisse akkumu- liert, interpretiert und dann von einem Mitglied oder Subsystem zu ei- nem anderen weitergegeben werden“1164. Heute nimmt vor allem das visuelle Medium mit seiner konstruierten Wirklichkeit im Rahmen ei- ner durch Kommunikationsprozesse unterhaltenen Umwelt eine weit

über solche eher ordinäre Funktionalität hinaus weisende Rolle wahr.

Die Epoche fühlt sich in seiner Ausstrahlung und Daueranwesenheit

1159 Jean-Charles Simonde de Sismondi: Études sur les constitutions des peuples libres, Paris: Brüssel: Dumont 1836, S. 204. 1160 Models of Man, New York: Wiley 1957, S. 7. 1161 Manfred Faßler: Was ist Kommunikation?, München: Fink 1997, hier S. 107. 1162 La tyrannie de la communication, Paris: Galilée 1999. 1163 Dazu Peter Jenkins: The Conspiracy of silence that protected Maxwell, Independent vom 5. 12. 1991, S. 19. 1164 David Easton: A Systems Analysis of Political Life, New York: Wiley 1965, S. 118. 396

offenbar vergegenwärtigt, so dass über Halo-Effekte wiederum Gel- tung und Gewicht der Medienmacher unabwägbar werden. Ihre Akteu- re verteilen nicht nur Elitechancen1165, sie erringen zunehmend selbst

ElitenD -Status.1166 Personalisierte Verbildlichungen entsprechen dem

Bedürfnis nach symbolischer (Selbst)Repräsentation öffentlicher

Räume, den früher Pomp und Pracht von Herrschafts- oder Sinneliten wahrnahm. Wahlkämpfe etwa mausern sich seit längerem zu „Prunkin- szenierungen“ (Langenbucher) politischer, zunehmend allerdings nur noch inszenierter Kommunikation als Ausstrahlungspflege der jeweils zur Wahl etc. stehenden Matadore. Im Sinne solcher Suche nach I- dentifikation mit jenen „anchormen of public trust“ (Cronkite) als Poli- tikersatz scheinen mit Lessing1167 gesprochen keineswegs alle frei zu sein, „die ihrer Ketten spotten“. Die Spätmoderne wirkt trotz aller hochgemuten Individualisierung in Wahrheit wie von jener „einsamen

Masse“ (Riesman) besiedelt, die Gesichter, Massenmeinung oder

Blendwerke benötigt, eben Infotainment als Dauer-Ablenkung1168, um

Sinn, Lebensfreude und Stimulierung zu erhalten, nicht zuletzt auch in der ‚politischen‘ Arena.

1165 Kein Medium ‚tut‘ von sich aus irgendetwas, selbst wenn es mit Blick auf politische Durchsetzungschancen fraglos Visualität (Flair, Entspann- heit, Charme etc.) gegenüber anderen Qualitäten (Wissen, Anstand ff.) be- günstigt, vgl. schon Kurt Gayer: Wie man Minister macht. Politik und Wer- bung, München: Goldmann 1965. 1166 Vgl. das Ranking jener „top twenty der Web-Society“ (Cyber-Elite, Der Spiegel Nr. 11 (1999), S. 138 – 146), die als „Giganten der Kommunikati- onsindustrie“ weltweit „Medienleute, Manager und Machthaber ins dritte Jahrtausend führen“. Zum Einfluss-Ranking der hiesigen Medienmacher vgl.: Die Top 99 der deutschen Medien, TV Today Nr 1 (1999), S. 10 – 15. 1167 Nathan der Weise (1779), I, V, 4. 1168 In deren Unterhaltungswelten laut Alfred Schütz inzwischen wesentlich die „Konstruktion von Wirklichkeit“ stattfindet, die sich solchermaßen weit von herkömmlichen Kommunikations- und Austauschformen entfernt, die alle an - wiewohl asymmetrische -, gleichwohl aber gesellschafts- funktionale Interessen gebunden gewesen waren: Während die Medien ge- genwärtig nicht primär ihrer Ware (Information/Spannung, Erholung etc.) und damit dem Verbraucher oder gar der Kommunikation verpflichtet sind, sondern Rendite-Erwartungen zu erfüllen haben, damit aber intern hochse- lektiven, wenn nicht gar zensuralen Kriterien (vgl. http://www.sonoma. edu/Project Censored/) unterliegen. 397

Gegenseitigkeit

Erst schlug der Politiker zu, dann zahlten es ihm die Journalisten heim. Der saarländische Ministerpräsident rügte den Umgang der Me- dien mit der verbreiteten Parteienverdrossenheit. Sie „machen Stim- mung und schüren Verdruß“, so Oskar Lafontaine1169, der Parallelen zur Nazi-Presse zog. Wenig später stand der SPD-Politiker am Pran- ger, die Rotlicht-Affäre um Kontakte zur saarbrückener Unterwelt ei- nes Hugo Lacour war in aller Munde. Verärgert setzte der sozialde- mokratische Pressestar von einst nach. Im Tenor des Politikerjargons, der um so gereizter ausfällt, je deutlicher die Unzufriedenheit mit der politischen Klasse zu spüren ist, sprach er von „Schweine-

Journalismus“.1170 Die Achtung der Bevölkerung vor den Journalisten ist allerdings kaum größer als ihre Wertschätzung der Parlamentarier, obschon die Medien insgesamt in der Illusionsmoderne mit Blick auf die Funktion des Meinungs- und Modesetting längst die Rolle der ‚Hö- fe’ übernommen haben. Jeder Schlagabtausch zwischen politischen

Akteuren und Berichterstattern begünstigt jedenfalls vorübergehend die Distanz zu beiden Einflussgrößen, indem der mehrstufige Selekti- onsprozess von Kommunikation ansichtig wird.1171 Politik steht in der allgemeinen Wahrnehmung schlecht da, Affären, gebrochene Wahlver- sprechen, Suboptimalitäten der Parteigarde nehmen kein Ende, nicht

1169 Zit. Westfälische Nachrichten vom 14.10.1992. Rudolf Augstein: Schreibende Schweine, Der Spiegel Nr. 14 (1993), S. 32. Die im Saarland durchgesetzte „Lex Lafontaine“ (1994) über die Positionierung von Gegen- darstellungen wurde im März 2000 vom Landtag wieder außer Kraft ge- setzt. 1170 Vgl. Marlis Ebner: Schlägerei unter Komplizen, Woche vom 25. 2. 1993, S. 7. 1171 So dass die grundlegende ‚Vermittlung‘ als zu interpretierende Inter- pretation fallweise den zunehmenden Unmittelbarkeitszwang von Informati- on zu durchbrechen vermag. 398

nur hierzulande. Doch auch die Medien haben Probleme mit dem Zeit- geist1172, zumindest die veröffentlichte Meinung liegt mit dem Volks- mund häufig über Kreuz. Um von kulturkritischer Mediensprödigkeit gegenüber einer unaufhaltsamen Schrumpfung der via gesteuerter

Pseudokommunikation laufenden Selbstverständigung der Gesell- schaft mit/über sich selbst zum reinen Wirtschaftsgut zu schweigen.

Wobei wiederum die anstehende Video- oder Telekratie als „empo- werment of the people“1173 in einer angeblich zugehörigkeits- und ort- losen Gesellschaftlichkeit ausgegeben zu werden pflegt, die nur mehr einen sich gleichsam selbstartikulierenden Machtnebel kenne, aber keine Herrschaft mehr. Man konsumiert die elektronischen Angebote, mit wachsender Selbstverständlichkeit; etwas von der Botschaft bleibt allerdings am Boten hängen, nicht nur im Zusammenhang mit politi- schen Unappetitlichkeiten.1174 Der Trifftigkeitsverlust einer Berichter- stattung beziehungsweise Meinungspflege, die dem Konkurrenzdruck anheimfällt, ist nicht minder dramatisch als der Vertrauensschwund in die Politik, ohne dass dadurch allerdings jenes allfällige ‚Tina-

Prinzip‘ (There is no alternative!) außer Kraft gesetzt würde, vom dem

Pierre Bourdieu gesprochen hat. Unter solchen Umständen erscheint es als Zumutung, dass die öffentliche Meinung selbst ein „Medienpro- dukt“ darstellt, wie schon Max Weber1175 oder Spengler („geistige Ar-

1172 Laut ‚Emnid’ (vgl. Westfälische Nachrichten vom 31. 12. 1994, S. 1) genießen Ärzte/Hausfrau höchstes Ansehen. Journalisten finden sich in der Mitte, Postbeamte am Ende. Über Journalisten rangieren: Handwerker, Richter, Lehrer, Polizisten, Ingenieure, Landwirte, Architekten, Rechtsan- wälte. Am Schluss finden sich Versicherungsvertreter, Offiziere, Werbe- fachleute, Politiker, Meinungsforscher. 73 % halten die Berichterstattung der Medien für „eher bis sehr glaubwürdig“. 1173 So Mark Woessner: Medientechnologien und wirtschaftliche Entwick- lung, Internationale Politik 8 (1998), S. 1 ff., hier S. 4. 1174 Vgl. die Ergebnisse (Alarmismus, Negativismus etc.) des TV- Monitoring bei Ingrid Hamm (Hrsg.): Bericht zur Lage des Fernsehens für den Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Gütersloh: Bertelsmann 1995. 1175 Vorbericht über eine vorgeschlagene Erhebung über die Soziologie des Zeitungswesens - Als Manuskript gedruckt, in: Tönnies-Nachlaß in der 399

tillerie“)1176 erkannten. Ansehens-Konjunkturen der Medien haben noch andere Gründe, so das Überhandnehmen der Erlebnisvermittlung statt Aufklärung und Benachrichtigung, wovon früher einmal die Rede war.1177 Oder die publizistisch herausgeputzte Oberflächlichkeit1178, die Alexis de Tocqueville bereits als Tendenz zur Massenkultur be- schrieb. Sie beruhe mehr auf Erfindung als auf Tiefe und errege stär- ker Erstaunen als Gefallen. Zudem sind ‚Medienunfälle’ in Rechnung zu stellen, mit denen sich Aufsichtsinstanzen wie ‚Landesmedienan- stalten’1179 oder ‚Presserat’1180 etc. befassen. Sie resultieren aus der

Fixierung auf den Alltag der Zelebritäten. Deren Privatleben wird nach allen Regeln der Kunst vermarktet und wegen der Auflage durch die

Unterstellungsmühle gedreht, Wahrhaftigkeit hin oder her. Hinzu kommen Voreingenommenheiten gegen eine Realität, die im „opti- schen Zeitalter“ (Karl Pawek) erst medial erschaffen werden muss, um

Ärger zu erregen. Dazu zählen auch jene Scharmützel zwischen Poli- tik und Medien, die wie im seinerzeitigen Lafontaine-Fall in Rede und

Widerrede kräftig personalisieren. Bessere Kontakte zur bebildernden

Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek Kiel/Nr. Cb 54.61: 1.2.08.; 7 Seiten, hier S. 5. 1176 Untergang des Abendlandes (Anm. 1119), S. 1138/1139. 1177 Nach Harald D. Lasswell (The Structure and Function of Communicati- on in Society, in: Wilbur Schramm (Hrsg.): Mass Communication, Urbana: Illinois UP 1969, S. 103) übernahmen Massenmedien mehrere Funktionen: Kontrolle und Beobachtung der Ereignisse; ihre Interpretation und Soziali- sierung der Personen in ihrer kulturellen Umgebung. Die Kommunikations- forscherin Doris Graber fügte das Nachdenken über Manipulationen in der Politik und deren Kommentierung hinzu. 1178 Die Walter Schulz (Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter, Pfullingen: Neske 1992) als zentrales Kulturrisiko der Zukunft versteht. 1179 Die sich allerdings laut ARD-Vorsitzendem Peter Voss „vor der geball- ten Macht der großen Medienkonzerne als Papiertiger erweisen“, zit. West- fälische Nachrichten vom 17. 3. 2000, o.S. 1180 Oder in Engand die ‚Press Complaints Commission’, vgl. etwa Deut- scher Presserat zieht Jahresbilanz, in: Das Parlament vom 28.8.1992, S. 20; Complaints body has led to newspaper shake-up, Independent vom 16.11.1992, S. 7; Newspapers must step with care, Guardian vom 13. 11. 1999, S. 9. 400

oder berichtenden Zunft, gab Walter Momper1181 zu bedenken, würden es der Politik vielleicht erschweren, „abzuheben und den Bodenkon- takt zu verlieren“. Das bleibt mit Blick auf den sich ergänzenden Auf- merksamkeitsbedarf der Politik und Ereignishunger der Berichterstat- tung mehr als fraglich.1182 Alle Parteien dachten über Eingriffe in

Rechte der Programmgestaltung auch der jeweils hofierten Privatsen- der nach. Der Missmut über die „Medien-Müll-Spirale“1183 betrifft nicht nur den Schutz der Intimsphäre oder jenes „Reality-TV“, das als

Voyeurismus mit dem Anspruch der Wirklichkeitsnähe alles ver- ramscht, was Gänsehaut hervorruft. Solcher „Teleterror“ (Die Woche) ruft verbraucherschützende Medienheilkunde auf den Plan. Die ARD setzte Anfang der 1990er Jahre1184 auf Selbstkontrolle und lehnte

Eingriffe als Zensur ab.1185 Aber Klagen über ein „verzerrtes Frei- heitsverständnis“1186 des „Anbrüll-Journalismus“ (CDU-Staatssekretär

Neumann) verhallten. Vor allem im Bereich der Privatsender samt

Spitzenkräften steht der Nachweis einer Allgemeinwohl-bezogenen, sprich elitärenf Medienkompetenz aus, weil Rücksichtnahme den öko-

1181 Zit. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Mai 1989, S. 5; auch Ulrich Lohmar: Die Medien und die politische Kultur, Das Parlament vom 15. 12. 1989, S. 13. 1182 Vgl. Kurt Lenk: Außerhalb der Medien ist kein Heil. Hat die Parteien- demokratie noch eine Zukunft?, Die neue Gesellschaft Nr. 7/8 (2000), S. 402 ff. 1183 So der zuständige Sprecher der CDU/CSU-Fraktion Blank, zit. Frank- furter Allgemeine Zeitung vom 23. 3. 1993, S. 5. 1184 Auf einer Hauptversammlung in Baden-Baden: Programmgrundsätze zur Gewalt, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.3.1993, S. 34. 1185 Was in dieser Hinsicht seither von den zuständigen Magazinen etwa bei den Sendern ‚Premiere’, ‚Vox’ oder dem WDR angeboten wird, lässt nicht allzuviel Selbstkritik erkennen und fällt unter die Rubrik der „Schleichwerbung“. Wenngleich eine Aktion sauberer Bildschirm nicht zu erwarten war, wären im Interesse der Unabhängigkeit der Medien mehr Ei- genvorbehalte nötig statt nett verpackter Unverbindlichkeiten. 1186 So der Vorsitzende der CDU-Grundsatzprogramm-Kommission, der Parlamentarische Staatssekretär Göhner, zit. Westfälische Nachrichten vom 22.12.1992. 401

nomischen Zielen widerspricht, unter denen sie angetreten sind1187, wie die wachsenden Symbolmarkt-Imperien nicht nur von Leo Kirch oder Rupert Murdoch erweisen.

Nicht zuletzt mit Blick auf die Zunahme der innergesellschaftlichen

Verrohung haben die Ministerpräsidenten der Länder am 25. März

1993 erstmals über Gewalt und Sex im Fernsehen beraten - und damit

über die fragwürdige Elite-Leistung miteinander um Einfluss und An- sehen wetteifernder Medien-Mogule. Die rechtspolitischen Sprecher der Bundestagsfraktionen verlangten eine striktere Einhaltung der be- stehenden Regelungsmöglichkeiten (Gesetze zum Jugendschutz;

Rundfunkstaatsverträge). Ist die Medienhoheit sozial- wie mentalitäts-

ökologisch zeitgemäß?1188 Die Aufregung wirkt unseriös, weil es sich um einen eher virtuellen Schaukampf zwischen Politik und Medien handelt. Zum einen scheint unglaubwürdig, dass gerade jene Kräfte, die eine Kommerzialisierung der Medien gewünscht haben und die

Einrichtung weiterer Privatsender fördern, dieser Entwicklung durch

Beeinträchtigung des Gewinnmotivs das Wasser abgraben.1189 Zum

1187 Die „freiwillige Selbstkontrolle“ will nicht besonders gut funktionieren. Außenkritik drängt auf medienpolitische Kurskorrekturen, wobei öffentliche Vorhaltungen vor allem auf das Ausmaß an Gewalt zielen, die besonders im Fernsehen die Szene beherrscht. Wenngleich sich die Wirkungsfor- schung nicht über die Langzeitfolgen des visuellen Gemeinheitenkonsums einig werden kann, ist die mediale Aggressionspräsenz (vgl. Jo Groebel/Uli Gleich: Gewaltprofil des deutschen Fernsehprogramms. Eine Analyse des Angebots privater und öffentlich-rechtlicher Sender, Opladen: Leske + Budrich 1993) erschreckend: Können die fünfhundert Mordszenen, die all- wöchentlich über den Bildschirm flimmern, ohne psychische Folgen blei- ben? Wie prägen sie sich den jugendlichen Konsumenten ein? Wo viele Grundschüler inzwischen mehr Zeit vor dem Fernseher verbringen als im Unterricht. Vgl. Uwe Sander/Dorothee M. Meister: Medien und Anomie, in Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Was treibt die Gesellschaft auseinander?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 196 ff., hier S. 200 ff. 1188 Die Politik hätte die Möglichkeit, im Feld der Medien überwachend ak- tiv zu werden, zu denken ist an Artikel 75 GG, der „die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse und des Films“ zur Rahmengesetzgebung des Bundes zählt. 1189 Unter dem Diktat der Einschaltquoten, mithin der Abhängigkeit von Werbeeinnahmen, folgt die Programmgestaltung der Nachfrage. Was tut der „mündige Bürger“? Er schätzt ersichtlich das Unterhaltsame und Pikan- te mehr als alle Unterrichtung, Belehrung beziehungsweise als den noch so 402

anderen besteht eine unübersehbare Abhängigkeit zwischen Politik und Medien1190, seit mit der Visualisierung der Politik, beginnend

1948 in den USA auf den Parteitreffen von Demokraten und Republi- kaner, die Anwesenheit der Kameras den Fokus des öffentlichen Inte- resses mehr auf personale Aspekte der Politikprozesse lenkte als auf inhaltliche Kriterien des Wahlvorganges selbst.1191 Sämtliche Partei- en/Politiker beschimpfen den leidigen Verlautbarungsjournalis- mus1192; allein immer den, der einen nicht beachtet oder gegen die eigene Sache auftritt. Wiederum profitieren die Medien als neueste

Zelebritäten-Riege nicht schlecht vom visuellen Mummenschanz1193 der heutigen Machtausübung qua Imagepflege: The noise is the news.

Die telekratische Überformung der Politik ersetzt Verantwortlichkeit durch Öffentlichkeitspräsenz. „Meinungsäußerungen regieren die

Welt“, hatte schon Anatole France1194 vermutet. Inszenierten Eliten hingegen geht es weniger um Zustimmungssuche im Sinne einer Pfle- ge der öffentlichen Meinung als gemeinsame „Fähigkeit, ... über den

Zustand und Begriff des Staates und dessen Angelegenheiten ... ver- nünftiger zu urteilen“1195, wozu allemal Kommunikation als - wenn-

gediegenen Überblicks- oder tiefschürfenden Investigativjournalismus. Dessen Leistungen behalten ihr Publikum, sicherlich, nicht zuletzt die Mei- nungsführer der Gesellschaft; mit diesem begrenzten Adressatenkreis lässt sich vielleicht Staat machen, aber kein Geschäft in den Massenmedien. 1190 Vgl. Manfred Zach: Die manipulierte Öffentlichkeit. Politik und Medien im Beziehungsdickicht, Asendorf: Mut 1995, S. 9 ff. 1191 Rolle und Wirkung medialer Einmischung beziehungsweise einer In- strumentalisierung der Verbildichung bringt zuerst Theodore H. White (The Making of a President, New York: Atheneum 1960) auf einen zeitgemäßen Problembegriff. 1192 Beziehungsweise dessen inquisitive Spielart politischer Streit- Interviews, wie sie von Larry King in den USA beziehungsweise Jeremy Paxman oder Sir Robin Day in England praktiziert wird/wurde. 1193 Zu dem laut Thomas Meyer die Politik als „Inszenierung des Scheins“ (Anm. 993) augenfällig mehr und mehr gerät. 1194 Trente ans de vie sociale, Band 1 (1897 - 1904), Hrsg. Claude Aveli- ne, Paris: Émile-Paul 1949, S. 87. 1195 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 315, (Anm. 2), Band 7, S. 482. 403

gleich - metasoziale Interaktion unerlässlich wäre. Es handelt sich vielmehr um lauter Rückkoppelungsschleifen in den Wort- oder Bild- welten.1196 Und Meinungsbildung weicht geistigem Faustrecht in Form von Werbung, Politik-Marketing oder PR-Arbeit.1197. Frei nach „Sein heißt Erscheinen“1198 lautet die Überlebensregel der Eliten, ununter- brochen wahrgenommen zu werden, nur Medienpräsenz als Aufmacher im Virtuellen sichert Geltung.

Medien und - nicht nur - politische Eliten sind seit längerem durch dick und dünn aufeinander verwiesen, wenngleich in beiden Teilsys- temen unterschiedliche Währungen gelten, hier ‚Rezeption’ (Ein- schaltquoten), dort „Macht’ (Durchsetzungsfähigkeit); über die Esels- brücke der Show verschwimmen diese Differenzen zunehmend. Ohne- dies bewegen sich die Akteure beider Lager - ebenso übrigens wie die vielen Deuter der Kommunikationssphären - in Scheinwelten, die täg- lich gepflegt werden müssen. Frei nach jener durch Arnold Gehlen vermerkten Dialektik zwischen Begehren und Entbehren, oder war es umgekehrt? Ihnen geht es insofern kaum anders als Herr und Frau

Jedermann, die ihre ‚Lebenswelt’ ohne „Wahrheit“ und folglich in ei- ner Art symbolischer Trance durchleben.1199 Aber es ist doch etwas anderes, ob Eliten mehr oder weniger professionell die Regie einer politisch-medialen Wirklichkeit führen oder ob dieses Spektakel in den Rängen zu konsumieren ist. „Massenmedien sind von Besitzen-

1196 Andreas Dörner: Politik im Unterhaltungsformat, Aus Politik und Zeit- geschichte Nr. 41 (1999), S. 17 ff. 1197 Zur Verpackungskunst jedweder message vgl. Karsten Bredemeier: Medienpower. Erfolgreiche Kontakte mit Presse, Funk und Fernsehen, Zü- rich: Orell Füssli 1991. 1198 Derart hat der englische Philosoph George Berkeley, geboren 1685, die Wechselwirkung von Sein und Design vorhergesagt (Essay Towards a New Theory of Vision [1709], CV ff.), lange bevor die Moderne als Selbst- schöpfung durch Kommunikation aus der Taufe gehoben wurde. 1199 So jedenfalls hat der Josef Mitterer (Das Jenseits der Philosophie, Wien: Passagen 1992) das nachtheologische Dilemma aller Erkenntnis aufgeschlüsselt. 404

den, Unternehmern und Managerklassen beherrscht“, betont Gerhard

Lenski1200, „sie gestatten zwar ein gewisses Quantum an Kritik, im großen und ganzen unterstützen diese Institutionen das System.“ Vor diesem Hintergrund, ausgeblendet in einer Wirklichkeit als Kreation, erscheinen Mediendebatten politisch trivial, solange sie

- weder die Ersetzung von Erfahrung und Primärwissen durch mode- rierte Bilderwelten

- noch die durch Medienschöpfung entstandenen Elitestrukturen, die sich als Augenweide, mithin visualisiert, traditionellen Bewertungs- grundlagen (Legitimität, Effizienz etc.) zu entziehen drohen, sachgerecht thematisieren.

Die Verdrängung der Erfahrung, Beobachtung, Entdeckung etc. als

„personales Wissen“ (Michael Polanyi) durch Information1201 ist irre- versibel, seit dieses selbst nicht mehr auf primärer Kommunikation beruht; die Technologisierung der Kenntnis unterliegt zudem einem

Dauerinnovations-Druck, man denke einzig an Herausforderungen durch die neue Ökonomie der Präsenz, wie sie die gegenwärtige Kar- riere des Internets als Marktplatz und Kaufhaus Babels begleitet.

Grundsatzdebatten über Aussichten oder Risiken einer Welt als Bil- derreigen beziehungsweise über die Verwandlung von Politik in Sym- pathiewerbung können das Interesse der Vollprofis kaum gewinnen. In diesem Problemkontext gar über ihre eigene Inthronisation zu reflek- tieren, sei es als

➮ Eliten-Förderer (Aufmerksamkeitsverteilung ff.) oder

➮ Epochen-Elite (Mogule, Magnaten, Stars etc.), wird tunlichst vermieden. Und das, obschon die Medien als Instrumen- te der Meinungsbildung - war schon 1961 aus Karlsruhe zu vernehmen

1200 Macht und Privileg (Anm. 151), S. 555. 1201 Die unabhängig vom Nutzenzweck gleich anderen immateriellen Gütern wie Liebe etc. die Eigenschaft besitzt, sich durch (Ver)Teilung/Teilhabe nicht zu schmälern, sondern steigern. 405

- „weder dem Staat noch einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert werden“ dürften. Pierre Bourdieu1202 spricht von den neuen „Herren der Welt“, und an die Manager der Bildschirme mit ihrer Augenware richtet er die Frage: „Habt ihr überhaupt eine Ahnung davon, was ihr tut?“ Das aber ist mit Blick auf die Motiv-Divergenzen, die Dieter

Stolte1203 als einer ihrer hochrangigen Funktionsträger aufgezeigt hat, eine Kernfrage an die Nachkömmlinge im gesellschaftlichen

Machthaushalt, deren Verortung/Bestimmung sich bestehenden Kon- trollmöglichkeiten entzieht. Den ZDF-Intendanten am Mainzer Ler- chenberg beschäftigen nicht zuletzt die Reibeflächen von Politik und

Medien.1204 Fernsehen ist „kein Gut wie Brot oder Seife“ (a.a.O., S.

12), verteidigt der Chef von über viertausend Festangestellten sein

Medium als plurales Kommunikationsforum. Für die öffentlich- rechtlichen Anstalten mit ihrer Pflicht zur „Grundversorgung“ sind schlechte Zeiten angebrochen. Was sich laut Vorsitzendem des

„Deutschen Journalisten-Verbandes“1205 bei den Printmedien als dra- matischer Schwund der Pressevielfalt zeigt, sieht Stolte im Rahmen eines Verdrängungswettbewerbs als TV-Meinungsmonopole bevorste-

1202 Intervention de Pierre Bourdieu, in: Libération vom 13. 10. 1999, S. 36 f. 1203 Fernsehen am Wendepunkt?, München: Bertelsmann 1992. 1204 Durch Etablierung einer „dualen Rundfunkordnung“ vollziehe sich in der Medienlandschaft „der größte Strukturwandel“ (S. 9) nach der Einfüh- rung des Radios im Jahr 1923. Bei dieser internen Medienrevolution geht es vor allem um den Wettbewerb zwischen öffentlichen und privaten Pro- grammgestaltern; damit aber um Rückwirkungen auf die Verfassung der freiheitlichen Gesellschaft. „Die Logik der Kultur und die Logik des Kom- merzes sind zwei völlig verschiedene Dinge“ (S. 92). Da Fernsehen mehr darstellt als „ein Wirtschaftsgut“ (S. 11), gilt es eine offene Medienland- schaft zu erhalten, die der „Aufbruch in die Konkurrenz“ (S. 12) gefährdet: Etwa durch Wettbewerbsverdrängung als Folge der öffentlich-rechtlichen Werbesperre, trotz der zwischen 1961 und 1991 ergangenen sechs Pro- Urteile des Bundesverfassungsgerichtes. 1205 Hermann Meyn, bis 1999 Chef der größten Journalisten-Gewerkschaft, zit. Frankfurter Rundschau vom 6. 11. 1991, S. 4. 406

hen.1206 Auch die von Privatsendern betriebene „Segmentierung“ des

Programmservice ist riskant, soll die Senderwahl-Vielfalt erhalten bleiben. Könnte die „Herausbildung von Teilöffentlichkeiten unter- schiedlich informierter und gebildeter Menschen“ nicht endgültig das

„solidarische Verhalten untereinander destabilisieren“ (S. 49)? Der verstärkte „Unterhaltungsslalom“ fördere außerdem Desintegrations- erscheinungen, was den „Abbau demokratischer Kultur“ begünstigt.

Vorbehalte gegen eine Durchkapitalisierung ohne Wenn und Aber et- wa des telegenen Informationssystems liegen gesellschafts-politisch auf der Hand. Sie schöpfen ihre kritische Energie aus einem ge- schichtlich ebenso versierten wie liberalen Verständnis von Kommuni- kation als Lebenselixier einer florierenden Moderne, der es allerdings noch nicht um Mediokratie ging, sondern um Kritik der Eliten.

1206 Die Neigung privatorganisierter Marktbeherrschungs-Mechanismen zu Medienverbundsystemen gefährde die Zukunft einer alternativ-freudigen Programmvielfalt. Der Gedanke sei passé, „daß Fernsehen eine Wundertü- te ist“, meinte Marc Conrad (TV-Krieg, in: Stern Nr. 11 (1993), S. 86 ff, hier S. 92) als Programmdirektor von RTL. „Heute werden klare Segmente bedient. Wir haben unser Segment als Vollprogramm für die 18- bis 49jährigen“. 407

Medien-Karriere

Das Ethos der Neuzeit heißt Aktualität, was dazu geführt hat, den

Mediensektor in einen „derart beeindruckenden Machtfaktor“ zu ver- wandeln.1207 Die Frühmoderne hielt die Medien für die demokratischs- ten aller demokratischen Einrichtungen, weil sie eine mentale Prä- sens der Gesellschaft schufen, die lebendiger, aktueller, wahrer und vor allem spannender zu sein schien als deren Vergegenwärtigung durch die Meinungsregie der etablierten Regentschaften. Deren sak- raler Charme hatte in einem langwierigen Prozess der Entzauberung seit der Renaissance an Unterhaltungswert eingebüßt. Medien sorgten mit ihren Informationen nicht nur für die zur innergesellschaftlichen

Fortschrittspflege und politischen Aufklärung unerlässlichen Verstän- digungschancen, weil sie die allgemeine Diskussion anregten.1208

Auch Überraschung als Absatzförderung ihrer Botschaften bezie- hungsweise Unterhaltungsware wurde mitgeliefert. Öffentlichkeit er- weist sich mithin als Grundideologie der Epoche. Ideologie nicht et- wa, weil schon Pietro Aretino, Jahrgang 1492, als Vorvater des Jour- nalismus geflissentlich Missbrauch mit der Publizität trieb; oder weil mit Nietzsche1209 gesprochen „öffentliche Meinungen - private Faul- heiten“ sind. Vielmehr war es eine Illusion der Neuzeit, das Gesche- hen und die Nachrichten darüber für identisch zu halten mit Öffent- lichkeit. Tatsächlich liefern die Medien (nur) einen „ersten Entwurf der Geschichtsschreibung“ (Newsweek).1210 Andere Quellen sind in-

1207 Eugène Dubief: Le journalisme, Paris: Hachette 1892, S. 1. 1208 Und „no state can be first-rate which has no government by discussi- on“, wie Bagehot (Anm. 981), S. 311 f. notierte. 1209 Menschliches, Allzumenschliches (Anm. 1092), Band 1, S. 691. 1210 Zudem übernehmen sie zunehmend elitäre Funktionen etwa der Wis- sens- oder Einstellungvermittlung, je nach dem: Bestes Beispiel dafür ist etwa die Karriere von Ophra Winfrey (How Oprah became the most power- ful person in American publishing, The Guardian vom 4. 1. 2000, S. 2 f.), die durch ihre Anpreisung allein in den USA für den Mehrabsatz von 5 Mil- 408

des kaum zugänglich, die Mitwelt hängt von ihrer Dauerinformierung ab1211, wie immer deren Tatsächlichkeitsgrad oder Wissensgehalt zu beurteilen ist. Geschichte sei der Bericht von Dingen, wie sie sich er- eignet haben, die Zeitung das tägliche Gerücht, das davon umlaufe.

Derart kommentierte bereits Théophraste Renaudot1212, Jahrgang

1586, die Tatsache, dass Neuigkeiten „in ihrer Ursprünglichkeit“ je- nen Edelmetallen glichen, die „noch mit Erde untermischt“ geschürft würden. Seit dem 30. Mai 1631 gab er in Form von „fliegenden Blät- tern“ mit der Gazette de France die erste Pariser Zeitung heraus, vier

Seiten in quarto. Sie wollte der Mitwelt politische, literarische oder

lionenen Bücher im Jahr verantwortlich zeichnet, großenteils sentimentale Frauenromane. 1211 Mit allen Schattenseiten dieser Situation, wie Versuche der Medien- manipulation - zu denen die Ereignis-Ignorierung (vgl. Sophie Coignard/Alexandre Wickham: L’ omertà française, Paris: Albin Michel 1999) zählt - als Folge der Berichterstattung über den Vietnamkrieg zei- gen, auf die erst London im Falklandkrieg (1982), dann die USA seit Gre- nada (1983) mit information black-outs antworteten, die Schule machen sollten: ❶ Man schreibt den 13. Januar 1991. An diesem Sonntag versucht Moskau durch den Angriff auf das Fernsehgebäude in Wilna das baltische Freiheitsstreben einzudämmen, ohne jede Rücksicht auf glasnost. Man schneide die Bevölkerung ab von den Möglichkeiten ihrer Selbstverständi- gung, so die Überlegung der sowjetischen Zentrale, und der Aufbruch in die Eigenständigkeit bricht in sich selbst zusammen.❷ Das war eine Über- schätzung der Medienmacht, aber zwei Tage später schließt Washington beim Unternehmen Desert Storm zur Befreiung Kuwaits ebenfalls die Öf- fentlichkeit aus. Die Militärs verhängen eine Zensur, der Krieg gilt als clo- sed subject. Die Amerikaner bekennen sich damit ihrerseits zur medialen Imprägnierung der Weltwahrnehmung. Die Journalisten tappten in Mutma- ßungen (vgl. John R. MacArthur: Die Schlacht der Lügen. Wie die USA den Golfkrieg verkauften, München: DTV 1993), das Zeitgeschehen lief munter weiter, ungerührt durch die Abnabelung von der Öffentlichkeit. Die Welt- meinung wunderte sich, wie ❸ im Herbst 1999 im Krieg gegen Tschetsche- nien, wo Moskau erneut die Medien fernhält: Als direkt Geschädigte reg(t)en sich vor allem die Reporter, Redakteure oder Moderatoren auf, alles folgenlos. Übrigens in den USA selbst, wo die Pressefreiheit als Rechtsgut nicht länger mehrheitsfähig zu sein scheint (vgl. Stephan Ruß- Mohl: Ferngelenkte Medienberichterstattung? Gefährdungen der Presse- freiheit in den USA: in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 51 (1991), S. 23 ff.). Aber die breite Öffentlichkeit ist sich ohnedies weder über ihre Abhängigkeit von der medialen Dauerversorgung im Klaren noch über de- ren fragwürdigen Gehalt oder auch deren Bedeutungslosigkeit für das reale Tagesgeschehen. 1212 Zit. Pierre Gouhot: Théophraste Renaudot ou médicin, philantrope et gazetier, Paris: Pensée universelle 1974, S. 83 ff., hier S. 91. 409

alltagsweltliche „Neuigkeiten mundgerecht“ anbieten, wobei deren Wi- derspiegelung nolens volens Ansichtssache blieb.1213 Schon laut Re- naudot schadet Beliebigkeit des Veröffentlichten keineswegs der Öf- fentlichkeit. Alternativen zur medialen (Re-)Konstruktion von Wirk- lichkeit fehlten ohnehin, seit die Masse der Ereignisse von nieman- dem mehr in Augenschein zu nehmen war, dem Nahbereich der Men- schen die Komplexität ihrer Welt mehr und mehr aus dem Blick geriet und darüber hinaus Erklärungsmuster für alles und jedes fehlten.

Die Medien erst schaffen Realität, aufgrund fragwürdiger Quellen und nach dubiosen Auswahlkriterien, was jenem „niederen Reich der Zei- tungen“ (Sainte-Beuve) von Anfang an mittels Stimmungspflege oder

Meinungsmache erheblichen Einfluss verlieh. Da Direkteres nur zufäl- lig zur Verfügung steht1214, scheint es müßig, den Nachrichtencharak- ter der Epoche zu rügen. Der Kulturpessimismus beschwerte sich von

Oswald Spengler („Jedes Ich wird zur bloßen Funktion eines ungeheu- ren geistigen Etwas“)1215 bis Günther Anders („Die Welt als Phantom und Matrize“)1216 über solche Enteignung der Eindrucksweltlichkeit.

Wege in eine eigenständige Erkundung beziehungsweise kommunika- tive Verarbeitung kann auch er nicht weisen. So wird die Mediende- batte1217 begleitet von der Klage über die „Dominanz sekundärer Sys- teme“ (Freyer). Wirklich bedrohlich wäre die informationelle Ver-

1213 Betroffene eines Unfalls erleben je Verschiedenes, jeder Richter oder Journalist macht frei nach „stories change with each retelling“ (Cronkite: A Reporter’s [Anm. 1137], S. 64) Erfahrungen mit der unterschiedlichen Wahrnehmung derselben Ereignisse etc. durch Zeugen. 1214 In und mit ihnen findet jener „monumentale Diskurs“ statt, den Jan Assmann (Das kulturelle Gedächtnis, München: Beck 1992, S. 169 ff.) aus wesentlich elaborierteren Erwerbsformen früherer Zivilisationen abgeleitet hat. 1215 Der Untergang (Anm. 1119), S. 1136 ff., hier 1137. 1216 Die Antiquiertheit (Anm. 444), S. 99 ff. 1217 Wie David Barrat in seiner „Media Sociology“ (London/New York: Rout- ledge 1990, S. 16 ff.) darlegt. 410

schmutzung einer Welt aus messages1218, wenn jene Regeln endgültig ad acta gelegt würden, die etwa C. P. Scott1219 einer verantwortlichen

Journalistik auf den Weg geben wollte: „Der Kommentar ist frei, die

Fakten sind sakrosankt“. Akzeptiert das mediale Marktgeschehen den

Informationsbedarf der Gesellschaft zudem als Messlatte für Quali- tät?1220 Friedrich Schiller hat in seinem Mannheimer Vortrag „Die

Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“ (1784) vom Zeit- geist als von einer „künstlichen Welt“ gesprochen und damit gleich- sam als von einer eigenen Dimension menschlicher Verständigung.

Seither geriet Öffentlichkeit1221 aus Mangel an steuernden Bezugsba- sen zur notwendigen Orientierungsplattform der Gegenwart. Erst In- formation erlaubt profunde Sachanalysen, ausschließlich der öffentli- che Diskurs ermöglicht die Willensbildung und einzig allseitige Trans- parenz fördert deren Nachvollziehbarkeit.

Die Schaubühne, so Schiller1222 voller Optimismus, „ist der gemein- schaftliche Canal“. Von hier fließen „richtigere Begriffe, geläuterte

Grundsätze, reinere Gefühle durch die Adern des Volks; der Nebel der

1218 Für die Nutzung der aktuellen Massenmedien Hörfunk, Fernsehen und Tageszeitungen wendet der Deutsche Anfang der 1990er Jahre pro Wo- chentag im Schnitt fünfeinhalb Stunden auf, heute sind es sechs Stunden. War 1970 der Zeitaufwand für den Mediengebrauch erst halb so groß wie die „Produktionszeit“, so ist der Abstand auf fünfzehn Minuten geschmol- zen. Und der Medienkonsum insgesamt nimmt weiter zu. 73 Prozent der Bevölkerung durchblättern regelmäßig die Zeitung, und zwar etwas mehr als eine halbe Stunde am Tag; 76 Prozent hören Rundfunk und haben mit durchschnittlich immerhin zweieinhalb Stunden Radiokonsum das Fernse- hen - das 72 Prozent anschalten - mit etwa zwei Stunden (USA: Über sie- ben Stunden pro Tag) überholt; nur 13 Prozent der Bundesbürger bevorzu- gen das Lesen von Büchern. 1219 Zit. Wilson Harris: The Daily Press, London: Cambridge UP 1943, S. 10 ff. 1220 Information oder herrschen die Souffleure?, fragte bereits 1964 ein rororo-aktuell-Titel (Nr. 682), der für Aufsehen sorgte. 1221 Also die Bereitstellung, der freie Erwerb und die Deutungsvielfalt von Nachrichten. Öffentlichkeit bildet ein filigranes Fließmodell von Meldungen und Rückmeldungen, mithin eine Realität sui generis, die ihrerseits die je- weilige Wahrnehmung der Wirklichkeit prägt. 1222 Sämtliche Werke in zwölf Bänden, Band 10 (Stuttgart/Tübingen: Cotta 1838), S. 77 f. 411

Barbarei, des finsteren Aberglaubens verschwindet, die Nacht weicht dem siegreichen Licht“. Und heute? Illustriertendemokratie, Paparaz- zi, Scheckbuchjournalismus, die schnelle Zeitung, Witwenschütteln,

Pressekonzentration, Stimmungsmache. Ohne Nachrichtenorgane

„kann diese Welt nicht leben“, notierte Karl Jaspers1223, sie formen als „Mitschöpfer des Augenblicks“ das „geistige Dasein unseres Zeit- alters“. Solche Rolle schlage jedoch „zur Verkommenheit“ aus, wenn die Medien sich nicht etwa der Öffentlichkeit als Prüfstein ihrer Eli- ten-Rolle verpflichtet fühlten, sondern den „ebenso seichten wie kom- fortablen und anspruchslosen Werten des bloßen Infotainments“, vor deren markt-rationaler Durchsetzungs-Attraktivität John Humphrys1224 warnte.

Medien als Tribunal

Die Idee der bürgerlichen Öffentlichkeit beruhte auf dem Ansinnen, jeder Bürger müsse an politischen Entscheidungen beteiligt werden, um seinen Part bei einer nicht-elitären Definition der Allgemeininte- ressen zu übernehmen. Im politischen Alltag setzte sich stattdessen eine repräsentative Sprachregelung durch, Politik verwandelte sich in

Stellvertretung. Entscheidungen waren nur delegierend zu treffen1225, also durch Umbesetzung oder Neueinrichtung von Elitepositionen.

Diese Arbeitsteilung zwischen Anbietern und Verbrauchern stellte sich zeitgleich mit der medialen Aufbereitung von Öffentlichkeit ein, elitäre Strukturen entsprachen in diesem Feld der Vermarktung und

1223 Die geistige Situation der Zeit (Anm. 1026), S. 108 - 111. 1224 In seiner James Cameron Memorial Lecture an der Londoner City Uni- versity: Do we want a world of infotainment journalism?, Times vom 15. 10. 1999, S. 47. 1225 Überdies lässt sich nicht die notwendige, höchstens die mögliche Teil- nahme organisieren, will man keine totalitären Verhältnisse fördern. 412

Meinungsführerschaft. Die frühen Forderungen zunächst nach Auswei- tung des diskutablen Profanbereiches, dann nach Publizität, schließ- lich nach Öffentlichkeit sans phrase1226 fanden politisch ihren Aus- druck als Verlangen nach Rede- und Pressefreiheit. Und wenngleich

Hugenberg1227 zu verkünden pflegte, „an der Zeitung darf kein Ge- schäftsinteresse kleben“, regelte sich die Zirkulation der Informati- onsware von Anfang an über den Markt. „Ebenso wie den Theatern, die sich ganz vom zahlenden Publikum abhängig machen“, erläuterte

Ludwig Büchner diese Entwicklung1228, „ergeht es unseren Zeitungen und Wochenschriften, deren höchstes Ideal die Abonnentenzahl bildet und bilden muss, und welche darum in der Regel weit mehr Gewicht auf den zeitweiligen Geschmack des Publikums neben den Interessen ihrer Leiter und Eigentümer legen, als auf die Verbreitung von Wahr- heit und Aufklärung“. Nachrichten als Rohstoff der Öffentlichkeit er- wiesen sich als Produkte, als brotsichernde Mangelware dazu. Die vom Bürgertum verlangte Gewerbefreiheit nahm daher auch die

Betreuung der Publizität unter ihre Fittiche.1229 Zum allgemeinen Är- ger trat der Staat in dieser Branche als Zensor auf. Das konnte in der westlichen Welt mehr oder weniger unterbunden werden. In den Mas- senmedien, die sich durchsetzten, hatte man es aber längst nicht

1226 Zur Ausweitung des gesellschaftlichen Diskussionsfeldes noch immer Franz Schneider: Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, Neu- wied/Berlin: Luchterhand 1966. 1227 Zit. Ludwig Bernhard: Der Hugenberg-Konzern. Psychologie und Tech- nik einer Großorganisation der Presse, Berlin: Springer 1928, S. 59. 1228 Darwinismus und Sozialismus. Der Kampf ums Dasein und die moderne Gesellschaft, Leipzig: Günthers 1894, S. 5. 1229 Vor allem diese Gängelung mag bewirkt haben, dass sich seither die veröffentlichte Meinung als Ware einer Durchleuchtung ihrer Produktions- verhältnisse durch die öffentliche Meinung zu entziehen wusste; nicht zu- letzt die Erfahrungen mit der Meinungs- als Pressediktatur im Dritten Reich machte diesen Gewerbezweig in der Bonner Republik fast sakrosankt. Aus voller Brust und mittlerweile über Gebühr reklamieren die Medien für sich einen aufklärerischen Begriff von Öffentlichkeit. Das klingt im „Wächter- preis der Tagespresse“ nach, der seit 1969 alljährlich durch die gemein- nützige Stiftung „Freiheit der Presse“ verliehen wird. 413

mehr mit Leuten der Feder wie Mirabeau, Marat oder Gambetta zu tun, eher mit jenen „Meinungssoldaten“ (Tönnies) oder „Freunden des

Hauses“, wie Bernd Groß1230 die Journalisten als Lohnschreiber be- zeichnete. Eine ausgesprochene Streitpresse mit Stil geriet zur Aus- nahme von der Regel.1231 „Es ist der herrschend gewordenen Meinung zuzustimmen“, hat gleichwohl der Bundesgerichtshof geurteilt1232,

„daß die Presse im Rahmen ihrer öffentlichen Aufgaben, insbesondere bei der Behandlung politischer Angelegenheiten, zur Wahrung der In- teressen der Öffentlichkeit befugt ist“. Dabei üben Medien nach dem

Montesquieu-Schema quasi als ideeller Gerichtshof1233 öffentlich re- levanter Handlungen eine Art von vierter Gewalt aus, obschon ihnen insgesamt gesehen, jedenfalls formell, kein Auftrag als Macht der öf- fentlichen Prüfung zukommt.1234 Vielleicht weil Missstände noch

1230 Journalisten. Freunde des Hauses? Zur Problematik von Autonomie und Anpassung im Bereich der Massenmedien, Saarbrücken: Die Mitte 1981. Auch Herbert Riehl-Heyse: Bestellte Wahrheiten. Anmerkungen eines Journalistenmenschen, München: Kindler 1989. 1231 Weil sie sich am Markt nicht behaupten kann, Gegenbeispiele wie The New York Times mit ihrem „austere image“ (Times) aus Präzision und Intel- lektualität bleiben Ausnahmen. Hierzulande ist selbst die TAZ (Berlin) eher lebendig als unbedingt republikanisch, die Peter Unfried, ihr Chefredakteur ( Libération vom 15. 11. 1999, S. 32) immerhin für das einzig unabhängige Blatt im Lande hält. Was damit zu tun hat, daß am „Ende die Gesetze der Betriebswirtschaft solche sind“, die auch Kritik und Engagement „zur Kenntnis nehmen müssen“, wie der Schatzmeister und SPD- Fraktionsvorsitzende Klose (zit. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. 2. 1989, S. 3) anläßlich der Einstellung des Vorwärts erläuterte, was die Un- verkäuflichkeit des allzu Parteilichen einschloss. 1232 Zur Rechtsprechung vgl. Helmut Simon: Der Preis der Freiheit steigt, wenn die Nachfrage sinkt, in: Frankfurter Rundschau, Teil 1 (28. 6. 1988, S. 10); Teil 2 (29. 6. 1988), S. 10). 1233 Vgl. Ferdinand Tönnies: Kritik der öffentlichen Meinung, Berlin: Julius Springer 1922. 1234 Anders als dem öffentlich-rechtlichen Teilsystem obliegt den Medien insgesamt gesehen keineswegs die ausdrückliche Pflicht, durch Informati- on und Kritik zur Orientierung der Bürger in Politik und Gesellschaft beizu- tragen. Zuständig sind sie für die „Transportarbeiten“ (Noelle-Neumann) jener Nachrichten, für die Nachfrage besteht. Ihr Gewerbe heißt darum news-getting und news-selling, womöglich wirken sie als Vermittler, mehr ist ihnen keinesfalls zuzumuten. Adolf Arnd (Die Rolle der Massenmedien in der Demokratie, München/Berlin: Beck 1966, S. 4) hat darauf hingewie- 414

spannender und besser verkäuflich sind als Hofberichte, lässt sich jener als „hostile-media-phenomenon“ diskutierte Vorwurfsjournalis- mus durch „Bloßstellung von Missbräuchen“ (Harris) als ‚Wächteramt’ umschreiben. Und derart mag sich die von Schiller verlangte Morali- sierung durch Öffentlichkeit erfüllen, zumindestens bei Skandalfällen im Elitenolymp. Die Medien ihrerseits unterliegen trotz der eminenten

Einfluss-Steigerung, die sie als Teil des Establishments positioniert, kaum Korrektiven, mögen sie sich aus Konkurrenz auf dem Markt auch gegenseitig ins Visier nehmen.1235 ‚Medienethik’ vermag am Rendite- druck wenig zu ändern, der auf der Informationsware lastet. Vorein- genommenen, einäugigen oder monokulturellen Strickmustern media- ler ‚Realität’ ist nicht abzuhelfen.1236 Auch nicht jenen Selbstvorbe- halten, die Klaus Bresser1237 angestimmt hat. In einer publizistischen

Ortsbestimmung warf der Chefredakteur des ZDF einen ungeschmink- ten Blick auf sein Gewerbe, von dem er mehr Unabhängigkeit, Seriosi- tät und Vielfalt verlangt (S. 160 ff.). Nehmen Einschaltquoten solche

Wünsche zur Kenntnis? Da nicht Aufklärung, sondern der „Gewerbe- charakter der Presse“ (Werner Hofmann) die Natur ihrer Waren und die Einstellung der dort Produzierenden bestimmt1238, ist der im an- spruchsvollen Wortsinn öffentliche Charakter der Medien zufällig.

Was erneut die Frage nach der Zurechnung ihres Elite-Status‘ wider

Willen aufwirft. Zwar beeinflussen Verbraucher diesen Raum durch ihr

Rezeptionsverhalten, ebenso wie das Publikum durch Auswahl von In-

sen, daß sich die freiheitliche Verfassung zudem „stets einzig und allein an die Staatsorgane wendet“. 1235 Dazu noch immer die Studie von Wickham Steed: The Press, Har- mondsworth: Pelican 1938. 1236 Rudi Holzberger: Zeitungsdämmerung. Wie die Journalisten die Welt verpacken, München: Ölschläger 1991. 1237 Was nun? Über Fernsehen, Moral und Journalisten, Hamburg: Luchter- hand 1992. 1238 Vgl. Wolfgang Pauser: Die Krise als Ware, Wirtschafts-Woche Nr. 13 (1993), S. 60 f. 415

formationen, Sichtweisen und Mitteilungen selbst aktiv involviert bleibt. Insofern ist Kulturkritik müßig. In Anbetracht des sozialkonsti- tutiven Wertes1239 von Nachrichten/Meinungsbildung/

Imaginologie etc. kann dieses Feld jedoch ebenso wenig wie andere

öffentliche Leistungsbereiche, die direkt oder indirekt das Allgemein- wohl berühren und darum Zuträglichkeits-Kriterien unterliegen, der

Vollvermarktung beziehungsweise einer Einfluss-Autonomie überlas- sen werden, die andere Elitebereiche prägt oder überstrahlt. Diese

Autonomie zehrt bisher nicht zuletzt von jenem Pathos, das sich mit dem Anspruch der Medien verband, kritisch eine durchleuchtete Öf- fentlichkeit herzustellen. Mit Beginn des 18. Jahrhunderts hatten hie- rarchische Eliten längst noch nicht „die Waffen gestreckt“, wie Jouve- nel1240 erläutert, dennoch war die innergesellschaftliche „Souveräni- tät bereits in die Hände der Meinungsbildung übergegangen“.

***

Insert 6: Medien als Kritikelite? „Die Presse gibt das Signal und sorgt für das Erwachen der Völker“ Victor Hugo

1774, vier Jahre vor seinem Tod setzte Voltaire der Aufklärung in

Gestalt der von ihm ansonsten oft geschmähten ‚Encyclopédie’ ein literarisches Denkmal. Der führende Publizist jener Tage schildert ei- ne Szene, die sich im Trianon in Versailles abspielte. Ein erlauchter

Kreis sitzt mit Ludwig XV. beim Abendessen. Anstrengende Stunden waren der Jagd gewidmet, zur Belustigung hatte man Pulver vor dem

Servieren abbrennen lassen. Irgendjemand wirft nach Tisch die Frage auf, „woraus Pulver eigentlich besteht?“ Zwei oder drei der Anwesen- den bemühen sich um Erklärungen, müssen jedoch ihr Unwissen ein-

1239 Der den Unterhaltungswert an Bedeutung erheblich übersteigt. 1240 Huit cents ans (Anm. 460), S. 119. 416

gestehen. „Und woraus ist der Puder hergestellt, mit dem wir uns schmücken?“, fragt die neugierig gewordene Mme de Pompadour.

„Kann das jemand erklären? - Hätten wir jetzt jenes Nachschlagewerk zur Hand, das kürzlich beschlagnahmt wurde!“ Der König schickt Die- ner, ob sich im Schloss nicht Exemplare der ‘Encyclopédie’ fänden.

Und tatsächlich, drei Lakaien tragen gewichtige Bände heran, die auf den Tischen ausgebreitet werden. Beim Durchblättern entdeckt jeder etwas Spannendes. Die Marquise erfährt Aufschlussreiches über die verschiedenen Kosmetika, und der Bourbone informiert sich nebenbei

über die Rechte seiner Krone. „Wirklich“, so der erstaunte Monarch,

„ich weiß gar nicht, warum man mir soviel Schlechtes über dieses

Werk berichtet hat“.1241 Eine nette Episode, verfasst zum Ruhme der am Ende fünfunddreißig Bände umfassenden ‘Encyclopédie’ mit ihrem modernisierten Lockeanismus. In Wirklichkeit hatte der in Kontinen- taleuropa festsitzende Feudalismus mit Informationsfreiheit wenig im

Sinn. Auch in Frankreich wurden weiterhin Zeitschriften, Bücher,

Traktate - stellvertretend die nicht-genehme Öffentlichkeit - von Hen- kershand verbrannt, so 1759 selbst die ‘Encyclopédie’. Und die Auto- ren entgingen dem gleichen Schicksal häufig nur durch Flucht ins

Ausland, schon 1572 hatte Blaise de Monluc1242 geklagt, aus Furcht wagten „die Schriftsteller heute kaum die Hälfte zu schreiben“. Kaum verwunderlich mithin, dass sich der aufkommenden Bürgerära die In- formationsfreiheit als herausragendes Symbol ihrer erstrebten Selbst- bestimmung darstellte.

Alles, was unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschah, geriet in Ver- dacht der Privilegienwirtschaft, war Bastion der ElitenK , die es im

Namen einer besseren Zukunft zu schleifen galt. Die Französische

1241 Vgl. Pierre Grosclaude, Un audacieux message: L’Encyclopédie, Paris: Nouveau édition latines 1951, S. 11. 1242 Commentaires 1521 – 1576, Hrsg. Paul Courteault, Paris: Gallimard 1964, S. 835. 417

Revolution bewirkte eine Explosion der Veröffentlichung. Bereits im

Januar 1789 gab Abbé Emmanuel Sieyès1243 als Losung aus, dass

„die Vernunft keine Geheimnisse liebt“. Wahrhaftig, vernünftig, richtig war nur noch, was sich vor aller Augen abspielte. Nicht zuletzt des- wegen entlohnte man die Anwesenheit bei Sitzungen im Parlament,

Gericht, Club oder Sektionen. Alles Nichtöffentliche wirkte elitär, weil es sich der republikanischen Rechtfertigung entzog, wobei unklar blieb, dass sich ‚öffentliche Meinung’ - verstanden als Steuerung- muster der Politikverwaltung - gerade unter Ausschluss der ‚Öffent- lichkeit’ zu konstituieren pflegt.1244 Wohin die Kontrolle durch Prä- senz nicht reichte, dahin mussten Nachrichten der Medien leuchten, die sich der öffentlichen Angelegenheiten nicht nur in Form einer ex- pandierenden Presse annahmen.

Indem Meinungsbildung und Willensbildung verschmolzen, fand im

Verständnis der aufgeklärten Zeitgenossenschaft ein symbolischer

„Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) statt, in der die Vergangenheit befangen gewesen war. „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen“, so Kant1245 1795 in die- sem Sinne, „deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht“. Solches Verständnis von Öffentlichkeit war an Feudaleliten als Widersacher orientiert. Es stritt gegen überkommene Sozialfor- men, die sich nicht verantwortlich fühlten und insofern jene „Freiheit der Feder“ schlecht vertrugen, die Kant für das „Palladium der Volks- rechte“ schlechthin hielt. Auf der Bühne neuzeitlicher Politik hingegen eröffneten sich vor aller Öffentlichkeit neue Komplikationen. Sogar innerhalb der/um die Publizität selbst kam es bald zu Auseinander-

1243 Abhandlung über die Privilegien/Was ist der Dritte Stand, Hrsg. R. H. Foerster, Frankfurt am Main: Insel 1968, S. 55, hier S. 141. 1244 Zu diesem Dilemma das Kapitel „Die öffentliche Meinung als Bedin- gung der staatlichen Einheit“, in: Heller: Staatslehre (Anm. 521), S. 173 ff. 1245 Zum ewigen Frieden, Werke 11 (Anm. 713), S. 245. 418

setzungen, schon die Französische Revolution verlief auch als publi- zistisches Ringen sehr verschiedener Öffentlichkeiten um Gel- tung.1246

Es war ein Trugschluss der Aufklärung, so zeigte es sich bald nach

1789, Öffentlichkeit umstandslos mit Vernunft beziehungsweise Wahr- heit gleichzusetzen, was die Visionen einer intellektuellen Inbesitz- nahme der Macht versprochen hatten. Vielmehr spiegelte die veröf- fentlichte Meinung ganz unterschiedliche Wahrnehmungen der Reali- tät. Deren Verarbeitung hing eher ab von der eigenen Betroffenheit als vom freien Vernunftgebrauch über den Wassern. Die politischen

Umwälzungen der Revolution sahen sich aus konservativer Optik da- her dem Prinzip der Öffentlichkeit selbst angelastet1247. In Wirklich- keit geriet Öffentlichkeit zum Forum innergesellschaftlicher Span- nungsregulierungen. Das hat die bürgerliche Moderne anfangs er- schreckt, weil man deren Freisetzung für gleichbedeutend gehalten hatte mit der Erlösung von Ungleichheit samt elitärerk Ordnungsmus- ter. Die auf Verantwortlichkeit und Mitsprache begründete republika- nische Gesellschaft bedingte wiederum andere Übervorteilungen, als

Modus der innergesellschaftlichen Selbstverständigung standen der

Publizität konfliktreiche Zeiten ins Haus.1248 Aber obwohl mit Blick auf die Rolle der Medien die Lichtmetaphorik der Aufklärung verblass- te, was mit dem innerbürgerlichen Schattenwurf zu tun hatte, blieb

1246 Vgl. Heinrich Cunow: Die Parteien der großen französischen Revoluti- on und ihre Presse, Berlin: Singer 2 1912. 1247 Dadurch wurden Ursache und Wirkung verwechselt, vgl. Paul H. Beik: The French Revolution Seen from the Right, Transactions of the American Philosophical Society, New Series, Band 46/Teil 1, New York: Howard Fer- tig 1970. 1248 Zu lernen war aus diesen Verwerfungen und ihrer neuzeitlichen Ideen- geschichte, dass Öffentlichkeit zugleich das einzige Medium ihrer Bewälti- gung darstellt. Indem die unterschiedlichen Bedürfnisse coram populo arti- kuliert wurden, waren auf Dauer überhaupt Formen zu finden, wie ihnen politisch und vor allem auch sozial entsprochen werden konnte, ohne dass wieder Gewalt an die Stelle einer der Öffentlichkeit rechenschaftspflichti- gen Weltverwaltung trat. 419

das seit der Stunde seines Triumphes umstrittene Prinzip der Publizi- tät überall dort, wo die Moderne (noch) nicht Fuß fassen konnte oder wieder an Boden verlor, ein kultur-politisches Ideal, dem Hegel 1817 ein bemerkenswertes Denkmal setzte.1249

Res claustra

Man schreibt den Mai 1989. In Paris werden mit großem Aufwand die

Feierlichkeiten zur zweihundertjährigen Wiederkehr der Großen Revo- lution eröffnet. In China gehen zur gleichen Zeit die Studenten auf die

Straße und mit ihnen Hunderttausende von Bürgern, die mehr Mündig- keit und demokratische Rechte einfordern. Während im Westen be- mängelt wird, dass die Unabhängigkeit der Presse entweder nicht ge- nutzt wird oder nicht mehr im vollem Umfang besteht1250, die Kommu-

1249 „Ein solches Beisammensitzen“, schreibt er über die ‚Beurteilung der Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Würt- temberg im Jahr 1815 und 1816’ (Werke 4, [Anm. 2], S. 462 ff., hier S. 582), ist „von unendlicher Wichtigkeit für die politische Erziehung, deren ein Volk und dessen Häupter bedürfen, das bisher in politischer Nullität gelebt (hatte) und dessen Erziehung nicht wie einem noch unbefangenen Volke nur ganz von vorne anzufangen war, sondern das auch in den harten Fesseln einer drückenden Aristokratie, einer darauf gebauten innerlichen Verfassung und in dem Mangel und der Verkehrtheit von Begriffen über Staat- und Freiheitsrechte oder vielmehr in Worten befangen war. Gegen solche Begriffe, die ... mit dem fest und sicher gewordenen Interesse der herrschenden Kaste so eng zusammenhingen, läßt sich nicht mit Begriffen ein direkter Kampf eingehen, noch irgendeine direkte Wirkung davon er- warten; desto sicherer, jedoch unscheinbar ist die indirekte Wirkung, daß solchem Sinne Raum gegeben wird, sich mit sich selbst abzuhetzen und sich zutage zu bringen. Die nächste Wirkung aufs Publikum ist, das es bald, wie sich solcher verschrobene Inhalt weiter entwickelt, von demsel- ben und dessen Verteidigung nichts mehr versteht. Eine Folge, die Aufde- ckung der Rechte des Schreiber-Instituts, und damit ein richtigeres und verbreiteteres Bewußtsein, wo ein bleibender Quell der Unterdrückung liegt - Charaktere und Handlungen der Regenten sowie die Umstände sind dagegen nur etwas Vorübergehendes -, ist betrachtete worden, und eine Wirkung wenigstens formeller Bildung wird sich fernerhin zeigen.“ 1250 Vor allem was den betriebliche Aspekt (vgl. Kurt Nuspliger: Presse- freiheit und Pressevielfalt, Diessenhofen: Rüegger 1980, S. 5 ff.) sowie die Problematik der Nachrichtenbeschaffung und -aufbereitung (Georg Heller: 420

nikatoren zu Lieferanten einer Legitimationsware verkommen, beteili- gen sich in Peking viele Journalisten an den Aufmärschen. „Zwingt uns nicht zu lügen!“ steht auf ihren Transparenten1251. Sie können von westlichen Verhältnissen nur träumen1252, in denen die Waren- förmigkeit der Nachrichten am Markt zwar keine besondere Nachfrage nach Wahrheit oder Vollständigkeit erzeugt, sondern ausschließlich

Aufmachung und vor allem Schnelligkeit en vogue zu sein scheint.1253

Was man ohne Furcht sagen kann, wird zum lässlichen Gut, wohinge- gen versperrte Kommunikation die Öffentlichkeit zum Streitobjekt macht.1254 Man schlage nach bei John Milton1255 über die Gleichset- zung von Öffentlichkeit mit jener „Stimme der Vernunft“, die in Form

„unbehinderter Veröffentlichungsmöglichkeiten“ volle Meinungsentfal- tung verlangt. Oder man lese jene anonyme Flugschrift Fichtes aus dem Jahr 1793, deren Deckblatt ein veritables Öffentlichkeitspro- gramm enthält: „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten

Europens, die sie bisher unterdrückten - Heliopolis, im letzten Jahr der Finsterniß“. Das war reichlich zuversichtlich formuliert, die Denk-,

Rede-, Schreib- und Veröffentlichungsfreiheit sollte auf sich warten lassen. Dafür sorgten Filter wie jenes „Bundes-Preßgesetz“ vom 20.

Lügen wie gedruckt. Über den ganz alltäglichen Journalismus, Tübingen: Klöpfer & Meyer 1997, S. 23 ff.) betrifft. 1251 Vgl. Handelsblatt vom 8. Mai 1989, S. 10. 1252 Zur Riskanzlage der Presse etc. auch in anderen Weltregionen vgl. etwa Frank Pries: Medien in Lateinamerika, KAS-Auslandinformationen Nr. 4 (1999), S. 4 ff. 1253 Aber doch nur, weil unter den Bedingungen selbstverständlicher Frei- heitlichkeit jedermann aus dem pluralen Überangebot von Informationen und Meinungen so lange sich bedienen kann, bis er entweder übersättigt ist oder rundum unterrichtet, worüber auch immer. 1254 „Die chinesischen Journalisten müssen dem Volk und dem Sozialismus dienen“, hieß es nach der Niederschlagung des Protestes wieder, Beijing Rundschau Nr. 50 (1989), S. 4 ff, hier S. 4. 1255 Areopagitica (1644) and other Prose Works, London: Dent 1927, S. 1 ff. 421

September 18191256, wonach „ohne Vorwissen und vorgängige Ge- nehmhaltung der Landesbehörden“ unter 20 Bogen nichts in Druck ge- langen sollte.1257 Öffentlichkeit blieb frei nach „Zeitung ... ist die ge- fährlichste Schrift“1258 ein politischer Zankapfel zwischen aufstreben- den bürgerlichen Spitzenkräften und altständischen Eliten, wobei lau- ter Missverständnisse bestanden. Während die Obrigkeit in der infor- mationellen Mündigkeit den Untergang ihrer Autorität vermutete, weil

Aufsässigkeit folge, gab sich das über den „Preßzwang“ (Schmettow) empörte Publikum mit Ludwig Börne1259 der Illusion hin, die öffentli- che Meinung bilde allein aus diesem Grund so etwas wie „eine Volks- bewaffnung, die unbesiegbar ist“. Das war noch im Heldentenor der

Aufklärung gehalten, und tatsächlich können ohne Medienfreiheit „we- der Instruktionen noch Grundrechte“ (Mirabeau) gedeihen. „Die Frei- heit der Presse ist eines der großen Bollwerke jeder freiheitlichen

Verfassung“, konstatierte Artikel 12 der „Bill of Rights“ des amerika- nischen Bundesstaates Virginia am 12. Juni 1776. Damit war aller- dings nichts über interaktive Auswirkungen dieses Rechtes ausge-

1256 Vgl. E. R. Huber (Hrsg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsge- schichte, Band I (Stuttgart u.a.: Kohlhammer 3 1978), S. 102 ff, hier S. 102. 1257 Und das, obschon Wilhelm von Humboldt [Über Preßfreiheit, in: Ders.: Ausgewählte Schriften, herausgegeben von Theodor Kappstein, Berlin: Borngräber o.J. (1917), S. 404 ff, hier S. 411] seiner Obrigkeit mit Datum von 9. Januar 1816 vor zu buchstabieren versuchte, dass die Sicherheit der öffentlichen Ordnung auf den „erwachenden öffentlichen Geist“ gera- dezu angewiesen sei, weil einzig Transparenz auch staatsbürgerliche Iden- tifikation stiftet. „Der gesunde Verstand der Leser weiß sehr gut das au- genblickliche Gefallen an einem einseitigen und schon darum oft Wahrheit enthaltenden Adel von der wirklichen Missbilligung der getadelten Maßre- gel und noch mehr von der Beschuldigung ihrer Urheber zu unterscheiden“. Sehr lebensklug argumentiert, doch predigte nicht nur Humboldt tauben Ohren, auch auf Schopenhauer mochte man nicht hören, der [Parerga und Paralipomena (1852) (Sämmtliche Werke, [Anm. 663], Band 6, S. 268] die „Preßfreiheit“ als „Sicherheitsvalve ... für die Staatsmaschine“ beschrieb. 1258 So Minister Goethe 1794: Entwurf zur Zweiten Epistel, Sämtliche Wer- ke (Münchner Ausgabe), Hrsg. Karl Richter u.a.: München: Hanser 1985 ff., hier Band 4. 1, Hrsg. Reiner Wild (1988), S. 1114. 1259 Die Freiheit der Presse in Baiern (1818), Gesammelte Schriften, 1. Band, Hamburg/Frankfurt am Main: Hoffman & Campe/Rütten & Löning 1862, S. 359 ff, hier S. 360. 422

sagt. Gerade Aufklärer reagierten verbittert, als die errungene Öffent- lichkeit beim Volk eher Gleichgültigkeit hervorrief denn Beteiligungs- bedürfnisse, da in den sozialen Bodenlagen der graue Alltag allemal

Vorrang hatte.

Vermarktung

Während hierzulande um diese Freiheiten noch gerungen wurde, was sich als elitäre Rückständigkeit identifiziert sah1260, ging es woan- ders längst um neuartige Probleme. Zwar gab es auch in liberaleren

Weltregionen immer wieder Ärger im Verhältnis von Presse und Poli- tik, weniger freilich im Sinne einer Bemerkung von Hebbel1261, wo- nach „Preßfreiheit von Journalrecht streng zu unterscheiden ist“.

Vielmehr versuchten Eliten, das neue Medium zu instrumentalisieren, dessen Hohepriester um Akzeptanz in der guten Gesellschaft rangen, solange ihr Ausdrucks- als Einflussmittel noch nicht zum entschei- denden Filter der fabrikweltlichen Selbstverständigung avanciert war.

In zwei berühmten Artikeln vom 6. und 7. Februar 1852 hat daher Ro- bert Lowe (später Lord Sherbrooke) in der Times (London) die Unter- schiede zu bestimmen versucht, welche mit Blick auf das Gemeinwohl die Pflichten der Presse von denen der Staatskunst trennen. „Die

Presse lebt von Enthüllungen“, heißt es. „Um dieser Aufgabe in voller

Unabhängigkeit und folglich zum größten öffentlichen Nutzen nach- kommen zu können, dürfen sich die Medien auf keinerlei Sonderbe- ziehungen mit der Tagespolitik und ihrem Personal einlassen“. An-

1260 Varnhagen von Ense: Journal einer Revolution, Nördlingen: Greno 1986, S. 33. 1261 Aus dem Jahr 1850, Tagebücher 2, (Anm. 296), S. 150. Dazu Hermann Boventer: Pressefreiheit ist nicht grenzenlos. Einführung in die Medien- ethik, Bonn: Bouvier 1989. 423

dernfalls sähe sich nicht nur ihr „öffentlicher Vertrauensbonus“

(Steed) geschmälert; vor allem würde das Medium langweilig und da- mit unverkäuflich, gliche solchermaßen jener weiter östlich waltenden

„feudalistischen Öffentlichkeit“ (Henkel/Taubert), der Hoffmann von

Fallersleben1262 ein kritisches Denkmal setzte. Ihre Rolle als Eliten- kritik (= (f) Wächter durch Information) konnten die Printmedien in der

Marktgesellschaft allerdings aus wirtschaftlichen Sachzwängen auf die Dauer nur begrenzt spielen. Frei nach „‘Nein, nein! Zuerst das

Spannende,’ sagte der Gryphon äußerst ungeduldig: ‚Erklärungen dauern immer schrecklich lange’“1263, sah sich ihre Verwandlung in

Regenbogenblätter (tabloid press) betrieben. Die Gewinn-Orientierung begünstigte auch hier schon frühzeitig Konzentrationsprozesse, ohne dass die verbleibenden Medien gehaltvoller wurden.1264 Medienmacht gedieh durch Marktmacht auf das prächtigste. Als Opponent wurde sie im politischen Bereich immer einflussreicher, vier feindliche Zeitun- gen schadeten laut Napoléon mehr als hunderttausend Mann im offe- nen Feld. Sie trat den Konsumenten zudem als Anwalt eigener Inte- ressen entgegen. Bald gab es neben Werbefeldzügen auch Presse- kampagnen (Propaganda). Die öffentliche Meinungsbildung, seit der

1262 „Wie ist doch die Zeitung interessant/Für unser liebes Vaterland./Was haben wir heute nicht alles vernommen!/Die Fürstin ist gestern niederge- kommen./Und morgen wird der Herzog kommen,/Hier ist der König heimge- kommen,/Dort ist der Kaiser durchgekommen - (...)/Was ist uns nicht alles berichtet worden!/Ein Portepeefähnrich ist Leutnant geworden,/Ein Ober- hofprediger erhielt einen Orden,/Die Lakaien erhielten silberne Borten,/Die höchsten Herrschaften gehen nach Norden/Und zeitig ist es Frühling ge- worden -/Wie interessant! Wie interessant!/Gott segne das liebe Vater- land!“, Fallersleben: Ein ‚Volkslieder-Buch, Hrsg. Uli Otto, Hildesheim u.a.: Olms 1984, S. 158. 1263 Lewis Carroll: Alice’s Adventures in Wonderland (1865) etc., Kapitel 10, London: Puffin 1962, S. 135. 1264 Während es in Mitteleuropa um den Eintritt in die Pressefreiheit ging, zeichneten sich in England oder Amerika bereits unvermutete Abhängigkei- ten (Annoncen > Abonnenten) beziehungsweise Zusammenballungen (Zei- tungssterben, Konzerne) der Medien ab. Vorläufer der Robert Maxwell oder Rupert Murdoch unserer Tage waren Alfred Harmsworth (später Lord Northcliffe) oder Sir William Berry (Lord Camrose), die Aufmachung wie Rolle der Presse gründlich veränderten. 424

Aufklärung zentrales Anliegen der Medien, wurde durch eigene Er- folgsregeln manipulierbar1265. Das wiederum förderte ihre Karriere als

ElitenD -Medium, wiewohl vorerst bezogen auf individuelle Prestigege- winne, noch nicht via technologischer Dynamik als dominantes Sub- system im Ideenhaushalt der Gegenwart selbst. Als Heinrich Wutt- ke1266 die Wirtschaftlichkeit des Medienwesens für eine „neue Tyran- nei im Werden“ (S. 189) hielt, konnte er solche Weiterungen ihrer An- sehensmacht nicht ahnen.1267 „Die Macht der Presse besteht nicht zuletzt in der Fähigkeit, Nachrichten zu unterdrücken“ (Northcliffe), allerdings nur im eigenen Hause! Ohne Hilfe politischer Instanzen

(Diktatur) waren Meinungsmonopole in der Moderne schwerlich mög- lich, dafür sorgte der Publikationsmarkt, der jede erdenkliche Öffent- lichkeit bedient(e). Moderne Politik ist Massenveranstaltung, obschon unter Ausschluss aller Massenaktivität; seit man die Köpfe nicht mehr

„wägt, sondern zählt“ (Schiller), fällt die Meinung der Menge politisch ins Gewicht, ohne aber direkten Einfluss auf die Machtverwaltung zu

1265 Allerdings blieben osmotische Verhältnisse gewahrt, die veröffentlich- te Meinung hatte sich am Markt zu behaupten, jeder Marketingfehler eröff- nete Konkurrenz-Chancen. Unter freiheitlichen Bedingungen pflegen sich die Gazetten gegeneinander aufzuwiegen, falls das Publikum sich eine ei- gene Meinung bilden will. Verlangt es nicht danach, dann hat es bald die Medien, die es verdient. Insgesamt blieb unter Marktbedingungen ein Mei- nungsspektrum gewahrt, die Informationsflut + Meinungsvielfalt lässt sich kaum verarbeiten, bietet im Sinne von „All the News That’s Fit to Print“ ( New York Times) Gelegenheit, sich umfassender zu informieren als je in der Zivilisationsgeschichte. 1266 Die deutschen Zeitschriften und die öffentliche Meinung, Leipzig: Krü- ger 31875. 1267 Karl Bücher (Die Anfänge des Zeitungswesens, in: Ders.: Die Entste- hung der Volkswirtschaft, Tübingen: Laupp’sche 4 1904, S. 249 ff.) verwies auf unerwünschte Alternativen einer nicht-ökonomischen Abhängigkeit der Presse von der Politik, den Kirchen oder anderen Verbänden, die sich um Publikumsgeschmack nicht scherten. Immerhin behielt Wuttke recht mit seiner Bemerkung, dass „allein die bloße Freiheit der Presse noch lange nicht die nothwendig vorauszusetzenden Bedingungen“ ihrer sinnvollen Tä- tigkeit bietet, die hinge „vielmehr an der Beschaffenheit des Zeitungswe- sens“ (S. 16). Wer wollte diese über die Festlegung hinaus definieren, dass der Nachrichtenfluss sowie die Meinungsvielfalt zu gewährleisten wa- ren? 425

gewinnen. Diese wird in Fragen von öffentlichem Belang durch Mas- senmedien in Gestalt des Fernsehens oder von ‚Groschenblättern’ vorgegeben.1268 Die bestehende Vielfalt medialer Informationschan- cen verhindert keineswegs die Vermassung der Ansichten, da sie we- nig vermag gegen die Schlichtheit, Einseitigkeit oder Rigidität der Ur- teile, die sich dort bieten, wo die Konsumenten ihre Ansichten abho- len. Die Medien als solche gerieten folglich nach und nach zum elitä- renD Einflussfaktor und -instrument, dessen Missbrauch nicht nur durch ungeniertes Schielen auf Verkäuflichkeit drohte. Bald ist von

„Anmaßung der Medien“ (Eschenburg) zu hören, nicht zuletzt unter

Verweis auf die Distanz zwischen veröffentlichter und öffentlicher

Meinung. Welches waren die Rechte und Grenzen der Vierten Gewalt als „Wachhund öffentlicher Interessen“ (Harris)? Wirkte sie doch wie ein Spielfeld derjenigen gesellschaftlichen Kräfte, die sie zu kontrol- lieren vorgab. Mediale Polemik richtet(e) sich zwar zuweilen gegen die politische Rechtfertigungsebene (Regierung/Parlament etc.), ver- nachlässigt(e) in ihrer Breite indes andere, weniger auffällige, wie- wohl relevante Entscheidungsetagen (Wirtschaft/Verbände/die Medien selbst etc.). Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’?

***

Unter den Kunstmärchen (1835) von Hans Christian Andersen findet sich unter dem Titel „Die Schneekönigin“ ein Geschichtenzyklus, der von einem Zerrspiegel handelt, der alles in den Schmutz zieht, was in ihm zu sehen ist. Das scheint wie gemünzt auf spätere Medien-

Verhältnisse, folgt man der Schelte, die jene „Arie der großen Hure

Presse“ anstimmt, der Walter Mehring1269 1929 Ausdruck verlieh.

1268 Zu den Rückwirkungen etwa auf die öffentliche Thematisierung von Problemen etc. vgl. Maria von Harpe: Der Einfluss der Massenmedien auf die amerikanische Politik, Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 51 (1991), S. 32 ff. 1269 „So bricht plötzlich/Wie aus heitrem Himmel/Der Verhetzung Donner- wetter:/EXTRABLÄTTER! EXTRABLÄTTER!/Und es wächst die Zeitungslet- 426

Denkt man an „Editorials“ eines Rolf Schmidt-Holtz im Stern oder ruft sich die langen Gesichter in den öffentlich-rechtlichen Medien über den Ausgang der DDR-Märzwahlen 1990 in Erinnerung, scheint die

Selbstkritik von Thomas Chorherr1270 ins Schwarze zu treffen. Der

Einfluss eines zugleich kommerzialisierten und boulevardisierten Me- dienkomplexes sei durch die technische Entwicklung ins Maßlose ge- stiegen. Veranlasste diese Entwicklung Arnold Gehlen 1969 dazu, den

„Mundwerksburschen“ von der Presse die Errichtung eines „Reichs der Lüge“ anzukreiden? Und rief deswegen Helmut Schelsky zehn

Jahre später gar nach Menschenrechten für „Medienbeherrschte“1271?

Wirken die Meinungsmacher tatsächlich wie „Kulturprogrammierer“

(Freimut Duve), die zum Fürchten sind1272? Oder handelt es sich bei dem Medienrummel mitsamt seinen Elite-Allüren laut Carl Stern- heim1273 eher um eine „Beleuchtung der Belanglosigkeit“?

ter/Aus der Revolutionsmaschine/Zur Lawine aus Papier!/Und ein Flüs- tern/Fragt sich lüstern,/Wo den Brand ich schüren mag!“,zit. nach Chris- toph Buchwald (Hrsg.): Walter Mehring. Chronik der Lustbarkeiten. Die Gedichte, Lieder und Chansons 1918 – 1933, Düsseldorf: Claassen 1981, S. 209/211. 1270 Chefredakteur der Wiener Zeitung Die Presse, Die Presse vom 21./22. Juli 1984, S. 5. 1271 Vgl. Reinhart Rickert: Intensivierung der Medienkontrolle, Bericht in: Der Spiegel Nr. 41 (1990), S. 114 ff. 1272 Wie A. - J. Hermanni (Die Meinungsmacher. Gleichschaltung der Mei- nungen oder Information durch die Medien?, Neuhausen-Stuttgart: Häuss- ler 1988) warnte. 1273 Berlin oder das Juste Milieu, München: Wolff 1920, S. 42. 427

Kontrolle?

Seit Max Weber1274 1919 den Medienmachern zugleich Tüchtigkeit und Verantwortungsgefühl bescheinigte, haben sich die Bedingungen verändert1275, nicht zuletzt sind die journalistischen Arbeitsverhält- nisse schwieriger und gewinnrationaler geworden. Die Medien gewan- nen zugleich weiter an Gewicht, Massenkommunikation geriet gesell- schaftspolitisch zu einem zentralen „Mechanismus, durch den Einfluss ausgeübt wird“1276; das schließt den Bedeutungsschwund der Be- schäftigten in dieser Branche nicht aus.1277 Jenes von Georg Lu- kács1278 vermutete „Perennieren der Nullität der öffentlichen Mei- nung“ erwies sich angesichts der veröffentlichten Meinung als Fatum der Ära allgemeiner Offenlegung ohne wirklichen Einblick. Insofern scheint es vollmundig, mit Hans Jürgen Schultz1279 den Eigensinn journalistischer Informationsarbeit herausstreichen. Wo es eher dar- um geht, mit Emil Dovifat („Der Journalist sammelt, sichtet und verar- beitet Nachrichten von öffentlichem Interesse“) wenigstens die

Hausaufgaben der Überblicksvermittlung zu erfüllen. Dem steht nicht mangelnde Befähigung im Wege, wie es Dauerdebatten über eine Re-

1274 Politische Schriften (Anm. 259), S. 416. 1275 Es gibt hervorragenden Journalismus, selbst die „logische Phantasie“ (Kisch) guter Reportagen kommt nicht zu kurz. Wer aus der Zunft der Intel- lektuellen wollte abstreiten, von der geistigen Kost der „papiernen Sklaven des Tages“ (Nietzsche) ausgiebig zu zehren? Tag für Tag und oft bis zur Morgenröte einer eigenen Meinung? 1276 Dorwin Cartwright (Hrsg.): Studies in Social Power, Ann Arbor, Michi- gan: Michigan UP 1959, S. 7. 1277 Als Menschen, die ihren Beruf verfehlt haben, wollte Bismarck alle Schreiberlinge bezeichnet wissen. Und tatsächlich, nur 35 Prozent der Re- dakteure bei den Tageszeitungen und in den anderen Medien besitzen eine abgeschlossene Hochschulausbildung. Das mag der Formulierungskunst keinen Abbruch tun, beeinträchtigt womöglich aber die Sachkompetenz in einer immer komplexeren Umwelt, um vom Selbstbewusstsein nicht zu re- den. Anstatt eigenständig recherchieren zu können, muss man sich auf vorfabrizierte Meldungen verlassen, die großenteils PR-Büros entstammen. 1278 Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied: Luchterhand o.J. (1962), S. 67. 1279 Warum wir schreiben, in: medium Nr. 4/1987, S. 17 ff. 428

form der Journalistenausbildung vermuten lassen; auch nicht die un- terstellte Korrumpierbarkeit beziehungsweise Böswilligkeit1280 der als

„Indiskretins“ (Kanzler Schmidt) gerügten Zirkulationsagenten, die immer mehr zu Zerstreuungsfachleuten geraten. Eher handelt es sich um Fragen der Autonomie am Arbeitsplatz, die bereits Heinrich Rö- mer1281 einer Vertrustung im Medienbereich zum Opfer fallen sah.1282

Zwar ist nach Ansicht der meisten Redakteure, Ressortleiter und

Chefredakteure an Tageszeitungen ihre Berufsausübung „frei genug“, zufrieden sah sich festgestellt: „Die Pressefreiheit ist von innen her nicht bedroht“ (Berufsverband deutscher Zeitungsverleger). In einer empirischen Untersuchung über den journalistischen Alltag folgerte indessen schon Groß (a.a.O., S. 10 ff.), dass solche Liberalität bei genauerem Zusehen nicht gar „so frei sein kann und dass es der ü- berwiegend guten Stimmung in den Redaktionen an Harmonie fehlt“

(S. 12). Ist man dort wenigstens dem medialen Zwangscharakter der

Gegenwart gewachsen?

Die Produktion und Konsumtion von/der Medien selbst lässt sich nach presserechtlichen, mediensoziologischen, marktwirtschaftlichen be- ziehungsweise elitentheoretischen Kriterien sichten und bewerten.

Heikel bleiben Themen wie das Hör- oder Sehverhalten, die Nachrich- tenauswahl, die Losung der Ausgewogenheit als Meinungsbremse, po-

1280 Laut Eduard Ackermann (Mit feinem Gehör. Vierzig Jahre Politik in Bonn, Bergisch Gladbach: Lübbe 1994, S. 395 f.), einem zentralen ‚Kohlla- borateur’, hätte ihn seine Erfahrungen nicht nur „nie zu dem Schluß kom- men lassen, Politik sei ein schmutziges Geschäft“ oder es gebe Grund für Politikverdrossenheit etc.; vielmehr habe man es „zum Teil mit einer Pres- se zu tun, die mehr den Kampagnen-Journalismus als die objektive Be- richterstattung pflegte“. 1281 Zur gegenwärtigen Pressekrise, in: Schönere Zukunft, Nr. 5 (vom 1. 11. 1931) S. 103. 1282 Vgl. Cecilia von Studnitz: Kritik des Journalisten. Ein Berufsbild in Fiktion und Realität, München u.a.: Saur 1983. 429

litische oder anderweitige Manipulationsversuche1283 - überhaupt „das geistige Faustrecht“, wie Georg Simmel1284 das Unzutreffende als problematische Kommunikation bezeichnete. Weiter gilt es, etwa mit der Medienökologie1285 nach zu sinnen über ein „digitales Nirwana“

(Guggenberger), das sich zunehmend gegen wirkliche Wirklichkeits- wahrnehmungen imprägniert: Außerhalb der Virtualitatät gibt es kein

Heil mehr? Oder über Kulturverfall durch Massenmedien, falls Kultur jemals Angelegenheit breiter Bevölkerungskreise war? Doch spiegeln solche Befürchtungen vielleicht nur das Stirnrunzeln der Kritikeliten

über Massenansprüche auf Kunstgenuss „im Zeitalter seiner techni- schen Reproduzierbarkeit“ (Benjamin)1286, während die Gegenwart mitten in einer neuen, diesmal technologisch generierten Aufklärung steckt? Etwas anderes scheint noch heikler zu sein, seit Sein und De- sign immer schwieriger zu unterscheiden sind, wie Hans Vaihinger es

1911 in seiner ‚Philosophie des Als Ob‘ schon kommen sah, falls die

Meinungsarbeit in den Dienst einer autonomisierten Mediologie ein- gebunden wird, der das Marginale zum Irrtümlichen gerät, was die ge- sellschaftliche Nachfrage nach Wahrheit weiter trübt und Ersatzsinn favorisiert. Laut Régis Debray1287 gefährden Rentabilitätsprinzip und

1283 Vgl. Eve Pell: The Big Chill. How the Reagan administration, corporate America, and religious conservatives are subverting free speech and the public’s right to know, Boston: Beacon Press 1984. 1284 Soziologie (Anm. 207), S. 343. 1285 Vgl. Neil Postman: Die Verweigerung der Hörigkeit, Frankfurt am Main: Fischer 1988. 1286 Verständlicherweise zieht dieses Verlangen mit Notwendigkeit einfälti- gere Präsentationen nach sich, von „Mittelmaß und Wahn“ hat Hans Magnus Enzensberger in diesem Zusammenhang gesprochen, ohne darin Abträgliches zu erkennen. 1287 Voltaire verhaftet man nicht, Köln: Maschke 1981. Debrays empirische Geschichte der Intelligenz isoliert außer einem Universitäts- und Verlags- zyklus in der öffentlichen Meinungsbildung den Anbruch der Herrschaft ei- nes Medienzyklus, der zu tiefgreifenden Veränderungen der innergesell- schaftlichen Meinungs- und auch Wissensbildung führt. Die sich abzeich- nende „soziale Suprematie der Verbreiter über die Produzenten“ von Wis- sen und Geist (S. 110) hat - frei nach: Der Bericht über ein Buch ist weit wichtiger als dieses selbst - unabsehbare Folgen für die Ware Kultur. 430

Amortisationszwänge zudem Originalität und Kreativität, die Ära me- diengängiger Intelligenz mündet in Belanglosigkeit.1288 „Eine Erhe- bung über das Zeitungswesen muss in letzter Linie ausgerichtet sein auf die grossen Kulturprobleme der Gegenwart“, hat Max Weber1289

1914 verlangt, denn bei den Medien handele es sich insgesamt gese- hen um einen „Apparat von psychischen Suggestionsmitteln“, der das gesellschaftliche Meinungsklima tiefgreifend berührt und damit nolens volens in das gesellschaftliche Geschick eingreift. Solche Wirkung ließ sich seit jenem 30. Oktober 1938 mit Händen greifen, als der

23jährige Orson Welles durch seine Radio-Inszenierung über eine

Landung feindlicher Marsmenschen den Großraum New York in Angst und Schrecken versetzte und eine Massenpanik erzeugte. War erst die Durch-Mediatisierung der Mitwelt inklusive ihrer Sozialmilieus ab- zuwarten, um eine „fortschreitende Infantilisierung“ (Harpprecht) fest- zustellen? Sie verdankt sich zwar hauptsächlich konkurrenz- wirtschaftlichen Auflösungstendenzen primärer Vergesellungsweisen

(Alleinerziehende/Vorbildverlust, Konsumzwänge etc.)1290; ihre Ablen- kungs-Abhängigkeit sieht sich gleichwohl durch die Nicht-

Ereignishaftigkeit der Bilderwelt als Kultur des medialen Primitivis-

1288 Wie hieß es in einem autoritativen Text (Dieter Prokop (Hrsg.): Mas- senkommunikationsforschung 1: Produktion, Frankfurt am Main: Fischer 1972, S. 9)? „Massenkommunikation verdankt in den spätkapitalistischen Gesellschaften ihre Ausbreitung zu einem beträchtlichen Teil der Tatsa- che, dass die Bedingungen oligopolistischer Konkurrenz das Interesse sei- tens der Großkonzerne und Parteien entstehen lassen, durch Investition in Werbung und Public Relations für eine Stabilisierung und Kalkulierbarkeit der Einstellungen ... des Publikums zum Kauf oder zur Wahl zu sorgen“. Warum die Mitwelt auf die Massenmedien hereinfallen, schien ebenfalls sonnenklar: „Vom Publikum her verdankt ‘Massenkommunikation’ in den spätkapitalistischen Gesellschaften ihre Ausbreitung der Tatsache, dass bestimmte Gruppen von Individuen psychischer Kontrollen und der Verstär- kung von Leistungsmotivation bedürfen“ (Ders. (Hrsg.): Konsumtion, Frank- furt am Main: Fischer 1973, S. 9). Tatsächlich hat McLuhan weitgehend Recht behalten. 1289 Vgl. Anm. 1175, S. 1. 1290 Vgl. Robert Bly: Die kindliche Gesellschaft, München: Kindler 1997, S. 58. 431

mus verstärkt. Was zum Funktionszuwachs (als Status-quo-Fixierung) der inzwischen zu Medien-Cracks stilisierten „narcisses mégalos“

(Michel Polac) als groß gewordener Nachwuchs der MachteliteK ohne

Furcht und Tadel passt.

Nun unterstellt etwa die durch Jürgen Habermas ausgearbeitete

Kommunikationslehre nicht nur aller Interaktion den Willen zur Ver- ständigung, sondern glaubt zudem an deren perlokutionäre Triftigkeit.

Das mag man mit Hartmut Esser als „kommunikativen Idealismus“ be- zeichnen; immerhin lassen sich mit solchen Öffentlichkeits-als-

Diskurs-Erwartungen die Definitionsprobleme oder Rollenschwierig- keiten der Medien auf den Widerspruch von Wunsch und Realität zu- rückführen. Wenn journalistisches Wirken den Imperativen sprachli- cher Verständigung gehorcht, deren ‚Wirkung’ bestenfalls darin be- steht, soziales Handeln zwanglos zu koordinieren, so kann die Arbeit des Journalismus/der Medien im Prinzip nicht scheitern, sondern höchstens unter dem Aspekt der Gültigkeit jeweiliger Aussagen bestritten werden. Zum anderen erweist sich die Dialektik von Wissen und Nicht-Wissen1291 als Antrieb aller Kommunikation1292. Hat indes das Geheime in seinen Spielarten, nicht zuletzt für den Integritäts-

Schutz, als Substrat von Kommunikation zu gelten und nicht als Ge- genmodell zur Öffentlichkeit, so lassen sich daraus, etwa mit Blick auf ‚massenkommunikative Umweltverschmutzungen’, inhärente Rela- tivierungen aller Medienmacht ableiten. Ursprung aller Kommunikation ist der Mitteilungstrieb. Er verweist indes auf vielerlei Ambivalenzen, so dass aller Kommunikation unversehens Erfolgschancen für Fehl- kommunikation mitgegeben sind. Denn Kommunikation als wie immer organisiertes dialogisches Verfahren beruht unvermeidlich auf der

1291 Vgl. Popitz, Heinrich: Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, Tübingen: Mohr 1968. 1292 Vielleicht auch zwischen Unwissen und Nichtwissen, wenn nicht Re- zeption das Angebot steuert, sondern dieses die Kommunikation. 432

wechselseitigen Unterstellung bipolarer und vor allem mehrdeutiger

Dimensionen von Wirklichkeit. Daraus resultieren Deutungsnotwen- digkeiten auch als Reflexivitätszwänge, die sich auf allen Ebenen einstellen, besonders aber beim Empfänger. Als Glücksfall der Ambi- guität bewahren sie trotz aller Asymmetrien im organisierten Kommu- nikationsprozeß erhebliche Autonomiechancen (etwa als Unumgehbar- keit von Interpretation) in der allgemeinen Infonautik. Es sei denn, das Ansinnen der Elitefunktionen schafft Eindeutig- keit/Glaubwürdigkeit. Dann wäre die Infragestellung als Leistung von

Kommunikation stillgestellt, Information gelungen, mediale Arbeit und

PR fielen endgültig zusammen. Das gleichsam meta-kommunikative

Hereinspielen interpersonaler Beziehungen jedoch, das sich durch ei- ne hochgradig selektive Behandlung von Informationen auf allen Stu- fen ihrer Vermittlung bestätigt findet1293, stellt durch a) besagte Am- bivalenzchance und b) die ontologische Dialektik von Kommunikati- ons-Hunger und Selektions-Zwang eher alarmistisch Befunde der

Massenkommunikation als Vollausrichtung der öffentlichen Meinung in

Frage.

Wenn sich allerdings die Gewöhnung der Masse an Schlagworte und

Bilder mit Sinnhunger paart, nötigt das Leben aus zweiter Hand zu immer krasserem/grellerem Symbolersatz. Wie war das noch handfest zu Zeiten eines Gustav Freytag, der in seinem Lustspiel „Die Journa- listen“ (1853) das moderne Medientrauma eher unelitär in der Kunst- figur jenes „Schmock“ abhandeln konnte. Dieser schrieb gleicherma-

ßen rechts wie links, aber auch tief, brillant oder sonstwie, weil es ihm auf die Zeilenmenge ankam - bestenfalls zu 5 Pfennigen -, der sich ansonsten als bedrängter Zeitungsangestellter zwischen allen

Fronten durch zu lavieren hatte. Er war nicht unbedingt ein stolzer

1293 Vgl. Norbert Bolz: Mediendemokratie, in Franz-Josef Jelich/Günter Schneider (Hrsg.): Orientieren und Gestalten in einer Welt der Umbrüche, Essen: Klartext 1999, S. 207 ff. 433

Repräsentant jener ‚Vierten Gewalt’, aber ein durchschnittlicher. Um

Journalismus geht es heute eher am Rande, bei aller Kritik bleibt die

Presse ein wichtiger Sozialsensor. Die Omnipräsenz als zentraler

Aufmerksamkeitsfokus hingegen ist nicht zuletzt das gesellschaftliche

Problem von Medien1294, die auf ihren Hochsitzen über Zeitgeist und

Moden ‚entscheiden’, nichts anderem verpflichtet als einem rentablen

Leerlauf mit Anschluss-Stimulierungen. Journalisten/Medienmacher sind alles andere als „Zusammenhangsexperten“ (Langenbucher). Öf- fentlichkeit heißt indes kooperative Selbstverwaltung, das impliziert wenn schon nicht Teilnahme, so doch Kontrolle im Interesse sinnvol- ler und lebenswerter Sozialzustände. In Politik, Wirtschaft und Ge- sellschaft haben wir es zwar mit selbstläufigen, nicht jedoch mit un- abänderlichen Prozessen zu tun, selbst wenn das wieder so aussehen mag, seit der Marktliberalismus, „der angetreten war, uns zu befrei- en“, die Zukunft „mit seinem Beharren auf der Vorherrschaft des öko- nomischen Imperativs seinerseits versklaven“ könnte, wie Charles

Handy1295 hochgestimmten Deregulierern ins Stammbuch diktiert. Die eigendynamische Moderne bleibt der Risiko-Einsicht als Wahrschein- lichkeits-Abschätzung von Schäden (z.B. Verlust der Kultur-Vielfalt) ebenso zugänglich wie längerfristigen Kosten-Nutzen-Erwägungen et- wa im sozialmentalen Bereich. Eine ‚Zulieferfunktion’ der Medien wä- re gestaltbar, die ihre Elitenrolle als Tongeber nicht schmälert, aber

1294 Die laut Frank Brettschneider (Medien als Imagemacher?, media per- spektiven 8 (1998), S. 392 ff.) nicht zuletzt durch das „Fernsehen als poli- tisches Informationsmedium“ die Meinungsbildung „dominieren“ (S. 398). Oder sie instrumentalisieren, etwa in einer Risikokommunikation, in der zukünftigen Ereignissen mögliche Schadensmerkmale zugeordnet werden, um Bedingungen für eine längerfristige Risikoakzeptanz zu sichern. Das Betreiber von Risikoproduktion hauptsächlich interessierende Grenzrisiko der innergesellschaftlichen Risikokommunikation (als Verunsicherung) ist die Vermeidung des Risikos durch Nichtakzeptanz (Nullrisiko) möglicher Negativfolgen. Die Rationalität der medialen Risikokommunikation be- schränkt sich entsprechend zumeist auf Probleme der Akzeptanz, nicht der Verwerfung von Risiken. 1295 Die anständige Gesellschaft. Die Suche nach dem Sinn jenseits des Profiktdenkens, München: Bertelsmann 1998, S. 14. 434

öffentlich bewertet, auch ohne alle Zensur. So war es einst dem mächtigeren Marktgeschehen selbst ergangen, ehe die Transnationa- lisierung der Wirtschaftsabläufe solche Einbettung unterspülte1296, weil mögliche Begrenzungen durch den Verlust an Übersichtlichkeit etwa in Form politischer RückkoppelIungsräume entfielen. Das ändert jedoch weder etwas an der Notwendigkeit, noch an der Möglichkeit solcher Eingriffe, durch die auch EliteD -Effekte der Medien sozial- und kulturverträglichen Output-Kriterien zu unterziehen wären.1297

Markt, Konkurrenz oder Einfluss sind in der demokratischen Moderne nicht sakrosankt1298, ebenso wenig wie die Medienlandschaft, sie wa- ren/sind - bezogen auf ihr innergesellschaftliches Wirken/Betragen - rechenschaftspflichtig. Warum sollte es, etwa mit Blick auf Artikel 5

Absatz 2 GG, nicht möglich sein, der Mattscheibe passende Minimal-

Standards ebenso vorzubuchstabieren wie Faktentreue und Aspekt- vielfalt?1299 Ist das aber gegen den Widerstand dieser schillernden

Obrigkeit unserer „Netzwerk-Gesellschaft“ (Castells) noch durchsetz- bar1300, die als Gedankenlosigkeit in Bildern das zeitgeistliche Mei- nungsspektrum fest im Griff hält? Die Verantwortung für ihre Medien samt elitärenk Nebeneffekten kann der Epoche niemand abnehmen,

1296 Zu den Folgen vgl. Zaki Laïdi: La dérégulation de la guerre et du tra- vail, Libération vom 14. 11. 1999, S. 6. 1297 Etwa im Sinne des „Tarifvertragsgesetzes“ (1949), das die Beziehung von Kapital und Arbeit regulierte, selbst wenn es ins Gerede gekommen ist. Der Vorschriften des „Betriebsverfassungsgesetzes“ (1952) oder auch des „Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ (1957), der verfahrens- technischen Grundlage einer sozialen Wirtschaftsverfassung. 1298 Wiewohl sie als ‚in Information gepanzerte Selbstrepräsentanz’ der Gegenwart zunehmend ‚natürlich’ wirken, wohingegen sie tatsächlich eher dramatisieren (Kriminalitätswahrnehmung), hysterisieren (Dianaeffekt) etc., beziehungsweise nach ideologischen Gesichtspunkten erwünschte Meinungsepidemien auslösen können. 1299 Vgl. das Kapitel „Que faire?“ in Jean-Paul Martholz: Et maintenant, le monde en bref. Les médias: témoins mais aussi acteurs du nouveau désordre mondial, Brüssel: GRIP 1999, S. 281 ff. 1300 Was kritische Tendenzbeobachter wie Dean Alger (Megamedia: How Giant Corporations Dominate Mass Media, Distort Competition, and Endan- ger Democracy, Lanham, MD: Rowman & Littlefield 1998) eher bezweifeln. 435

was die Musterung des inhärenten Elitismus der Medialität ein- schließt.

436

11: ElitenF - was sonst?

„Alle Tiere sind gleich/Aber manche sind gleicher“1301

„Alles Exzellente ist ebenso mühselig wie selten“. Mit diesen Worten ließ Spinoza seine „Ethica, ordine geometrico demonstrata“ ausklin- gen, an der er fünfzehn Jahre gefeilt hatte. Als das Werk im Herbst

1677 erschien, war der Verfasser, der seinen Lebensunterhalt als

Schleifer von Gläsern verdiente, da er um seiner Unabhängigkeit von aller Schulphilosophie oder Amtsreligion willen Berufungen und Pos- ten abgelehnt hatte, kurz zuvor in Den Haag an Schwindsucht gestor- ben. Das „Erlesene“ oder „Erhabene“ verlange die Aufbietung aller

Kräfte, sonst wäre es häufiger anzutreffen. Vor allem Virtuosenleis- tungen jeglicher Art sind im Sinne von Shakespeare1302 per se kei- nesfalls mit der Würde-Streuung nach Maßgabe des gesellschaftli- chen Konventionalismus kompatibel oder gar gleichzusetzen. Vorsorg- lich schloss der holländische Freidenker mit einem Weckruf an den menschlichen Geist, der allein die Selbstentfaltung der Gattung ga- rantiert. „Wir werden daraus ersehen“, so Spinoza mit Blick auf in Ba- rock und Gegenreformation vergessene Positionen1303, „um wieviel der Weise mächtiger ist als der Unwissende“, ohne daraus in den

Fußstapfen Platons (Nomoi 690b f.) allerdings auch die politische

Herrschaft der ‚Weisen’ über die ‚Unwissenden’ abzuleiten. Das

Schlusskapitel seines unverblümt aufklärerischen und lange Zeit als umstürzlerisch geltenden Zentralwerkes handelt vielmehr von der

1301 George Orwell: Farm der Tiere (1945), Zürich: Diogenes 1982, S. 171. 1302 „Let none presume/To wear an undeserved dignity/O, that estate, de- grees and offices/Where not derived corruptly, and their clear honour/Were purchased by the merit of the wearer!“, Merchant of Venice (um 1598), 2. Akt, 9. Szene, Zeilen 39 ff. 1303 Wie sie von der Renaissance etwa im ‚Dialogus de nobilitate’ (1440) des Florentiner Humanisten Giovanni Francesco Poggio bereits erreicht waren. 437

„Macht des Verstandes“ als „Weg ... zur Freiheit“, nicht zuletzt, weil nur er „die Affekte“ zu meistern vermag.1304

Elitenwandel

Im ausklingenden Alteuropa formulierte Spinoza mit Nachdruck, dass der Mensch die zur Lösung neuer Probleme notwendigen Freiräume und Einstellungen ausschließlich durch analytische Kompetenz schafft und sichert. Denkarbeit allein kann ihm helfen, die Sozialwelt erträg- lich einzurichten, indem sie nicht länger auf der Normativität oder

Emotivität des Eingespielten ruhe. Mit Blick auf latente Absichten und manifeste Schwierigkeiten der seinerzeitigen Durchstaatlichung der

Zeitläufte (Steuerstaat, Bürokratisierung, kulturelle Homogenisierung,

Infrastruktur, Militantisierung, Merkantilismus etc.)1305 war jede Poli- tik unzeitgemäß geworden, die „aus der Heiligen Schrift abgeleitet“

(Bossuet) werden sollte. Sie konnte unter anderem nichtintentionale

Nebenfolgen, unlogische Handlungsmotivationen, funktionelle Diffe- renzierungsprozesse oder auch eigenläufige Allokationsprozesse kaum erfassen, die inzwischen an Gewicht gewonnen hatten. Nur kog- nitiv, nicht aber traditional oder top down ließen sich grundlegende

Fragen des politischen und sozialen Denkens neu stellen und damit womöglich innovativ beantworten. Was hält gesellschaftliche Systeme zusammen? Wodurch entstehen und wie verlaufen ihre Wandlungspro- zesse? Was ist eine gute Ordnung? Wie lassen sich Interpretationen abgleichen? An einer kulturgeschichtlich bedeutsamen Wegscheide wurde von Spinoza vorausgenommen, was die Neuzeit in vielfacher

1304 Ethik nach geometrischer Methode dargestellt (1677), Leipzig: Meiner o.J., S. 296/262. 1305 L’état dans tous ses états, in: Charles-Olivier Carbonell u.a.: Une histoire européenne de l’Europe, Paris: Édition Privat 1999, S. 67 ff. 438

Hinsicht bewegen (= beunruhigen + antreiben) sollte. Zivilisatorische

Höchstleistungen hängen davon ab, ob mit Raritäten wie Begabung,

Willenskraft, Kreativität oder Erfindungsgeist im Interesse der Allge- meinheit kräftig gewuchert wird, was prospektiv die gesellschaftsfunk- tionale Dauerneuverteilung von Rollen nach Ergebnis statt nach Her- kunft einschloss. Spinoza schrieb zu einer Zeit, in der soziostruktu- relle wie mentale Umschichtungen überkommene Moralbegriffe und

Verhaltensstile untergruben; die Führungskräfte Agrar-Europas blie- ben in autoritären Klischees befangen1306 und wirkten eher parasitär als bewusst innovatorisch, selbst dort, wo sie im Kontext der Konsoli- dierung des Zentralstaates der Modernisierung vorarbeiteten. Der E- pochengeist war entsprechend mit Steuerungskomplikationen konfron- tiert, die das Elitenthema historisch erst zum Gegenstand einer effek- tivitäts-orientierten statt appellativ-dedikatorischen (Fürstenspiegel)

Politiklehre machten. Zwar war an eine Bestallung der Eliten durch die Bürger kaum zu denken, jene „unbeschränkte Fürstenherrschaft“

(Friedrich Murhard) kam ja erst richtig in Schwung, die zuweilen weit bis ins 19. Jahrhundert andauerte, je östlicher, je länger. Die Le- gisten, Kommissare, Agenten, Intendanten oder Funktionäre des Ab- solutismus sahen sich ‚kooptiert’. Die nachfeudale Machtkonzentrati- on1307 wurde gewahrt - „Wir sind doch Herr und König und können thun, was Wir wollen“1308, kommentierte Friedrich Wilhelm I. von

Preußen zu Anfang des 18. Jahrhunderts diese Konstellation -, ob- schon die Anzahl der Entscheidungsträger stetig wuchs, die das über-

1306 Wie Jean de La Fontaine sie samt obrigkeitlicher Anmaßungen an- schaulich in seiner Fabel „Der Gärtner und sein gnädiger Herr“ (Die Fabeln IV, 4, Wiesbaden: Vollmer o.J., S. 92 f.) beschrieben hat. 1307 Vgl. S. J. Brams: Measuring the concentration of power in political systems, American Political Science Review 62 (1968), S. 461 ff., dessen nützlicher „index of power concentration“ noch nicht zutrifft, weil in der Vormoderne zwischen Herrschen/Regieren zu unterscheiden blieb, während sich postmodern das Verhältnis zwischen Einfluss (Wirtschaft) und Macht (Politik) formaler Messung wieder zu entziehen scheint. 1308 Zit. Schmoller: Der preußische Beamtenstand (Anm. 180), S. 29. 439

lieferte ius gubernandi subditos verwalteten, nicht aber für das regna- re zuständig waren; noch blieb „die Geschichte der Könige das Marty- rium der Nationen“ (Abbé Gregoire). Immerhin sah sich das Nachden- ken über notwendige Qualifikationen zur Lenkung sozialer Gebilde samt Rekrutierungs-Voraussetzungen seither als ‚politische Arithme- tik’ zur Last der Führung hinzu gerechnet. Welche Formung und Kon- trolle ist mehr als andere geeignet und wie muss gefiltert werden, um

Befähigte auf die richtigen Plätze in der Gesellschaft zu setzen? Und was führt zu notorischen Text-Fehlinterpretationen der politischen

Rollenträger, wodurch diese Strategien so oft misslingen?

Strukturelle Entwicklungen, die die Physiologie des Staates veränder- ten, führten die Elitedebatte bald über Spinoza und seine Zeit hinaus.

Der Frühaufklärer vertrat eher postulatorische Auslesevorstellungen; diese wirkten geistesgeschichtlich weiter, aber schenkten den Macht- eliten rebus sic stantibus zu wenig Aufmerksamkeit. Die jedoch gaben weiter den Ton an, obschon sie mit Kriterien der Exzellenz selten ü- bereinstimmten oder ihnen sogar Hohn sprachen. Dennoch halfen

Spinozas philosophische und intellektuelle Gütekriterien, den Blick für Aufgaben, Zugehörigkeit/Zusammensetzung und Bewertung gesell- schaftlicher Eliten zu schärfen1309. Indem der Philosoph in Auseinan- dersetzung mit überkommenen Ordnungsmustern um zeitgemäßere

Vorstellungen rang, begab er sich auf den Boden der modernen Poli- tik. Nicht allein, indem er die Meinung vertrat, Demokratie komme dem Naturzustand der Menschengemeinschaft am nächsten.1310 Viel- mehr sah er deren Leistungsfähigkeit durch das Kriterium der Funkti-

1309 Sie finden ihren markanten Niederschlag in Artikel 6 der ‚Déclaration des droits de l’ homme et du citoyen“ vom Sommer 1789, in dem es heißt: „Tous les citoyens étant égaux ... sont admissible à toutes dignités, places et emplois publics, selon leur capacité et sans autre distinction que celle de leurs vertus et de leurs talents“. 1310 Tractatus Theologico-Politicus (Anm. 138), S. 617. 440

on gekennzeichnet1311 und damit durch die Nützlichkeit aller Instituti- onalität, überhaupt des gesellschaftlichen Konstruktivismus.1312 Elite geriet bei Spinoza1313 zu einem deontologischen Leistungsbegriff der höheren Sozialsphären, der bei ihm allerdings an transsoziale Wert- gehalte gekoppelt blieb und sich noch nicht auf die „durch die soziale

Gruppe dem Geiste ihrer Angehörigen eingepflanzte Überzeugung von der Statthaftigkeit der ihnen durch dieselbe auferlegten Lebensfüh- rung“ beschränkte.1314 Immerhin qualifiziert sich ausschließlich Vers- tandeskapazität (amor intellectualis) als Befähigung zur Sittlichkeit, darin ist der Späthumanist ganz modern, gesellschaftspolitisch jeden- falls sei Tugend ohne Verstand wenig durchsetzungsfähig. Weil ‚Ex- zellenz‘ wegen solcher geistigen, ethischen und generell charakterli- chen Anforderungen nur einer Minderheit vorbehalten bleibt, war die- se Minorität als EliteF zur Wahrung der öffentlichen Belange zugleich erforderlich und berufen. Wenn überhaupt, dann könne nur ihre Rege- lungskapazität samt Möglichkeitssinn all die überraschenden Komple- xitäten noch bewältigen helfen. Wahrhaft elitäre Dienstleistungen stellten mehr denn je „eine dringende Notwendigkeit“ (Bodin) der Zeit- läufte dar, nur sie könnten im Sinne des neu zu bestimmenden Ge- meinwohls samt öffentlichem Willen die Dinge vielleicht sachgemäßer verwalten, wovon laut unterstellter Rückkoppelung zugleich das Ei- genwohl der neuen Führungsschichten abhinge.

1311 Vgl. dazu Ignaz E. Horn: Spinozas Staatslehre. Zum ersten Male dar- gestellt, Dresden: Ehlermann ²1863, S. 169 ff. 1312 Dessen fabrikweltliche Allgemeingültigkeit Jeremy Bentham in der Nachfolge des britischen Pragmatismus seit Francis Bacon, Jahrgang 1561, später als Utilitarismus formalisieren sollte. 1313 Die sich etwa an ihrem politischen Erfolg messen lassen musste, ob sie es verstand, „die Menschen so [zu] regier[en], daß sie, trotz offenbar verschiedener, ja entgegengesetzter Meinungen, doch in Eintracht mitein- ander leben“ (a. a. o., S. 617). 1314 Ludwig Gumplowicz: Grundriß der Soziologie, Wien: Manz 1905, S. 179. 441

Notwendig, und damit zum Zankapfel, wurden die Rekrutierung von

Eliten wie deren Führungsleistung zu einem Zeitpunkt, als sich die

Konturen eines Zeitalters der Massen abzeichneten, das paradoxer- weise zugleich a) kollektivistischer wurde und damit anfälliger für

Stimmungen, und b) zunehmend individualisierter, da sozial- gliederloser ausfiel, so dass alle Herkunftseliten nach und nach an

Beglaubigung verloren. Seither musste sich nach Hegel nicht zuletzt die politische Klasse vor dem Volk bücken, „der realen, edelsten, all- gemeinsten Macht“.1315 Vorher gab es zwar allenthalben angestammte

Befehlsgruppen, die womöglich untereinander um knappe Herrschafts-

Ausstattungen konkurrierten. Sie standen aber angesichts jenes fort- währenden politischen „Monopols und Bevormundungssystems in Hin- sicht auf Wahrheit und Wissenschaft"1316 weder zur Diskussion noch zur Disposition. Die Oberen unterlagen seit dem Sieg des Absolutis- mus vorerst sogar keinerlei idealpolitischem Rechtfertigungsgebot mehr vor den ‚Vertretenen’, wie es im Feudalismus immerhin hypothe- tisch den Gefolgsleuten (auxilium et consilium) gegenüber bestanden hatte, wenn auch nicht vor dem gemeinen Volk. Sieht man einmal da- von ab, dass spätestens seit Augustin1317 alle Hoheitlichkeit im A- bendland wenigstens formell eine höhere Bezugsebene kannte als den

Willen zur Macht.1318 All das wurde erst anders, als die überliefer-

1315 Das galt jedenfalls bis sich Politik in der Mediengesellschaft von facta in ficta virtualisierte - oder umgekehrt -, so dass die Eigenlogik der ver- markteten Bilderwelt quasi-plebiszitär, in Wirklichkeit aber zirkulär, den Berechtigungsstandard (Visualisierbarkeit) der Eliten definiert, der wieder- um dem Niveau der verbildlichbaren Führungsriege entspricht, und den die Bürger als Zuschauer mangels Informationen, Alternativen, Mitsprache o- der gar Konfrontationschancen im Schau-Kontext personalisierter Wieder- gänger fast des Gleichen nur mehr scheinbar demokratisch absegnen kön- nen. 1316 So noch Karl Hermann Scheidler: Hegel'sche Philosophie und Schule, in Rotteck/Welcker (Hrsg.): Staats-Lexikon, Band 7, Altona 1839, S. 608. 1317 Denn „remota itaque iustitia, quid sunt regna, nisi magna latrocinia?“, De civitate Dei, liber IV, caput IV. 1318 Woraus Gerd Althoff (Spielregeln der Politik im Mittelalter, Darmstadt: Primus 1997) auch im Konfliktfall auf funktionierende Humanität schloss, 442

ten/geglaubten Ethik-Fundamente Alteuropas aus unterschiedlichen

Gründen (Glaubensspaltung, Materialismus, Säkularisierung, Ver- kopfung etc.) nachgaben und andere als herkömmliche oder transzen- dente Medien erst der Pflichtbegründung1319, dann der Machtkontrol- le, letztlich einer Elitenbesetzung erfunden und implementiert werden mussten. Vor dem Hintergrund ebenso erschreckender wie andauern- der Erfahrungen mit Religionszwisten, Kriegen, Revolutionen und So- zialumbrüchen aller Art, die sich nicht nur den aufsteigenden Schich- ten des städtischen Bürgertums im Westen als Sinnschwund und Mo- dernisierungsdruck aufdrängten, geriet seinerzeit frei nach Macht =

(f) Eigentum1320 der ‚Parlamentarismus’1321 samt Mehrheitsregel zur der Kontrolle Exekutive und damit zur innovativsten Politikfiguration spätfeudal-frühbürgerlicher Führungskräfte, trotz Cromwells Spott ü- ber dieses „Babel der Törichten“. Der Lordprotektor missachtete das

Parlament in London und damit die neue Freiheit im Lande, die von der Krone abgelöst, aber noch nicht an das Volk weitergereicht wor- den war, was selbst in England bis weit in das 19. Jahrhundert hinein auf sich warten lassen sollte. Immerhin, diese Form der ‚Ständever- sammlung’ vermochte die sich mit dem Leistungs- und Motivations-

Abstieg herkömmlicher Eliten einspielende Auslese- und Führungs-

die hingegen eher begrenzt (auf Standesgleiche), Mittel-abhängig (gerin- gere Zerstörungskraft) und vor allem sparpolitisch (Produktions- und Er- satzbegrenzungen) bedingt war, so dass beobachtbare Regeln (Ritualisie- rung, Einhegung, mithin Eindämmung der Gewaltverwendung) keineswegs größere Rücksichtnahme demonstrieren, sondern Zweckrationalität im Normalfall, wie entgleiste Auseinandersetzungen (Religionskriege) der E- poche erweisen. 1319 Via den Staat tragende Zugehörigkeits- als Folgsamkeitsrationalisie- rungen, wie sie hierzulande etwa Christian Wolff, Jahrgang 1679, unter ideenrealistischem Rückgriff auf das rationalistische Naturrecht vortrug: Vernünftige Gedanken vom gesellschaftlichen Leben der Menschen und in- sonderheit dem gemeinsamen Wesen, Frankfurt am Main/Leipzig 61747. 1320 Denn „dominion is property", wie James Harrington (The Common- wealth of Oceana [1656], in: Political Writings, Anm. 88, S. 35 ff., hier S. 44) die Lage knapp resümierte. 1321 Vgl. noch immer A. F. Pollard: The Evolution of Parliament, London: Logmans, Green 1926. 443

konkurrenz friedlicher und damit kostengünstiger/effektiver zu regeln als bisherige Formen der Austragung von Zuständigkeitszwisten, wel- che alle Politik von Kain herzuleiten schienen. Auch die Rechtsphilo- sophie der sich zeitgleich abzeichnenden Marktgesellschaft verdankt sich dieser Übergangszeit; in ihr sah sich mit einem

• mobilisierten Aneignungs- beziehungsweise modernisierten Eigen- tumsbegriff als Konsequenz und/oder Quelle des Erwerbs [= (f) Leis- tungsfähigkeit]

• post-traditional umfassenden Kooperationsverständnis (verabre- den, (um) sich zu vertragen) als zugleich freiwillig-willkürliche und damit erst bindende Vereinbarungsmodalität aller sozial-relevanten

Interaktionen auch die tragende Politik-Anthropologie der Neuzeit umrissen. In die- sem Denkumfeld werden zudem passende ideologische Kriterien (Li- beralismus) ebenso bereit gestellt wie mögliche Bemessungsgrundla- gen für ein zeitgemäßeres Assortiment der Führungskader (Erfolg).

Dabei konnotierten Reichtums-Autorität und Gemeinwohl zunehmend, was allerdings erst Mandeville als sozialphilosophischer Mephistophe- les des 18. Jahrhunderts deutlich auszusprechen wagte. Diese praxe- ologische Öffnung des Sozialen - samt Berechtigungen wie Obliegen- heiten regelnder Verlässlichkeit - ermöglichte eine übersichtlichere

Handhabung der Politikmoderne als Gestaltung und Verwaltung der

Staatsgeschäfte im Interesse einer angemessen-motorischen Selbst- repräsentanz der Gesellschaft. Das verhinderte keineswegs, bedingte es sogar, dass timokratische Einfärbungen als Folge der sich ausbrei- tenden Gewinnethik innergesellschaftlich neue Schließungstendenzen auslösten1322; sie überdauerten unschwer, wie der Rückblick zeigt,

1322 Zu den demokratie-kompatiblen Abkapselungen im ultima Roma von heute vgl. Hedrick Smith: The Power Game. How Washington Works, Lon- don: Collins 1988. 444

alle späteren Demokratisierungs-Schübe des politischen Raumes1323, der sich ansonsten mit der industrieweltlichen Grunderneuerung der

Zeitläufte und ihrer politischen Dynamisierung durch immer neue As- piranten auf Mitsprache und Teilhabe zugleich weiter ausdehnen soll- te.

Doch in offeneren Systemen, wie sie sich im 18. Jahrhundert zu for- mieren begannen, bilden Elite und Chancengleichheit nur scheinbar

Widersprüche, wie bereits das 17. Jahrhundert mit Spinoza wusste, keineswegs aber eine Realpugnanz, da die Tyrannei des Erfolges un- gerührt Durchsetzungs-Begabungen aller Art die Tore öffnete. Die der

Knappheitslogik entsprechende Minderheit der EliteD , hat mit dem po- litischen Erfahrungsschatz seiner Epoche später der italienische Poli- tikwissenschaftler Gaetano Mosca1324, Jahrgang 1858, verlangt, muss allerdings „eine Mehrheit des Wissens, des Könnens und der morali- schen Kraft einer Nation repräsentieren“, nicht aber die jeweilige

„snobiety“ (Mills). Sonst ging/geht die Formel nicht auf, wonach die

Zielstrebigsten in den unterschiedlichen Verwaltungs-, Entwicklungs-,

Gestaltungs- oder Entscheidungsebenen der modernen Gesellschaft irgendwie die zur rechten Führung auch Berufenen sind. Und nicht etwa, wie William Golding1325 vermutet hat, nur die Skrupellosesten,

Zivilgesellschaftlichkeit hin oder her. Der Mitwelt war „produktive Dis- tanz“ nur insoweit zuzumuten, lautete die frühmoderne Elitentheorie-

Lehre, wie „aus der Ungleichheit sich ergebende Trennungen“ tat- sächlich „neue Ideen, neuartige Formen der Verbundenheit und Ab-

1323 Was in toto keineswegs die von Albert O. Hirschman (Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Reaktion, München: Hanser 1992, S.62 ff.) kritisierte „Vergeblichkeitsthese“ stützt, wonach die diachrone Elitenprä- senz mit Partizipations-Verbesserungen inkompatibel sei; gleichwohl bes- tätigt sich, modern allerdings nach meritokratischeren Kriterien, die Oben- Unten-Fatalität von Vergesellung, die erhebliche demokratie-theoretische Fragen aufwirft. 1324 Zit. Michael Freund, Das Eliteproblem in der modernen Politik, Politi- sche Bildung, Heft 46, München 1954, S. 235 ff, hier S. 242. 1325 Lord of the Flies (1954), London/Boston: Faber 1984. 445

grenzung, des Sozialen und des Asozialen“ förderten, also die

Gemeinschaft insgesamt voran brachten1326, nicht aber

Sondervorteile und Extramacht begünstigten oder gar

Lenkungsschwächen im weitesten Wortsinn verdeckten. Es blieb nicht aus, dass diese Erwartung als Wertschätzung auf Kredit historisch wieder und wieder Züge von Platos „goldenen Lügen“ trug. Elite bauscht(e) sich zum ritualisierten Mythos auf, wenn das Etikett für die

Sache selbst gehalten wurde/wird.

Figur: 5 Leben für die Politik Leben von der Politik (Macht/Gemeinwohl/ (Eigeninteres- Sicherheit) se/Professionalität) ‚Klasse an sich’ Politische Elite Berufspolitiker ( Strukturebene) ‚Klasse für sich’ (Ak- Machtelite Politische Klasse teursebene) ‚Klasse durch sich‘ Funktionselite Beratungsschicht (Stützungsebene) (spin doctors etc.) ‚Klasse an und für Wertelite (Oberschicht) sich’ ( Führungsebene) Klasse für andere Orientierungselite (Meinungsführer) ( Kontrollebene) Elite als Job1327 Nicht nur Staats- oder Machteliten füllten als „kleine Zahl der Privile- gierten, die durch gemeinsame Interessen verbunden sind“1328, auch in den Annalen der Neuzeit die öffentlichen Anforderungen per saldo selten aus, selbst wenn bestallte oder andere Lobredner das gern be- haupt(et)en.1329 Eher umgekehrt, die neuere Elitendiskussion, wie sie

1326 Alexander Deichsel in ders. ( Hrsg.): Die produktive Distanz, Hamburg: Marketing Journal 1988, S. 9. 1327 Erweitert nach Borchert/Golsch, vgl. Anm. 1332. 1328 Auguste Blanqui: Défense devant la cour d’assises (12. 1. 1832), in ders.: Textes choisis, Hrsg. V. P. Volguine, Paris: Éditions sociales 1955, S. 71 ff., hier S. 77. 1329 Zu deren „selbstreferentieller Struktur“ laut Alex Demirović (Politische Klasse und demokratische Frage, in: Thomas Leif [Anm. 766, S. 442 ff.]) inzwischen die politikwissenschaftliche Theorie selbst zählt, etwa wenn „den Führungsgruppen und politischen Akteuren wissenschaftlich ... nahe- gelegt wird, sich als neuer Adel zu verstehen“ (S. 462). 446

Mitte der 1950er Jahre durch den amerikanischen Soziologen Mills weltweit in Gang gebracht wurde1330, konnte bei allen pluralistischen

Einwänden1331 von R. Bell und R. A. Dahl über W. Kornhauser und E.

Latham bis D. Riesman und D. B. Truman gegen eine angebliche

Machtverschwörungslehre nachdrücklich heraus arbeiten, dass sich auf dem Boden formal-demokratischer Gegebenheiten sehr wohl elitä- red Komplexe halten, die weniger mit Exzellenz als vielmehr mit

Reichtum, Einfluss und Verfügungsmacht zu tun haben. Zur polyarchi- schen Elite als „regierende Gruppe“ (Belloc), welche die politische

Klasse1332 im engeren Sinne umgreift und das Volk laut Wilhelm Hen- nis1333 zu ihrem Resonanzboden stilisiert, zählen demnach all jene well-to-do, „die unschwer dazu imstande sind, ihren Willen in all je- nen Belangen durchzusetzen, die von ihnen für relevant gehalten wer- den“1334. Anforderungsprofile

1330 Zusammenfassend schon Frieder Naschold: Machttheorien in ders.: Systemsteuerung, Stuttgart u.a. Kohlhammer 1969, S. 128 ff. 1331 Die schon aus methodologischen Gründen mehr sind als eine „typisch ideologische Abwehrreaktion“, wie Nikos Poulantzas (Politische Macht und gesellschaftliche Klassen, Frankfurt am Main: Athenäum ²1975, S. 326) meinte; vgl. schon Bernhard Bandura: Bedürfnisstruktur und politisches System, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1972, S. 46 ff. 1332 Zur deren Definition und Abgrenzung vgl. Jens Borchert/Lutz Golsch: Die politische Klasse in westlichen Demokratie, Politische Vierteljahres- schrift, 36. Jg. (1995)/Heft 4, S. 609 ff., wobei die Autoren sich mit ihrem Abgrenzungsraster (S. 614) frei nach: ‚Leben von der/für die Politik bzw. Klasse an/für sich’ um die politischen Probleme (Machtfra- ge/Interessenstruktur/Demokratiedilemma) drücken, wenn sie meinen, „Machtelite/herrschende Klasse“ wären korrekt unter der Rubrik „Leben für die Politik (Macht – Gemeinwohl) abzulegen. 1333 Meinungsforschung und repräsentative Demokratie, Tübingen: Mohr 1957, S. 49. 1334 William Domhoff: State and ruling class in corporate America, Insur- gent Sociologist, Jahrgang 4 (1974)/Nr. 3., S. 3 ff., hier S. 7. 447

Nun verlangt die Umwelt unter Ergebnis-Gesichtspunkten nach einem hohen Niveau all jener Vorleute, „die entscheiden sollten“1335, um auf den verschiedensten Etagen und unter sich beschleunigendem Anpas- sungsdruck - nicht zuletzt einer Dot.com-Revolutionierung - der all- gemeinen Problem-Chaotik moderner Gesellschaften durch Bereitstel- lung des benötigten Richtungswissens und entsprechender „Steue- rungskapazitäten“1336 vielleicht Herr werden zu können. Jede kritisch- prüfende Betrachtung der Leistungen bestehender Macht-, Funktions- und/oder Wert-, beziehungsweise Bewegungs- oder Positions-

Eliten1337 galt bis in das Medienzeitalter hinein indes als Sünde wider den Geist der Ordnung. Im vollentfalteten Parlamentarismus hingegen erschien „angesichts des dramatischen Machtzuwachses der Eliten“ eher „der Weg demokratischer Selbsttätigkeit als Anachronismus“1338, mochte sich die Avantgarde-Rolle dieser Spitzenkräfte durch Verviel- fältigung (Komplexitätseffekt), Darstellungszwänge (Medialisierung) und Einschüchterung (Rechtfertigungsregel) gegenüber ihrer Lage in der Vormoderne auch abgenutzt haben, wo man auf den Rängen noch

über ein aktives Aufmerksamkeits- und Entscheidungsprivileg verfüg- te. Mit Blick auf a) Rekrutierungsmängel und Handlungsbarrieren des politischen Apparates sowie b) Unzufriedenheit, Rückzugstendenzen oder politische Apathie auf Seiten des Wahlvolkes, so notierte mit

Ostrogorski1339 schon ein früher Zensor der Parteiendemokratie samt neuzeitlichen deputati perpetui, lasse sich inzwischen eine merkwür-

1335 Harold D. Lasswell /Daniel Lerner /C. E. Rothwell: The Comparative Study of Elites, Stanford: UP 1952, S. 7 f. 1336 Dazu zentral Dietrich Herzog: Zur Funktion der politischen Klasse in der sozialstaatlichenDemokratie der Gegenwart, in Leif (Anm. 766), S. 126 ff. 1337 Zu diesen Spielarten vgl. Kurt Lenk: ‚Elite‘ - Begriff oder Phänomen, Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 42 (1982), S. 27 ff. 1338 Peter Bachrach: Die Theorie der demokratischen Elitenherrschaft, Frankfurt am Main: EVA 1967, S. 19. 1339 Democracy (Anm. 348), Band 2, S. 632 f. 448

dige „Art von gegenseitiger Rückversicherung aus Furcht vor einan- der“ beobachten, die im Alltag „die Beziehungen von Regierenden und

Regierten prägt“ und die dem Niveau der Politik generell eher abträg- lich ist.

Die Forderung nach wirklichen Leistungseliten als sozial-funktionale

Portalfigurationen war ideengeschichtlich eine Parole des nachfeuda- len Mittelstandes gewesen1340, der im Interesse der Produktionswelt nicht nur eine sachgemäßere Zustandsverwaltung plus Orientierungs- kenntnissen benötigte, zudem Aufstiegschancen für Seinesgleichen anstrebte, sondern zugleich das mit den revolutionären Umbrüchen evidente Führungsvakuum zu füllen hatte.1341 „Der Positivismus ten- diert wie von selbst dazu“, kommentierte Comte die sich durchsetzen- de Transformationsideologie1342 der Epoche, „die öffentliche Ordnung zu konsolidieren“. Was unter anderem verlangte, dass nicht allein die alten Herrschaftskader, soweit sie sich sperrten, sondern vor allem auch die Grundschichten „durch die Pflege einer weisen Resignation“ den neuen Gegebenheiten zu unterwerfen waren, um etwa der als selbstverursacht, gleichwohl aber unabsehbaren Großkrise empfunde- nen Industrialisierung mit ausreichender Elastizität (= Sicherheit +

Akkumulation) begegnen zu können. Zu ihrem eigenen und dem all- gemeinen Besten, denn hinfort lägen Fortschritt und Funktionstalent in den Händen der Unternehmer1343 und würden nicht zuletzt auch mit sozialwissenschaftlichen Mitteln betrieben. Die unternehmenden Bür-

1340 Der seine Position durch die Etablierung eines verbindlichen Berechti- gungswesens nach oben wie unten zu festigen suchte, wie sich nicht zu- letzt der Schulpolitik jener Übergangsepoche entnehmen lässt, vgl. 1341 Vgl. Werner Giesselmann: Die brumairianischen Elite. Kontinuität und Wandel der französischen Führungsschicht zwischen Ancien Régime und Julimonarchie, Stuttgart: Klett 1977. 1342 Cours de philosophie positive, 6 Bde., 1830/1842, Band 4 (Paris: Schleicher 1908), S. 100. 1343 Vgl. zur Rolle industrialisierender Eliten Clark Kerr/John T. Dun- lop/Frederick Harbison/Charles A. Myers: Der Mensch in der industriellen Gesellschaft, Frankfurt am Main: EVA 1966, S.63 ff; 91 ff. 449

ger, Thomas Carlyles „Industriekapitäne“ also, bekämpften entspre- chend das Direktionsrecht der alten Aristokratie und deren Leitungs- regeln, weil diese innovatorischen Kriterien wie Leistung, Effektivität oder selbst Erfolg nicht länger genügten. Sie waren nicht nur irgend- wie ‚unnütz’ geworden, sondern blockierten die Universalisierung bür- gerlicher Tugenden. Insofern stellten sie ein ebenso großes Risiko für die Zeitläufte dar wie mögliche Proteste der außerständischen Mehr- heit gegen deren Dromokratie. Verweise auf das Missgeschick des

Fortschritts nach 1793 beziehungsweise konservative oder auch früh- sozialistische Einwände etwa gegen die sich ausbreitende Verdingli- chungslogik1344 fanden in Romantik und Reaktion zwar Gehör, ver- mochten aber wenig auszurichten gegen

• den tatsächlichen Wettbewerbsdruck ökonomischer Sachzwänge

• die um gesellschaftliche Anerkennung ringenden und alle sozialen Innovationskräfte im Lande rekrutierenden Nachwuchseliten

• jene seinerzeit populär werdende, ökonomistische Modernisie- rungsideologie, die Frédéric Bastiat1345 so erfolgreich propagierte.

Pathetisches Beispiel für die elite-aspirativen Argumentationsmuster jener Umformungsphase ist eine bissige ‚Politische Parabel’ des fran- zösischen Modernisten Saint-Simon1346 aus dem Jahr 1819, für die er umgehend gerichtlich belangt wurde und die er um ein Haar mit einer langen Gefängnisstrafe wegen Aufwiegelung bezahlt hätte: „Nehmen wir an, Frankreich würde plötzlich seine fünfzig besten Physiker ver- lieren, die fünfzig besten Chemiker, die fünfzig besten Biologen, die

1344 Wonach laut Louis de Bonald (Théorie de l’éducation sociale (1795), in: Théorie du pouvoir politique et religieux, Paris: 10/18 1966, S. 239 ff.) „cette manie bureaucratique (...) fait que la fonction absorbe l’homme, rétrécit l’esprit, et l’extrême attention sur les choses n’en permet presque plus sur les hommes“ (S. 251). 1345 Vgl. dessen anti-staatlichen und gegenbürokratischen Marktfreiset- zungs-Argumente in: Mélanges d’économie politique, 2 Bände, Brüssel: Meline, Cans et Cie 1851. 1346 La Parabole de Saint-Simon, in: ders, Textes choisis, Paris: Éditions sociales 1951, S. 108 f. 450

fünfzig einflußreichsten Bankiers, die zweihundert wichtigsten Ge- schäftsleute, die fünfhundert wichtigsten Landwirte, die fünfzig wich- tigsten Ingenieure, Baumwollfabrikanten, Maler, Musiker und so wei- ter, d.h. insgesamt die dreitausend bedeutendsten Gelehrten, Künst- ler und Handwerker des Landes. - Die Nation würde augenblicklich zu einem Körper ohne Seele. Sie wäre mit einem Schlag jenen Nationen unterlegen, deren Rivale sie heute ist (...) Stellen wir uns nun vor,

Frankreich könnte all diese genialen Männer ... behalten, es würde ihm aber das Unglück widerfahren, an ein und demselben Tag ... die

Herzöge von Angoulême, Orléans und Bourbon usw., zugleich alle

Großoffiziere der Krone, alle Staatsminister mit oder ohne Geschäfts- bereich, alle Kardinäle, Erzbischöfe, Präfekten, Unterpräfekten und obendrein unter jenen, die ein angenehmes Leben führen, die zehn- tausend reichsten Eigentümer zu verlieren. Dieses Unglück würde die

Franzosen sicher betrüben, weil sie gute Menschen sind ... Aber die- ser Verlust von dreißigtausend Personen, die als die hervorragends- ten des Staates gelten, würde nur aus gefühlsmäßigen Gründen Kum- mer bereiten, denn es entstünde daraus kein politisches Übel für den

Staat.“

Diese an der industrie-wirtschaftlichen Nützlichkeit der neuen Fabrik- welt und ihrer Zuarbeitseliten orientierte Sicht der Lage war zwar ganz ohne Gespür für die extra-funktionale Bedeutung etwa von Pro- minenz in der politischen Alchemie und unterschätzt zudem sträflich die Investivrolle des Reichtums. Aber mit dem Versprechen, dass „die

Verwaltung der Dinge an die Stelle der Regierung der Menschen tritt“, wie sein Schüler Comte es zuspitzte1347, stritt man mit den Mitteln der Ironie wider das verzopfte Übergewicht von Prestigestrukturen, die ihre Rolle nicht länger ausfüllten, eben weil sie keine „Hierarchie der Fähigkeit“ (Saint-Simon) mehr zustande brächten, was einschlägi-

1347 Plan der wissenschaftlichen Arbeiten (Anm. 681), S. 110. 451

ge Passagen des ‚Kommunistischen Manifestes’ (MEW 4, S. 464 ff.) gleichermaßen unterstreichen.1348 Das unternehmende Bürgertum blieb zwar auch in Frankreich - um von anderen Zonen und ihren Be- dingungen der Rückständigkeit abzusehen - lange in Rangstreitigkei- ten mit dem Ancien Régime post festum verstrickt. Entsprechend kämpferisch klangen seinerzeit innovatorische EliteF -Theorien. Her- ausragen dürften nur jene Kreise, die durch messbare Leistungen das

Wohlergehen des industriellen Systems förderten. „Das Sittliche stellt sich“, so betrachtet, tatsächlich „dar als Egoismus in höherer Form“, mithin als „Egoismus der Gesellschaft“ selbst, wie Ihering1349 rückbli- ckend kommentierte. Spitzenstellungen in Staat, Gesellschaft, Wirt- schaft oder Kultur sollten sich nachfeudal einzig Persönlichkeiten öff- nen, die ihre Ämter nicht nur ordnungsgemäß erledigten, wie der preußische Kriegsminister Hermann von Boyen1350 („Der Zeitgeist, den eine Regierung nie unbeachtet lassen darf, fordert in den höhe- ren Posten Männer des Vertrauens, die mit ihrer Ehre für den Erfolg ihrer Verwaltung verhaftet sind“) verlangte, sondern die vorher geeig- nete Prozeduren der Filterung im offenen Wettbewerb um die ebenso knappen wie obligatorischen Ränge durchlaufen hatten und deren Po- sitionswahrnehmung auf der Zeitschiene überdies politisch, sprich be- troffenen-rational zu evaluieren bliebe. Seitdem schossen überall neue, leistungs-hierarchische Bildungseinrichtungen aus dem Boden, die ihren Absolventen mit den Abschlusszeugnissen schmucklose A- delsprädikate der Arbeitswelt in die Hand drückten. So jedenfalls lau-

1348 Die allerdings auch auf Barrieren der industriewirtschaftlichen Lei- tungsfähigkeit verweisen, die „Grenzen der Notwendigkeit“ (Marx) im Sinne von Umwelt und Humanität zu überschreiten, weswegen die „Geschichte der Empörung“ keineswegs beendet sei. 1349 Der Zweck im Recht (Anm. 211), Band II, S. 194. 1350 Votum Boyens vom 10. 8. 1817 an den Staatskanzler Hardenberg, zit.Schmoller: Kleine Mitteilungen (Anm. 180), Band 6: Kleine Schriften zur Wirtschaftsgeschichte, Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik (1987), S. 784 ff., hier S. 789 f. 452

tete frei nach ‚extra curriculum nulla salus’ die Erwartung des frühin- dustriellen Bürgertums, das die Elitefrage mit dem Anspruch auf

Gleichheit verquickt hatte. Nicht Beziehungen, Pfründe, Rendite oder andere Extrachancen sollten den Zugang zur Verfügungsmacht regeln, sondern einzig und allein die geistige und charakterliche Befähigung

(Matura), die schwierigsten Anforderungen zu meistern, wie sie päda- gogische Einrichtungen zur Auslese als Testlauf simulierten. Bereits zu der Zeit, als die Unternehmer mit dem Adel um Vorrang rauften, sah sich das Bürgertum allerdings in Zwiste mit einem noch bedrohli- cheren Macht-Konkurrenten verwickelt. Angesichts der gewichtiger werdenden Arbeiterbewegung sollte das gängige Elitenverständnis bald eine neue, „gleichsam antiproletarische Wendung“ (Meisel) er- fahren. Ausleseverfahren, die altständischen Vorrang abtragen woll- ten, sahen sich nun dazu benutzt, Ansprüche der Massen auf Partizi- pation zu drosseln.1351 Bildung, eben ein Medium der Gleichheitssi- cherung, geriet auf lange Zeit zur entscheidenden Hürde für nicht ge- nehme Möchtegern-Aufsteiger. Entsprechend rekrutierten sich die Ge- geneliten der frühindustriellen Epoche anfangs zumeist noch aus ‚ab- trünnigen‘ Schichtwechslern, wohingegen die Entriegelung dieser neuen Ausschließungsstrategie von oben zu einem Hauptkampfpunkt der Arbeiterbewegung avancierte. Noch der Heidelberger Parteitag der SPD (1925) verlangte in diesem Sinne die Brechung des Bil- dungsprivilegs der Besitzenden durch Unentgeltlichkeit aller Bil- dungswege samt Lehr- und Lernmittel.

Auslese

1351 Vgl. zu dieser Funktion z.B.: Die drei preußischen Regulative vom 1., 2. und 3. Oktober 1854, im amtlichen Auftrag zusammengestellt von F. Stiehl; abgedruckt in Gerhardt Giese: Quellen zur deutschen Schulge- schichte seit 1800, Göttingen u.a.: Musterschmidt 1961, S. 145 ff. 453

Daraus ergaben sich Unvereinbarkeiten, die den Umgang mit Begriff und Realität der Elite zusätzlich erschwer(t)en, ohnehin ist ihre histo- rische Dimensionalität kaum zu definieren und eine zu Ende gedach- ten Meritokratie1352 gar grenzt lebensweltlich ans Abstruse. Während die technisch-wissenschaftliche Entwicklung der Neuzeit immer höhe- re Anforderungsprofile zeichnete und dafür nach geeigneten Ausbil- dungs- und Auslesemechanismen suchte, entzogen sich allenthalben bald wieder a) große Bereiche der sozialen Hierarchie (‚Old school tie system’,

Reichtumsmacht, Establishment, Ansehensarroganz, kulturelle Trend- setter, etc.), b) bestellte Funktionsträger etwa der politischen Elitenzirkel (allge- meiner Verselbständigungsprozess der Parteispitzen, Verstetigung politischer Einflusspositionen, Selbstrepräsentanz, Kontroll-

Immunisierung durch wachsende Intransparenz der (Nicht)Entschei- dungen, Außensteuerung1353 ff.) c) Funktionärs-Eliten der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen etc.

Großverbände (Oligarchisierung, Eigenzwecksetzung, Kooptation u.a.m.) aus der öffentlich weiterlaufenden Kriteriendiskussion über Bewer- tung, gesellschaftliche Nützlichkeit und damit über elitäref Anspruchs-

Berechtigung der sich herauskristallisierenden Pyramidal-Positionen.

Mochten in Gesellschaft und Kultur gleich Funktionseliten samt öf- fentlich-akzeptierten Wertmustern gefragt sein, weil der Alltag der

1352 Über die aporetischen Voraussetzungen und problematischen Folgen einer derartigen Gesellschaftkonstruktion vgl. noch immer Michael Young: Es lebe die Ungleichheit. Auf dem Wege zur Meritokratie (1958), Düssel- dorf: Econ 1961. 1353 Vgl. pars pro toto die Verhältnisse in der ältesten Demokratie der Nachantike, dazu Mark Hollingsworth: MPs for Hire. The secret world of political lobbying, London: Bloomsbury 1991. 454

Moderne sonst nicht länger effektiv gestaltbar schien. In Wirtschaft

(ruling class), Politik (power elite) und den immer relevanter werden- den Medien (opinion leadership) bestimmten weiterhin/erneut Kreise, die jene ursprünglich selbst-gesetzten Ansprüche der Bürgerära an zeitgemäß-responsive Eliten

• stillschweigend/invisibel unterliefen (wie im politisch hochentwi- ckelten Westen), indem der demokratisch zugängliche Raum elitär ü- berformt blieb; oder

• diese Vorstellungen durch Persistenz mitgeschleppter Ange- stammtheiten jedenfalls in der Politik ignorierten, wie es bis ins 20.

Jahrhundert hinein etwa in Mitteleuropa üblich blieb.

Es ging im Kontext der Elitendebatte seit der Frühmoderne nach und nach nicht länger um das Problem der Zugänglichkeit, Qualität, Kritik etc. amtlicher Rollenwahrnehmungen, wie es mit Condorcet, Andreas

Riem oder Robert Owen der bürgerlichen Ungeduld vorgekommen war.

„Dieses Thier, Staat genannt, stellt sich überall unsern Schritten zäh- nebleckend entgegen“, schilderte 1836 Karl August Varnhagen von

Ense1354 solch eingeengte Problemwahrnehmung, „und läßt uns nicht durch; vor ihm sicher ist nur, wer ihm auf den Rücken springt und sich als Ungeziefer von ihm nährt.“ Das traf nicht zuletzt für den deutsch- sprachigen Raum zu, wo Adelsschichten als Machtfaktor bis in dieses

Jahrhundert dominant blieben. Selbst dort aber, wo wie in den USA demokratische Prozeduren unbestritten waren, mit anfänglichen Ab- strichen (Schwarze, Rote, Frauen etc.) prinzipiell alle Felder der Ge- sellschaft inklusive der Politik jedem offenstanden und Leistungsfä- higkeit tatsächlich die Vergabe von Positionen mitsteuerte, bildeten sich Macht- und Prestige-Ränge aus, im Sinne von Thorstein Veblen auch demonstrative Renommier-Eliten. Sie blieben porös für Nachrü-

1354 Tagebücher, Leipzig u.a.: Brockhaus u.a., 1861 - 1905, 15 Bde, hier Bd. 1, S. 25. 455

cker und kannten Abstiege. Aber für sie galten binnen kurzem andere

Regeln der Rangvergabe und Rangakzeptanz (Zugehörigkeit, Geld- macht, political correctness ff.) als die der elitärenf Exzellenz im wei- testen Wortsinn antitraditionaler Positionen des aufstrebenden Bür- gertums1355. Und damit stellt(e) sich selbst in gefestigten Demokra- tien die Frage nach der Rechtfertigung solcher Herrschaftsgruppen jedenfalls in politicis, die wenigstens modell-logisch weder ohne wei- teres mit parlamentarischen Spielregeln vereinbar waren/sind, noch eine faire, da startchancen-vergleichbare Leistungskonkurrenz durch- gestanden haben müssen. „Die Geschichte zeigt, wie stark die Nei- gung zum Überwuchern der Herrenrechte über die Leistungsrechte ist

(...) Man kann hierin die Tragik des Machtverhältnisses erblicken“, kommentierte Alfred Vierkandt1356 ein offensichtliches Gravitations- gesetz der Politik, das historisch, wenn überhaupt, eher durch plebis- zitäre Eingriffe zu korrigieren war/ist als etwa durch jene von Max

Weber erhofften charismatischen Investitionen. „Unterordnungswille auf der einen, Machtwille auf der anderen Seite führen ebensowohl zu den Leistungen und Machtverhältnissen“, heißt es weiter, wie zu de- ren Mißbrauch und Zersetzung.

„Die Millionen müssen ackern, schmieden und hobeln, damit einige

Tausende forschen, malen und dichten können“. Mit Heinrich von

Treitschke1357 hat der tonangebende Historiker des Wilhelminismus protokolliert, was aus dem Elitebegriff des bürgerlichen Aufbruchs wurde: Eine Lehre zur Rechtfertigung ungleich verteilter Zugangs-

1355 Vgl. zu den intellektuellen und charakterlichen Leistungs- Voraussetzungen und Erziehungs-Erwartungen frühindustrieller Ausbil- dungsvorstellungen und damit über die geradezu zentrale antielitärk - elitäref Rolle des öffentlichen, also kostenlosen Schulsystems für die Mo- derne Philippe Muller: Vive l’école républicaine! Textes et discours fonda- teurs, Paris: Librio 1999. 1356 Gesellschaftslehre, Stuttgart: Enke ²1928, S. 265. 1357 In seinen einflussreichen ‚Vorlesungen zur Politik’: Politik (1898), 2 Bde., Leipzig: Hirzel 4 1918, hier Band 1, S. 51. 456

chancen. Der neuzeitlichen Politik und ihrer master class war bald klar geworden, nicht zuletzt durch die Konfrontation mit Unterschich- ten, dass sich zwar immer neue Spitzenpositionen horizontal über die

Gesellschaft verteilten, je rascher Arbeitsteilung und funktionale Dif- ferenzierung an Boden gewannen; diese Streuwirkung erweiterte in- des quantitativ die gesellschaftliche Zugspitze nicht wesentlich, so dass relativ gesehen Lenkungspositionen samt Ausstattung rar blie- ben. Hierarchien bildeten als arcana imperii das Fundament auch der demokratischen Zeitläufte! Nicht unerklärlich, warum das Bürgertum beim historischen Griff nach der Macht, noch in riskante Konflikte mit den elitären Vorgängern verwickelt, durch Robespierre1358 kühn hin- ausposaunte, dass „alle Institutionen für schädlich zu gelten haben, die das Volk nicht für gut, ihre Magistrate aber für unkorrumpierbar halten“. Der Preis der Freiheit in der Moderne, mahnte demgegenüber

T. N. Whitehead1359 eher resigniert, sei „unaufhörliche Wachsamkeit“, nicht so sehr „gegenüber den Angriffen privilegierter Personen oder

Klassen“; diese zählten inzwischen zur bestehenden Normalität und wirken als EliteD samt „Staatsadel“ (Pierre Legendre) spätestens seit dem Wegfall konkurrierender Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle ungefährdet und damit saturiert. Entscheidend sei unter Bedingungen der Herrschaft von Absprachen, des Übergewichts von Sachzwängen, der Dominanz internationaler Marktbewegungen oder auch der Volati- lität medialer Moden1360 vielmehr die Frage, ob nicht nur die politi- sche Führungsleistung (Gerechtig- keit/Effektivität/Kohäsionsversorgung), sondern die neuzeitliche Eli- ten-AgglomerationD insgesamt einem schleichenden „Verfall der so-

1358 Sur la propriété (April 1793), in Textes choisis (Anm. 255), Band 2 (1957), S. 132 ff., S. 140. 1359 Führung in der freien Gesellschaft, Köln/Opladen: WDV 1955, S. 226 f. 1360 Die allesamt extra-formal ablaufen und somit weder kontrollierbar scheinen noch wirklich nach gesellschaftsrelevanten Lei(s)tungskriterien zu beurteilen sind. 457

zialen Verantwortung“ als Konsequenz evidenter Schwächen hinsicht- lich Input (Leistungsfilter) beziehungsweise Output (Kontrollverlust) unterliegt, durch den nach aller historischen Erfahrung über kurz oder lang „der ganze Bau unserer Gesellschaft sinnlos werden würde“.

Interessanterweise existierte trotz gegenteiliger Wunschbehauptun- gen, jedenfalls gemessen an zivilgesellschaftlichen Rollenmustern

(seit) der Aufklärung, keine echte Theorie der Massenselbstbestim- mung. Vielmehr war von Jean-Jacques Rousseau bis Karl Marx, von

Gracchus Babeuf bis Gustav Landauer auch bei ausgesprochenen

Gleichheitsdenkern von einer mehr oder weniger affirmativen Verfü- gung durch ElitenF die Rede, um der Bevölkerung zu ihren wahren In- teressen zu verhelfen: Wenngleich vorgeblich als Faktoten der Vielen wie etwa die Räte-Tradition zeigt, die Hannah Arendt1361 als einzig freiheitliche Alternative zur Parteiensystem ansah. Wie diese auf ihre Plätze (Rekrutierung) gelangen, geschult (Qualifizierung) und ausges- tattet (Renumeration) sein sollten, vor allem auch, wie erreichbar die- se Mandatare jeweils für die Bevölkerung blieben, darüber gab es mancherlei Ansichten. Meistens war an Delegations- samt Rückrufver- fahren gedacht, falls die Eliten nicht den in sie gesetzten Erwartun- gen entsprachen. Daran war das ursprünglich auch im Erfolgsfall der

Bolschewiki gedacht, deren Verwandlung in eine Nomenklatura von

Milovan Djilas (Die neue Klasse, München: Kindler 1958) als unaus- sprechliche EliteK -Logik etablierter Staatssozialismen aller Art entzif- fert wurde. In anderen Weltregionen waren die einmal im Namen von

Fortschritt und Gleichheit als ‚Volksdiktaturen’ eingerichteten Grup- pen-Hegemonien kaum wieder abzulösen, auch nicht bei ihrem evi- denten Scheitern, jedenfalls selten auf friedliche Art und Weise.1362

1361 Die ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus, München: Piper 1958, 39 ff. 1362 Insofern die allgemeine Überraschung über die von außen induzierte (Wettlauf der Rüstung) Implosion der Sowjetunion. 458

Mit oder ohne Gleichheitsideologie, demokratisch überformt oder nicht, „boss politics“ (Merton) besteht in liberaler oder geschlossener

Ausfertigung offenbar überall. Das lässt auf eherne Vergesellungs-

Regeln schließen 1363, was es im Blick auf die

- Führungsbestellung (Konkurrenz) als Bestenauslese

- Ergebnisbewertung (Effizienz) als Evaluation

- Produktsicherheit (Legitimität) als Rechtfertigung für Bürger als Konsumenten etwa mit J. A. Schumpeter, A. Downs u.a. nötig macht, tatsächlich unter Nachfrage-Gesichtspunkten über das gesellschaftliche Preis-Leistungs-Verhältnis von Lenkungs-Effekten zu befinden. Wobei es auf gesellschaftspolitischen Werkstolz ankäme, mithin auf die öffentliche Attraktivität der Angebotspalette der Füh- rungsschichten: Etwa auf deren Offenheit, Problemlösungskapazität,

Sozialresponsivität oder auch Integrationsleistungen. Hier endet die

Marktmetapher allerdings ebenso wie alle Funktionsterminologie.

Selbst in der politischen Arena, um von anderen Bewährungsfeldern zu schweigen, übernimmt das Prinzip der Wahlen nicht wirklich die

Aufgabe von Konsumenten-Entscheidungen; und die Installation der

Macht folgt keiner kybernetischen Regel.1364 Weder gibt es frei nach

Kauf-Nichtkauf/teuer-billig/Stillstand-Innovation ff. zwischen den Par- teiangeboten eine wirkliche Auswahl; noch besteht eine Messgröße, die es erlaubte, das Geschick von Ladenhütern auf dem Elite-Markt durch Konkurs abzuschreiben. „Nach meinen Begriffen ist die Herr- schaft über sich selbst die einzige, wahre individuelle Freiheit“, quit- tierte das Bildungsbürgertum einigermaßen ernüchtert in den Worten

1363 Vgl. Günter Lambertz: Demokratie oder Eliteherrschaft? Sind die Bür- ger nur Statisten?, Krefeld: Lafleur 1984. 1364 Über den Abgleich derartiger Dilemmata mit konkurrierenden Demokra- tietheorien vgl. Hans Joachim Laut: Dimensionen der Demokratie und das Konzept defekter und funktionierender Demokratien, in Gert Pickel u.a. (Hrsg.): Demokratie. Entwicklungsformen und Erscheinungsbilder im inter- kulturellen Vergleich, Frankfurt an der Oder/Bamberg: Scrîpvaz 1997, S. 33 ff. 459

von Friedrich Perthes1365 bereits 1792 die Ausweglosigkeiten der po- litischen Elitendiskussion1366, „und wären alle Menschen auf diese Art frei“, dann erst würde die „bürgerliche Freiheit“ folgen, „weil wir dann gar keine ausübende Gewalt länger nöthig hätten“.

Begabung - ein Rohstoff der/für Eliten?

Das würde als politisches Ideal indes voraussetzen, „Charakterstärke der Sittlichkeit“ (Herbart) zum öffentlich proklamierten Allgemeingut zu machen. Eine derartige Zielsetzung war ohne engagierte Förderung der Denkkapazität als Katalysator der Selbststeuerung indes schwer- lich möglich, wie sie der Neuhumanismus immerhin proklamiert hatte.

Nun war mit Blick auf a) Anforderungssteigerungen der Arbeitswelt, b) die seit dem Napoléonismus evidente Staatenkonkurrenz und c) elitä- re Durchsetzungswünsche der tragenden Mittelschichten das Bil- dungsthema ohnehin auf die Tagesordnung der Bürgerepoche geraten.

Je länger die Zeitreise in die Fabrikmoderne dauerte, um so dringli- cher wurde es, damit der Wirtschaftsweise nicht der Rohstoff Grips ausging, eine Durchschulung der Bevölkerung voranzutreiben, was

überdies die ideologische Feinsteuerung der Massen erleichterte.

Wenn also diejenigen, die laut Treitschke schuften sollten, um den ungleich, vor allem nach oben verteilten Wohlstand zu mehren1367, damit Kultur und Fortschritt florierten, zugleich im Rahmen strikter

1365 Zit. C. T. Perthes: F. Perthes’ Leben, 2 Bände, Gotha: F. A. Perthes 6 1872, Band 1, S. 24. 1366 Vgl. Dino Del Bo: Die Krise der politischen Führungsschicht, Freiburg: Rombach 1966, S. 173 ff. 1367 Diese Begründung erinnerte schon Zeitkritiker an Ideologeme der Sklaverei: „Was die arbeitende Bevölkerung unserer Tage ist, das war in den wesentlichen Beziehungen das Sklaventum des Altertums“, Theodor Zahn: Skizzen aus dem Leben der alten Kirche, Leipzig: Deichert ³1908, S. 117. 460

Leistungskriterien eine Aufstiegschance erhielten, oder doch deren

Kinder diese Möglichkeit offenstünde, wäre wenigstens dem nachfeu- dalen Grundsatz der Mobilitäts-Gleichheit entsprochen. Gleichsam wi- der Willen förderte die vor allem seit der Beschleunigung des Indust- rialisierungsprozesses evidente Steigerung der Kenntnisnachfrage durch die Mobilisierung von Begabungsreserven aus rein utilitären

Gründen mithin nebenbei auch ein soziales bottom up.

Besagter Ausbildungsbedarf wird sich laut Peter Drucker, Jahrgang

1909, im Kontext einer allgemeinen Umstellungs-Chaotik weiter ver- schärfen1368, ohne dass allerdings die bisher zu verzeichnenden so- zialen Positiveffekte auch in Zukunft garantiert wären. Schon bisher ließ sich ja die Entwicklungsgeschichte des Westens einzig als Wan- del angemessen verstehen, den schon der römische Dichter Ovid in seinem Versepos „Metamorphosen“ aus dem Jahr 8 nach Chr. zu ver- sinnbildlichen suchte. Die unterschiedlichen Stufen dieses Fort- schritts durch Veränderung, Überwindung oder gar Zerstörung ent- stammen einem Zusammenspiel von materiellen und ideellen Fakto- ren, das Kultur ausmacht, wobei vor allem die Wissbegier als Elixier aller Vergesellung den allgemeinen Sozialwandel anschob. Geradezu ausschlaggebend für das Vorwärtskommen des Sozialen aber wurde die Bedeutung des Wissens seit der Industriellen Revolution, die sich als Ergebnis der Anwendung von Erkenntnissen auf Werkzeuge, Her- stellung und Produkte begreifen lässt. Das setzte eine Umwertung des

Wissens voraus. Es ging nicht mehr nur um Klugheit, Bildungsgüter oder auch Handwerk, sondern schierer Innovationseifer geriet zum

Verwirklichungsmodus des fabrikweltlichen homo faber. Unter Nütz- lichkeitsgesichtspunkten sah sich der kontemplative Mensch Alteuro- pas durch ein poietisches Subjekt verdrängt, das Descartes bereits als ‚Reflexionsunternehmer’ verstanden wissen wollte. Damit sah sich

1368 Die postkapitalistische Gesellschaft, Düsseldorf: Econ 1993. 461

eine Beschleunigung der Informationsproduktion und folglich über- haupt der Austauschabläufe los getreten. In einer nächsten Stufe der

Industrialisierung, etwa ab 1880, sah sich Wissen auf Arbeit ange- wendet, Ergebnis war eine umfassende Produktivitätsrevolution. Sie wiederum ließ nicht nur „Marx zum falschen Propheten werden“ (Dru- cker), weil die Wohlstandsmehrung durch allerdings heftig umstrittene

Umverteilungsmaßnahmen eine Sozialintegration der Grundschichten erlaubte.1369 Überdies traten Boden, Kapital oder Arbeit als Basis der

Produktivität hinter Wissen beziehungsweise Wissenschaft zurück. Mit der ‚Management-Revolution’ folgte eine weitere Stufe. Diese Umwäl- zung begann Mitte des 20. Jahrhunderts. Wissen wurde nun auf die

Organisation, sprich Produktivität von Kenntnissen selbst appliziert.

Der dadurch ausgelöste Übergang zur Wissenschaftgesellschaft stili- sierte Erfindungsgabe zur Voraussetzung im Wettbewerb um die Zu- kunft der Volkswirtschaften, allerdings weiterhin am Gängelband der

Finanzen. Die Struktur dieser Sozialform glich zunehmend einer kom- plexen Organisationsverflechtung, die den Staat in die Rolle eines

Statisten unter vielen drängte, was einer Individualisierung der Le- benswelten entsprach. Es scheint schwieriger, Bürger der Wissensge- sellschaft hierarchisch zu bevormunden, weil sie das nötige Kogniti- onskapital pflegen. Das schließt allerdings die anhaltende Herrschaft der Arbeit über sie keineswegs aus, von Karl Marx und Max Weber gleichermaßen für das eigentliche Reich der Unfreiheit gehalten.

Ausschlagebender wären Motivation und - vor allem - Mitverantwort- lichkeit, betonte stattdessen die Organisationssoziologie. Die Förde- rung dieser Qualitäten sei zugleich eine Notwendigkeit, weil Wissen eine noch weniger lokal zu bindende Größe darstellt als Kapital. Or- ganisationen sind als Zweckgebilde zudem immer spezialisiert, setz-

1369 Die sich jedenfalls im Westen unter Verzicht auf ihre Revolution nach und nach in den Industriekapitalismus „einkämpften", um mit Hans Freyer (Revolution von rechts, Jena: Diederichs 1931, S. 25 ff.) zu reden. 462

ten aus sich heraus keinerlei Sozialbindung frei. Ihr Sinn ist das Kos- ten-Nutzen-Kalkül, nicht das Gemeinwohl. Investitionen in den Zu- sammenhalt würden aber dringlich, weil die postmoderne Kommunika- tionsgesellschaft nicht mehr (nur) die alten Sozialkonflikte kennt, gleichwohl aber neue Spannungen hervorbringt: Etwa Asymmetrien zwischen Symbolarbeitern und Managern oder zwischen diesen beiden die Zukunft tragenden Schichten und der großen Gruppe sogenannter

„service worker“. Überdies entstehen unerwartete Integrationsaufga- ben, weil eine Zukunft, die auf Produktivität als Innovation gründet, eine Lerngesellschaft sein muß, die von jedem Einzelnen erhebliche

Begeisterung für die eigene Dauerausbildung verlangt, was unter dem

Stichwort der Flexibilität zugleich die Durchstilisierung der Gesell- schaft als Schul(ungs)betriebe bedingt.

Die Industrie-Ära steigerte ihre Autodynamik anfangs vor allem durch die Freisetzung der Konkurrenz-Produktivität, was Adam Smith emp- fohlen hatte und von William Morris als „bestialisch“ empfunden wur- de. Agonalität brachte als „industrieller Krieg“ (MEW 6, S. 421) die innergesellschaftlichen Beziehungen auf Trab, nicht zuletzt deswe- gen, weil laut Georg Simmel die Konkurrenz im numerischen Maß der an ihr Beteiligten die „Spezialität des Individuums“ ausbildet. Der

Wettbewerb um Märkte und Rohstoffe entbrannte aber auch zwischen den Volkswirtschaften. Ihr Ringen um Vorrang erzwang neben mög- lichst störarmen Modellen der Institutionalisierung in Gesellschaft und

Politik auf Dauer gezielt die Nutzung des bald zu den unentbehrlichen

Rohstoffen gezählten Innovationspotentials (Effektivität, Expertise,

Erfindung) der Bevölkerung. Insofern mischte sich bald ein kruder So- zialdarwinismus in die Elitedebatte, wenn und wo immer sich die ent- sprechenden Gütekriterien in Hinsicht auf den wirtschaftlichen

Gebrauchswert derartiger Reserven verengten. 463

Das ist kaum anders geworden, man betrachte Empfehlungen der

Wirtschaft an die Universitäten.1370 Mit forscher Kassenschrank-

Mentalität sieht sich das Prosperitätsargument geschwungen und je- ner Rat vergessen, mit dem die hiesigen Hochschulen nicht schlecht gefahren waren: Wonach die Wissenschaft „dann oft ihren wohltätigen

Segen auf das Leben ausgießt, wenn sie dasselbe zu vergessen scheint“ (Humboldt). Die funktionale Teilelitendiskussion ließ sich zu- dem bald führen, ohne dass die Problematik der Vorleute selbst ange- sprochen zu werden brauchte, die in ihrer Mehrzahl neuzeitlichen

Standards kaum entsprachen. Francis Bacons Losung („Wissen ist

Macht“) erwies sich als Illusion, da in Wahrheit die Macht das Wissen verwertete, seit Begabung zur Ressource für den öffentlichen Bedarf an sozialnützlicher Expertise geriet. Sobald Krisenstimmung herrsch- te1371 oder Rückschläge im internationalen Konkurrenzkampf droh(t)en, rück(t)en deren Möglichkeiten ins Zentrum der Aufmerk- samkeit1372, wohingegen eine kritische Sichtung der Elitenschwächen der zuständigen Amts- und Positionsverwalter unterblieb. Es sind mit- hin Fragen nach der längerfristigen Standort- als Wohlfahrts-

Sicherung, wodurch die öffentliche Sorge um das Wohl beziehungs- weise die Bemühungen wider den Verfall der Wettbewerbsfähigkeit mobilisiert werden. Sie lösen zumeist eine Art von Ausbildungsfuror

1370 Vgl. König Kunde. Was die deutsche Wirtschaft der deutschen Wissen- schaft rät, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 4. 1990, S. 37. 1371 Dann wurden Kulturverfall und Begabtenschwund in engen Zusammen- hang gerückt, man denke an die Arbeiten von K. V. Müller: Begabung und soziale Schichtung in der hochindustrialisierten Gesellschaft, Köln/Opladen WDV 1956; wobei es nicht darum geht, die Begabung der Be- gabten samt Erblichkeit zu übersehen (vgl. Volkmar Weiss: Haben ver- schiedene Berufe unterschiedliche IQ-Mittelwerte?, Zeitschrift für Pädago- gische Psychologie, Jg. 7 (1993)/4, S. 197 ff.), sondern um die sozialen, politischen, pädagogischen etc. Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind, zur Problematisierung vgl. schon Heinrich Roth (Hrsg.): Begabung und Lernen, Stuttgart: Klett 4 1969. 1372 Vgl. Eberhard Böning: Begabtenförderung oder Elitenförderung? Ge- danken zu einer falsch geführten Diskussion, Naturwissenschaften, Jg. 73 (1986), S. 700 ff. 464

aus, Stichwort „Bildungskatastrophe“ (Picht). In einer Epoche des technisch-wissenschaftlichen Presto-Wandels, in welcher der Zeitfak- tor längst keine Handlungs-Ressource mehr darstellt, sondern unter

Wettbewerbsbedingungen ein dramatisch knapper werdendes Gut1373, waren derartige Befürchtungen ernst zu nehmen. Typischerweise be- ginnt seit der preußischen Reformzeit die kritisch-summarische Wis- sen-Können-Bilanz mit bildungsstatistischen Vergleichsdaten etwa

über den Durchschulungsgrad, den Stand der Volkshygiene, das

Schulabschluss-Niveau, den Hochschulabsolventen-Ausstoß oder die

Budgetanteile für Wissenschaft und Forschung. Ist das Land erst a- larmiert, besteht die Antwort auf mögliche Defizite in finanziell rosi- gen Zeiten aus massiven Bildungsinvestitionen (wie in den 1970er

Jahren); sind die Kassen knapp (wie in den 1990ern), wird auch im

Reich des Geistigen das Geld zum einzigen Faktor, der wirklich zählt.1374 Mit Hilfe von Evaluierungsbürokratien geht es um Einspa- rungen durch Rationalisierungsmaßnahmen1375, grade-inflations (noch höhere Auslastungen), Fremdfinanzierungsdiktate oder Studienregle- mentierungen. Und natürlich florieren Elite-Überlegungen (Privat-

1373 Vgl. Klaus Backhaus: Im Geschwindigkeitsrausch, Aus Parlament und Zeitgeschichte Nr. 31 (1999), S. 18 ff. 1374 Wo sich allerdings der Output (Elite) schlecht in Heller und Pfennig berechnen lässt, noch dazu kurzfristig, konzentriert man sich auf den Input (Ausgabenseite). Nur sind kosten-effektive Einrichtungen (Schulen, Kran- kenhäuser, Universitäten, Orchester, Museen ff.) gesellschaftspolitisch keineswegs notwendig unbedingt auch die ‚besten’ Institutionen, die man in Deckung des Reformbegriffs angeblich anstrebt, während es in Wahrheit um das affordability principle geht. 1375 Zur ‚betriebswirtschaftlicheren’ Kapazitätsauslastung der Universitä- ten riet schon ein im Auftrag des Stifterverbandes für die Deutsche Wis- senschaft von der ‚Wirtschaftsberatungs Aktiengesellschaft’ in Düsseldorf (WIBERA) angefertigte Wirtschaftlichkeitsberechnung dieses ‚Dienstleis- tungsbetriebes’, die neben Mittelverschwendung, zu vielen Studien- Abbrechern, sinnlosen Ressort-Trennungen, Informationsblockaden etc. vor allem kritisierte, dass die Universitäten – Universitäten sind und keine Fachhochschulen, indem sie die Ausbildung nicht möglichst dicht an „die Tätigkeitsfelder im Beschäftigungssystem auszurichten“ versuchen, vgl. Heinz Bolsenkötter (Hrsg.): Ökonomie der Hochschule, Baden-Baden: No- mos 1972, 3 Bände. 465

Universitäten, Hochbegabtenförderung etc.), wie für Wenige rasch mehr, für die Vielen indes kostengünstig-verdünnte Wissensangebote zu planen wären. Sind solchermaßen Standortschwächen von Wirt- schaftsräumen zu beheben? Und was hat dieser Modernisierungsweg mit der allgemeinen Elitenfrage als möglichst optimale a) Deckung des gesellschaftlichen Führungsbedarfs und b) Passung von Prinzipal (Bevölkerung) und Agent (Ermächtigte) zu tun? Wobei es auf den ersten Plätzen nicht primär um spezialisier- te oder technokratische Kader gehen kann/sollte, was allerdings schwierig sicherzustellen scheint, solange „Elitetugenden“ in einem anspruchsvollen Verständnis „nicht geübt und nicht honoriert werden“, wie Hans Paul Bahrdt1376 feststellte. Im öffentlichen Interesse sind indes sozialverantwortliche, liberale und integre Personenkreise1377 in den Führungsetagen gefragt, lautet das fast einhellige Lippenbe- kenntnis im Umkreis dieser Bedarfsdebatte, die bei ihrer Macht-, Ein- fluss- und Prestige-Verwaltung zugleich Rückwirkungen und Langzeit- folgen des eigenen Handels oder Unterlassens zu reflektieren vermö- gen.

Es ging und geht bei der Eliteförderung, wie sie hierzulande jeden- falls mit Blick auf den Bedarf an Nachwuchskräften verstärkt seit den

1980er Jahren diskutiert wird, um „die gezielte Auslese der Qualifi- ziertesten, der Begabtesten und der Tüchtigsten eines - sei es mehr theoretisch oder praktisch ausgerichteten - Faches, entsprechend dem Prinzip, dass jeder in der Gesellschaft den Platz finden müsse, den er aufgrund seiner Fähigkeiten am besten auszufüllen vermag“.

Allerdings müsse eine gesellschaftliche Elite „mehr sein als eine

1376 Braucht eine Demokratie eine Elite?, Loccumer Protokolle Nr. 15: Eli- teförderung und Demokratie (1981), Rehburg-Loccum 1982, S. 1 ff., hier S. 20. 1377 Vgl. Dieter Grimm: Vergiss die Besten nicht, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. 12. 1999, S. 54. 466

durch Qualifikation und Leistung1378 ausgewiesene Spitzengruppe“.

Zur „Schicht der Verfügungsmächtigen“ (Weippert) zu gehören heiße notwendig, „seine Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit zu ak- zeptieren und wahrzunehmen und dies gegebenenfalls auch, ohne da- für etwas zu bekommen. Dies gilt nicht nur für die im wirtschaftlich technischen Bereich Beschäftigten, sondern gerade auch dort, wo die

Geschicke anderer Menschen geleitet werden, im gesellschaftlichen, politischen und sozialen Bereich“. Derart kommentierte Theodor Ber- chem1379 in seiner Eigenschaft als Vizepräsident der ‚Westdeutschen

Rektorenkonferenz’ jene einflussreichen „Empfehlungen zur Förde- rung besonders Befähigter“, die durch den Wissenschaftsrat verab- schiedet worden waren. Zu einer Zeit mithin, in der sich die problema- tischen Folgen einer Überfüllung der Universitäten frei nach Majorität statt Minorität als Parkplatz auf dem Arbeitsmarkt momentan Nicht- nachgefragter bemerkbar machten1380, die seither nicht zuletzt die

Misere der Hochschulen prägt.1381 Gleichwohl stießen diese Überle- gungen eine Elitediskussion an, die weit über den engeren Bildungs- bereich hinaus Wellen schlug und unter anderem die Gründung priva- ter Hochschulen ermöglichte. An der parteiübergreifend- regierungsamtlichen Absicht1382, vor allem im Schul- und Hochschul-

1378 Zumal die Kategorie der Leistung nicht nur in der Schule, sondern vor allem gesamtgesellschaftlich ebenso vage wie umstritten bleibt, vgl. Hei- ner Meulemann: Gleichheit hier – Leistung dort?, Gewerkschaftliche Mo- natshefte Nr. 11 (1999), S. 648 ff. 1379 Statement, in: Eliteförderung und Demokratie, in Loccumer Protokolle (Anm. 1376), S. 67 ff., hier S. 67 f. 1380 Schon Joachim Wagner (Öffnet die Hochschulen! Öffnet die Hochschu- len?, Die Zeit vom 14. 1. 1977, S. 32) machte für diese Öffnungspolitik „politische Ratlosigkeit und wahltaktischen Opportunismus“ einer in dieser Frage wenig elitärenf Politikerschicht verantwortlich, die mögliche Schat- tenseiten (Forschungsschwund) völlig aus den Augen verloren. 1381 Stefan Hüfner: Humboldts glückliche Erben, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. 2. 1999, S. 47. 1382 So sprach sich SPD-Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (zit. Westfälische Nachrichten vom 28. 12. 1999) für die Eliteförderung, die ihr Ministerium bereits „in großem Stil“ betreibe, ebenso energisch aus wie es etwa schon ihre CDU-Vorgängerin Dorothee Wilms (Hochbegabtenförderung 467

wesen wieder Spitzenleistungen zu fördern, da „man eine Nation nur mit ihren Leistungseliten führen kann“1383, wurde unter Verweis auf die entsprechende Hochschulrahmen-Gesetzgebung mit unterschiedli- chen Gründen und aus verschiedenster Richtung heftige Kritik ge-

übt.1384 Tatsächlich bleibt zu fragen, wieso etwa die Universitäten erst durch eine bildungs-politisch zwar gewollte, aber finanziell nicht abgefederte Massenöffnung zu feineren Volkshochschulen herunter- kommen, ehe zur Kenntnis genommen wird, dass sich über kurz oder lang eine derartige Überlast auf das Ausbildungsniveau1385 auswirken muss? Solche Kurzsichtigkeit demonstriert eklatante Fehler der zu- ständigen EliteD , die laut Jean Louis de Lolme1386 gegenüber der

„großen, aber zusammenhangslosen Menge“ auch in diesem Feld „die

ist kein Privileg, zit. Handelsblatt vom 17. 12. 1985, S.7) oder mit Karl- Hans Laermann einer ihrer FDP-Amtsnachfolger (Schwache Schüler bestimmen das Lerntempo - das können wir uns nicht länger leisten, Welt am Sonntag vom 28. 8. 1994, S. 25) tat; erst CDU-Bundesbildungsminister Rüttgers (Westfälische Nachrichten vom 9. 1. 1996) lehnte die die Einrich- tungen separater Eliteschulen und Eliteuniversitäten ab, bei gleichzeitigem Eintreten für eine allgemeine „Bildungs- und Leistungselite“. 1383 Klaus von Dohnanyi: Der Mythos der SPD, Der Spiegel 48 (1994), S. 50 f., hier S. 51. 1384 Vgl. exemplarisch Gerd Roellecke: Welche Maus hängt der Katze eine Schelle um, Frankfurter Rundschau vom 10. 12. 1973, S. 16; Eberhard Lämmert: Wo bleiben nur die Könner?, Die Zeit vom 29. 6. 1979, S. 6; Arnd Morkel: Die Universität leistet sich und den Studenten einen Bärendienst, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. 8. 1979, S. 5 f.; Hans Mommsen: Am Ende geistige Armut, Die Zeit vom 9. 10. 1981, S. 36. Georg Turner: Das System der Ausbildung ist reformbedürftig, Handelsblatt vom 15./16. 11. 1985, S. B1. 1385 So dass man am Ende mit Steuergeldern angeblich private Elite- Universitäten (Bremen) neugründet, nachdem durch Max-Planck-Institute, Bundeswehrhochschulen u. ä. m. die alma mater materiell und personell ausgedünnt worden war, die sich gegenwärtig noch dazu von Staats- in „Trust-Hochschulen“ (Lujo Brentano) profilieren soll, die womöglich berufs- nützliche Absolventen abliefert, doch schwerlich jene unabhängigen, kri- tisch-versierten Köpfe, die mit Durchblick und Reflexions-Souveränität als die nachgefragten gesellschaftlichen Eliten-Anwärter zu bezeichnen wären: Um die es neben dem Forscherfleiß im Sinne der kantisch- humboldianischen Tradition der Nicht-Affirmativität immer auch gegangen war. 1386 Constitution de l’ Angleterre, ou État du gouvernement Anglais, com- pare avec la forme républicaine & avec les autres monarchies (1771), 2 Bde., Genf/Paris: Barde, Manget/Buisson 1789, hier Band 1, S. 246 f. 468

Initiative verwaltet“. Auf sie fallen mithin eigentliche jene Standort- probleme zurück, die das Land seither beunruhigen, jedenfalls soweit sie durch den vielbeschworenen Intelligenzschwund beziehungsweise allgemeine Effektivitätsverluste mit verursacht sein sollten; gleich- wohl sah sich der schwarze Peter wenig verantwortungsbewusst (d.h. elitärf ) wie eine heiße Kartoffel an die Ausbildungsstätten weiterge- reicht. Das Vergessen als Prinzip demokratischer Positionswechsel samt Ankündigungspolitik macht Zurechnungsprozesse schwierig, so dass ‚faule Lehrer’, ‚abwesende Professoren’ und/oder ‚unwillige

Schüler/Studenten’ die innergesellschaftlichen Kreativitäts-

Versäumnisse durch Bringschuld und Ansehensverlust öffentlich aus- zubaden haben.

Die zeitgleich lancierte Teil-Elitendebatte über Sinn und Unsinn von

Massenausbildung statt Talentförderung lenkte nicht zuletzt ab von in diesem Krisenkontext eigentlich angesagten Erörterungen über die

Tüchtigkeit der Trendsetter selbst. Waren nicht Führungsmängel auf allen Etagen festzustellen, da „in der Politik die Hochintelligenten, die Führungsbegabten eine Seltenheit sind“, wie Theodor Eschen- burg1387 konstatiert hat? Wirkte darum die seit den 1980er Jahren mit

Aplomb angestoßene Sonderförderung der Hoch- und Gutbegabung vielleicht so problematisch? Die Wiederentdeckung der Talente geht nicht nur zu Lasten der Breitenbildung1388; sie dient auch nicht unbe- dingt den Interessen der im Namen des gesellschaftlichen Erfolgs-

1387 Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933 - 1999, Berlin: Siedler 2000, S. 257 f. 1388 Zu den diesen Fragenkreis bis heute begleitenden Pro- und Kontra- Positionen mit Blick auf Allgemeinschule (equality) und Begabungsförde- rung (quality) vgl. schon die Streitigkeiten um die und auf der ‚Weltkonfe- renz für Hochbegabte’ im August 1985 in Hamburg: Brigitte Mohr: Bernhard Gervink: Ideologische Fronten, Westfälische Nachrichten vom 7. 8. 1985, S. 2; Die Randgruppe der Hochbegabten, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. 8. 1985, S. 7; Hans-Jürge Otte: Im Wettbewerb ging es standes- gemäß zu, Frankfurter Rundschau vom 25. 8. 1985, S. 9; Geistiger Hunger, Der Spiegel Nr. 33 (1985), S. 80 f. 469

strebens frühzeitig Ausgewählten. Denn stellt sich ‚Hochleistung’ als

Beleg für Sonderbegabung dar1389, so ist allemal über eine realisierte

Schnittmenge aus mehreren Faktoren (Allgemeine Begabung + Kreati- vität + Motivation + x) in einem komplizierten Spannungsfeld zu dis- kutieren, das mindestens Elternhaus, Schule, peer groups und Ge- schlecht umfasst, um vom kulturrelativistischen Flynn-Effekt etc. ganz abzusehen. Sieht sich deren Zusammenwirken auf den Intelligenzfak- tor verkürzt, drohen Anlage und Auswahl nicht nur zu scheitern1390; es werden zudem leicht Verhaltensauffälligkeiten verfestigt, so dass ein derart intelligentes Frustrationsaufkommen nicht nur in der Schu- le, sondern längerfristig in der Gesellschaft für Störungen sorgt.

Auch deswegen hatte ideengeschchtlich die Bildungsdebatte, jeden- falls seit Industrieschulen die Kathederschulen abgelöst hatten, die

Geltung der Formel ‚ElitenD/F = (f) Egalität’ im Blick behalten, ehe das

Standortdilemma mit seiner sozialdarwinistischen beziehungsweise technischen1391 Verkürzung des Erziehungsdilemmas auf ‚gebrauchs- fertige Produkte’ im Kontext der Elitenfrage solche Tradition ver- drängte. Dabei war mit gutem Grund auf dem Aspekt der Chancen- gleichheit beharrt worden, immer wieder auch gegen Unmut oder Wi- derstand der Dominanzstrukturen. Weswegen sollte der Zugang zur

Bildung auf allen Stufen durchlässig und vor allem kostenfrei sein und im höheren Interesse der Gemeinschaft aus dem Steueraufkommen bestritten werden? Jugendliche Begabungsspitzen sind keineswegs

1389 Während es im Schulalltag eher das Schulversagen oder Auffälligkei- ten dieser oder jener Art ist, das jedenfalls für Eltern darauf hinzuweisen scheint, dass ihre Kinder ‚unterfordert’ sind, weil sie für den Normalunter- richt zu begabt seien. 1390 Was die möglichst weitgehende schulische Rücksichtnahme (innere Differenzierung) auf Sonderbegabungen wichtig macht, soweit es die mi- nisteriellen Sparprogramme allenthalben zulassen, die ohnedies anzukün- digen scheinen, dass die Politik längerfristig auf Kostenentlastung durch Privatisierung der Ausbildungssysteme für die Bessergestellten setzt. 1391 Stichwort PC-gestützter Unterricht, vgl. Clifford Stoll: Ein faustischer Pakt, Der Spiegel Nr. 42 (1999), S. 302 ff.; oder Testhysterie, vgl. Daniel McGinn: America’s Exam Anxiety, Newsweek vom 6. 9. 1999, S. 66 ff. 470

deckungsgleich mit den ökonomisch Leistungsfähigen, die sich first class Schulen oder Universitäten leisten könnten. Nicht nur im Sinne der Rekrutierung von ElitenF , sondern für deren gesellschaftliche

Nützlichkeit gilt vielmehr die Regel: Selektion und Egalität ergänzen sich. Meritokratie als Turnierplatz neuzeitlicher Eliten meint insofern nichts anderes als ausgelebte Zugangsgleichheit. Mithin die sozialitä- re Bein- und Bahnfreiheit für Tüchtige, was den historischen Zusam- menhang von Massenausbildung und Eliteförderung bestätigt. Einzig jene generelle Öffnungsmaxime ‚Bildung ist Bürgerrecht’ gestattet, wenn etwas, eine angemessene Ausschöpfung des gesellschaftlichen

Talentpools. Überdies sind Hochbegabte, mit dem Hamburger Erzie- hungswissenschaftler Klaus-Jürgen Tillmann1392 gesprochen, „keine

Rennpferde“. Das Auflisten reiner Intelligenzdaten sagt über die spä- tere Leistungsstärke der Überflieger wenig aus, wie Langzeitstudien

über die schwache Erfolgsumsetzungsquote des IQ (über 130) in den

USA zeigen.1393 Die Tendenz zur Biologisierung der Eliteperspektive, die sich etwa mit „Alpha-Tieren“ im Kindergarten als Reservoir des zukünftigen Führungspersonals beschäftigt, wird in der gesellschaftli- chen Elitefrage wenig weiterhelfen. Auch in diesem Bereich geht es nicht um Natur, sondern um Kultur. Folglich um Leistungen, die eher altruistisch als egoistisch sind und stärker ethisch als biologisch zu bewerten bleiben. Elite, war definiert worden, heißt nicht nur Leis- tungsfähigkeit, sondern demonstriert zugleich die Responsivität ge- sellschaftlicher Verantwortungsträger; sie hat insofern wenig mit dem vulgärliberalen cri du coeur nach eiligen Patentlösungen im Länder- wettbewerb zu tun.1394 Dem gilt die mühsame, komplexe und vor allem

1392 Sechs Thesen gegen eine neue Form der Sonderschule, Frankfurter Rundschau vom 25. 4. 1985, S. 13. 1393 Dazu Ellen Winter: Hochbegabte. Mythen und Realitäten von außerge- wöhnlichen Kindern, Stuttgart: Klett-Cotta 1998. 1394 Wie er von den USA (Coleman-Report) über Frankreich (Allègre- Reformpläne 1997) bis nach England zu hören war/ist, wo bereits 1984 ei- 471

mit Ausdauer und Erfahrung allemal selbst-erzieherische παιδεια als überholt1395, die mit ihrem dianoëtischen, charakterlichen etc. Wert- güterhorizont zudem über lineare Nutzendebatten hinausweist. Auch bei Förderung und Verwendung der kostbaren matière grise, welche langfristig das Wohlgelingen der Gesellschaft bewahren oder heben soll, unterliegen utilitär-standardisierte Siebungspläne offenbar leicht dem Niveau ihrer Betreiber. „Da Deutschland keine Elite-Ausbildung kennt“, klagte Jochen Thies1396, „haben sich die politischen Parteien dieses Raumes bemächtigt“. So stellt sich die heikle Frage, ob Eliten irgendwie „heranzuzüchten“ sind, möglichst von heute auf morgen?

Bürokratische Vorgaben wirken eher schablonisierend, warnte schon der Heidelberger Sozialanthropologe Wilhelm Mühlmann1397. Unsere

Soziabilität und Mitmenschlichkeit beruht indes auf einer Reihe ange- lernter Verhaltensweisen, „die zu unendlich zerbrechlichen ... Vorbil- dern verwoben sind“1398. Folglich ist jene Vortrefflichkeit, die ElitenF seit Spinoza nicht nur als Leistungsfähige, Führungsbegabte oder

Wissenskapitaleigner, sondern als Anstandsträger auszeichnen sollte, bei bestem Willen nicht aus dem Hut zu zaubern. Die Förderung von

Leitfiguren, die „dem Gemeinwesen in sozial erwünschter Art und

Weise dienen“1399, lässt sich öffentlich vielleicht anregen, nicht zu- letzt durch elitäref Vorbilder, mehr aber auch nicht.

ne Royal Commission ein academic gap im Vergleich mit allen Konkurren- ten feststellte, die von einem think-tank (Politeia) auch für die Gegenwart festgestellt wurde, vgl. Times vom 14. 1. 2000, S. 23. 1395 Erziehung bleibt das Prinzip, wie Werner Jaeger (Paideia. Die For- mung des griechischen Menschen, Berlin/New York: Gruyter 1973, S. 1) notiert hat, „dessen sich die menschliche Gemeinschaft bedient, um ihre leibliche und geistige Art zu erhalten“, bis ihr eine bessere Möglichkeit der Enkulturation einfällt. 1396 Bonn, Berlin und die politische Klasse Deutschlands, Europäische Rundschau 1 (1994), S. 13 ff., hier S. 17. 1397 Gnadenwahl und Selektion (Anm. 304), S. 37. 1398 Margaret Mead: Mann und Weib. Zum Verhältnis der Geschlechter in einer sich wandelnden Welt (1949), Reinbek: Rowohlt 1959, S. 146. 1399 Keller: Beyond the Ruling Class (Anm. 469), S. 4. 472

12 Leistungen, Probleme, Aussichten „Es muß vor einer Überschätzung der Handlungs- und Gestaltungsmög- lichkeiten von Eliten gewarnt werden (...) Führungskräfte können aus eigener Kraft keine Wunder vollbringen, sondern sind so tüchtig, prinzi- pienstark und innovationsfähig wie die gesellschaftlichen Gruppen und Schichten, aus denen sie hervorgegangen sind und die sie tragen“1400

Auf der Erde leben über sechs Milliarden Menschen, gelenkt wird die- se Unmenge von vielleicht siebzig Tausend ‚Würdenträgern‘. Hierzu- lande sahen die Größenordnungen nach Berechnungen des Mannhei- mer Politikwissenschaftlers Rudolf Wildenmann1401 ähnlich aus. Etwa dreitausend Personen haben in unterschiedlichen Verfügungsberei- chen die Spitzenämter inne. Diese Positionselite legt als Entschei- dungsträger in ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern den Kurs fest, der eingeschlagen wird, zwar nicht ohne Kontrolle, denn „alle Führer wer- den auch geführt" (Simmel), in letzter Instanz immerhin aus eigener

Verantwortung. Um so verwunderlicher wirkt eine Szene, die Elisabeth

Noelle-Neumann1402 geschildert hat. Ihre Mainzer Antrittsvorlesung habe sie 1964 mit der hoffnungsfrohen Bemerkung geschlossen, be- richtete die Pythia aus Allensbach, dass all jene Studenten, die durch sie ausgebildet würden, eines Tages zur journalistische Elite zählten.

Daraufhin sei sie zu ihrer großen Überraschung von den jugendlichen

Zuhörern ausgebuht worden. Sicher nicht deswegen, weil man im Saal mit Schelling der Meinung war, Talent als „Vermögen zu Ideen“ ver- schaffe sich von selbst Geltung. Vielmehr spiegelte diese Reaktion

1400 Peter Waldmann: Elitenherrschaft in Deutschland, Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 38 (1979), S. 20 ff., hier S. 30. 1401 Unsere oberen Dreitausend, Die Zeit vom 5. 3. 1982, S. 9 bezie- hungsweise vom 12. 3. 1982, S. 6 f. Wobei diese Zahlen übertrieben sind, weil Wildenmann die Positionselite erhebt, die einflussrational (Machtelite) nicht gewertet wird. Mit Blick auf wirtschaftliche Macht-Präfigurationen präziser Bolke Behrens: Hundertschaft der Macht, WirtschaftsWoche Nr. 53 (1991), S. 50 ff.; auch Christiane Oppermann: Wer hat die Macht in unse- rem Land?, Stern Nr. 3 (1989), S. 21 ff. 1402 Auf einer Tagung in Düsseldorf über das Thema ‚Brauchen wir noch Eliten?’, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. 2. 1977, S. 19. Die Hal- tung der Studenten verdeutlichte übrigens sowohl das verbreitete Unbeha- gen am Elitenbegriff als ihre Unwissen über die wahre Dimensionalität der sozialen Stratifikation samt Ungleichverteilung von Dezisionschancen. 473

ein verbreitetes Ausklinken aus der Realität, was leicht zur analyti- schen Tabuierung aller idées reçues über Politik und Gesellschaft führt. Solche Blauäugigkeit ist durchaus im Sinne der Bestands-

Eliten, die weder mit jener von Johann-Kaspar Lavater, als er 1768 das Wort aus dem Französischen übernahm, gemeinten ‚Bestenaus- wahl’ übereinstimmen, noch ein gesteigertes Interesse daran haben,

Soll und Haben der Bestimmungsschichten im Lande ausführlich zu diskutieren.

Aber erledigen sich nicht nur die Komplikationen der Entscheidungs-

Folgsamkeits-Asymmetrie1403, sondern überhaupt die innergesell- schaftlichen Divergenzen von Optionen und Erfüllung durch Weg- schauen, Desinteresse oder Apathie? Oder gelten diese Probleme gar nicht (mehr) als solche? So oder so bleibt die Frage offen, wie sich dieses elitäre Zahlengefälle von 1: 27 000 (Deutschland) nicht nur beschreiben, sondern erklären lässt. Im Kontext einer Durchegalisie- rung der Moderne scheint es, jedenfalls auf den ersten Blick, allen demokratischen Vorstellungen von einer breiten Mitbestimmung der

Bevölkerung ebenso zu widersprechen wie sozialreformerischen

Streuungsbemühungen des Partizipatorischen, Lukrativen oder auch

Kognitiven durch Öffnung der innergesellschaftlichen Korridore. War beziehungsweise bleibt die gestaffelte Verteilung von Macht, Einfluss,

Beachtung oder sonstigen Chancen für die demokratische Neuzeit bis hin zur Wissenschaftsgesellschaft konstitutiv? Oder hatten/haben wie es dabei mit einer „Verhüllungsideologie“ zu tun, wie Régine Ro- bin1404 behauptet hat? Und zwar nicht so sehr, weil „die Struktur der industriellen Gesellschaft mit der Struktur der parlamentarischen De-

1403 Etwa im Sinne von Demokratieverträglichkeit, Exzellenz, Regelung- kompetenz, Zirkulation etc. der ElitenD/F. 1404 La révolution francaise a-t-elle eu lieu?, Nouvelle critique Nr. 52 (1972), S. 30 ff., hier S. 33. 474

mokratie kollidiert“1405; vielmehr läuft sozialhistorisch erst in ihrer

Ägide die Möglichkeits-Zuteilung ‚gerecht’ ab, also nach Maßgabe ei- gener Leistungs-Investitionen. Wenn das Ringen um Freiheit und um

Gleichheit zusammen fallen, nutzen sich selbst utopische Formeln ab, etwa wonach „die Unterdrückten immer im Recht sind“1406. Unten wäre nichts als eine (gerechte) Konsequenz des verallgemeinerten Nach- oben-Strebens. „Es wird kein Haufen zum Volk“, quittierte Carlo

Schmid drastisch diesen paradoxen Befund, „kein Volk zur Nation oh- ne eine Oberschicht und ohne Führung durch diese Oberschicht, nach welchem Prinzip und auf welche Weise diese auch immer ausgelesen werden mag.“1407

Auch für die Politikmoderne gilt in der Sozialarena also die Regel, wonach „das Ziel der Macht immer Macht ist“ (Orwell). Nicht umsonst ist eliten-geschichtlich von „Machtrunkenheit“1408 die Rede, die kaum

Grenzen kennt. Selbst wenn man die Gesellschaftsspitze nicht eng fassen will und die angestammte Oberschicht mitzählt, lassen sich höchstens ein bis zwei Prozent der Bevölkerung den „Höheren Krei- sen“ zurechnen, Chancenöffnung hin oder her. Dabei ergeben sich al- lerdings Schwierigkeiten bei der Zuordnung zur Elite. Die sprichwört- lichen Oberen Zehntausend mögen zwar achtbar oder populär sein1409, sie verfügen vielleicht über Prestige und gute Beziehungen, müssen deswegen aber keineswegs mitreden oder gar mitentscheiden können.1410 Wie man es dreht oder wendet, die Zahl elitärer Merk-

1405 Ernst Forsthoff: Rechtsstaat im Wandel, Stuttgart: Kohlhammer 1964, S. 191 1406 George Orwell: The Road to Wigan Pier (1937), Harmondsworth: Pen- guin 1967, S. 129. 1407 Europa und die Macht des Geistes, Wien: Scherz 1973, S. 122. 1408 Alain Duhamel: L’ éthique de responsablité, Libération vom 5. 11. 1999, S. 7. 1409 Vgl. die Zusammenstellung in ‚Knaurs Prominentenlexikon’, Mün- chen/Zürich: Knaur ³1982, 510 Seiten. 1410 Im Gegensatz zur These von Peter Hofstätter (Eliten und Minoritäten, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 14 (1962), S. 59 475

malsträger wird nicht viel größer, haben wie es doch mit der Kelter- funktion von Majorität zu tun. Eliten sind Machtträger, kommentierte

Urs Jaeggi1411 trocken, „weil sie ihre Auffassung durchzusetzen ver- mögen und nicht, weil sie das Fleisch auf dieselbe Art tranchieren, die gleichen Bücher lesen und denselben Theaterstücken applaudie- ren“.

***

Insert 7: Wiederkehr der Macht der Macht?

„universelle Herrschaft absoluter Skrupellosikeit“1412

„Das Phänomen Politik, das unsere Geschichte mit gestaltet, ist ein erregendes Abenteuer“. So sah es Walter Henkels1413 in einem Best- seller über die Elitenszene im rheinischen Bonn. Der Bundestag als

Bravourstück? Das kommt der Epoche längst nicht mehr so vor. Re- gierung, Politik oder Verbände sind der Mitwelt ärgerlich geworden.

Wer nimmt Anteil am Parlamentsgeschehen, solange er nicht durch dessen Maßnahmen betroffen wird? Der von den Parteien besetzte

Vorfeldraum der Amtspolitik gar trifft auf verbreitete Mißachtung oder

Ablehnung, der CDU-Parteikassen-Skandal (1999 f.) hat selbst kon- servative Parteiengläubige irritiert.1414 Das Handeln der Parteivertre-

ff.), der von einer Spitzengruppe „der zur Gänze der Elite angehörenden Oberschicht“ spricht (S. 60). 1411 Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik, Frankfurt: Fischer 1969, S. 24. 1412 Weber: Die protestantische Ethik (1904), München/Hamburg: Sieben- stern 1965, 47. 1413 Zeitgenossen, Hamburg: Rowohlt 1953, S. 8. 1414 Wilhelm Hennis: Erzvaters Worte, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. 12. 1999, S. 49; Roger Boyes: Kohl shunned as he faces inquiry on sec- ret funds, Times vom 29. 12. 1999, S. 13; Pascal Hugues: Le crépuscule di ‚vieux’, Le Point vom 31. 12. 1999, S. 20; German sleaze inquiry. Not just Kohl but national politics on trial, Guardian vom 4. 1. 2000, S. 9. 476

ter gilt eher als ‚elitär’k denn verlässlich. Entweder traut man den

Gewählten nicht, weil sie vor allem ihr eigenes Wohl im Auge haben.

Oder aber man traut ihnen nicht mehr zu, die Schwierigkeiten in Wirt- schaft und Gesellschaft einigermaßen sinnvoll zu lösen, die der Ge- genwart als Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Zusammengehörig- keitsverlust oder Kriminalität auf den Nägeln brennen.1415 Die Bürger gehen zu den Urnen, allerdings ohne große Erwartungen und daher lustlos. Diese Abwendung1416, wenn schon nicht von der Verfassungs- form, so doch vom politischen Alltag, verweist auf Wandlungen der politischen Großwetterlage1417 und bewirkt, dass sich immer weniger

Zeitgenossen an der politischen Arbeit beteiligen, die Parteien vertre- ten als Organisationen wenig mehr als 3 Prozent der Wahlberechtig- ten. Solche Enthaltsamkeit wiederum verstärkt die Bürgerferne zur

Parteiendemokratie und ihren maßgeblichen, wenn auch nicht länger maßgebenden Eliten. Obschon es hierzulande mehr als 200 000 eh- renamtliche Volksvertreter in 16 000 Gemeindeparlamenten, 426

Kreistagen und 117 großstädtischen Ratsversammlungen gibt - gar nicht zu reden von 3000 Berufspolitikern - , und obwohl fast 2 Millio- nen formelle Parteimitglieder gut 300 000 ehrenamtliche Funktionäre in Ortsvereinen etc. wählen - handeln realiter nur wenige Personen

1415 Laut BKA ist Diebstahl zum Volkssport geraten (zit. Der Spiegel Nr. 71 (1999), S. 80: Von den 6, 5 Millionen (1998) registrierten Straftaten waren über 51 % Raubdelikte. 1416 Die erstaunlicherweise noch immer zu der bänglichen Demoskopie- Frage führen (vgl. Renate Köcher: Deutschland eine gefestigte Demokra- tie?, Das Parlament vom 16. 4. 1999, S. 14), ob etwa ‚eine Diktatur’ „die gegenwärtigen Probleme besser lösen könnte als die Demokratie“ (Nein: 88 % [West]/69 % [Ost], Der Spiegel Nr. 13 (1998), S. 65). Dabei wurde seit längerem vermutet (vgl. John J. Ray/Walter Kiefl: Authoritarianism and A- chievement Motivation in Contemporary West , The Journal of So- cial Psychology, Nr. 122 [1984], S. 3 ff.), dass im internationalen Ver- gleich die allgemeine Stimmungslage hierzulande womöglich progressiver (stärkste Zurückweisung autoritärer Werte; ethnische Toleranz, permissive Einstellungen, relativer niedriger Pegel materialistischer Ambitionen usw.) war als in Australien, den USA etc. 1417 Vgl. Helmut Klages: Häutungen der Demokratie, Zürich: Edition In- terfrom 1993. 477

‚im Namen der Demokratie’ unter sich aus, was wie und wo gehand- habt werden soll. Oder in welche Richtung es weiter gehen wird. Die verbreiteten Vorbehalte gegen die Macher etwa in den Parlamenten werden dadurch weiter ausgeprägt, woran auch die immer wieder ein- mal unter dem Stichwort ‚Volksabstimmung‘ diskutierte Öffnung ge- genüber dem Bürgerwillen kaum etwas ändern dürfte, falls sie denn käme, die ihre Präsenz in den Medien oder Koalitionsverträgen (1998) gleichwohl solchen Misständen verdankt.

Diesem Verlust an Aufmerksamkeit entsprechen Irritationen über die

Möglichkeiten von Politik und die Aufgaben der Volksvertreter. Das als Staatsverwaltung überlieferte Werkzeug öffentlicher Machtaus-

übung beispielsweise sei „in seiner bisherigen Tradition als Heros der

Gesellschaft nicht zu retten“1418. Aus systemtheoretischer Sicht mag man den Staat fast bemitleiden. Im Reigen konkurrierender Zustän- digkeiten in Kultur, Gesellschaft oder Wirtschaft soll er kaum mehr etwas zu sagen haben. Die innere Differenzierung samt Heterogonie der Zwecke in der Spätmoderne lasse eine zentrale oder gar hierar- chische Lenkung gesellschaftlicher Abläufe nicht mehr zu. Außerdem würden die zuständigen ElitenD durch notwendige Rücksichtnahmen in vielen Problembereichen nahezu paralysiert. Verwunderlich bleibt nur, dass die Obrigkeit immer noch oder schon wieder angerufen wird, wenn es innen- wie außenpolitisch um große Fragen geht bezie- hungsweise Ausnahmezustände zu bewältigen sind. Diese Hoffnung auf Entscheidungsmacht entspricht zwar nicht mehr unbedingt der All- tagserfahrung. Vater Staat glänzt im Straßenchaos oder bei der

Kleinkriminalität zunehmend durch Abwesenheit. Gleichwohl ist bis- lang keine ebenbürtig funktionale und akzeptable Instanz sichtbar, die auch nur ansatz- oder wenigstens ersatzweise die Herausforde-

1418 Jedenfalls laut Auskunft des Bielefelder Soziologen Helmut Willke, Supervision des Staates (Anm. 722), S. 347. 478

rungen oder Krisen im Lebens-, Umwelt oder Wirtschaftsraum abfe- dern könnte, autopoietische Regelungspuffer jedenfalls sind nirgend- wo in Sicht. Und das, obwohl ansonsten die Tendenz sozialer Teilsys- teme, sich selbstreferentiell abzuschließen, höchstens noch Kon- textsteuerungen und damit eher indirekte Beeinflussungsmöglichkei- ten zulässt, wodurch jede Politik im übergreifenden Rahmen er- schwert wird.1419 Dieses Desinteresse der breiten Öffentlichkeit am parlamentarischen Spiel ist womöglich als „Entzauberung des Staa- tes“ (Willke) zu entziffern.1420 Ohne Frage haben sich als Folge der

Weitermodernisierung von Wirtschafts- und Lebenswelt die Möglich- keiten des staatspolitischen Handelns nicht nur verändert; sie wirken weniger lösungssicher und sind vor allem weit angefochtener als frü- her. Der Staat kann vielleicht noch als Inbegriff, nicht aber mehr ohne weiteres als Synthese gleichermaßen von Gemeinwillen und Allge- meinwohl verstanden werden, da er in der Konkurrenz mit anderen

Zuständigkeiten abgedrängt wird1421 und sich durch Organdefekte zu- dem selbst blockiert. Gleichwohl zeigt das Unbehagen über Mängel der Politik, begleitet von verbreiteten Ohnmachtsgefühlen gegenüber der Verwaltung, nur die eine Seite der Medaille. Tatsächlich sind die

Zeitgenossen angesichts der Problemfülle des allgemeinen Wandels mitsamt seinen Risiken in Beruf und Alltag überfordert. Auf der Suche nach mehr Sicherheit für die eigene Biographie rechnet man bei allem

1419 Grundlegend Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984. 1420 Keineswegs aber der Politik selbst: Sie bildet laut Georges Burdeau (La politique au pays des merveilles, Paris: PUF 1979, S. 11), da „le fait politique en soi n’ existe pas“, jenseits aller Zweckrationalität (Gesetze, Fakten, Erfahrungen etc.) einen fiktiven Raum, dessen Aura (Sichtbarkeit, Geheimnis, Bedeutungszuweisung usw.) nicht nur die darin Tätigen, son- dern auch die durch ihre Delegation (Bevölkerung) oder Spiegelung (Me- dien) indirekt Beteiligten umfängt, und sei es auch nur symbolisch durch Impression oder Neid. 1421 Die Staatssprödigkeit des Zeitgeistes sowie das eingeschränkte Gel- tungsfeld der legitimer Zuständigkeiten (Staatsgrenzen) staatlicher Akte machen ein Umsteuern immer unwahrscheinlicher. 479

Anspruch, freizügiger zu leben als früher, doch auf eine Regelungsin- stanz, die im Namen der Vor- und Nachsorge und damit als Staat die

Aufgabe übernommen hatte, sich stellvertretend für die Allgemeinheit etwa um mehr Chancengerechtigkeit zu bemühen. Die Absage an Zu- mutungen der Politik verträgt sich offenbar gut mit der gleichzeitigen

Nachfrage der Mitwelt nach institutionellen Garantien.1422 Die Recht- fertigung der Verwaltung vor dem „Publikum der Staatsbürger“1423 un- terläuft dessen vorgebliche Fähigkeit zur Eigenverantwortlichkeit (As- soziativität, Sozialkapital, Zivilgesellschaftlichkeit etc.) inzwischen allerdings ebenso wie die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Hände.

In unseren Zeiten der Arbeitsteilung ist zudem die Bereitschaft zur

Selbstorganisation der Bürger fraglich, die eine notwendige Voraus- setzung wäre für die breitere Streuung von Entscheidungskompetenz in der Gesellschaft. Diese wiederum erst könnte dem Staat mitsamt seinen Legitimations- und Kontrollformen weitere Handlungsspielräu- me kappen, ohne zugleich Leerstellen zu schaffen, in denen ElitenD/K vollends unkontrolliert walten und schalten.

Der Staat ist nicht mehr das, was er einmal war. Aber auch deswegen nicht, weil die Politik, vertreten durch die Regierungsklasse, immer weniger Menschen durch Rechtschaffenheit, Glaubwürdigkeit oder

Leistungen überzeugt1424 beziehungsweise durch ihre Fähigkeit, in

1422 Das mag an staatspolitischen Gewohnheiten liegen, Deutschland hat neben der Vorstellung vom ‚Bund’ mit der Idee „sozialer Geborgenheit“ laut Ernst Fraenkel (Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart: Kohlhammer 1964, S. 33) „einen bleibenden Beitrag zu der Entwicklung“ des westlichen Staat- und Gesellschaftstyps beigesteuert. 1423 Vgl. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 415 ff. 1424 Laut Joseph S. Nye, Jr./Philip D. Zelikow/David C. King (Why People Don’t Trust Government, Cambridge: Harvard UP 1997) nimmt das Vertrau- en in das amerikanische Regierungssystem seit drei Jahrzehnten ständig ab: 1964 glaubten noch 75 Prozent der Bürger an Washington, heute kaum noch 25 %. Kommen hierin Vorbehalte gegen einen zu starken Staatszent- ralismus zu Wort? Laut Autoren ist das Misstrauen mit Blick auf die öko- nomische Lage oder die Leistungen der Bürokratie eher unbegründet, sieht man ab von den vielen Skandalen. Für sie entstammt die Miss-Stimmung 480

den Entscheidungsprozessen das Nichtpräsente (Volk) keineswegs zum Nichtzählenden (Masse) verkümmern zu lassen. Zudem hebelt der weltumspannende Standortwettbewerb von Wirtschaftsräumen die

Eingriffsmöglichkeiten der Verwaltung in das Produktionsgeschehen etc. aus, so scheint es jedenfalls. Wirtschaft wird wieder Schicksal

(Rathenau), wenn sich die Politik im Zusammenhang mit dem meta- phorischen „Verschwinden des Staates“1425 aus der Regulierung prob- lematischer Rückwirkungen des Technik- und Marktgeschehens auf den Zusammenhalt der politischen und sozialen Strukturen heraus hält, aus welchen Gründen auch immer.

Staatsverdrückungen

Von Anfang an begleitete der Staat als Reformansporn und durch

Chaosdrosselung die Modernisierung als Umbruch aller Befindlichkei- ten. In ihm organisieren die Bürger über die Regierung einen Sicher- heitsverband (societas defensoria), „vermöge (dessen) die Kräfte der

Gesellschaft ... vereinigt werden können.“1426 Mit Hilfe des Gewalt- monopols und der administrativen Generalzuständigkeit wurden inner- gesellschaftliche Anarchie und Willkür kanalisiert und historisch zu- geschriebene Ungleichheiten abgetragen. Derart erst konnten sich, quasi als Selbstrechtfertigung solcher Transformatorik1427, Innovation sowie Individualisierung entfalten. Und selbst wenn es so schien, als

eher aus durch zunehmend „corrosive news media“ aufgemischte politisch- kulturelle Konfliktszenarien, ist also ein Meinungsprodukt. 1425 So Uwe Wesel besorgt, zit. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. 12. 1997, S. 45. 1426 Vgl. Gottlieb Hufeland: Lehrsätze des Naturrechts (Anm. 524), § 408. Das umfasst einerseits den Hierarchieschutz gegen Machtkonkurrenz im Inneren (vgl. Willke: Ironie (Anm. 292, S. 27), zum anderen den Souveräni- tätsschutz gegen Raumkonkurrenz von außen. 1427 Carbonell: Une histoire (Anm. 1305), S. 101 ff. 481

ob der diesen Vorgang begleitende Nationalstaat zuweilen zum – im

Extremfall - kriegerischen Verhängnis geriet, lassen sich allenthalben gesellschaftliche Machtinteressen festmachen, die den Staat1428 wie- der und wieder (etwa) militärisch mißbraucht haben, zumeist mit brei- tester Zustimmung ihrer auf die Schlachtbänke geführten Bevölkerun- gen. Wenn die bislang jedenfalls im Staat samt Lenkungseliten ver- körperte Selbstkorrekturfähigkeit und der Fertigkeit zur Risikominde- rung absinkt, weil sie etwa wirtschaftlichen Dynamiken oder technolo- gischen Herausforderungen nicht länger gewachsen sind, steht der

Epoche die Ausbreitung von Regellosigkeit ins Haus, ohne dass sich neue sozial- und demokratie-kompatible Organisationsformen ab- zeichnen, die der Härte gesellschaftlicher Konflikte etwa als Folge allgemeiner Dissoziierungsphänomene gewachsen wären. Nicht zu- letzt die Zerrüttung im postkommunistischen Russland ist ein Beweis für diese Entwicklung, wo mit Luhman1429 gesprochen die flüchtigen

Systeme (Kriminalität) die weniger flüchtigen (Institutionalität) mühe- los am Gängelband führen. Der sozialwissenschaftliche Diskurs in seinen modischen Varianten, von der Systemtheorie bis zum Anarcho- kapitalismus1430, begreift solches Geschehen gleichwohl eher als

Verschwinden von Überständigkeiten denn als eine Fortmodernisie- rung außer Rand und Band. Dem trotz oder wegen Aufblähung seiner

Dienste um Geltung ringenden Staat werden weitere Begründungs- muster entzogen. Es mutet inzwischen eher hausbacken an, die unsi- chere Zukunft der Demokratie1431, nicht so sehr als Verfassungs-,

1428 Frei nach l’état sommes nous „besitzt der Staat keine eigene Identi- tät“, sondern repräsentiert die politische Selbstaktualisierung temporaler Sinn-als-Machtmuster dar, vgl. Rainer Eichmann, Ordnung durch Beobach- tung, in Grimm: Staatsaufgaben (Anm. 532), S. 177 ff., hier S. 177. 1429 Soziologische Aufklärung, Opladen: WDV 1970, S. 240. 1430 Vgl. Roland Baader: Fauler Zauber. Schein und Wirklichkeit des Sozi- alstaates, Gräfeling: Resch 1997. 1431 Vgl. Farred Zakaria: Aufstieg der illiberalen Demokratie?, Europäische Rundschau, 26. Jg. (1998)/Nr. 1, S. 3 ff. 482

wohl aber als politische Lebensform zu diskutieren, wiewohl diese, nicht zuletzt im Kontext einer ‚Diskursdemokratie’ ohne Bodenhaf- tung1432, Gefahr läuft, auf „Verfahrensregeln einer Interessenpolitik“ eingeschränkt zu werden. Und damit letztlich wieder auf eine Art von

„Anordnungsverhältnis“ (Jouvenel) gegenüber politisch Anteillosen, das den demokratischen Begründungszusammenhang „nicht mehr neu stiften muß, sondern ihn als historisches Beiwerk zitiert“, wie Antonia

Grunenberg1433 moniert. Es gilt aber auch als überholt, auf Abnut- zungserscheinung der Gleichheit1434 hinzuweisen, man denke an die stetige Aushöhlung der Gesundheitsversorgung1435, die sich im Rah- men der vielbeschworenen Entdinglichung der Spätmoderne jedenfalls als gleicher Anspruch auf Hilfe zu verflüchtigen scheint. Anstatt da- nach zu fragen, was politisch an die Stelle einer öffentlich domesti- zierten und wenigstens formal dem allgemeinen Wohl verpflichteten

Politikverwaltung treten wird, kann sich der Zeitgeist nicht entschei- den, ob ihn das wirklich interessiert.1436 Oder ob man sich gleich auf

Sachzwänge beziehungsweise Differenzierungslogiken verlassen soll- te, die es auf ihre Art schon irgendwie richten würden - oder auch

1432 Vgl. Wolfgang Kersting: Wie steht es um das Volk? Das vielgeliebte andere ist beim Populismus nur mehr lästig, Frankfurter Allgemeine Zei- tung vom 11. 3. 1999, S. 50. 1433 Der Schlaf der Freiheit. Politik und Gemeinsinn im 21. Jahrhundert, Reinbek: Rowohlt 1997, S. 21. 1434 Etwa mit den vom amerikanischen Historiker Jerry Z. Muller unter dem Titel „Conservatism“ (Princeton, New Jersey: Princeton UP 1997) versam- melten Autoren. 1435 Pars pro toto sei auf den englischen National Health Service (NHS) verwiesen (vgl. Matthew Taylor: The real lie was Labour’s promise of bet- ter healthcare without spending a penny more on the NHS, Times vom 15. 1. 2000, S. 22), der im Namen des Budgets derart ausgeblutet wurde, dass er zum zentralen Risikofaktor für Alte und Kranke geworden ist. 1436 Oder das Fallende wird noch gestoßen, weil aus Sicht von Partikular- interessen tatsächlich eine politisch zu verantwortende Regularisierungsü- berlast beispielsweise den Mittelstand (vgl. Unternehmerinstitut (Hrsg.): Chancengleichheit für den Mittelstand, Bonn: Eigenverlag 1999) mit einer Gesetzesflut belastet hat, so dass etwa unter Berufung auf den Sachver- ständigenrat (Schlanker Staat, Abschlussbericht, Band 1, ²1998) Gesetzes- folgenabschätzungs-Prüfungen verlangt werden. 483

nicht. Entsprechend spielt etwa in der Soziologie die Kategorie des

‚Schicksals’ wieder eine - vorerst schüchterne - Rolle1437. Nicht so sehr als Rückerinnerung an die menschliche Seinsgebundenheit, die hinter all der losgetretenen Dynamik von Dingen einem konstruktivis- tischem Blick entschwunden war. Eher schon als verbliebener Stroh- halm in der allgemeinen Orts- und Orientierungslosigkeit nicht zuletzt des Faches selbst. Die Rede vom Fatum bei Heinz Bude1438, Wolf- gang Lipp u.a. dient solchermaßen der Problem-Ablenkung. Sie ver- meidet es, die Karriere peinlicher Phänomene wie Ausschließung,

Kälte, Nichtanerkennung oder neue Bevormundung als Rückverwand- lung des Risikos zur Gefahr für die freie Entfaltung des freien Bür- gers beim Namen zu nennen, indem sie als artifizielle Natur des Ge- sellschaftlichen definiert werden und damit wiederum als unvermeid- lich, eigenläufig oder emergent gelten.

Diese Betrachtungsweise unterstreicht nicht nur den alten Konserva- tivismusverdacht durch Ralf Dahrendorf1439; ihr entsprechen zudem

1437 Vgl. Christian Geyer: Auf verlorenem Posten, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 9. 1997, S. N. 5. 1438 „Die soziologische Analyse erweist ihre eigentliche Kraft und Tiefe“, kommentierte Bude (Am Ende ratlos, in ders.: Die ironische Nation. Sozio- logie als Zeitdiagnose, Hamburg: Hamburger Edition 1999, S. 173 ff.) diese Indifferenz, „erst in der Umstellung von den ‚heißen Ereignissen’ auf die ‚kalten Strukturen’ (S. 178), die allerdings per se nicht voneinander zu trennen sind, weil selbst die historische Dialektik von Bruch/Kontinuität kein Phänomen jener „dritten Position“ (das Soziale) jenseits Ego/Alter darstellt, wie der Autor meint (S. 177), sondern Bedeutung und damit Prä- senz einzig vermittels des psychischen Systems gewinnt. 1439 „Die Soziologie der Gegenwart ist sowohl dort, wo sie sich in bezugs- losen Einzelforschungen erschöpft, als auch dort, wo sie durch die struktu- rell-funktionale ‚Theorie’ geleitet wird, im Gegensatz zu den sozialkriti- schen Impulsen ihres Ursprunges ein im strengen Sinne konservatives E- lement der Gesellschaft geworden“ heißt schreibt Dahrendorf schon 1959 (Pfade aus Utopia, Gesammelte Abhandlungen, Teil 1, München: Piper 1967, S. 117). „Die Zufriedenheit mit dem Status quo und seine implizite Verteidigung hat sich als Kehrseite der Wertfreiheit erwiesen. Wo normati- ve Bezüge der Gegenwartskritik aus der soziologischen Forschung ver- bannt werden, gewinnt die Gegenwart ungewollt überwältigendes Gewicht. In dem Maße, in dem sie nicht mehr als über sich selbst hinausweisende unvollkommene Epoche verstanden wird, verabsolutiert sich ihre Gestalt in den Werken der Soziologie. Die Soziologie, die sich in dem Streit der prak- 484

hochgemute Debatten über Ethik und Anstand, die stattdessen in aller

Abgehobenheit geführt werden. Etwa im Sinne von Avishai Marga- lit1440, der in Auseinandersetzung mit den dramatisch vielen Quellen und Formen von gesellschaftlicher Entwürdigung umstandslos, sprich ohne Debatte über Eliten, Aneignung oder Prestigesucht die Umrisse einer „good society“ als Bereitstellung von mehr Anerkennung skiz- ziert. Aber nicht nur, wer „irdische Politik“, sondern auch, wer irdi- sche Wissenschaft „treiben will“, sollte mit Weber1441 „illusionsfrei“ zur Kenntnis nehmen, dass etwa Herrschaft und Übervorteilung als

„fundamentale Tatsachen“ der Vergesellschaftung den guten Willen unschwer unterlaufen, dieser vielmehr selbst der „Chiffreschrift“

(Jaspers) des Sozialen zu gehorchen pflegt. Vor allem dann, wenn nicht mit Hilfe öffentlich gepflegter Ausgleichsanstrengungen gegen gesteuert wird, um Startchancen auf Selbstentwurf und Würdigung zu schaffen oder zu erhalten. Es muss nicht pseudo-nietzscheanisch vom

„Willen zur Macht“ die Rede sein, schon ein flüchtiger Blick in die po- litische Ideengeschichte1442 verdeutlicht, wie intensiv und kritisch seit der frühen Neuzeit daher mit Strukturverwerfungen wie Benach- teiligungen aller Art gerungen wurde. Nicht zuletzt, um deren Effekte aus dem Zustand der Fatalität in eine Art von moderater und vorläufi- ger Gestaltbarkeit zu überführen. Dabei geriet mit Blick auf sozial- temperierte, sprich lebenswertere sowie freiere Verhältnisse der

Kampf um Macht wahlweise als

- „die Möglichkeit, Zwang auszuüben“1443

tischen Werturteile zu entziehen sucht, wird zum Instrument der Verewi- gung des Bestehenden, ihre Stimmenhaltung zum Votum für die stärkere Partei.“ 1440 Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Berlin: Fest 1997. 1441 Zit. Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild (1926), Heidelberg: Lambert Schneider 1950, S. 235. 1442 Vgl. Theo Stammen, Gisela Riescher, Wilhelm Hofmann (Hrsg.): Hauptwerke der politischen Theorie (Anm. 782). 1443 Robert Bierstedt: An Analysis of Social Power, Americal Sociological Review 15 (1950), S. 730 ff., hier S. 733. 485

- „Die Fähigkeit eines Individuums oder einer Gruppe von Individuen, das Verhalten anderer Individuen oder Gruppen in der gewünschten

Weise zu modifizieren und so zu verhindern, das eigene Verhalten in einer unerwünschten Art verändern zu müssen“1444

- „effektive Willensausübung“1445

- „das Ausmaß, in dem Personen oder Gruppen mit oder ohne Zu- stimmung die Handlungsalternativen anderer Personen oder Gruppen begrenzen oder regulieren können“1446

- „die Kompetenz, Ziele zu erreichen“1447

- „Herrschaft über die Gemüter in der Gesellschaft“1448

- „die realistische Chance einer Systemeinheit, seine Interessen zu aktualisieren ... und dabei in ihrem Sinn das Einflussgefüge im Sys- tem zu steuern“1449

- „das Privileg, Gehorsam zu erzielen“1450

- „die Durchsetzung beabsichtigter Effekte“1451 zum politischen Streit um die Kosten- und Folgenübertragung von Ent- scheidungspräferenzen. Garant einer allgemeinen Aufhellung der

Seinsperspektive auch der Nichtzählenden war dabei der Staat als symbolische Kristallisierung des verallgemeinerten Geltungsan- spruchs, an den alle Konfliktpartner appellierten. Zur Sicherung der

Verhältnisse (Systemintegration) suchte das öffentliche Zentrum der

Gesellschaft durch Umverteilung das Wetterleuchten der unterschied-

1444 Richard H. Tawney: Equality, London: Allen & Unwin 1931, S. 229. 1445 Robert M. MacIver: The Modern State (1926), London: Oxford UP 1964, S. 47. 1446 G. A. Lundberg/C. G. Schrag/O. N. Larsen/W. R. Catton: Sociology, New York/Evanston/London: Harper & Row 4 1968, S. 400. 1447 Kornhauser: Mass Society (Anm. 471), S. 236. 1448 Wieser: Das Gesetz (Anm. 857), S. 5. 1449 Talcott Parsons: Essays in Sociological Theory, Glencoe, Ill.: Free Press 1954, S. 391. 1450 Tarde: Les Transformations (Anm. 1030), S. 15. 1451 Bertrand Russell: Power (1938), London: Unwin 1967, S. 25. 486

lichen Formen des Klassenkampfes zu beruhigen (Sozialintegration), die seit Beginn der Fabrikmoderne zwischen Ordnungsbedürfnissen,

Rendite-Interessen, Reformzwängen und Innovationsanstößen etwa in

Form mit einander um die Oberhand ringender Konzepte von Politik ausgefochten wurden. Mit der Zeit setzte dieser Wettbewerb eine An- spruchsspirale nach oben frei, getragen von einer ungeahnten Steige- rung der wissenschaftlichen auch als wirtschaftliche Leistungsfähig- keit. Selbst diese Produktivitätsrevolution jedoch war vorerst ein Ne- beneffekt der staatlichen Bändigung der Marktmachtverhältnisse. Erst nachdem schamlose Ungerechtigkeit nicht länger widerspruchslos als

„eigentlicher Tyrann oder Revolutionär in der Societät“ hingenommen wurde, mit Franz von Baader1452 zu reden, konnte das ‚Projekt Mo- derne’ richtig anlaufen, das sich der Epoche nun in immer neuen Sta- dien der Verpuppung präsentiert. Seitdem traditionale oder voröffent- liche, folglich unkontrollierte Kräfte nicht länger die Politik bestimm- ten, selbst „wirtschaftliche Macht“ jedenfalls nicht mehr „automatisch politische Macht“1453 erzeugte, gelang es nach und nach, der erziel- ten „Selbstbeschränkung des Staates durch das Recht“ (Jellinek) zu- sätzlich die Fürsorgeverpflichtung als politische Räson zuzuwei- sen1454, die sich zudem durch risikopolitische Absicherungen unter- stützt sah. Mit Hilfe dieser jedenfalls im hochentwickelten Westen mehr oder weniger ausgeprägten Staatszwecklehre ging es seither darum, die mit der Aufklärung ins Weltliche übertragene Zukunftsauf-

1452 Zit. Carl Jantke: Der Vierte Stand, Freiburg: Herder 1955, S. 58. 1453 Wie Karl Zwing (Geschichte der deutschen freien Gewerkschaften, Je- na: Zwing 1928, S. 121) es mit Blick in die Annalen der Verbandskonflikte hoffte. 1454 Frei nach Leopold von Ranke: „Jede Staatsgewalt muß heutzutage wohlwollend sein; auf der allgemeinen Wohlfahrt... beruht ohnehin ihre Macht“, Politische Gespräche (1836), in: Die großen Mächte/Politische Ge- spräche, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1958, S. 44 ff., hier S. 67; vgl. neuerdings Helmut Willke: Die Steuerungsfunktion des Staates aus systemtheoretischer Sicht, in: Dieter Grimm (Hrsg.): Staatsaufgaben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 685 ff. 487

gabe zu verwirklichen. Also das Schicksal jedenfalls in Gestalt alttes- tamentarischer Bedürftigkeit (Genesis III 19) beziehungsweise als Er- niedrigung, Unwissenheit oder Unterwerfung einzudämmen. Was zugleich die staatliche Förderung des stetigen technisch- wirtschaftlichen Fortschritts verlangte, wie Max Weber es 1895 präzi- sierte1455, um jede Stagnation (Kostenüberflutung) solcher national- politischen Meliorationspflege zu vermeiden. Mehr war in einer Welt der Knappheit und Verschiedenartigkeit nicht anzustreben oder zu er- reichen.

Dieses Ziel ist weiterhin aktuell, hält man sich die Epochentrends der angeblich rein von immateriellen Werten geprägten Neuen Ökonomie mit ihren - zumindest jeweils vor Ort - Arbeitsplatz vernichtenden

Großzusammenschlüssen vor Augen1456, die nicht zuletzt „das Ende aller Kollektivträume“ (Gitlin) einzuläuten scheinen; oder denkt an die sozialen Abnutzungserscheinungen der anstehenden Nachpostmoder- ne1457. „Erst kommt der Mensch, dann der DAX!“ Diese Beschwö- rungsformel1458 ist keineswegs mehr selbstverständlich. Sie klingt im

„Nebenstaat der Unternehmer“ (DGB-Vorsitzender Vetter), der mit Bil- ligung oder Duldung der politischen Elite agiert1459, inzwischen eher nach Rufen im dunklen Wald. Auch hierzulande gibt es wieder in gro-

ßem Rahmen eine Vererbung von Armut, lassen sich soziale Ausgren- zung und Verwahrlosung gleichermaßen bei Jung und Alt verzeichnen.

Das Magazin Der Spiegel1460 titelte mit Blick auf die wachsende Auf-

1455 Der Nationalstaat, in Anm. 259, S. 20 f. 1456 Vgl. Claude Triomphe: Le social, l’ oublié des megafusions, Libération vom 3. 4. 2000, S. 5. 1457 Zu deren Aussichten vgl. H. W. Simons/Michael Billig (Hrsg.): After Postmodernism, London u.a.: Sage 1994. 1458 Der SPD-Vorsitzenden (Bayern) Renate Schmidt, zit. Westfälische Nachrichten vom 23. 10. 1997, S. 1. 1459 Wie Jan Roß moniert: Die neuen Staatsfeinde. Eine Streitschrift gegen den Vulgärliberalismus, Berlin: Fest 1997, S. 61 ff. Für Frankreich vgl. Christophe Dejours: Souffrance en France (Anm. 284). 1460 Nr. 40 (1997), S. 86 – 109. 488

spreizung der Chancenverteilung nicht unzutreffend: „Die gespaltene

Gesellschaft“. Stillschweigend verschieben sich die Macht- und Herr- schaftsverhältnisse in einem Alltag, aus dem sich der Staat in Umkeh- rung seiner gesellschaftspolitischen Lerngeschichte1461 zugunsten der Entfaltung von Gewinnerwartungen zurückzieht, wenn er nicht zu deren Handlanger wird und damit als regulatives Interessen-

Gegenüber zur Privatverfügung auszufallen droht. Entsprechend schrumpft der Zuständigkeitsbereich demokratisch abgestimmter Poli- tik, ohne dass der Lösungsdruck abnimmt, der auf der Mitwelt lastet.

Hier kommen andere Kräfte ans Ruder, Macht kennt kein Vakuum.

Wohingegen die Politik der Parteien aus Mangel an öffentlicher An- teilnahme und wegen schwindender Zuständigkeit zur Pflege von Leit- figuren oder Illusionen gerinnt, die noch dazu ausgesprochen kost- spielig sind.1462

Übermacht

Der amerikanische Nationalökonom Adolph Augustus Berle, Jahrgang

1895, stand den Elitezentren seines Landes nahe. In den dreißiger

Jahren war er Mitglied des Braintrusts, der den New Deal entwarf, er

1461 „Der Staat bricht überall in den Herrschaftsbereich des kapitalisti- schen Monopolismus ein, er knebelt den Kapitalismus an Händen und Fü- ßen und streift von den Lohnarbeitern eine Fessel nach der anderen“, Paul Kampffmeyer: Wohin steuert die ökonomische und staatliche Entwicklung?, Berlin: Verlag Sozialistische Monatshefte 1901, 48. 1462 Nicht nur die Beköstigung einer, wenn es immer weniger zu repräsen- tieren gibt, überflüssig wirkenden und daher exzessiv hohen Zahl von De- legierten/Verordneten/Parlamentariern etc. in Städ- ten/Gemeinden/Ländern/Bund/Europa + Unterhalt der Parteien; zu den stei- genden ‚Nebenkosten’ eher nach Unterhaltungswert zu beurteilender Wahlkampfspektakel vgl. Le dollar, maître du jeu politique, Courier Inter- national, Hors-série Nr. 18 (12. 1999/1. 2000), S. 37 f. 489

engagierte sich zudem in der Konzentrations-Aufsicht und warnte

1932 davor, dass die Konzerne leicht mächtiger werden könnten als der Staat. Später arbeitete er als Abteilungsleiter im Außenministeri- um und gehörte zu den Beratern von Kennedy. Unter Macht wollte

Berle1463 das unablässige Streben nach Besitz samt Anmaßung, Be- wahrung oder Erweiterung von Einfluss verstanden wissen. Mit Blick auf Gestaltungsnöte des Sozialraumes lehnte er jene auf den Ge- schichtsforscher Friedrich Christoph Schlosser, gestorben 1861, zu- rückgehende These ab, wonach Macht an und für sich böse sei. Macht unter anderem als Regelungskapazität sei in der Demokratie ein un- verzichtbarer Rohstoff, man könne nur zwischen ihrer Zuständigkeit und dem Chaos wählen (S. 55). Letzteres wiederum galt, nicht zuletzt im transnationalen Kontext schwelender Weltbürgerkonflikte, vermit- telt durch unablässige Umbrüche der sozial- und umweltlichen Gege- benheiten sowie ihrer Wissensformen, den Anordnenden seit der frü- hen Neuzeit als zentrale Herausforderung für die nationalstaatlich fi- xierten Politikrollen. Diese wurden zwar durch immer mehr Verfah- rensregelungen (Wahl/Abwahl, Ministerverantwortlichkeit etc.) auf

Basis-Zustimmung geeicht und mussten entsprechend als Gegen- wartsbewältigung und Zukunftsgestaltung agieren, nicht mehr vor- nehmlich als Selbstbehauptung von Herrschaftsgruppen. Entgegen anderslautender Systemideologien (Eigenmotorik) und trotz des eben- so emsigen wie überwältigenden Leerlaufs (Bürokratie) moderner

Staatlichkeit, der zuweilen den Eindruck vermittelte, Politik treiben heiße nichts anderes, als die „Unterwerfung unter Personen“ durch

„die Unterwerfung unter Sachen, Bedürfnisse und Geld" auszutau- schen1464, blieb Macht zugleich eine Entscheidungsdimension, was unter anderem die Elitenfrage auf Trab hält. Macht (aus als Gegen-

1463 Macht (New York: Harcourt, Brace & World 1967), Hamburg: Hoffmann & Campe 1973. 1464 Joseph v. Radowitz (Anm. 195), S. 5. 490

macht) tritt neuzeitlich zwar vor allem als Apparat in Erscheinung, behält jedoch entgegen aller Beteuerung1465, wonach „der Einzelne völlig uninteressant ist“, einen über die verschiedenen Entschei- dungsbereiche gestreuten personalisierbaren Kern - samt „Logik der

Situation und Selektion“ (Esser) -, selbst wenn dieser mit lauter Kau- salitätszwecken (z.B. Konjunktur) belastet wird. Von ihm geht so oder so alle gesellschaftliche Initiative aus, denn „der Individualwille ist

Basis aller Politik“1466, die das Klappern sozialer Prozessualitäten transzendiert, da sie ihre Energie einzig und allein aus Dezisionen beziehen. Der amerikanische Diplomat und Historiker James Bryce1467 merkte an, dass „die Gefühle und Interessen der Menge“ in der zu- künftigen Politik ausschlaggebender sein würden als der Ehrgeiz von

Eliten. Alle der Öffentlichkeit verpflichteten Ordnungsideologien pfle- gen seither Zielvorstellungen, die aus normativen Begründungen her- vorgegangen zu sein scheinen. Sie erst ermöglich(t)en einen Dialog zwischen Oben und Unten1468, der in jedem Fall irgendein ‚Forum der

Verantwortlichkeit’ benötigt. Dieses bildet, etwa als Parlament, den

Austragungsort nicht nur der Meinungsbildung, sondern personalisier- ter Machtzuweisungen, jedenfalls für den staatlichen Zuständigkeits- bereich. Merkwürdig nur, dass die demokratische Öffnung der Politik zugleich ihre Verhüllung begünstigt hat. Um sich der Gegebenheiten zu vergewissern, muss man sie benennen können. Wenn jedoch die

1465 Hellmuth Plessner: Soziale Rolle und menschliche Natur (1960), in ders.:Diesseits der Utopie, Düsseldorf/Köln: Diederichs 1966, S. 23 ff., hier S. 29. 1466 G. E. G. Catlin: Science and Method of Politics, New York: Knopf 1927, S. 141 f. 1467 The Holy Roman Empire (1866), London/New York: MacMillan 121894, S. 444. 1468 Der die überlieferte Devotion überwindet, die hierzulande etwa Martin Luther mit seiner These, wonach „der Christ ein allen völlig dienstbarer Knecht und jedermann untertan ist“ (Traktat von der christlichen Freiheit [1520], in: Die reformatorischen Grundschriften [Anm. 179], Bd. 4., S. 9), politisch festgezurrt hatte. 491

Diskussion über Macht als Extramacht entfällt, weil im Parlamenta- rismus das Inkognito von Herrschaft nicht nur in Form der Regierung behoben scheint, erlahmt die politische Energie der Bevölkerung. Sie pflegt mit Metaphern und bloßen Affirmationschancen (Bestätigung des Fixierten durch Wahlen etc.) abgespeist zu werden, seit die De- mokratie zum Inbegriff einer Stellvertretungsillusion geriet, unter de- ren Schirm die großen politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen

Maschinen ‚im Namen des Volkes‘ ihrer Sicherung eines Hegemonial- konsenses zugleich normative Weihen zu verleihen verstanden. Die gesellschaftliche Gewalt gilt nicht nur als kontrolliert, sondern wirkt unbefangen und neutral, ohne es in Wahrheit zu sein. Macht kann nicht zuletzt im demokratischen Umfeld, hier sogar mit dem guten

Gewissen mehrheitlicher Berechtigungsinvestition, gesellschafts- funktional umschrieben werden als die Fähigkeit, Kosten des sozialen

Wandels auf Milieus abzuwälzen1469, die sich schlechter wehren kön- nen, etwa weil ihnen Aufmerksamkeits-Reserven und damit Abwehr- chancen fehlen.

Die Strukturreform-engagierten Bewegungen und Parteien versuchten seit ihrer Gründung, die auf derartige Widersprüche der Politikmoder- ne zurück gehen, unfaire Mehrbelastungen etwa für die abhängig Be- schäftigten abzutragen, weil diese sich organisieren ließen. Sozialop- positionelle Verbesserungsarbeit mit diesem Ziel verlief zweigleisig.

Im Rahmen einer Durchdemokratisierung von Staat und Gesellschaft sollte den Benachteiligten stärker Gehör verschafft werden, um über- haupt auf Absurditäten der Machtverteilung nachbessernd einwirken zu können. Überdies wollte man den gesellschaftsgeschichtlich insge- samt unkontrolliert-unkontrollierbaren Entwicklungsprozess, der „nach

Art eines Naturprozesses“ (MEW 37, S. 465) verlief, etwas rationaler

1469 Vgl. John K. Galbraith: Anatomie der Macht, München: Bertelsmann 1987, S. 40 ff. 492

und damit übersichtlicher gestalten, nicht zuletzt um die Macht über

Menschen durch Nützlichkeitserwägungen und Sachentscheidungen zurückzudrängen oder wenigstens zu operationalisieren. Welche Rolle spielt(e) in diesem Zusammenhang das soziale Machtaufkommen, das nicht als Politik formalisiert werden kann? Das Gewicht etwa der Ar- beitgeberseite im Verteilungskampf oder als betriebliche Personalver- fügung ist allenthalben massiv als gesellschaftliche Organisations- macht und Aquirierungsmacht präsent. „Von wenigen rühmlichen Aus- nahmen abgesehen“, beschrieb der Frankfurter Bankier Johann Fried- rich Freiherr von Bethmann auf einer ASU-Veranstaltung in Düssel- dorf1470 aus eigener Anschauung deren politische Attitüde, „pflegen die Sprecher der Unternehmerschaft das Wirtschafts- oder gar Bran- cheninteresse mit dem Gesamtinteresse gleichzusetzen. Der Staat ist für sie ein lästiges Übel, solange man ihn nicht braucht“. Alle über

Wahlen zugänglichen Einrichtungen verwalten in Friedenszeiten, je- denfalls unter Berücksichtigung der wochentäglichen Existenzfragen, eher nachgeordnete Befugnisse, so unerlässlich diese symbol- steuernd auch sind, weil sich erwiesenermaßen der Zufall (Markt- schwankungen) schwerlich sinnvoll durch den Irrtum (Plan) als Meta- kommunikation von Präferenzen ersetzen lässt. Wohingegen durch

Investitionsentscheidungen, also durch privates, wiewohl markt- induziertes Handeln von Wirtschaftseliten, das politische, ökologische oder kulturelle Umfeld auch der öffentlichen Hände vorgeformt wird, denn die Regelungsnachfrage = (f) Marktprozessen + Investitionsbe- schlüssen.1471 Der alltägliche Kampf um Mehrheiten war auf der Büh-

1470 Sozialismus ist Kommunismus oder es gibt ihn nicht, Handelsblatt vom 16. 2. 1972, S. 3. 1471 Nicht zuletzt als Machtkontroll-Problem nachgewiesen in einer der ers- ten sozialwissenschaftlichen Versuche (Robert A. Brady: Business as Sys- tem of Power, New York: Columbia UP 1943), die Übersetzung von wirt- schaftlicher in politische Macht in terms manipulativer Extrachancen von Unternehmensorganisationen darzustellen. 493

ne der Öffentlichkeit ein gesellschaftspolitischer Streit für den Plura- lismus und gegen minoritären Sondereinfluss, jedenfalls über den zu- gänglichen Bereich kollektiver Güter. Aber jener von Robert Kutt- ner1472, Kolumnist der Business Week, so genannte „Marktabsolutis- mus“ entzieht sich solcher Bändigung, weil er wie ein Traum keine

Außenwelt mehr zu kennen scheint. Er gibt stattdessen seinerseits

Rahmenbedingungen vor, auf welche das Handeln der Regierungen mitsamt ihren Rechtssystemen allenthalben stößt. Das Reich der Frei- heit (Politik) ist nicht von dieser Welt, solange sich die soziale,

ökologische, wirtschaftliche oder zivilisatorische Blindheit einer

Selbstverwertung des Wertes auslebt, deren einschnürende Nebenfol- gen Georg Simmel (Philosophie des Geldes, a.a.O., S. 518 ff.) bereits zu beschreiben versuchte. Und je monopolisierter die Wirtschaft wird, desto unbeschränkter ist deren Dominanz, wie Estes Kefauver1473 dargelegt hat. Ein Zeitalter von Megazusammenschlüssen steht der

Epoche im Kontext der sich entfaltenden ‚Net-Ökonomie’ erst noch ins

Haus1474, wodurch „Wirtschaftsgröße“ (S. H. Slichter) nicht nur zum

Problem für die Stabilität gerät, weil die Führungskomplikationen ex- ponentiell zunehmen, um von schrumpfenden Unternehmergewinnen nicht zu reden, die erfahrungsgemäß geringer ausfallen als die ad- dierten Gewinne vor einer Fusion; überdies gerät die Marktfreiheit durch derartige Zusammenballungen selbst in Bedrängnis.1475 Macht-

1472 Everything for Sale. The Virtues and Limits of Markets, New York: Knopf 1996. 1473 In wenigen Händen. Monopolmacht in Amerika, Frankfurt am Main: EVA 1967. 1474 Nach dem Muster des AOL-Time Warner Zusammenschlusses, vgl. Do- minque Wolton: De l’ Internet des hommes, Libération vom 14. 1. 2000, S. 6. 1475 Wie vor langem Fahndungsergebnisse der ‚Monopolkommission’ unter Leitung von E. J. Mestmäcker zeigten, die nicht zuletzt als Folge schon der damaligen Konzentration den Wettbewerb als Autoregulation der Marktdy- namik gefährdet wähnte, vgl. R. D. Schwartz: Marktwirtschaft verliert an Kraft, Frankfurter Rundschau vom 24. 7. 1976, S. 6. 494

chancen vor oder neben der Macht äußern sich nicht zuletzt als so- ziale Übervorteilung. Wo kaum 2 % der privaten Haushalte mehr als

70 % des Produktivkapitals besitzen und Spitzengehälter den Durch- schnittslohn eines Industriearbeiters um den Faktor 100 übersteigen, mit steigender Tendenz, herrscht ein Chancengefälle vor, das alle so- zialen Reformanstrengungen hintertreibt und damit die Fundamente der bisherigen „Sozial- als Gesellschaftspolitik“ (Achinger); man muss sich wundern, dass nicht viel mehr Sozialneid und damit Unruhe ent- steht. Die Folgen solcher Abstufung des Lebensstandards und somit der Selbstverwirklichungs-Spielräume sind aus der Vormoderne eben- so bekannt wie in der Dritten Welt. Hier wie dort verteilt(e) sich die

Nutzung gesellschaftlicher Güter wie Bildung, Ansehen, Information,

Mobilität oder Gesundheit ebenso ungleichmäßig wie Einfluss, Autori- tät oder Vermögen; es lohnt wieder, bei den sozialwissenschaftlichen

Klassikern nachzulesen über gesellschaftspolitische Abgründigkeiten und ihre möglichen Warnsignale beziehungsweise Verfallspotentiale. 495

Übervorteilung

Soziale Macht verwirklicht sich nicht allein als Prestige- oder Sozial- gefälle, sondern bildet zugleich dessen Treibsatz. Macht selbst ist wie Geld ein ebenso knappes wie volatiles Mittel/Medium und ent- sprechend umworben und umstritten. Sie lässt sich im Gegensatz zu

Wissen oder Zuneigung durch Teilen nicht vermehren, höchstens wie dieses (Geld) durch Überbeanspruchung im Wert mindern. Ihr Besitz streut, trotz der epochalen Durchdemokratisierung mitsamt der Öff- nung von Aufstiegswegen, nach Grundmustern tradierter Güter- und

Lastenzuteilung. Die Inanspruchnahme fremder Leistungen (Ar- beit/Kreativität/Energie etc.) mit Mehrwerteffekten gestaltet(e) alle

Gesellschaftsbeziehungen als Übervorteilung. Diese nahm im Lauf der

Zeit vielfältige Formen an. Immer sah sich die durch die Art und Wei- se der Produktion regulierte Aneignung mit Hilfe von „Sinnstäben“

(Max Weber) gesichert, nicht zuletzt durch Füllung zentraler Schlüs- selbegriffe mit normalisierenden Inhalten oder auch verheißenden Un- tertönen. Bei aller Durchlässigkeit verträgt sich die hochentwickelte

Marktmoderne ersichtlich mit sozialer Schichtung, sie kennt folglich kumulative Extramacht1476, rechtfertigt diese im Entdeckungsfall al- lerdings kasuistisch. Als Vertreter des dynamischen Teils der Gesell- schaft spielen etwa die UnternehmenselitenF , in Übereinstimmung mit der innerbetrieblichen Mechanik der Direktorialisierung, auch gesell- schafts-formativ, also technologisch, ophelimitär, investiv etc. eine ausschlaggebende Rolle. Obgleich die Industriewirtschaft seit der E- tablierung von Massenparteien mit demokratischen Steuerungsmecha- nismen koexistiert, hängen die gesellschaftlichen Untersysteme plus

Funktionseliten mit Blick auf reale Entscheidungs-Spielräume ihrer-

1476 Schon John H. Bunzel: Liberal Ideology and the Problem of Power, The Western Politcal Quarterly 13. Jg. (1960), S. 374 ff. 496

seits nicht zuletzt am Tropf des ‚volkswirtschaftlichen‘ Markterfolges.

Mitsprache oder gar Einspruch von anderer Seite, etwa kulturelle, ö- kologische oder politische Bedenken, haben ein eher bescheidenes

Gewicht.1477 Berücksichtigt sehen sie sich höchstens, falls sie das

Wirtschaftsgeschehen fördern, das - auf Wettbewerb geeicht - nichts anderem verpflichtet ist als schwarzen Zahlen. Solange der Arbeits- markt floriert und die allgemeine Versorgung gesichert ist, gilt diese

Gewichtung als normal; Wirtschaftserfolg und Solidarität sehen sich gleichgesetzt, wenn ausreichend gemeinschaftliche Bindekräfte frei- gesetzt werden. In Zeiten des Abschwungs beziehungsweise durch

Technikschübe ausgelöster Wirtschaftsverwerfungen ändert sich das

Bild. Bedroht eine stotternde Konjunktur die Gegenwartsperspektiven der Menschen, wachsen sich die Verzichts-Zumutungen der Wirtschaft an die besorgte Menge leicht zur Krisenstimmung aus, weil der

Leistungs-Steigerungsanspruch einzelner allzu deutlich vor den Chan- cen-Erwartungen aller rangiert. Auswege sind für die große Mehrheit kaum vorhanden, und die These von Walther Rathenau, dass in solchen Phasen die „Staatspolitik [der] Geschäftlichkeit voran geht“1478, ist schwerlich zu belegen, seit die Akkumulationslogik alle

Zugehörigkeitsmuster durchlöchert. In Abschwüngen bestätigt sich mithin eher das Diktat der - jedenfalls - intragenerativen Alternativ- knappheit, unter welcher jede Vergesellschaftung aus lebensweltli-

1477 Trotz der beruhigenden These von Franz Greiß: Unternehmertum in letzter Bindung an höhere Werte, in ders./F. W. Meyer (Hrsg.): Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Festgabe für Alfred Müller-Armack, Berlin: Dun- cker & Humblot 1961, S. 533 ff. 1478 Von kommenden Dingen, Berlin: Fischer 1917: „Jeder schuldet Alles, was er besitzt und kann. Zu lange hat im Wirtschaftlichen der Zustand ge- dauert, daß individuelle Betriebsamkeit, von dem rationalistischen Gedan- ken des eigenen Rechts und der Unbeschränkbarkeit geleitet, schrittweise und mürrisch im Gefühl erlittenen Unrechts den Forderungen der Gemein- schaft wich, so wie man einem aufdringlichen, eigentlich unbefugten Pe- tenten nachgibt. Die Gemeinschaft hat sich zu fragen, welche Ansprüche sie im Namen höheren Rechts zu stellen hat und der Wirtschaft gebührt, was übrigbleibt und was zur Erhaltung des Mechanismus und zur würdigen Lebensgestaltung seiner Aufseher unentbehrlich ist“ (S. 89). 497

cher Sicht leidet, der Tanz ums goldene Kalb wird zugleich lauter und erbarmungsloser. Macht ist nie so wertvoll wie in schlechten Zeiten.

Nicht nur bewahrt sie deren Verfüger als ElitenD/K vor Ausweglosigkei- ten, in die sich die Mitwelt versetzt sieht. Überdies ist Macht etwa als

Wirtschaftskompetenz in Stresszeiten gefragt wie nie, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen, besser ziehen zu lassen. Hier bleibt der Staat als Ausfallbürgschaft im Wort, um soziale Härten abzufedern und die Infrastrukturen zu bewahren. Außerdem ist die

Politik gefordert, damit wirtschaftliche Sondermacht auf dem Markt, mit Blick auf die Beschäftigten oder über den Staat nicht die Ober- hand gewinnt, trotz aller „normativen Sperren gegen eine direkte

Konvertabilität von Geld und Macht“1479, die schon normalerweise ab- genutzt wirken. Solche Dienstleistungen setzen allerdings Reformdis- kurse voraus, in denen das Notwendige auch angesprochen wird. Die

Macht der Macht besteht jedoch nicht zuletzt darin, zu wirken, ohne dass ihr Einfluss sichtbar wird. Handlungswege, die den Horizont des

Regelrechten überschreiten, geraten unter Nachweisdruck. Normali- sierung als ein wichtiger Machteffekt beziehungsweise soziale Kon- formität sind hingegen nur anhand der Möglichkeiten nachzuweisen, die vernachlässigt werden1480, obwohl sie den formal akzeptierten

Vorstellungen von einer angemessenen Chancenverteilung entspre- chen. Die mentale Verankerung solcher Muster ist eine Vorbedingung, etwa um Eliten als notwendige Größe auszuschildern.1481 Auch das

Privileg des Gewohnten, wonach „die Geschäftswelt in Fragen von öf- fentlichem Belang eine herausragende Rolle spielt“1482, lässt sich trotz Meinungsverschiedenheiten in Einzelfragen schwerlich überwin-

1479 Luhmann: Macht (Anm. 13), S. 103. 1480 Vgl. Bachrach/Baratz: Macht (Anm. 1114), S. 43 ff. 1481 Etwa ganz alteuropäisch und somit frei nach: Ubi est multitudo, ibi de- bet rector. 1482 Vladimir O. Key Jr.: Politics, Parties, & Pressure Groups, New York: Crowell 5 1967 S. 73. 498

den. Paradoxerweise aber ist Systemisches als das ‚Normale‘ in Zei- ten der Ungewissheit besonders gefragt, auch intellektuell, selbst wenn es sich aus Konkurrenz-Zwang mit aller Entschiedenheit selbst der Umwälzung - mithin Denormalisierung - der sozial- technologischen Verhältnisse widmet, die derartige Desorientierungen und Unsicherheiten mitbedingen.

Allein die Macht des Vorfindlichen ist überwältigend, weil es tagtäg- lich mitentworfen wird. Die Menschen „vergessen leicht die Welt; sie betrachten sie nicht gerne; sie ziehen ihre eigene Schöpfungen, Re- den, Schriften, Akten und Vorschriften vor“, kommentierte Alain1483 diese Bereitschaft zur Illusionsionierung, die unschwer „den Kontakt mit der Sache, so wie sie ist“, verliert. Nicht nur, weil man „sie nicht mehr zu sehen vermag“, sondern da man sie offenbar „nicht mehr se- hen will“. Solche Zustandsflucht oder auch Bereitschaft zur Beschöni- gung steht politisch jeglicher Verhältniskorrektur oder überhaupt Ver-

änderungen im Weg, die nicht als Eigenwandel der Gegebenheiten wahrzunehmen sind. Es kann mithin keine Rede davon sein, dass

Macht als Chance zu betrachten ist, „die Wahrscheinlichkeit des Zu- standekommens unwahrscheinlich Selektionszusammenhänge zu stei- gern", wie Luhmann ordnungstheoretisch dramatisiert1484. Selbst un- befriedigende Soziallagen samt Nutznießer überdauern vielmehr mü- helos ihre Tiefpunkte, wie die Chroniken aller Gesellschaftsformatio- nen verraten. Keineswegs nur, weil Innovationsangebote laut Auskunft der Geschichtsquellen vom Regen in die Traufe führen können, son- dern weil sie unvertraut sind. Es gehört zur Sozialnatur des Men- schen, auf die Dauer die ihn umfangende Wirklichkeit als vernünftig und wohlgeordnet empfinden zu wollen. Die Aufdeckung der Dominanz des Gewohnten muss folglich allem Korrekturbedürfnis vorausgehen.

1483 Minerve ou de la sagesse, Paris: Hartmann 1949, S. 13 ff. 1484 Macht (Anm. 13), S. 12. 499

Andernfalls bleiben die Sozialanalysen im Dekorum stecken, enden bei Unbegriffen wie Fügung oder im „Ausstieg“ (Hirschman), diesmal aus dem, was Robert Michels die „Logik und Empirie der Tatsachen“ nannte.1485 Und Reforminitiativen landen trotz aller Anstrengungen dort, wo sie ihren Ausgangspunkt nahmen: In mehr oder weniger ver-

änderten Wechselfällen gegebener Bewandtnisse.

Reformen?

Man schreibt in Dortmund den 21. Oktober 1997. In der Westfalenhal- le findet an diesem Dienstag ein Zukunftskongress der SPD statt. Un- geduldig wartet die Opposition auf den Machtwechsel, die christlibe- rale Koalition sei lange genug im Amt. Der amtierende Parteivorsit- zende Oskar Lafontaine erläutert die Leitlinien der Reformpartei für einen linken Aufbruch in das 21. Jahrhundert. Das erfordere nicht nur einen Wachwechsel, sondern vor allem ein anderes Outfit der Politik, um Auswege aus der Wirtschaftsmisere zu finden. Gar nicht zu reden von anwachsender Kriminalität, erlahmendem Umweltschutz sowie

überbordenden Finanzaufwendungen, um wenigstens gröbster Armut im Rahmen grundgesetzlich vorgeschriebener Überlebenschancen zu wehren. Was an der Ruhr von der sozialdemokratischen Elite im War- testand zu hören war, klang vollmundig. Steuernachlässe für weniger

Bemittelte, mehr Kindergeld, Arbeitszeitverkürzungen, Investitionen in

Zukunftstechnologien etwa zum Bau einer „Brücke ins Solarzeitalter“, die Hermann Scheer (Sonnen-Strategie, München/Zürich: Piper ³1999) seit langem von seiner Partei verlangt. Aber Wahlkampfversprechen

1485 So sah sich Armut typischerweise nicht durch die Soziologie, sondern von der Politik (Geißler) als zwischenparteiliche Friktionschance wieder ins Spiel gebracht. 500

sind kein Regierungsprogramm.1486 Als Worthülsen sind sie wohlfeil, solange neben ihrer Finanzierbarkeit die Umsetzungschancen offen bleiben. Nicht nur, um mit Wählerunterstützung eine Regierungsablö- sung als Elitenaustausch zu sichern, sondern um die Verhältnisse wirklich durchzulüften, sind realistische Zukunftsperspektiven vonnö- ten. Sie müssten zumindest besagtes Normalitätsprivileg mitsamt der geltenden Interpretationshoheit ausleuchten. Davon war in Dortmund wenig zu vernehmen.1487 Entsprechend interessierten sich die Medien mehr für Personalia der Kanzlerkandidatenfrage als für neuartige I- deen.1488 Nun vertritt die SPD1489 spätestens seit Bismarcks Zeiten einen Reformbegriff „als Summe der sozialen Forderungen“ (Bern- stein), welche die zur Einsicht in ihre Situation gelangten Arbeiter etc. als Bürger an die ElitenD der Industriemoderne stellen. Dies Sich-

Einlassen der nord-westeuropäischen Linken auf das Vorfindliche1490 beschleunigte seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem

1486 Das nach dem Führungswechsel (1998) wesentlich angepasster gehal- ten war, vgl.: Aufbruch und Erneuerung, Koalitionsvereinbarung zwischen SPD - Bündnis 90/Die Grünen: www.spd.de/aktuell/programmatisches/vertrag.htm; auch: Zukunftspro- gramm kompakt, Hrsg. SPD-Bundestagsfraktion, Bonn 1999. 1487 Vgl. Eckart Lohse: Sie SPD bleibt bei ihrer Strategie, Frankfurter All- gemeine Zeitung vom 22. 10. 1997, S. 3. Michael Giese: Echte Alternati- ve?, Westfälische Rundschau vom 22. 10. 1997, S. 2. Auch Karl Otto Hondrich: Wir hier drinnen - ihr da draußen, Die Zeit vom 28. 11. 1997, S. 5. 1488 Auch die von Lafontaine Anfang Dezember 1997 auf dem SPD- Parteitag in Hannover angekündigte „fundamental andere Wirtschafts- und Finanzpolitik“ als Grundlage für eine breit angelegte Gerechtigkeitsoffen- sive in der Gesellschaft blieb ohne politische, monetäre oder mentale Kon- kretisierung, vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. 12. 1997, S. 1 f. 1489 Ebenso wie übrigens die Sozialwissenschaft jedenfalls als „Wissen- schaft von den Handlungen der Menschheit, durch welche sie die Idee der Wohlfahrt zu verwirklichen strebt“, wie K. Th. von Inama-Sternegg (Staats- wissenschaftliche Abhandlungen, Leipzig: Duncker & Humblot 1903, S. 18) es voller kathedersozialistischem Elan ausdrückte. 1490 Wenigstens peu à peu, nachdem sich in den eigenen Reihen nicht nur die geradezu puritanische Ablehnung des „Amoralismus einer Raffergesell- schaft“ (W. S. Schlamm: Wie neu, wie links ist die ‚Neue Linke’?, Welt am Sonntag vom 12. 9. 1971, S. 7) gelegt hatte, sondern auch die panische Unterstellung, die blockierte Demokratisierung irgendwie nur par force ü- berwinden zu können. 501

Boden kolonialer Ausbeutung, wachsender Produktivität und besserer

Handelsbeziehungen erhebliche Realverbesserungen nicht nur für die

Lage der mittellosen Bevölkerung. Man denke an den fabrikweltlichen

Wandel von der Stände- über die Massen- hin zur individualisierten

Wagnisgesellschaft. Bald konnte trotz fortbestehender Allgegenwart herrschender Eliten sowie der Tatsache, dass die Arbeitsteilung hie- rarchische Differenzierungen eher förderte als abbaute, von einer se- paraten ‚Proletkultur’ als gegenelitärem Sprungbrett für Änderungen keine Rede mehr sein. Die soziale Entwicklung frei nach ‚Intergenera- tive Mobilität > Erwartung’ dämmte das Gruppenbewusstsein jeden- falls als Klassenkampfmotivation; das Proletariat geriet zum Salariat.

Das machte aller nicht-partizipatorischen Sozialopposition trotz bis in die jüngere Gegenwart hinein nachzuweisender kollektiver Entfrem- dungsphänomene an der gesellschaftlichen Basis1491 das Leben schwer, sozialromantische Losungen1492 etwa in den Gewerkschaf- ten1493 hin oder her. Falls aber die sozialen beziehungsweise ökolo- gischen Kosten der Globalisierung allzu rasch höher steigen als deren gesamtgesellschaftlicher Verteilungs-Ertrag, weil im Kontext des mo- dischen Individual-Maximalismus ein „struktureller Irrationalismus“ vorherrscht, der soziale Kooperation zu verunmöglichen droht1494,

1491 Sie sind in der Milieugesellschaft als Sorgenaufkommen keineswegs verschwunden, aber individualisiert, so dass sie im klassischen Verständ- nis politisch kaum als Gruppenbewusstsein mobilisierbar zu sein scheinen. 1492 „Es ist kein Wunder, daß der weitaus größte Teil der Arbeiter sich kei- neswegs in der Lage sieht, sich mit ihren Unternehmen, mit Gesellschaft und Staat zu identifizieren: sie bleiben ihnen fremd, weil sie nicht ihre Sa- che sind“, Handbuch für die Vertrauensleute der IGM, Frankfurt am Main ²1964, S. 28. 1493 Die sich in ihrem auf einem Bundeskongress in Dresden (1996) be- schlossenen ‚Grundsatzprogramm’ (Die Zukunft gestalten, Hrsg. DGB: Düs- seldorf ²1997, 38 Seiten) nicht nur energisch als „Gegenmacht gegen Kapi- tal und Arbeitgeber“ positionieren, sondern zudem neben weiterer Demo- kratisierung, Geschlechter-Emanzipation etc. die „solidarische Gesell- schaft“ in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen (S. 3). 1494 Vgl. Julian Nida-Rümelin: Kritik des Konsequentialismus, München: Oldenbourg 1995, S. 165 ff. 502

dann nähert sich das Marktsystem im Kontext seiner 3. Grundumwäl- zung1495 der Unwirtlichkeit früherer Entwicklungsstufen, wenngleich in anderem Aufputz und selbst falls die Epoche es offiziell/medial nicht wahrhaben möchte. Ist es schon soweit? Mit Blick etwa auf die hiesige Vermögensbilanz noch lange nicht. Immerhin macht nicht nur

Frédéric Lordon1496 bei aller neoliberalen Maskerade der Umbrüche als wohltätig, unvermeidlich oder fortschrittlich viele neue Randsied- ler des Drangsals aus. Der Epoche scheint der Wille abhanden zu kommen, ökonomische Sachzwänge mitsamt ihren problematischen

Rückwirkungen auf das Zusammenleben human verträglich abzufe- dern. Allerorten ist der Staat auf dem Rückzug, die Löcher in den vie- len Unterstützungs- und Ausgleichskassen sind kaum zu stopfen, sie lassen sich höchstens durch Sparen per Ausgabenkürzungen und Pri- vatisierung austrocknen. Um das Ausdünnen sozialer Netze nicht als heilsam zu kamouflieren, gehören die Ursachen für derartige Verhär- tungen beziehungsweise ihre politische Duldung auf den Prüfstand.

Berg- und Talfahrten des Wirtschaftsverlaufes werden infolge der all- gemeinen Grenzüberschreitung samt Finanztourismus weltweit agie- render Anlagefonds wahrscheinlicher. Aufschwünge entlasten den Ar- beitsmarkt nicht mehr unbedingt, oder nur durch Ausweitung prekärer

Beschäftigungsverhältnisse wie etwa in Spanien oder in den USA. Au-

ßerdem lässt sich das Wirtschaftsgeschehen regional kaum noch tief- greifend beeinflussen, es sei denn, im Sinne der vom Investivkapital allenthalben verlangten Weiterflexibilisierung. Je unberechenbarer die Marktbewegungen verlaufen, um so dringlicher wäre die öffentli- che Erörterung möglicher Schadensfolgen sowie Chancen ihrer recht-

1495 Vgl. Peter F. Drucker: La distribution, c’ est la clé de l’e-commerce, Courier International, Hors-série Nr. 18 (12. 1999/1. 2000), S. 74 f. 1496 Les quadratures de la politique économique, Paris: Albin Michel 1997, S. 296 ff. 503

zeitigen Begrenzung. „Eine Freiheit“, schrieb sich mit Willy Brandt1497 die sozialengagierte Elite ins Stammbuch, „die sich nicht in Gerech- tigkeit verankert“, schlägt als „Freiheit der Wenigen auf Kosten der

Vielen“ leicht „in Willkür um.“

Grundstürzende Umbaubilder, wie sie früher gepflegt wurden, wirken mitterweile utopisch und damit aufgesetzt, die Haltbarkeit von Vor- hersagen wiederspricht immer eklatanter dem Bedürfnis nach Gewiss- heit. Korrektivstrategien, soweit eliten-kompatibel, sind offenbar nur mehr als Summe nachbessernder Eingriffe zu begreifen. Lässt sich

Erneuerung wertrational nicht länger dramatisieren, etwa als Revolu- tionierung der Denkungsart, Verhältnisse oder Stimmungslage, ist weniger ein Kranz von Sollsätzen vonnöten als die Präzisierung spür- barer oder vermeidbarer Fehlleistungen des Systems und seiner Füh- rungskader. Diese droht heute allerdings selbst im sozialwissen- schaftlichen, nein, nicht Streit der Weltbilder oder Standpunkte, son- dern Wirklichkeitsverlust als Karussell wechselseitiger Konstruktivis- mus- bzw. Realismus-Verdächtigungen stecken zu bleiben. Im Gegen- satz zu der bahnbrechenden, wiewohl spitzfindigen Aufbereitung von

Prärogativkonflikten im Arrow-Theorem1498 lässt sich im öffentlichen

Raum mit Blick etwa auf das erstellbare Wunsch- oder Sorgenbarome- ter der Bevölkerung beziehungsweise auf messbare Mehrheitsmeinun- gen sehr wohl eine Annäherungsverbindlichkeit von Entscheidungsal- ternativen auskundschaften, bei aller konstruierten Herkunft der Er- gebnisse. Zudem können aus Sicht der Betroffenen nur laufende Re- paraturen wenigstens im Rahmen verfassungskonformer Vorgaben als

Risikodämmung plus Chancenerhalt ihren Misslichkeiten abhelfen.

Wirtschaftliche Dispositionsfreiheit unter Gewinndruck ist indes alter-

1497 Rede am 11. 11. 1975 auf dem SPD-Parteitag in Mannheim, Unkorri- giertes Protokoll, Bonn 1975, S. 70. 1498 K. J. Arrow: Social Choice and Individual Values (1951), New York: Wiley ²1963. 504

nativlos, solange Regulierungsversuche im Kontext der allgemeinen

Grenzüberschreitungen wie ortlos wirken. Sie gilt jedoch nicht länger als Inbegriff gesellschaftlicher Verteilungs- beziehungsweise Versor- gungskompetenz. Nicht „Vertrauen und vorbehaltlose Zusammenarbeit ist angesagt“1499, eher Kontrolle und Mißtrauen als Überlebenselexier einer Gesellschaft der Eliten unter Marktstress. Engpässe, Verlage- rungen oder auch Branchen-Umschichtungen (in) der Wirtschaft hin- tertreiben trotz wachsender Reichtumsproduktion die modische Hoff- nung der großen Masse auf Selbstverwirklichung (Individualität), wenn schon nicht auf Freisein (Autonomie). Die als Eigen-Elan des

Marktes verbuchten Rückwirkungen auf die warenkonforme Gesell- schaft unterstreichen demokratietheoretisch die Bringschuld auch je- ner elitären Handlungszentren, die der formalen Epochengestaltung entzogen sind, obgleich sie deren politische wie soziale Spielräume entscheidend festlegen, indem sie den Eigensinn anderer Zwecksys- teme lenken.

Aufklärung

Reformüberlegungen werfen Fragen nach der Macht im Lande auf.

Abweichende Interessen der Sozialmilieus führen vor allem in

Schlechtwetterperioden zu Reibungen nicht nur der Gesellschaftsbil- der. Sie gewichtet zudem den Machtfaktor als Ausgleich für ord- nungspolitische Leistungseinbußen neu. Schwache Gewinnaussichten verhärten das Kommunikationsklima. Unternehmen senken zur Krisen- zügelung den Arbeitnehmeranteil am Sozialprodukt. Das stellt zwar eine Fehlrationalisierung dar, weil die Summe betrieblicher Entlas-

1499 Wie das Deutsche Industrie Institut ([Hrsg.]: Mitbestimmung in der BRD. Tatsachen und Forderungen, Köln 1966, S. 3) verlangt. 505

tungen geringer ausfällt als die volkswirtschaftlich-externalisierten

Folgekosten; aber der Abschwung gilt der Mitwelt nicht zuletzt als

Folge von Nachfrage-Ausfällen wegen materieller Überversorgung. Mit

Blick auf die Entwicklung der Verteilung ist das ein Trugschluss.1500

Vielmehr öffnet sich die statistische Schere zwischen mittellos und wohlhabend weiter:

- Das untere Fünftel (uF) der Haushalte (nach Vermögensklas- sen/1993) verfügt über 6, 9 % des Immobilienvermögens, das obere

Fünftel (oF) über 43, 6 %. - Das uF verfügt über 0, 6 % der Vermögensrendite (Zinsen, Di- videnden), das oF über 80, 5 %.

- Das untere Zehntel der Einkommensklassen erhielt

(1996/Bruttoarbeitseinkommen) ein durchschnittliches Monatsentgelt von 700 Mark, das obere Zehntel von 9575 Mark.

Die Geschichte der Sozialopposition erlaubt indes eine paradoxe

Schlussfolgerung. Je geringer der Druck von unten beziehungsweise je belebter die Konjunktur, desto mehr Liberalität leistet sich ein ‚un- gefährdetes‘ Verteilungssystem. Gerät das Rentabilitätsprinzip in

Schwierigkeiten, werden die Zügel gestrafft.1501 Wirtschaftsschwan- kungen bleiben als dominierende Matrix des Sozialen von Wunsch und

Willen der Politik weitgehend unbeeinflusst, die primäre Einkommens- situation entzieht sich weitgehend der politischen Gestaltung. Das

Marktsystem hingegen reagiert umgehend auf Krisen-

1500 Zu den Daten vgl. Claus Schäfer: Verteilungspolitik, WSI-Mitteilungen Nr. 10/Köln 1997, S. 669 ff. 1501 In Rezessionen ist Einigkeit über eine fairere Verteilung der Krisen- kosten kaum herzustellen. Die Lösung der Schwierigkeiten, wie immer sie aussehen mag, geht zu Lasten schwächerer Mitspieler. Es sei denn, diese entdecken ihre Organisationsmacht und erstreiten größere Lohnanteile ff.: Wie etwa im Sommer 1997 in den USA gegen United Parcel Service, im No- vember 1997 die Lastwagenfahrer in Frankreich gegen die großen Fuhrun- ternehmen oder – vielleicht organisationspolitisch am relevantesten - im August 2000 das Telefonpersonal nach einem längeren Streik gegen Veri- zon (USA). 506

Herausforderungen, bei Bedarf werden Positionen, Posten, Bestände oder Personen ebenso als unzeitgemäß oder unrentabel ausgewech- selt wie schwache Anbieter aus dem Wettbewerb ausscheiden. So schien es über Jahrzehnte aus weltpolitischen Risikolagen geboten, die Sozialbewegungen und ihr Drohpotential durch Umverteilungsan- gebote zu verbürgerlichen. In der heutigen Globalisierungsfalle hin- gegen ist solche Elastizität herabgesetzt, obschon der Staat seit län- gerem die Gewinnaussichten der Unternehmen durch Abschreibungs- chancen und Steuervergünstigungen aller Art hätschelt; und auch die tonangebende Ideologie ist vom Nachthomismus (Sozialverantwor- tung) übergewechselt zu neomalthusianischen Vorstellungen: Weg vom Gemeinwohl, hin zu eigenverantwortlichen Überlebensmustern, möglichst ohne kollektiv-strategische Garantien, wie es ein modischer

Gerechtigkeitsbegriff vorschreibt, der Fairness mit Durchsetzungs- chancen gleichgesetzt statt mit Distribution.

An „die Bändigung der Macht der Großwirtschaft“, wie es im ‚Godes- berger Programm’ (1959) geheißen hatte1502 oder später durch die

Jungsozialisten vertreten wurde1503, mag man kaum mehr denken. Es geht frei nach „die Bewahrung des Erreichten ist das Maximum des

Erreichbaren“1504 eher um Konturen der bestehenden Sozialkultur. Ist diese zu erhalten? Und wenn ja, wie? Die gesamte Palette der über die Entlohnung hinausgehenden Betriebs-Leistungen steht auf Abruf,

1502 Programme der Deutschen Sozialdemokratie, Hannover 1963, S. 195. 1503 Zwar seien „gesellschaftspolitische Reformen“ als „Verbesserung der gegebenen Verhältnisse im Interesse eines gerechteren sozialen Aus- gleichs“ nicht länger wie „Vorstufen zur Überwindung der Marktwirtschaft“ anzusehen. Aber es gehe weiterhin darum, diese als „Mittel zu ihrer Fort- entwicklung zugunsten der abhängig Beschäftigten“ zu verstehen, ohne al- lerdings „die unternehmerische Eigeninitiative als eine der wichtigsten An- triebskräfte des Systems“ zu tangieren, ‚Stellungnahme’ des Vorstands zur den Beschlüssen des Juso-Bundeskongresses in Bremen vom 11. bis 13. Dezember 1970, Hrsg. vom SPD-Parteivorstand in Bonn, März 1971, S. 11 f. 1504 Regierungserklärung am 4. 6. 1979 von NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn, Neue Deutsche Schule 27 (1975), S. 233 ff., hier S. 234. 507

ebenso wie deren Niveau selbst, auch Zeitgewinne werden zurückge- schraubt, wenigstens informell durch Überstundenlasten. Der Gutwet- terdemokratie stehen Schwierigkeiten ins Haus, wiewohl von Protest wenig zu hören ist, selbst Studenten1505 verlangen vor allem mehr

Geld. Aber zum einen werden die sozialen Grundlagen des Verfas- sungsstaates entkernt, wenn Anspruchseindämmung durchgängig als elitäre Modernisierungs-Rationalität gilt. Zum anderen schrumpft des- sen Akzeptanz, was nicht zuletzt die Massenabkehr von der Parteipo- litik erweist, wenn die Gewählten ihre Entscheidungen für den Willen des Volkes halten. Aber Konsumtraum (Wirtschaft) und Mitbestimmung

(Politik) driften ohnedies auseinander. Ungleichheit mitsamt ihrer

Zwillingsschwester, der sozialen Ausgrenzung, breiten sich aus. Das steigert die Bedeutung von Macht als Extrachance weiter, wie Claus

Rolshausen1506 bei einer Neuerkundung dieser Ressource unterstri- chen hat. Auch im Anschluss an eine Konjunkturkrise hatte Jaeggi

(Anm. 1411) auf Überlegenheitskonjunkturen als Kehrseite einer

Chancen-Baisse verwiesen und jene „Schläfrigkeit der Machtkritik“1507 gerügt, die trotz oder wegen aller demokratischen Emergenz vorherr- sche.

Von einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky) war sei- nerzeit die Rede, Eliten gerieten zu Sachwaltern des Wirtschaftswun- ders; später fehlten Stichworte wie Armut, Übervorteilung oder Ver- wahrlosung in den einschlägigen Lexika, weil sie als Bedrängnisse angeblich entfallen waren. Oder wurden sie ignoriert und verdrängt?

Stattdessen schienen der Freizeitgesellschaft die Tauben in den Mund

1505 Im Gegensatz zu 1968 wollte im Winter 1997 der intellektuelle Nach- wuchs nicht die Phantasie an die Macht bringen, sondern verharrt im pro- saischen Umkreis überfüllter Hörsäle, unterversorgter Bibliotheken und schwindender Berufsaussichten. 1506 Macht und Herrschaft, Münster: Westfälisches Dampfboot 1997. 1507 Erwin Faul: Der moderner Machiavellismus, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1961, S. 159. 508

zu fliegen. Die ElitenD prunkten, angesichts von allerlei Durchsteche- reien in den Hinterzimmern der Verwaltung oder auf den Korridoren der Parteien, zwar nicht mehr „in weißer und makelloser Tönung“1508, wirkten aber auch nicht besonders riskant. Das war jedoch keines- wegs das Ende der Geschichte der Macht, denn über den Charakter einer Gesellschaft bleibt letztlich politisch, nicht nur ökonomisch oder

ökologisch zu befinden.

***

Auf der öffentlichen Bühne, um von anderen Machtschauplätzen eben- so abzusehen wie von den über die Gesellschaft verstreuten Bestim- mungszentren ohne Haftung, haben nicht allein die offiziell zur Len- kung detachierten Ämter oder Personen mit zu reden, auch zwischen der „Struktur des Regierungsmechanismus und dem tatsächlichen

Standort der Macht“ muss laut Karl Loewenstein1509 keine „ursächli- che Beziehung“ herrschen. Es bestehen nicht nur verschiedene Wege und Medien, um Gewicht einzusetzen, sondern viele Etagen solcher

Informalitäten. „Die sichtbaren Akteure sind keineswegs unbedingt die wirklichen Macher“.1510 Selbst wenn verborgene Machtkonstellationen berücksichtigt werden, vergrößert sich der Elitenzirkel allerdings pro- zentual kaum, er setzt sich sozial höchstens anders zusammen.

Ungleichgewichte

Nicht nur in unfreien Verhältnissen, auch bei offeneren Gegebenhei- ten gleichen die Entscheidungsstrukturen einer Spitzpyramide. Alle

1508 Wie laut Shakespeare (Titus Andronicus, I, 1: Vers 186) die Führungs- prätendenten in Rom vor der Amtsbestätigung aufzutreten hatten, wenigs- tens äußerlich. 1509 Verfassungslehre, Tübingen: Mohr 1959, S. 24. 1510 Burke: Reflections (Anm. 212), S. 9. 509

sozialen Lebenskreise pflegen von einer Handvoll dominiert, regiert, befehligt oder angeführt zu werden, ganz gleich ob mit oder ohne Be- rechtigung, aber offenbar immer mehr oder weniger geduldet, Kafkas

Schloss funktioniert(e) überall. Waltet hier, wie seit Herbert Spen- cer1511 über Robert Michels1512 und James Bryce1513 bis zu George

Homans1514 vermutet wird, eine Art eherne Tendenz zur Verkrustung?

Und unterwirft solche Akrologie selbst solche Gebilde ihren Regeln, welche dezidiert größere Gleichheit anstreben? Wenn offenbar in al- len nach-primordialen Systemen und Bedingungen auf selbst noch einmal hierarchisch getürmten Balkonen der Ton vorgegeben wird, ist solches Dauer-Arrangement ohne einen esprit d’ escalier nicht denk- bar. Herrschaft als Dialektik von Anweisung und Gefolgschaft beruht mithin nicht zuletzt darauf, dass der „Inhalt des Befehls um dessen selbst willen zur Maxime (des) Verhaltens gemacht“ wird.1515 Dieser sozial-repetitive Konstruktions-Mechanismus kann historisch im ein- zelnen sehr verschiedene Ausprägungen und Verständigungsmuster finden und mehr oder weniger komplementär ausfallen. Unausgespro- chene Ordnungsgrundlage ist fraglos die „geronnene Gewalt“ (Lassal- le) aller Vergesellung, Gehorchen als Einwilligung in einen fremden

Willen verrät immer einen „Aktus der Furcht“1516, der sich freilich zu allen Zeiten affirmativ zu begründen suchte. Ist damit das historische

Ausmaß an Willfährigkeit umrissen? Haben wir es mit Zwangs-Input-

Reflexen etwa im Sinne von Kant zu tun: „Der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat

1511 Essays on Education (1861), in: Essays on Education and Kindred Subjects, Hrsg. Charles W. Eliot, London/New York: Dent & Dutton o.J. (1910), S. 45 ff. 1512 Vgl. Zur Soziologie des Parteiwesens (Anm. 749). 1513 Modern Democracies, New York: MacMillan 1921. 1514 Theorie der sozialen Gruppe (1950), Köln/Opladen: WDV ³1968. 1515 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 122), S. 159. 1516 Gentz: Burke (Anm. 57), Band 2, S. 173. 510

..., der ihm den eigenen Willen breche“1517? Oder sind „Hordenin- stinkte“ (Wilfried Trotter) im Spiel, wie sie in gewissen Tiergesell- schaften wirken, in denen aus Gründen selektiver Fortpflanzung das stärkste Tier immer den sprichwörtlichen Leithammel spielt? Näher liegt ein kultur-evolutiver Bedarf an Dezision und damit die kollektiv- politische Prägung im Sinne eines Funktionalgehorsams, mit We- ber1518 also die „gezüchtete Eingestelltheit auf das gehorsame Sich- fügen in die Ordnung“, die kein Jenseits kennt. Die Menschen seien derart „an das Geführt-, Regiert- und Gouverniertwerden gewöhnt“, notierte Franz von Baader1519, „daß sie jeden, der ihnen zu zeigen versucht, sie könnten wohl, wenn sie es nur wagten, auf eigenen Fü-

ßen stehen, als einen Schwärmer oder Bösewicht anstarren“. Mit Ro- ger Caillois bliebe zudem sozialpsychologisch zu klären, ob auf dem

Grund des allenthalben (Mutter-Kind, Schüler-Lehrer, Gemeinde-

Kanzel, Zuschauer-Bildschirm, Menge-Redner etc.) eingeübten Blicks nach oben nicht Autorität und Macht eine Art von „magischer Faszina- tion“1520 vermitteln als „des Gehorsams heilige Gewohnheit“ (Schil- ler), unabhängig vom realen Leistungsportfolio historischer Eliten?

Figur 6

oben

Stärke

Herrschaftslegenden } Strukturen

Gehorsam Befehl

1517 Angeblich um ihn dadurch zu nötigen, „einem allgemein-gültigen Wil- len, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen“, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Werke (Anm. 713), Band 11, S. 31 ff. hier S. 40. 1518 Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 122), S. 727. 1519 Tagebücher, zit. Max Adler: Fabrik und Zuchthaus. Eine sozialhistori- sche Untersuchung, Leipzig: Oldenburg o.J. (1924), S. 145 f. 1520 Le pouvoir charismatique, in ders.: Instincts et Société, Paris: Gou- thier 1964, S. 152 ff. 511

schwach individuell { Normalitätsmythen

unten

Unterordnungs-Figurationen

Und üben die damit verbundenen, alle Sozialwinkel durchdringenden

Asymmetrien das Regiertwerden erst ein? Gleichsam als Wirkung oh- ne Ursache: Weniger „triebhaft begründetes Rangordnungsstre- ben“1521 als vielmehr Imitat und Regel, von denen in der Institutio- nenkunde wenig zu hören ist? „Jeder Herrscher ist nur Gebieter durch die Untertänigkeit der Bevölkerung“, brachte schon Nicolaus von

Kues1522 diese Paradoxie auf den Begriff. Politisch virulent konnte dieser Zusammenhang allerdings nur bleiben, weil ihm sozial- kybernetische Vorteile zu verdanken waren, die Last in Notwendigkeit umdeuten halfen. Ließ sich der Entscheidungsbedarf anders nicht de- cken1523 oder auf Zeit stellen, wie der Strukturfunktionalismus vermu- tete? Wird elitäre Verfügungsmacht als „Attribut von Beziehungen, welche durch ihre differenten Einflußpositionen gekennzeichnet sind“1524, von der Gewohnheit der Menge getragen, sich auf den Nah- bereich der Familie und die engere Lebenswelt zu beschränken? Wo-

1521 Von dem noch Berhard Rensch (Homo sapiens. Vom Tier zum Halbgott, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1959, S. 134 f.) als Vergesellungsan- trieb ausgeht. 1522 In seiner für das Baseler Konzil (1433) noch gegen den Papst verfass- ten Schrift: De concordantia catholica, III, 6. 1523 Warum ist der Einzelne ohne Not selten bereit, Lebenszeit zu investie- ren, um Verantwortung zu übernehmen und damit Einfluss zu erringen? Es sei denn, er beschließt, etwa Politik professionell zu betreiben, um von ihr leben zu können. Dieser Bereich der Elitenrekrutierung, in dem es um Ein- kommen und/oder um Egotripps geht, bereitet der betroffenen Öffentlich- keit zunehmend Kopfschmerzen, weil offenbar Funktion und Selbstverwirk- lichung allzu leicht verschmelzen. 1524 Anton Burghardt: Einführung in die Allgemeine Soziologie, München: Vahlen 1972, S. 200. 512

bei die Frage offen bleibt, was Ursache oder Wirkung ist? Liegt uns

„der Rohrstock tief im Blut“, wie Erich Kästner1525 meinte? Oder ist die allgemeine Profilisierungsscheu das Ergebnis einer Indifferenz- haltung als Produkt psychologischer Kostenrechnungen, wonach das

Mitlaufen einigen Lohn verspricht, nonkonformes Handeln dagegen

Unabsehbarkeiten birgt? Dass Elite kein schlichter sozialer Wirkfaktor ist, darüber herrscht Einigkeit, wobei schon semantisch jede Konträr- kodierung (Misswirtschaft?) schwerfällt1526, da sie offenbar undenk- bar oder unaussprechlich ist? Machtbeziehungen wirken auch, wenn oder wo sie nicht institutionalisiert sind, darum prallen empirische

Untersuchungen am multivalenten Elitenphänomen ab, soweit sie sich nicht auf Deskription der Funktionsträger1527 und ihre Verlautbarun- gen beschränken. Solche Schwierigkeiten haben ein explosionsartiges

Anwachsen von Beiträgen zum Thema nicht verhindert, das gleicher- maßen fasziniert wie besorgt stimmt, weil ElitenD

• trotz aller Leistungserwartung und

• bei gleichzeitiger Reduktion durch die vorherrschenden, bloß funk- tionalen Demokratie-Vorstellungen auf die „Organisation und Qualität von Herrschaft“ (Waschkuhn) einem emphatischen Demokratiebegriff im Magen liegen, der von der

Bevölkerung erwünscht, politisch-theoretisch jedoch für inopportun erklärt wird, weil sich ‚Volk‘ offenbar noch immer als der „gefährlichs- te politische Begriff“ (Marx) verzeichnet sieht. Vor allem dann, wenn die Führungsgruppen irregulär handeln oder die Hoffnungen nicht er- füllen, die in sie gesetzt sind und für die sie honoriert werden. Man

1525 Knigge für Unbemittelte (1928), in: Wilhelm Rausch (Hrsg.): Was nicht in euren Lesebüchern steht, Frankfurt am Main: Fischer 1968, S. 18. 1526 Nicht im Sinne von Vergeudungswirtschaft, obschon auch dass eine Messlatte für Elitequalitäten wäre (vgl. Jean-Moïse Braitberg: Mais que font-ils de nos impôts?, Paris: Édi1ions 1999), sondern von „Kakistrokra- tie“, wie Hermann Heller suboptimale Leitungsleistungen nannte. 1527 Denn „die da oben“ sind nicht notwendigerweise mit EliteF zu verwech- seln. 513

muss Alains These1528, wonach „unweigerlich das Inferiore regiert“, nicht zustimmen, weil daraus mit Luhmann1529 abzuleiten wäre, dass

Qualifizierten die Regierung egal ist; oder dass keine erleseneren

Angebote vorlagen beziehungsweise die Eliten-Zulassung nicht streng genug gehandhabt wurde. ElitenD scheinen in der öffentlichen Wahr- nehmung längst nicht mehr das darzustellen, was sie einmal vorgaben zu sein beziehungsweise was diese Semantik zu implizieren schien.

Das ist eine Seite der Medaille, die allgemeine Enttäuschung aus

Frustration über nichterfüllte Führungswünsche verrät. Und die ande- re? „Die oberen Stände sind und bleiben die Erzieher des Volkes“, hat

Georg Kerschensteiner1530 konstatiert und mit Blick nach unten hin- zugefügt: „Und wie der Herr, so der Knecht“.

Lieber von oben

Die Zeiten der ritterlichen Sitten sind dahin, ihnen folgt das Jahrhun- dert „der Klugredner, Kaufleute und Pläneschmiede“. Diese Wehkla- ge1531 gehört ideengeschichtlich in die Zeit der Romantik mit ihrer politischen Melancholie über das Ende aller festen Wege in die Zu- kunft. „Der Ruhm Europas ist für immer vergangen. Nie wieder werden wir jene großzügige Loyalität gegenüber Stand und Geschlecht erle- ben, jene stolze Unterwerfung, jenen würdevollen Gehorsam ..., die

1528 Propos (Anm. 619), S. 31. 1529 „Die Funktion des Kommunikationsmediums Macht ist daher nicht aus- reichend beschrieben, wenn man meint, es gehe nur darum, die Machtun- terworfenen zur Annahme der Weisungen zu bewegen. Auch der Machtha- ber selbst muß zur Ausübung seiner Macht bewegt werden, und darin liegt in vielen Fällen die größere Schwierigkeit. Liegt es nicht gerade für ihn, der im Zweifel unabhängiger ist, näher, sich zurückzuziehen und die Dinge laufen zu lassen?", Macht (Anm. 13), S. 21. 1530 Staatsbürgerliche Erziehung, Erfurt: Villaret 6 1917, S. 93. 1531 Burke: Reflections (Anm. 212), S. 113. 514

selbst in der Knechtschaft den Geist einer erhabenen Freiheit auf- recht erhielten“. Man träumte von einer harmonischeren Vergangen- heit, in der alles wie von selbst geregelt schien, sich Oben und Unten säuberlich auseinanderhalten ließen und Sein und Sinn übereinstimm- ten, wenn man Bossuet und seinesgleichen Glauben schenken durf- te.1532 In der frühindustriellen Ära, in der die überkommene Ordnung sich zersetzte, ohne dass zeitgemäße Kohäsionsmodelle vorlagen, wurde man der ständigen Sozialunruhen bald überdrüssig, die nach dem Zeitverständnis mehr Unwägbarkeiten bargen als Versprechun- gen. Wo blieb die angekündigte Reorganisation nach Kriterien der

Zweckmäßigkeit? Der einflussreiche Historismus bangte, ob etwa die bürgerliche Machtaneignung alle Fundamente der Gesellschaft unter- spült hätte, so dass Ungewissheit zur Regel wurde? Keineswegs, die neue Fabrikwelt entwickelte wegen ihrer marktwirtschaftlichen Ver- netzung und damit Störanfälligkeit nur ein noch größeres Bedürfnis nach Ruhe und Ordnung als die Adelsepochen. Das verdeutlicht etwa die Karriere der Vorsorge, deren risikorationale Dimensionen sich bald gründlich ausgeleuchtet sahen1533; aber auch die Soziologie als beobachtende Analyse- und Kontrollinstanz des Wandels als Motor lauter Widersprüchlichkeiten kam hier ins Spiel. Im Zeitalter der rau- chenden Schlote gerieten die Lebensverhältnisse anonymer, aber auch vergleichbarer. Und sie wirkten entfremdender, gerade weil sie laut liberaler Ideologie nicht nur weniger elitär, sondern vor allem durchlässiger sein sollten. In Wirklichkeit gruppierte sich die Bürger-

ära genau wie ältere Sozietäten um lauter Tabus, die sich nicht zu-

1532 Was einigermaßen schwer fällt, man denke nur an die kritische Selbstbespiegelung der durch Gier, Lust, Gewalt oder Täuschung verwirr- ten Zeitläufte, wie sie bereits der im 13. Jahrhundert begonnene „Roman de la Rose“ (Paris: Pierre Vidoue 1538) als viel gelesene Epochenreporta- ge bietet. 1533 Vgl. Alfred Manes: Versicherungswesen (1905), 3 Bd., Leipzig: Teub- ner 5 1930. 515

letzt unter der allgemeinen Ahnungslosigkeit (Wie geht es weiter?

Wohin entwickeln sich die Verhältnisse?) einer Übergangsepoche verbargen. „Jede Beeinträchtigung, jede Gefährdung der individuel- len, prinzipiell unbegrenzten Freiheit, des Privateigentums und der freien Konkurrenz“, kommentierte etwa Carl Schmitt1534 eine der zent- ralen Ungereimtheiten der anbrechenden Marktepoche, „heißt ‚Gewalt’ und ist eo ipso etwas Böses; werden aber Tausende von Bauern durch den Gerichtsvollzieher des Wucherers ins Elend getrieben, so ist das

‚Rechtsstaat’ und ‚ökonomische’ Gesetzmäßigkeit, in die der Staat sich nicht einmischen darf“. Was darauf verweist, dass die Bürger- epoche etwa mit Markt und Staat immer mehrere Machtpole kombiniert hielt. Den Massenbewegungen, die auf den neuen Hindernislauf der

Dinge reagierten, ging es nicht zuletzt um die Gültigkeit und Gerech- tigkeit dieser Eigentumsordnung, entsprechend jagten sie Herkunfts- wie Aufstiegseliten einen gehörigen Schrecken ein, denn der Staat als

Integrationsmanagement war erst noch zeitgemäß umzumodeln. Wür- den die institutionellen Dämme, die man gegen die Unterschichten festzurrte, dem Druck widerstehen? Bot die Sozialkonstruktion, die man pflegte, auf Dauer überhaupt hinreichend Massenappeal? Weni- ger die Furcht vor Machtmissbrauch von oben, die Montesquieu zu seinem Modell der Gewaltenteilung bewegt hatte, erregte die Gemü- ter; es ging um die Abwehr des Mitsprache-Anspruchs von Gegeneli- ten, welche sich auf die große Menge stützten und aus dem kulturell gefördeten (Durchschulung etc.) und bewachten Konsens der Eliten ausscherten, nicht zuletzt, indem sie mit Zivilisierungsangeboten durch Pflege der Gehorsamsbereitschaft von unten aufwarteten. „Der

Staat muss untergehn, früh oder spät,/Wo Mehrheit siegt und Unvers- tand entscheidet“, warnte Friedrich Schiller1535 mit Blick auf die von

1534 Der Begriff (Anm. 839), S. 51. 1535 In seinem dramatischen Fragment ‚Demetrius’ (1804/1805), 1. Aufzug, Verse 477 f. 516

oben oder außen betrachtet gleichermaßen unerklärlichen Exzesse der Französischen Revolution, die Symbole, Dinge und selbst die Sin- ne samt Imaginologie umformten. „Verstand ist stets bei Wen’gen nur gewesen“. Doch schon seit den Tagen der Aufklärung war ein unab- lässiger Auszug aus den demokratischen Luftschlössern antifeudaler

Freiheits- und Gleichheitswünsche zu beobachten. Jenes idealistische

Primat des sozialen Füreinander wich pragmatischer Nutzenrechnung,

Ökonomie wurde als „öde Lektüre“ (Thiers) zur neuen Leitwissen- schaft, Scipios Traum schien wieder einmal ausgeträumt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts sah sich eine Reihe von Verwaltungsmodellen samt Sinnangeboten der Industriemoderne entworfen. Sie fußten ei- nerseits auf der Freizügigkeit einer Bevölkerung, die ihre Chancen selbst in die Hand nehmen sollte, vor allem durch Vermarktung der eigenen Arbeitskraft, denn „Kompetenz ist die Grundlage aller Leis- tungen und des Glücks“1536. Damit verbunden war andererseits die

Vorstellung, dass die Regierungsarbeit künftig von der Bevölkerungs- mehrheit durch Rückkoppelungschancen getragen/geduldet werden sollte, um Ruhe und Ordnung zu maximieren, damit der Stoffwechsel zwischen Natur und Gesellschaft ungefährdet ausgeweitet werden könnte. Entsprechende Politiktheorien implementierten daher wie selbstverständlich die Existenznotwendigkeit von Eliten. „Das Ge- schick der Armen sollte in allem, was diese kollektiv betrifft, für sie verwaltet werden, nicht von ihnen selbst. Sie sollten weder aufgefor- dert oder ermutigt werden, selbst zu denken; noch sollte ihren Über- legungen oder Absichten viel Gewicht beigemessen werden bei der

Festlegung dessen, was mit ihnen geschieht“. Derart umschrieb der tonangebende Liberale John Stuart Mill1537 unumwunden fabrikweltli-

1536 William Cobbett: Cottage Economy, London: Cobbett 1823, S. 17. 1537 Principles of Political Economy, 2 Bände, Boston: Little + Brown 1848, hier Band 2, S. 319 f. Weiter heißt es: „This function the higher classes should prepare themselves to perform conscientiously (...) Relation bet- 517

che Elitefunktionen, die mit Blick auf das Los der großen Mehrheit wie die alten klangen: „Es ist die Pflicht der oberen Klassen, für die Be- nachteiligten zu denken und die Verantwortung für ihre Lage zu über- nehmen, so wie der Kommandant und die Offiziere das tun mit Blick auf die Soldaten, aus denen eine Armee besteht.“ Die „herrschende

Elite“ (Pareto) sollte sich in Zukunft allerdings zur Amtsführung legi- timieren1538, zumindest vor sich selbst. Idealiter repräsentierte sie politisch in der Flut individueller Interessen jenes Minimum an Allge- meininteresse, ohne dass der anbrechende Volksstaat als „Wirklich- keit der sittlichen Idee“ (Hegel) verloren schien. In der Frage nach der Rekrutierung dieser ElitenD argumentierte man anfangs unvorein- genommen. Verdankte sich die Handlungsmaxime der Epoche (‚Freie

Bahn dem Tüchtigen’) doch dem Umstand, dass die Bürger selbst als

Parvenus die Bühne der Geschichte betreten hatten. Hier setzten

Verhärtungen am raschesten ein. „Demokratie ... gilt uns ... keines- wegs gleichbedeutend mit Volksherrschaft“, hieß es in einem Grund- lagendokument des hiesigen Liberalismus1539, „und keineswegs für einen Gegensatz der Monarchie“. Nicht zuletzt die Schule als Durch- lauferhitzer für Talente unterlag bald wieder sozialen Abriegelungs-

ween rich and poor should be only partially authoritative; it should be ami- able, moral, and sentimental; affectionate tutelage on the one side, respectful and grateful deference on the other. The rich should be in loco parentis to the poor, guiding and restraining them like children. Of sponta- neous action on their part should be no need. They should be called on for nothing but to do their day’s work, and to be moral and religious. Their mo- rality and religion should be provided for them by their superiors, who should see them properly taught it, and should do all that is necessary to insure their being, in return for labor and attachment, properly fed, clothed, housed, spiritually edified, and innocently amused“. 1538 Das politische System selbst war gedacht als repräsentative Regie- rung, welche es erlaubte, die selbst-rekrutiven oder durch „nicht- herrschende Eliten“ (Pareto) geformten Führungsschichten in Staat und Gesellschaft durch allerdings medial präfigurierte Meinungsteilhabe der Bevölkerung periodisch zur Debatte zu stellen. 1539 Rotteck/Welcker: Staatslexikon, Band 4, Altona: Hammerich 1837, S. 254 f. 518

maßnahmen. So konnte der sizilianische Staatsrechtslehrer Mosca1540 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Elitenproblem wissen- schaftlich entdramatisieren. Er hielt zwar Austauschprozesse zwi- schen Eliten und Massen für nötig, um Stagnationen zu vermeiden.

Gefragt waren Reserven in Form geeigneter Aufsteiger aus der Unter- schicht, die für eigene Ziele im Arsenal der Zwecke einzusetzen und zu integrieren seien. Machtelite sei kein Singularismus, sondern bilde ein heterogenes Phänomen. Demokratische Spielregeln und Verfas- sungen formen einen Filter, um funktionale Offenheit zu sichern.1541

Geschichte und Gegenwart der Kulturmenschheit spiegelten den „Kon- flikt zwischen dem Bemühen der Herrschenden nach Monopolisierung und Verstetigung ihrer politischen Macht und dem Bestreben neuer

Kräfte nach einer Änderung der Machtverhältnisse“1542. Dieses Ge- geneinander verschiedener Interessen verweist auf unnachgiebige

Konkurrenz um Elitepositionen; damit scheint gewährleistet, dass eine

Zirkulation der Eliten stattfindet, man benötigte dazu wirklich keine

‚Massenherrschaft’, weswegen dieser rechtsliberale Elitismus bei al- ler Kritik am Parlamentarismus politisch später entschieden gegen

Mussolini votierte.1543

Über die Art und Weise des Elitenwechsels durch Ausscheidungs- kämpfe auf dem Olymp meditierte zeitgleich mit Mosca der italieni-

1540 Der sich in seiner ‚Teorica dei governi e governo parlamentare‘ (Turin: Loescher 1884) als erster nach den Positivisten wieder systematisch die- ses Themas annahm. 1541 Vgl. Mosca: Il tramonto dello stato liberale, Hrsg. Giovanni Spadolini, Catania: Bonanno 1971, S. 63 ff. 1542 Die herrschende Klasse. Grundlagen der politischen Wissenschaft (1895); ²1923, Salzburg: Bergland-Buch 1950, S. 64 f. 1543 Vgl. Robert Michels: Italien heute: Politik und wirtschaftliche Kultur- geschichte von 1860 bis 1930, Zürich/Leipzig: Orell Füssli 1930, S. 219. Ein weiterer Streitpunkt war, dass der Faschismus eine neue Mischschicht ans Ruder brachte und dabei die bisher herrschenden bürgerlichen Intel- lektuellen „sehr unsanft beiseite [schob], sans espoir de retour“. Das er- klärt jene Warnung vor einer Zerstörung der Demokratie, mit der Mosca 1922 sein Hauptwerk ausklingen lässt: Das Verlassen der demokratischen Basis gleiche einem Sprung ins Dunkle (S. 220). 519

sche Sozialökonom Vilfredo Pareto, Jahrgang 1848, der „Marx der

Bourgeoisie“ (Agnoli). Er sah die Elitenfrage etwas anders, vor allem warnte er die classe eletta vor dem Eindringen „humanitärer Gefühle und manieristischer Gefühlsduselei“, die sie daran hindere, ihre Posi- tion zu verteidigen. Diesmal wurden die Menschen auf einer Ordi- nalskala, die von ‚geisteschwach’ bis ‚elitär’ reicht, nach Leistungen sortiert. Demgemäß zerfällt die Gesellschaft unvermeidlich in Schich- ten. Es gibt Beherrschte und die Minderheit der Machtelite, die - um- geben von einer „nicht herrschenden Elite“ - einen geschlossenen

Zirkel bildet, um ihre Stellung mit Gewalt oder Manipulation (Trattato,

§ 2257) zu wahren, auch gegen Oppositionelle, die nur auf Zeichen von Dekadenz in der Herrenschicht warten. Mehr Offenheit sei poli- tisch von Übel. Befürchtungen einer möglichen Erstarrung der neu- zeitlichen Eliten trotz Formaldemokratie sind übertrieben. Diese müssten ja, im Gegensatz zu ihren geschichtlichen Vorläufern, um

Anerkennung ringen und damit notgedrungen beweglicher agieren als jene. Sie trügen mithin allemal Züge einer Funktionselite. Und das trotz der Einschränkung, wonach der Elitenaustausch zwar dafür sorg- te, das jene Spitzenzone auf der Zeitachse von unterschiedlichen

Personen/Kreisen bewohnt würde; dadurch kämen sich hoch und nied- rig keineswegs näher, selbst wenn der Aufbruch ins Medienzeitalter den „enfants de la patrie“ diesen Eindruck vermitteln mochte durch die deskriptive oder visuelle Scheinreduktion von sozialer bezie- hungsweise kultureller Distanz.

Eine Art von „demokratischer Elitenherrschaft“ (Bachrach) breitete sich aus, seit die nachfeudalen Führungskreise die Mitsprache der

Menge mit Sozialunruhen gleichzusetzen begannen. „Volk muß un- vermeidlich ein Begriff streitender Parteien sein“, fasste Gustav Rad- 520

bruch1544 die irritierende Unruhelatenz einer demokratisierten Poli- tikmoderne zusammen, solange nicht „ein Engel vom Himmel die un- trügliche Offenbarung des Gemeinwohls“ brächte. Von Abraham Lin- colns1545 Begeisterung, wonach Demokratie „consociational“ und da- mit als Regierung durch und für das Volk zu verstehen sei, blieb we- nig übrig, bald war von „absolutistischen Ansprüchen“ (Franz Lieber) allzu direkter Mitsprache zu hören, deren Vertreter J. L. Talmon im

Rückblick samt und sonders als Boten des Unheils zu klassifizieren suchte. Ideengeschichtlich geriet das Demokratiemodell als Herr- schaftskonzept auf dem Boden einer entfesselten Führungskonkurrenz schon in den Fraktionskämpfen der Französischen Revolution1546 zu einem Gut, das es nicht nur gegen die Reaktion, sondern auch wider die Regierten zu reklamieren galt. Tatsächlich waren Führungskader in vielen Modernisierungsfragen nicht selten liberaler eingestellt als die Bevölkerung1547; zudem schlug die unkontrollierbare Dialektik von

Macht und Imagination erfahrungsgemäß nicht immer fortschrittlich aus, man denke an jenen „Totalitarismus“, den Mussolini 1922 als

Neologismus für die charismatische Plebiszitarität seines Regimes reklamierte. Die beobachtbare Verschmelzung jüngerer Mitbestim- mungs- mit älteren Elitevorstellungen förderte nach und nach ein for- malisiertes Demokratieverständnis, für das im Sinne einer Kritik durch

Proudhon („der Delegierte des Souveräns wird zum Herren des Souve-

1544 Parteienstaat und Volksgemeinschaft, Die Gesellschaft, 6. Jg. (1929/Band 2), S. 99. 1545 Gettysburg Address (19. November 1863), in: Documents of American History, Hrsg. Henry S. Commager, New York: Croft ³1943, S. 428 f. 1546 Vgl. Walter Markov: Volksbewegungen in der Französischen Revoluti- on, Frankfurt am Main/New York: Campus 1976, bes. S. 17 ff. 1547 Vgl. stellvertretend etwa für das politische Toleranzgefälle von oben nach unten Samuel A. Stouffer: Communism, Conformity, and Civil Liber- ties, Garden City: Doubleday 1955, S. 26 ff. Auch Paul Lazarsfeld/Wagner Thieles Jr.: The Academic Mind. Social Scientist in a Time of Crisis, Glen- coe: Free Press 1958, S. 144 ff. 521

räns“)1548 das Volk höchstens zum Schein selbständig war. Diese Ab- nüchterung politischer Entscheidungsprozesse als „Herrschaft des Po- litikers“ sah sich durch Joseph Schumpeter (Anm. 318, S. 452) weiter ausgefertigt: Volksherrschaft wird auf Abstimmungsvorgänge redu- ziert, die bestimmten Spielregeln unterlagen. Machtzuschläge spie- geln die Stimmen-Allokation. Eliten sind Ergebnis eines Wettbewerbs am Wählermarkt, auch wenn dieser wie in den USA aus Desinteresse

(40 % der Wähler) oder Verärgerung über die Politik (26 %) nicht mehr recht funktioniert, was die schwache Wahlbeteiligung von 50

Prozent (1996/2000) zu belegen scheint. Auf der Strecke bleiben in diesem Resignationsmodell wesentliche Vorstellungen, die seit der

Aufklärung die Geschichte der Demokratie begleitet haben: Etwa das

Innere (Zustimmung, Teilhabe, Engagement, Kontrolle) der Hülle des

Verfahrens, wobei inzwischen auch noch historische Wegbegleiter der

Demokratie wie Staat und Nation auf Abruf stehen, was die Idee der

Volksherrschaft weiter schwächt.1549 Wenn von ihren philosophischen

Begründungsmustern aber nur Destillate bleiben, fallen dann res publica und res populi nicht auseinander? Demokratie als Stimmen- fang auf dem politischen Basar jedenfalls hat auch ohne vulgärdemo- kratische Anwandlungen frei nach ‚alle könn(t)en alles’ mit den von

Cicero1550 überlieferten Co-Management-Visionen des öffentlichen

Raumes kaum noch etwas zu schaffen, die seit der Renaissance die moderne Politiklehre angeregt hatten.

Nun mag mit Blick auf die Geschichte zu bezweifeln sein, ob die De- mokratie tatsächlich „die natürliche Herrschaftsform des homo sa-

1548 Théorie du mouvement constitutionel au XIXe siècle, Paris: Lacroix, Verboeckhoven 1870, S. 79. 1549 Vgl. dazu Jean-Marie Guéhenno: Die neue Machtfrage, Die Zeit vom 16. 12. 1999, S. 11. 1550 „Res publica igitur res populi est“: Des in der Anerkennung des Rechts und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigten Volkes, de re publica, Buch 1, 25. 522

piens“1551 darstellt. Ganz abgesehen von der Frage, wie diese Regie- rungsform ‚im Namen des Volkes’ optimal, jedoch demokratisch, als

Bestenherrschaft mit Bodenhaftung zu organisieren wäre, nicht nur

Nietzsche1552 hegte im Interesse des öffentlichen Guten ja ausge- sprochen exzentrische Vorstellungen. Insofern

- spiegelt (als Vorbehalt) und

- unterläuft (als Kompensation) das seit der Moderne allen Elitevorstellungenf gemeinsame, sehr an- spruchsvolle Zuständigkeits-Selbstverständnis zugleich besagte Ent- leerung der Demokratie. Der Durchschnittlichkeit, vielleicht sogar A- pathie der großen Menge entspreche via „geregelter Willfährigkeit“

(Tocqueville) ein wohlwollender Paternalismus oder auch Maternalis- mus der Führungsgruppen. Diese würden im Idealfall als ‚Klasse an sich’ zu einer dem Gemeinwohl verpflichteten Dienstelite beziehungs- weise „Amtsinhaberschaft“1553, ob sie das möchten oder nicht. Solche

1551 Jean Baechler: Démocraties, Paris: Calmann-Lévy 1985, S. 19. 1552 Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister (1886), in Schlechta (Anm. 1092), Band 1, S. 435 ff.: „Zuerst hätten die Redlichen und Vertrauenswürdigen eines Landes, welche zugleich irgendworin Meis- ter und Sachkenner sind, sich auszuscheiden, durch gegenseitige Auswit- terung und Anerkennung; aus ihnen wiederum müßten sich, in engerer Wahl, die in jeder Einzelart Sachverständigen und Wissenden ersten Ran- ges auswählen, gleichfalls durch gegenseitige Anerkennung und Gewähr- leistung. Bestünde aus ihnen die gesetzgebende Körperschaft, so müßten endlich, für jeden einzelnen Fall, nur die Stimmen und Urteile der speziel- len Sachverständigen entscheiden und die Ehrenhaftigkeit aller übrigen groß genug und einfach zur Sache des Anstandes geworden sein, die Ab- stimmung dabei auch nur jenen zu überlassen: so daß im strengsten Sinne das Gesetz aus dem Verstande der verständigsten hervorginge. - Jetzt stimmen Parteien ab: und bei jeder Abstimmung muß es hunderte von be- schämten Gewissen geben - die der Schlecht-Unterrichteten, Urteils- Unfähigen, die der nachsprechenden, Nachgezogenen, Fortgerissenen. Nichts erniedrigt die Würde jedes neuen Gesetzes so, als dieses ankle- bende Schamrot der Unredlichkeit, zu der jede Partei-Abstimmung zwingt. Aber, wie gesagt, es ist leicht, zum Spotten leicht, so etwas aufzustellen: keine Macht der Welt ist jetzt stark genug, das Bessere zu verwirklichen“ (S. 848 f.). 1553 Wilhelm Hennis: Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in Konrad Hesse u.a. (Hrsg.): Staatsverfassung und Kirchenordnung, Tübingen: Mohr 1962, S. 51 ff. 523

Sicht der Dinge wirft allerdings Probleme auf, die sich systemtherore- tisch als differenzierungsdynamische Tendenzen zur Abschließung kennzeichnen lassen. Denn mag das politische Phlegma der breiten

Masse ein Tatbestand sein, mit dem gerechnet werden muss, so ist im

Gegenzug keineswegs sichergestellt, dass die politischen ElitenD a) ein offenes System erhalten wollen, b) tatsächlich tun, was dem Ge- meinwohl nützt oder c) bei der Erledigung öffentlicher Aufgaben nicht

(vornehmlich) auf persönliche Interessen reflektieren, also wie eine

‚Klasse für sich’ auftreten. Je geringer das allgemeine Interesse am

„Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtvertei- lung“ (Weber) ausfällt, desto schwieriger gerät nicht nur die Leis- tungskontrolle solcher Kustodialität. Umso so größer werden die Ge- fahren einer Art von „radikalisierter Demokratie“ (Hennis), weil sich einerseits die Menge um Fragen nach der Beachtung von Regeln und

Ritualen wenig schert; andererseits die Eliten aus Angst vor den Un- wägbarkeiten der öffentlichen Meinung ihre Entscheidungen der Dis- kussion entziehen, nicht zuletzt, indem sich diese dem Publikum me- dial als Verkündungspolitik präsentieren, was wiederum die Formalia

(Kabinett als Entscheidungszentrum etc.) aushöhlt. Dieser mehrdi- mensionale Teufelskreis stellt neben weiteren Problemverdichtungen wie der Ausbreitung von Überwachungstechniken1554, der Amassie- rung von Personaldateien oder auch dem Pseudo-Populismus medialer

Personalisierungen selbst noch die Magerfassung des demokratischen

Systems in Frage, das auf Kontakte zum Alltag der Menschen ange- wiesen bleibt, wozu republikanische Dauerinvestitionen nötig sind.

Was aber, wenn sich die Führungsgruppen durch die Absencen des

Volkssouveräns nicht beunruhigt fühlen, sie ihn sogar weiter einlul- len? „Alle Angelegenheiten der Regierung zu überlassen, so wie man

1554 Vgl. Clive Norris/Garry Amstrong: The maximum surveillance society, Oxford: Berg 1999. 524

alles der Vorsehung anheimstellt, bedeutet Gleichgültigkeit ihnen ge- genüber; ihr Ausgang wird, sofern er unangenehm ist, als Heimsu- chung durch die Natur akzeptiert“. Derart warnte John Stuart Mill sei- ne bürgerlichen Mittelschichten vor den Auswirkungen einer in sol- chem Verständnis bloß repräsentativen Regierung: „Mit Ausnahme weniger beflissener Gelehrter, die ein intellektuelles Interesse an der

Spekulation um ihrer selbst willen haben, wird so die Denk- und Emp- findungsfähigkeit der Bevölkerung auf materielle Interessen abgelei- tet und, wenn die befriedigt sind, auf Vergnügungen und die Verschö- nerung des Privatlebens“.1555 Sehnsucht nach Rängen

Solcher Zustand wirkt bedenklich, er ist politisch jedoch dem man- gelnden Weitblick der Bürger als Wähler zuzuschreiben, von denen aller Stillstand ausgeht. Man kann niemand zu seinem Glück zwingen,

Freiheit ist keine Pflicht, und mit Bildungsangeboten allein steigert sich die Beteiligungsbereitschaft am parlamentarischen etc. Wochen- tag kaum, eher womöglich umgekehrt, falls sich der Kleineleute-

Machiavellismus der Tagespolitik herumspricht. Fällt das politische

Engagement der Bevölkerung daher kaum ins Gewicht?1556 Die zweit- bis drittgrößte Partei bilden mittlerweile die Nichtwähler1557, nur 2

Prozent der Bevölkerung sind formalpolitisch organisiert, darunter kaum jüngere Mitbürger. Höchsten ein halbes Prozent der Engagierten ist an Kandidatenaufstellungen beteiligt, relevante Entscheidungen werden von noch weniger Personen getroffen. Eine Miniminorität steuert formal das Staatsschiff, wie gehabt. So dürfen die administra-

1555 Representative Government (1861), Oxford: Oxford UP 1912, S. 203 f. 1556 Zum Desinteresse der Jugend vgl. Günther Schaub: Politische Mei- nungsbildung in Deutschland, Bonn: Dietz 1998, S. 72 ff. 1557 Vor allem jüngere Wähler enthalten sich, was die politische Generati- onenspaltung befördert, vgl. Peter Lösche: Die NichtwählerInnen sind hochpolitisch, einblick Nr. 17 (1999), S. 7. 525

tiv-politischen Eliten unter sich bleiben. Das mag ihnen genehm sein, ist deswegen aber keine Herrschaftsverschwörung eines big brothers.

Hat diese politische Enthaltsamkeit der Bevölkerung, trotz des vorü- bergehenden Booms von allerlei Sozialbewegungen, mit kafkaesken

Verunsicherungen und Frustrationen zu tun, die in der modernen Poli- tikverwaltung anfallen? Oder mit den vielen Skandalen, die den politi- schen Appetit verderben? Schon der liberale Anarchist Pierre Joseph

Proudhon1558 hat 1850 das Handtuch geworfen. „Die Menschheit will regiert werden; sei’s drum, so soll sie es werden.“ ElitenD sind offen- sichtlich metapolitisch. Führung konnte nur von der Spitze her statt- finden, horizontale Selbstorganisation war selten und blieb an vormo- derne Bedingungen gebunden: „Die große Heerde des Menschenge- schlechts“ bedurfte zumeist „der Führer, Leiter und Berather“1559, mochte/mag deren jeweilige Herkunft und Rolle unterschiedlich aus- fallen.

Das gesellschaftliche Eliteproblem ist allerdings ein Zwillingsphäno- men. Neben einem wie immer motivierten Streben nach Macht und

Würden der aktiven Personenkreise gilt es gleichermaßen das sozial- psychologische Bedürfnis so wie den funktionalen Bedarf nach Füh- rung zu berücksichtigen1560, obschon sich in concreto durchaus Nega- tiv-Reaktionen auf Ungleichheiten vermessen lassen, die sich in Beg- riffen wie Elite inkarnieren.1561 Trotz narzistischer Ablehnung von all- zuviel Sozialdistanz besteht eine allgemeine Begierde nach Rangstu-

1558 Zit. Charles Gide/Charles Rist: Histoire des doctrines économiques, Paris: Sirey 1909, S. 709. 1559 Schopenhauer: Zur Rechtslehre und Politik (1851), Parerga und Para- lipomena (Anm. 663), S. 264. 1560 Vgl. Wilhelm Hennis: Es fehlt an politischer Führung, Gewerkschaftli- che Monatshefte Nr. 11 (1992), S. 726 ff. 1561 So bekannten 30 % (Sympathie)/49 % (Antipathie) der West- und 23% (Sympathie)/56 % (Antipathie) der Ostdeutschen gegen den Elitebegriff, vgl. Renate Köcher (Allensbach): Der Freiheit entwöhnt, Frankfurter Allge- meine Zeitung vom 13. 3. 1996, S. 5. 526

fen. Im Zeitalter der Selbstaktualisierung, in dem außer dem Erfolg nichts mehr zu zählen scheint, was früher Positionierungen ermög- lichte, mehr denn je: Das Verlangen nach Übersichtlichkeit und Ab- grenzung steht im Sozialverkehr den kreatürlichen Bedarfszwängen an

Intensität kaum nach, nur Sinnhunger ist stärker. Wie immer solche

Bedürfnisse ursächlich zu deuten sind, ob sie mit Max Horkheimer der historisch verbürgten Schutzsuche, mit Erich Fromm dem Drill in Fa- milie und Gesellschaft, mit Wilhelm Reich sexuellen Unterdrückungen, mit David Riesman forcierter Außenlenkung zugeschrieben werden oder sich allgemeinen Mobbingerfahrungen bei der Enkulturation ver- danken, bleibt offen. Ohnedies kennt die politische Anthropologie1562 nur ein formen-kreatives Mängelwesen mit Überlebenssorgen und großem Zutraulichkeitsbedarf. Insofern hebt die seit der antiken Poli- tiklehre bekannte Folgebereitschaft, die sich als Verehrungssucht für wen auch immer äußert(e), seit eh und je ElitenD in den Sattel.

Figur 7

Hohe Einflusschancen Niedrige Einflusschancen

Politisch Träger von Innovation/ Aktive Bürger aktive Wandel (Engagement)

Bürger

Politisch Passive Experten Passive Bürger passive (Beratung) (Wähler)

Bürger

Eliten als Funktion politischer Aktivität1563

Kaum verwunderlich, wenn diese es sich wie selbstverständlich zugu- te halten, dass sie allein offenbar das Steuerungsvakuum ausfüllen,

1562 Georges Balandier: Anthropologie politique, Paris: PUF ²1969. 1563 Verändert nach Jan Jerschina: A comparative analysis of political and economic values in Russia etc., Arbeitspapier, Warschau 1995, S. 21. 527

das durch Trägheit, Koordinierungsschwäche und Erwartungshaltung der breiten Masse immer wieder entsteht. Nicht nur Teufel, wie Kant vermutete, selbst Engel benötigten Regelungsangebote für den Sozi- alverkehr. Jene These jedenfalls, wonach die Geschichte der Verge- sellschaftung in Wahrheit ein einziges „Reservoir von Oppositionsbe- wegungen“ darstellt1564, wirkt bemüht, auch wenn sie durch eine ge- schichtsnotorische Gipfelangst bestätigt scheint, die Herbert Krü- ger1565 etwa als Reduktion der Staatstheorie auf Gehorsamsschulung durchaus prototypisch zum Ausdruck brachte.

Öffentliche Diskussionen über den Bedarf an ElitenF trotz vorhande- ner Führungskader verweisen auf Irritationen über deren Leistungen beziehungsweise Fehlleistungen. Solche Debatten spiegeln weniger

Kritik am Elitismus selbst als unbefriedigte Führungserwartungen1566.

Mithin verdeutlichen gerade sie das Verlangen nach guten Eliten, Ru- dolf Steiner hat von „geliebter Autorität“ gesprochen. Laufende Eliten-

Diskurse bescheinigen der Demokratie keineswegs per se, dass sie sich in einer Krise befindet. Die Kassandrarufe verdeutlichen viel- mehr, dass die repräsentative Demokratie ihren Stellvertretern einzu- heizen vermag. Nicht zuletzt die uralte Hoffnung auf adäquate Eliten, die ihren Aufgaben gewachsen sind, mobilisiert die Gemüter, wiewohl zuweilen reichlich empörungsmoralisch. Zur Zeit des Kaiserreichs hat

Georg Simmel1567 ohne Rücksicht auf liberale Wunschbilder in ‚Unter- suchungen über die Formen der Vergesellschaftung’ (1908) auf diese

Dialektik von Befolgen und elitären Verdichtungen verwiesen. „Der

Mensch hat ein inneres Doppelverhältnis zur Unterordnung: er will zwar einerseits beherrscht sein, die Mehrzahl der Menschen kann

1564 Alain Touraine: Production de la société, Paris: Seuil 1973, S. 131. 1565 Allgemeine Staatslehre, Stuttgart: Kohlhammer 1964, S. 972. 1566 Vgl. Claus Offe: Wenn das Vertrauen fehlt, in Die Zeit vom 9. 12. 1999, S. 12 f. 1567 Soziologie (Anm. 207), S. 144. 528

nicht nur ohne Führung nicht existieren, sondern sie fühlen das auch, suchen die höhere Gewalt, die ihnen die Selbstverantwortlichkeit ab- nimmt, und eine einschränkende, regulierende Strenge, die sie nicht nur gegen außen, sondern auch gegen sich selbst schützt. Nicht we- niger aber brauchen sie die Opposition gegen diese führende Macht; sie bekommt so erst, gleichsam durch Zug und Gegenzug, die richtige

Stelle im inneren Lebenssystem der Gehorchenden“.

Aus der Einordnungsbereitschaft wird allerdings nicht auf Unterwür- figkeit einer Kultkultur geschlossen. Simmel fragt noch nach Qualifi- kationen von Führungsrollen. Die Eliten müssten ihre Beauftragung reflektieren, die Auslese der republikanischen Spitzenschichten hätte diesen Reziprozitäts-Kodex zu spiegeln. Seit dem 17. Jahrhundert versteht die neuzeitliche Rechtsstaatsidee alle Herrschaft als Obhut

(concessio imperii), wie es nach Milton zuerst Locke in stillschwei- gendem Anschluss an thomistische Positionen politisch wieder artiku- liert hatte. Bestellte Beauftragte nehmen zur Repräsentation, Artiku- lation und Mehrung der Wohlfahrt notwendige öffentliche Funktionen wahr, lautet die moderne Definition politischer Eliten inklusive der politischen Klasse im engeren Sinne. Aus eigener Befugnis können sie keine Herrenrechte beanspruchen, diese höchstens in actu an- sammeln, wiewohl sie sich im Sinne etwa der Institutionenökono- mik1568 auch nicht schlicht als Tauschpartner zwischen Kunden (>

Bürger) verstehen lassen, die nach den Regeln von Angebot und

Nachfrage eine Dienstleistungsbeziehung eingehen. Das Gemein- schaftsleben samt Politik ist „ohne ein Mindestmaß an freiwilliger Ko- operation“ (Simmel) praktisch unmöglich1569, was gleichermaßen oben

1568 Rudolf Richter/Eirik G. Furubotn: Neue Institutionenökonomik, Tübin- gen: Mohr-Siebeck 2 1999, S. 453 ff. 1569 Vgl. zum antiutilitären Vorrang menschlicher Handlungsmotivation vgl. Mary Douglas: Wie Institutionen denken (1989), Frankfurt am Main: Suhr- kamp 1991. 529

wie unten betrifft. Machtarroganz lässt den Spitzenkräften womöglich ihre Steuerungskapazität, die mag sich sogar erhöhen; sie verlieren indes jenes Gütesiegel legitimer Amtsinhabe und damit im Prinzip al- len Anspruch auf Anerkennung, was ihren Auftrag untergräbt, einen handlungsrationalen Konsens zu stiften. Die von Simmel verzeichnete

Untertänigkeit entschlüsselt sich keineswegs frei nach Charles Bau- delaire1570 als Knechtsgesinnung; sie resultiert vielmehr aus einem historisch evidenten Überschuss an „Vertrauenswilligkeit“1571, der immer wieder missbraucht wurde. Eliten sehen sich hofiert, nicht weil die übrigen Staatsbürger gern herum kommandiert werden, sondern weil soziale Wesen zur Zusammenarbeit und damit zur institutionellen

Abstraktion begabt sind. Es gibt keine Alternative zur Zugehörigkeit, so dass Sozialkapital investiert, wer konklusions-rational denkt. Ohne die Fähigkeiten des Delegierens, des Einhaltens von Vereinbarungen und des Vertrauenkönnens1572, denen sich die kulturelle Evolution neben anderen Bedürfnislagen und Befähigungen (Selektion, Knapp- heit, Sexualität, Kognition, Sprache, Konkurrenz, Angst etc.) ver- dankt, wären komplexe Zivilisationen kaum auszubilden gewesen.

Nicht ohne Grund hob Simmel im gleichen Zusammenhang die Wider- spruchsfreude der Menschen hervor. Deren unübersehbare, nicht nur politische Rolle von Spartakus bis Waleş a, verdeutlicht bei allem An- passungs-Überhang, dass sich Freiwilligkeit und Verpflichtung wech- selseitig fördern können. Wären offene Sozial-Systeme als genossen- schaftliche Metaorganisationen andernfalls entstanden?

1570 „Das Volk ist in die Peitsche verliebt, die blöde macht“, Die Reise (1859), in (Anm. 189), S. 282 ff., hier S. 291. 1571 David Thomson: Personality in Politics, London u.a.: Nelson 1939, S. 12. Auch Ranyard West: Conscience an Society. A Study of the Psycholo- gical Prerequisites of Law and Order, London: Methuen 1942, S. 234 f. 1572 Jenes „pacique imponere morem“ also, Vergil: Aeneis VI, 852. 530

13 Schulung der Eliten? „Die Macht einer Einheit in einem sozialen System verwandelt sich um so mehr in Autorität, je mehr sie auf positiv bewerteten Leistungen be- ruht“1573

„Mein Gott, beruhige dich Charles, das sind doch keine Intellektuel- len!“ Man schreibt den Juli 1998 und Madame Josselin rät ihrem Gat- ten, dem französischen Minister für Kooperation, den Polizisten seine

Papiere vorzuzeigen. Das Tribunal von Draguignan hielt diesen

Hochmut für „nicht tolerierbar“ und verurteilte sie zu einer empfindli- chen Strafe.1574 Wer von Eliten redet, spricht von wirkender Un- gleichheit1575. Aber sie begründet wenigstens formell keine Anrechte auf Dünkel. Deswegen schließen sich die auf der Vielfalt gesellschaft- licher Kräfte beruhende Demokratie und das Hervortreten einer „dau- erhaften, sich deutlich von der Masse abhebenden, maßgebenden, wenn nicht herrschenden Minderheit“ (Bahrdt) aus. Untersuchungen zu Makro- und Mikro-Einflussstrukturen in der Bundesrepublik erwei- sen durchgängig, dass sich so etwas wie ein fester oder auch nur vernetzter Eliteblock nicht wieder ausgebildet hat1576, trotz beachtli- cher Anhäufungen von Reichtum, Aufmerksamkeit, Verfügung und

Wissen in wenigen Händen. Vielmehr bestehen verschiedene, un- gleichartig-verstreute, wiewohl interagierende Führungsgruppen ohne größere Interessenidentität, die etwa auf Grund gemeinsamer sozialer

Herkunft oder nationalpolitischer Ziele bestehen könnte: der Adel blieb marginalisiert, die Mandarine sind eher sprachlos und das Un-

1573 Karl Otto Hondrich: Theorie der Herrschaft, Frankfurt am Main: Suhr- kamp 1973, S. 79. 1574 Une épouse du ministre peu coopérante, Libération vom 17. 9. 1999, S. 20. 1575 So Hans Paul Bahrdt: Braucht eine Demokratie (Anm. 1376), S. 5. 1576 Obschon die auf kommunaler etc. Ebene beobachtbare Versorgungsra- tionalität des Parteienkartells einer ElitenK -Verfestigung als Machtanma- ßung von Kamarillas fast außer Kontrolle und daher selbstreferentiell nahe kommt, vgl. Erwin K./Ute Scheuch: Cliquen, Klüngel und Karrieren, Rein- bek: Rowohlt 1992. 531

ternehmertum scheint in (s)einer Welt der Vorteilssuche befangen.

Deutschland besitzt im anspruchsvollen Figurationsverständnis weder eine politische Klasse avec aplomb noch ein Alte-Herren-System. Die

Führungsgruppen bilden zudem auch kein „Kartell der Angst“ (Dah- rendorf) mehr, sind eher ein um ihr Stellungs-Prestige besorgtes Ein- flussensemble als eine beinharte Machtclique. Dass „Macht über Men- schen und Sachen nicht gleichmäßig verteilt“1577 ist, spiegelt Hand- lungsbedingungen der modernen Sozialstaatlichkeit, die sich hoch- komplexen Vernutungen der Massengesellschaft verdanken. Erforder- nisse des Systemfunktionierens à la Talcott Parsons wie Aktivität,

Anpassung oder Normativität fordern ihren Preis. ElitenF gelten als sozial-positionelle Funktions-Entsprechungen, solange sie weder je- ner von Mill1578 verzeichneten „automatischen Tendenz... der moder- nen Zivilisation ... in eine kollektive Mittelmäßigkeit“ unterliegen; noch dem „abträglichen Interesse der Machthaber“ verfallen, „zum

Schaden für das Ganze“ ausschließlich „die unmittelbar greifbaren

Vorteile der dominanten Klasse“ ins Auge zu fassen. Zwar leistet die

Demokratie sich nicht nur „im politischen Bereich die Fiktion, als ob alle Staatsbürger tatsächlich gleicher Art wären“1579; aber die lau- terste Verfassungsabsicht erhält einen Spielraum durch die individu- ell-ungleiche Ausstattung ihrer Bürger und als Folge der Differenz, wie die rechtliche Chancengleichheit durch Aufstreben genutzt wird oder sich auswirkt. Eine Identifikation des Elitebegriffs mit Vorstel- lungen einer Art von „dominanter Kaste“ (Bahrdt) gehört formaliter in den Zusammenhang historischer Herrschaftsrealitäten, was die Aus- bildung von Machteliten samt furor ordonandi gegebenenfalls nicht

1577 Erwin Scheuch: Sichtbare und unsichtbare Macht, Die Zeit vom 24. 11. 1967, S. 3; vgl. ders.: Politische Macht und Sozialstruktur, in: liberal 2 (1967), S. 106 ff. 1578 Representative (Anm. 1555), S. 259/245. 1579 Ernst Benda: Industrielle Herrschaft und sozialer Staat, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1966, S. 109. 532

ausschließt. Dennoch hängen Ausbildung, Wirken und Akzeptanz in- dustrie-gesellschaftlicher ElitenF von prinzipiell vorhandener und öf- fentlich verteidigter Chancengleichheit ab, weil sie sonst nicht nur im politischen Raum dem formalen Geltungskanon legitimer Wahrneh- mungsverpflichtungen widersprechen.

Funktionseliten

„Alles soll offenstehen, doch nicht gleichermaßen für alle Welt“.

Schon Burke1580 brachte das Paradox auf den Begriff, dass die mo- derne Chancengleichheit, indem sie auf Lebensqualität zielt, durch

Anerkennung von Leistung (= Differenz) zwar mehr Effektivität, aber auch neue Ungleichheit schafft, da diejenigen, „die nivellieren, nie- mals wirkliche Gleichheit herstellen“ (a.a.O., S. 72). Das wiederum hat seit den Tagen von Alexis de Tocqueville zur politischen Einsicht geführt, dass absolute Gleichrangigkeit nicht nur nicht erreichbar ist, sondern politisch riskante Folgen hätte. Einerseits wäre vollendete

Isovalie gesellschaftspolitisch ein Alptraum, der E. I. Samjatins1581 schwarze Utopie vom „segensreichen Joch der Vernunft“ über den

„unzivilisierten Zustand der Freiheit“ in den Schatten stellte; anderer- seits führt bereits massenpolitisches Gleichheits-Streben leicht in un- demokratische Fahrwasser, vor allem, weil es nur organisatorisch, al- so mittels Führungs-Gefolgschafts-Muster durchzuführen ist.1582 Aber auch relative Gleichheit kann sich nur auf verbriefte Isonomie bezie- hen, soll wenigstens das Prinzip des Leistungsanspruchs der bürger- lichen Moderne gelten. Dessen Preisgabe zöge durch Niveau- und An-

1580 Reflections (Anm. 212), S. 48. 1581 Wir (1920), Zürich: Manesse 1977, S. 7. 1582 Vgl. Emil Lederer: Der Massenstaat (1940), Hrsg. Claus-Dieter Krohn, Graz/Wien: Nausner 1995. 533

spornverluste gravierende Beeinträchtigungen etwa der Produktivität nach sich, das offene Gemeinwesen wäre folglich gleichfalls gefähr- det. Chancengleichheit als Berechtigung zu Anstrengung, Anerken- nung und Karriere bleibt Prüfstein freiheitlicher Zustände, ohne Risi- ko ist Offenheit nicht zu haben und umgekehrt. Daher kannten vormo- derne Gesellschaften keine Elite im neuzeitlichen Verständnis, weil es außer in Nischen (Kirche/Armee/Bürokratie) kaum Aufstiegs- als

Bewerkstelligungskonkurrenz gab. Diese distanzierte Unvergleichbar- keit von Obrigkeit und ElitenF erklärt auch, warum Letztere erst mit der Massengesellschaft zum öffentlichen Streitthema wurden. Die

Bürgerepoche konnte/musste sich seit Entdeckung des Unvorherseh- baren/Turbulenten als Reflex gesteigerter Eingriffschancen den Kopf

über Allokationsprobleme in Wirtschaft (Investitionen), Gesellschaft

(Führungskader) oder Wissenschaft (Experten) zerbrechen, damit

Wohlfahrt und Freiheit gleichermaßen gediehen. „Da ... die Obrigkei- ten ihre Stellung dem Volke verdanken, ... in erster Linie zu dessen

Besten und nicht zu ihrem eigenen“, kommentierte bereits Milton die- ses Recht als Pflicht, „darf das Volk, sooft es das für richtig hält, sie entweder wählen oder ablehnen, sie behalten oder absetzen, ... nur auf Grund der Freiheit und des Rechts frei geborener Männer, um re- giert zu werden, wie es ihnen am besten dünkt“1583. Zudem wurden

Überlegungen wichtig, wie allgemein die Chancen zu wahren seien, damit sich der freigesetzte Wettkampf um Vorteile im intergenerativen

Wandel nicht von einer flexiblen Auslese der Tüchtigeren in einen

Ausbund der Mächtigeren mauserte, denn Schichtung ist immer „ein

System der Ungleichheit“ (Dahrendorf). Das sozialgeschichtlich müh- sam genug eroberte Wagnis auf Selbstverantwortung als neuzeitliche

1583 Zit. Edgell Rickword: Milton, der revolutionäre Intellektuelle, in: Die Englische Revolution von 1640, Berlin: Dietz 1952, S. 91 ff., hier S. 112. 534

Aufstiegsmotorik1584 samt sozial-possessiver Integrationsarbeit wäre erneut gefährdet. Zu Beginn der 1950er Jahre hatte der Berliner Poli- tologe Otto Stammer, Jahrgang 1900, das Elitethema unter Rückgriff auf Thesen von Karl Mannheim1585 daher zur politischen Überlebens- frage erklärt. Auch im Deutschland der Ruinen war möglichst unbe- fangen über Leitungsstrukturen und -status zu diskutieren, die erfah- rungsgemäß so oder so elitärd ausfallen konnten. Figur 8 Gruppenziel-orientiert Interessen-rational - mit engem Aufga- - mit umfassendem Ver- benfeld + Verantwor- antwortungsbewusstsein tungsbewusstsein ge- + weiten Zuständigkeiten genüber Anspruchs- gegenüber Anspruchsbe- berechtigten rechtigten = Leistungseli- = Funktions-/Wertelite = Positionseliten ten/Experten Anfüh- Führung/Leitung: Poli- (Verführung): Berufs- rung: Lenkung: Admi- tik/Kultur /Dunkelfelder nistration ff.

Elitestrukturen

Gleichberechtigung als Durchsetzungschance für jedermann - trotz abweichender Startbedingungen der Mitläufer - und Demokratie1586 als politische Garantie freier Laufbahn. So lauten Voraussetzungen dafür, dass sich in pluralistischer Vielfalt tatsächlich Eliten und nicht nur bürokratische Verhärtungen in den „wichtigsten Sozialkörpern der politischen Willensbildung“1587 einrichten. Geschick und Akzeptanz demokratischer Zustände hingen davon ab (a.a.O., S. 174 f.), dass

1584 Vgl. Friedrich Fürstenberg: Das Aufstiegsproblem in der modernen Ge- sellschaft, Stuttgart: Enke 1962. 1585 Vgl. Mensch und Gesellschaft (Anm. 780). 1586 Bei Stammer (Politische Soziologie und Demokratieforschung, Berlin: Duncker & Humblot 1965) inzwischen allerdings in hoch-formalisiertem Sinne: „Demokratie kann im Hinblick auf die Organisationsfilter einerseits und die Konkurrenz politischer Gruppen andererseits heute nicht mehr schlechtweg als ... Selbstregierung des Volkes angesehen werden. Sie ist vielmehr ... die Herrschaftsausübung durch eine zu alternierenden Führung und Regierung tendierende Kombination konkurrierender politischer Grup- pen im Auftrag und unter Kontrolle des Volks“ (S. 147). 1587 Wobei die Elitendebatte bei Stammer den nicht-politischen Raum der Elitebildung fast ignoriert, a.a.O., S. 84. 535

1. die Bürger nicht nur gleichberechtigt sind, sondern zudem aufge- klärt und bereit, an laufenden Diskursen etc. teilzunehmen und im

Sinne des „öffentlichen Willens“ (Cooley) zu wirken;

2. es die nach Estimation, Leistungskonkurrenz und Effektivität tat- sächlich Qualifizierten sind1588, die aus allen Gesellschaftsschichten an die Spitzen aufrücken;

3. sich als Folge der allgemeinen Konkurrenz ein Führungskaleido- skop ergibt1589, in dem nicht nur eine Vielzahl von ElitenF stellvertre- tend die Mechnismen der Demokratie bedienen, sondern deren Kon- kurrenz einer Minderheitenherrschaft vorbeugt.

Die ‚Gestalt’ als Geltungsprimat, Zusammenhangsrelation, Abgren- zung zu Gegengründen etc. einer derartigen Führungsgarnitur bildet als „Konzeptor“ (Jaeggi) beziehungsweise Effektor gesellschaftlicher

Willensbildungen zugleich immer eine Wertelite, die nicht nur ihrer

Herkunft aus der offenen Gesellschaft verbunden bleibt, sondern den intellektuellen, kulturellen und ethischen Anforderungen an ihre Rol- len nachkommt. In der platzierungs-bedingten Konkurrenz um jene

„Hochgeltung“ (Franz Oppenheimer) als Ziel jeder Sozialgruppe unter- liegen sie allerdings dem „Streben nach Macht“1590. Müssen sie doch als Individuen erfolgsrational ihre Stellung erkämpfen, was dem

„menschlichen Bedürfnis der Selbstbehauptung und Selbsterhöhung im sozialen Leben entspringt“. Insofern bleiben pluralistische Demo- kratien durch „ungehemmte Konkurrenz“ von innen verletzbar, auch

1588 Vgl. Wolfgang Schluchter: Der Elitebegriff als soziologische Kategorie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 15 (1963), S. 233 ff., hier S. 252. 1589 Jedenfalls pro forma, vgl. Morton S. Baratz: Corporate Giants and the Power Structure, The Western Political Quarterly 9 (1956), S. 406 ff. 1590 Stammer: Macht, in: Wilhelm Bernsdorf (Hrsg.): Wörterbuch der Sozio- logie Stuttgart: Enke ²1969, S. 650 ff., hier S. 650. 536

wenn Erwin Scheuch1591 eine Macht ohne Mächtige beschwor. Eine

Fragilisierung der politischen ElitenF durch Dauerkonflikte und häufi- ge Positionswechsel führt leicht zum Übergewicht bürokratischer

Strukturen1592 oder zum Autoritätsschwund. Überdies basiert das ein- flussreiche Stammer-Modell (Punkt 1) auf entschiedener Bürgerbetei- ligung. Diese Erwartung sah sich durch Wahlverhalten und Wahlfor- schung1593 bald in Frage gestellt, wonach jedenfalls die Konsumenten der Parteipolitik nicht nur wegen „massiver Schwerregierbarkeit“

(Hennis) eher gleichgültig und schlecht informiert sind; vielmehr stra- paziert die Suche nach der Mehrheit das Interesse am parlamentari- schen etc. Kräftemessen, weil sie in abgehobenen Sphären stattfindet und reichlich autistisch wirkenden Relevanzregeln verpflichtet ist.1594

Auf deren Auswirkungen reagiert man umso unwilliger, je selbstver- ständlicher sich Funktionsleistungen als normal verbucht sehen, so dass aus Unkenntnis oder Desinteresse am Ende vor allem ‚Störun- gen‘ mit Politik assoziiert zu werden pflegen. Jener „Partizipationswil- le“ (Verba) der Bürger, auf den Stammer noch setzte, mutierte zur

Parteien-, bislang allerdings noch nicht zur Demokratie-

Verdrossenheit pur. Immerhin repräsentieren die als parlamentarische

Kader präsenten Auserwählten in der öffentlichen Wahrnehmung kaum jene Glaubwürdigkeit, die Stammer für die Bürgschaft offener Gesell- schaften hielt. ElitenF als „Hoffnung für Deutschlands Zukunft“ (Ger- hard Roos)? Wo sonst wären sie politisch zu finden? Etwa in der viel-

1591 Soziologie der Macht. in: H. K. Schneider/Christian Watrin (Hrsg.): Macht und ökonomisches Gesetz, Schriften des Vereins für Socialpolitik NF, Berlin: Duncker & Humblot 1974/Band 2, S. 989 ff. 1592 Stammer (Anm. 1586), S. 87 ff. 1593 Vgl. Carl Böhret/Werner Jann/Eva Kronenwett: Innenpolitik und politi- sche Theorie, Opladen: WDV 1988, S. 234 f. 1594 Vgl. Claus Leggewie: Die Kritik der Politischen Klasse und die Bürger- gesellschaft, Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 31 (1993), S. 7 ff. 537

beschworenen ‚Zivilgesellschaft’1595 als quasi-autopoietische Organi- sationsform der Bürgerlichkeit, vielleicht mit Hilfe einer e- government? Möglicherweise, aber die Elitenfrage bleibt ebenso offen wie das Freiheitsdilemma, selbst wenn die Kommunikationswege kür- zer sind oder stärker Basis-bezogen wären. Weder ist Machtarroganz still gestellt, das Repräsentations-Dilemma gelöst oder die Masse-

Bürger-Dichotomie aufgehoben.1596 „Wirkliche Demokratie“, mahnte daher schon Paine1597, „erweist sich keineswegs nur durch ihre Form, sondern realisiert sich erst in der Art und Weise des öffentlichen Auf- tretens der Regierung.“ Sollten aber Sozialchancen, Transparenzga- rantien und/oder gar „entitlements“ (Sen) gefährdet sein, muss sich wegen der Distanzlosigkeit zivilgesellschaftlicher Strickmuster alle

Frustration zugleich als civil strife ausleben. Ohne Verfahrens-

Legitimationen und streittranszendente Einrichtungen erträgt ‚Solida- rität unter Fremden’ (Brunkhorst) als Traum der società civile jeden- falls kaum jenen Stress, unter dem die elitäre Demokratie immerhin seit zweihundert Jahren operiert, allerdings nicht immer und überall auch mit dem gleichen Erfolg. Es handelt sich nicht um jenes „ver- rückte Vertrauen in die Repräsentativregierung“, das Kropotkin1598 verblüffte; es geht um tragfähige Alternativen zum Stammer-Ansatz, der im Qualifikations-Nachweis der Führungsetagen immerhin einen

Autoregler1599 in die politische Entwicklung eingebaut wähnte.

1595 Vgl. Wolf-Dieter Bukow/Markus Ottersbach (Hrsg.): Die Zivilgesell- schaft in der Zerreißprobe, Opladen: Leske + Budrich 1999. 1596 Vgl. etwa Roland Popp: Konfliktlinien in der Zivilgesellschaft, perspek- tiven ds, 16. Jg (1999)/Heft 2, S. 13 ff. 1597 The Rights of Man (Anm. 307), S. 173. 1598 Die Französische Revolution 1789 - 1993, Leipzig: Theodor Thomas o.J. [1909], S. 172. 1599 Denn wie die Führungsgruppen beschaffen sind, darauf hätte der Durchschnittsbürger sehr wohl Einfluss, und im wohlverstandenen Eigenin- teresse und zur Abwehr der gesellschaftlichen Segregation kann die Eli- tenfrage von der Öffentlichkeit nicht ernst genug genommen werden, so Stammer (Anm. 293). Mit der Kategorie der Funktionselite sähen sich die Aufgabe zeitgemäß-demokratischer Eliten präzisiert: Politisch lebenswich- 538

Diese Sichtweise fand im Wirtschaftswunderland wenig Gehör, und die zehn Jahre später breit einsetzende Elitedebatte1600 bemühte sich im

Kontext der sozialwissenschaftlichen Professionalisierung eher um sozialstatistische Vermessungen bestehender Positionsgruppen statt um die Gründe, Chancen und Risiken jenes „Strebens nach Vorrang“, das Cicero (de officiis I 13) aller Vergesellung unterstellt hatte. Diese

Sichtverengung ließ Stammers1601 Eliteraster als Beitrag zur Demo- kratietheorie links liegen, der ganze Komplex (politische Gefährdung durch oder aus Mangel an Eliten?) schien sich trotz einiger illiberaler

Auffälligkeiten bei den befragten Gesellschaftsspitzen entdramatisiert zu haben.1602 Solchermaßen fand laut Wilhelm Hennis1603 zwar eine

Problemausblendung statt, die der methodologischen Abkehr von je- der Inhaltsdebatte etwa über Gemeinschafts- als Staatszwecke ge- schuldet war. Diese Aufgabenstellung wirkte indes bald nicht nur viel zu umfassend, sondern als wissenschaftliches Thema merkwürdig ü- berholt. Es ging nicht länger um Begründung, Ausbau oder Sicherung des Verfassungsstaates, die die Nachkriegszeit im Auge hatte, nicht zuletzt mit Blick auf heikle Erfahrungen der jüngsten Geschichte mit den ElitenD . Diese Perspektive trat mit dem Nachkriegsaufschwung in den Hintergrund, auch hier wirkte die Umverteilung entkrampfend.

tig sei, „daß die Elitebildung flüssig bleibt“: die Eliten müssten sich „je- derzeit im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit“ zur „Verantwortung beken- nen, welche sie durch ihre besonderen Funktionen faktisch übernommen haben“ (S. 21). 1600 Vgl. zu deren Konjunkturen Harald Bluhm: Eliten - Ideengeschichtliche Betrachtungen zu einem rhetorisch-politischen Begriff, in: Berliner Debate INITIAL, Zeitschrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs 11 (2000)/1, S. 66 ff. 1601 Politische Soziologie, in Gehlen/Schelsky (Hrsg.): Soziologie (Anm. 583), S. 277 ff., bes. S. 324 ff. 1602 Erst in den 1980er Jahren geriet die Elitenfrage als thema probandum wieder auf den Tisch: Diesmal als politisches etc. Risiko nicht durch Loya- litäts-, sondern Leistungsmängel der Eliten; auch das war ein Dollpunkt, auf den Stammer hingewiesen hatte, ebenso wie auf Tendenzen zur Verklüngelung und Oligarchisierung, die immer drohten. 1603 Politik als praktische Philosophie (Anm. 506). 539

Erst später und zumeist in anderen Diskussionszusammenhängen1604 tauchte das Verdrängte als politische Fragestellung nach den Grün- den für die Barbarisierung einer modernen Kulturnation wieder auf:

Recherchen über den Kulturverrat ihrer Führungskräfte wurden wieder aufgenommen, die bereits Hannah Arendt1605, Franz Borkenau1606 o- der Peter Drucker1607 in die theoretische Eliten-Diskussion einzubrin- gen oder wenigstens als Erklärungsnotstand wachzuhalten versucht hatten.

Hintergrund

Die wissenschaftliche Folie, vor der sich ein Wertbezug für demokra- tische Funktionseliten aufdrängte, war auch für Otto Stammer die

Einsicht, vor und nach 1933 hätten ElitenK nicht nur ihre Verantwor- tung missbraucht, indem sie mitliefen, gar mitmachten; von großen

Teilen der Führungszirkel sei die Entliberalisierung Weimars als Erlö- sung aus demokratischen Verirrungen sogar herbeigesehnt worden.

Solches Versagen war bereits Thema jener verbreiteten „Ein- und

Umkehrliteratur“ (1946/1948), die viele Gründe für die „deutschen Da- seinsverfehlungen“ (Ernst Niekisch) thematisiert hatte. Klassisches

Beispiel derartiger Selbstzweifel ist Friedrich Meineckes ‚Die deut- sche Katastrophe’ (Wiesbaden: Brockhaus 1946). Der Kurs in den Ab- grund sah sich auf das antidemokratische, oft geradezu widergeistige

Elite-Gebaren in den Wechselfällen der Zeit zurückgeführt. Vor dem

Hintergrund der Kollektivschuld bescheinigte die Kulturelite den

1604 Vgl. Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz, Hamburg: Junius 1992. 1605 Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt am Main: Europa Verlag 1958, S. 505 f. 1606 Franz Borkenau: The Totalitarian Enemy, London: Faber 1940. 1607 The End of Economic Man, London: Heinemann 1939. 540

HandlungselitenD , als ob sie selbst nichts damit zu schaffen gehabt hätte, keineswegs wie eine solche und damit besonnen gehandelt, sondern von Machtstaatlichkeit geschwärmt zu haben statt von Frei- heit oder Modernität. Und das sogar schon, bevor die Wähler den braunen Trommlern auf den Leim gegangen waren. Die Begleitum- stände dieses Versagens waren unerfreulich. Gleich nach dem unwil- ligen Abgang der Monarchie machte sich laut Fritz Fischer ein ‚Bünd- nis der Eliten’ (Düsseldorf: Droste 1979) breit, das alten Ordnungs- hysterien verpflichtet blieb. Trotz Formulierung einer anspruchsvollen

Konstitution wiederholte sich bald nach 1918 ein Rückzug des Bürger- tums aus der Offizialpolitik in Traumwelten wie schon einmal nach dem Verfassungskonflikt ab 1862. Nicht nur die Herkunftseliten stan- den dem Rechtsstaat (zu demokratisch!) feindlich gegenüber; auch die Linke etwa im Umkreis der Weltbühne bekundete mehr Vorbehalte

(nicht demokratisch genug!) als Interesse an Mitarbeit. Diese Unein- sichtigkeit verzeichnete schon Ernst Troeltsch1608 seit Anfang der

Weimarer Republik mit Sorge. Die offene Regierungsform könnte e- benso gut an schwachen wie an machtgierigen Führungsschichten scheitern. Ein Blick auf die Untertanengeschichte weckte Zweifel, ob

ElitenF ohne spießbürgerliche Selbstüberschätzung und Panikbereit- schaft zur Verfügung stünden, noch dazu sofort, die sich partizipati- onsrational auf den Boden der Demokratie stellen und aus ihr hervor- gegangen sein müssten.

Mit Verweis auf diese Kalamität mit bösen Folgen waren Ängste vor einer Wiederholung der Geschichte mehr als verständlich. Wie Max

Weber vertrat Stammer zudem die Ansicht, dass Demokratien höhere

Anforderungen an das politische, geistige und auch moralische Ni- veau der verantwortlichen Eliten stellten als der Obrigkeitsstaat. Für

1608 Spektator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Welt- politik 1918/1922, Tübingen: Mohr 1924. 541

deren Ausbildung im weitesten Wortsinn fehlte 1945 wie schon 1918 nicht nur alle Übung, sondern ein öffentlich anerkanntes Ethos.1609

Das Versagen der Führungsschichten vor dem und im Dritten Reich stand der Nachkriegsära warnend vor Augen, der politischen Analyse drängten sich ethische Maßstäbe (Wertelite) auf. So wie inzwischen

Vittorio Hösle mit Blick auf die sleaze wave erneut mahnen zu müssen meint, dass „gerade die Demokratie nicht auf Leistungseliten verzich- ten kann“1610. Es ging (und geht) mit Blick auf Führungsmängel nicht um Fachkritik; Verwaltung und Wirtschaft spulten (etwa) nach der

‚Machtergreifung’ reibungslos weiter, wenn auch nicht besonders ef- fektiv und unter wachsendem Radikalisierungsdruck, bis zum bitteren

Ende. Die Sorge richtet sich vielmehr gerade auf die Banalität des

Funktionierens jener Träger von Spitzenrollen, an welcher Stelle im- mer, die eben nicht elitärf im Sinne eines politischen etc. Elativs wirk(t)en, wie es die nachaufklärerische Elitenlehre als a) Resultat eines Ausleseprozesses sowie b) zur Legitimation von Zuständigkeit hoffnungsvoll unterstellt hatte. Sieht sich dieser Bewertungsrahmen jedoch in den Hintergrund gedrängt, werden all die Chefs, Bosse, Ap- paratschiks, Befehlshaber, Experten, Akademiker, Vorgesetze, Ge- setzgeber, Anführer etc. umstandslos mit ‚Elite’ gleichgesetzt, wie es nicht zuletzt empirische Vermessungen beziehungsweise ein achtloser

Journalismus1611 gleichermaßen suggerieren. Dann sind die oberen

Ränge wie eh und je für Überraschungen gut, nicht zuletzt als gesell- schaftlicher Risikofaktor. Was wird dabei aber aus den in apogogi-

1609 Dass die Geschichte nach der Stunde Null positiver verlief, hat viele Gründe, zu denen nicht zuletzt die Debellatio mit anschließender Besat- zung samt Teilung zählte; zudem das Wirtschaftswunder, die Einrichtung einer ‚wehrhaften Demokratie’ in Bonn und die mit der Westöffnung ver- bundene Kosmopolitisierung der nachwachsenden ElitenD in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, die inzwischen einer Ortsflucht gleicht. 1610 Moral und Politik, München: Beck 1997 S. 1136. 1611 Frei nach: „Die geistige Elite Russlands ruft nach der harten Hand“, Michael Thumann: Wie der Stahl gehärtet wird, Die Zeit vom 2. 12. 1999, S. 11. 542

scher Intention gewonnenen Anforderungsprofilen zukünftiger ElitenF ?

Sind sie gegenstandslos geworden?

***

Insert 8: Alternativeliten oder der Blick hinter die Kulissen als Aufklärung über Mängel herrschender ElitenD – ein histo- risches Fallbeispiel

„Zweimenschensystem"1612

Kriterien der Auslese und damit der Lagerung im sozial-mentalen Raum gibt außer in Ausnahmesituationen meist die Spitze der Gesell- schaft vor, sie werden durch das „Bindungsstreben“ (Popitz) von un- ten verfestigt. Insofern herrscht die Oberschicht nicht unbedingt di- rekt, sie bestimmt nicht nur laut Bourdieu durch ihre Zugehörigkeits-, Anstands-, Geschmacks- oder Geltungsmuster gleichwohl das Aspira- tionsniveau der Eliten am Ruder. Sogar die Kriterien der Gegeneliten liefert sie, die zur Artikulation der Ansprüche ihrer Klientel am ge- samtgesellschaftlichen Diskurs teilnehmen müssen, daher zwar Fehl- funktionen anprangern, aber eher selten auch strukturelle Funktions- fehler ins Auge fassen können. Überdies durchlaufen die Elite- Konkurrenten zum Kenntniserwerb ihrerseits die bereitgestellten Bil- dungsinstitutionen, noch als Autodidakten müssen sie auf bereitlie- gendes Wissensmaterial ebenso zurückgreifen wie auf topologische Strukturen der Zugehörigkeit. Der Gedanke eines wirklichen Bruches wirkte immer illusionär, wiewohl die Revolution von 1917 mit der poli- tischen Pflege einer „Weltbürgerkriegsfigur“ (Kesting) diesem Ansin- nen sehr nahe kam: Bis das resultierende Regime der Kommissars- Eliten wieder an Altes anschloss. Das zum einen. Zum anderen ent-

1612 Theodor Fontane: Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13, München: Artemis & Winkler 1980, S. 116. 543

sprechen die Elite-Delegationsmodelle der neuzeitlichen Führungsleh- re fälschlicherweise einem Vertrags- oder Austauschgedanken. Denn wenn die Positionierungsregeln der Vertragsnahme mitsamt der Rol- lenzuteilung selbst schon der iustitia directiva oberschichtiger Wert- muster entstammen, verdoppeln sie oben wie unten nur das Verhal- tenskapital (Benimm, Geschmack etc.), worauf Michel Foucault auf- merksam machte. Nach oben weist, was oben hin passt, selbst Revo- lutionen bewirken einen Schicht- und Stimmungswandel, keinen Mat- rixwechsel, weswegen der soziologische Blick eher mit kühler Distanz auf ‚Transformationen‘ schauen kann, wie Joseph Schumpeter („nettes Laboratorium“) bereits 1917 den aufgewühlten Max Weber mit Blick auf die Umwälzungen in Russland („unerhörtes menschliches Elend“) belehrte. Sie stellen so oder so ein Neuarrangement des Eingespiel- ten dar, selbst wenn den Zeitgenossen der Unterschied zum Abgehalf- terten riesig vorkommen mag.1613 Irritationen der Eliten über putative Gefahren, die von Ankündigungen konkurrierender Führungskader be- ziehungsweise durch die ‚Vertretenen’ selbst drohen, beziehen sich mithin auf generative Vorteilsstrukturen, die durch neue Verteilungs- oder Leistungsansprüche bedroht sein mögen, keineswegs aber auf Risiken für die Kontinuität des Gleichen selbst. Diese Latenz stellt nicht nur die in das Elitethema eingebundene Verfolgungsgeschichte (Pareto: Trattato, § 2477 ff.) in Frage; sie rechtfertigt im Rückblick auch Versuche, etwa unter Vergleichsgesichtspunkten feststellbare Modernisierungsblockaden vor Ort durch Kritik und/oder Dissenz auf- heben zu wollen, um Gefahren für die von den Eliten repräsentierten oder okkupierten Sozialitäten und ihre Umwelt abzuwehren.

1613 Eine Debellatio war etwas anderes, weil nach einer Niederlage von außen Oben-muster implementiert werden können, die tatsächlich abwei- chend ausfallen. 544

Rückständigkeit

Er zählte zur intellektuellen Elite Deutschlands, spätestens seit dem Vormärz, aber welcher Gebildete verbindet etwas mit seinem Namen? Karl August Varnhagen von Ense, Jahrgang 1785, teilt das Geschick, gründlich vergessen zu sein, mit unzähligen Köpfen der hiesigen Geistesgeschichte. Die Untergänge, Teilungen und Überlagerungen der politischen Entwicklung, die das 20. Jahrhundert skandierten, wirkten wie mehrfache Neuanfänge.1614 Bei Varnhagen erschweren zusätzliche Eintrübungen die Erinnerung an ihn, obwohl er in seiner Epoche omnipräsent war. Werner Greiling1615 hat jenen „Charakter- mord“ (Enzensberger) nachgezeichnet, den bereits die Mitwelt im 19. Jahrhundert an dem 1858 in Berlin verstorbenen Diplomaten und Schriftsteller verübte. Es ist eine bekannte Regel der Ideengeschich- te, dass sich selten der Nachwelt überliefert, was nicht zu Lebzeiten breiteste Aufmerksamkeit fand; aber sie schützt keineswegs vor Film- rissen. Varnhagen war trotz einiger Verdächtigungen als „Ideolo- ge“1616 ein angesehenes Mitglied der preußisch-deutschen Ober- schicht, jedenfalls solange seine privaten Aufzeichnungen nicht vor- lagen. Diese ‚Tagebücher’1617 geben unersetzliche Aufschlüsse über die Verhältnisse nach 1834. Sie illustrieren jenen Fehlweg in die Iso- lation, die einer insgesamt illiberalen und antimodernistischen Hal-

1614 Am Ende stand ein merkwürdiger, kulturhistorisch in diesem Um- fang/dieser Dauer einmaliger Kontinuitätsabbruch. Zudem stellte das Aus- maß der moralischen Entgleisungen in den Braunjahren jede kulturelle Selbstgewissheit in Frage. Jene Wechselwirkung, die in glücklicheren Kul- turkreisen zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu bestehen pflegt, sah sich fast unterbunden. 1615 Varnhagen von Ense. Lebensweg eines Liberalen, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1993. 1616 So Metternich am 30. 11. 1835, zit. Hans-Joachim Schoeps (Hrsg.): Neue Quellen zur Geschichte Preußens im 19. Jahrhundert, Berlin: Spener 1968, S. 194. 1617 14 Bände. + 1 Registerband (1905), Leipzig: Brockhaus 1861 - 1870, Nachdruck: Bern: Lang 1972. 545

tung der hiesigen Eliten zuzuschreiben war. Als erste Auszüge aus den Notizen dieses deutschen Saint-Beuve vorlagen, riefen sie einen Skandal hervor. In tonangebenden Kreisen brach eine „Verleum- dungskampagne“ (Greiling) los, die von der Kreuzzeitung mit der Be- merkung eröffnet wurde, hier spiele sich ein „Tintenkleckser“ als Re- volutionär1618 auf. Rudolf Haym wetterte in den Preußischen Jahrbü- chern (Jahrgang 11 [1863], S. 445 ff.) gegen den „höhnenden, gei- fernden, renommierenden Politicus“. Und Heinrich von Treitschke1619, Oberhofhistoriograph jener Tage, sprach vom unappetitlichen Schmutzfinken. Vom Anwurf der „Wichtigtuerei“ (Walzel) sollte sich sein Image in der Öffentlichkeit nicht mehr erholen, das GegenelitäreF sah sich mit übler Nachrede und via Förderung der öffentlichen Indig- nation durch die elitärenk Schichten bekämpft, auch das hat Pareto (vgl. § 618) als probates Herrschaftsmittel beschrieben. Es hat Einsprüche gegeben, vor allem die Weimarer Republik suchte Vorläufer für ihre demokratische Kultur, so zeichnete nicht nur Carl Misch1620 ein faireres Bild. Damit sah sich aber weder eine Varnha- gen-Renaissance eingeleitet, noch konnte dieser Moralist als Vertre- ter elitärerf Alternativen zu den herrschenden Logenplätzen ins Be- wusstsein zurückgerufen werden. Er blieb auch in den 1920er Jahren nur einer belesenen Minderheit zugänglich, wenngleich das wissen- schaftliche Interesse an Varnhagen wuchs. Nun zeigten sich andere Probleme im Umgang mit diesem Pechvogel der Kulturgeschichte. Es ging nicht mehr um jene zweite Ablehnungswelle, die er erleben musste, nachdem ihm vorgeworfen worden war, mit dem Ansehen sei- ner Ehefrau Rahel nicht angemessen umgesprungen zu sein. Varnha- gen wurde vielmehr der Beckmesserei unterzogen, politisch nicht ko-

1618 Varnhagen und seine ‘Pulverkammer’, Neue Preußische Zeitung, Bei- lage zu Nr. 275 vom 24. 11. 1861. 1619 Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Teil 1, Leipzig: Hirzel 1879, S. 158, 642, 655 ff. 1620 Varnhagen von Ense in Beruf und Politik, Gotha: Perthes 1925. 546

scher gewesen zu sein.1621 Als ‚freischwebender Intellektueller’ saß der Zeitzeuge zwischen allen Stühlen. Außerdem bewegte er sich in einem Umfeld ohne allgemeinen Diskurs, dem eine gesellschaftliche Kraft fehlte, um die öffentlichen Dinge zu wenden, nachdem sich das Bürgertum bald nach der gescheiterten Revolution von 1848 mehr o- der weniger zerknirscht mit seiner politischen Nachrangigkeit gegen- über einer nochfeudalen Obrigkeit abgefunden hatte.

1621 Der ‘Ossi’ Greiling führte im Jahr IV der Wiedervereinigung die Strei- tereien in der DDR um Varnhagen fort. Vor allem geht es gegen Dieter Bähtz (Der ‘rothe’ Varnhagen. Tagebücher als politische Zeitchronik, in Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle, Jahrgang 27 (1978)/Heft 2, S. 79 ff.), der es gewagt hatte, von einem Linken zu sprechen. Während Marx (MEW 30, S. 623) den Chronisten „flach, fad und kleinlich“ fand, gab es im Kontext der SED-Bemühungen um das passende Kulturerbe immerhin Auseinandersetzungen um Varnhagen. War er nun o- der war er nicht ein bürgerlicher Vorläufer, der den Ahnenstolz des STASI- Land vermehrt hätte? Darum ging es, wenn es heißt (S. 10), „die Beschäf- tigung mit Varnhagen (sei) keineswegs unproblematisch“. Ganz im Sinne früher im Osten üblicher Kriterien scheint Greiling nur zu interessieren, ob und wenn ja, wann und wie weitgehend Varnhagen „die Gewalt der Massen“ (S. 250) beziehungsweise „die Kraft des Volkes“ (S. 270) als „vorwärtswei- sende Traditionslinie“ (S. 137) anerkannt habe. Schade für Varnhagen, daß Greilings Mühen zu dem Ergebnis führen, er habe keineswegs „an der Schwelle des Marxismus“ (S. 254) gestanden, wie es DDR-Rivalen behaup- tet hätten. Zeigte er doch eine „Organisationsabstinenz“ (S. 268), pflegte keine „an die Basis des gesellschaftlichen Systems vorstoßende Analyse“ (S. 149), und überhaupt gab er als „Salonlöwe“ (S. 274) seine „Beobacht- erhaltung“ (S. 123) nie auf. 547

Neuanfang

Die Fahrt mit der Kutsche dauert acht Tage und führt über Heidel- berg, Fulda, Gotha und Weimar weiter nach Norden. Es herrscht kla- res Herbstwetter, als das Ehepaar Rahel und Karl August Varnhagen von Ense am 1. Oktober 1819 Karlsruhe und das Rheinland verlässt, um nach Berlin zurück zu kehren. „Ich kann nicht ausdrücken, wie sehr wir auf dieser Reise guten Mutes und vergnügt waren“, kommen- tiert Varnhagen1622 den gemeinsamen Aufbruch an diesem Donnerstag ins heimatliche und doch so ferne Preußen. „Zwar wußten wir nur all- zu gut, in welchen düstern Kreis von Armseligkeiten, Vorurteilen, Här- ten und Ränken wir fallen würden“. Im Moment fordert die Gegenwart ihr Recht, denn die Landschaften, durch sie kommen, „lachen uns wie zum Wiedersehen an“. Die Überlandtour gestaltet sich abwechslungs- reich, überall treffen die Enses alte Freunde oder knüpfen, nicht nur in Frankfurt am Main, neue Bekanntschaften an, von denen der eifrige Chronist seiner Epoche nicht genug bekommen konnte. Diesmal ist es der Schriftsteller Ludwig Börne, Jahrgang 1786, der zum Mittagessen in ihren Gasthof kommt. Bald ist man sich „ohne Rückhalt“ über die trüben Zeitläufte einig. Alles, was Börne sagt, findet Varnhagen „geistvoll, scharf, treffend, witzig“. Man träumt bei dieser Gelegenheit von einer politischen Zeitschrift nach Art des Pariser Minerve françai- se, die man herausgeben will. Daraus wird nichts, wie Varnhagen gleichfalls berichtet. Schon wenige Tage zuvor, am 20. September 1819, war im Rahmen der Karlsbader Beschlüsse das ‘Bundes- Preßgesetz’ mit seinen Maulkorbbestimmungen ergangen1623, ohne

1622 Karl August Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten des eignen Le- bens (1837), Hrsg. Konrad Feilchenfeld, 3 Bde., Frankfurt am Main: Insel 1987, Band 3, S. 549 f., erschienen im Rahmen einer für die ‚Bibliothek Deutscher Klassiker’ zusammengestellten Auswahlausgabe (Frankfurt am Main: Insel 1987/1994) seiner Werke in fünf Bänden. 1623 Vgl. E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsge- schichte, Band 1 (Anm. 1256), S. 102 f. 548

dass man beim eifrigen Pläneschmieden zu Tisch von dieser weiteren Verschlechterung des politischen Klimas im Lande etwas ahnt.1624 Ein ausführlicher Bericht dieser Bildungsfahrt quer durch deutsche Lande findet sich im 39. Abschnitt der ‚Denkwürdigkeiten des eignen Lebens’, die Ense erst später, ab 1837, veröffentlichte. Es ist zugleich die Schilderung einer Seelenreise, man verließ den liberalen Süden, wo der Artikel 13 der ‘Bundesakte’ vom 8. Juni 18151625 als Teil des Wiener Friedens erfüllt worden war. Er gewährte der Bevöl- kerung einige Mitspracherechte. Nicht so in Preußen, dort hatte die „Adelsreaktion“ (Varnhagen) nach Vertreibung der Franzosen zu ei- nem erneuten gesellschaftlichen Platzverweis der Bürger geführt, die breite Masse sollte von der Macht ferngehalten werden, „überall nur Hemmungen“, kommentiert Varnhagen 18391626. Das war trotz der ‚Befreiungskriege’ und der in ihrem Namen gegebenen, durch Berlin nicht eingehaltenen Beteiligungsversprechen von Kalisch (5. März 1813) die an der Spree nach 1815 vorherrschende Haltung der oberen Kreise1627, die sich als maßgebende ElitenD aufspielten. Und solche Arroganz sollte, infolge erst der Niederlage der Märzrevolution 1848 und dann der politisch-administrativen Verpreußung Deutschlands nach der Reichseinigung von 1871 fortwirken bis 1918 mit der militä- rischen Niederlage der alten Verhältnisse. Diese konnten sich dann mangels Durchsetzungskraft der linken Gruppierungen in Staat und Gesellschaft bald wieder einrichten, die dringliche Durchmodernisie- rung der Machtstrukturen wurde erneut verhindert. Ohne solche Lang-

1624 Vgl. (Anm. 1622), Band 3, S. 551. 1625 „In allen Bundesstaaten wird eine Landständische Verfassung statt finden“, vgl. Huber (Anm. 1256), S. 84 ff., hier S. 88. 1626 Tagebücher (Anm. 1617), Band 1, S. 117. 1627 Ein Dauerthema der ‚Tagebücher’; laut ‘Gedanken und Erinnerungen’ (1. Band, Stuttgart: Cotta 1898, S. 17 f.) mokierte sich Otto von Bismarck in einer zynischen Rede am 17. Mai 1847 im Ersten Vereinigten Landtag über die Befreiungsstreiter aus Verfassungsgründen, denen „die Fremd- herrschaft an sich kein genügender Grund zum Kampfe gewesen sein sol- le“. 549

zeiteffekte zu ahnen, beschrieb Varnhagen die problematischen Rückwirkungen der aristokratischen Verletzung von Volksrechten auf den Zeitgeist.1628 Er hatte selbst unter dem Duckmäusertum als Staatsräson zu leiden. Die Reise des Paares nach Norddeutschland wurde 1819 nicht freiwillig unternommen. Man hatte Varnhagen von seinem Posten als preußischer Legationsrat in Baden abberufen. Sei- ne freisinnigen Ansichten etwa zu süddeutschen Verfassungsfragen waren dem Berliner Hof ein Dorn im Auge. Die Reise beendete die öf- fentliche Wirksamkeit, die Varnhagen drei Jahre lang im diplomati- schen Dienst entfalten konnte, nachdem er schon zuvor als Fürspre- cher der deutschen Sache1629 im Dienst des Staatskanzlers Karl Au- gust Fürst von Hardenberg tätig gewesen war. Mit dieser Abfahrt bre- chen zudem seine ‚Denkwürdigkeiten’ ab, obschon sich weitere Kapi- tel anschließen, unter anderem ein Reisebericht aus dem Jahr 1834, der nicht nur ein Treffen mit Franz Grillparzer schildert; er enthält zudem aufschlussreiche Gespräche mit Metternich, damals „Kutscher Europas“, der sich mit den Worten „Ich stehe im Grunde sehr allein“ bei Varnhagen1630 über wachsende Schwierigkeiten beschwert, „die Erhaltung des gesetzmäßig Bestehenden“ zu gewährleisten. Im Sommer 1819 bietet man nicht zuletzt auf Drängen von Metternich dem abgehalfterten Diplomaten einen Posten in den USA an, ein fer- nes Quasi-Exil, das der Zeitzeuge ausschlägt. Stattdessen gelingt ihm in Berlin eine publizistische Karriere1631, seine Arbeiten versuchen, ihrer durch die Fabrikepoche alarmierten Gegenwart die Stetigkeit der

1628 Vgl. etwa Tagebücher (Anm. 1617), Band 3, S. 3, 19, 30, 41, 180, 216. 1629 Durchaus nicht im Sinne der „aufgereizten Deutschheit“ eines Fichte (Denkwürdigkeiten (Anm. 1622), Band 1, S. 519), eher schon im Namen eines „idealen Deutschtum, in welchem sich die besondern und örtlichen Interessen verlören“ (a.a.O., Band 2, S. 34). 1630 Denkwürdigkeiten (Anm. 1622), Band 3, S. 728. 1631 Er veröffentlicht vielgelesene Schriften (Biographische Denkmale in 5 Bänden, Berlin 1824/1830) über die jüngeren Zeitereignisse, über Goethe oder aufschlussreiche Überlegungen ‚Zur Geschichtsschreibung und Litera- tur’, Hamburg: Perthes 1833. 550

Lebenswelt im Wandel der Zeitläufte nahezubringen. In einem nach wie vor lesenswerten ‚Entwurf einer Theorie der Geschichte’ (Anm. 500) hat Wilhelm Wachsmuth erläutert, wieso sich „die Thatsachen mit dem Gepräge des Individuellen anschaulich machen“ lassen (S. 4). Dieser zeitdiagnostischen, zuweilen didaktischen Methode haben sich Varnhagens ‚Denkwürdigkeiten’ bedient, die zu den bedeutends- ten Memoirenwerken deutscher Zunge gehören. Der Autor war zudem ein ebenso gut informierter wie scharfblickender Kritiker des zeitge- nössischen Establishments in Politik und Gesellschaft. Das trat erst richtig ins allgemeine Bewusstsein, nachdem seine Aufzeichnungen, die von ihm seit 1835 über einen Zeitraum von 23 Jahren geführt wor- den sind, in den nach und nach auf 14 Bände anschwellenden ‚Tage- büchern’ vorlagen.1632 Sie stellen ein einzigartiges Zeugnis jener Jahre dar, und sie verdienten eine ungereinigte Neuauflage, empfiehlt es sich doch zum Verständnis für den hiesigen Fehlweg in die hinaus- gezögerte Politikmoderne noch immer, Varnhagen zu lesen, weil er gleichermaßen Kontakt und Distanz zur Herrschaftsschicht samt ihren Verstiegenheiten hielt.

Hatte der ‚Brockhaus’ 1855 von einem „der ersten ... deutschen Pro- saiker“ geschrieben1633, so hintertrieb die auf genauer Kenntnis der

1632 Die ‚Tagebücher’ Varnhagens riefen wegen ihrer Deutlichkeit einiges Aufsehen hervor. Die Herausgeberin hatte im Preußen der Bismarckzeit große Schwierigkeiten. Seine Nichte und Nachlaßverwalterin, Ludmilla As- sing, gestorben 1880, wurde wegen Majestäts- und Beamtenbeleidigung, Schmähungen von Behörden, Aufforderung zum Ungehorsam und Gefähr- dung des öffentlichen Friedens angeklagt und zweimal in Abwesenheit zu Gefängnisstrafen verurteilt, mit Steckbrief vom 26. Mai 1861 gesucht, ob- wohl sie in Erwartung des Ärgers ganze Abschnitte aus dem Original fort- gelassen hatte, zudem waren die Namen anonymisiert. Sie selbst wich vor dem Zugriff der Behörden nach Italien aus, mitsamt der ‘Sammlung Varn- hagen’. Spätere Bände der ‘Tagebücher’ erschienen in Zürich, dann in Hamburg, nachdem die Schriften in Preußen beschlagnahmt waren. Vgl. zur ebenso komplizierten wie wechselvollen ‘Rezeption’ Nikolaus Gatterer: ‘Gift, geradezu Gift für das unwissende Publikum’. Der diaristische Nach- laß von K. A. V. von Ense, Bielefeld: Athesis 1996. 1633 In seiner 10. Auflage, Band 15, Leipzig, S. 404; positiv („einer der be- deutendsten neuern deutschen Prosaiker und Stilisten“) auch noch die 13. Auflage, Leipzig 1895, Band 16., S. 121. 551

Machtwelt und ihrer Milieus beruhende, unnachsichtige Schelte der

Eliten, die der Chronist in seinen ebenso detailreichen wie klugen No- tizen zum Tagesgeschehen ausführte, in den Folgejahren seinen

Nachruhm als Wächter intellektueller Redlichkeit. Er galt dem wilhel- minischen Großmannsdeutschtum nur mehr als Netzbeschmutzer1634, nicht als der ebenso aufmerksame wie kritische Berichterstatter, den der Rückblick (an)erkennt. Es bleibt immer etwas hängen, und so liest man im ‚Brockhaus’ aus dem Jahr 1957 über Varnhagen als Beobach- ter von „Bosheit und Klatschsucht“.1635 Tatsächlich steht Varnhagen für eine authentische Lebenshaltung, die die Stil-Umrisse einer abge- blockten Alternativelite zeichnet. So wie ihm pflegte es hiesigen Frei- geistern gemeinhin zu ergehen. Wer zwischen den Fronten für Ver- ständnis und Toleranz wirbt, die Dinge zudem distanzierter sieht als die Menge der Meinungsführer, wird leicht ausgeschlossen.1636 Für die nichtkonservativen Köpfe jener Zeit allerdings war der in den Wor-

1634 Gutzkow (Rückblicke auf mein Leben [1875], in: Gutzkows Werke, Band 4, Hrsg. Peter Müller, Leipzig/Wien: Bibliographisches Institut o.J., S. 171) schreibt jetzt vom „unruhigen Wühler Varnhagen“. 1635 In der 16. Auflage, Band 12, Wiesbaden, S. 55. 1636„Ich lese Varnhagens ‘Tagebücher’. Bisher hielt ich die Schlange für die gefährlichste Bestie, jetzt sehe ich aber, daß ein Kammerdiener, der sich sein lebelang vergebens um eine Stelle bemüht, sie an Bosheit und Giftigkeit bei weitem übertrifft“. Diesen Lektüreeindruck vertraute Friedrich Hebbel am 15. Oktober 1862 seinem Tagebuch [(Anm. 296), Band 2, S. 302] an. Es fällt schwer, solche Ablehnung zu verstehen, war der Dramati- ker nicht nur mit Varnhagen bekannt, er schätzte dessen Texte. Seine Be- merkung stellt ohne Zweifel ein Fehlurteil dar. Sie wurde hinfort immer zi- tiert, wenn es galt, Varnhagen etwas am Zeug zu flicken, bis hin zum Vor- wurf des „Un-Deutschtums“ (Nadler). Doch die unsentimentale Art, mit der Varnhagen seine Umwelt sieht, war seiner Zeit fremd. Wer wie Varnhagen das kulturelle Niveau der zeitgenössischen Eliten tadelte und für das ver- pönte Erbe des deutschen ‘Jakobinismus’ gute Worte fand, der konnte im Wilhelminismus schwerlich mit Respekt rechnen. Für Hebbels Verunglimp- fung war Varnhagen plötzlich Außenseiter, ein „Schwamm, der jedes Schmutzbächlein aufsog“ (Treitschke). Solche Herabwürdigung wurde bald für Zwecke herangezogen, die sich gegen den liberalen Humanisten richte- ten, als der Varnhagen dem aufgeschlossenen Leser entgegentritt. Die ‘Tagebücher’ sind nicht nur ein packendes, sondern ein politisch weitsich- tiges und empfindsames Dokument deutscher Geistesgeschichte. 552

ten von Karl Gutzkow1637 „geistreiche, feingebildete“ Autor, dessen stilistische Kraft und realistische Weltsicht von Goethe gerühmt wur- de, eher vorbildhaft in seiner Absicht, Personen der Epoche im natio- nal-kulturellen Zusammenhang zu deuten.

Was wunder, dass Varnhagen bekannt oder befreundet war mit allem, was politisch und literarisch Rang und Namen hatte.1638 Wobei er, der verhinderte Dichter, nicht eben selten jungen und ausländischen Au- toren den Weg ebnen half1639, so weit Hilfestellung nötig war. Etwa

1637 Historische Taschenbücher, Phönix. Frühlings-Zeitung für Deutsch- land, Nr. 306 (1835), S. 1221 ff., hier S. 1223. 1638 Der in Düsseldorf geborene Arztsohn studierte in Berlin, Halle und Tü- bingen Medizin und - unter anderem bei Fichte - Philosophie. In den Wirren der Epoche kämpfte er auf österreichischer Seite gegen Frankreich, wurde nach der Schlacht bei Aspern zum Offizier befördert und bei Wagram ver- wundet, 1810 begleitete er den Prinzen Bentheim nach Paris an den Hof . Als Wien im Frieden von Schönbrunn aus der Koalition gegen den Korsen ausschied, wechselte Varnhagen als Hauptmann in russische Dienste und zog mit dem - aus Baden stammenden - späteren General Tet- tenborn durch Norddeutschland. Anschließend nahm er für Preußen an den ‘Freiheitskriegen’ teil. 1814 begleitete er den Staatskanzler Hardenberg zum ‘Wiener Kongreß’ und wurde nach Kriegsende für seine Meriten von Berlin mit einer ‘Ministerresidentur’ in Karlsruhe belohnt. Auf Pension ge- setzt, ließ sich Varnhagen 1819 in Berlin nieder. Mit seiner Frau Rahel er- öffnete er an der Ecke Französische- und Friedrichstraße einen literari- schen Salon, der zu einem prominenten Ort des zeitgenössischen Gedan- kenaustauschs wurde. Varnhagen traf dort die geistigen und politischen Größen seiner Epoche und kannte bald alle Welt, zudem verfügte er über die journalistische Fähigkeit, rasch zu formulieren, viele seiner Texte glei- chen Reportagen. Aber Varnhagen war ein durchaus ein origineller Autor, der seine Schriften wie impressionistische Gemälde arrangierte. Die Chro- nologie wird nachrangig, vielmehr setzt der Autor Schnitte, wählt verschie- dene Perspektiven, legt unterschiedliche Materialien vor. Seine Ausführun- gen huldigen keiner Apodiktik der „ganzen Wahrheit“, sie bieten stets Deu- tungen, die den Leser zum Selber- und Weiterdenken anregen sollen. Das Angebot füllt Regale, Varnhagen war ein Vielschreiber. Seiner Feder ent- stammen Gedichte, Romane, Biographien, Übersetzungen, Literaturkriti- ken, Erinnerungen lösen einander ab, er war in allen Gattungen der Litera- tur zu Hause. Präsent geblieben ist davon leider nichts. Der Nachruhm blieb Varnhagen gram, selbst der sonst so faire ‘Literarische Führer durch Deutschland’ von Fred und Gabriele Oberhauser (Frankfurt am Main: Insel Verlag 1983, S. 233) klassifiziert ihn: „Vor allem war er der Gatte der Ra- hel Varnhagen“. Mit ihr gemeinsam, um deren Gedenken er sich bemühte, liegt er auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde in Kreuzberg begra- ben. 1639 Zudem war er um die Rezeption der osteuropäischen Literatur bemüht, man denke einzig an die Aufnahme russischer Schriftsteller durch Varnha- 553

Heinrich Heine1640 fand durch ihn Unterstützung, der Varnhagen zu

Anfang der 1840er Jahre das letzte Kapitel seines Versepos‘ ‚Atta

Troll’ widmete, das in aufklärerischer Absicht und mit spätromanti- scher Ironie allerlei bildungsbürgerliche Illusionen über die politische

Lage in seiner Heimat aufspießte.

Erinnerungspflege

Wo ein „lebhaftes, vielfach gebildetes Volk schon im Besitz einiger Freiheit ist und nach mehrerer ringt“, so umschrieb Varnhagen 1844 sein kulturpädagogisches Programm1641, „aber gleichwohl den Druck noch trägt, wo das Bedürfnis empfunden wird, anstatt befohlener Scheinbilder und vorgeschriebener Zeugnisse die lebendige Wahrheit festzuhalten“, dort eröffnet sich das reiche Feld der Memoiren. Denn um Geschichte schreiben zu können, „ist Übersicht des Ganzen“ nö- tig. Durchblick war in einer Phase der Reaktion, die das geistige Le- ben bis zum Ende des 2. Kaiserreiches einer strikten Kontrolle unter- warf1642, und unter den Verhältnissen einer unfertigen Nationalver- fassung schwerlich möglich. Die 2273 Textseiten seiner ‚Denkwürdig- keiten’ begleiten daher autobiographisch die ereignisreichen Jahre vom Tode Friedrichs des Großen bis zum - jedenfalls freiheitsrational

gen, vgl. Josef Pfitzner: Bakunin-Studien (1932), Berlin: Kramer 1977, S. 13 ff. 1640 Durch Ferdinand von Lassalle ließ Heine einen am 3. 1. 1846 verfass- ten Brief (Heines Briefe in einem Band, Berlin/Weimar: Aufbau ²1978, S. 282 f.) an Varnhagen überbringen: „Sie sind immer mein wahlverwandter Waffenbruder gewesen, in Spiel und Ernst; Sie haben gleich mir die alte Zeit begraben helfen und bey der neuen Hebammendienst geleistet“ (S. 283). 1641 Zit. Joachim Kühn, Einleitung zu den ‚Denkwürdigkeiten’, Teil 1, Ber- lin: Wegweiser Verlag 1922, S. V. 1642 Zur Knebelung des Geistes in Deutschland vgl. H. H. Houben: Hier Zensur - wer dort? (1918)/Der gefesselte Biedermeier (1924), Leipzig: Reclam 1990; vgl. auch Hans Doderer: Die Jagd auf das freie Wort, Die Zeit vom 15. 1. 1993, S. 74. 554

- misslungenen Ausklang der Befreiungskriege samt politischen Be- benfolgen. In einer Zeit des Übergangs wollen sie der Nachwelt das Erbe des Klassizismus möglichst unverfälscht übermitteln. Da die uni- versitäre Geschichtsschreibung der offiziösen Sicht der Dinge nach dem Munde redete, versuchten die ‚Denkwürdigkeiten’ die Ereignisse der jüngeren und jüngsten Vergangenheit gegen den Strich zu bürs- ten, indem sie hinter die elitäre Kulissenschieberei schauten. Dabei ist das Urteil um Abgewogenheit bemüht, in seinen Briefen jener Jah- re nahm Varnhagen viel weniger Rücksichten. Die Optik der Tagespolitik ist seine Sache nicht. Varnhagens Schilde- rung hat eine Weitwinkel-Einstellung, im Gegensatz zum oft eher trü- ben Zustandslob der zeitgenössischen Publizistik. Etwa mit Blick auf die nationalstaatlichen Bedürfnisse der Epoche, das Mitsprachever- langen des Bürgertums oder die Ansprüche seiner Mitwelt auf freien Austausch der Gedanken bezeichnet er das nachnapoleonische Neu- arrangement des Alten als den Wiederbelebungsversuch an einer Lei- che mit Namen ‚Legitimismus’ samt „der Stockherrschaft und Behör- denmacht“ (Varnhagen). Daraus konnte nichts Gedeihliches werden. Die vom ‚Wiener Frieden’ mit Zwang verlegte Entwicklung hin zur libe- ral-nationalen Selbstbestimmung verstand Varnhagen in Kenntnis der von ihm schaudernd verzeichneten Tendenzen zu einer trotzigen, zu- nehmend fremdenfeindlich und antisemitischen „Deutschtümelei“ als Danaergeschenk an die Stabilität des Alten Erdteils. „Die Krisen“, no- tiert er1643, „welche damals mit geringer Anstrengung glücklich zu wenden waren, wurden späterer Zeit aufbewahrt, wo sie den Staat un- heilvoll verwirrten und zuletzt ganz in seinen Nachteil umschlugen.“ Er folgerte daraus, dass Missgeschicke, welche die Nationen treffen, fast immer „als Folge von Versäumnissen zu erkennen (sind), welche der Leichtsinn, die Schwäche oder die Gewissenlosigkeit früher ver-

1643 Zit. Ralph-Rainer Wuthenow: Verkannt, verleumdet und vergessen, Frankfurter Rundschau vom 7. 10. 1989, S. ZB 3. 555

schuldet hat“. In seinen Tagen schürte die politische Kurzsichtigkeit der „Obersamkeit“ (Varnhagen) einen tiefen Unmut in fast allen Schichten der Bevölkerung. Diese Seelenlage ließ keine innere Ge- lassenheit aufkommen und verhieß für die politische Zukunft und das gesellschaftliche Milieu schwerlich Gutes.

Verdienst

Varnhagen widmet unter dem Titel ‚Rahel 1833’ einen Abschnitt der ‚Denkwürdigkeiten’ seiner Frau, die am 7. März des gleichen Jahres gestorben war. Hier wie vor allem in den drei Bänden seines Werkes ‘Rahel, ein Buch des Andenkens für ihre Freunde’ (3 Teile, Berlin 1834) bemüht der Zeitchronist sich feinfühlig um diese bedeutende Zeitgenossin, deren im übrigen nur in einem ausgedehnten Briefwerk dokumentierte Wirkung, nicht zuletzt als großer „Menschenmagnet“, der Nachwelt ansonsten verloren gegangen wäre. Er stiftet damit eine wahre Rahelmode, die seinem eigenen Nachruhm keineswegs förder- lich gewesen ist. „Oft wenn wir ... munter plaudernd mit der Arbeit saßen, meldete der Diener Herrn und Frau Varnhagen“, hat die Schauspielerin Therese Devrient1644 überliefert. „Dann tat sich die Tür auf, und ... Varnhagen trat groß und vornehm herein, die kleine, breite, mühsam gehende Rahel feierlich am Arm führend. (...) Herr von Varnhagen ließ seine Gattin, die auf dem Wege dahin freundlich grüßte, in den Sessel nieder, nahm dem Diener die Kissen ab, schob eines unter ihre Füsse und legte das andere hinter ihren Rücken. Ein liebevoller Blick von ihr lohnte seine Bemühung. Dann trat der vereh- rerische Gatte hinter ihren Stuhl und zog leise sein Taschenbuch her- vor, um jede ihrer Reden gleich niederzuschreiben“. Unverhohlene

1644 Zit. Herbert Scurla: Begegnungen mit Rahel. Der Salon der Rahel Le- vin, Ostberlin: Nation 1962, S. 440. 556

Belustigung schwingt in diesen Zeilen mit, und tatsächlich ging man- chem Beobachter die Fürsorge zu weit, die Varnhagen mit seiner Frau Rahel, geb. Levin trieb, einer Leitfigur ihrer intellektuellen Umwelt. Die Schauspielerin Karoline Bauer1645 mokierte sich mit Blick auf Varnhagen über die „jammervollste Rolle, die ein Mann spielen kann: der Mann seiner Frau zu sein“. Der für seine Aufmerksamkeit verspottete Varnhagen hat selbst von den Nachlebenden kaum Dank geerntet für die Gedächtnispflege, die er seiner Frau angedeihen ließ. Vielmehr beschwerte sich nicht erst Hannah Arendt1646 über angebliche Verfälschungen, die er an ihrer Hinterlassenschaft vorgenommen habe. Diese Kritik darf zwar als ü- berholt gelten, der verloren geglaubte Nachlass Varnhagens ist in der Jagiellonischen Bibliothek (Krakau) aufgetaucht und steht der For- schung zur Verfügung. Jetzt erweist sich, dass seine „Herausgeber- schaft Lob verdient“, wie Eckart Kleßmann1647 notiert hat. Varnhagen habe keineswegs versucht, Rahels Umgang zu aristokratisieren, um diesen weniger jüdisch erscheinen zu lassen. Arendt und mit ihr viele spätere Biographen sind Vorurteilen aufgesessen, welche sich um die kulturgeschichtliche Schlüsselfigur Varnhagen ranken, die für den Geschmack seiner Zeit und oft auch noch der Nachwelt zu modern, zu feinsinnig und vor allem auch zu demokratisch gesinnt war. Darum wird dem preußischen Aufklärer und kritisch-engagierten Pro- tokollanten der bürgerlichen Hoffnungen auf eine zivilere Gesellschaft

1645 Zit. a.a.O., S. 439. 1646 Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München: Piper 1959. Kritisch dagegen Seyla Benhabib: Der Pa- ria und sein Schatten, Babylon (1991), Heft 9, S. 95 ff. Die Verunglimpfung wirkte fort, noch Walther Rathenau (Tagebuch 1907 - 1922, Hrsg. Hartmut Pogge - v. Strandmann, Düsseldorf: Droste 1967, S. 153) berichtet am 30. 12. 1911 von einem Besuch bei der Schriftstellerin Marie von Olfers (1826/1924) in Berlin, deren Mutter mit Rahel befreundet war: „Varnhagen (war) eitel, unangenehm. Der Hausarzt erzählt, V. habe Rahel oft ‘braun und grün geschlagen’“. 1647 Unendliche Lügen von allen Seiten, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. 10. 1988, o.S. 557

ein Nachruhm höchstens als Ehemann seiner Frau Rahel zugebilligt, deren Würdigung ihm so am Herzen lag. Und selbst das geschieht schulterklopfend, ja herablassend, noch für Herbert Scurla1648 war Varnhagen „kein starker Charakter“, zählte vielmehr „zeit seines Le- bens zu den gefährdeten Naturen“, was immer das heißen soll. Erst Heidi Thomann Tewarson1649 hat dieses Bild wieder zurechtgerückt, indem sie die Originalität Varnhagens heraus stellt. Nicht nur mit Blick auf seine erstaunliche publizistische Fruchtbarkeit, sondern vor allem wegen seiner Auffassung der Geschichte als offener Entwick- lung hin zu einer Erneuerung der Sozialverhältnisse in Mitteleuropa, hatte man gleich nach seinem Ableben noch seinen Rang zu würdigen gewusst: Bis seine Tagesblätter erschienen. Die Rahel-Schriften1650 machen nur einen Bruchteil seiner Hinterlassenschaft aus. Varnhagen selbst war kein romantischer Kopf, er passte zuweilen schlecht in den literarischen Salon seiner Frau, die ihn durch ihre überlegene Weit- herzigkeit und den Tiefsinn ihrer Weltsicht ebenso in den Bann zog wie viele prominente Mitlebende. Varnhagen, der Freund der stigmati- sierten Juden und Befürworter eines menschenwürdigen Jugendalters, war zugleich ein Feminist vor der Zeit. Man denke an seine bittere Beschwerde über die geistige und damit lebensgeschichtliche Chan- cenlosigkeit seiner Schwester unter den obwaltenden Zuständen. All das hat ihm in seinem helden-trunkenen Vaterland später den Tadel eingetragen, weibisch, ja klatschsüchtig zu sein, eben ein „Kamäle- onwesen“, wie Chamisso1651 1810 gemeint hat. Hinzu kam, dass er voller Neugierde über die, vor allem die verborgenen „Welthändel“ (Varnhagen) regen Anteil nahm am sichtbaren wie invisiblen Gesche- hen. Jedwedes Ereignis wurde ihm Dokument, Zeitgeschichte, Beleg

1648 Vgl. Anm. 1644, S. 275. 1649 Rahel Varnhagen, Reinbek: Rowohlt 1988, S. 10. 1650 Etwa: Rahel von Varnhagens Freundeskreis (Leipzig 1836), Berlin: Deutsche Bibliothek o.J. 1651 Zit. Kühn (Anm. 1641), S. XVI. 558

für die Seelenverfassung einer Epoche, als deren deutscher Plutarch er bezeichnet wurde. „Der Gesichtspunkt und die Stimmung, die man zu den Dingen mit- bringt, sind alles“, hat er notiert1652, auch das war seiner Wertschät- zung abträglich. Die ‚Denkwürdigkeiten’ bieten in diesem Verständnis nicht nur eine einzigartige Auskunftei über ein halbes Jahrhundert eu- ropäischer Geschehnisse. Varnhagen zeichnet überdies ein umfas- sendes Kulturpanorama. Und ihm gelingt eine schwarze Chronik der deutschen Verhältnisse, indem der Rheinländer und Anhänger der Gi- ronde deren Entwicklung vor dem Hintergrund der Errungenschaften von 1789 auf ihre liberale Einstellung hin sichtet, die von den ElitenD nicht aufgenommen wurde. Leider ein hoffnungsloses Unterfangen, daher werden seine ‚Tagebücher’ immer galliger, vor allem, nachdem die bürgerliche Revolution von 1848 aus Angst vor ihrer eigenen Cou- rage fehlgeschlagen war. Aber just dieser Bürgersinn hatte die wil- helminischen Enkel so verärgert. Und seine als „Zölibatstil“ (Laube) bezeichnete Darstellungsweise galt dem eher barocken Empfinden der Gründerzeit als zu klassisch, um auf dem Untergrund alldeutscher Schwülstigkeit noch Gefallen zu erregen.

Zustandskritik

Inzwischen wirkt Varnhagen wieder lesbar, seine Schilderungen der damaligen Gesellschaft haben den epischen Charme, der mitten hin- ein versetzt in das revolutionäre Straßburg des Jahres 1792, das um- kämpfte Hamburg von 1804, das besetzte Berlin 1807 oder jenes Pa- ris im Aufbruch 1810. Wir treffen Fichte, Jean Paul, Beethoven, Schleiermacher oder Joseph Görres, für den „das Alte noch nicht ver-

1652 Denkwürdigkeiten (Anm. 1622), Band 1, S. 193. 559

gangen“ war, weswegen sich alles im Chaos wiederfand1653. Aber auch Napoleon, Wilhelm von Humboldt oder der Reichsfreiherr vom und zum Stein treten auf, der im Prager Exil voller Zorn die Dokumen- te der Französischen Revolution wälzt, weil er die Zusammenhänge begreifen will, die derlei Umstürzendes möglich machten. Varnhagen, der Anhänger des Sturms auf die Bastille, streitet sich mit dem preu- ßischen Reformer zunächst über die Bewertung der bürgerlichen Be- freiung - die Stein geringschätzt -, um sich dann über den Respekt zu wundern, den der Aristokrat dem ‚Wohlfahrtsausschuß’ in Paris ent- gegenbringt. Denn bei aller Ablehnung kann Stein seine Hochschät- zung der politischen Energien nicht verhehlen, die von den Jakobi- nern freigesetzt wurden. Etwas davon auf die Mühlen der deutschen Politik, so der verbitterte Edelmann, und die eigene Sache sähe we- niger traurig aus. Der Chronist hält beide Standpunkte für unausge- wogen. Überhaupt stößt sich Varnhagen, für den „Geist, Geschmack, Güte und Liebenswürdigkeit keiner bestimmten Klasse eigneten“1654, und der entsprechend die festsitzende Feudalarroganz beklagte, an der unausgegorenen Gemütslage seiner Ära, die nicht zuletzt die ge- hobenen Schichten umtreibt.1655 Ihm missfällt trotz seines Zugehörig- keitsgefühls die nach dem Unterwerfungsfrieden von Tilsit (1807) in Norddeutschland um sich greifende „Teutomanie“, die etwa in anti- französischen Hassgesängen eines Heinrich von Kleist1656 außer sich gerät. Varnhagen hingegen geht es um Patriotismus, einem Gefühl der

1653 Den vielbewunderten Verfasser von ‘Teutschland und die Revolution’, Teutschland [Coblentz: Hölscher] 2 1819, S. 143, der wegen seiner Zu- standskritik vor Verfolgungen aus Berlin in die Schweiz fliehen musste. 1654 Denkwürdigkeiten (Anm. 1622), Band 2, S. 574. 1655 Tagebücher (Anm. 1617), Band 1, S. 28; 42. 1656 ‚Germania an ihre Kinder’ (1813): „Alle Triften, alle Stätten/Färbt mit ihren Knochen weiß;/Welchen Rab’ und Fuchs verschmähten,/Gebet ihn den Fischen preis;/Dämmt den Rhein mit ihren Leichen; (...) Schlagt ihn tot! Das Weltgericht/Fragt euch nach den Gründen nicht!“, Kleists Werke in drei Bänden, Hrsg. Bruno Markwardt, Leipzig: Reclam o. J,. Band 3, S. 297 ff., hier S. 299. 560

Verantwortlichkeit gegenüber den öffentlichen Angelegenheiten, von denen sich seine Landsleute nach den ‚Befreiungskriegen’ erneut ab- gesperrt fanden. Daher blieb wie eh und je alles und jedermann „in die engsten Schranken geklemmt“1657. Die ersehnte Zusammenfüh- rung des Landes in Frieden und Freiheit1658 kam zu seinen Lebzeiten nicht zustande. Mit Bismarcks Blut- und Eisenlösung der deutschen Frage wäre er schwerlich einverstanden gewesen. Wenngleich andere Wege zur Einigung kaum mehr offenstanden, nachdem 1815 in Wien zum großen Bedauern von Varnhagen und seiner Generation des Um- bruchs die nationalpolitischen Weichen im Sinne der Kleinstaaten und damit feudalreaktionär gestellt worden waren. Wodurch das fragmen- tierte Land in der Mitte Europas weiterhin ein Spielball - diesmal - von Paris und St. Petersburg blieb, ein Zustand, in dem es sich seit dem in dieser Hinsicht eher verunglückten Frieden von 1648 befand. Kaum verwunderlich, dass sich das Bedürfnis nach Selbstbestimmung „in das Dunkel studentischer und andrer Geheimbünde zurückgedrängt sah“1659, wo es ein zunehmend krähwinkeliges Eigenleben führte und sich eher an Ernst Moritz Arndt orientierte als an Friedrich Schiller. Das war für Varnhagen genauso wenig erträglich wie das fortwähren- de Fürstendeutschland der Umsturzriecherei à la Metternich und sei- ner ‚Policeywirtschaft’. Die ‚Denkwürdigkeiten’ sind zu lesen als For- derung nach mehr Urbanität, gelasseneren Umgangsformen, durch die bürgerliche Weltläufigkeit erst ermöglicht wird. Seine Texte stilisieren Aufgeschlossenheit und Geselligkeit zum gesellschaftlichen Studien- programm. Ersatz für die in westlichen Staaten vom Mittelstand er- strittene Beteiligung an Staat und Gesellschaft bedeuten ihm der Sa- lon, das Theater, die Stadt und ihre Plätze: Überhaupt die Öffentlich-

1657 Denkwürdigkeiten (Anm. 1622), Band 1, S. 20. 1658 Vgl. noch seine nationalpolitischen Forderungen in: Schlichter Vortrag an die Deutschen über die Aufgaben des Tages, Berlin: Reimer 1848. 1659 Denkwürdigkeiten (Anm. 1622), Band 2, S. 34. 561

keit und ihr Austausch von Ansichten, denn der Marktplatz hatte in Deutschland nicht ausgereicht, um das Alte zu verdrängen. Abfassung und Lektüre von persönlichen Erinnerungen sei Teil der bürgerlichen Mitwirkung, unter politisch widrigen Umständen zeugten sie von re- publikanischer Verantwortung. Dieser literarische Appell prägt sein Gesamtwerk, unter anderem die ‚Biographischen Denkmale’, wahrhaf- te portraits morals, die zwischen 1824 und 1830 in Berlin herauska- men. Oder die umfangreiche Soldatengalerie, erschienen seit Mitte der dreißiger Jahre. Darunter befindet sich die schöne Studie über Jakob Keith (Berlin: Duncker & Humblot 1844), den schottischen Feldmarschall Friedrichs des Großen, gefallen 1758 in der schweren Schlacht von Hochkirch, dessen Standbild der König auf dem Wil- helmsplatz im Zentrum Berlins errichten ließ. Man denke weiter an kulturgeschichtliche Studien, die gleichfalls in biographischer Manier einzelne Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts in Erinnerung halten. Noch seine friderizianischen Charakterköpfe, die nach 1835 veröffent- licht wurden, wollen das Gefühl für die Stetigkeit im Wandel beför- dern, um die verbreitete Angst vor Neuerungen zu mildern. Sie alle fanden in den Wohnzimmern der Biedermeierzeit großen Anklang, noch Goethe1660 bekundete seine Zustimmung mit den Worten, hier werde die Transparenz der Zustände befördert, denn „Klarheit nötigt zur Einsicht“. Varnhagen blieb sein Leben lang offen für alle Anregungen, war An- sprechpartner für oppositionelle Köpfe wie den deutschen Frühsozia- listen Karl Grün oder die Vertreter der russischen Opposition, inte- ressierte sich für das soziale Korrekturprogramm von Saint-Simon, befürwortete zudem jederlei Kulturaustausch, womit er unter seines- gleichen isoliert blieb. Er engagierte sich für die Verbreitung der neuen slawischen Literatur und tat sich nicht zuletzt als ihr Überset-

1660 Zit. Kühn (Anm. 1641), S. XXIII. 562

zer hervor. Auch das Geistesleben Italiens, Spaniens oder Englands fesselten ihn, Frankreichs Kultur gar schien ihm unser aller Anre- gung. Mit dieser Neugier überforderte Varnhagen seine Umwelt, deren altadelige oder besitzbürgerliche Optik sich zunehmend aufs Hausba- ckene beschränkte. Unmut erregte zumal seine Kritik am heimischen Spätfeudalismus, im Kaiserreich galt er als Allerweltsschreiberling, während sein Zeitgenosse und Freund Heinrich Heine ihn mit liebevol- ler Ironie nach dem Tod des Olympiers aus Weimar zum „Statthalter Goethes auf Erden“ erklärt wissen wollte. Überhaupt Goethe, dessen geistige Weitsicht und literarische Universalität die Familie Ense frühzeitig für intellektuelles Gegengift zur romantischen, historisti- schen oder sonstigen Restauration jener Tage hielt. Varnhagen deute- te die Verärgerung des Berliner Hofes über den wachsenden Erfolg des Weimaraners als Beweis für die Borniertheit all jener Kräfte, die Preußen seinerzeit mehr schlecht als recht regierten und die jegli- ches Gespür für den aufrechten Gang verloren. Offenbar glaubten die politischen Eliten inzwischen selber, was sie als Herrschaftslegenden unter das Volk streuten? Ein derartiger Selbstbetrug münde in mehr- facher Weise im Standesdünkel. Die Regierenden seien weder fähig, Anspruch und Tatsächlichkeit ihrer Ordnung auseinander zu halten, die sich abzeichnenden strukturellen „Grenzen des Regierens“ (Leh- ner) hin oder her; noch kämen sie im Sinne von Ranke ihrer Aufgabe nach, so zu „führen und lenken“, dass der Bürger verstehen könne, „warum er im Staat ist, warum er gehorcht“ (Anm. 1454, S. 47/56); außerdem zeigten sie sich außer Stande, öffentliche Ereignisse als Auskunft über die wahre Volksstimmung zu nutzen, mit bösen Lang- zeitfolgen. Empörung und Selbstgerechtigkeit statt Durchblick und Lernfähigkeit - solches Schablonendenken der keineswegs nur in Preußen festsitzenden Feudalobrigkeit erlaube keine Politik, mit der man in der Moderne bestehen könne. So Varnhagen mit besorgtem Blick auf die stürmischen Industrialisierungskrisen im Umfeld des 563

‚Deutschen Zollvereins’ (1834), der als erster Trippelschritt auf dem Weg zur Einigung der deutschen Lande zustande gekommen war. In späteren Jahren, in der langen Reihe seiner ‚Tagebücher’, häufen sich Beschwerden über die kaum zu ertragenden „Nebeldünste der Politik“1661, die Unterwürfigkeit der Bevölkerung1662 und die Dumm- heit der verschiedenen Ministerien. „Die Macht ist hier durchaus un- ruhig, unsicher, argwöhnisch, furchtsam und täppisch, nebenher auch falsch und lügnerisch“1663; damit sei auf die Dauer kluge Politik nicht zu machen, trotz aller beobachteten Obrigkeitsdünkel ist die Rede vom „aufgelösten Staat“1664, der die massengesellschaftliche Entwick- lungsdynamik kaum ohne Aggressivität von oben - oder unten - wird durchhalten können.1665

Blockade

Die Revolution von 1848 gab dem Skeptiker Recht. Die bürgerliche Unfähigkeit oder Angst vor dem Risiko, die günstige Gelegenheit zur politischen Neuordnung der Verhältnisse zu nutzen, ist in vielen Sze- nen und Beobachtungen seiner ‚Denkwürdigkeiten’ nachzulesen, die zu einem ebenso spannenden wie aufschlussreichen Kultur- und Sit- tenbild jener für die kommenden Missgeschicke Deutschlands so wichtigen Wendezeit zwischen Aufklärung und Vormärz geraten. Varnhagens Blick für die Unzuträglichkeiten des Alten und damit die

1661 Denkwürdigkeiten (Anm. 1622), Band 3, S. 524. 1662 A. a. O., Band 3, S. 230. 1663 Varnhagen von Ense: Journal einer Revolution. Tagesblätter 1848/1849, Nördlingen: Greno 1986, S. 7. 1664 Tagebücher (Anm. 1617), Band 3, S. 56. 1665 Inhärente Innen- wie Außen-Agressivität hat Thorstein Veblen (Imperi- al Germany and the Industrial Revolution [1915], New York: Huebsch 1918, S. 204 ff.) als riskanten Spannungsausgleich zwischen wirtschaftlich- technischer Hypermodernität und politischer Rückständigkeit beschrieben. 564

Notwendigkeit des Wandels wurde geschärft durch sein Leiden an der „Knechtschaft der Umstände“1666. Nicht nur die Belastungsproben seines Lebenslaufes, der immer wieder auf Barrieren der offiziellen Demagogenangst traf, ließen ihn zu dem Schluss kommen: Die Feu- dalstruktur war nur zu zerschlagen, freiwillig würden Vorrechte nie aufgegeben! Man denke an einen Besuch im Sommer 1807 auf einem Rittergut in Friedersdorf östlich von Berlin bei Alexander von der Marwitz. Varnhagen verbrachte dort herrliche Tage, fühlte sich wohl, „während die reinste Luft die Brust erfrischte“. Die Landpartie hinter- ließ jedoch gründliche Verstimmung. Der Gutsherr bestellte die Bau- ern mitten in der dringendsten Feldarbeit zur „Fronfuhre für die Herr- schaft“, um seine Gäste in einen Nachbarflecken bringen zu lassen, wo ein Wagen auf sie wartete, der aus Berlin beordert worden war. Als der Adelige darauf hingewiesen wurde, dass es sich bei diesem Transport kaum um eine landwirtschaftliche Leistung handele, bekun- dete er kurz, dann eben „zur Tanzfuhre“ anzuspannen, was ihnen ein altes Recht befahl.1667 „Daß dergleichen drückende Verhältnisse und Mißbräuche, die auf dem armen Volke lasteten, zerstört würden, fand ich an diesem Beispiel wieder recht wünschenswert“, illustrierte Varnhagen den Vorfall. Und er fügte ein Leitmotiv hinzu, das sein Werk wie ein roter Faden durchzieht: „Im Stillen pries ich die französische Revolution, die solche verfaulten Überbleibsel am kräftigsten zu zertrümmern ange- fangen hatte, und noch durch Napoleons Siege, in diesem Be- tracht heilsam, zu zertrümmern fortfuhr“.1668 Das zu äußern war politisch höchst unkorrekt, vor allem wenn man im Auge behält, was der französische Imperator in einem wahrhaft puni-

1666 Denkwürdigkeiten (Anm. 1622), Band 2, S. 24. 1667 Obschon ein königliches Patent vom 16. 10 1717 bereits vorschrieb, Vorspanndienste in Preußen jedenfalls für Dienstreisen nur nach Vorlage einer königlichen Order einfordern zu können. 1668 Denkwürdigkeiten (Anm. 1622), Band 1, S. 457; 460 f. 565

schen Frieden den Preußen zugemutet hatte. Dass es überhaupt so weit kommen konnte und solche Niederlage möglich wurde, genau das war für Varnhagen indes schon eine Folge der durchgängigen Vormo- dernität der preußischen Gesellschaft und ihrer Führungscliquen ge- wesen. Seinen Darlegungen ging es um mehr als biographische Perspektiven. Er hatte jenen Willen zur Öffentlichkeit im Auge, der erforderlich sei, um seine Heimat in den Stand eines freien und einigen Landes zu versetzen, das seinen Nachbarn gleichberechtigt und daher verständ- nisbereit entgegentreten könne, wie es kulturpolitisch schon Johann Gottfried Herder verlangt hatte. Dann erst würde nicht länger alles, „was den Staat betrifft, in der Heimlichkeit stiller Verhandlung verwei- len“.1669 Vielmehr könnten die Belange der Bevölkerung endlich von und für sie selbst umgesetzt werden. Die „Art von Diktatur“ (Varnha- gen) unter feudal-bürokratischer Fuchtel wäre damit überwunden, Neuzeit zöge ein. Man wäre nicht mehr wie bisher verunsichert, son- dern aufgeschlossen jener „chaotischen Gärung“1670 ausgesetzt, die unabdingbares Kennzeichen der Moderne war und ist.

Revolution

Um die Mittagsstunden des 19. März 1848 war die Staatsmacht in Preußen vakant. So jedenfalls empfanden es viele Zeitgenossen, un- ter ihnen der Geheime Legationsrath außer Diensten Varnhagen von Ense, der die in den Schulbüchern des Wilhelminismus als ‚März- schrecken’ bezeichneten Ereignisse protokolliert. In der preußischen Hauptstadt regnet es an diesem Sonntag. Die Straßen wirkten men- schenleer, die Barrikaden waren spärlich besetzt. Sie hatte man am

1669 A. a. O., Band 2, S. 291. 1670 A. a. O., Band 1, S. 251. 566

Vortage im weiten Umkreis um das königliche Schloss und um die Garde errichtet. Noch bis in den frühen Morgen hinein fanden in den Straßen erbitterte Kämpfe statt. Den Aufständischen gelang es, in der Person des Generals von Möllendorff den für den Schutz des Schlos- ses zuständigen Offizier zu verhaften. Die Garnison hatte erhebliche Verluste. Außerdem sank im Laufe der Stunden die Bereitschaft der Truppen, auf Landsleute zu schießen. 20 000 gut ausgerüsteten Sol- daten war es nicht möglich, in Berlin die Empörung niederzuschlagen, ebenso wenig wie kurz zuvor in Paris oder in Wien. In Europa gab es seit Wochen Unruhen, der Alte Kontinent durchlebte einen Demokra- tiefrühling, energisch brachen allerorten Missbehagen und Abscheu am Spätabsolutismus durch. Um eine revolutionäre Ausweitung der Kämpfe zu vermeiden, lenkte der Berliner Hof ein. Bereitwillig stellte man Bürgerrechte in Aussicht, wie mehrmals seit 1813. Kurz nach Mit- ternacht fertigte Friedrich Wilhelm IV. von Preußen eigenhändig eine Proklamation aus, die am nächsten Morgen an den Mauern der Stadt zu lesen war. „Ein Haufen Ruhestörer“ habe „freche und aufrühreri- sche Forderungen“ gestellt und in das Schloss einzudringen versucht, woraufhin geschossen worden sei. Weil „eine Rotte von Bösewichtern, meist aus Fremden bestehend, ... diesen Umstand im Sinne ihrer ar- gen Pläne durch augenscheinliche Lügen verdreht haben“, wären „vie- le meiner treuen und lieben Berliner“ aufgehetzt worden.1671 Davon stimmte kein Wort. Vielmehr hatte am Vortag die Kavallerie auf aller- höchsten Befehl die Bittsteller im Galopp und mit erhobenem Säbel vor dem Schloss angegriffen. Der ‚Aufruf an meine lieben Berliner!’ endete mit der Aufforderung, Rücksicht zu nehmen auf die leidende Landesmutter. Für derartige Appelle war es zu spät, die Hohenzollern hatten nicht begriffen, wie es an der Havel tatsächlich stand. Am nächsten Tag wurden die Aushänge von den Hauswänden gerissen.

1671 Vgl. Veit Valentin: Geschichte der deutschen Revolution von 1848/1849, 2 Bände (Berlin: Ullstein 1930/1931), Band 1, S. 438 f. 567

Immerhin zogen die am frühen Morgen eilig verstärkten Truppen im Laufe des Tages aus der Hauptstadt ab.

„Die Vorgänge haben etwas Wunderbares“, beschreibt Varnhagen am gleichen Tag die Geschehnisse auf dem Gendarmenmarkt1672. Er lässt seiner Freude über die Abkehr von der Willkürherrschaft einer Adels- elite freien Lauf, „der blutige Kampf war das Glücksrad, aus dem das große Los hervorging“1673. Im eigentlichen Wortsinn „wunderbar“ er- scheinen dem Augenzeugen die Märzerrungenschaften auch deswe- gen, weil sie so unverhofft gelingen. Der Chronist vermag den Erfolg nicht zu fassen, obschon er seit langem Beschwerde über die kaum zu ertragende Arroganz der Oberschicht führte: „Bei solcher Dummheit ist alles möglich“1674. Trotz aller Kritik an Missständen empfindet

Varnhagen durchaus „konservativ“, da „auch in der Umwandlung viel vorhandenes Gute sich erhalten soll“1675. Durch zeitige Reformen wä- re das möglich gewesen, jedoch war östlich des Rheins davon nir- gends die Rede. Das diffuse Unbehagen an der obwaltenden „Willkür- herrschaft“ verdichtete sich nach und nach zur Umsturzerwartung.1676

Erbittert verzeichnet der Beobachter daher, wie die Hofpartei bald nach dem 19. März Boden zurück erobert, und wie hilflos die Fürstrei- ter des Fortschritts operieren. Dabei hatte alles so vielversprechend ausgesehen. Man denke an jene Szene, die Adolf Menzel aus frischer

1672 Journal (Anm. 1663), S. 110. 1673 A. a. O., S. 118. 1674 A. a. O., S. 9/10. 1675 A. a. O., S. 249. 1676 „Mir steigt seit einiger Zeit die wachsende Ahndung auf, daß das Le- ben in dem Striche, den es seither gehalten, nun nicht lange mehr fortge- hen könne, sondern eine Wendung werde machen müssen“, heißt es im September 1846 (Journal [Anm. 1663], S. 7). „Unser ganzer Boden ist un- terhöhlt, tausend Gänge sind hindurchgetrieben, endlich werden sie in ein großes Loch zusammenbrechen. Meine Ahndung ist ein ganz persönliches Gefühl, das freilich aus der besondern Art hervorgeht, wie mich die Dinge der Welt berühren. Politik, Litteratur, Gesellschaft, Kunst, Bürgerthum, al- les ist von demselben Strom ergriffen und wird derselben Mündung zuge- führt; das fühlt und sieht jeder.“ 568

Erinnerung in seinem Gemälde ‚Aufbahrung der Märzgefallenen’ fest- gehalten hat. Am Tag nach der Straßenschlacht gelang dem Volk im sonntäglichen Berlin ein moralischer Sieg über seine angestammten

Eliten. „Zuerst wurden sechs bis sieben Leichen von der Breiten

Strasse her nach dem Schloß angefahren“, schreibt Varnhagen1677.

„Die blutigen Wunden aufgedeckt, bekränzt mit Blumen und Laub. Die begleitende Volksmenge sang Lieder und schrie, der König soll die

Leichen sehen... Auf den gebieterischen Ruf erschien der König auf dem Altan, der nach dem Schloßplatz hinaus führt. (...) Alles hatte den Kopf entblößt, nur der König die Mütze auf; da hieß es gebiete- risch: „Die Mütze herab!“ und er nahm sie ab. Die Leichen wurden dann durch das Schloß nach dem Dom gefahren. Alle folgenden eben so; diese aber machten auf dem innern Schloßhof Halt, und hier muß- te der König ebenfalls wiederholt auf der Galerie erscheinen, die Lei- chen grüßen und vieles anhören. Endlich wurde ein geistliches Lied angestimmt, - „Jesus meine Zuversicht“, und damit beschloß der furchtbare Auftritt, die ganze Volksmenge sang mit und schien ver- söhnt. Der König durfte sich erschöpft und vernichtet zurückziehen.“ Die Berliner sind großmütig, von politischem Zubiss keine Rede. Statt den Hofstaat festzusetzen, begnügt man sich mit Demutsgebärden des Königs, der wenige Tage später genötigt wird, mit Stadtverordneten durch Straßen zu ziehen, die in den schwarz-rot-goldenen Farben prangen. Mehr wird dem Herrscher nicht zugemutet.1678 Von dieser Mäßigung der Straßenkämpfer im Augenblick ihres Triumphes aber ist Varnhagen besonders beeindruckt. Als solche Milde auf keinerlei Ge- genliebe stieß, scheint sie ihm Unentschlossenheit zu signalisieren, die nicht zum wenigsten die Märzträume vereiteln half. „Sind die

1677 Journal (Anm. 1663), S. 112. 1678„Daß er baarhäuptig stand genügte“, hat zwei Jahre später, als alles zu Ende war, der Dichter Alfred Meißner, Jahrgang 1822, gespottet. „Frank- reich nahm in gleicher Lage seinem Könige den Kopf ab,/Deutschland nimmt ihm nur - die Mütze“. 569

Deutschen, die im Jahr 1848 mit Muth und Einsicht das Rechte woll- ten, aber der Lüge, den Ränken, dem Schicksal erlagen, unreif?“, fragt er im Rückblick verzagt, jedenfalls politisch?1679 Erst siebzig Jahre danach, mit Beginn der Weimarer Republik, sollten die Hoff- nungen der Achtundvierziger ihre Erfüllung finden, freilich unter den ungünstigeren Bedingungen eines verlorenen Krieges mit chaotischem Ausgang. Wenige Wochen nach jenem denkwürdigen 19. März, als die Ränke nicht nur des Berliner Hofes gegen die junge Freiheit im Lande erste Wirkung zeigten, häuften sich seine Klagen über die Vertrauensselig- keit seiner Landsleute. Vor allem ärgern Varnhagen die Halbherzig- keiten des besitzbürgerlichen Liberalismus - eigentlich eine Elite im Wartestand -, der aus lauter Angst, politisch Farbe zu bekennen, die eigenen Ansprüche auf Führung aus den Augen verliert. „Blindes Volk“, heißt es am 10. Dezember 18481680, „das noch immer glaubt, nicht sieht, hofft und erwartet, nicht hat! Es wird aber sehend werden, und dann um so grimmiger auftreten gegen die Urheber und Helfer des ihm gespielten Verraths und Betruges.“

Verzweiflung

Varnhagen befürwortet keineswegs leichtfertig die Unruhen seiner Zeit. „Wir wollen keine Revolution, wir fürchten sie“, heißt es Mitte April 18491681, „aber wenn man uns auf sie mit Gewalt hindrängt, so können wir sie annehmen“. Der Autor ist sich über die Ambivalenz ei- ner derartigen Entwicklung im Klaren, auch „die Volkssache ist leider nicht rein und reif“. Vor allem erschreckt ihn der teutonische Zungen-

1679 Tagebücher (Anm. 1617), Band 14, S. 59. 1680 Journal (Anm. 1663), S. 223. 1681 A. a. O., S. 259. 570

schlag, der nicht erst in der Paulskirche zu hören war. Immer wieder weist er darauf hin, dass jeder „Nationaldünkel“ den Chancen der Freiheit abträglich sei. Er verteidigt die Rechte der Polen und Tsche- chen, erklärt das republikanische Paris zur Ideenhauptstadt Europas, fordert „Verbrüderung“ der Völker statt Abgrenzung. Seine Hoffnungen gipfeln in der Vision von zukünftigen ‚Vereinigten Staaten von Euro- pa’, die er sich als Hort der Kultur und des Wohlstandes denkt. Kom- me also, was da wolle, es könne nur besser werden, auf jeden Fall besser als das, was bislang Deutschland elitärk unter dem Daumen halte. Diese Hoffnung, Freiheiten auch für Preußen zu schaffen, macht Varnhagen ungeduldig. Was er indes an Nachrichten vom Hof zusammenträgt, liest sich als Stenogramm einer Gegenrevolution von oben. Nach und nach weicht seine Hoffnung auf mehr Menschenrechte der Skepsis, schließlich der Resignation. „Meine Tagblätter arten in eine Aufzählung von Schändlichkeiten und Dummheiten aus, die täg- lich von oben her begangen werden“1682. Er tröstet sich mit Seneca und Hume, Herodot und Spinoza, immer wieder greift er zum bewun- derten Voltaire. Aber die „Mißgeburten der Magistratsweisheiten“ ü- berwuchern die Eintragungen, weil schon bald wieder niemand im Lande dem „Junkergesindel“ mitsamt „abgesonderten Militairdünkel“ gewachsen zu sein scheint. „Diese Zeit sieht für die Freiheit düster aus“, heißt es schon gegen Ende 1848.1683 Das Volk sei eingeschüch- tert, auch unartikuliert, und der besitzende Mittelstand gibt sich mit obrigkeitlichen Zugeständnissen zufrieden, passt sich aus übertriebe- ner Furcht vor der Straße an. Als Varnhagen im Mai 1849 in Gestalt der liberalen Nationalzeitung seine Frühstückslektüre an die Zensur verliert, bewahrt er nur mit Zynismus die Fassung. Solche „Willkür und Gesetzwidrigkeit der Regierung“ müsse aller Welt wirklich die Augen öffnen. Aber mitnichten, vielmehr treten immer neue „frei-

1682 A. a. O., S. 307. 1683 A. a. O., S. 226. 571

heitsmörderische Gesetze“ in Kraft, Truppenmacht bestimmt die Stun- de, „wie ein gepeitschter Quark ... schwimmt der Regierungsschaum“ obenauf.1684 Recht verstanden, so Varnhagen verbittert, beginnt A- sien doch irgendwo an der Elbe, man ertrage offenbar nur „ein wahr- haft türkisches Regiment“1685. Eine Wende zum Besseren hat Varnha- gen nicht mehr erlebt. Aber die Erinnerung an die Glückstage, in de- nen er in Berlin durchatmen konnte, ist ihm geblieben. „Ich lebe seit- dem anders“, bekennt er kurz nach den Märztagen1686, „die Welt wirkt anders auf mich. Es ist mir leichter geworden, in ihr zu leben, und leichter, sie zu verlassen!“

Realismus

In den verstaubten Absichten der ElitenD und ihrer Obrigkeit täuschte sich Varnhagen keineswegs, er überschätzte indes bei weitem die po- litische Reife seiner Landsleute. Dies Wunschdenken war Ausdruck einer Geisteshaltung. Geschult an Aufklärung und Klassik, litt er am Stumpfsinn jener ‚Heiligen Allianz’, die vom Zaren garantiert und durch Wien kontrolliert wurde. Solche Randstellung in seiner Zeit vermittelte dem gegenelitären Freidenker und Schöngeist wesentliche Einsichten, erschwerte jedoch zuweilen die Bodenhaftung. So konnte er übersehen, dass politische Zustände wie in Preußen nicht nur „aufgepfropft“ sind. Anmaßungen der Obrigkeit spiegeln Ordnungs- nachfrage durch die Bevölkerung und bedingen diese zugleich. Ein selbstbestimmter Kopf muss vielleicht solche Osmose von Gehorchen und Herrschen missdeuten, die hierzulande im Verlauf der Neuzeit besonders innig fest gezurrt wurde. Aber abgesehen von seinen Illu-

1684 A. a. O., S. 307. 1685 A. a. O., S. 293. 1686 A. a. O., S. 139. 572

sionen über die Verallgemeinerungsfähigkeit politischer Bedürfnisse waren auch die kulturellen Maßstäbe, mit denen Varnhagen die Um- welt beurteilte, seiner Zeit und der Geschichte weit voraus. Nicht zu- letzt das machte ihn indes für Schattenseiten, überhaupt für Nuancen seiner Epoche empfindsam, die ansonsten wenigen Geistesgrößen auffielen. Schlagen wir die „Tagebücher“ zum 15. Mai 1838 auf. In Berlin herrscht an diesem Montag mildes Frühjahrswetter. ‚Unter den Linden’ drängen sich die Kutschen, der Spielplan des dortigen ‚Opernhauses’ verspricht einen dramaturgischen Leckerbissen. Sechs Jahre nach Goethes Tod soll an diesem Dienstag in Preußen das Bühnenstück ‚Faust’ zu sehen sein, das seine Uraufführung1687 bereits früher er- lebte. Alle Welt ist auf den Beinen1688, um das Ereignis zu feiern. In der angeregten Menge befindet sich der dreiundsechzigjährige Varn- hagen, ein literarischer Fürsprecher Goethes, der man in diesen Jah- ren noch keineswegs für den Dichterfürsten der Deutschen hielt, die- se Auszeichnung kommt erst später. Der wegen seiner Imagepflege des Olympiers oft verspottete Varnhagen beschreibt den Theater- abend. Der Bericht ist kulturhistorisch aufschlußreich, weil die Wir- kungsgeschichte des Faust-Stoffes sehr vielschichtig verlaufen wird. Nicht zum wenigsten jener ‚Titanenhochmut’ eines deutschen Sonder- weges in die politische Isolierung, vor dem nicht nur Jean Paul seine Landsleute warnte, spiegelt sich im Faustmotiv. Von solchen Abwegen ist bei der Berliner Aufführung nichts zu spüren, ganz im Gegenteil. Varnhagen schildert ein Schauspielerlebnis, das eher an Vorkomm- nisse gemahnt, die aus dem vorrevolutionären Paris erinnerlich sind. So begeisterte 1784 Beaumarchais mit seiner ‚Hochzeit des Figaro’ die Öffentlichkeit, sehr zum Ärger der gehobenen Stände, über die

1687 Am 19. 1. 1829 im Hoftheater von Braunschweig unter dem Direktoriat von Ernst August Klingemann, Jahrgang 1777, dem Verfasser der „Nacht- wachen des Bonaventura“. 1688 Tagebücher (Anm. 1617), Band 1, S. 92 ff. 573

wenigstens im Theater gelacht werden konnte. Ähnlich fasst man an diesem Abend an der Spree das Bühnenstück auf, verblüffend, wie sehr die Wirkung eines Kunstwerks von zeitgenössischen Stimmungs- lagen abhängt. Mitten im vormärzlichen Winterschlaf des Landes wird Goethe als Zeitkritiker vereinnahmt. Erfreut lässt sich das Publikum auf die Freigeistigkeit eines Werkes ein, das später oft ganz anders verstanden wird. 1838 stehen im ‚Faust’ offenbar Engstirnigkeit und Dünkel der festsitzenden Hofgesellschaft am Pranger, unter der das Biedermeier litt. Szenen wie die Tollerei in ‚Auerbachs Keller’ tun es den Rängen besonders an, vor allem das von Mephistopheles (Vers 2211 ff.) vorgetragene ‚Flohlied’ ruft als Verspottung des zeitgenössi- schen Hofschranzentums wahre Jubelstürme hervor1689.

Die Aufführung stößt keineswegs auf allgemeine Zustimmung, befin- den wir uns in einer Zeit strengster Zensur und Denkkontrollen, wie sie verbindlich für die deutschen Staaten im Auftrag der Fürstenhäu- ser verabredet worden waren, Was denn: Die Bühne als politische An- stalt? Nichtlizensiertes Denken - verkleidet als Kunst? Lachen ist Ge- sellschaftskritik, das war auch dem Polizeiverstand klar. Umgeben von stockpreußischem Ernst mussten Veräppelungen der Hochwohlge- borenen brisant wirken, fast wie Elitenschelte klingen. Vermochten sie doch dem Auditorium die Augen zu öffnen über die hinter aller

Einschüchterungspracht verborgene Verschrobenheit der Standesherr- lichkeit. Nicht unverständlich also, wieso die „tiefere Bedeutung“ von

„Scherz, Satire, Ironie“ (Grabbe) als Kriminaldelikt galt, für Verfasser und Verleger gleichermaßen riskant. Am toten Goethe mochte man sich nicht vergreifen, so blieb den Verspotteten diesmal die Gallenbit-

1689 „Es war einmal ein König,/Der hatt’ einen großen Floh,/Den liebt’ er gar nicht wenig,/Als wie seinen eignen Sohn./Da rief er seinen Schnei- der,/Der Schneider kam heran:/Da, miß dem Junker Kleider/Und miß ihm Hosen an!/In Sammet und in Seide/War er nun angetan,/Hatte Bänder auf dem Kleide,/Hatt’ auch ein Kreuz daran,/Und war sogleich Minister,/Und hatt’ einen großen Stern./Da wurden seine Geschwister/Bei Hof’ auch gro- ße Herrn.“ 574

termiene. Varnhagen kann die Freude über den Publikumserfolg eben- so wenig unterdrücken wie seine Häme über die Verärgerung der vor- nehmen Kreise. Aufgeklärtes Denken fand im deutschen Bildungsbür- gertum des 19. Jahrhunderts Anhänger, selbst wenn sie in der Gesell- schaft nicht den Ton angaben. Als sich diese Schichten später von der reichseinheitlichen Großmannssucht anstecken ließen, arbeitete man an Geistern wie Varnhagen das schlechte Gewissen ab über Ju- gendsünden, einst selbst der Ablösung des Junkertums das Wort ge- redet zu haben, bestes Beispiel dafür ist nicht zuletzt Heinrich von

Treitschke. Das widersetzliche Erbe wurde aus dem nationalen ‚Mu- sentempel’ verbannt. An seine Stelle setzte man ab 1871 Kriegshel- den der Nation, dann erfolgreiche Unternehmer, später Medienstars.

Dabei trat Varnhagen keineswegs als bemühter Nonkonformist auf.

Ihm war es im Sinne einer Bemerkung vom September 1832 um An- stand und geistigen Stil zu tun. Seine Enttäuschung über die Bor- niertheit der Eliten machte sich in schonungsloser Kritik der Obrigkeit

Luft, minutiös schilderte er, was ihm durch seine vielen Kontakte bei

Hofe zugetragen wurde. „Es ist mir leid genug, wie gern schrieb ich andres nieder. Das Schlimmste aber ist, daß alles, was ich schreibe, noch nicht der hunderste Theil dessen ist, was täglich begangen wird“.1690 Was haben die Märztage genutzt? „Die Aristokratie hat noch die gan- ze Macht“, notiert Varnhagen ein halbes Jahr nach dem Aufstand1691, „aber sie verwendet sie zum Übel“. Ende 1848 ist der Chronist ver- zweifelt, „diese Zeit sieht für die Freiheit düster aus“. Die Bevölke- rung wirkt desorientiert, Truppenmacht bestimmt die Stunde, Besitz- und Bildungsbürgertum aber kuschten. Erst jetzt werde ihm, dem Goe- thekenner, wirklich verständlich, warum der Poet immer wieder aus

1690 Journal (Anm. 1663), S. 307. 1691 A. a. O., S. 199. 575

Deutschland nach Italien auswich. Was kann der aufgeklärte Zeitge- nosse tun? „Jetzt gilt es nur die Gesinnung bewahren“, heißt es am 30. Dezember 18511692 ziemlich trostlos, „und die Stätte bereit hal- ten, und das Leben durchwinden, so gut jeder kann“.

***

Auch die aktuelle Erörterung, was Spitzenkräfte in Staat und Gesell- schaft seien und wie sie angemessen zu qualifizieren und beurteilen wären, muss sich auf den historisch-analytischen Fundus an traditio- nellen Kautelen im Umgang mit der Elitenfrage beziehen. Die seit den

1980er Jahren erneut in Gang gekommene Debatte1693 lässt diesen

Wert- als Problemhintergrund bei aller öffentlich geäußerten Unzu- friedenheit mit den Leistungen der wirtschaftlichen1694 oder politi- schen Führungsstrukturen1695 allerdings vermissen, ihre offensichtli- che Emergenz-Notwendigkeit bleibt ebenso unausgeleuchtet wie de- ren heikle Paradoxien. Das delikate Thema wird eher unpolitisch und damit zustands-ideologisch angegangen.1696 Im Interesse besserer

Vermessbarkeit wird zudem redundant von Personen gesprochen1697,

1692 A. a. O., S. 307. 1693 „Die beginnende Enttabuierung und Rehabilitierung des Elitegedan- kens ist von beträchtlicher prinzipieller und praktischer Bedeutung für die Volkswirtschaft und ihre Verfassung“, kommentierte Anton Szöllösi (Elite und Leistung, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. 9. 1980, S. 11) diese Wende. „Denn sie geht erwartungsgemäß mit einer Renaissance des sozio- ökonomisch wie ordnungspolitisch so bedeutsamen Leistungsprinzips ein- her“, kommentierte der Syndikus einer großen Industrie- und Handelskam- mer diesen Zeitgeistruck, nicht aber unbedingt für die Eliten selbst. 1694 Vgl. Wilhelm Eberwein/Jochen Tholen: Wie schlecht sind die deut- schen Manager?, Gewerkschaftliche Monatshefte Nr. 10 (1993), S. 619 ff. 1695 Vgl. Hans Apel: Die deformierte Demokratie, München: DVA 1993. 1696 Vgl. stellvertretend die pseudo-aufklärerische Position bei Rüdiger May (Lean Politics. Eine Radikalkur für den Staat, München: Knaur 1999), dessen vulgärliberale Staatsschelte durchaus parlamentarische Beklem- mung erfasst („Teufelskreise“ bei der Politikerrekrutierung etc., S. 244 ff.), sein Verweise auf die Privatwirtschaft als richtiges Elitenmodell sowie das Sparrezept als Generallösung für alle Politik- und Verwaltungsübel können kaum überzeugen. 1697 Ursula Hoffmann-Lange: Eliten, Macht und Konflikt in der Bundesrepu- blik, Opladen: Leske + Budrich 1992, S. 19. 576

„die sich durch ihre gesellschaftliche Macht beziehungsweise ihren

Einfluß auf gesellschaftlich bedeutsame Entscheidungen auszeichnen“

Wie ist es zu solcher Magerfassung der Debatte über gute Führung gekommen? Mit der Gründung der Bundesrepublik sah sich die Frage nach der Rekrutierung und dem Betragen der ElitenD , wie so vieles andere, der Verdrängung überantwortet. Öffentlich jedenfalls konnte in den folgenden Jahren nur verschämt über dieses Thema gespro- chen werden. Gottfried Benns1698 „berüchtigte Verse“ (Neue Gesell- schaft): „Der soziologische Nenner,/der hinter Jahrtausenden schlief,/heißt: ein paar große Männer,/und die litten tief“, unterstri- chen diese Tabuierung. Ohnedies hielt der Zeitgeist es eher mit Ber- tolt Brecht (Fragen eines lesenden Arbeiters, 1935) und seiner Ver- mutung über die wahren Erbauer des siebentorigen Thebens... Wie- wohl es laut Stammer für die Vergangenheitsbewältigung, mithin für einen elite-demokratischen Neubeginn, wichtig gewesen wäre, aus- führlich über Herkunft, Rekrutierung, Qualifikation, Responsivität,

Kontrolle oder auch Exzesse von Spitzenkräften und ihren Netzwerken zu rechten1699, blieb diese Fragestellung irritierend, stellte sie unter anderem noch-amtierende Alt-Führungsgruppen bloß. Zudem oder deswegen blieb diese Fragestellung hoch neurotisiert, mit Eliten woll- te man nichts mehr zu schaffen haben. Allgemein herrschte eine ver- schämte „Machtvergessenheit“ (Hans-Peter Schwarz) vor, die politi- sche Kultur kam als „Verfassungspatriotismus“ (Habermas) eher fremdbestimmt denn selbstbewusst in Gang. Es sollte noch dauern, bis man den Eliten zutraute, nicht nur mit der Demokratie kompatibel zu sein, sondern diese womöglich gegen die Bevölkerung zu schüt-

1698 Dennoch die Schwerter halten, in: Sämtliche Gedichte, Stuttgart: Klett-Cotta ²1999, S. 174. 1699 Wie es als einer der ersten Politiker der CDU-Innenminister Gerhard Schröder verlangte: Elitebildung und soziale Verpflichtung, in Ernst W. Mommsen (Hrsg.): Elitebildung in der Wirtschaft, Darmstadt: Leske 1955, S. 22 ff. 577

zen, so dass von oben her jedenfalls alles andere, aber keine „abrup- ten Kurswechsel der Politik“ zu erwarten seien. Jedenfalls sofern die

Zirkel an der Spitze nicht von „einem umfassenden Konsens getragen“ würden1700, was bei deren sichtbarer Fragmentierung kaum zu erwar- ten war. Anfangs hingegen mochte man - elitär oder nur nicht Demo- kratie-konsequent? - aus Angst vor der Bevölkerung nicht einmal das

Grundgesetz zur Entscheidung stellen1701, so dass alle Welt aufatme- te, als am 14. August 1949 die Wahlbeteiligung zur ersten Sitzungs- periode des Bundestages bei beachtlichen 78, 5 Prozent lag. Was seinerzeit ebenso als Zustimmung zur Demokratie en route gedeutet wurde wie am 2. Dezember 1990 die gesamtdeutsche Wahlbeteiligung von 77, 8 Prozent.

Nachfrage nach Qualität

„Was hat nun, bilanziert man die neuentbrannte Suche nach Elite,

Spitzenleistungen und Hochbegabung, die Debatte bewirkt?“ Sie bringt etwas von modisch drapiertem Zeitgeist auf den Begriff, hat wenig geschadet, da sie nicht mehr anti-demokratisch schmeckt; doch auch wenig geholfen, solange Evaluierungen der Leistung amtierender

Eliten fehlen, die als Kosten-Nutzen- beziehungsweise Erwartungs-

Erfüllungskritik nach wie vor ausstehen. Wir hatten und haben es vielmehr durchgängig mit einer Art von Angstliteratur zu tun, die glei- chermaßen unangemessen entweder Eliten als Problem verneint, oder

Erscheinung und Wesen empirisch verwechselt beziehungsweise so-

1700 Hoffmann-Lange (Anm. 1697), S. 305 ff.; 407. 1701 Ebenso wenig wie nach der Wiedervereinigung, als es galt, das Grundgesetz zu überarbeiten, ohne dass über die Ergebnisse abgestimmt werden durfte. 578

gar semantisch dämonisiert.1702 Immerhin, „geklärt dürfte gottlob jetzt sein, dass Qualifikation und Professionalität notwendig sind, ohne dass diese Erkenntnis in den Ruf nach einer neuen Elite ausarten muß.“ Derart fasste der Hamburger Redakteur Gunter Hofmann1703 die erneut in Gang gekommene Elitediskussion zusammen, hinter der nicht nur der Zeitungsmann ein gerütteltes Maß an Verdrossenheit, ja

Ratlosigkeit über die modern times vermutet hat.1704 Aber Verdros- senheit worüber? Und wessen Ratlosigkeit? Diese Fragen verweisen auf die Ausgangslage der Elite-Diskussionen gegen Ende der sozial- liberalen Koalition zu Beginn der 1980er Jahre, die eine ‚Wende’ im

Lande dringlich zu machen schien.

• Zum einen schien es hohe Zeit, „geistige Führung“ (CDU- General- sekretär Geißler) zu mobilisieren, denn durch postmaterialistische

Beeinträchtigungen der Wertwelt (Minderung der Arbeitsmoral;

Mitbestimmungswünsche aller Art; Anspruchshaltung der Jugend)

drohe das Land „unregierbar“ zu werden; eine problematische

Tendenz, welche durch bürokratische Herrschaftsanmaßungen ver-

stärkt würde, die nach dem Abklingen der Planungseuphorie als

‚Staatsversagen’ zeitgleich für Aufmerksamkeit sorgten.1705

• Zum anderen stellte sich heraus, dass jene technologische Revolu- tion verschlafen wurde, die - vorerst - mit Gentechnologie, Compu-

ter und neuen Medien über die Epoche hereingebrochen war und

einen frischen, den fünften Kondratieff-Zyklus ausgelöst hatte.

1702 Vgl. William J. M. Mackenzie: Political and Social Science, Harmonds- worth: Pelican 1967, S. 213 ff. 1703 Die Zeit vom 16. 8. 1985, S. 1. 1704 Zur wissenschaftlichen Umsetzung dieser Diskurse vgl. Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.): Politische Klasse und politische Institutionen. Proble- me und Perspektiven der Eliteforschung, Opladen: WDV 1991. 1705 Typisch Ulrich Lohmar: Staatsbürokratie. Das hoheitliche Gewerbe, München: Goldmann 1978, S. 11 ff. 579

• Desweiteren begann in den Reihen der politischen Klasse frei nach Hans Peter Dreitzel1706 („Im Selbstverständnis der Eliten muß ...

die Führerrolle einen bedeutenden Platz einnehmen“) jene Aus-

wanderung aus der Realität, die hierzulande unter dem Stichwort

der Selbstreferenz1707 jene Kluft zwischen konstitutionellen und

eher prozeduralen oder gar deliberativen Auffassungen von Demo-

kratie vertieft: So dass bürgernahe Politik-Standards (Reziprozi-

tät, Publizität, Rechenschaftspflichtigkeit etc.) vom „schönen

Schein der Demokratie“ (Arnim) abgedrängt wurden, sich infolge

einer strikt parteizentrierten Engführung des Parlamentarismus

stattdessen Bestechung (Selbstalimentierung/Wahlversprechen

etc.) als fragwürdige Grundlage von Politik ausgebreitet hat.

All das ergab ein Niedergangsszenario, dem einzig durch Qualifikati- on und Innovation zu begegnen war, wenn überhaupt. Unter Verweis auf Leistungsverfall, Arbeitsunlust oder Permissivität häuften sich ei- lige Korrekturvorschläge. Besonders beliebt sind seither Elite-

(Privat)-Universitäten, um die Crême des schulischen Nachwuchses aufzunehmen, so dass auf der Schnellstraße einer zugespitzten Be- gabtensonderförderung wenigstens technologisch-wissenschaftlich der Anschluss zu halten sei.1708 Sind auf diesem Wege tatsächlich

Eliten zu fördern? Qualifikation, Exzellenz, Kreativität, Expertentum:

Jede Gesellschaft muss ihre intellektuellen sowie motivationalen

Schätze heben, will sie in der Regionalklasse oder gar Globalkonkur- renz mithalten. Doch woraus erklärt sich der überraschende Techno- logierückstand etwa gegenüber Japan oder den USA? Liegt er an der

1706 Elitebegriff (Anm. 295), S. 141. 1707 Aus der Praxis geplaudert bei Alexander Gauland: Geschlossene Ge- sellschaft. Die politische Klasse der Bundesrepublik sperrt sich gegen ihr eigenes Volk, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 5. 1991, S. 36. 1708 Daraus ist nicht viel geworden, wenngleich in der Hochschullandschaft gewisse Schwerpunktbildungen gelangen, die gezielter reagieren können, um vom Einrichtungsschub hochspezialisierter Max-Planck-Institute zu schweigen. 580

Vernachlässigung des Leistungsprinzips oder an falschen Lernzielen?

Wohl kaum. Die Schwächen sind, um bei der Wirtschaft zu bleiben, zurück zu führen auf Entwicklungs- und Marketingfehler der Platz hal- tenden Führungskräfte, die korporatistische Vernetzungen pflegten und Wagniskapital abwürgten.

Ausbildungspolitik kann die Uhr nicht anhalten. Falls sie hinter die

Erkenntnis zurückfällt, dass Qualität und Spitzenleistungen gemäß der statistischen Normalverteilung nur reichlich ausfallen, wenn die

Allgemeinbildung gut genug ist, wird eine frühe Siebungspolitik das

Leistungsreservoir auf Dauer eher einschränken denn erweitern.1709

„All jene, die geistig brillieren, sollen selbstverständlich herausra- gen“, hat Thomas von Aquin (lectio III ad Cor. I 12) verlangt. Das meinte aber nicht, Sonderbegabungen nach kurzatmigen Berufsbe- dürfnissen heraus zu picken, deren Zukunftskonturen ohnehin nicht mehr absehbar sind. Derart wird eher das Frühspezialistentum denn eine - in diesem Fall - schöpferische Elite produziert, vor allem dann, wenn die sich immer rascher verpuppenden Wissenszyklen eher Inno- vationspotentiale als ein Fachleutewesen verlangen. „Die regierende

Klasse erweist sich mehr und mehr als eine Gruppe kleinbürgerlicher

Wichtigtuer und eigentlicher Vereinsmeier, die sich durch das System des Parteiavancements langsam nach oben hangeln und mit dümmli- cher Unschuld wenigstens ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen su- chen. Die Möglichkeit des Regierens ist ihnen schon längst aus den

Händen geglitten.“ Man braucht(e) die Lage keineswegs so drastisch als demokratisches Katzengold zu sehen wie René König1710, um

1709 Gerade das Beispiel von Ländern, in denen - wie in England, Frank- reich oder Japan - ‚Elite’-Ausbildung als frühe und strikte Auslese betrie- ben wird, zeigt, dass die kollektive Leistungskraft nicht steigt, kann der Begabungsrohstoff der Gesamtbevölkerung sich doch nicht voll entfalten. Das Senken von Anforderungsprofilen im Interesse etwa einer egalisieren- den Schulpolitik hingegen ist gleichfalls wenig hilfreich, da auch durch Un- terforderung das allgemeine Leistungsniveau absinkt. 1710 Gesellschaftliches Bewußtsein (Anm. 699), S. 368. 581

gleichwohl angesichts des beobachtbaren „cronyism“ (Veblen), tech- nikpolitischer Versäumnisse, Vertrauenseinbußen, problematischer

Rekrutierungs-Gepflogenheiten ebenso wie der Selbstprivilegierungen der Politiker1711 aller Parteien in Stadt und Land zu fragen: Was ist mit der Politik geschehen?1712 Ist die durch Otto Stammer1713 ver- langte Förderung einer unkapriziösen, aber wenigstens anständigen und tüchtigen Funktionselite missraten? Oder hat sie nie stattgefun- den? Die komplexe Transformationsmoderne benötigt zu ihrem Wohlgelin- gen nicht nur Macht- oder Funktions-, sondern „Werteliten“ (Hans Jo- nas), die den Kräften in Amt und Würden das ‚Wozu‘? ‚Wie weiter‘? oder auch ‚Wohin‘? vorbuchstabieren helfen, schon weil sie nach Kon- fuzius1714 mehr im Sinn haben als ihr Privatwohl. Oder man denke an eine Szene, die Diogenes Laertius1715 überliefert hat. Der Philosoph Plato besuchte auf Einladung den Tyrannen Dionysos in Sizilien. Als er im Gespräch meinte, „nicht dem sei der Vorzug zu geben, was ihm bloßen Nutzen bringe, sondern es müsse etwas sein, das sich auch durch seinen inneren Tugendwert vor anderem empfehle“, entgegnete

1711 Vgl. F. L. Averdunk: Alt-Politiker trifft reicher Geldsegen. Westfälische Nachrichten vom 1. 11. 2000: Während der Durchschnittsverdiener nach 45 Arbeitsjahren eine gesetzliche Rente von DM 2 186 (x 12 Monate) erwartet, erreicht etwa Arbeitsminister Walter Riester für nur eine volle Amtsperiode bereits mehr als DM 7000 (x 13 Monate)! Grundsätzlich Hans Herbert von Arnim: Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, Mainz: Hase & Koehler 1991, S. 133 ff.; ders.: Der Staat sind wir’: Politische Klasse ohne Kontrol- le, München: Knaur 1995, S. 109 ff. 1712 Garry Wills: Washington is not where it’s at, The New York Times Ma- gazine, vom 25. 1. 1998, S. 26 ff. 1713 Vgl. Ders./Peter Weingart: Politische Soziologie, München: Juventa 1972, S. 130 ff. 1714 Wonach „der höhere Mensch weiß, was richtig ist; der niedere, was sich lohnt“, vgl. Konfuzius, Hrsg. Lin Yutang, Frankfurt am Main: Fischer 1957, S. 130; nur der, „who does the work he ought to do and does not seek its fruit“ zählt laut ‚The Bhagavad Gita’, Kapitel 6, 1 (Hrsg. Swami Nikhilanandha, New York: Ramakrishna Center 5 1987, S. 69) zur spirituel- len Elite. 1715 Leben und Meinungen berühmter Philosophen (III 18), Hamburg: Mei- ner 1998, S. 156. 582

Dionysos, das schmecke etwas nach „Altersschwäche“. Darauf Plato: „Und deine (Worte) nach Tyrannenlaune.“ Erzürnt über solche Eliten- kritik wollte Dionysos den Gast hinrichten lassen. Königliche Berater warnen vor Imageverlusten und Plato wurde ‚nur‘ in die Sklaverei ver- kauft, ohne dass dieser Gewaltstreich den Tugendbedarf (> Nutzen- werte) wirklich elitärer Rollen widerlegen konnte, wie sie der Philo- soph ausschilderte, ihn vielmehr unterstrich.

Leisten nach zwanzigjähriger Eliten-Debatte die gesellschaftlichen

Einrichtungen und Institutionen ihren Beitrag, intellektuell, charakter- lich und visionär befähigte Personen in entsprechende Positionen zu schleusen? In der Wirtschaft, wo „Produktion eine Nebenerscheinung beim Erzielen von Profiten“1716 ist? Am Tatort Politik und in der Ver- waltung, in denen es um Karrieren geht, weil sonst nichts geht? In den öffentlichen Verbänden? Oder in den durch Studiennachfrage aufgeblähten höheren Ausbildungsstätten? Die Frage zu stellen, heisst sie zu verneinen. Obschon viel von Eliten zu hören ist, sieht sich deren Werthorizont angeblich mangels teleologischer oder auch konsensualer Perspektiven ebenso ausgespart wie dessen Entfal- tungs-Voraussetzungen. Dabei bleibt EliteD eine Funktion von Gleich- heit, korrespondiert gerade nicht mit deren ‚elitärer’ Einschränkung, wie gesagt, weil das Kriterium der Leistung1717 für die gesellschaftli- che Eliten-Filterung außer Kraft gesetzt würde. Das schließt die An- erkennung wie Berücksichtigung von Differenz ein, etwa durch Befä- higungen; diese führt im Rahmen jenes „Gemeingeistes“, wie Hölder- lin die volonté générale übersetzte, nicht zu Extravorteilen, höchstens zu Sonderpflichten. Wir haben es so oder so beim Elitenspektakel ge- sellschaftspolitisch mit einem normativen Vorstellungs- und Funkti-

1716 Schumpeter: Kapitalismus (Anm. 318), S. 448. 1717 Unabhängig von der im Mikro- wie Makrobereich gleichermaßen unge- lösten Bemessungs- und Bewertungsfrage, exemplarisch Eiko Jürgen: Leis- tung und Beurteilung in der Schule, Sankt Augustin: Academia 4 1998. 583

onsraum zu tun, worauf schon Dreitzel1718 mit der Forschungsempfeh- lung reagierte, nicht nur danach zu fragen,

- was Eliten von sich selbst halten,

- wo sie anzutreffen sind oder

- wer (sich) dazu zählt, sondern im Auge zu behalten,

- wann und aus welchen Gründen eine Gesellschaft nach Eliten ver-

langt und

- nach welchen Eliten sie ruft.

Die methodologisch noch so durchreflektierte bzw. materialreiche Be- schränkung auf Deskription1719, wie sie nicht nur der Szentifizierung dieses Faktors unterliegt, verrät eine Tendenz, die Gefällestruktur durch Präskription dessen zu verdoppeln, was jeweils der Fall ist.

Aus Führungsgruppen werden unweigerlich ElitenD , öffentliches Ver- sagen hin, plebiszitäre Hoffnungen oder republikanische Niveau-

Ansprüche her.

Die Gesellschaft droht als „Aggregat aus Menschenstaub“ (Froude) nicht zuletzt aus Organisationsschwäche als Mangel an Kollektivein- sicht gemeinwohlunfähig zu werden, da kooperative Energien laut Jan

Assmann1720 ohne horizontale und diachrone „Verpflichtungszusam- menhänge“ verpuffen. Die Mitwelt indes, argwöhnt der Medienkritiker

Neil Postman, amüsiert sich aus Mangel an Alternativen oder Visionen derweil „zu Tode“. Die „Bremskraft des politischen Establishments“

(Hans Dichgans) läuft dabei noch eher Gefahr als die Zuständigkeits-

1718 Elitebegriff (Anm. 295), S. 56 ff. 1719 Die z.B. Ursula Hoffmann-Lange: Eliten (Anm. 1697) vor Augen führt, wenn anhand einer Mannheimer Elitenstudie (1981) ein stabiles Netzwerk- bild hiesiger ‚Eliten’ im Glück präsentiert wird. Wobei die spannenderen Aufgaben der Eliteforschung nicht in der soundsovielten Begriffsabgren- zung (Politische Klasse-Machtelite-Herrschaftsschicht ff.) beziehungsweise der xten Auszählung von Lenkungsriegen lägen, sondern in der viel schwierigeren Erforschung jener dominanten Spezial- oder Sonderinteres- sen, die auf allen Etagen der Gesellschaftsgestaltung als „invisible go- vernment behind the visible government“ wirken, worauf Albert J. Beverid- ge (Revue of Politics, Jg. 58 (1912), S. 338) vor langem hingewiesen hat. 1720 Herrschaft (Anm. 227), S. 133 ff. 584

bereiche anderer Führungsetagen, den Leistungsgrundsatz ohne alle timokratischen Anwandlungen zugunsten des Machtprinzips oder im

Sinne eines bloßen Durchwurstelns zu vernachlässigen: Thrasyma- chos (Politeia 345a ff.) kam mit seiner kritischen Beschreibung aller

‚Hirtenkunst‘ der historischen Wahrheit weit näher als die sokrati- schen Spitzfindigkeiten, wonach die „Regierungskunst“ nichts als den

„Nutzen ... des Regierten besorgt“. Neben inhärenten1721 fehlen im politischen Raum überdies externe Kontrollen, trotz einer

„vespansianischen Presse“ (Victor Basch), die in Form von

Massenblättern mit Blick auf die Politiker indes eher Schlüsselloch-

Journalismus1722 pflegt denn eine Durchleuchtung der Politik, die von der Bevölkerung zu Zielvorstellungen oder Reformansprüchen gebündelt werden könnte oder auch nicht. Dennoch bleibt es von entscheidender Bedeutung für die cura rei publicae, die politische

Klasse als Elite an Zulassungskriterien wie Werkstolz,

Responsabilität, Kompetenz oder Führung zu erinnern.1723 Qualität - was sonst? Sie allein unterläuft, mit Sylvain Maréchal gesprochen1724, in der Verantwortungsmoderne jene „abstoßende

Fallhöhe zwischen Regierenden und Regierten“, die aus sozio- kybernetischen Leistungen besteht, nicht aber mehr irgendwelche Pri- vilegierungen samt „Rolltreppeneffekt“ (Paturi) gestattet. Aber ist

1721 Es besteht zwar eine heftige Personalkonkurrenz um knappe Posten, einen Güte-Wettbewerb um die Rolle dieser Positionen selbst gibt es aber nicht, auch nicht beim Streit zwischen den Parteien um den Zugang zur Verteilung dieser Ränge. Auch das mögliche Hineinregieren der Judikative bezieht sich einzig auf formale Regelverstöße, ändert an den Schwächen oder Gepflogenheiten des Spiel nichts. 1722 Vgl. Patrick Poivre d’ Avor/Eric Zemmour: Les rats de garde, Paris: Stock 2000. 1723 Wobei Klaus von Beyme (Die politische Klasse im Parteienstaat. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993) ausgesprochen detailliert, zugleich entschlossen funktionalistisch und daher sine ira das politische Geschäft beschreibt und siehe da, es klappt eigentlich alles nicht schlecht, die Miss-Stimmung ist eher einigen Demokratie-Populisten après la lettre und der ewigen Presse-Kritik zuzuschreiben. 1724 ‚Manifest des Égaux’, in Philippe Buonarroti: Conspiration pour l’égalité dite de Babeuf (1828), Hrsg. Georges Lefebvre, Paris: Éditions sociales 1957, 2 Bde., hier Bd. 2. S. 96. 585

Vortrefflichkeit der Regelfall? Oder lenkt der gerade auch auf den

Balkons angestimmte Ruf nach Eliten als Voraussetzung nicht zuletzt für wirtschaftliche Erfolge davon ab, dass sich die Stimmgeber frei nach „Keine Schneeflocke in einer Lawine fühlt sich verantwortlich“ ihrerseits als Durchschnittsbürger entdecken?

Wobei die staatstragenden Eliten, die sich laut Adam Smith nicht als

„tricky politicians“, sondern wie „wise lawmakers“ betätigen soll- ten1725, durch Examinierung, Abrufbarkeit, Evaluierung oder auch

Zeitbegrenzungen härteren Auswahl- und Bewertungsmaßstäben zu unterwerfen wären als Führungskräfte etwa der Wirtschaft1726. Ihre

Verantwortung um das Ganze ist direkter und höher, weil Politik so der so alle andere Einheiten transzendiert, selbst wenn dass im Zeit- alter einer vom Glanz der Renditezahlen samt virtueller Ökonomie faszinierten Globalität kaum mehr klar zu sein scheint. Sie liefert sich daher im Namen von Deregulierung und Privatisierung dem unkontrol- lierbaren Laisser-faire von Anbietern aus. Dabei ahnte schon Adam

Smith1727, dass keine zwei Jobs „unvereinbarer sind als die von

Händlern und Regierenden“. Entsprechend schwierig hat es das Poli- tische samt Personal im Zeitalter pervadierender Gewinnmaximierung, gegen jene „autonome Macht“ der „mit Kapital gebildeten ... Organisa- tionen“ im Namen der Delegation und des Allgemeininteresses anzu- kommen. Also „Bedingungen des Eintritts und des Austritts (zu) defi- nieren“ und somit „Unterwerfung unter Weisungsgewalt (zu) konstitu- ieren“1728. Mit oder ohne Rückwendung zu einer normativen Politik-

1725 Zur Staatsmann-Politiker-Differenz vgl. Gerd Habermann: Zum Thema ‚Politiker und Staatsmann‘. Eine Skizze, in Ulrich Karpen u.a. (Hrsg.): Rechtsforschung, Rechtspolitik und Unternehmertum, Berlin: Duncker & Humblot 1999, S. 457 ff. 1726 Die etwa dank Wettbewerbsdruck ohnehin einem temporalisierenden Diktat des Gewinns über die Position unterliegen. 1727 The Wealth of Nations, Hrsg. Edwin Cannan, 2 Bde., London: Methuen 1961, hier Band 2, S. 343. 1728 Luhmann: Macht (Anm. 13), S. 103. 586

theorie frei nach „Staatskunst ist Seelenführungskunde“ (Sandel) können „Tendenzen einer Verselbständigung der politischen Klasse“ zwar womöglich „nicht bekämpft werden“, wie Beyme1729 betont. Zu- mindest aber sind derartige Prozesse selbst nur aus der Optik eines

Elitebegriffs, der sich wirklich auf den grundgesetzlichen Werthori- zont oder auf funktionalistische Leistungsbegriffe einlässt und inso- fern notwendig transdeskriptiv argumentiert, überhaupt noch als prob- lematisch zu identifizieren.

Durchsetzungschancen gegenüber Machtkartellen oder Sondermäch- ten, um das weitere Verdunsten des Politischen zu vermeiden, beste- hen für die ElitenF im öffentlichen Raum auf Dauer nur durch die Au- torität des moralischen, kompetentent oder orientierenden Herausra- gens, wie Johannes Gross1730 notiert hat. Wenn solchermaßen das

Telos (Programmatik) die Ordo (Zustandskalküle) lenkt oder wenigs- tens korrigiert, könnten sie vielleicht auch auf den Rückenwind der

Akzeptanz rechnen. Exzellenz sichert mithin nicht nur Legitimation, sondern bildet geradezu ihr politisches Lebenselexier. Diese ist indes nur glaubhaft, wenn frei nach „Regieren heißt voraussehen“ (Thiers) sichtbare Beispiele vorliegen, solches Wirken also breitenwirksam er- fahrbar ist. „Selbstverständlich kann es nicht Aufgabe der Politik sein“, kommentierte Oskar Lafontaine1731 stattdessen das Distanz- programm einer postmodernen Politikerklasse, „sich am faktischen

Bewußtsein der Bevölkerung auszurichten.“ Soll demokratische Politik als „Handwerk, nicht Mundwerk“ (Norbert Blüm) pädagogisierende Be- vormundung vermeiden, wenn sie „an der Willensbildung mitwirkt“, hat sie realiter ihre Funktionalität für das Gemeinwohl zu demonstrieren,

1729 Politische Klasse (Anm. 1723), S. 209. 1730 Geistige Führung, Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 25. 7. 1983, S. 1. 1731 Deutsche Wahrheiten. Die nationale und soziale Frage, München: Knaur ²1992, S. 159. 587

so komplex und volatil im Rahmen der Pluralisierung und des Werte- wandels dieser ordnungspolitisch wie autonomie-ethisch gleicherma-

ßen antipragmatische Bezugsrahmen wirken mag. Ist daher eine Elite- schulung wenigstens für Politiker vonnöten, nicht zuletzt, damit diese

„den rauchigen Atem der Menge“1732 nicht vergessen? Die anderen

Fähigkeitskreise unterliegen in der Demokratie trotz erheblicher ge- sellschaftspolitischer Rückwirkungen eigenen Auswahl-Kriterien, die sie erfüllen oder nicht. Eliteformung im öffentlichen Raum aber kann nur darin bestehen, dass die Politik-Konsumenten ihre Verantwort- lichkeit neu entdeckten und die richtige Auswahl treffen. Sie setzt zu- dem die Einsicht darin voraus, dass „in der Politik nur derjenige et- was zu suchen hat, dessen Hauptmotiv der demokratische Gestal- tungswille ist“1733. Beides käme einer Quadratur des Kreises gleich, worauf zu Beginn des Jahrhunderts Ostrogorski1734 ausgesprochen skeptisch wie auf eine „gigantische Aufgabe“ verwiesen hatte: „Die

Bürger müssen erneut in die Macht über die Gesamtheit eingesetzt werden; diese wiederum hat sich um Gemeinwohlziele zu kümmern.

Die Trennung von Politik und Gesellschaft muss ein Ende haben, e- benso wie die Distanz zwischen Politik und Moral. Die allgemein Indif- ferenz sollte einem hellen und wachsamen Gemeingeist weichen. Das

öffentliche Bewusstsein hat von jenen Formalismen entlastet zu wer- den, die es politisch beengen. Wähler und Führungskräfte folgen wie- der dem Sachverstand, nicht aber jenen Leerformeln, die stattdessen die Szene beherrschen. Charakterstärke und Intelligenz, mithin wirk- liche Führungsqualitäten, denen es im politischen Alltag den Atem verschlägt, müssen zurück ans Ruder der Republik. Und Freiheit und

Autorität, momentan von denen mit Beschlag belegt, die im Namen

1732 William Shakespeare: Troilus and Cressida (1603), Vorwort, 29. 1733 So Bundespräsident Roman Herzog, zit. Westfälische Nachrichten vom 14. 10. 1998, o.S. 1734 Democracy (Anm. 348), Band 2, S. 599 f. 588

von Demokratie und Gemeinwohl nichts als Parteipolitik betreiben, haben im politischen Raum rehabilitiert zu werden.“ 589

14 Risiko - und die Rolle der Eliten „Für alle Zeiten bleiben Staatsräson und Wirtschafträson verschie- den“1735

Phasen raschen Wandels, die laut allgemeiner Wahrnehmung zuneh- mend (wieder) nicht-linear ablaufen, weil die Handlungskomplexe im- mer unvorhersehbarer geraten, sind Zeiten allgemeiner Beunruhigung.

Da sich anti-moderne Haltungen als Flucht in das Gewohnte im Wett- streit der Standorte verbieten, frönt eine zwischen Erwartung und

Sorge schwankende Mitwelt dem Katastrophenschauder à la Titanic oder Armageddon. Heliogabalus, das Gefahren verkörpernde Untier wird in Form von Kometen, Außerirdischen, Seuchen etc. wieder und immer wieder besiegt, im Film jedenfalls. Pessimismus ist eher die

Regel als die Ausnahme, Heils-Sekten haben Konjunktur, um vom

Ausstieg in Drogen etc. als Erlösung von allerlei Überforderungen zu schweigen. Der freudige Wirtschaftsoptimismus der Angelsachsen wirkt hektisch und aufgesetzt, setzt zudem auf „ökonomische Pseu- dowissenschaftlichkeit“ (Etzioni), selbst private Chancen sehen sich von anomisierenden oder ökologischen Schatten verdüstert, nach uns die Sintflut. So werden in Wort und Bild neben alten auch neue End- zeitvorstellungen gepflegt, wobei deren politische Formverwandlung, etwa als Populismus, marginal geblieben ist, bislang jedenfalls. Nicht etwa, weil mit dem Gemeinwesen der traditionelle Hauptadressat öf- fentlicher Sorgen noch Beruhigung abstrahlt, indem er frei nach „Der

Zweck des Staats ist Sicherheit und Schutz der Rechte aller“1736 funktionierte; vielmehr traut man der Verwaltung öffentlicher Angele- genheiten kaum etwas zu, nicht nur nichts Utopisches1737, auch nicht

1735 Heller: Staatslehre (Anm. 521), S. 214. 1736 Ludwig. H. Jakob: Antimachiavel, oder über die Grenzen des bürgerli- chen Gehorsams, Halle: Rengersche Buchhandlung 1794, S. 16. 1737 Etwa anzustreben, was Thomas More als Elitenpflicht aller Politik auf dem Deckblatt seiner Staatsphantasie ankündigte: De optimo rei publicae statu, deque nova Utopia (1516), Basel 1517. 590

mehr die Abarbeitung auftauchender Schrecken, Belästigungen, Kon- trastbilder oder Widerspruchspotentiale.1738 Die Medien bereiten die gängigen Ängste in Form gepflegter Abwehrphantasien so auf, dass der letzte Vorhang nicht fallen muss, ohnedies ist die Beschreibung

( ≠ Beobachtung) zur eigentlichen Ideologie der Gegenwart geraten.

Wodurch solch visueller Beschwörungszauber zum Ersatz gerät für eine Real-Prävention mit der Absicht, „die innere Ruhe zu wahren", wie es vielversprechend in der Präambel der US-Verfassung von 1787 hieß. Diese Leistung wird von den regierenden Eliten nirgendwo mehr angestrebt, weder als Asozialitätsschutz vor Ort, noch wenigstens als weltinnenpolitische Konkretion der Unsicherheiten. Nirgends wird trotz schönster Parlandi1739 ersichtlich, ob, wann oder wie, mit

Shakespeare (Heinrich IV) zu sprechen, tatsächlich „aus des Nessels

Gefahr/die Blume der Sicherheit" gepflückt werden könnte.

„Die Zukunft ist ein Abgrund (...) Nicht das schwärzeste Chaos ist mit dem zu vergleichen, was unserem bedauernswerten Menschenge- schlecht bevorsteht.“ Der chinesische Mandarin Kao-tai, den der

Schriftsteller Herbert Rosendorfer1740 aus dem 10. Jahrhundert mit- tels Zeitmaschine in die Gegenwart versetzt, klagt nicht nur über die

Fremdheit seiner neuen Umgebung. Auch die Kälte quält ihn, obschon

Sommer herrscht in München, wo er sich wiederfindet und das in sei- nen Ohren wie Min-chén klingt. Rosendorfer nutzt die Verfremdung zur ironischen Beleuchtung der Jetztzeit. Das Erschrecken der Ver- gangenheit vor der Gegenwart ist indes mit der Furcht zu vergleichen,

1738 Nur 13 Prozent der Bundesbürger billigten laut Infratest dem Staat die alleinige Gestaltungsrolle zu (vgl. Frankfurter Rundschau vom 16. 1. 1988, S. 4), von einem Regierungswechsel gar erwarteten sich fast 70 % der Deutschen (Westfälische Nachrichten vom 15. 1. 1998, S. 1) keine echten Änderungen, Impulse oder gar Rücvkwirkungen auf ihre Lebenswelt. 1739 Stellvertretend Rick Foster (Vizepräsident der Kellogg Foundation): Leadership in the 21st Century: Working to Build a Civil Society, National Civic Revue, Band 89/1 (2000), S. 87 ff. 1740 Briefe in die chinesische Vergangenheit (1983), München: dtv, 7 1988, S. 7. 591

die die jeweilige Jetztzeit vor ihrer Zukunft hegt(e).1741 Fühlt sie sich doch wie heute entweder durch Verschlechterungen aller Art bedroht, bangt im Strudel unübersehbarer Umbrüche um das Überkommene o- der vertraut etablierten Vorsorgeformen nicht länger, weil es den für die Gestaltung des öffentlichen Raums - um dabei zu bleiben - instal- lierten Entscheidungsträgern samt institutionellen Rahmenwerken und

Funktionsleistungen (Artikulation, Zielfindung, Mobilisierung, Prob- lemlösung, Elitenrekrutierung etc.) offensichtlich an Niveau (i.e. Ak- zeptanz) mangelt. Das aber kann wiederum eine primäre Quelle für

Beunruhigungen darstellen, hält man sich den Problemlösungs- und

Entscheidungsbedarf in Zeiten großflächiger Umformungen vor Augen.

Unwägbarkeiten

Risiko!, lautet ein Leitbegriff der Gegenwart, fast schon ein Epitaph auf deren Ungegenständlichkeit. Risiko ist nicht nur ein Reizwort der

Arbeitswelt, in der das Tempo der Umstellung von Produktionsformen die Qualifikationen ganzer Generationen überholt und damit ihre Ver- sorgung gefährdet. „In einer hochdynamischen Lage ändert sich der wirtschaftliche Organismus zwar rapide“, sucht eine Wirtschaftsexper- tise1742 ihre Mitwelt zu beschwichtigen, „aber bleibt zu jedem Zeit- punkt des Wandels relativ nahe am Zustand eines statischen Mo- dells“. Wie tröstlich, wenn fast siebzig Prozent der Wahlberechtigten laut Infratest1743 ihre Lage für schlechter als zuvor halten. Auch im

Privatbereich stehen überlieferte Modelle der Biographieplanung auf

1741 Jedenfalls seit ‚die’ Zukunft im heutigen Sinne als Thema ‚entdeckt’ wurde, vgl. Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt am Main: Fischer 1999. 1742 Vgl. J. M. Clark: Studies in the Economics of Overhead Costs, Chica- go: UP 1923, S. 196. 1743 Zit. Einblick Nr. 17 (1998), S. 6. 592

Abruf, sei es durch den Schwund familiarer Verlässlichkeit, den Ver- lust an glaubwürdigen Mustern der Orientierung oder die dromokrati- sche Schrumpfung etablierter Tätigkeitsfelder und ihrer Wissensbe- stände.

Was Wunder, dass sich die Sozialwissenschaften in die laufenden Ri- sikodebatten1744 eingeschaltet haben, wenn sie diese nicht gar gene- rieren, gleichsam als Verunsicherer aus Prinzip, wie Heinrich von

Treitschke es schon 1859 kommen sah. Risiko galt als „durch ge- wöhnliche Vorsichtsmaßregeln nicht abzuwendende Gefahr des Miß- lingens“1745, wobei sich verschiedene Handlungsfelder unterschiedli- cher Gruppen (Arbeiter, Soldaten, Unternehmer etc.) als nach gesell- schaftlicher Übereinkunft besonders gefährdet rubriziert sahen. Diese würden

1744 In der Soziologie wurde sie durch Beck (1986) ausgelöst, der die sozi- ale Klassiker-Dimensionierung dieses Themas um eine ökologische und selbst-reflexive Perspektive erweiterte. Dabei geht es nicht zuletzt um das Verhältnis der gesellschaftlichen Produktion von Umwelt- und Technik- Risiken und deren gesellschaftliche Konstruktion und Verarbeitung. Zum anderen bleibt die Beurteilung risiko-realistischer beziehungsweise risiko- konstruktivistischer Annahmen relevant, um die ebenso heikle wie provo- kante Frage beantworten zu können: Sind Umweltrisiken tatsächlich ge- wachsen, oder nur die Angst vor ihnen? Wichtig scheint in diesem Kontext theoriepolitisch zudem eine Verortung der Tätigkeit der Soziologie auf dem Felde gesellschaftlicher Auseinandersetzungen über Risiken, um die Risi- kostruktur der intellektuellen Verarbeitung von Risiko-Annahmen einzu- grenzen. Zur Debatte steht die richtige Stellung, womöglich abduktive Be- antwortung der Frage, ob, und wenn ja, in welchem Ausmaß, die durchge- arbeiteten gnoseologischen Positionen in Form soziologischer Wissen- schaftsmodelle selbst als Risiko/Chance zu betrachten seien bei der/für die schwierige/dringliche Aufgabe, jene durch die Gesellschaft erzeugten und auf sie zurückfallenden (etwa) Technik-Risiken ❶ nicht nur adäquat (Sichtverblendungen/Quelle/Ausmaß/Interessen etc.) wahrzunehmen, son- dern ❷ auch möglichst risiko-arm, also nach universalisierbaren Kriterien (Nützlichkeit/Schädlichkeit) in den Griff zu bekommen. Beide Operationen müssten noch dazu gelingen, ohne dass argumentations-logisch wiederum die gesellschaftlichen Chancen (Innovation)/Risiken (Destruktion = Evolu- tionschancenverluste etwa durch radikale Schrumpfung der Biodiversität etc.) von bewussten/unbewussten Risiken als Wahrnehmungsprobleme, Verständigungsfragen beziehungsweise bloße Interessenkonflikte unter- komplex, i.e. riskant, traktiert würden. 1745 Handwörterbuch der Volkswirtschaftslehre, Hrsg. H. Rentsch, Leipzig: Mayer 1866, S. 716. 593

a) wegen erhöhter Anreize (Chancen > Risiko), b) aus Ahnungslosigkeit (Unbildung, Ungewissheit ff. = Risikoblind-

heit) beziehungsweise c) in existentieller Alternativlosigkeit (unmittelbares Überlebensrisiko

> Risikogefahr) dennoch ausgeführt. Risiko und Wagnis sind verknüpft sind, konsta- tiert das autoritative „Versicherungs-Lexikon“ (1908)1746, indem sich der „uralte Versicherungsgedanke“ als Gegenseitigkeitsrelation1747 - wie korrespondierend die Zinshöhe - in Relation gesetzt sieht zur un- planbaren (Zeit) und/oder geplanten Ungewissheit, etwa für unbere- chenbare, da nicht normale Unternehmungen.1748 Die Versicherung gilt entsprechend „als typisches Dokument des Fortschritts der Kul- tur“, weil selbst zweckrationales Regelverhalten mit Unwägbarkeiten aller Art konfrontiert wird. Es setzt ja sein Gegenteil (Chaos) auch in

Form der „Übernahme eines Zufalls-Risikos“ (Weber) nicht nur vor- aus, sondern kann es sogar fördern, ohne im Normalfall doch eine Al- ternative (Nichtstun) zu haben. Schon dieser Risikobegrifflichkeit fehlte mithin weder die Selbstbezüglichkeit noch die soziale Dimensi- on. Ein Blick in das Grundlagenwerk von Frank Knight (Anm. 895) weist vielmehr nicht nur auf die Wahrscheinlichkeitstiefe, sondern auch auf die Variationsbreite einkalkulierter Risikolagen samt Durch- dringung der kommunikativen Aprioris aller Risiko-Analytik hin. Nicht einmal die Erkenntnis ist neu, dass man es bei Risikodefinitionen mit

Interpretamenten zu tun hat, deren Relevanz, Farbe oder Trägerschaft wechseln können, so dass ihre Gestalt, Dringlichkeit oder auch Ve-

1746 Hrsg. Alfred Manes, Berlin: Mittler ³1924, S. 591 f. 1747 So Ferdinand Tönnies: Das Versicherungswesen in soziologischer Be- trachtung, Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, Jahr- gang 1917, S. 603. 1748 Als Bändigung des Ungeformten, Chaotischen durch Bewusstsein und Wille, Vgl. A. Liebert: Das Problem der Versicherung im Lichte der Philo- sophie, Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, Jahrgang 1924, S. 73. 594

rallgemeinerungs- und damit Akzeptanzchancen unabdingbar auch das

Ergebnis sozialer Bedeutungskämpfe um Aufmerksamkeit, Beachtung oder Identität darstell(t)en. Im Kontext der Umpolung von Transzendenz auf Immanenz, Wahrheit auf Meinung, Autorität auf Zustimmung, Moral auf Fairness oder Man- gel auf Ansprüche ... geriet das Risiko-Aufkommen zum Unruheboden der Neuzeit. Er bildete nicht zuletzt die historische Ursache für die

Nachfrage nach Sozial- als Reflexionswissenschaften. Alle industrie- weltlichen Zustände waren angemessen nur als jeweils vorläufig zu verstehen, in denen zudem unablässig Diskurse miteinander um Vor- rang mit Blick auf flüchtige beziehungsweise experimentelle Muster,

Werte, Methoden oder Deutungen zur Stabilisierung des Widersprüch- lichen streiten.1749 Riskant und damit zu eng wirkte dieser Risikobeg- riff1750 erst zu dem Zeitpunkt, als er im Kontingenzkontext der als Ge- fahr wahrgenommenen technologische Überlastungen der Natur einer

öffentlichen Dramatisierung und vor allem Bedeutungs-Ausweitung un- terlag. Schlug doch jene Interdependenz sozialtheoretisch und kom- munikativ als Makro-Risiko durch, wonach in Natur und Gesellschaft die sichtbare und die unsichtbare Hand letztlich identisch sind. Oder anders ausgedrückt: Die strapazierende Dialektik von Natur (Gefahr) und Gesellschaft (Risiko) als entfesselter Stoffwechsel löste die Ei- genheit der Ersteren auf, wodurch sich Gesellschaft (nun als Gefahr) unabweisbar naturalisierte, indem Natur unversehens selbst zum Risi- ko geriet.1751

1749 Vgl. zum Gesamtkomplex Lothar Wass: Max Weber und die Folgen. Die Krise der Moderne und der moralisch-politische Dualismus des 20. Jahr- hunderts, Frankfurt am Main/New York: Campus 1995. 1750 Der frei nach „operari/cogitari sequitur esse“ durchgängig dualistisch gestimmt blieb. 1751 Diese Risikowahrnehmung fand Anschluss an die Erfahrung, dass die scheinbar ‚externe‘ Umwelt längst Teil eines allgemeinen Vernutzungs- Verhängnisses war, weil jenes utilitär-pragmatische ‚Macht euch die Erde untertan!‘ nicht nur durch deren ‚Beherrschung‘ zur Rundum-Abhängigkeit der Gesellschaft von der Natur, sondern dieser selbst zur Vollauslieferung 595

Die nicht zuletzt durch Katastrophen induzierte Risiko-Kommunikation

(Gefahrenaufkommen + Folgeabschätzung) etwa im techniksoziologi- schen Feld entdeckte Ahnungslosigkeit über riskante Voraussetzun- gen ihrer eigenen Risikoproduktion und -kontrolle (frei nach: Wirt- schaft = Verwandlung von Rohstoff in Müll) überraschend als finales

Risiko. Zum anderen gerierte sich in diesem Zusammenhang das Risi- ko nachhaltig „als eine philosophische Kategorie“, wie François E- wald1752 dargelegt hat. Dadurch wurde frei nach „leicht beieinander wohnen die Gedanken“ (Schiller) das Gesellschaftliche nicht nur vom

Physisch-Naturalen entbunden, so als ob das Soziale seine Voraus- setzungen nach Bedarf ausdeuten oder formen könnte, während sich in Wahrheit doch „im Raume hart die Sachen stoßen“. Zwar ist die

Gestaltung des Sozialen in den Grenzen der Ideologien ‚frei‘, aber immer behaftet mit dem Risiko, am Nichtverfügbaren zu scheitern.

Zudem sieht sich ein Gesellschaftsverständnis vertreten, das Soziales als Soziales nur in Form kommunizierter Wahrnehmungswirklichkeiten anerkennt, handfeste Tatbestände wie etwa die Verteilung des gesell- schaftlichen Reichtums also nur als psychische (Zerr)Spiegelungen zulässt. In dem Maße also, wie Gefahr historisch zum Risiko defatali- siert wurde, nicht zuletzt durch Integrationsmechanismen, die die Ge- sellschaftswissenschaften erfanden, wurden soziologische Vorstellun- gen zu Vorfragen nach dem Wahrheitscharakter des Risiko-

Aufkommens verformt.1753

an eine technisierte Markt-Gesellschaft geführt hatte: Folglich an eine Re- algesellschaft der Renditesteuerung, also ohne öko- beziehungsweise anthropozentrische, mithin schonende, weil begrenzende Grenzen vernut- zender Interaktion. 1752 Der Vorsorgestaat, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 483. 1753 Neben einer Skizzierung der Debatten-Positionen im neu-alten Streit um die Subjekt-Objekt-Problematik, bliebe sich mit im (nicht nur technik- soziologischen) Risiko-Feld vorherrschenden Ansätzen (social-problems- studies; cultural theory, new ecological paradigm etc.) zu beschäftigen, um zwischen Risiko-Konstruktivismus und Öko-Realismus einen gangbaren Weg zu finden. Darauf aufbauend wäre der historisch-kulturelle bezie- hungsweise sozialtheoretische Konstrukt- und Produktcharakter von Risi- 596

„Wirkliche Tatsachen“ (Gehlen) verflüchtigten sich zur transponiblen

Kunstsprache, deren syntaktische Regeln - etwa im Einflussbereich der Systemtheorie - ohne semantische Zuordnungen auszukommen scheinen, so dass ‚Probleme‘ dort ‚gelöst‘ werden, wo sie nicht auf- tauchen. Der „unübersehbare Aufschwung der Risikodiskussion“, fass- te Wolfgang Bonß1754 zusammen, „hat nicht unbedingt zu einer Präzi- sierung der Begriffe geführt; stattdessen sind kategoriale Verwirrun- gen zu konstatieren“. Mehr noch, es findet eine postmoderne Refata- lisierung des Risikos zur Gefahr statt. Durch Abdrängung der Realität, indem diese zum Pflegeprodukt konstruktivistischer Vorbehalte gegen eben diese Wirklichkeit wird, verdächtigt sich die Sorge um ‚das Au-

ßen‘ als Denkverstoß, wenn nicht gar als Ideologie; oder aber die Un- entscheidbarkeit, ob es tatsächlich (z.B. ökologische) Drohungen jen- seits kommunikativer Interaktionen gibt, verpflichtet zur wissenschaft- lichen ebenso wie zur korrektiven Passivität.1755

Unabhängig von der Auflösung erkenntnistheoretischer Vorfragen nach dem Realitätsgehalt solcher Bedrohungen lassen sich theore- tisch wie handlungsrational daraus Abwehrstrategien festhalten, die laut Günter Ropohl1756 „jenen Mängeln entgegenwirken (sollen), die

ken vor dem Hintergrund sozialer Sicherheitsidiome/- modelle zu untersu- chen, wobei solche Überlegungen in die Frage münden, ob sich Risiko als zentraler Aspekt einer zeitgemäßen Gesellschaftstheorie verwenden lässt, die sich selbst in die Tradition einer Gegenwartsdignostik“ einfügt, folglich als „Realwissenschaft“ ihre reflexionswissenschaftlichen Impulse wenigs- tens soweit bändigen kann, damit sich etwa „Risiko-Konstruktivismus und Risiko-Objektivismus“ (Metzner) bei der Risiko-Abschätzung und Gefahren- bekämpfung nicht wechselseitig blockieren? 1754 Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, Hamburg: Hamburger Edition 1995, S. 29. 1755 Mit der fatalen Folge, dass die gesellschaftlichen Realakteure bezie- hungsweise Agentien als Interessen oder Sachzwänge beim Stoffwechsel von Natur und Kultur, also als sozialer Metabolismus, unbeobachtet und unbehelligt weitermachen bei/mit der Limitierung, Unifizierung, Depravie- rung dessen, worauf somatisch alle Reflexion angewiesen ist, selbst wenn sie meinen sollte, zu ihrem Geschäft keinerlei Erfahrung oder Realia zu bedürfen. 1756 Technikbewertung als gesellschaftlicher Lernprozeß, in ders./Hans Lenk (Hrsg.): Technik und Ethik, Stuttgart: Reclam 1993, S. 260 f. 597

den Technisierungsprozeß angesichts der Sektoralisierung der Mo- derne belasten, indem sie (...) die begrenzte Rationalität ausdifferen- zierter Sektoren in eine ganzheitliche Vernunft zurückholt“. Bei- spielsweise wäre von einer reaktiven auf präventive Technikbewer- tung umzuschalten, ohne gleich vom Nullrisiko zu träumen. Oder mit

Ulrich Beck1757 wäre die Technik aus ihrer ökonomischen Fremdbe- stimmung heraus zu lösen, wodurch das Leitprinzip der Wirtschaft- lichkeit durch das der Selbstkritik, Alternativität beziehungsweise des

Zweifels ersetzt werden könnte.1758

1757 Die Erfindung des Politischen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 183 ff. 1758 Das Risiko einer Risikosoziologie, die sich über Leistungen zur Bewäl- tigung der Risikoproblematik der Moderne nicht klar werden kann, weil sie vor allem über die Unsicherheit von Erkenntnischancen debattieren möch- te, wäre mehrperspektivisch durchzudeklinieren, wobei sich ideologiekri- tisch etwa risikopermissive Ansätze (vgl. Mary Douglas/Aaron Wildavsky: Risk and Culture – An Essay on the Selection of Technological and Envi- ronmental Dangers (1982), Berkeley u.a.: California UP ²1988) in den Um- kreis neoliberaler Hegemonialansprüche (> Epistemologie) rücken lassen, mit denen selbstläufige Prozesse wie das Marktgeschehen als ‚normal‘, wenn nicht gar ‚natürlich‘ immunisierbar scheinen: Selbst dann, wenn sie bedrohliche Nebenfolgen anhäufen. 598

Irritationen

Deutungsprobleme der Intelligenzeliten hin oder her, allenthalben sieht sich Mut zum Risiko beschworen, der inzwischen auch aus bio- graphischer Perspektive dringlich scheint, die vorgebliche Beständig- keit der ‚guten alten Zeit’ ist lange dahin. In dem Durcheinander einer unaufhörlichen Weitermodernisierung der Moderne beziehungsweise

Auflösung gesicherter Formen der Daseinsbewältigung fehlen trotz warnender Hinweise darauf, dass die „Deregulierung stets reguliert sein sollte..., sonst gibt es eine Explosion“1759, neue Orientierungs- angebote, denn Wohlstand allein fördert weder die Sozialmoral noch republikanische Einstellungen oder gar Konformismus, ganz im Ge- genteil. Aber auch transindividuelle Zugehörigkeitsmuster als Binde- kräfte der Sozialwelt1760 wirken wie ausgetrocknet. Sie müssten mit- samt Pluralismus-geübter Verhaltensweisen erst neu belebt werden, nicht zuletzt durch elitäre Exemplarik statt als Patronagefunktion.

Erst dadurch würden sie womöglich ihrer Privilegierung doppelt ge- recht: Nämlich die Zustimmung der Mehrheit zu finden und diese zugleich im Sinne des öffentlichen Wohls (goal attainment) so zu ver- treten, dass Übereinstimmungen und Divergenzen nicht unnötig pola- risiert werden. Ansonsten werden demokratische Formen des Füh- rungsanspruchs womöglich in Zukunft ebenso archaisch wirken wie die Arroganz des Adels etwa gegenüber den Bestimmungs-Ansprüchen von Rendite, Zins oder Profit seit der Produktionsmoderne. Doch wie krisensicher wären Einstellungen oder Institutionen, die nicht auf

1759 So mit Mark Wössner der damalige Vorstandsvorsitzender der Ber- telsmann AG, zit. Daniel Burstein: Weltmacht Europa, München: Heyne 1991, S. 220. 1760 Nicht zuletzt auch deswegen, weil mit Panajotis Kondylis (Der Nieder- gang der bürgerlichen Denk- und Lebensformen, Weinheim: VHC, 1991) zu beklagen sei, wobei sich Ursache und Wirkung dieser Verlustbilanz in der „massendemokratischen Postmoderne“ vermengen. 599

wandlungselatischen Regeln fußen, die keiner mehr zu kennen scheint. Am wenigstens jene Funktionseliten, die sich - wie Dr. Faust dem Mephistopheles - jenem allfälligen Wandel überantworten, um ja den Anschluss im transnationalen Netzwerk nicht zu verlieren. Gibt es ein Elitezugehörigkeits-Ansehen auf dem heutigen Weltmarkt der Ei- telkeiten, der jener allfälligen Erreichbarkeitslogik unterliegt, die Nik- las Luhmann vorformuliert hat? Traditionelle Sozialformen verlieren

Halt angesichts der Mobilität, die durch Kommunikation und Wissen entsteht und als Globalisierung das Gewohnte von der Nachbarschaft bis zum Nationalstaat hintergeht, was in der kollektiven Befindlichkeit psychodramatische Folgen hat.

Der Zeitgeist wirkt - je nachdem - dekadent, hilflos oder abgestumpft, hat er doch mit allzuviel Reibungen und Verunsicherungen gleichzei- tig zu tun. Mit Krisen zudem, die durch die mediale Vernetzung der

Welt näher rücken und für jedermann beängstigend spürbar werden, selbst wenn sie sich „hinten, weit in der Türkey“ (Goethe) abspielen.

Man denke an die ökologische Zuspitzung. Der Globus scheint zurück zu schlagen mit einander sich ablösenden Wetterkatastrophen, Gottes

Finger droht durch das Ozonloch. Zudem wirkt die verkabelte Welt- wirtschaftslage trotz zugespitzter Reichstumsproduktion immer unzu- verlässiger.1761 Riesige der Finanzströme vagabundieren als virtuel- les Geld durch die Börsen und folgen eher neurotischen Pendelaus- schlägen als berechenbaren Formeln: Eine Woge verläuft und lässt sich nicht dirigieren. Auch Anzeichen für das Versagen der Politik im

Weltmaßstab mehren sich, nicht zuletzt durch das Zurückweichen alt- europäischer Vorstellungen wie Solidarität, Repräsentation oder Legi-

1761 Etwa durch den ebenso jähen wie tiefen Absturz einer ganzen Markt- zone in Asien nach 1997, die als vorbildliches Zentrum der Entwicklungs- dynamik hochgelobt worden war, haben sich alle Experten blamiert. 600

timation vor einer Ökonomie im Akzeptanzrausch1762. Der Eindruck stellt sich ein, die Erde werde zunehmend unregierbar, von „kluger

Politik“ (Czempiel) keine Rede, die berufenen Eliten führen nicht, sie laufen der Problemfülle hinterher - oder bilden sie sogar selbst. Das

Ziel tonangebender Wirtschaftskreise, so schon Schmoller1763 nüch- tern, ist erklärterweise Gewinn, „nicht die bestmögliche Bedienung der Gesellschaft“. Das ist in der ‚neuen Ökonomie‘ nicht anders, wo- bei das Internet zudem Kontrollchancen der Unternehmen gegenüber den Belegschaft beziehungsweise ihren Umfeldern verstärken wird.

Während früher hochgerüstete Länder das zentrale Ordnungsdilemma der Zwischenstaatlichkeit bildeten, kann zukünftig gerade deren Zu- rücktreten zugunsten von Weltkonzernen zur Garantielosigkeit führen.

Auch im universalen Maßstab bedeutet „die Essenz des vollkommenen

Wettbewerbs“, ohnehin eine Schimäre, mit George J. Stigler1764 aber keineswegs „die äußerste Streuung der Macht“. Die Ausbreitung transnationaler Wirtschaftsunternehmen zeigt zudem als Einflussku- mulierung (> Staat) eine Kehrseite. Außerdem ist ein Anwachsen in- ternationaler Mafiastrukturen und Terrorinszenierungen zu verzeich- nen. ‚Organisierte Kriminalität’ unterspült die Macht der öffentlichen

Hände; ihre Bekämpfung kann der freiheitlichen Ordnung ins Gehege geraten1765. Niedergang beginnt allemal, wenn und wo sich Recht und

Ordnung als Vorbedingung von Zivilisation aufzulösen beginnen und

1762 Vorbereitet durch eine intellektuelle/ideologische Kehre (Neoliberalis- mus), die wie schon früher die Lehren von Ricardo, Cournot, Walras oder Menger die Sozialbeziehungen nicht unberührt lassen. „Dies zeigt“, kom- mentierte Helmut Arndt (Wirtschaftliche Macht. Tatsachen und Theorien, München: Beck 1974, S. 155), „daß es nicht nur ökonomische Macht, son- dern auch eine Macht der Ökonomen gibt.“ 1763 Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre (Anm. 496), Teil 2, S. 40. 1764 Competition, in: International Encyclopedia of Social Science, Band 3 (New York 1968), S. 181 f., hier S. 181. 1765 Vgl. Dagobert Lindlau: Freiheit und innere Sicherheit, Akademie- Report (Tutzingen), Nr. 2 (1999), S. 12. 601

sich von der Spitze her Hilflosigkeit ausbreitet oder aber Kumpanei.

Die Eliten können/wollen indes an diesem Elend oder Missmanage- ment nichts ändern1766,

- an dem sie profitieren und das sie daher zu erhalten suchen

- dem sie nicht gewachsen sind

- das sie nicht interessiert, weil ihre Loyalitäten in Richtung Hoch-

entwicklung orientiert sind

- das die politischen Führungskräfte nur verwalten, nicht aber be-

herrschen etc.

Nicht nur Afrika oder Mittelamerika versinken im wirtschaftlichen Tief und/oder im sozialen Durcheinander, man kann sich die jeweiligen

Gründe aus obiger Liste aussuchen; auch Russland als größtes Land der Erde steht vor dem Abgrund, die Folgen für die mehr oder weniger hilflose Mitwelt wirken unabsehbar, für die Bürger dieser Unruhezo- nen sind sie katastrophal.

Angesichts des Überangebotes an Umbrüchen, Gefahren und Unter- gangsvisionen1767 lassen sich Einzeldebakel höchstens noch als Hin- tergrundrauschen ausmachen.1768 Doch massenpsychologische Be- wusstseinstrübungen sind nicht auszuschließen, die westliche Eupho- rie mit Blick auf wirtschaftliche (e- oder M-commerce etc.) oder tech- nische (genetic screening u.a.m.) Neuerungen aller Art jedenfalls mu- tet naiv an oder forciert, weil sie unter der Fortschrittslosung einsei-

1766 Lautet etwa das Resümee von Carlyle Guerra, Präsident der Paname- rikanischen Gesundheitsorganisation (OPS), mit Blick auf fast eine Millio- nen Tote (Unterernährung/Vergiftung durch verseuchtes Was- ser/Katastrophen/Epidemien etc.) allein in Lateinamerika im Jahr als Folge der allgemeinen Vernachlässigung beispielsweise der Infrastrukturbedin- gungen in der Gesamtregion, zit. Frankfurter Rundschau vom 12. 10. 1991, S. 6. 1767 Die Paul Kennedy in einem Weltbestseller popularisiert hat: The Rise and Fall of Great Powers, London: Fontana, 1989. 1768 Uns geht es wie Altmeister Goethe, der am Tag (6. August 1806), an dem das ehrwürdige, wiewohl verstaubte Deutsche Reich unterging, sich mehr über einen unverschämten Kutscher erregte als über das politische Zentralereignis. 602

tig auf Ertrag starrt und etwa gesellschaftliche und ökologische Fol- gekosten ignoriert.1769 Ängstliche und düstere Prognosen siedelten schon immer im Windschatten tiefgreifender Umbrüche, der apokalyp- tische Horizont glüht dann, wie Gerhard Marcel Martin1770 kommen- tierte. Morgendämmerung? Abenddämmerung? Das belegt das Auf und

Ab historischer Stimmungslagen, erinnert sei an die aus Furcht und

Hoffnung gemischte, mithin verwirrte Mentalität der Epoche vor dem ersten Millenium. Oder an den verbreiteten Lebensekel um 1900, der dazu führte, dass man in Europa den Ausbruch des Ersten Weltkriegs wie eine Erlösung aus tiefer Niedergeschlagenheit erlebte, die natio- nalstaatlichen Eliten vorne weg. Auch die neue Lust an Schauerlichem unterstreicht ein tiefes Unbehagen, wiewohl jedenfalls in hiesigen

Breiten auf hohem Versorgungsniveau. Außerdem ist diese Stimmung eher unter Intellektuellen1771 verbreitet denn in Elitekreisen, die we- niger einer Katerstimmung frönen als vielmehr versuchen, angeblich im Namen ihrer Führungsaufgaben den windfall profits der Technore- volutionen nachzuhecheln.

1769 Um nur die unabsehbare Arbeitsplatzstreichungs-Potenz des e- business anzuführen, das den gesamten Beschäftigungsbereich zwischen Produktion/Verkauf und Kauf verdampft, vgl. Carl Mortished: How the In- ternet is playing the lead role in death of a salesman, Times vom 7. 4. 2000, S. 25. 1770 Weltuntergang: Gefahr und Sinn apokalyptischer Visionen, Stuttgart: Kreuz 1984. Auch G. E. Grimm u.a. (Hrsg.): Weltuntergangsvisionen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. 1771 Man denke bei der Literatur in Katerstimmung an Autoren wie Claus Koch (Die Gier des Marktes, München: Hanser 1995), Christian Schütze (Das Grundgesetz vom Niedergang, München: Hanser 1989), Arnulf Baring (Scheitert Deutschland?, München: Knaur 1998) oder Christian Graf Kro- ckow (Der deutsche Niedergang, Stuttgart: DVA 1998), um von Meinhard Miegels al fresco gehaltenem Mängelbericht (Ders./Stefanie Wahl: Das En- de des Individualismus, Bonn: Aktuell 1993) zu schweigen, der einer an- geblich dem Genuss frönenden Mitwelt bescheinigt: „Die Kultur des Wes- tens zerstört sich selbst“. Oder rufen wir uns den internationalen Erfolg von Samuel Huntingtons Traktat über den ‚Kampf der Kulturen’ (Anm. 148) ins Gedächtnis, eine grau in grau getönte Warnung vor etwaigen Friedens- illusionen auf der Bühne einer globalen Politik in spe. Zusammenfassend Manfred Jakubowski-Tiessen u.a. (Hrsg.): Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis 20. Jahrhundert, Göttingen: Van- denhoeck & Ruprecht 1999. 603

Einspruch

Nicht so sehr Zivilisationskritik ist en vogue, die ihren Ruch als rück- wärts gerichtete Schwärmerei verdient, nimmt man die KIagen eines

Werner Sombart über den Verlust der Dienstmagd-Idylle seiner Ju- gend als typisch für dieses Genre. Dennoch steht bei allen Spekulati- onen über die Zukunft der Zukunft in einer Art von (Ver)lust-Bilanz zumindest zur Debatte, ob der Fortschritt als „Bergweg der Höherent- wicklung“ (Werfel) in toto die Skala des Glücks der Bürger bezie- hungsweise die Chancen der Menschheit erhöht? Seine unzähligen

Errungenschaften werden nicht in Frage gestellt, etwa medizinische

Durchbrüche, die Anti-Baby-Pille oder die Massenmedialisierung, die nicht allein die „Freizügigkeit“ der Zeitgenossen fördert, sondern ihre

Informationsmöglichkeiten und damit das allgemeine Freizügigkeits- budget. Dennoch gibt es eine Reihe von Entwicklungstendenzen, die die Öffentlichkeit beunruhigen. Nicht nur werden die menschlichen

Handlungpotenzen immer tiefgreifender, man denke an die Gentech- nologie, so dass Folgeketten vollends unübersehbar geraten; zudem ist kein Steuerungsprinzip dieser Schubwelle erkenntlich, etwa bio- morphe (Evolution) oder gar ethische Kriterien. Die laufende Um- schöpfung von Gesellschaft und Natur hat das bisherige Evolutions- prinzip (fitness), dem sich immerhin der Aufstieg der Gattung ver- dankt, abgelöst durch das dominante Agens marktwirtschaftlicher

Entwicklungen. Mithin durch jene „seelenlose Kommerzialisierung“

(Heilbroner), die alles atemlos vorantreibt, so dass die Gattung laut

WWF die Umwelt zweier Planeten benötigte, und doch nichts gelten lässt als profitability.

• Wertelite - wo bleibt sie in dieser Risikolage, um davor zu warnen, dass Mitmenschlichkeit, Natur und Gesellschaft kein Geschäft 604

sind, sondern Sphären eigener Geltung, die im Fokus reiner Nut-

zenaspekte unweigerlich Schaden nehmen?

• Funktionseliten - was tun sie, um die Fragilität von Lebenswelt, Umwelt und Sozialwelt vor Rendite-Verschmutzungen zu schützen?

• Politische Klasse - welche Leistungen zeigt sie, damit Politik als berufenes Artikulations-, Aushandel- und Austragungsmedium

menschlicher Vergesellungsbedürfnisse nicht unter die Räder öko-

nomischer oder anderer illegitimer Machtaspekte gerät?

Besonders beunruhigend im allgemeinen Modernisierungstaumel1772 wirken zwei Faktoren, nachdem die Atomangst abgeklungen scheint.

Zum einen die Tendenz zur Artifizialisierung, die nicht nur die Haupt- rolle der Medien als Kaleidoskop betrifft, das sich zwischen Welt und

Bewusstsein schiebt, sondern vor allem die unaufhaltbare Substituti- on von Nahrung, jenem letzten, doch zugleich ursprünglichen Nabel zu ‚Mutter Natur‘, um von Gesundheitsrisiken nicht zu reden. Zum an- deren zieht der mit der wissenschaftsgesellschaftlichen Innovations- rate verbundene Technisierungsschub einen radikalen Nutzenverlust menschlicher Kompetenzen und damit Wertreserven nach sich, trotz schönster Verfassungsformulierungen des Gegenteils. Nicht nur, weil

1772 Dessen Neuerungsdruck durchgängig Sorgen auslöst, wie eine reich- haltige Umkehrliteratur belegt. Man lese nach bei Franz Wuketits (Naturka- tastrophe Mensch, Düsseldorf: Patmos 1998)‚ wonach einzig „Devolution“ bleibt, wie schon Murray Bookchin (Die Ökologie der Freiheit, Wein- heim/Basel: Beltz 1985) vertreten hat, Entwicklung retour also: Immer we- niger, kleiner, sparsamer, die Menschheit am Ende ihres Höhenfluges? Das mag panisch klingen, ebenso wie die Negativbilanz von Jonathan Weiner (Die nächsten 100 Jahre, München: Bertelsmann 1990), hier lässt sich das Gruseln lernen. Sorgen begleiteten die Hochentwicklung von Anfang an, sie wurden immer schwieriger zu beheben, seit die beklagte Innovationsra- te der Wissenschaftsgesellschaft als einzige Beseitigungschance ihrer ei- genen Schadensfolgen zugleich unumkehrbar geworden ist. Schwarzmale- rei will indessen wachrütteln, weswegen sich seit der Klarstellung durch Rolf Peter Sieferle (Fortschrittsfeinde?, München: Beck 1984) traditions- gebundene Autoren als empfindsame Beobachter geschichtlicher Fehlver- läufe verzeichnet sehen. Wohingegen fortschrittstrunkene Autoren öfter als betriebsblinde Sternengucker durchschaut werden, wohingegen jener leidi- ge Streit der Risikobegriffe zwischen Realisten und Konstruktivisten heiß aber leer laufen. 605

sie in der laufenden Rationalisierungswelle zur Abflachung der o- verheads massenhaft überflüssig werden; auch nicht allein, weil ihre

Gepflogenheiten und Umwelten zunehmend wie überständig aussehen.

Vielmehr wirkt der bisherige Wissens- und Fertigkeiten-Träger vis à vis seiner technischen Vollendungen selbst inzwischen störend, wenn nicht überflüssig, nicht nur in Gestalt des Piloten, Fließbandarbeiters oder Bahnangestellten. Als fatales Patzer-Wesen ist er allerwege höchst fehleranfällig, kostet zuviel Unterhalt und stellt ein irgendwie nicht mehr ganz adäquates Evolutionsergebnis dar. Ist er reif zur Ge- neralüberholung, wie es die Bemühungen um eine Robotronisierung verrraten?

Trotz der therapeutischen etc. Standards, kultureller Überangebote oder verteilungspolitischer Streuwirkungen wirk(t)en Fortschritt und

Entwicklung doppelbödig, zuweilen gar illusionär, mäßigen keines- wegs jene „sinnlose Unendlichkeit des Weltgeschehens“, die Max We- ber beklagte. Umwälzungen überkommener Lebens-Kreisläufe bargen nicht nur Wohltaten, Hand in Hand mit ihnen gingen allerlei Plagen.

Der Tausch des Alten gegen Neues entpuppt(e) sich als eine Art von

Schlemilschem Kuhhandel. Materielle oder zivilisatorische Zulagen sehen sich bezahlt mit Umweltverschleiß, Stress, Bindungsverlust,

Entwurzelung, Verdinglichung „zur bloßen Funktion einer ökonomi- schen Größe“ (Horkheimer). Mit jenem Bündel an Belästigungen also, das seit Rousseau die Betroffenheit der Zivilisationsskeptiker schürt.

Um von jener durch Max Weber1773 beschriebenen und beklagten

1773 „Niemand weiß noch“, so Weber (Protestantische Ethik [Anm. 730], S. 188 f.), „wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird, und ob am Ende die- ser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wie- dergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber - wenn keins von beiden – ‚chinesische‘ Versteinerung, durch eine Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die ‚letzten Menschen' dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: ‚Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben". 606

Entmündigung der Neuzeit durch Tendenzen zur Verwissenschaftli- chung und Verregelung in einem „stahlharten Gehäuse“ zu schweigen, die erklären hilft, weswegen gleichermaßen Eliten wie Bevölkerung sich mehr oder weniger widerstandslos in das Modernisierungsge- schick füg(t)en, sieht man von einigen fundamentalistischen Anläufen zur Gegenwehr ab, die ihrerseits nicht selten vom Regen in die Traufe führten. Die Erweiterung biographischer wie konsumtiver Wahlmög- lichkeiten führte Überforderungen für die Menschen im Gepäck, die zwar als Kollektiv mächtiger geworden sind, als ‚individualisierte‘

Wesen angesichts losgetretener Sachzwänge mit ihren jeweiligen

Mandarinaten jedoch zunehmend wie soziale Spielmasse in Raum und

Zeit wirken. Diese sieht sich in der räumlichen Dimension (z.B. Staa- ten) von den Eliten mit Blick auf Strukturierungsprobleme der Eigen- tumsordnung zwar repräsentiert, mehr schlecht als recht zumeist, nicht aber unter ökologischer Berücksichtigung der zeitlichen Dimen- sionalität. Bleibt zu fragen, ob solche Lage der Dinge der Menschheit eine Zukunft bietet, wenn sich u.a. elitäre Leistungen nicht zuletzt als neumodische „Basta-Politik“ kaum auf allfällige Überlebensfragen be- ziehen, sondern im Dienst eines auf das Ökonomische fixierten „Wett- bewerbsstaates“ (Hirsch) immer mehr jenem schon bei Pareto skiz- zierten „regimento di plutocrati demagogici“ (§ 2257) ähneln? Wo- durch sich der inzwischen ohnedies wie eigenläufig wirkende Stoff- wechsel zwischen Natur und Gesellschaft noch verstärkt sieht? Was die Qualität der Beziehungen zwischen Letzterer und ihren Bewusst- seinsträgern weiter beeinträchtigen wird. Blick voraus im Zorn

607

Nun waren und sind Vorhersagen dieser oder jener Einfärbung oft nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt werden.1774 Nicht deswe- gen, weil sie laut Jacob Burckhardt1775 wie das „freche ... Anticipie- ren eines Weltplans“ daherkommen. Vielmehr geht ihre Triftigkeit ge- gen Null, wenn sie im Wege unzureichender Daten, linearer Annah- men beziehungsweise konsequentionalistischer Unterstellungen mit der heißen Nadel gestrickt sind und folglich unterkomplex bleiben.

Die Treffsicherheit von Vorhersagen war immer fraglich, die Zukunft ist kein Fortsetzungsroman, allenfalls sind mehr oder weniger plau- sible Projektionen möglich. Und sie bleiben nötig, nicht unbedingt als

Futurologie, auf jeden Fall aber als Apogogik1776. Doch wer ist ihr

Adressat, wenn die ElitenD/F als die bestallten oder angemaßten Trä- ger der Gesamtverantwortung entweder im Sinne eines Verdachtes von Adam Smith (Anm. 1727, S. 475) nur an ihren Vorteil denken; o- der aber hingebungsvoll jenen Dynamiken frönen, die von einem puta- tivem Futurum her betrachtet gerade wie zentrale Gefährdungen für die Fundamente und das Bindegewebe des Zusammenlebens wirken?

Mal in dunkles, mal in rosiges Licht getaucht sagen Vorausblicke als

Alpträume oder Wunschbilder - durchgängig aber als reign of error - mehr aus über die Stimmung der jeweiligen Gegenwart als über denkbare Zustände im Kommenden. Gleichwohl vermögen sie etwa als

Prophetien den Ablauf der Geschichte zu beeinflussen. Sie können

1774 Wilbur Wright etwa, der amerikanische Flugpionier, war 1901 über- zeugt, die Menschen würden in den nächsten fünfzig Jahren nie und nim- mer die Lüfte erobern. Deutschland werde auf keinen Fall imstande sein, einen Krieg zu beginnen, kommentierte der englische Ex-Premier Lloyd George 1934 öffentlich die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Ber- lin. Joseph Schumpeter sah 1942 den Endsieg des Sozialismus voraus. Kaum treffsicherer erwies sich Lee de Forest, einer der Miterfinder des Radios, der 1967 entschieden betonte, dass der Mond nie betreten werden könne, welche Sprünge der wissenschaftliche Fortschritt hinfort auch ma- chen werde. 1775 Studium der Geschichte (Anm. 8), S. 170. 1776 Vgl. in diesem Sinne Pierre-André Taguieff: L’effacement de l’avenir, Paris: Galilée 2000. 608

Risiken abwehren, indem die Beschwörung der Bedrängnisse, die über der Nachwelt lasten, falls dieses oder jenes sich nicht ändert, die

Mitwelt zu Reformen veranlasst. Bestes Beispiel dafür ist die Karriere der Umweltbewegung, die sich als GegeneliteF etablierte und glei- chermaßen via Expertise und Protest zu Wort kommen konnte. Durch

Alptraum-Szenarien des ‚Club of Rome’, vor bald 30 Jahren ins Leben gerufen1777, stellt sie noch immer den mehr als mühsamen Versuch dar, das Schlimmste nicht eintreten zu lassen. Pessimismus war/ist in diesem Fall optimistisch gestimmt, indem frei nach ‚Wenn nicht ... dann!‘ vor Konsequenzen des Weiterwurstelns gewarnt wird; Risiko- szenarien beschwören laut Ulrich Beck1778 „eine Zukunft, die es zu verhindern gilt". Die Katastrophenlosung hofft auf Einkehr und glaubt zudem an den Triumph der Vernunft über Blödsinn oder Rendite. Ob zu Recht, wird sich erweisen müssen. Es gibt indessen geschichtlich einen ganz anderen Effekt warnender Prognostik, nämlich die der

Selbsteinschüchterung. Das geschieht leicht, wenn die Einschätzung der Entwicklung derart negativ ausfällt, dass sie zur sich selbst erfül- lenden Prophezeiung gerät.1779 Kulturpessimismus pur mündet so in politischen Untiefen. Laut Rainer Maria Rilke1780 hat jede „dumpfe

Umkehr der Welt solche Enterbte,/denen das Frühere nicht und noch nicht das Nächste gehört.“ Wenn die tatsächlich oder gefühlsmäßig

1777 Vgl. den letzten Bericht: E. U. von Weizsäcker/A. B. Lovins/L. H. Lvins: Faktor Vier. Doppelter Wohlstand – halbierter Verbrauch, München: Knaur 1997. 1778 Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 44. 1779 Man denke in diesem Zusammenhang an die Gesellschaftssicht der ‚Frankfurter Schule’ gegen Ende der 1920er Jahre (vgl. Frank Böckelmann: Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit, München: Makol 1971). Vor lauter Kritik an den Mängeln der politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Realverfassung im Lande, immer gemessen an einem utopischen Sollmuster, musste man am Ende durchleben, was man befürch- tete. Die Besserwisserei ließ im Hier und Heute keine Verteidigungspositi- onen für das Erträglichere im Schlechten gelten. 1780 Duineser Elegien (1912/1922), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 45. 609

Verunsicherten mit ihrer Weltsicht öffentlich Gehör finden, sieht sich durch das verbreitete Gefühl, einem Verhängnis beizuwohnen, Panik geschürt, die innergesellschaftliche Kurzschlüsse begünstigt, vor al- lem dann, wenn Eliten diese Optik teilen. Etwa mit Blick auf den

Schlingerkurs deutscher Politik hat der amerikanische Historiker Fritz

Stern1781 nachgewiesen, wie das verbreitete Unbehagen in wie an der

Moderne sich nicht etwa um Reformen bemühte, sondern Zustands- verwerfungen pflegte. Verfall und Abstieg riefen Schadenfreude her- vor, die Dinge sollten noch unerträglicher werden, damit sich alles wende, keineswegs nur jene „conventionellen Lügen der Kultur- menschheit“, die Max Nordau im Auge hatte. Doch wohin? Weltfremd- heit als Folge links-wie-rechts-utopisierender Gegenbilder zur be- schämenden Realität, wie sie bespielsweise in Nachfolge eines heik- len Nietzsche-Extremismus1782 üblich wurden, war Ausgangsmentali- tät einer radikalen Zustandsverwerfung, die ein ganzes Spektrum von letztlich unpolitischen, doch vulgärpolitisch sehr erfolgreichen Deka- denzbildern anregte. Im Umkehrschluss musste das Fallende zu Fall gebracht werden, das Schlechtere noch schlimmer werden, damit dann, endlich, die Nation, der Übermensch, das Natürliche oder auch der ‚Zukunftsstaat‘ triumphieren würde - und mit ihm das Neue oder

Andere, auf jeden Fall aber das Bessere, was immer.

Tradition

Ein Musterkoffer voller Niedergangsideen begleitet die Zivilisation seit ihren Anfängen. Schon Kassandra, die schöne, seherische Toch-

1781 Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern/Stuttgart/Wien: Scherz 1963. 1782 Vgl. B. H. F. Taureck: Nietzsche und der Faschismus. Eine Studie ü- ber Nietzsches politische Philosophie und ihre Folgen, Hamburg: Junius 1989. 610

ter des Trojerkönigs Priamos, warnte die Mitbürger vor der Zerstörung ihrer Stadt, vergeblich, wie wir wissen. Abstieg und Endzeit übten als historisches Ereignis oder Bedrohung der eigenen Epoche eine be- achtliche Faszination auf die Zeitläufte aus. „Die Verhältnisse bre- chen auseinander, der Kern kann sie nicht länger halten“1783. In die- sem Sinne trug die neuzeitliche Ideengeschichte als Resultat unun- terbrochener Umstellungskrisen einen umflorten Anstrich, den Paul

Verlaine1784 dichterisch akzentuierte: „Das Schicksal kennt keinen

Waffenstillstand,/Der Wurm ist in der Frucht,/das Erwachen im

Traum,/Und das Bedauern in der Liebe: So lautet des Gesetz“. Eintrü- bungen wie diese hatten vielerlei, nicht zuletzt anthropologische

Gründe. Die menschliche Lebenserfahrung, dem Lauf der Jahreszeiten analog durch die Abfolge von Lebensaltern geprägt, sah sich schon in der Antike auf das Geschick von Kulturen übertragen. Bereits der ar- kadische Geschichtsschreiber Polybios, gestorben 118 vor Christus, entwarf im sechsten Buch seiner ‚Historien’ das biographische Modell einer ewigen Auf- und Abbewegung der Geschichte. Von Tacitus bis

Ranke und darüber hinaus sollte es das Weltbild der Zeitläufte beein- flussen.1785 Trotz der zunächst christlichen, später cartesianischen

Behauptung, dass die Weltgeschichte als Entwicklung hin zu einer die ganze Menschheit umfassenden Ordnung zu verstehen sei, die später in Form strukturgenetischer Theorien eine Karriere machten, blieben mit Blick auf die Kalamitäten der jeweiligen Säkula durchaus Zweifel an solcher Gnadenwahl (Zivilisierung). Zu offensichtlich kannte der

Wandel zu allen Zeiten Gewinner und Verlierer, Schnellstarts und re- tardierende Dämonen, wobei die Sanspareils durchgängig Regie führ-

1783 William Butler Yeats: The Second Coming (1920), in: Selected Poetry, Hrsg. A. N. Jeffares, London: Macmillan 1990, S. 99. 1784 Nevermore (1866), in: Gedichte, Gerlingen: Lambert Schneider 5 1992, S. 56. 1785 Vgl. Robert A. Nisbet: Social Change and History. Aspects of the Wes- tern Theory of Development, London u.a.: Oxford UP 1969. 611

ten. Selbst wenn einzelne Herrschaftsfraktionen laut Pareto zu den

Abgefertigten großflächiger Umwälzungen zählten, die Elitenzirkulati- on hielt nie still. Es mochte verschiedene Anlässe für diese Wechsel geben, irgendwie verhinderte eine Art von „Kompensationsgesetz“

(Burckhardt), dass die Bäume in den Himmel wuchsen. Selbst Adam

Smith, Verfasser des Ursprungsbuchs der Fabrikära, vermutete be- reits, dass der Reichtum nicht alle Völker oder alle Bürger gleichzei- tig und vor allem unablässig beglücken könne; mehr noch, es müsse

Grenzen der Akkumulation geben, danach beginne der Rücklauf. Oder wie Henry Maine1786 diese Vermutung fatalistisch zuspitzte: Auch ge- sellschaftliche Aufbrüche, die positiv beginnen, erzeugen allemal un- vernünftige Zustände. Gottfried Benn hielt den Pessimismus zwar für einen „Strandkorb des Unproduktiven“. Aber der Optimismus als

„Grundstimmung des Westens“ (Bryce) erschien all jene Generatio- nen, welche durch eigene Erfahrungen zu Spezialisten von Abbrüchen oder Untergängen wurden, doch ziemlich gekünstelt. Sie hatten sich mit Krisen und Katastrophen herum zu schlagen, die in den Konzepten religiöser, geschichtlicher oder ideologischer Entwicklung nicht vor- kamen, welche zumeist goldene Horizonte ins Auge fassten bezie- hungsweise Gewissheiten versprachen. Beide Stimmungen halten sich historisch irgendwie die Waage, auch hier gibt es eine rätselhafte

Wechselwirkung zwischen Euphorie und Depression: Norbert Elias und Theodor W. Adorno teilen die gleichen Erfahrungen, ziehen aber unvereinbare Schlüsse. Auf und Ab

Blenden wir zum besseren Verständnis dieser Doppelbödigkeit zurück auf die neuzeitlichen Anfänge solcher Stimmungen. Der Kalender zeigt den 11. Dezember 1750, eine illustre Gesellschaft versammelt

1786 Ancient Law (1861), London/New York: Dent & Dutton 1917, S. 11. 612

sich an diesem Donnerstag-Vormittag in der theologischen Fakultät der Pariser Universität. Festredner der jährlichen Abschluss-Sitzung ist der junge Abbé Jacques Turgot, und es wird ein symbolisches Er- eignis. Auf Latein bietet der Prior der Sorbonne im Beisein von Kardi- nal Rochefoucauld „Einen Entwurf über die unablässigen Fortschritte des menschlichen Geistes“.1787 Er erhält viel Beifall von den anwe- senden Eliteträgern für sein Hohelied auf den Fortschritt, wiewohl

Gott sich eher beiläufig in die Sozialentwicklung verbannt sieht. Was dem Vortragenden nicht angekreidet wird, die Zeiten sind experimen- tellem Denken wohl gesonnen. Der Mut der Aufklärung war ungebro- chen, in Deutschland wurden im gleichen Jahr die Hexenprozesse verboten und wenige Monate später erschien der erste Band der ‚En- cyclopédie‘, Modewerk aller Vernunftgläubigen. Turgot schied kurz darauf aus dem Kirchendienst aus, seine Schriftauslegung war doch zu kühn, er ging stattdessen in die Politik. Als Finanzminister ver- suchte er Jahre später, das Land durch Reformen an Haupt und Glie- dern zu sanieren, was bekanntlich scheiterte, weil die Alteliten jegli- chen Wandel als Untergang ihrer Privilegien fürchteten wie die Pest.

Aber noch schien alles eitel Sonnenschein, der Zeitgeist hielt an der

Ansicht fest, durch Erklärung und Belehrung allein das irdische

Durcheinander in vernünftigere Bahnen lenken zu können, was der

Marquis de Condorcet später noch einmal als definitives Vorwärtsge- setz zusammenfassen sollte. Die Zukunft stand schönen Erwartungen offen, Aufstieg lautete die Parole, trübe Weltbilder waren weniger ge- fragt.

Das sollte sich ändern, das Pendel schlug zurück. Man schrieb inzwi- schen das Jahr 1764, Mozart vollendete in England im Alter von acht

Jahren seine ersten Symphonien, während Voltaire in Paris ein „Phi- losophisches Wörterbuch“ veröffentlichte, das Positionen jener „phi-

1787 Écrits économiques, Paris: Calmann-Lévy 1970, S. 39 ff. 613

losophischen Partei“ zusammen fasst, die Elisabeth Badinter1788 aus

Elite-Aspirationen der bürgerlichen Intelligenz destilliert hat. Es war als Taschenfassung der Aufklärung gedacht, klärte noch einmal deren

Grundbegriffe, wurde in Genf gar als aufrührerisches Machwerk ver- brannt, wiewohl der bekannteste Kopf seiner Zeit längst Zweifel am

Fortschrittsvertrauen seiner Epoche hegte. Doch zur bangen Rücker- innerung an die Vergänglichkeit aller Dinge und Zustände kam es erst durch die Karriere eines neuen Geschichtsbildes, das eher ein unver- mutetes Nebenprodukt der seinerzeitigen Vernunfthoffnung war.

Am 15. Oktober dieses Jahres 1764 - so erzählt Edward Gibbon in seinem Tagebuch - saß er als junger Mann in Nachdenken versunken auf den Trümmern des Kapitols in Rom, während Mönche im ehemali- gen Tempel des Jupiter die Vesper sangen. Der Kontrast zwischen der einstigen Macht und Herrlichkeit dieser weltbeherrschenden Stadt und ihren verbliebenen Resten erschütterte den englischen Privatgelehr- ten derart, dass er beschloss, das allfällige Vergänglichkeitsgeschick am Beispiel Roms darzustellen. 1787, mehr als zwanzig Jahre später, lag der letzte Band seines ‚The Decline and Fall of the Roman Empi- re‘ der Öffentlichkeit vor, es war ein Welterfolg geworden. Der Titel stand hinfort für düstere historische Assoziationen, wenngleich Gib- bon ebenso wie Montesquieu1789 noch gemeint hatte, über eine Dra- maturgie des Abgangs zu berichten, die den modernen Fortschritts- raum selbst gar nicht betraf. Doch der assoziative Beigeschmack sei- nes Buches überdeckte diese Absicht, und in einem seit der Französi- schen Revolution erschütterten Geistesklima sollte sein Thema in ein anderes Fahrwasser geraten, nicht nur der Historismus wärmte daran seine Skepsis. Diesmal sah sich der Verfall als Realprophetie ver-

1788 Les passions intellectuelles, Band 1: Désirs de gloire, Paris: Fayard 1999, S. 365 ff. 1789 Größe und Niedergang Roms (1734), Hrsg. Lothar Schuckert, Frankfurt am Main: Fischer 1980. 614

standen, die gerade auch auf Hochentwicklungen gemünzt war. Das war eine bange Sichtweise, in ihr klang auch das endgültige „Verlas- sen des Paradieses der Archetypen und der Wiederholungen“ (Eliade,

S. 131) nach. Sie sollte die Moderne wie ein Schatten nicht mehr los- lassen, trotz - oder gerade wegen - aller technischen und sozialen

Errungenschaften.1790

Das Eintauchen in die Sprache des Absinkens, oft der Verzweiflung, begann gleich mit der Romantik als Antwort auf das „Satanswe- sen“1791 der Aufklärung, die für die vorerst wiederetablierten Ord- nungseliten an allem Schuld war. Die Etappen der Ausbreitung und zugleich Vervielfältigung einer Mystik der Degeneration erreichten mit

Max Nordau1792 auf der Ebene der Populärkultur einen biologistischen

Beigeschmack. Längst verlief die Debatte von Arthur Schopenhauer

über Eduard von Hartmann bis zu Oswald Spengler abgelöst von einer

Ursachensuche für das Kultur- oder auch Staatsversagen vergangener

Tage. Schon Giovanni Piranesis1793 graphische Ruinenschwärmerei oder Constantin-François de Volneys1794 melancholische Aufbereitung der Überbleibsel historischer Monumentalität hatten beim Publikum einen derartigen Anklang gefunden, dass die Frage nach den Gründen beziehungsweise deren Übertragbarkeit auf spätere Gegebenheiten in den Hintergrund trat. Man kann von einem „Triumph des Kulturpes-

1790 Der amerikanische Historiker Arthur Herman (Propheten des Nieder- gangs. [Anm. 74) beschäftigt sich ausführlich mit den Ursachen und Fol- gen, die Befürchtungen der Dekadenz als Ausdruck der Resignation oder auch des Zornes auf die Zivilisation anrichteten. Solche Fehlwahrnehmun- gen nahmen zuweilen Ausmaße eines populären Nihilismus an, nicht zu- letzt in Deutschland. 1791 Heinrich Leo: Lana caprina, in: Evangelische Kirchenzeitung vom 17. 10. 1840, S. 667. 1792 Mit seinem Weltbestseller ‚Entartung’, Berlin: Duncker & Humblot, 2 Bde., 1892/1893. 1793 Vgl. Roseline Bacou: Piranesi, Berlin: Rembrandt Verlag 1975. 1794 Les ruines ou méditations sur les révolutions des empires (1791), Pa- ris: o. V. ²1798. In dieser Stimmung noch Louis Revelière: De la vanité des institutions fondées par le sophisme. Mélanges pour faire suite aux ruines de la monarchie française, Paris: Lecoffre 1880. 615

sismus“ (Herman) sprechen, der mit dem Verblassen der Aufklärung und der Infragestellung des wissenschaftlichen Fortschrittsglaubens in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts anhob und nicht zuletzt die führenden Kreise in ihren Bann zog, die sich ihrerseits durch Gegeneliten und den allgemeinen Innovationsdruck (Zivilisation

> Kultur; Intellekt > Geist; Mode > Herkommen oder auch Gesellschaft

> Gemeinschaft) bedroht wähnten. Über verschiedene Ausprägungen - vom historischen Niedergangsglauben über rassische Dekadenzthesen bis zu unterschiedlichen Spielarten des Kulturpessimismus - bleibt dieser Unterton der Moderne bis in die Gegenwart hinein zu hören.

Denn wiewohl Kommunikation und Marktwirtschaft pur nach dem Weg- fall der sowjetischen Machtkonkurrenz die Oberhand gewannen, schält sich eine heikle Dialektik der Modernisierung1795 heraus. Da- nach scheint gerade die überwältigende Innovativität das politisch

Unkontrollierbare, mit Blick auf den erreichten Stand ökologischer

Beschädigungen wahrscheinlich sogar Verhängnisvolle einer bloß ge- winnrationalen Entwicklungsdynamik zu begünstigen und zu beschleu- nigen1796, der sich die Eliten als berufene Repräsentanten der Zu- kunftsbewahrung dennoch nicht entziehen zu können glaub(t)en.

In der Risikolage, die im Übergang zwischen dem Industriezeitalter und einer „kaum erkennbaren und unzulänglich als nachindustriell be- zeichneten Ära“ (Chaunu) die Mitwelt überschattet, selbst wenn sie frei nach ‚Ich verbrauche, also bin ich‘ nichts davon wissen möch-

1795 Weniger generelle Folge eines „faustischen Paktes mit der Wissen- schaft“, den Joseph Weizenbaum (zit. Frankfurter Rundschau vom 4. 9. 1984, S. 1) „aufzukündigen" rät, als vielmehr Ergebnis einer Zwangsehe der Wissenschaften mit dem Kapital. 1796 Hermans (Anm. 74) Ausführungen über den radikalen Ökopessimismus von heute unterstreichen diese Vermutung, indessen seine optimistische Gegenthese (S. 461), die Menschen müssten nur das Interesse an der Ver- nunft pflegen, um der Düsternis zu entgehen, mit Blick auf die Umweltprob- leme und Sozialhärten, die sich allenthalben abzeichnen, nicht recht über- zeugen. 616

te1797, geht es weniger darum, dass der Erde ab 2004 der Kaviar aus- gehen wird, was nur das Aussterben einer weiteren Tierart signali- siert, die Biodiversität scheint ohnedies ebenso verloren wie die Kul- turvielfalt. Oder dass Bruce Willis den Planeten vor Fürchterlichkeiten aller Art retten muss, wenn auch im Kino. Die Zukunft holt uns ein, apokalyptische Reiter hin oder amerikanische Helden her. Aber eine

Globalisierung ohne Maß und das weltweite Wiederaufflammen natio- naler und fundamentalistischer Neukonflikte sind Anzeichen, die laut

Erwin Chargaff dringend nach einer ‚Kritik der Zukunft‘ (Stuttgart:

Klett-Cotta 1983) verlangen, trotz der scheinbaren „Unangreifbarkeit der Zivilisationsgefährdung“ (Beck). Die Gegner der einen Dynamik, der Kulturabschottung, hatten mit der zähmenden Wirkung der ande- ren gerechnet. Tribalistische Ab- und Ausschließungstendenzen soll- ten durch die kleiner und sich vor allem ähnlicher werdende Welt der

Waren ausbalanciert werden - oder war es umgekehrt gedacht? Laut

Benjamin Barber1798 könnten im „Spannungsfeld zwischen babyloni- schem Chaos und Disneyland“ Demokratie und Freiheit leicht zerrie- ben werden.

„Solange Herren und Diener, Arme und Reiche existieren“, postulierte

Sylvain Maréchal1799 im Überschwang republikanischer Hoffnungen mit elitekritischem Blick auf die politische Neuzeit, „kann es keine

Freiheit, keine Gleichheit geben". Was ist daraus geworden? Nicht nur Fundamentalismen als Art, auch Märkte, gerade wenn sie sich im

Namen der Rendite dereguliert sehen, sind keineswegs selbstläufig auf dem Weg zu realer Demokratie oder mehr Chancengleichheit. Bei- de haben mit etablierten Sozialverfassungen eo ipso nicht viel im

Sinn; sie hemmen ihre eigenen Vorstellungen beziehungsweise Reali-

1797 Vgl. François Brune: De la soumission dans les têtes, Le Monde Diplomatique 4 (2000), S. 26. 1798 Coca Cola und Heiliger Krieg, Bern u.a.: Scherz 1996. 1799 Correctif à la Révolution, Paris 1793, S. 307. 617

sierungszwänge eher. Alle politischen Muster, deren Entscheidungen anderen als den eigenen Kriterien folgen könnten, sind ihnen ein Dorn im Auge, ElitenF gar sind bloßes Schmuckwerk. Beide Dynamiken zei- gen sich daher prinzipiell gleichgültig gegenüber dem Allgemeinwohl, der Verantwortlichkeit und dem Parlamentarismus. Was zu dramati- schen Spannungen zwischen den Eliten des öffentlichen Raumes und extrapolitischen Führungskräften führen müsste, wenn - ja wenn - die legitime Volksvertretung im Namen eines Gesamtwohls1800 auftreten würde. Stattdessen schaut die politische Klasse zu, allenthalben, of- fensichtlich eingeschüchtert, wie ‚ihr‘ Zuständigkeitsbereich als Sub- system unter anderen am Gängelband wirtschaftlicher, transnationa- ler, technologischer etc. Interessenkoalitionen, Sachzwänge oder

Machtkonstellationen geführt wird. Als ‚Politik‘ finden sich zunehmend

Leistungen verstanden, die das Wirkungsfeld für außer-demokratische

Einflussfaktoren möglichst friktionsfrei gestalten, schon Jacques Ellul glaubte daher von einer „Politikillusion“ (Paris: Laffont 1965) spre- chen zu müssen.

Vorhersagen eines bei aller Warenvielfalt schwindenden Spielraums der Individuen, die Kritik an Sachzwängen globalisierter Märkte, das

Aufweisen der Umweltgefahren, solche Mahnungen zeugen schwerlich von Kulturpessimismus. Sie spiegeln vielmehr die Sorgen einer Epo- che, die sich vom Wetterleuchten der Wahrnehmungs- sowie Real- probleme überflutet sieht, für die kaum mehr, wenn überhaupt, einfa-

1800 Dessen modernen Implikationen von Jean Charles Sismondi, Jahrgang 1773, in seinen ‚Nouveaux principes d'économie Politique‘ (1819) [2 Bde, Paris: Delaunay ²1827, S. 63] auf den Begriff gebracht wurden: „L'associa- tion des hommes en corps politique n'a pu avoir lieu autrefois, et ne peut se maintenir encore aujourd'hui qu'en raison de l'avantage commun qu'ils retirent. Aucun droit n'a pu s'établir entre eux s'il n'est fondé sur cette confiance qu'ils se sont réciproquement accordée, comme tendant tous au même but. L'ordre subsiste, parce que l'immense majorité de ceux qui ap- partiennent au corps politique, voit dans l'ordre sa Securité; et le gouver- nement n'existe que pour procurer, au nom de tous, cet avantage commun que tous en attendent". 618

che Lösungen in Sicht wären. Vor allem fehlen Ansprechpartner, die als Wert- beziehungsweise Funktionseliten in Wirtschaft, Gesell- schaft, Kultur oder Politik mehr zu versuchen bereit oder imstande wären, als auf den Wellen jener Virtualisierung, Monetarisierung und

Hierarchisierung zu surfen, die mit der Epoche zu machen scheinen, was sie wollen. Durch Stimmungen allein sind derartige Prozesse e- benso wenig zu meistern wie durch Deklamationen, die gegen Bonifi- zierungen des Marktes ohnedies nicht ankommen. Möglich und nötig sind, wenn schon nicht gegen-, so doch alternativ-elitäre Analysen, um im Namen einer ihrer öffentlichen Herkunft (Delegation) wie mehr- heitlich erwünschten Zukunft (gedeihliches Überleben) gleichermaßen verpflichteten Politik der festen und vor allem solidarisch-gestimmten

Staatshand, die als potestas delegata funktionselitär wahrgenommen wird, um die multiplen Herausforderungen human-rational zu bewälti- gen. So wie die Dinge liegen, setzte das wissenschaftliche, populisti- sche, protestierende, kurz gegenelitäre Kritik voraus. Kritik an ka- kistokratischen Tendenzen einer bloßen Abwicklungsverwaltung als bürokratischem, partei-egoistischem oder subventionistischem self service. Das „Centrum der ganzen Regierungskunst“ wäre auch heute

- oder heute wieder – stattdessen in dem zu suchen/finden, was Jo- hann August Schlettwein1801 zu Beginn der Moderne seiner Frage nach Sinn und Zweck aller Staatsverwaltung und damit an die jeweils für das Geschick des Ganzen verantwortlichen ElitenF unterlegte:

„Wie muß die Verfassung des Staats seyn, damit ... die Menschen mit dem größtmöglichen Eifer geschäftig sind, die Masse der Produkte zu vervielfältigen, und zu ihrem Genusse gerechten Antheil daran zu nehmen?“

1801 Grundfeste der Staaten oder die Politische Ökonomie, Gießen: Kriege- rische Buchhandlung 1779, Vorrede. 619

Literatur

Achinger, Hans: Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, Reinbek: Ro- wohlt 1958 Ackermann, Eduard: Mit feinem Gehör. Vierzig Jahre Politik in Bonn, Bergisch Gladbach: Lübbe 1994 Acton, Lord: Historical Essays and Studies, Hrsg. J. N. Figgis/R. V. Laurence, London: Macmillan 1907 Adam, Barbara/Karlheinz A. Geißler/Martin Held (Hrsg.): Die Non- Stop-Gesellschaft. Vom Zeitmißbrauch zur Zeitkultur, Stuttgart: Hir- zel 1998 Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 4 Bde., Leipzig: Breitkopf ²1793/1801 Adler, Max: Fabrik und Zuchthaus. Eine sozialhistorische Untersu- chung, Leipzig: Oldenburg o.J. (1924) Adler, Victor: Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky sowie Briefe von und an Auer, Bernstein, Braun, Dietz, Liebknecht, Müller und Singer, Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1954 Adolf Weber: Übergangswirtschaft und Geldordnung, München: Pflaum 1946 Adorno, T. W.: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971 Ders.: Negative Dialektik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966 Agesta, Luis Sanchez: El pensamiento político del despotismo ilu- strado, Madrid: Instituto de Estudios Politicos 1953 Agnoli, Johannes/Peter Brückner: Die Transformation der Demokratie, Frankfurt am Main: EVA 1968 Alain: Minerve ou de la sagesse, Paris: Hartmann 1949 Ders.: Propos de politique, Paris: Rieder 1934 Alciatus, Andreas: Emblematum libellus, Darmstadt: WBG 1991 Alemann, Ulrich von u.a. (Hrsg.): Bürgergesellschaft und Gemeinwohl, Analyse. Diskussion. Praxis, Opladen: Leske + Budrich 1999 Algazi, Gadi: Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelal- ter, Frankfurt am Main/New York: Campus 1996 Alger, Dean: Megamedia: How Giant Corporations Dominate Mass Me- dia, Distort Competition, and Endanger Democracy, Lanham, MD: Rowman & Littlefield 1998 Allen, J. W.: A History of Political Thought in the Sixteenth Century, London/New York: Methuen/Barnes & Nobles 1964 Allgemeines Landrecht für den preußischen Staat, Hrsg. Ernst Pap- permann, Paderborn: Schöning 1972 620

Althaus, Johann: Politica methodicè digesta atque exemplis sacris & profanis illustrata, Herborn ³1614 Althoff, Gerd: Spielregeln der Politik im Mittelalter, Darmstadt: Primus 1997 Altvater, Elmar: Die Welt als Markt, in Florian Müller/Michael Müller (Hrsg.): Markt und Sinn. Dominiert der Markt die Werte?, Frankfurt am Main/New York: Campus 1996, S. 19 ff. Amiel, Olivier (Hrsg.): Lettres de la princesse Palatine, 1672 - 1722, Paris: Mercure de France 1999 Ammon, Alf: Eliten und Entscheidungen in Stadtgemeinden, Berlin: Duncker & Humblot 1967 Ancillon, Johann Peter Friedrich: Staatswissenschaft, Berlin: Duncker & Humblot 1820 Ders.: Tableau des révolutions du système politique de l’Europe, de- puis la fin du quinzième siècle, 9 Bde., Paris: Imprimerie rue de la Harpe 1806/1807 Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck 1968 Anderson, Digby (Hrsg.): The Loss of Virtue. Moral Confusion and So- cial Disorder in Britain and America, o. O.: Social Affairs Unit 1992 Anderson, Perry: Lineages of the Absolutist State, London: NBL 1975 Andreae, Clemens August: Übermacht der Ämter, Wirtschaftswoche Nr. 49 (1981), S. 58 ff. Angermann, Erich: Robert von Mohl (1799 – 1875). Leben und Werk eines altliberalen Staatsgelehrten, Neuwied: Luchterhand 1962 Anonym: Testament politique, Paris: Les marchands de nouveautés 1826 Ansart, Pierre: Les cliniciens des passions politiques, Paris: Seuil 1997 Apel, Hans: Der deutsche Parlamentarismus. Unreflektierte Bejahung der Demokratie?, Reinbek: Rowohlt 1958 Ders.: Die deformierte Demokratie, München: DVA 1993 Aquin, Thomas von: Über das Sein und das Wesen, Frankfurt am Main: Fischer 1959 Ders.: Über die Herrschaft der Fürsten, Stuttgart: Reclam 1990 Arendt, Hannah: Die ungarische Revolution und der totalitäre Imperia- lismus, München: Piper 1958 Dies.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt am Main: Europa Verlag 1958 Dies.: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München: Piper 1959 621

Arnd, Adolf: Die Rolle der Massenmedien in der Demokratie, Mün- chen/Berlin: Beck 1966 Arndt, Helmut: Wirtschaftliche Macht. Tatsachen und Theorien, Mün- chen: Beck 1974 Arnim, Hans Herbert von: ‚Der Staat sind wir!’. Politische Klasse ohne Kontrolle?, München: Knaur 1995 Ders.: Demokratie ohne Volk, München: Knaur 1993 Ders.: Der Staat als Beute. Wie Politiker in eigener Sache Gesetze machen, München: Knaur 1993 Ders.: Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, Mainz: Hase & Koehler 1991 Ders.: Staat ohne Diener. Was schert die Politiker das Wohl des Vol- kes?, München: Knaur 1993 Arnold, Gottfried: Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie, 2 Bde., Frankfurt am Main: Thomas Fritschens sel. Erben 1729 Arnold, Thurman W.: The Folklore of Capitalism, New Haven: Yale UP 1937 Aron, Raymond: L’opium pour des intellectuels, Paris: Calman-Lévy 1955 Arrow, K. J.: Social Choice and Individual Values, New York: Wiley ²1963 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, München: Beck 1992 Ders.: Herrschaft und Heil, München/Wien: Hanser 2000 Auclair, Marcelle: La vie de Jean Jaurès ou la France d’ avant 1914, Paris: Seuil 1954 Auden, Hartmut: Polizeipolitik in Europa, Opladen: WDV 1998 Augustinus: De civitate dei, Hrsg. Jose Moran, Madrid: Biblioteca de autores cristianos 1958 Avor, Patrick Poivre d’/Eric Zemmour: Les rats de garde, Paris: Stock 2000 Baader, Roland: Fauler Zauber. Schein und Wirklichkeit des Sozial- staates, Gräfeling: Resch 1997. Bachmann, Christian/Nicole le Guennec: Violences urbaines, Paris: Albin Michel 1999 Bachrach, Peter: Die Theorie der demokratischen Elitenherrschaft, Frankfurt am Main: EVA 1967 Ders./Morton S. Baratz: Macht und Armut, Frankfurt am Main: Suhr- kamp 1977 Backhaus, Klaus: Im Geschwindigkeitsrausch, Aus Parlament und Zeitgeschichte Nr. 31 (1999), S. 18 ff. Bacon, Francis: Essays, Hrsg. L. L. Schücking, Wiesbaden: Dieterich 1940 622

Bacou, Roseline: Piranesi, Berlin: Rembrandt Verlag 1975 Badinter, Elisabeth: Les passions intellectuelles, Band 1: Désirs de gloire, Paris: Fayard 1999 Baechler, Jean: Démocraties, Paris: Calmann-Lévy 1985 Bagehot, Walter: The English Constitution, London: Kegan, Trench, Trubner 1925 Baguernard, Jacques: La démocratie. Une utopie courtisée, Paris: el- lipses 1999 Bahrdt, Carl Friedrich: Handbuch der Moral für den Bürgerstand, Frankenthal: Hemmerde & Schwetschke ²1790 Bahrdt, Hans Paul: Braucht eine Demokratie eine Elite?, Loccumer Protokolle Nr. 15: Eliteförderung und Demokratie (1981), Rehburg- Loccum 1982, S. 1 ff. Bähtz, Dieter: Der ‚rothe’ Varnhagen. Tagebücher als politische Zeit- chronik, in Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther- Universität Halle, Jahrgang 27 (1978)/Heft 2, S. 79 ff. Bairoch, Paul: Mythes et paradoxes de l’ histoire économique, Paris: La Découverte 1995 Balandier, Georges: Anthropologie politique, Paris: PUF ²1969 Ballerstedt, Eike/Wolfgang Glatzer: Soziologischer Almanach, Frank- furt am Main/New York: Campus 1975 Bandura, Bernhard: Bedürfnisstruktur und politisches System, Stutt- gart u.a.: Kohlhammer 1972 Barante, Amable-Guillaume-Prosper Brugière Baron de: Des commu- nes et de l’aristocratie, Paris: Ladvocat 1821 Baratz, Morton S.: Corporate Giants and the Power Structure, The Western Political Quarterly 9 (1956), S. 406 ff. Barber, Benjamin: Coca Cola und Heiliger Krieg, Bern u.a.: Scherz 1996 Baring, Arnulf: Scheitert Deutschland?, München: Knaur 1998 Baritz, Lorenz: The Servants of Power, New York: Wiley 1965 Barker, Ernest: Reflection of Government, London: Oxford UP 1942 Barnes, Michael: Politics and Personality 1760 - 1827, Edin- burgh/London: Oliver & Boyd 1967 Barrat, David: Media Sociology, London/New York: Routledge 1990 Barry, Norman P.: On Classical Liberalism and Libertarianism, Lon- don: MacMillan 1986 Bastiat, Frédéric: Harmonies économiques, Paris: Guillaumin 8 1881 Ders.: Mélanges d’économie politique, 2 Bände, Brüssel: Meline, Cans et Cie 1851 Bastide, François-Régis: Saint-Simon, Paris: Seuil 1977 623

Bataille, Georges: La tragédie des Gilles de Rais, in ders. (Hrsg.): Procès de Gilles de Rais, Documents, Paris: Club du livre 1959 Baudelaire, Charles: Les fleurs du mal, Hrsg. Friedhelm Kemp, Mün- chen: dtv ²1987 Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz, Hamburg: Junius 1992 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moder- ne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986 Ders.: Die Erfindung des Politischen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 Ders.: Die Renaissance des Politischen, Gewerkschaftliche Monats- hefte Nr. 10 (1992), S. 596 ff. Becker, Gary S./Guity N. Becker: Die Ökonomik des Alltags, Tübin- gen: Mohr 1998 Beer, Max: Geschichte des Sozialismus in England, Stuttgart: Dietz 1913 Beik, Paul H.: The French Revolution Seen from the Right, in: Trans- actions of the American Philosophical Society, New Series, Band 46/Teil 1, New York: Howard Fertig 1970 Bellah, Robert N. u.a.: The Good Society, New York: Knopf 1991 Benda, Ernst: Industrielle Herrschaft und sozialer Staat, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1966 Benda, Julien: Der Verrat der Intellektuellen, Frankfurt am Main u.a.: Ullstein 1983 Bendix, Reinhard: Kings or People, Berkeley u.a.: UP California 1978 Benn, Gottfried: Sämtliche Gedichte, Stuttgart: Klett-Cotta ²1999 Bentham, Jeremy: Political Thought, Hrsg. Bhikhu Parekh, London: Croom Helm 1973 Berchem, Theodor: Eliteförderung und Demokratie, in Loccumer Pro- tokolle Nr. 15: Eliteförderung und Demokratie (1981), Rehburg- Loccum 1982, S. 67 ff. Berger, Peter: Invitation to Sociology. A Humanistic Perspektive, Harmondsworth: Penguin 1971 Berges, Wilhelm: Biographie und Autobiographie heute, in: Aus Theo- rie und Praxis der Geschichtswissenschaft, Festschrift für Hans Herzfeld zum 80. Geburtstag, Berlin/New York: Gruyter 1972, S. 27 ff. Bergsdorf, Wolfgang: Herrschaft und Sprache, Pfullingen: Neske 1983 Bergsträsser, Arnold: Das Wesen der poltischen Bildung, in: Schick- salsfragen der Gegenwart, Tübingen: Niemeyer 1959, Band 2, S. 103 ff. Berkeley, George: A New Theory of Vision and other Writings, Lon- don: Dent & Dutton 1934 624

Berking, Helmut u.a. (Hrsg.): Politikertypen in Europa, Frankfurt am Main: Fischer 1994 Berle, Adolph A.: Macht, Hamburg: Hoffmann & Campe 1973 Bernard, Maris: Lettre ouverte aux gourous de l’économie, Paris: Al- bin Michel 1999 Bernhard, Ludwig: Der Hugenberg-Konzern. Psychologie und Technik einer Großorganisation der Presse, Berlin: Springer 1928 Bernsdorf, Wilhelm (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie Stuttgart: Enke ²1969 Bernstein, Eduard: Dialektik und Entwicklung, Die Neue Zeit 17/2 (1898/1899), S. 327 ff.; 353 ff. Ders.: Die deutsche Revolution von 1918/19, Hrsg. H. A. Winkler, Bonn: Dietz 1998 Ders.: Die Menge und das Verbrechen, Die Neue Zeit 16/1 (1897/1898), S. 229 ff. Ders.: Die Voraussetzungen des Sozialismus und der Sozialdemokra- tie, zit. nach: Reinbek: Rowohlt 1969 Ders.: Ein revisionistisches Sozialismusbild. 3 Vorträge, Hrsg. Helmut Hirsch, Berlin/Bonn: Dietz 1976 Ders.: Sozialismus einst und jetzt, Berlin/Bonn: Dietz ³1975 Ders.: Vom Werden und Wirken des jungen Friedrich Engels, in: Ar- chiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1922, S. 212 ff. Ders.: Vom zweiten Kaiserreich bis zur dritten Republik, in Louis Héritier: Geschichte der Französischen Revolution von 1848, Stutt- gart: Dietz (1897), S. 693 ff. Ders.: Was ist Sozialismus?, Vortrag vom 28. 12. 1918 in Berlin, Ber- lin: Arbeitsgemeinschaft für staatsbürgerliche Bildung o.J. (1919) Beyme, Klaus von: Die politische Klasse im Parteienstaat. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 Bezold, Friedrich: Die Lehre von der Volkssouveränität während des Mittelalters, Historische Zeitschrift 36 (1876), S. 313 ff. Biedenkopf, K. H.: Auftrag und Ethos der CDU, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 32/33 (1976), S. 3 ff. Biernacki, Richard: The Fabrication of Labor. Berkeley u.a.: California UP 1995 Bierstedt, Robert: An Analysis of Social Power, Americal Sociological Review 15 (1950), S. 730 ff. Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen, 3 Bde., Stuttgart u.a.: Cotta 1898/1921 Blaisdell, Donald C.: Economic Power and Political Pressures, Mono- graph Nr. 26 of the ‚Investigation of Concentration of Economic 625

Power‘ by the Temporary National Economic Committee, Washing- ton: Government Printing Office 1941 Blanc, Louis: Pages d’ histoire de la Révolution du Février 1848, Brüssel: Meline & Cans 1850 Blanchard, Ken/Norman V. Peale: The Power of Ethical Management, New York: Fawcett Crest 1988 Blanqui, Auguste: Textes choisis, Hrsg. V. P. Volguine, Paris: Édi- tions sociales 1955 Bleicken, Jochen: Die athenische Demokratie, Paderborn u.a.: Schö- ningh 1986 Blickle, Peter: Deutsche Untertanen - ein Widerspruch, München: Beck 1981 Bloch, Marc: Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers, Stuttgart: Klett 1974 Block, Maurice: Petit dictionnaire politique et social, Paris: Perrin 1896 Bluhm, Harald: Eliten - Ideengeschichtliche Betrachtungen zu einem rhetorisch-politischen Begriff, in: Berliner Debate INITIAL, Zeit- schrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs 11 (2000)/1, S. 66 ff. Bluth, Siegfried: Die korrupte Republik, Esslingen: Fleischmann o.J. (1983) Bly, Robert: Die kindliche Gesellschaft, München: Kindler 1997 Bo, Dino Del: Die Krise der politischen Führungsschicht, Freiburg: Rombach 1966 Bobbio, Nobberto: Das Zeitalter der Menschenrechte, Berlin: Wagen- bach 1998 Bock, Petra/Edgar Wolfrum (Hrsg.): Umkämpfte Vergangenheit, Göt- tingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999 Böckelmann, Frank: Die schlechte Aufhebung der autoritären Persön- lichkeit, München: Makol 1971 Bodin, Jean: Sechs Bücher über den Staat, 2 Bde., Hrsg. P. C. Mayer- Tasch, München: Beck 1981 f. Bodin, Louis: Les intellectuels existent-ils?, Paris: Bayard 1997 Boétie, Étienne de la: Oeuvres politiques, Hrsg. François Hincker, Pa- ris: Éditions Sociales 1963 Böhret, Carl/Werner Jann/Eva Kronenwett: Innenpolitik und politische Theorie, Opladen: WDV 1988 Bolsenkötter, Heinz (Hrsg.): Ökonomie der Hochschule, 3 Bde., Ba- den-Baden: Nomos 1972 Boltanski, Luc: Die Führungskräfte. Die Entstehung einer sozialen Gruppe, Frankfurt am Main/New York: Campus 1990 626

Bolz, Norbert: Mediendemokratie, in Franz-Josef Jelich/Günter Schneider (Hrsg.): Orientieren und Gestalten in einer Welt der Um- brüche, Essen: Klartext 1999, S. 207 ff. Bonald, Louis de: Théorie du pouvoir politique et religieux, Paris: 10/18 1966 Böning, Eberhard: Begabtenförderung oder Elitenförderung? Gedan- ken zu einer falsch geführten Diskussion, Naturwissenschaften, Jg. 73 (1986), S. 700 ff. Bonn, Moritz Julius: Das Schicksal des deutschen Kapitalismus, Ber- lin: Fischer 5 1930 Ders.: Die Krisis der europäischen Demokratie, München: Meyer und Jessen 1925 Bonß, Wolfgang: Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, Hamburg: Hamburger Edition 1995 Bookchin, Murray: Die Ökologie der Freiheit, Weinheim/Basel: Beltz 1985 Borchert, Jens/Lutz Golsch: Die politische Klasse in westlichen De- mokratie, Politische Vierteljahresschrift, 36. Jg. (1995)/Heft 4, S. 609 ff. Borkenau, Franz: The Totalitarian Enemy, London: Faber 1940 Börne, Ludwig: Die Freiheit der Presse in Baiern (1818), Gesammelte Schriften, 1. Band, Hamburg/Frankfurt am Main: Hoffman & Cam- pe/Rütten & Löning 1862, S. 359 ff. Bottomore, T. B.: Elites and Society, Harmonsworth: Pelican 1964 Boublil, Alain: Keynes reviens! Ils sont devenus fous..., Paris: Rocher 1996 Boudon, Raymond/François Bourricaud: Soziologische Stichwörter, Opladen: WDV 1992 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftli- chen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 4 1987 Boventer, Hermann: Pressefreiheit ist nicht grenzenlos. Einführung in die Medienethik, Bonn: Bouvier 1989 Brady, Robert A.: Business as System of Power, New York: Columbia UP 1943 Braitberg, Jean-Moïse: Mais que font-ils de nos impôts?, Paris: Édi1ions 1999 Brams, S. J.: Measuring the concentration of power in political sys- tems, American Political Science Review 62 (1968), S. 461 ff. Brant, Sebastian: Das Narrenschiff, Stuttgart: Reclam 1964 Braud, Philippe: La démocratie, Paris: Seuil 1997 Braun, Lily: Memoiren einer Sozialistin, Kampfjahre, München: Lan- gen 1911 627

Bräuninger, Friedrich/Manfred Hasenbeck: Die Abzocker, Düsseldorf: Econ 1994 Bredemeier, Karsten: Medienpower. Erfolgreiche Kontakte mit Presse, Funk und Fernsehen, Zürich: Orell Füssli 1991 Bresser, Klaus: Was nun? Über Fernsehen, Moral und Journalisten, Hamburg: Luchterhand 1992 Brettschneider, Frank: Medien als Imagemacher?, media perspektiven 8 (1998), S. 392 ff. Breuer, Stefan: Gesellschaft des Verschwindens, Hamburg: Junius 1992 Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877 - 1897, Halle: Niemeyer 1923 Broermann, J./Philipp Herder-Dorneich (Hrsg.): Soziale Verantwor- tung. Festschrift für Goetz Briefs zum 80. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot 1968 Brown, Richard Harvey: Society as Text, Chicago: Chicago UP 1987 Brück, Gerhard W.: Allgemeine Sozialpolitik, Köln: Bund 1976 Bruder, Wolfgang: Sozialwissenschaften und Politikberatung, Opla- den: WDV 1980 Brüseke, Franz Josef: Chaos und Ordnung im Prozess der Industriali- sierung, Münster/Hamburg: LIT 1991 Bryce, James: Modern Democracies, New York: MacMillan 1921 Ders.: The Holy Roman Empire, London/New York: MacMillan 121894 Bubner, Rüdiger: Drei Studien zur politischen Philosophie, Heidel- berg: Winter 1999 Ders.: Wie wichtig ist das Subjekt?, in: Merkur Nr. 552 (1995), S. 229 ff. Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft, Tübingen: Laupp’sche 4 1904 Büchner, Ludwig: Darwinismus und Sozialismus. Der Kampf ums Da- sein und die moderne Gesellschaft, Leipzig: Günthers 1894 Bude, Heinz: Die ironische Nation. Soziologie als Zeitdiagnose, Ham- burg: Hamburger Edition 1999 Ders./Stephan Schleissing (Hrsg.): Junge Eliten. Stuttgart u.a.: Kohl- hammer 1997 Bukow, Wolf-Dieter/Markus Ottersbach (Hrsg.): Die Zivilgesellschaft in der Zerreißprobe, Opladen: Leske + Budrich 1999 Bunzel, John H.: Liberal Ideology and the Problem of Power, The Western Politcal Quarterly 13. Jg. (1960), S. 374 ff. Buonarroti, Philippe: Conspiration pour l’égalité dite de Babeuf, 2 Bde., Hrsg. Georges Lefebvre, Paris: Éditions sociales 1957 628

Burchardt, Rainer/Hans-Jürgen Schlamp (Hrsg.): Flick-Zeugen. Proto- kolle aus dem Untersuchungsausschuß, Reinbek: Rowohlt 1985 Burckhardt, Jacob: Über das Studium der Geschichte, Hrsg. Peter Ganz, München: Beck 1982 Burdeau, Georges: La politique au pays des merveilles, Paris: PUF 1979 Burghard, Waldemar u.a. (Hrsg.): Kriminalistik-Lexikon, Heidelberg: Kriminalistik Verlag ³1996 Burghardt, Anton: Einführung in die Allgemeine Soziologie, München: Vahlen 1972 Burke, Edmund: Reflections on the Revolution in France, London: Dodsley ²1790 Burke, Victor Lee: The Clash of Civilizations. War-Making and State Formation in Europe, Cambridge: Polity Press 1997 Bürklin, Wilhelm/Hilke Rebenstorf u.a.: Eliten in Deutschland. Rekru- tierung und Integration, Opladen: Leske + Budrich 1997 Burstein, Daniel: Weltmacht Europa, München: Heyne 1991 Caillois, Roger: Instincts et Société, Paris: Gouthier 1964 Calder, Kent E.: Strategic Capitalism, Princeton: Princeton UP 1993 Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch der Deutschen Sprache, 5 Bde., Braunschweig: Schulbuchhandlung 1807/1811 Camps, Victoria: Ética del buen gobernio, in Salvador Gi- ner/Sebastián Sarasa (Hrsg.): Buen gobierno y política social, Bar- celona: Ariel 1997, S. 19 ff. Cannac, Yves: Le juste pouvoir. Essai sur les deux chemins de la dé- mocratie, Paris: Lattès 1983 Carbonell, Charles-Olivier u.a.: Une histoire européenne de l’Europe, Paris: Édition Privat 1999 Carlyle, R. W. und A. J.: A History of Medeaeval Political Theory in the West, 6 Bde., Edinburgh/London: William Blackwood 1962 Carlyle, Thomas: On Hero, Hero-Worship and the Heroic in History, Hrsg. W. H. Hudson, London/New York: Dent & Dutton 1956 Carrier, James G./Daniel Miller (Hrsg.): Virtualism. A New Political Economy, Oxford: Berg 1998 Carroll, Lewis: Alice’s Adventures in Wonderland (1865), London: Puf- fin 1962 Cartwright, Dorwin (Hrsg.): Studies in Social Power, Ann Arbor, Michigan: Michigan UP 1959 Cassel, Dieter (Hrsg.): Fünfzig Jahre Soziale Marktwirtschaft, Stutt- gart: Lucius & Lucius 1998 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., Ox- ford: Bruno Cassirer ²1954 629

Castiglione, Baldassare: Il libro del cortegiano, Venedig 1528 Catlin, G. E. G.: Science and Method of Politics, New York: Knopf 1927 Chagnon, Napoleon: Die Yanomamö. Die grimmigen Leute, Berlin: Byblos 1994 Chargaff, Erwin: Kritik der Zukunft, Stuttgart: Klett-Cotta 1983 Charle, Christopher: Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Fischer 1997 Chartier, Roger: Die kulturellen Ursprünge der Französischen Revolu- tion, Frankfurt am Main/New York: Campus 1995 Chateaubriand, François-René: Mémoires d’ outre-tombe, Hrsg. Pierre Clarac, 3 Bände, Paris: Livre de poche 1998 Chaucer, Geoffrey: The Canterbury Tales, 3 Bde., München: Gold- mann 1989 Chesnais, Jean-Claude: Histoire de la violence, Paris: Laffont 1981 Chesterfield, P. H. S.: Briefe an seinen Sohn, Berlin: Deutsche Biblio- thek o.J. Chronik der deutschen Arbeiterbewegung, 3 Bde., Berlin: Dietz 1965 Cicero: De officiis, Hrsg. Karl Büchner, München/Zürich: Artmemis ³1987 Claessens, Dieter: Anthropologische Voraussetzungen einer Theorie der Sozialisation, Zeitschrift für Soziologie, 2. Jg. (1973), S. 145 ff. Ders.: Über gesellschaftlichen Druck, Angst und Furcht, in: Heinz Wiesbrock (Hrsg.): Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, Frankfurt am Main: EVA 1967, S. 135 ff. Clark, J. M.: Studies in the Economics of Overhead Costs, Chicago: UP 1923 Cobbett, William: Cottage Economy, London: Cobbett 1823 Coignard, Sophie/Alexandre Wickham: L’ omertà française, Paris: Al- bin Michel 1999 Collin, Rémy: Message social du savant, Paris: Albin Michel 1941 Comte, Auguste: Cours de philosophie positive, 6 Bde., Paris: Bache- lier 1830/1842 Ders.: Plan der wissenschaftlichen Arbeit, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind, München: Hanser 1973 Ders.: Soziologie, 3 Bände, Band 1, Jena: Fischer ²1923 Condorcet, Jean-Antoine-Nicolas de: Sur les élections et autres tex- tes, Paris: Fayard 1986 Constant, Benjamin de: Cours de politique constitutionelle, Hrsg. J. P. Pagès, Brüssel: Haumann 3 1837 Ders.: Über die Gewalt. Vom Geist der Eroberung und von der Anma- ßung der Macht, Stuttgart: Reclam 1948 630

Cooley, Charles Horton: Social Organization, New York: Schocken 1963 Courtois, Stéphane et alii: Livre noir du communisme, Paris: Laffont 1997 Cronkite, Walter: A Reporters Life, New York: Ballantine 1997 Crosland, C. A. R.: The Future of Socialism, London: Cape 1956 Cunow, Heinrich: Die Parteien der großen französischen Revolution und ihre Presse, Berlin: Singer 2 1912 Curtius, Ernst Robert: Deutscher Geist in Gefahr, Stuttgart/Berlin: DVA 1932 Czudnowski, Moshe M. (Hrsg.): Does Who Governs Matter?, DeKalb, Illinois: Northern Illinois UP 1982 Ders.: Critique of the Ruling Elite Model, American Political Science Review (Juni 1958), S. 463 ff. Dahl, Robert A.: Dilemmas of Pluralist Democracy, New Haven: Yale UP 1982 Ders.: Modern Political Analysis, Englewood Cliffs/NJ: Prentice- Hall 5 1991 Dahrendorf, Ralf: Pfade aus Utopia, Gesammelte Abhandlungen, Teil 1, München: Piper 1967 Daigne, Jean-François: L’ éthique financière, Paris: PUF 1991 Dalberg-Acton, John E. E.: Freedom in Antiquity, in ders.: The History of Freedom and other Essays, London: MacMillan 1909 Dante, Alighieri: Göttliche Comödie, Leipzig/Berlin: Teubner 1904 David, Eduard: Der Reichskanzler und die Sozialdemokratie, Sozialis- tische Monatshefte 1905, S. 11 ff. David, Marcel: La souveraineté du peuple, Paris: PUF 1996 Davies, Robert: Perestroika und Geschichte, München: dtv 1991 Davis, David B.: The Problem of Slavery in Western Culture, New York: Cornell UP 1966 Davis, Kingsley: Human Society, New York: Macmillan 1949 Debray, Régis: Voltaire verhaftet man nicht, Köln: Maschke 1981 Dechêne, Hans: Verwahrlosung und Delinquenz, München: Fink 1975 Deichsel, Alexander (Hrsg.): Die produktive Distanz, Hamburg: Marke- ting Journal 1988 Dejours, Christophe: Souffrance en France, Paris: Seuil 1998 Demirović , Alex: Politische Klasse und demokratische Frage, in Tho- mas Leif/Hans-Josef Legrand/Ansgar Klein (Hrsg.): Die politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand, Bonn/Berlin: Bou- vier 1992, S. 442 ff. Descartes, René: Discours de la méthode, Hrsg. Marcelle Barjonet, Paris: Éditions sociales 1950 631

Desportes, Gérard/Laurent Mauduit: La gauche imaginaire et le no- veau capitalisme, Paris: Grasset 1999 Dettling, Wanfried: Politik als Karriere?, in Thomas Leif/Hans Josef Legrand/Ansgar Klein (Hrsg.): Die politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand, Bonn/Berlin: Bouvier 1992, S. 466 ff. Deutsch, Karl W.: Politische Kybernetik, Freiburg: Rombach ³1973 Deutsche Industrie Institut (Hrsg.): Mitbestimmung in der BRD. Tatsa- chen und Forderungen, Köln: DII 1966 DGB (Hrsg.): Die Zukunft gestalten, Düsseldorf: DGB ²1997 Jared Diamond: Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesell- schaften, Frankfurt am Main: Fischer 1998 Dinges, Martin: Formwandel der Gewalt in der Neuzeit, in R. P. Sie- ferle/Helga Breuninger (Hrsg.): Kulturen der Gewalt, Frankfurt am Main/New York: Campus 1998, S. 171 ff. Dohnanyi, Klaus von: Der Mythos der SPD, Der Spiegel 48 (1994), S. 50 f. Domhoff, G. William: State and ruling class in corporate America, In- surgent Sociologist, Jahrgang 4 (1974)/Nr. 3., S. 3 ff. Ders.: Who rules America? Power and Politics in the Year 2000, Mountain View, Ca: Mayfield ²1998 Ders.: Who Rules America?, Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall 1967 Dörner, Andreas: Politik im Unterhaltungsformat, Aus Politik und Zeit- geschichte Nr. 41 (1999), S. 17 ff. Douglas, Mary: Wie Institutionen denken, Frankfurt am Main: Suhr- kamp 1991 Dies./Aaron Wildavsky: Risk and Culture - An Essay on the Selection of Technological and Environmental Dangers (1982), Berkeley u.a.: California UP ²1988 Draper, John W.: Geschichte der geistigen Entwicklung Europas, 2 Bde., Leipzig: Wigand 1865 Dreitzel, Hans Peter : Elitebegriff und Sozialstruktur, Stuttgart: Enke 1962 Drucker, Peter: Die postkapitalistische Gesellschaft, Düsseldorf: Econ 1993 Ders.: The End of Economic Man, London: Guild Books 1943 Dry, Julien: État de violence, Paris: Edition1 1999 Dubet, François/Danilo Martuccelli: Dans quelle société vivons-nous?, Paris: Seuil 1998 Dubief, Eugène: Le journalisme, Paris: Hachette 1892 Duby, Georges: Guerriers et paysans, Paris: Gallimard 1973 632

Duguit, Léon: L’ état, le droit et la loi positive, 2 Bände, Paris: Fon- temoing 1901 Duhamel, Oliver: Les démocraties, Paris: Seuil 1993 Dunn, John: Western Political Theory in the Face of the Future, Cam- bridge u.a.: Cambridge UP 1979 Ders.: The Cunning of Unreason, London: HarperCollins 2000 Dunoyer, Charles: La Révolution du 24 Février, Paris: Guillaumin 1849 Duprat, G. L.: Les élites et le prestige, Revue internationale de socio- logie 43 (1935), S. 5 ff. Duverger, Maurice: La démocratie sans le peuple, Paris: Seuil 1967 Eagleton, Terry: Die Illusionen der Postmoderne, Stuttgart/Weimar: Metzler 1997 Earle, E. M. (Hrsg.): The Federalist, Washington D. C.: Modern Li- brary o.J. (1941) Easton, David: The Political System. An Inquiry into the State of Poli- tic Science, New York: Knopf 1953 Ders.: A Systems Analysis of Political Life, New York: Wiley 1965 Ebbighausen, Rolf/Sighard Neckel (Hrsg.): Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt am Main. Suhrkamp 1989 Eberwein, Wilhelm/Jochen Tholen: Managermentalität. Industrielle Unternehmensleitung als Beruf, Frankfurt am Main: FAZ-Verlag 1990. Dieselben: Wie schlecht sind die deutschen Manager?, Gewerkschaft- liche Monatshefte Nr. 10 (1993), S. 619 ff. Eckermann, J. P.: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (1836), Berlin: Aufbau 1956 Eder, Klaus:Geschichte als Lernprozeß?, Frankfurt am Main: Suhr- kamp 1985 Eich, Hermann: Die mißhandelte Geschichte. Historische Schuld-und Freisprüche, München: dtv 1986 Eisenschink, Martin: Die demokratischen und kommunistischen Strö- mungen in der ersten englischen Revolution, Borna-Leipzig 1919 Eizenstat, Stuart E.: Die Förderung der Rechtstaatlichkeit und der Bekämpfung von Korruption in einer globalisierten Wirtschaft, Ame- rika-Dienst vom 30. 12. 1998, S. 1 ff. Eliade, Mircea: Kosmos und Geschichte, Reinbek: Rowohlt 1966 Emge, Richard M.: Saint-Simon. Einführung in ein Leben und Werk, eine Schule, Sekte und Wirkungsgeschichte, München: Oldenbourg 1987 Encyclopédie, Hrsg. Alain Pons, Paris: J’ai lu 1963 633

Engel, Josef: Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissen- schaft, in: Hundert Jahre Historische Zeitschrift, München: Olden- bourg 1959, S. 223 ff. Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884), MEW 21, S. 25 ff. Engholm, Björn/Wilfried Röhrich (Hrsg.): Ethik und Politik heute, Opladen: Leske + Budrich 1990 Engler, Wolfgang: Selbst Bilder. Das reflexive Projekt der Wissen- schaftssoziologie, Berlin: Akademie 1992 Ense, Karl August Varnhagen von: Denkwürdigkeiten des eignen Le- bens, Hrsg. Konrad Feilchenfeld, 3 Bde., Frankfurt am Main: Insel 1987 Ders.: Journal einer Revolution. Tagesblätter 1848/1849, Nördlingen: Greno 1986 Ders.: Rahel von Varnhagens Freundeskreis, Berlin: Deutsche Biblio- thek o.J. Ders.: Schlichter Vortrag an die Deutschen über die Aufgaben des Tages, Berlin: Reimer 1848 Ders.: Tagebücher, 14 Bände. + 1 Registerband (1905), Leipzig u.a.: Brockhaus u.a. 1861 – 1870 Ders.: Zur Geschichtsschreibung und Literatur, Hamburg: Perthes 1833 Eppler, Erhard: Parteipolitik zwischen Machtstreben und Gemeinwohl, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 32/33 (1976), S. 13 ff. Ders.: Die Wiederkehr der Politik, Frankfurt am Main: Insel 1998 Eschenburg, Theodor: Über Autorität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1965 Ders.: Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933 - 1999, Ber- lin: Siedler 2000 Escher, Mónica: Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme Latein- amerikas, Bern/Stuttgart: Haupt 1990 Eschmann, Ernst Wilhelm: Die Führungsschichten Frankreichs, Bd. 1, Berlin: Junker & Dünnhaupt 1943 Etzioni Amitai: Capital Corruption, San Diego u.a.: Harcourt Brace 1984 Ders.: Die faire Gesellschaft. Jenseits von Sozialismus und Kapita- lismus, Frankfurt am Main: Fischer 1996. Euchner, Walter: Egoismus und Gemeinwohl, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973 Eucken, Walter: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Reinbek: Rowohlt 1963 Ewald, François: Histoire de l‘état providence, Paris: Grasset 1996 634

Faguet, Émile: Politiques et moralistes du 19e siècle, Paris: Société française d‘ imprimerie 6 1903 Fallersleben: Ein ‚Volkslieder-Buch, Hrsg. Uli Otto, Hildesheim u.a.: Olms 1984 Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde (1961), Frankfurt am Main: Fischer 1966 Farrachi, Armand: Les poules préfèrent les cages, Paris: Albin Michel 2000 Faßler, Manfred: Was ist Kommunikation?, München: Fink 1997 Faubion, James: Rethinking the Subject, Oxford: Westview Press 1994 Faul, Erwin: Der moderner Machiavellismus, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1961 Fellmeth, Sebastian/Christian Rohde: Der Abbau eines Wohlfahrts- staates. Neuseeland als Modell für das nächste Jahrhundert?, Mar- burg: Metropolis 1999 Fénelon, François de: Les aventures de Télémaque, Tours: Mame 1856 Ferguson, Adam: An Essay on the History of Civil Society, Hrsg. Dun- can Forbes, Edinburgh: UP 1966 Feuerbach, Paul Johann Anselm von: Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger ge- gen den Oberherrn, Gießen: Müllersche Buchhandlung 1797 Fichte, Johann Gottlieb: Über die Bestimmung des Gelehrten, Leipzig: Reclam o.J. Field, G. L.: Governments in Modern Society, New York: McGraw-Hill 1951 Filmer, Robert: Patriarcha and other Political Works, Hrsg. Peter Las- lett, Oxford: Basil Blackwell 1949 Finkielkraut, Alain: L’ingratitude. Conservation sur notre temps, Pa- ris: Gallimard 1999 Fischer, Fritz: Bündnis der Eliten, Düsseldorf: Droste 1979 Ders.: Hitler war kein Betriebsunfall, München: Beck 1992 Fitoussi, Jean-Paul/Pierre Roosanvallon: Le nouvel âge des inégali- tés, Paris: Seuil 1996 Flesche, Balthasar: De singulari commodo servitutis perpetuariae prae temporia in re publica, Halle: Grunert 1740 Fontaine, Jean de La: Die Fabeln, Wiesbaden: Vollmer o. J Fontane, Theodor: Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 1813, München: Artemis & Winkler 1980 Forsthoff, Ernst: Rechtsstaat im Wandel, Stuttgart: Kohlhammer 1964 635

Fox, Justin: What happened to economics?, Fortune vom 15. 3. 1999, S. 91 ff. Fraenkel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien, Stutt- gart: Kohlhammer 1964 France, Anatole: Trente ans de vie sociale, Band 1 (1897 - 1904), Hrsg. Claude Aveline, Paris: Émile-Paul 1949 Francis, E. K.: Wissenschaftliche Grundlagen des soziologischen Denkens, Bern/München: Francke ²1965 Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit - Ein Entwurf, Mün- chen: Hanser 1998 Frankenberg, Günter (Hrsg.): Auf der Suche nach der gerechten Ge- sellschaft, Frankfurt am Main: Fischer 1994 Frehner, Willibold/Wolfgang Meyer: Die politische Situation der Phi- lippinen nach dem Wahljahr 1998, in KAS-Auslandsinformationen 4 (1999), S. 23 ff. Freising, Otto von: Chronica sive historia de duabus civitatibus, Hrsg. Walther Lammers, Darmstadt: WBG 1961 Freyer, Hans: Revolutions von rechts, Jena: Diederichs 1931 Ders.: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart: DVA 1955 Friedman, David: Der ökonomische Code. Wie wirtschaftliches Han- deln unser Denken bestimmt, Frankfurt am Main: Eichborn 1999 Fritz-Vannahme, Joachim (Hrsg.): Wozu heute noch Soziologie?, Opladen: Leske + Budrich 1996 Froissart, Jean: Chroniques de France, d’ Angleterre etc., Hrsg. K. de Lettenhove, Paris: Renouard 1870/1877 Fuchs, Peter: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992 Ders.: Intervention und Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999 Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, Mün- chen: Kindler 1992 Funke, Lothar/Eckard Knappe: Neue Wege aus der Arbeitslosigkeit, Aus Parlament und Zeitgeschichte Nr. 3/4 (1996), S. 17 ff. Fürstenberg, Friedrich: Wirtschaftssoziologie, Berlin: Gruyter 1961 Ders.: Das Aufstiegsproblem in der modernen Gesellschaft, Stutgart: Enke 1962 Fustel de Coulanges, Numa-Denis: La cité antique, Paris: Hachette 1963 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, Tübingen: Mohr ²1965 Galbraith, John K.: Anatomie der Macht, München: C. Bertelsmann 1987 Ders.: Die Kultur der Zufriedenheit, Hamburg: Hoffmann & Campe 1992 636

Gardiner, John/T. Lyman: Decisions for Sale, New York: Praeger 1978 Gaschke, Susanne: Die SPD nach Lafontaine, Die Neue Gesell- schaft/Frankfurter Hefte Nr. 5 (1999), S. 405 ff. Gatterer, Nikolaus: ‘Gift, geradezu Gift für das unwissende Publikum’. Der diaristische Nachlaß von K. A. V. von Ense, Bielefeld: Athesis 1996 Gaulle, Charles de: Le fil de l’épée, Paris: 10/18 1964 Gayer, Kurt: Wie man Minister macht. Politik und Werbung, München: Goldmann 1965 Gehlen, Arnold/Helmut Schelsky (Hrsg.): Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, Düsseldorf-Köln: Die- derichs 1964 Ders.: Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1963 Ders.: Der Mensch, seine Natur und Stellung in der Welt [1940], Wiesbaden: Athenaion 121978 Geiger, Theodor: Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesell- schaft, Stuttgart: Enke 1949 Ders.: Demokratie ohne Dogma. Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit, München: Szczesny 2 1964 Gellert, C. F.: Von der Beschaffenheit, dem Umfange und dem Nutzen der Moral, Leipzig: Weidmanns Erben & Reich 1766 Gellner, Ernest: Pflug, Schwert und Buch. Grundlinien der Mensch- heitsgeschichte, Stuttgart: Klett-Cotta 1990 Genicot, Léopold: Le XIIIe siècle européen, Paris: PUF ³1994 Gentz, Friedrich von: Betrachtungen über die Französische Revoluti- on, nach dem Englischen des Herrn Burke neubearbeitet etc. von F. Gentz, 2 Bde., Berlin: Vieweg 1793 Géré, François: Demain, la guerre, Paris: Calmann-Lévy 1997 Gerhard Schmidtchen: Identitätsrevolution der Manager?, Universitas Nr. 629 (1998), S. 1063 ff. Gerhard, Volker: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart: Reclam 1999 Gerschlager, Caroline: Konturen der Entgrenzung. Die Ökonomie des Neuen im Denken von Thomas Hobbes. Francis Bacon und A. J. Schumpeter, Marburg: Metropolis 1996 Gerstenberger, Heide: Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entste- hung bürgerlicher Staatsgewalt, Münster: Westfälisches Dampfboot 1990 Giddens, Anthony: Capitalism & Modern Social Thought, Cambridge: Cambridge UP ²1994 Ders.: Der Dritte Weg, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999 637

Gide, Charles/Charles Rist: Histoire des doctrines économiques, Pa- ris: Sirey 1909 Gierke, Otto von: Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1, Berlin: Weidmann 1868 Ders.: Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, Aalen: Scientia 6 1968 Giesen, Bernhard: Die Entdinglichung des Sozialen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991 Giesselmann, Werner: Die brumairianischen Elite. Kontinuität und Wandel der französischen Führungsschicht zwischen Ancien Régime und Julimonarchie, Stuttgart: Klett 1977 Ders.: Die Manie der Revolution, 2 Bde., München: Oldenbourg 1993 Gillen, Gabi/Michael Möller: Anschluss verpasst, Bonn: Dietz 1992. Giner, Salvador/Sebastián Sarasa (Hrsg.): Buen gobierno y política social, Barcelona: Ariel 1997 Glotz, Peter: Kritik der Entschleunigung, Die Neue Gesell- schaft/Frankfurter Hefte Nr. 7 (1999), S. 621 ff. Gneuss, Christian: Eduard Bernstein, in: Leo Labedz (Hrsg.): Revisi- onismus, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1965, S. 37 ff. Godwin, William: Enquiry concerning political justice, Hrsg. Isaac Kramnick, Harmondsworth: Pelican 1976 Golding, William: Lord of the Flies, London/Boston: Faber 1984 Goldstein, Moritz: Der Wert des Zwecklosen, Dresden: Sibyllen Verlag 1920 Gooch, C. P.: English Democratic Ideas in the Seventeenth Century, Hrsg. H. J. Laski, Cambrige: UP ²1927 Görres, Joseph: Teutschland und die Revolution, Teutschland Co- blentz: Hölscher 2 1819 Gothein, Eberhard: Soziologie der Panik, in: Verhandlungen des Ers- ten Deutschen Soziologentages, Tübingen: Mohr 1911, S. 216 ff. Gouhot, Pierre: Théophraste Renaudot ou médicin, philantrope et ga- zetier, Paris: Pensée universelle 1974 Gouldner, Alwin W.: For Sociology. Renewal and Critique in Sociology Today, Harmondsworth: Pelican 1975 Ders.: Die Intelligenz als neue Klasse, Frankfurt am Main/New York: Campus 1980 Gracián, Baltasar: Oráculo manual y arte de prudencia, Madrid: Ca- tédra 1995 Gramsci, Antonio: Philosophie der Praxis, Hrsg. Christian Riechers, Frankfurt am Main: S. Fischer 1967 Grande, Edgar/Rainer Prätorius: Modernisierung des Staates?, Ba- den-Baden: Nomos: 1997 638

Greenstein, Robert/Scott Barancik: Drifting Apart, Washington: Center on Budget and Policy Priorities 1990 Greiling, Werner: Ense, Varnhagen von: Lebensweg eines Liberalen, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1993 Greiß, Franz: Unternehmertum in letzter Bindung an höhere Werte, in ders./F. W. Meyer (Hrsg.): Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Festgabe für Alfred Müller-Armack, Berlin: Duncker & Humblot 1961, S. 533 ff. Grimm, Dieter (Hrsg.): Staatsaufgaben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996 Grimm, G. E. u.a. (Hrsg.): Weltuntergangsvisionen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986 Grimm, Gebrüder: Kinder- und Hausmärchen, 3 Bde., Stuttgart: Rec- lam 1984 Grimm, Jakob Ludwig und Wilhelm Karl: Deutsches Wörterbuch, Leip- zig: Hirzel 1852 ff. Groebel, Jo/Uli Gleich: Gewaltprofil des deutschen Fernsehpro- gramms. Eine Analyse des Angebots privater und öffentlich- rechtlicher Sender, Opladen: Leske + Budrich 1993 Gros, Joseph-Marie-Anne, Abbé de Resplas: Traité des causes du bonheur public, (Paris) ²1774 Grosclaude, Pierre, Un audacieux message: L’Encyclopédie, Paris: Nouveau édition latines 1951 Groß, Bernd: Journalisten: Journalisten. Freunde des Hauses? Zur Problematik von Autonomie und Anpassung im Bereich der Massen- medien, Saarbrücken: Die Mitte 1981 Grotius, Hugo: Drei Bücher über das Recht des Krieges und Friedens, Hrsg. J. H. von Kirchmann, 2 Bde., Berlin: Heimann 1869 Grousset, René: Schicksalsstunden der Geschichte, Wien: Ullstein 1951 Grunenberg, Antonia: Der Schlaf der Freiheit. Politik und Gemeinsinn im 21. Jahrhundert, Reinbek: Rowohlt 1997 Guéhenno, Jean-Marie: Das Ende der Demokratie, München: dtv 1996 Guénaire, Michel: Un monde sans élites, Paris: Grasset 1995 Guicciardini, Francesco: Storia d’ Italia, Hrsg. Giovanni Rosini, 6 Bände, Mailand: Giuseppe Rejna 1843 Gumplowicz, Ludwig: Grundriß der Soziologie, Wien: Manz 1905 Ders.: Sozialphilosophie im Umriss, Insbruck: Wagner’sche Universi- täts Buchhandlung 1910 Gutmann, Amy/Dennis Thompson: Democracy and Disagreement, Cambridge: Harvard UP 1996 639

Gutzkow, Karl: Rückblicke auf mein Leben, Hrsg. Peter Müller, Leip- zig/Wien: Bibliographisches Institut o.J. Habermas, Jürgen: Theorie und Praxis, Frankfurt am Main: Luchter- hand 1963 Ders.: Der Philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985 Ders.: Faktizität und Geltung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992 Ders./Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnolo- gie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971 Haffner, Georg M. und Edmund Jacoby (Hrsg.): Die Skandale der Re- publik, Hamburg: Hoffmann & Campe 1990 Halberstam, David: The Best and the Brightest, New York: Random House 1972 Halévy, Daniel: Essai sur l’accélération de l’histoire, Paris: Plon 1948 Halfmann, Jost: Soziologie als Wissenschaft. Der Konstruktivismus der modernen Soziologie, Sociologica Internationalis 33 (1995), S. 165 ff. Hallgarten, G. W. F.: Imperialismus vor 1914, 2 Bände, München: Beck ²1963 Hamm, Ingrid (Hrsg.): Bericht zur Lage des Fernsehens für den Präsi- denten der Bundesrepublik Deutschland, Gütersloh: Bertelsmann 1995 Hamm-Brücher, Hildegard: Wege in und aus der Poli- tik(er)verdrossenheit, Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 31 (1993), S. 3 ff. Hammel, Eckhard: Geschichte menschlicher Selbstwahrnehmung, in: Mike Sandbothe/Walther Zimmerli (Hrsg.): Zeit-Medien- Wahrnehmung, Darmstadt: WBG 1994, S. 60 ff. Hamon, Hervé/Patrick Rotman: Les intellocrates. Expéditions en haute intelligentsia, Paris: Ramsay 1981 Handbuch für die Vertrauensleute der IGM, Frankfurt am Main ²1964 Handwörterbuch der Volkswirtschaftslehre, Hrsg. H. Rentsch, Leipzig: Mayer 1866 Handy, Charles: Die anständige Gesellschaft. Die Suche nach dem Sinn jenseits des Profiktdenkens, München: Bertelsmann 1998 Hansen M. H.: Die athenische Demokratie im Zeitalter des De- monsthenes, Berlin: Akademie 1995 Harpe, Maria von: Der Einfluss der Massenmedien auf die amerikani- sche Politik, Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 51 (1991), S. 32 ff. Harrington, James: The Political Wrintings of James Harrington, Hrsg. Charles Blitzer, Indianapolis/New York: Bobbs-Merrill 1955 640

Harris, Marvin: Kannibalen und Könige. Die Wachstumsgrenzen der Hochkulturen, München: dtv 1995 Harris, Wilson: The Daily Press, London: Cambridge UP 1943 Hartwich, Hans-Hermann: ORDO-Modell und Konfliktgesellschaft, Ge- genwartskunde 4 (1966), S. 325 ff. Hättich, Manfred (Hrsg.): Politische Bildung nach der Wiedervereini- gung, München: Olzog 1992 Havel, Václav: Am Anfang war das Wort, Rowohlt 1990 Hazlitt, William: Table-Talk, London/New York: Dent & Dutton 1936 Hebbel, Friedrich: Tagebücher, Hrsg. Theodor Poppe, 2 Bände, Ber- lin/Leipzig: Bong & Co., o.J. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hrsg. Johannes Hoffmeister, Hamburg: Meiner 4 1955 Ders.: Werke. 20 Bände, Hrsg. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986 Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik, Tübingen: Niemeyer 1953 Heidenheimer, Arnold J. (Hrsg.): Political Corruption. Readings in Comparative Analysis, New York/London: Holt 1970 Heimann, Eduard: Soziale Theorie des Kapitalismus, Tübingen: Mohr 1929 Hein, P. U./Hartmut Reese (Hrsg.): Kultur und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main: Lang 1996 Heine, Heinrich: Briefe in einem Band, Berlin/Weimar: Aufbau ²1978 Ders.: Zur Geschichte der Religion, Werke in 5 Bänden, Band 5, Ber- lin/Weimar: Aufbau 1967 Heitmeyer Wilhelm u.a.: Gewalt. Schattenseiten der Individualisierung bei Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus, München: Juventa 1995 Ders. (Hrsg.): Was treibt die Gesellschaft auseinander?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 Heller, Georg: Lügen wie gedruckt. Über den ganz alltäglichen Jour- nalismus, Tübingen: Klöpfer & Meyer 1997 Heller, Hermann: Rechtsstaat oder Diktatur, Tübingen: Mohr 1930 Ders.: Staatslehre, Hrsg. Gerhart Niemeyer, Leiden: A. W. Sijthoff, 1934 Henkels, Walter: Zeitgenossen, Hamburg: Rowohlt 1953 Hennis, Wilhelm: Meinungsforschung und repräsentative Demokratie, Tübingen: Mohr 1957 Ders.: Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in Konrad Hesse u.a. (Hrsg.): Staatsverfassung und Kirchenordnung, Tübingen: Mohr 1962, S. 51 ff. 641

Ders.: Politik und praktische Philosophie, Neuwied/Berlin: Luchter- hand 1963 Ders.: Es fehlt an politischer Führung, Gewerkschaftliche Monatshefte Nr. 11 (1992), S. 726 ff. Herbart, J. F.: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, Königs- berg: Unzer 4 1837 Héritier, Louis: Geschichte der Französischen Revolution von 1848 und der Zweiten Republik, Stuttgart: Dietz o.J. (1897) Herman, Arthur: Propheten des Niedergangs, Berlin: Propyläen 1998 Hermanni, A. - J.: Die Meinungsmacher. Gleichschaltung der Meinun- gen oder Information durch die Medien?, Neuhausen - Stuttgart: Häussler 1988 Hertz, F. O.: Die Agrarischen Fragen im Verhältnis zum Socialismus, Wien: Rosner 1899 Herwegh, Georg: Xenien und Aphorismen (1841/1849), in Bruno Kai- ser (Hrsg.): Der Freiheit eine Gasse, Berlin: Volk und Welt 1948, S. 190 ff. Herzog, Dietrich: Politische Karrieren. Selektion und Professionalisie- rung politischer Führungsgruppen, Opladen: WDV 1975 Ders.: Politische Führungsgruppen, Darmstadt: WBG 1982 Ders.: Zur Funktion der politischen Klasse in der sozialstaatlichen Demokratie der Gegenwart, in: Thomas Leif/Hans-Josef Leg- rand/Ansgar Klein (Hrsg.): Die politische Klasse in Deutschland. E- liten auf dem Prüfstand, Bonn/Berlin: Bouvier 1992, S. 126 ff. Hesiod: Theogonie, Hrsg. Rudolf Peppmüller, Halle: Verlag des Wai- senhauses 1896 Hesse, Konrad u.a. (Hrsg.): Staatsverfassung und Kirchenordnung, Tübingen: Mohr 1962 Hettling, Manfred u.a.: Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen, München: Beck 1991 Heyland, Carl: Das Berufsbeamtentum im neuen demokratischen Staat’, Berlin: Gruyter 1949 Hilferding, Rudolf: Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, Berlin: Dietz 1947 Hirschman, Albert O.: Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Reaktion, München: Hanser 1992 Hitzler, Ronald: Die banale Seite der Macht. Politik als Beruf heute – und morgen, in: Helmut Berking u.a. (Hrsg.): Politikertypen in Euro- pa, Frankfurt am Main 1994, S. 280 ff. Hobbes, Thomas: The English Works, Hrsg. Sir William Molesworth, London: Longmanns etc. 1839 ff. Ders.: Vom Menschen/Vom Bürger, Berlin: Akademie 1967 642

Ders.: Leviathan, Hrsg. C. B. MacPherson, Harmondsworth: Pelican 1968 Hobson, J. A.: The Psychology of Jingoism, London: Grant Richards 1901 Höffe, Ottfried: Tauschgerechtigkeit und korrektive Gerechtigkeit, in Dieter Grimm (Hrsg.): Staatsaufgaben, Frankfurt am Main: Suhr- kamp 1996, S. 713 ff. Hörmann, Georg (Hrsg.): Im System gefangen, Münster: Bessau 1994 Hösle, Vittorio: Moral und Politik, München: Beck 1997 Hoffmann-Lange, Ursula: Eliten in der Demokratie, in Hans-Georg Wehling (Hrsg.): Eliten in der Bundesrepublik Deutschland, Stutt- gart u.a.: Kohlhammer 1990, S. 11 ff. Dies.: Eliten, Macht und Konflikt in der Bundesrepubli, Opladen: Leske + Budrich 1992 Hofmann, Werner: Gesellschaftslehre als Ordnungsmacht. Die Wertur- teilsfrage – heute, Berlin: Duncker & Humblot 1961 Hofstätter, Peter: Eliten und Minoritäten, Kölner Zeitschrift für Sozio- logie und Sozialpsychologie 14 (1962), S. 59 ff. Holbach, Paul Thiry d‘: Sociales System oder Natürliche Principien der Moral und der Politik mit einer Untersuchung über den Einfluß der Regierung auf die Sitten, Leipzig: Thomas 1898 Hollingsworth, Mark: MPs for Hire. The secret world of political lobby- ing, London: Bloomsbury 1991 Hölscher, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt am Main: Fi- scher 1999 Holsti, Ole R.: The 1914 Case, American Political Science Review 49 [1965], S. 365 ff. Holzberger, Rudi: Zeitungsdämmerung. Wie die Journalisten die Welt verpacken, München: Ölschläger 1991 Homann, Karl: Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomi- schen Fundament aller Moral, Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 21 (1997), S. 13 ff. Homans, George: Theorie der sozialen Gruppe, Köln/Opladen: WDV ³1968 Hondrich, Karl Otto: Demokratisierung und Leistungsgesellschaft, Stuttgart: Kohlhammer 1972 Ders.: Theorie der Herrschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973 Honneth, Axel: Pluralisierung und Anerkennung. Zum Selbstmiß- verständnis postmoderner Sozialtheorien, Merkur Nr. 580 (1991), S. 624 ff. Hooker, Richard: Of the Laws of Ecclesiastical Polity, 2 Bde, Hrsg. Christopher Morris, London/New York: Dent & Dutton 1965 643

Hopfmann, Arndt/Michael Wolf (Hrsg.): Transformation und Interde- pendenz. Beiträge zu Theorie und Empirie der mittel- und osteuro- päischen Systemwechsel, Münster/Hamburg: LIT 1998 Horkheimer, Max (Hrsg): Studien über Autorität und Familie, Schriften des Instituts für Sozialforschung, Bd 5, Paris 1936 Horkheimer, Max/T. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main: Fischer 1969 Horn, Ignaz E.: Spinozas Staatslehre. Zum ersten Male dargestellt, Dresden: Ehlermann ²1863 Houben, H. H.: Hier Zensur - wer dort? (1918)/Der gefesselte Bieder- meier (1924), Leipzig: Reclam 1990 Huber, E. R. (Hrsg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschich- te, Band I, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 3 1978 Hufeland, Gottlieb: Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbun- denen Wissenschaften, Jena: C. H. Cuno’s Erben ²1795 Hughes, H. Stuart: History as Art and as Science, New York: Harper & Row 1964 Hüglin, Thomas O.: Sozietaler Föderalismus. Die politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin: Gruyter 1991 Humboldt, Wilhelm von: Abhandlungen über Geschichte und Politik, Berlin: Heimann 1869 Ders.: Ausgewählte Schriften, herausgegeben von Theodor Kappstein, Berlin: Borngräber o.J. (1917) Ders.: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), Hrsg. Hubert Tigges, Wuppertal: Ma- rées 1947 Hume, David: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, Stutt- gart: Reclam 1984 Hunter, Floyd: Community Power Structure. A Study of Decision Ma- kers, Chapel Hill: UP North Carolina 1953 Hunter, Mark: Les salariés américains aimeraient le temps de vivre, in: Le Monde Diplomatique Nr. 11 (1999), S. 18 f. Huntington, Samuel P.: Der Kampf der Kulturen, München/Wien: Euro- paverlag 1996 Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften (1936), in: Gesammelte Schriften, Hrsg. Elisabeth Ströker, Band 8/2. Teil, Hamburg: Meiner 1992, S. 165 ff. Ihering, Rudolph von: Der Zweck im Recht, 2 Bde., Leipzig: Breitkopf + Härtel 5 1916 Imbert, Jean/Georges Levasseur: Le pouvoir, les juges et les bour- reaux. 25 siècles de répression, Paris: Hachette 1972 644

Imbusch, Peter (Hrsg.): Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftli- che Konzepte und Theorien, Opladen: Leske + Budrich 1998 Inama-Sternegg, K. Th. von: Staatswissenschaftliche Abhandlugen, Leipzig: Duncker & Humblot 1903 Instinsky, Hans Ulrich: Die alte Kirche und das Heil des Staates, München: Kösel 1963 Irving, Clive u.a.: Scandal ‘63. A Study of the Profumo Affair, London: Heinemann 1963 Iselin, Isaak: Versuch über die gesellige Ordnung, Basel: Schweig- hauser 1772 Jacobson, Thorkild: Toward the Image of Tammuz and Other Essays on Mesepotamian History and Culture, Hrsg. W. L. Moran, Cambdri- ge: Harvard UP 1970 Jaeger, Werner: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin/New York: Gruyter 1973 Jaeggi, Urs: Die gesellschaftliche Elite. Eine Studie zum Problem der sozialen Macht, Bern/Stuttgart: Haupt 1967 Ders.: Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik, Frankfurt: Fischer 1969 Jäger, Thomas: Steht das deutsche Parteiensystem vor grundlegen- den Änderungen?, in Vorgänge Nr. 144 (1998), S. 1 ff. Jaher, Frederic C. (Hrsg.): The Rich, The Wellborn, and The Power- ful. Elites and Upper Classes in History, Secaucus, N. J.: Citadel Press 1975 Jakob, Ludwig. H.: Antimachiavel, oder über die Grenzen des bürger- lichen Gehorsams, Halle: Rengersche Buchhandlung 1794 Jakubowski-Tiessen u.a. (Hrsg.): Jahrhundertwenden. Endzeit und Zukunftsvorstellungen vom 15. Bis 20.Jahrhundert, Göttingen: Van- denhoeck & Ruprecht 1999 Jänicke, Martin: Staatsversagen. Die Ohnmacht der Politik in der In- dustriegesellschaft, München/Zürich: Piper 1986 Janowitz, Morris/Dwaine Marvick: Competitive Pressure and Democra- tic Consent, Ann Arbor: Michigan UP 1956 Janssen, Johannes: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, 2 Bde., Frei- burg: Herder 1877 Jantke, Carl: Der Vierte Stand, Freiburg: Herder 1955 Jasays, Anthony de: Against Politics. On Government, Anarchy and Order, London: Routledge 1997 Jaspers, Karl: Die geistige Situation der Zeit, Berlin/Leipzig: Gruyter 4 1932 Ders.: Wohin treibt die Bundesrepublik?, München: Piper 1966 645

Ders.: Antwort. Zur Kritik meiner Schrift ‚Wohin treibt die Bundesre- publik?’, München: Piper 1967 Jelich, Franz-Josef/Günter Schneider (Hrsg.): Orientieren und Gestal- ten in einer Welt der Umbrüche, Essen: Klartext 1999 Jenkins, Simon: Accountable to None: The Tory Nationalisation of Bri- tain, London: Hamis Hamilton 1995 Jenner, Gero: Das Ende des Kapitalismus. Triumph oder Kollaps eines Wirtschaftssystems, Frankfurt am Main: Fischer 1999 Jeserich, Kurt G. A./Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte, 4 Bde., Stuttgart: DVA 1983/1985 Johnson, E. L.: Das Wunder Europas, Tübingen: Mohr 1991 Johnson, Kim K. P./Sharron J. Lennon (Hrsg.): Appearance and Po- wer, Oxford: Berg 1999 Johnson, Paul: Intellectuals, London: Weidenfeld and Nicolson 1988 Jouvenel, Bertrand de: Du pouvoir. Histoire naturelle de sa croissan- ce, Genf: Constant Bourquin 1947 Jouvenel, Henry de: Huit cent ans de révolution française 987 - 1789, Paris: Hachette 1932 Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): Jugend ‘97, Opladen: Leske + Budrich 1997 Dasselbe (Hrsg.): Jugend 2000, 2 Bde., Opladen: Leske + Budrich 2000 Juillard, Jacques: La faute aux élites, Paris: Gallimard 1997 Jürgen, Eiko: Leistung und Beurteilung in der Schule, Sankt Augustin: Academia 4 1998 Kadereit, Ralf: Karl Jaspers und die Bundesrepublik Deutschland, München: Schöningh 1999 Kahn, Jean-Franχ ois: De la révolution, Paris: Flammarion 1999 Kaiser, Günther u.a.: Kleines kriminologisches Wörterbuch, Heidel- berg: C. F. Müller ³1993 Kampffmeyer, Paul: Wohin steuert die ökonomische und staatliche Entwicklung?, Berlin: Verlag Sozialistische Monatshefte 1901 Kant, Immanuel: Werke in 12 Bänden, Hrsg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968 Karatnycky, Adrian: The Decline of Illiberal Democracy, Journal of Democracy, Band 10/Nr. 1 (Januar 1999), S. 112 ff. Kästner, Erich: Gesang zwischen den Stühlen, Stuttgart/Berlin: DVA 1932 Ders.: Knigge für Unbemittelte, in: Wilhelm Rausch (Hrsg.): Was nicht in euren Lesebüchern steht, Frankfurt am Main: Fischer 1968 Katzenstein, Simon: Freiheit und Ordnung, Sozialistische Monatshefte 1897/1I, S. 157 ff.; 234 ff. 646

Kaufmann, Franz-Xaver: Diskurse über Staatsaufgaben, in Dieter Grimm (Hrsg.): Staatsaufgaben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 15 ff. Ders.: Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 Kautsky, Karl: Ein sozialdemokratischen Katechismus, Die Neue Zeit 12/1 (1893/1894), S. 361 ff.; 402 ff. Ders.: Problematischer gegen wissenschaftlicher Sozialismus, Die Neue Zeit 19/2 (1900/1901), S. 355 ff. Ders.: Der Weg zur Macht, Berlin: Vorwärts ³1920 Kefauver, Estes: In wenigen Händen. Monopolmacht in Amerika, Frankfurt am Main: EVA 1967 Keller, Suzanne: Beyond the Ruling Class. Strategic Elites in Modern Society, New York: Random House 1963 Kennedy, Paul: The Rise and Fall of Great Powers, London: Fontana 1989 Kepplinger, Hans Mathias: Die Demontage der Politik in der Informa- tionsgesellschaft, München: Alber 1998 Kern, Fritz: Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im frühen Mittel- alter, Darmstadt WBG ³1962 Kerr, Clark/John T. Dunlop/Frederick Harbison/Charles A. Myers: Der Mensch in der industriellen Gesellschaft, Frankfurt am Main: EVA 1966 Kerschensteiner, Georg: Staatsbürgerliche Erziehung, Erfurt: Villaret 6 1917 Kersting Norbert: Machtstrukturen in der Gemeinde, in Peter Imbusch (Hrsg.): Macht und Herrschaft, Opladen: Leske + Budrich 1998, S. 149 ff. Kersting, Wolfgang: Die politische Philosophie des Gesellschaftsver- trages, Darmstadt: WBG 1996 Kesting, Hanjo: Herrschaft und Knechtschaft. Die ‚soziale Frage’ und ihre Lösungen, Freiburg: Rombach 1973 Key, Vladimir O. Jr.: Politics, Parties, & Pressure Groups, New York: Crowell 4 1967 Keynes, Edward/David M. Ricci (Hrsg.): Political Power, Community and Democracy, Chicago: Rand McNall 1970. Kim, Duk-Yung: Der Weg zum sozialen Handeln, Münster/Hamburg: LIT 1994 Kirsch, Guy: Staatsmann, Demagoge, Amtsinhaber Eine psychologi- sche Ergänzung der ökonomischen Theorie der Politik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1985 647

Klages, Helmut: Häutungen der Demokratie, Zürich: Edition Interfrom 1993 Kleist, Heinrich von: Werke in drei Bänden, Hrsg. Bruno Markwardt, Leipzig: Reclam o. J Klingemann, Hans-Dieter (Hrsg.): Politische Klasse und politische In- stitutionen. Probleme und Perspektiven der Eliteforschung, Opla- den: WDV 1991 Knaurs Prominentenlexikon, München/Zürich: Knaur ³1982 Kniesel, Michael/Edwin Kube/Manfred Murck (Hrsg.): Handbuch für Führungskräfte der Polizei, Lübeck: Schmidt-Römhild 1996 Knight, Frank: Uncertainty and Profit (1922), New York: Harper & Row 1965 Knoll, Joachim H.: Führungsauslese in Liberalismus und Demokratie. Zur Geistesgeschichte der letzten hundert Jahre, Stuttgart: Schwab 1957 Koch, Claus: Die Gier des Marktes, München: Hanser 1995 Kohl, Helmut: Die Intellektuellen und die CDU, Sonde. Neue christ- lich-demokratische Politik 8 (1975)/Nr. 1., S. 4 ff. Köhler, Oswald: Der Egoismus und die Civilisation, Stuttgart: Dietz 1883 Kondylis, Panajotis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Le- bensformen, Weinheim: VHC, 1991 Konfuzius, Hrsg. Lin Yutang, Frankfurt am Main: Fischer 1957 König, René: Soziologische Orientierung, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1965 Ders.: Gesellschaftliches Bewußtsein und Soziologie, Kölner Zeit- schrift für Soziologie und Sozialpsychologie/Sonderheft 21 (1979), S. 358 ff. Kornhauser, William: The Politics of Mass Society, Glencoe, Ill.: Free Press 1959 Korsch, Karl: Schriften zur Sozialisierung, Frankfurt am Main: EVA 1969 Korte, Hermann: Einführung in die Geschichte der Soziologie, Opla- den: Leske + Budrich ²1993 Kößler, Reinhart: Despotie in der Moderne, Frankfurt am Main/New York: Campus 1993 Kreckel, Reinhard: Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt am Main/New York: Campus 1992. Kremer-Marietti, Angèle: Morale et politique, Paris: Kimé 1995 Krockow, Christian Graf: Der deutsche Niedergang, Stuttgart: DVA 1998 Krüger, Herbert: Allgemeine Staatslehre, Stuttgart: Kohlhammer 1964 648

Krugman, Paul: The Accidental Theorist and other Dispatches from a Dismal Science, New York: Norton 1999 Kruse, Volker: Historisch-soziologische Zeitdiagnosen in West- deutschland nach 1945, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994 Kulitz, Peter: Unternehmerspenden an politische Parteien, Berlin: Duncker & Humblot 1983 Kurz, Robert: Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernenensozialismus zur Krise der Weltökonomie, Frankfurt am Main: Eichborn 1991 Ders.: Schwarzbuch des Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Markt- wirtschaft, Frankfurt am Main: Eichborn 1999 Kuttner, Robert: Everything for Sale. The Virtues and Limits of Mar- kets, New York: Knopf 1996 Labedz, Leo (Hrsg.): Revisionismus, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1965 Labriola, Antonio: La concezione materialistica della storica, Bari: Laterza 2 1965 Laertius, Diogenes: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Hamburg: Meiner 1998 Lafontaine, Oskar: Deutsche Wahrheiten. Die nationale und soziale Frage, München: Knaur ²1992 Lamartine, Alphons de: Geschichte der Februar-Revolution in Frank- reich, Leipzig: Lorck 1849 Lambertz, Günter: Demokratie oder Eliteherrschaft? Sind die Bürger nur Statisten?, Krefeld: Lafleur 1984 Lambsdorff, Otto Graf: Politik unter Sachzwängen - Gibt es noch eine politische Alternative?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 32/33 (1976), S. 21 ff. Landecker, Werner S.: Die Geltung des Völkerrechts als gesellschaft- liches Phänomen, Hrsg. Günther Lüschen, Müns- ter/Hamburg/London: LIT 1999 Landfried, Christine: Parteienfinanzen und politische Macht, Baden- Baden: Nomos 1990 Lanessan, J.-L. de: La lutte pour l’existence et l’évolution des socié- tés, Paris: Alcan 1903 Lapierre, Jean-William: Essai sur le fondement du pouvoir politique, Aix-en-Provence: Publications des Annales de la Faculté des Lettres 1968 Laplanche, J./J.-P. Portalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, 2 Bde., Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972 Lapp, Ralph E.: The New Priesterhood: The Scientific Elite and the Uses of Power, New York: Harper & Row 1965 649

Lasch, Christopher: The Revolt of the Elites, Harper’s Magazine (No- vember 1994), S. 39 ff. Ders.: Macht ohne Verantwortung, Hamburg: Hoffmann und Campe 1995 Lascoumes, Pierre: Élites irrégulières. Essai sur la délinquance des affaires, Paris: Gallimard 1997 Ders.:Corruptions, Paris: Presse de Sciences Po 1999 Lasswell, Harold: Politics: Who Gets What, When, How?, New York: McGraw-Hill 1936 Ders.:/Daniel Lerner/C. E. Rothwell: The Comparative Study of Elites, Stanford: UP 1952 Ders.: Politics and Personal Insecurity, New York/London: Free Press 1965 Latham, Earl: The Group Basis of Politics, Indianapolis: Bobs-Merrill 1952 Laub, Gabriel: Denken verdirbt den Charakter, München: Hanser ²1984 Lay, Rupert: Ethik für Wirtschaft und Politik, Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein 1991 Lazarsfeld, Paul/Wagner Thieles Jr.: The Academic Mind. Social Scientist in a Time of Crisis, Glencoe: Free Press 1958 Le Bon, Gustav: Psychologie der Massen, Stuttgart: Kröner 1961 Lecky, William: History of the rise and influence of the spirit of ratio- nalism in Europe, 2 Bände, London: Longmans, Green ²1890 Leclerc, Michel-Édouard: La fronde des caddies, Paris: Plon 1994 Lederer, Emil: Der Massenstaat, Hrsg. Claus-Dieter Krohn, Graz/Wien: Nausner 1995. Leggett, John C.: Taking States Power, New York u.a.: Harper & Row 1973 Leggewie, Claus: Die Kritik der Politischen Klasse und die Bürgerge- sellschaft, Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 31 (1993), S. 7 ff. Ders.: (Hrsg.): Wozu Politikwissenschaft. Über das Neue in der Poli- tik, Darmstadt: WBG 1994. Ders.: Der unglaubliche Donald Trump oder: Unternehmer als Politiker als Fernsehhelden, Berliner Debatte INITIAL 11 (2000)/Heft 1, S. 9 ff. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Theodicee, Leipzig: Dürr 1879 Ders.: La Monadologie, Hrsg. Émile Boutroux, Paris: Delagrave 1975 Leif, Thomas/Hans-Josef Legrand/Ansgar Klein (Hrsg.): Die politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand, Bonn/Berlin: Bou- vier 1992 650

Leiken, Robert S.: Controlling the Global Corruption Epidemic, Fo- reign Policy Nr. 105 (Winter 1996/1997), S. 55 ff. Leisner, Anna: Die Leistungsfähigkeit des Staates. Verfassungsrecht- liche Grenzen der Staatsleistung?, Berlin: Duncker & Humblot 1998 Lenk, Kurt: ‚Elite‘ - Begriff oder Phänomen, Aus Politik und Zeitge- schichte Nr. 42 (1982), S. 27 ff. Ders.: Außerhalb der Medien ist kein Heil, Die Neue Gesellschaft Nr. 7/8 (2000), S. 402 ff. Lenski, Gerhard: Macht und Privileg, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973 Lerner, Gerda: Die Entstehung des Patriarchats, Frankfurt am Main: Fischer 1991 Leroux, Pierre: De l’ égalité etc., Hrsg. Bruno Viard, Paris/Genf: Fleu- ron 1996 Les constitutions et les principales lois politiques de la France depuis 1789, Hrsg. Léon Duguit/Henry Monnier, Paris: Librairie générale de droit 5 1932 Lessing, Theodor: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen oder die Geburt der Geschichte aus dem Mythos, Hamburg: Rütten & Loening 1962 Leyendecker, Hans u.a.: Mafia im Staat. Deutschland fällt unter die Räuber, Göttingen: Steidl 1992. Liebenstein, Harvey: Allocative efficiency vs. ‚x-efficiency’, The Ame- rican Economic Review, Jahrgang 56 (1966), S. 392 ff. Liedtke, Rüdiger (Hrsg.): Die neue Skandalchronik. 40 Jahre Affären und Skandale in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main: Eichborn 1989 Lincoln, Abraham: Gettysburg Address, in: Documents of American History, Hrsg. Henry S. Commager, New York: Croft ³1943, S. 428 f. Lindblom, Charles E.: Jenseits von Markt und Staat. Eine Kritik der politischen und ökonomischen Systeme, Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein 1983 Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus, Opladen/Wiesbaden: WDV ²1999 Lippe, Ernst August Prinz zur: Orden und Auszeichnungen, Heidel- berg/München: Keysersche Verlagsbuchhandlung 1958 Locke, John: Two Treatises of Civil Government, Hrsg. W. S. Carpen- ter, London/New York: Dent & Dutton 1962 Loewenstein, Karl: Verfassungslehre, Tübingen: Mohr 1959 Ders.: Beiträge zur Staatssoziologie, Tübingen: Mohr 1961 Logau, Friedrich von: Erstes Hundert Teutscher Reimen-Sprüche (1638), Stuttgart: Reclam 1984 651

Lohmar, Ulrich: Staatsbürokratie. Das hoheitliche Gewerbe, München: Goldmann 1978, Lolme, Jean Louis De: Constitution de l’ Angleterre, ou État du gou- vernement Anglais, compare avec la forme républicaine & avec les autres monarchies, 2 Bde., Genf/Paris: Barde, Manget/Buisson 1789 Lordon, Frédéric: Les quadratures de la politique économique, Paris: Albin Michel 1997 Lowe, Adolph: Hat Freiheit eine Zukunft?, Marburg: Metropolis 1990 Lüdtke, Alf (Hrsg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historisch- anthropologische Studien, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991 Ludwig, Johannes: Wirtschaftskriminalität, Frankfurt am Main: Fischer 1992 Luhman, Niklas: Funktion und Folgen formaler Organisation, Berlin: Duncker & Humblot 1964 Ders.: Soziologische Aufklärung, Opladen: WDV 1970 Ders.: Macht, Stuttgart: Enke 1975 Ders.: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München/Wien: Olzog 1981 Ders.: Soziale Systeme, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984 Ders.: Erkenntnis als Konstruktion, Bern: Benteli 1988 Ders.: Europa als Problem der Weltgesellschaft, in 4. Leutherheider Forum, Protokoll, Krefeld 1993, S. 40 ff. Lukács, Georg: Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied: Luchterhand o.J. (1962) Lundberg, G. A./C. G. Schrag/O. N. Larsen/W. R. Catton: Sociology, New York/Evanston/London: Harper & Row 4 1968 Luthardt, Wolfgang/Arno Waschkuhn (Hrsg.): Politik und Repräsenta- tion, Marburg: Schüren 1988 Luther, Martin: Die reformatorischen Grundschriften in 4 Bänden, Hrsg. Horst Beintker, Darmstadt: WBG 1983 Luttwak, Edward: Turbo-Kapitalismus, Hamburg/Wien: Europa Verlag 1999 Lutz, Hermann: Bisherige Methoden reichen nicht, GP-Magazin 10 (1992), S. 37. Lynd, Robert S./Helen M. Lynd: Middletown, New York: Harcourt, Bra- ce 1929 Dies.: Middletown in Transition. A Study in Cultural Conflicts, New York: Harcourt Brace 1937 Lynd, Robert S.: Knowledge for What? The Place of Social Science in American Culture, Princeton: UP 1948 652

MacArthur, John R.: Die Schlacht der Lügen. Wie die USA den Golf- krieg verkauften, München: dtv 1993 Machiavelli, Niccolò: Der Fürst, Wiesbaden: VMA 1980 MacIver, Robert M.: The Modern State, London: Oxford UP 1964 Mackenzie, William J. M.: Political and Social Science, Harmonds- worth: Pelican 1967 Maddison, Angus: The World Economy in the 20th Century, Paris: OECD 1989 Maine, Henry: Ancient Law, London/New York: Dent & Dutton 1917 Maistre, Joseph de: Du pape, 2 Bde., Lyon/Paris: Rusand 1830 Malabre, Alfred L.: Lost Prophets. An Insider’s History of the Modern Economists, Boston: Harvard Business School Press 1994. Mandeville, Bernard de: Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentli- che Vorteile, Hrsg. Walter Euchner, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968 Manes, Alfred (Hrsg.): Versicherungs-Lexikon, Berlin: Mittler ³1924 Ders.: Versicherungswesen, 3 Bde., Leipzig: Teibner ³1930 Mann, Heinrich: Politische Essays, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977 Mann, Michael: Geschichte der Macht, 3 Bde. Frankfurt am Main/New York: Campus 1991/1998 Mannheim, Karl: Die Gegenwartsaufgaben der Soziologie, Tübingen: Mohr 1932 Ders.: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, Leiden: Sijthoff 1935 Ders.: Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main: Schulte-Bumke 4 1965 Marat, Jean-Paul: Les chaînes de l’esclavage, Hrsg. J. D. Selche, Pa- ris: Union générale d’ éditions 1972 Marazzi, Christian: Der Stammplatz der Socken. Die linguistische Wende der Ökonomie und ihre Auswirkungen in der Politik, Zü- rich:Seismo 1998 Margalit, Avishai: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Berlin: Fest 1997 Markov, Walter: Volksbewegungen in der Französischen Revolution, Frankfurt am Main/New York: Campus 1976 Ders./Albert Soboul (Hrsg.): Die Sanculotten von Paris, Berlin: Aka- demie 1957 Marris, P./M. Rein: Dilemmas of Social Reform: Poverty und Commu- nity Action in the United States, London: Routledge 1967 Martholz, Jean-Paul: Et maintenant, le monde en bref. Les médias: témoins mais aussi acteurs du nouveau désordre mondial, Brüssel: GRIP 1999 653

Martin, Gerhard Marcel: Weltuntergang: Gefahr und Sinn apokalypti- scher Visionen, Stuttgart: Kreuz 1984 Marx, Karl: Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW 1, S. 203 ff. Ders.: Das Kapital, MEW 23 f. Ders./Friedrich Engels: Deutsche Ideologie (1845/1846), MEW 3, S. 9 ff. Maslow, A. H.: Motivation und Persönlichkeit, Olten/Freiburg i. Br.: Walter ²1978 Maurer, David W.: The Big Con. The Story of the Confidence Man and the Confidence Game, New York: Pocket Books 1940 Maximus, Valerius: Facta et dicta memorabilia, Hrsg. Ursula Blank- Sangmeister, Stuttgart: Reclam 1991 May, Rüdiger: Lean Politics. Eine Radikalkur für den Staat, München: Knaur 1999 Mayntz, Renate (Hrsg.): Formaliserte Modelle in der Soziologie, Neu- wied/Berlin: Luchterhand 1967 Dies.: Verbände zwischen Mitgliederinteressen und Gemeinwohl, Gü- tersloh: Bertelsmann 1992 McGinn, Daniel: America’s Exam Anxiety, Newsweek vom 6. 9. 1999, S. 66 ff. Mead, Margaret: Mann und Weib. Zum Verhältnis der Geschlechter in einer sich wandelnden Welt, Reinbek: Rowohlt 1959 Megenberg, Konrad von: Klagelied der Kirche über Deutschland, Hrsg. Horst Kusch, Berlin: Rütten & Loening 1956 Mehring, Franz: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, 2 Bde., Berlin: Dietz 1960 Mehring, Walter: Chronik der Lustbarkeiten. Die Gedichte, Lieder, Chansons 1918 - 1933, Düsseldorf: Claassen 1981 Meier, Christian: Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin: Siedler 1993 Meillassoux, Claude: Anthropologie der Sklaverei, Frankfurt am Main/New York: Campus 1989 Meinecke, Friedrich: Die deutsche Katastrophe, Wiesbaden: Brock- haus 1946 Meinhard Miegel/Stefanie Wahl: Das Ende des Individualismus, Bonn: Aktuell 1993 Ménard, Louis: Prologe d’ une Révolution. Février - Juin. - 1848, Pa- ris: Bureau du peuple 1849 Mencius: Eine Staatslehre auf ethischer Grundlage, Hrsg. Ernst Fa- ber, Elberfeld: Friderichs 1877 Menne, Leo: Korruption, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozial- psychologie 1 (1948/1949), S. 144 ff. 654

Merriam, Charles: Systematic Politics, Chicago: Chicago UP 1945 Mesnard, Pierre: L’ essor de la philosopie politique au XVIe siècle, Paris: Vrin 1951 Metz, Harold W./Charles A. H. Thomson: Authoritarianism and the In- dividual, Washington: Brookings 1950 Metzner, Andreas: Umwelt, Technik & Risiko - sozialwissenschaftliche Zugänge, Habilitationsschrift, Münster 1999 Meulemann, Heiner: Gleichheit hier - Leistung dort?, Gewerkschaftli- che Monatshefte Nr. 11 (1999), S. 648 ff. Meyer, Jean: Le despotisme éclairé, Paris: PUF 1991 Meyer, R. W.: Leibniz und die Europäische Ordnungskrise, Hamburg: Hansischer Gildenverlag 1948 Meyer, Thomas: Inszenierung des Scheins, Frankfurt am Main: Suhr- kamp 1992 Michel, Ernst: Sozialgeschichte der industriellen Arbeitswelt, Frank- furt am Main: Josef Knecht 1953 Michels, Robert: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, Stuttgart: Kröner ²1925 Ders.: Soziologie als Gesellschaftswissenschaft, Berlin: Mauritius 1926 Ders.: Italien heute: Politik und wirtschaftliche Kulturgeschichte von 1860 bis 1930, Zürich/Leipzig: Orell Füssli 1930 Milgram, Stanley: Das Milgram-Experiment, Reinbek: Rowohlt 1982 Mill, John Stuart: Principles of Political Economy, 2 Bände, Boston: Little + Brown 1848 Ders.: Representative Government, Oxford: Oxford UP 1912 Mills, C. Wright: The Power Elite, New York: Oxford UP 1956; Die a- merikanische Elite, Hamburg: Holsten 1962 Milton, John: Areopagitica and other Prose Works, London: Dent 1927 Minois, Georges: Anne de Bretagne, Paris: Fayard 1997 Misch, Carl: Varnhagen von Ense in Beruf und Politik, Gotha: Perthes 1925 Mitterer, Josef: Das Jenseits der Philosophie, Wien: Passagen 1992 Mohl, Robert von: System der Präventiv-Justiz oder Rechts-Polizei, Tübingen: Laupp 1834 Ders.: Politik, Tübingen: Laupp 1862 Molitor, Bruno: Zur Moral der Wirtschaftsordnung, Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 52/53 (1989), S. 21 ff. Mommsen, Ernst W. (Hrsg.): Elitebildung in der Wirtschaft, Darmstadt: Leske 1955 Monluc, Blaise de: Commentaires 1521 – 1576, Hrsg. Paul Courteault, Paris: Gallimard 1964 655

Montesquieu, Charles-Louis de: De l’esprit des lois, 2 Bde., Paris: Pourrat 1834 Moore, Barrington: Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Un- terordnung und Widerstand, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982 More, Thomas: De optimo rei publicae statu, deque nova Utopia, Ba- sel 1517 Morgenthau, H. J.: Macht und Frieden, Gütersloh: Bertelsmann 1963 Morin, Edgar: Autocritique, Paris: Seuil 1975 Mosca, Gaetano: Die herrschende Klasse. Grundlagen der politischen Wissenschaft, Salzburg: Bergland-Buch 1950 Ders.: Il tramonto dello stato liberale, Hrsg. Giovanni Spadolini, Ca- tania: Bonanno 1971 Moscovici, Serge: Sozialer Wandel durch Minoritäten, Urban & Schwarzenberg: München u.a. 1979 Mounin, Georges: Machiavel, Paris: Seuil 1958 Mucchielli, Laurent: La découverte du social. Naissance de la socio- logie en France, Paris: Éditions la Découverte 1998 Mühlmann, Wilhelm: Homo Creator. Abhandlungen zur Soziologie und Ethnologie, Wiesbaden: Harrassowitz 1962 Müller, Florian/Michael Müller (Hrsg.): Markt und Sinn. Dominiert der Markt die Werte?, Frankfurt am Main/New York: Campus 1996 Müller, Jerry Z.: Adam Smith in his time and ours. Designing the de- cent society, New York u.a.: Free Press 1993 Ders.: Conservatism, Princeton, New Jersey: Princeton UP 1997 Müller, K. V.: Begabung und soziale Schichtung in der hochindustria- lisierten Gesellschaft, Köln/Opladen: WDV 1956 Muller, Philippe: Vive l’école républicaine! Textes et discours fonda- teurs, Paris: Librio 1999 Müller-Armack, Alfred: Genealogie der Wirtschaftsstile, Stuttgart: Kohlhammer 1944 Ders.: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, Düsseldorf: Verlag Wirtschaft und Finanzen 1999 Müller-Schneider, Thomas: Wandel der Milieulandschaft in Deutsch- land. Von hierarchisierenden zu subjektorientierten Wahrneh- mungsmustern, Zeitschrift für Soziologie, Jg. 25 (1996)/Heft 3, S. 190 ff. Münkler, Herfried: Im Namen des Staates, Frankfurt am Main: Fischer 1987 Ders.: Thomas Hobbes, Frankfurt am Main/New York: Campus 1993 Ders./Marcus Llanque (Hrsg.): Konzeptionen der Gerechtigkeit, Ba- den-Baden: Nomos 1999 656

Murck, Manfred: Die Angst vor Kriminalität, in: Wolf-Dieter Remmele (Hrsg.): Brennpunkt Kriminalität, München: Bayrische Landeszent- rale 1996, S. 95 ff. Musil, Robert: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste (1922), in ders.: Gesammelte Werke, Hrsg. Adolf Frisé, Bd. 2 (Prosa und Stücke), Reinbek: Rowohlt 1978, S. 1075 ff. Naschold, Frieder: Systemsteuerung, Stuttgart u.a. Kohlhammer 1969 Naville, Pierre: Le Nouveau Léviathan (6 Bde., 1957 ff.), Bd. 5, Paris: Anthropos 1972 Necker, Jacques: Du pouvoir exécutif dans les grands états, Paris 1792 Nestroy, Johann Nepomuk: Lustspiele, München: Deutsche Bibliothek 1986 Nettesheim, Agrippa von: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissen- schaften etc., Hrsg. Fritz Mauthner, 2 Bde., München: Georg Müller 1913 Neumann, Franz (Hrsg.): Lexikon der Politik, München: Vahlen 9 1995 Neumann, Franz L.: Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930 - 1954, Hrsg. Alfons Söllner, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978 Neumann, Helga: Zur Machtstruktur in der Bundesrepublik deutsch- land. Eine empirische Untersuchung über Artikulationschancden ge- sellschaftlicher Interessen im politischen Entscheidungsprozes, Mell: Knoth 1979 Newfang, Oscar: Capitalism and Communism: A Reconciliation, New York/London: Putnam’s Sons 1932 Nida-Rümelin, Julian (Hrsg.): Philosophie der Gegenwart in Einzel- darstellungen, Stuttgart: Kröner 1991 Ders.: Kritik des Konsequentialismus, München: Oldenbourg 1995 Nietzsche, Friedrich: Werke in 3 Bänden, Hrsg. Karl Schlechta Mün- chen: Hanser ³1962 Nisbet, Robert A.: Social Change and History. Aspects of the Western Theory of Development, London u.a.: Oxford UP 1969 Noack, Paul: Korruption - die andere Seite der Macht, München: Kind- ler 1985 Nordau, Max: Entartung, Berlin: Duncker & Humblot, 2 Bde., 1892/1893 Normand, Charles: La bourgeoisie française auf VIIe . La vie publique. Les idées et les actions politiques, Paris: Alcan 1908. Norris, Clive/Gary Amstrong: The maximum surveillance society, Ox- ford: Berg 1999 Nozick, Robert: Anarchy, State and Utopia, New York: Basic Books 1974 657

Nürnberger, Christian: Die Machtwirtschaft, München: dtv 1999 Nuspliger, Kurt: Pressefreiheit und Pressevielfalt, Diessen-hofen: Rü- egger 1980 Nussbaum, Martha C.: Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999 Nye, Joseph S., Jr./Philip D. Zelikow/David C. King: Why People Don’t Trust Government, Cambridge: Harvard UP 1997 Oberhauser, Fred/Gabriele Oberhauser: Literarische Führer durch Deutschland, Frankfurt am Main: Insel 1983 Ogger, Günter: Absahnen und abhauen. Deutschland vor dem Chaos, München: Knaur 1999 Ohmae, Kenichi: Die neue Logik der Weltwirtschaft, Frankfurt am Main: Fischer 1992 Oppenheimer, Franz: Allgemeine Soziologie, Jena: Fischer 1923 Ders.: Soziologie des Staates, in: Jahrbuch für Soziologie, Hrsg. Gottfried Salomon, Karlsruhe 1925, Band 1, S. 64 ff. Ders.: System der Soziologie, 4 Bde., Jena: Gustav Fischer 1922/1929 Oppenheimer, Martin: The State in Modern Society, New York: Huma- nity Books 2000 Ormerod, Paul: The Death of Economics, London: Faber & Faber 1994 Ortega y Gasset, José: Der Intellektuelle und der Andere, Stuttgart: DVA 1949 Ders.: Der Aufstand der Massen, Hamburg: Rowohlt 1958 Orton, Joe: What the Butler saw (1962), London: Methuen 1986 Orwell, George: The Road to Wigan Pier, Harmondsworth: Penguin 1967 Ders.: Farm der Tiere, Zürich: Diogenes 1982 Ostrogorski, Moïse: Democracy and the Organization of Political Par- ties, Vorwort von James Bryce, 2 Bde., New York: Haskell 1970 Otto, Hans-Uwe/Roland Merten (Hrsg.): Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland, Opladen: Leske + Budrich 1993 Ottone, Piero: Affari & Morale, Mailand: Longanesi 1988 Oxenstirn: Kurzer Begriff oder Auszüge derer Gedanken des Herrn Grafen von Oxenstirn über unterschiedliche Materien (1746), 3 Tei- le, Franckfurt/Leipzig: Lochner und Mayer ³1755 Paine, Thomas: The Rights of Man, Hrsg. Arthur Seldon, London/New York: Dent & Dutton 1963 Paléologue, Maurice: Tagebuch der Affäre Dreyfus 1894 - 1899, Stuttgart: DVA 1957 Pankoke, Eckart: Gesellschaftslehre, Frankfurt am Main: Klassiker Verlag 1991 658

Papcke, Sven: Der Revisionismusstreit und die politische Theorie der Reform, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1979 Ders.: Wo bitte geht es zur Realität? Sozialwissenschaften und Zeit- diagnose, in Claus Leggewie (Hrsg.), Wozu Politikwissesschaft. Über das Neue in der Politik, Darmstadt: WBG 1994, S. 243 ff. Ders.: Kommunitarismus oder der Traum von der Gerechtigkeit in ei- ner ungerechten Welt, in P. U. Hein/Hartmut Reese (Hrsg.): Kultur und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main: Lang 1996, S. 123 ff.; 420 ff. Ders.: Dritter Weg ohne Ziel?, Vorgänge Nr. 149 (2000), S. 88 ff. Ders.: Gemeinwohl und Gerechtigkeit. Passwörter der Konkurrenzge- sellschaft, Gewerkschaftliche Monatshefte 6 (2000), S. 341 ff. Pareto, Vilfredo: Trattato di sociologia generale (1916), 4 Bde., Hrsg. Giovanni Busino, Turin: Unione Tipografico-Editrice 1988 Parry, Geraint: Political Elites, Landon: Allen and Unwin 1971 Parsons, Talcott: Essays in Sociological Theory, Glencoe, Ill.: Free Press 1954 Pascal, Blaise: Ouevre, Hrsg. Jacques Chevalier, Paris: Gallimard 1950 Pasquino, Gianfranco: La oposición, Madrid: Alianza 1998 Patterson, Orlando: Freedom, Bd. 1: Freedom in the Making of Wes- tern Culture, New York: Basic Books 1991 Paul, Jean: Titan, Jean Paul Werke, Hrsg. Norbert Miller, Abteilung I, Band 3, München: Hanser 4 1980 Pauser, Wolfgang: Die Krise als Ware, Wirtschafts-Woche Nr. 13 (1993), S. 60 f. Paxman, Jeremy: Friends in High Places. Who Rules Britain?, Har- mondsworth: Penguin 1991 Pell, Eve: The Big Chill. How the Reagan administration, corporate America, and religious conservatives are subverting free speech and the public’s right to know, Boston: Beacon Press 1984 Pells, Richard H.: Radical Visions and American Dreams: Culture and Social Thought in the Depression Years, Middletown, CT: Wesleyan UP 1973 Pernoud, Régine: Les origines de la Bourgeoisie, Paris: PUF 1956 Perthes, C. T.: F. Perthes’ Leben, 2 Bände, Gotha: F. A. Perthes 6 1872 Peters, Birgit: Prominenz. Eine soziologische Analyse ihrer Entste- hung und Wirkung, Wiesbaden: WDV 1996 Peters, Richard: Hobbes, Harmondsworth: Pelican 1956 Petitfils, Jean-Christian: Louis XIV invente la politique de communica- tion, in: La règne der Louis XIV, Paris: Tallandier 1998 659

Pfitzner, Josef: Bakunin-Studien, Berlin: Kramer 1977 Philippovich, Eugen von: Grundriß der politischen Ökonomie, Tübin- gen: Mohr 191926 Pickel, Gert u.a. (Hrsg.): Demokratie. Entwicklungsformen und Er- scheinungsbilder im interkulturellen Vergleich, Frankfurt an der O- der/Bamberg: Scrîpvaz 1997 Pico della Mirandola, Giovanni: Über die menschliche Würde, Hrsg. August Buck, Hamburg: Meiner 1990 Platon: Politeia, Sämtliche Werke, Hrsg. Karlheinz Hülser, Band 5, Frankfurt am Main: Insel 1991 Pöhlmann, Robert von: Die Anfänge des Sozialismus in Europa, Histo- rische Zeitung 79 (1897), S. 385 ff. Polányi, Karl: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Wien: Eu- ropaverlag 1977 Polin, Ramond: Politique et philosophie chez Thomas Hobbes, Paris: PUF 1953 Politische Begriffe, Hrsg. Von Dieter Nohlen, München: Beck 1998 Pollard, A. F.: The Evolution of Parliament, London: Logmans, Green 1926 Pongs, Armin (Hrsg.): In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?, Gesellschaftskonzepte im Vergleich, 2 Bde, München: Dilemma 1999/2000 Popcorn, Faith: Trendbericht für die Zukunft, München: Heyne 1992 Pope, Alexander: Collected Poems, Hrsg. Bonamy Dobrée, Lon- don/New York: Dent & Dutton 1963 Popitz, Heinrich: Prozesse der Machtbildung, Tübingen: Mohr ³1976 Ders.: Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, Tübingen: Mohr 1968 Popp, Roland: Konfliktlinien in der Zivilgesellschaft, perspektiven ds, 16. Jg (1999)/Heft 2, S. 13 ff. Porter, Michael: The Competitive Advantage of Nations, New York: Free Press 1990 Postman, Neil: Die Verweigerung der Hörigkeit, Frankfurt am Main: Fischer 1988 Ders.: Die zweite Aufklärung. Vom 18. ins 21. Jahrhundert, Berlin: Berlin Verlag 1999 Poulantzas, Nikos: Politische Macht und gesellschaftliche Klassen, Frankfurt am Main: Athenäum ²1975 Pows, Jonathan: Arictocracy, Oxford/New York: Basil Blackwell 1984 Presthus, Robert: Individuum und Organisation, Frankfurt am Main: Fischer 1966 660

Pries, Frank: Medien in Lateinamerika, KAS-Auslandsinformationen Nr. 4 (1999), S. 4 ff. Prokop, Dieter (Hrsg.): Massenkommunikationsforschung 1: Produkti- on, Frankfurt am Main: Fischer 1972 Ders. (Hrsg.): Massenkommunikationsforschung 2: Konsumtion, Frankfurt am Main: Fischer 1973 Pross, Harry: Protestgesellschaft, München: Artemis & Winkler 1992 Prouhon, Pierre-Joseph: Manuel du spéculateur à la Bourse, Paris: Garnier ³1856 Ders.: Théorie du mouvement constitutionel au XIXe siècle, Paris: La- croix, Verboeckhoven 1870 Pufendorf, Samuel: Die Verfassung des deutschen Reiches, Hrsg. Horst Denzer, Stuttgart: Reclam 1985 Radnitzky, Gerard/Hardy Bouillon (Hrsg.): Government - Servant or Master?, Amsterdam/Atlanta: Edition Rodopi 1994 Radowitz, Joseph von: Fragmente (1826), Gesammelte Schriften IV/1: Berlin: Georg Reimer 1853 Ragon, Michel: Le roman de Rabelais, Paris: Albin Michel 1993 Ramonet, Ignacio: Géopolitique du chaos, Paris: Galilée 1997 Ders.: La tyrannie de la communication, Paris: Galilée 1999 Ranke, Leopold von: Die großen Mächte/Politische Gespräche, Göt- tingen: Vandenhoeck & Ruprecht Rathenau, Walther: Von kommenden Dingen, Berlin: Fischer 1917 Ders.: Tagebuch 1907 - 1922, Hrsg. Hartmut Pogge - v. Strandmann, Düsseldorf: Droste 1967 Ratzenhofer, Gustav: Sociologische Erkenntnis, Leipzig: Brockhaus 1898 Rau, Karl Heinrich: Lehrbuch der politischen Oekonomie, Band III/1: ‚Grundsätze der Finanzwissenschaft’, Heidelberg: C. F. Winter ³ 1850 Raufer, Thilo: Koordinationsprobleme politischer Steuerung, Mün- chen-Neubigerg: Institut für Staatswissenschaft 1999 Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979 Ray, John J./Walter Kiefl: Authoritarianism and Achievement Motivati- on in Contemporary West Germany, The Journal of Social Psycho- logy, Nr. 122 (1984), S. 3 ff. Regan, Geoffrey: Narren, Nulpen, Niedermacher. Militärische Blind- gänger und ihre größten Schlachten, Lüneburg: Klampen 1998 Reich, Robert: Goodbye, Mr. President. Aus dem Tagebuch eines Clinton-Ministers, Düsseldorf/München: List 1998 661

Remmele, Wolf-Dieter (Hrsg.): Brennpunkt Kriminalität, München: Bayrische Landeszentrale 1996 Rensch, Bernhard: Homo sapiens. Vom Tier zum Halbgott, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1959 Rentzsch, H. (Hrsg.): Handwörterbuch der Volkswirtschaftslehre, Leipzig: Gustav Mayer 1866 Revelière, Louis: De la vanité des institutions fondées par le sophis- me. Mélanges pour faire suite aux ruines de la monarchie françai- se, Paris: Lecoffre 1880 Rezzori, Gregor von: Idiotenführer durch die Deutsche Gesellschaft. Hochadel, Adel, Schickeria, Prominenz, München: Herbig 1990 Rich, Paul: American Voluntarism, Social Capital, and Political Cultu- re, in: The Annals of the American Academy Nr. 565 (September 1999), S. 15 ff. Riché, Pierre: Grandes invasions et empires, Paris: Tallandier 1973 Richet, Denis: La France moderne: L’ esprits des institutions, Paris: Flammarion 1973 Richter, Rudolf/Eirik G. Furubotn: Neue Institutionenökonomik, Tübin- gen: Mohr-Siebeck 2 1999 Rickert, Reinhart: Intensivierung der Medienkontrolle, Bericht in: Der Spiegel Nr. 41 (1990), S. 114 ff. Rickword, Edgell: Die Englische Revolution von 1640, Berlin: Dietz 1952 Riehl-Heyse, Herbert: Bestellte Wahrheiten. Anmerkungen eines Jour- nalistenmenschen, München: Kindler 1989 Riem, Andreas: Reise durch Frankreich vor und nach der Revolution, Bd., Leipzig: Fleischer 1799 Riesman, David/Reuel Denney/Nathan Glazer: Die einsame Masse, Darmstadt u.a.: Luchterhand 1956 Riffault, Hélène (Hrsg.): Les valeurs des Français, Paris: PUF 1994 Rilke, Rainer Maria: Duineser Elegien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975 Robespierre, Maximilien: Textes choisis, Hrsg. Jean Poperen, 3 Bän- de, Paris: Éditions sociales 1957/1958/1974 Robin, Régine: La révolution française a-t-elle eu lieu?, Nouvelle cri- tique Nr. 52 (1972), S. 30 ff. Robinson, Joan: Freedom & Necessity. An Introduction to the Study of Society, London: Allen & Unwin 1970 Rochau, August Ludwig von: Grundsätze der Realpolitik, 2 Bde., Stuttgart: Göpel 1853/1869 Rödel, Ulrich/Günter Frankenberg/Helmut Dubiel (Hrsg.): Die demo- kratische Frage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989 662

Roes, Alexander von: Die Schriften des Alexander von Roes, Hrsg. Herbert Grundmann/Hermann Heimpel, Weimar: Böhlau 1949 Röhrich, Wilfried: Eliten und das Ethos der Demokratie, München: Beck 1991 Rohrwasser, Michael: Der Stalinismus und die Renegaten, Stuttgart: Metzler 1991 Rolshausen, Claus: Macht und Herrschaft, Münster: Westfälisches Dampfboot 1997 Rosa, Hartmut: Die prozedurale Gesellschaft und die Idee starker po- litischer Wertungen - Zur moralischen Landkarte der Gerechtigkeit, in Herfried Münkler/Marcus Llanque (Hrsg.): Konzeptionen der Ge- rechtigkeit, Baden-Baden: Nomos 1999, S. 395 ff. Rosanvallon, Pierre: Le peuple introuvable, Paris: Gallimard 1998 Roscher, Wilhelm: Die Grundlagen der Nationalökonomie, Stuttgart: Cotta 6 1866 Ders.: Politik. Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie, Stuttgart: Cotta 1892 Rose, Arnold M.: The Power Structure. Political Process in American Society, London u.a.: Oxford UP 1967 Rose, Paul Lawrence: Bodin and the Great God of Nature, Genf: Droz 1980 Rose-Ackerman, Susan: The Economics of Corruption. An Essay in Political Economy, New York: Academic Press 1978 Rosenberg, Hans: Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prus- sian Experience 1660 – 1815, Boston: Beacon 1966 Rosendorfer, Herbert: Briefe in die chinesische Vergangenheit, Mün- chen: dtv, 7 1988 Roß, Jan: Die neuen Staatsfeinde. Eine Streitschrift gegen den Vul- gärliberalismus, Berlin: Fest 1997 Rosset, Clément: Le réel et son double. Essai sur l’illusion, Paris: Gallimard ²1984 Roth, Heinrich (Hrsg.): Begabung und Lernen, Stuttgart: Klett 4 1969 Rothbard, Murray N.: Die Ethik der Freiheit, Sankt Augustin: Acade- mia 1999 Rothkrug, Lionel: Opposition to Louis XIV, Princeton: Princeton UP 1965 Rothman, Stanley/Amy E. Black: Who Rules now? American Elites in the 1990s, in: Society, Band 35 (1998)/Nr. 6, S. 17 ff. Rotter, J. B.: Vertrauen. Das kleinere Risiko, Psychologie heute, 1981/3, S. 23 ff. Rotterdam, Erasmus von: Institutio principis christiani, Hrsg. A. J. Gail, Paderborn: Schöningh 1968 663

Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social, Hrsg. Maurice Halb- wachs, Paris: Aubier 1943 Ders.: Confessions, Oeuvres complètes, Édition Pléiade, Band 1, Pa- ris: Gallimard 1959 Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen, 2 Bde., Hrsg. Hans Wollschläger/Rudolf Kreutner, Göttingen: Wallstein 1998 Rupprecht, Reinhard (Hrsg.): Polizei Lexikon, Heidelberg: Kriminalis- tik Verlag ²1995 Russell, Bertrand: Power, London: Unwin 1967 Ruß-Mohl, Stephan: Ferngelenkte Medienberichterstattung? Gefähr- dungen der Pressefreiheit in den USA: in: Aus Politik und Zeitge- schichte Nr. 51 (1991), S. 23 ff. Rüthers, Bernd: Carl Schmitt im Dritten Reich. Wissenschaft als Zeit- geist-Verstärkung?, München: Beck ² 1990 Sahlins, M. D./E. R. Service: Evolution and Culture, Ann Arbor: Mi- chigan UP 1960 Said, E. W.: Götter die keine sind. Der Ort des Intellektuellen, Berlin: Berlin Verlag 1997 Saint-Just, Antoine-Louis-Léon Florelle de: Discours et rapports, Hrsg. Albert Soboul, Paris: Éditions sociales 1957 Saint-Simon, Claude-Henri de: Textes choisis, Paris: Éditions socia- les 1951 Saint-Simon, Herzog Louis de: Die Memoiren des Herzogs von Saint- Simon; Hrsg. Sigrid von Massenbach, 4 Bde., Frankfurt/Berlin/Wien: Ullstein 1985 Salisbury, Johannes von: Policraticus sive de nugis curialium et vestigiis philosophorum, Hrsg. C. C. J. Webb, Oxford: Clarendon 1909 Sallust: Historiae, Hrsg. Otto Leggewie, Stuttgart: Reclam 1975 Salz, Arthur: Macht und Wirtschaftsgesetz. Ein Beitrag zur Erkenntnis des Wesens der kapitalistischen Wirtschaftsverfassung, Ber- lin/Leipzig: Teubner 1930 Samjatin, E. I.: Wir, Zürich: Manesse 1977 Sammarco, Ottavio: Delle mutationi de regini, Neapel: Lazaro Scorig- gio 1628 Sandbothe, Mike/Walther Zimmerli (Hrsg.): Zeit-Medien- Wahrnehmung, Darmstadt: WBG 1994 Sandel, Michael J.: Democracy’s Discontent: America in Search of a Public Philosophy, Cambridge: Harvard UP 1996 Sander, Uwe/Dorothee M. Meister: Medien und Anomie, in Wilhelm Heitmyer (Hrsg.): Was treibt die Gesellschaft auseinander?, Frank- furt am Main: Suhrkamp 1997, S. 196 ff. 664

Sartori, Giovanni: Demokratietheorie, Darmstadt: WBG 1997 Savile, George, Marques of Halifax: Complete Works, Harmondsworth: Pelican 1969 Sawicki, Frédérick: Classer les hommes politiques, in Michel Offerlé: La profession politique: XIXe - XXe siècles, Paris: Belin 1999 Schäfer, Claus: Verteilungspolitik, WSI-Mitteilungen Nr. 10/Köln 1997, S. 669 ff. Schäfer, Gert/Carl Nedelmann (Hrsg.): Der CDU- Staat, München: Szczesny 1967 Schattschneider, E. E.: The Semisovereign People, New York u.a.: Holt, Rinehart & Winston 1960 Schaub, Günther: Politische Meinungsbildung in Deutschland, Bonn: Dietz 1998 Scheer, Hermann: Sonnen-Strategie, München/Zürich: Piper ³1999 Schelsky, Helmut: Auf der Suche nach der Wirklichkeit, Düssel- dorf/Köln: Diederichs 1965 Scheuch, Erwin: Politische Macht und Sozialstruktur, in: liberal 2 (1967), S. 106 ff. Ders.: Soziologische Aspekte der betrieblichen Mitbestimmung in An- ton Rauscher (Hrsg.): Mitbestimmung, Köln: Bachem 1968, S. 172 ff. Ders.: Soziologie der Macht, in H. K. Schneider/Christian Watrin (Hrsg.): Macht und ökonomisches Gesetz, Schriften des Vereins für Socialpolitik NF, Berlin: Duncker & Humblot 1974/Bd.2, S. 898 ff. Ders./Ute Scheuch: Cliquen, Klüngel und Karrieren, Reinbek: Rowohlt 1992 Scheuner, Ulrich: Das Wesen des Staates und der Begriff des Politi- schen in der neueren Staatslehre, in: Staatsverfassung und Kir- chenrecht , Festschrift für Rudolf Smend, Tübingen: Mohr 1962, S. 225 ff. Schiefer, Ulrich: Afrika - Entwicklung oder Zusammenbruch?, in: E + Z, 40. Jg./Nr. 9 (1999), S. 241 ff. Schiffer, Eugen: Ein Leben für den Liberalismus, Berlin-Grunewald: Herbig 1951 Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke in zwölf Bänden, Stutt- gart/Tübingen: Cotta 1838 Schimank, Uwe: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen: Leske + Budrich 1996 Schirmacher, Käthe: Voltaire. Eine Biographie, Leipzig: Reisland 1898 Schlegel, Friedrich: Ideen (1800): In: Athenaeum. Eine Zeitschrift, Hrsg. Curt Grützmacher, 2 Bde., Reinbek: Rowohlt 1969, Band 2, S. 135 ff. 665

Schlettwein, Johann August: Grundfeste der Staaten oder die Politi- sche Ökonomie, Gießen: Kriegerische Buchandlung 1779 Schlözer, A. L.: Allgemeines Staatsrecht und Staatsverfassungslehre, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1793 Schluchter, Wolfgang: Der Elitebegriff als soziologische Kategorie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 15 (1963), S. 233 ff. Ders.: Rationalismus der Weltbeherrschung, Frankfurt am Main: Suhr- kampf 1980 Schmid, Carlo: Europa und die Macht des Geistes, Wien: Scherz 1973 Schmidt, Helmut: Der Kanzler muß handeln, Der Stern Nr. 45 (1992), S. 49 ff. Schmidtchen, Gerhard: Wie weit ist der Weg nach Deutschland?, Opladen: Leske + Budrich ²1997 Schmierl, Klaus: Erosion oder Wandel, WSI-Mitteilungen 8 (1999), S. 548 ff. Schmitt, Carl: Legalität und Legitimität, München/Leipzig: Duncker & Humblot 1932 Ders.: Der Begriff des Politischen, Hamburg: Hanseatische VA ³1933 Ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 bis 1954, Berlin: Duncker & Humblot 1958 Schmoller, Gustav von: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftsleh- re, 2 Teile, Leipzig: Duncker & Humblot 1904 Ders.: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Metho- de (1893), Frankfurt am Main: Klostermann 1949 Ders.: Kleine Schriften zur Wirtschaftsgeschichte, Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Hrsg. Wolfram Fiedler/Rolf Karl, 6 Bde., Leipzig: Zentralantiquariat der DDR 1985/1987 Schnabel, Peter-Ernst u.a.: Öffentliche Gesundheitsförderung gegen Individualisierung der Lebensstile, in Wolfgang Glatzer (Hrsg.): 25. Deutscher Soziologentag 1990, Opladen: Leske + Budrich 1991, S. 251 ff. Schneider, Franz: Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, Neu- wied/Berlin: Luchterhand 1966 Schoeps, Hans-Joachim (Hrsg.): Neue Quellen zur Geschichte Preu- ßens im 19. Jahrhundert, Berlin: Spener 1968 Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena, Sämmtliche Werke, Hrsg. Julius Frauenstädt, Band 5/6, Leipzig: Brockhaus ²1891 Schröder, Gerhard: Elitebildung und soziale Verpflichtung, in Ernst W. Mommsen (Hrsg.): Elitebildung in der Wirtschaft, Darmstadt: Leske 1955, S. 22 ff. 666

Schröder, Gerhard: Regierungserklärung vom 10. 11. 1998, Deutscher Bundestag/Stenographischer Bericht, 3. Sitzung (Plenarprotokoll 14/3), S. 47 ff. Schultz, Hans Jürgen: Warum wir schreiben, in: medium Nr. 4/1987, S. 17 ff. Schulz, Walter: Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter, Pful- lingen: Neske 1992 Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft, Frankfurt am Main/New York: Campus 7 1997 Schumpeter, Joseph: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern: Francke ²1950 Schuster, Thomas: Staat und Medien. Über die elektronische Konditi- onierung der Wirklichkeit, Frankfurt am Main: Fischer 1995 Schütze, Christian: Das Grundgesetz vom Niedergang, München: Han- ser 1989 Schwartz, Rolf Dieter: Was hält die Gesellschaft noch zusammen?, Berlin: Aufbau 1996 Schwartzenberg, Roger-Gérard: La politique mensonge, Paris: Odile Jacob 1998 Schwarzenberger, Georg: Machtpolitik. Eine Studie über die internati- onale Gesellschaft, Tübingen: Mohr 1955 Schwind, Hans-Dieter: Kriminologie, Heidelberg: Kriminalistik Verlag 102000 Scruton, Roger: A Dictionary of Political Thought, London: MacMillan 1983 Scurla, Herbert: Begegnungen mit Rahel. Der Salon der Rahel Levin, Ostberlin: Nation 1962 Searle, John R.: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Reinbek: Rowohlt 1997 See, Hans/Dieter Schenk (Hrsg.): Wirtschaftsverbrechen. Der innere Feind der freien Marktwirtschaft, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1992 Senghaas, Dieter: Zivilisierung wider Willen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998 Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Ty- rannei der Intimität, Frankfurt am Main: Fischer 1983 Seume, Johann Gottfried: Mein Sommer 1805, Nördlingen: Greno 1987 Shakespeare: Merchant of Venice, Hrsg. J. Eckenstein, Braunschweig: G. C. E. Meyer 1836 Ders.: King Henry the Fourth, Teil 1; Teil 2, Ware: Wordsworth 1994 Shennan, J. H.: Liberty and order in early modern Europe. The sub- ject and the state 1650 – 1800, London/New York: Longman 1986 Sieferle, Rolf Peter: Fortschrittsfeinde?, München: Beck 1984 667

Ders./Helga Breuninger (Hrsg.): Kulturen der Gewalt, Frankfurt am Main/New York: Campus 1998 Siegenthaler, Hansjörg: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Unregelmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Er- gebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens, Tübingen: Mohr 1993 Sieyès, Abbé Emmanuel: Abhandlung über die Privilegien/Was ist der Dritte Stand, Hrsg. R. H. Foerster, Frankfurt am Main: Insel 1968 Silbermann, Alphons: Von der Kunst der Arschkriecherei, Reinbek: Rowohlt 1998 Ders.: Flaneur des Jahrhunderts, Bergisch Gladbach: Lübbe 1999 Simmel, Georg: Soziologie Untersuchungen über die Formen der Ver- gesellschaftung, Leipzig: Duncker & Humblot 1908 Ders.: Philosophie des Geldes, München/Leipzig: Duncker & Humblot ³1920 Simon, H. A.: Models of Man, New York: Wiley 1957 Simons, Herbert W./Michael Billig: After Postmodernism. Reconstruc- ting Ideology Critique, London u.a.: Sage 1994 Sinclair, Upton: Das Geld schreibt, Berlin: Malik 1930 Sismondi, Jean Charles Simonde de: Nouveaux principes d'économie Politique, 2 Bde, Paris: Delaunay ²1827 Ders.: Études sur les constitutions des peuples libres, Paris: Brüssel: Dumont 1836 Sjoberg, Gideon: Folk and ‚feudal’ societies, The American Journal of Sociology 58/3 (1952), 231 ff. Skillen, Anthony: Ruling Illusions: Philosophy and the Social Order, Hassocks/Sussex: Harvester 1977 Smend, Rudolf: Verfassung und Verfassungsrecht, München/Leipzig: Duncker & Humblot 1928 Smith, Adam: Theorie der ethischen Gefühle, 2 Bde., Hrsg. Walther Eckstein, Leipzig: Meiner 1926 Ders.: The Wealth of Nations, Hrsg. Edwin Cannan, 2 Bde., London: Methuen 1961 Smith, Hedrick: The Power Game. How Washington Works, London: Collins 1988 Soeffner, Hans-Georg: Populisten: Profiteure, Handelsagenten und Schausteller ihrer Gesellschaften, in. Helmut Berking u.a. (Hrsg.): Politikertypen in Europa, Frankfurt am Main 1994, S. 259 ff. Sofsky, Wolfgang: Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main: Fi- scher ²1996 Sombart, Nicolaus: Pariser Lehrjahre 1951 - 1954, Frankfurt am Main: Fischer 1996 668

Ders.: Rendevouz mit dem Weltgeist, Frankfurt am Main: S. Fischer 2000 Spaemann, Robert: Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration. Studien über L. G. A. de Bonald (1959), Stuttgart: Klett-Cotta 1998 Spanutius, Herrmann Justius: Teutsch-Orthographisches Schreib- Conservations-Zeitungs- und Sprüchwörter-Lexikon, Leipzig 1720 SPD (Hrsg.): Programme der Deutschen Sozialdemokratie, Hannover 1963 Spencer, Herbert: The Principles of Sociology, Bd. 1, Lon- don/Edinburg: Williams & Norgate ³1885 Ders.: Essays on Education and Kindred Subjects, Hrsg. Charles W. Eliot, London/New York: Dent & Dutton o.J. (1910) Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Motphologie der Weltgeschichte, München: Beck 1963 Spinoza, Baruch de: Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, Leipzig: Meiner o.J. Ders.: Tractatus Theologico-Politicus, Hrsg. Günter Gawlick/Friedrich Niewohner, Opera/Werke, Band 1, Darmstadt: WBG 1979 Stadelmann, Rudolf: 1848. Soziale und politische Geschichte der Re- volution von 1848, München: Bruckmann 1948 Stahlmann, Walter: Ursachen von Wohlstand und Armut. Eine Unter- suchung von wirtschaftlichen Einflußfaktoren, München: Vahlen 1992 Stammen, Theo u.a. (Hrsg.): Hauptwerke der politischen Theorie, Stuttgart: Kröner 1997 Stammer, Otto: Das Elitenproblem in der Demokratie, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Band 71 (1951)/Nr. 5, S. 513 ff. Ders.: Politische Soziologie und Demokratieforschung, Berlin: Dun- cker & Humblot 1965 Ders./Peter Weingart: Politische Soziologie, München: Juventa 1972 Stanka, Rudolf: Die politische Philosophie des Altertum, Wien/Köln: Sexl 1951 Staute, Jörg: Das Ende der Unternehmenskultur - Firmenalltag im Turbokapitalismus, Frankfurt am Main/New York: Campus 1997 Steed, Wickham: The Press, Harmondsworth: Pelican 1938. Steffen, Wiebke: Messung, Bewertung und Lagebilddarstellung, in: Michael Kniesel/Edwin Kube/Manfred Murck (Hrsg.): Handbuch für Führungskräfte der Polizei, Lübeck: Schmidt-Römhild 1996, S. 545 ff. 669

Stein, Lorenz von: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 3 Bände, Darmstadt: WBG 1959 Steinberg, H.-J.: Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur I- deologie der Partei vor dem 1. Weltkrieg, Hannover: Literatur und Zeitgeschehen 1967 Stendhal: La Chartreuse de Parme, Paris: Club du livre 1948 Stern, Fritz: Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern/Stuttgart/Wien: Scherz 1963 Sternberger, Dolf: Begriff des Politischen, Frankfurt am Main: Suhr- kam 1961 Ders.: Grund und Abgrund der Macht, Frankfurt am Main/Wien/Zürich: Gutenberg 1964 Sternheim, Carl: Berlin oder das Juste Milieu, München: Wolff 1920 Stieglitz, Peter: Eliten. Die Stützen der Gesellschaft, Wien: Atelier 1991 Stigler, George J.: Competition, in: International Encyclopedia of So- cial Science, Band 3, New York 1968, S. 181 f. Stoll, Clifford: Ein faustischer Pakt, Der Spiegel Nr. 42 (1999), S. 302 ff. Stolleis, Michael: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, Frank- furt amMain: Suhrkamp 1990 Stolte, Dieter: Fernsehen am Wendepunkt?, München: Bertelsmann 1992 Stouffer, Samuel A.: Communism, Conformity, and Civil Liberties, Garden City: Doubleday 1955 Strauss, F. J.: Das Verhältnis von Programm und Pragmatismus in der politischen Praxis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 32/33 (1976), S. 28 ff. Studnitz, Cecilia von: Kritik des Journalisten. Ein Berufsbild in Fiktion und Realität, München u.a.: Saur 1983 Sturminger, Alfred: Die Korruption in der Weltgeschichte, Mün- chen/Wien: Langen Müller 1982 Suarez, Carl Gottlieb: Vorträge über Recht und Staat, Hrsg. Hermann Conrad/Gerd Kleinheyer, Köln/Opladen: WDV 1960 Sybel, Heinrich von: Vorträge und Aufsätze, Berlin: Hofmann 1874 Taguieff, Pierre-André: L‘ effacement de l‘ avenir, Paris: Galilée 2000 Tarde, Gabriel: Les Lois de l’imitation, Paris: Alcan 4 1904 Ders.: Die sozialen Gesetze, Leipzig: Kröner 1908 Ders.: Les Transformations du Pouvoir, Paris: Alcan ²1909 Tardieu, André: Le souverain captif, Paris: Flammarion 1936 Ders.: La profession parlementaire, Paris: Flammarion 1937 Tarkiainen, Tuttu: Die athenische Demokratie, Zürich: Artemis 1966 670

Taureck, B. H. F.: Nietzsche und der Faschismus. Eine Studie über Nietzsches politische Philosophie und ihre Folgen, Hamburg: Junius 1989 Tawney, Richard H.: Equality, London: Allen & Unwin 1931 Teodori, Massimo: Soldi & Partiti, Mailand: Ponte alle Grazie 1999 Tewarson, Heidi Thomann: Rahel Varnhagen, Reinbek: Rowohlt 1988 Thaysen, Uwe: Jaspers und die Bundesrepublik, in: Der Politologe VII (1966), S. 55 ff. The Bhagavad Gita, Hrsg. Swami Nikhilanandha, New York: Ra- makrishna Center 5 1987 Thibaudet, Albert: La république des professeurs, Paris: Grasset 1927 Thies, Jochen: Bonn, Berlin und die politische Klasse Deutschlands, Europäische Rundschau 1 (1994), S. 13 ff. Thomson, David: Personality in Politics, London u.a.: Nelson 1939 Thoreau, Henry D.: Walden oder Hüttenleben im Walde, Zürich: Ma- nesse 1972 Thurow, Lester C.: Building Wealth, Atlantic Monthly 1999/Nr. 6, S. 57 ff. Tittmann, Carl August: Allgemeiner Unterricht über die Rechte und Verbindlichkeiten der Unterthanen, Leipzig: Fleischer 1800 Tocqueville, Alexis de: L’ ancien régime et la révolution, 2 Bde., O- euvres Complètes, Hrsg. J.- P. Mayer, Paris: Gallimard ³1953 Ders.: Erinnerungen, mit einer Einleitung von C. J. Burckhardt, Stutt- gart: Koehler 1954 Ders.: De la Démocratie en Amérique, in: Oeuvres Complètes, Hrsg. J.-P. Mayer, 2 Bde., Paris: Gallimard ²1961 Tönnies, Ferdinand: Kritik der öffentlichen Meinung, Berlin: Julius Springer 1922 Toulmin, Stephen: Kosmopolis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991 Touraine, Alain: Production de la société, Paris: Seuil 1973, Toynbee, Arnold: Der Gang der Weltgeschichte, 2 Bände, Zürich u.a.: Europa-Verlag 5 1961 Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Band 1, Leipzig: Hirzel 1879 Ders.: Politik, 2 Bde., Leipzig: Hirzel 4 1918 Ders.: Parteien und Fraktionen, in ders.: Aufsätze, Reden und Briefe in 5 Bänden, Hrsg. Karl Martin Schiller, Meersburg: Hendel 1929, Bd. 3, S. 396 ff. Treutner, Erhard: Verhandlungsstaat oder kooperativer Staat?, Mün- chen-Neubigerg: Institut für Staatswissenschaften 1999 Troeltsch, Ernst: Spektator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revo- lution und die Weltpolitik 1918/1922, Tübingen: Mohr 1924 671

Trutz von Trotha (Hrsg.): Soziologie der Gewalt, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, SH 37/1997 Tuccari, Francesco: I dilemmi della democrazia moderna, Rom/Bari: Laterza 1993 Tullock, Gordon: On Voting, Cheltenham: Elgar 1998 Turgot, Abbé Jacques: Écrits économiques, Paris: Calmann-Lévy 1970 Tzermias, Pavlos: Für eine Hellenistik der Zukunft, Freiburg: Univer- sitätsverlag Freiburg (Schweiz) 1998 Unternehmerinstitut (Hrsg.): Chancengleichheit für den Mittelstand, Bonn: Eigenverlag 1999 Valentin, Veit: Geschichte der deutschen Revolution von 1848/1849, 2 Bände, Berlin: Ullstein 1930/1931 Vanberg, Viktor: Die zwei Soziologien, Tübingen: Mohr 1975 Varenne, Jean de la: M. le duc de Saint-Simon et sa comédie humai- ne, Paris: Hachette 1955 Veblen, Thorstein: Imperial Germany and the Industrial Revolution, New York: Huebsch 1918 Ders.: The Theory of the Leisure Class, New York: Viking 1931 Ders.: The Higher Learning in America: A Memorandum on the Con- duct og Universities by Business Man, New York: Hill & Wang 1957 Ventre de la Touloubre, Louis: Jurisprudence observé en provence sur les matière féodales et les droits seigneuriaux, 2 Teile, Avi- gnon: Girard 1756 Vergil: Aeneis, Hrsg, Johannes Götte, München/Zürich: Artemis 7 1988 Verlaine, Paul: Gedichte, Gerlingen: Lambert Schneider 5 1992 Vertot, René Aubertin de: Histoire des révolutions de Suède, 2 Bän- de, Paris: Pougin 1835 Vester, Michael u.a.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Struktur- wandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Köln: Bund 1993 Vialatoux, J.: La répression et la torture. Essai de philosophie morale et politique, Paris: Éditions ouvrières 1957 Vico, Giambattista: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, Reinbek: Rowohlt 1966 Vierkandt, Alfred: Gesellschaftslehre, Stuttgart: Enke ²1928 Villaume, Peter: Ob und inwiefern bei der Erziehung die Vollkommen- heit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sei?, in Herwig Blankertz (Hrsg.): Bildung und Brauchbarkeit. Texte zur Theorie utilitärer Erziehung, Braunschweig: Westermann 1965, S. 69 ff. Violet, Paul: Le roi et ses ministres pendant les trois derniers siècles de la monarchie, Paris: Colin & Sirey 1912 672

Vitoria, Francisco de: De potestate civili/Über die staatliche Gewalt, Hrsg. Robert Schnepf, Berlin: Akademie Verlag 1992 Vobruba, Georg: Jenseits der sozialen Frage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991 Volneys, Constantin-François de: Les ruines ou méditations sur les révolutions des empires, Paris: o. V. ²1798 Voltaire: La voix du sage et du peuple, Oeuvres Complètes de Vol- taire, Band 45 (Paris 1784), S. 7 ff. Ders.: Siècle de Louis XIV, Oeuvres de Mr. de Voltaire, Band 18, Pa- ris: o. V. 1775 Voslensky, Michael S.: Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion, Wien u.a.: Molden ²1980 Wachsmuth, Wilhelm: Entwurf einer Theorie der Geschichte, Halle: Hemmerde und Schwetschke 1820 Wagner, Adolph: Finanzwissenschaft, 4 Bde., Leipzig/Heidelberg: Winter 1877 – 1901 Wagner, D. G.: The Decomposition of Sociology, American Journal of Sociology, Band 100/3 (1994), S. 824 ff. Waldmann, Peter: Elitenherrschaft in Deutschland, Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 38 (1979), S. 20 ff. Wallace, William: Enterprise first. The relationship of the State to In- dustry, with particular reference to private enterprise, London u.a.: Longmans, Green 1946 Wallach, Richard: Das abendländische Gemeinschaftsbewußtsein im Mittelalter, Leipzig/Berlin: Teubner 1928 Wallis, Allan u.a.: Social Capital and Community Building, National Civic Review, Bd. 87/Nr. 3 (Herbst 1998), S. 253 ff. Walliser, Bernard: L‘économie cognitive, Paris: Odile Jacob 2000 Walter, Eugene V.: Terror and Resistance. A Study of Political Vio- lence, New York: Oxford UP 1969 Walter, Franz: Die Achtundsechziger – Liberale Zäsur der Republik?, Universitas Nr. 628 (1998), 957 ff. Walton, John: Substance and Artifact - The Current Status of Re- search on Community Power Structure, American Journal of Socio- logy 71 (1966), S. 430 ff. Walzer, Michael: Zweifel und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Fischer 1991 Ders.: Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main/New York: Cam- pus 1992 Warrender, Howard: Hobbes’s Conception of Morality, Revista Critica di Storia della Filosofia (Florenz), Jahrgang 1962, S. 435 ff. 673

Waschkuhn, Arno: Sind Eliten (un)demokratisch?, in Wolfgang Luthardt/ders. (Hrsg.): Politik und Repräsentation, Marburg: Schü- ren 1988, S. 29 ff. Wass, Lothar: Max Weber und die Folgen. Die Krise der Moderne und der moralisch-politische Dualismus des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/New York: Campus 1995 Weber, Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen: Mohr 1926 Weber, Max: Gesammelte politische Schriften, München: Drei Masken 1921 Ders.: Die protestantische Ethik und der ‚Geist’ des Kapitalismus (1904/1905), Hrsg. Klaus Lichtblau/Johannes Weiß, Bodenheim: A- thenäum etc.1993 Ders.: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mäch- te, in: Grundriss der Sozialökonomik III/1, Tübingen: Mohr 1921 Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübin- gen: Mohr 1924 Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Hrsg. J. Win- ckelmann, Tübingen: Mohr 1973 Ders.: Gesammelte Politische Schriften, Hrsg. Johannes Winckel- mann, Tübingen: Mohr ²1958 Ders.: Politik als Beruf, MWG I/17, Tübingen: Mohr 1992, S. 133 ff. Ders.: Wahlrecht und Demokratie in Deutschland (1917), Max Weber Gesamtausgabe (MWG), Abteilung I, Band 15, Tübingen: Mohr 1984, S. 347 ff. Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1964 Ders.: Wissenschaft als Beruf (1919), MWG, Abtlg. I/Band 17, Tübin- gen: Mohr 1992, S. 49 ff. Weber, Werner: Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfas- sungssystem, Stuttgart: Vorwerk ²1958 Weege, Wilhelm: Politische Klasse, Elite, Establishment, Führungs- gruppe, in: Thomas Leif/Hans-Josef Legrand/Ansgar Klein (Hrsg.): Die politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand, Bonn/Berlin: Bouvier 1992, S. 35 ff. Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Zuviel Staat? Die Grenzen der Staats- tätigkeit, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1982 Ders. (Hrsg.): Eliten in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1990 Weidenfeld, Werner: Zeitenwechsel, Stuttgart: DVA 1999 Weil, Simone: Analyse de l’ oppression, in dies.: Oppression et liber- té, Paris: Gallimard 1955 674

Weiner, Jonathan: Die nächsten 100 Jahre, München: Bertelsmann 1990 Weiss, Volkmar: Haben verschiedene Berufe unterschiedliche IQ- Mittelwerte?, Zeitschrift für Pädagögische Psychologie, Jg. 7 (1993)/7, S. 197 ff. Weizsäcker, E. U. von/A. B. Lovins/L. H. Lvins: Faktor Vier. Doppelter Wohlstand - halbierter Verbrauch, München: Knaur 1997 Weldon, T. D.: States and Morals. A Study about Political Conflicts, London: Murray 1962 West, Ranyard: Conscience an Society. A Study of the Psychological Prerequisites of Law and Order, London: Methuen 1942 White, Theodore H.: The Making of a President, New York: Atheneum 1960 Whitehead, T. N.: Führung in der freien Gesellschaft, Köln/Opladen: WDV 1955 Whitman, Marine: Global Competition and the Changing Role of the American Corporation, The Washington Quarterly, Band 22 (Spring 1999)/Nr. 2., S. 59 ff. Wiesbrock, Heinz (Hrsg.): Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, Frankfurt am Main: EVA 1967 Wiese, Leopold von: System der allgemeinen Soziologie, Berlin: Dun- cker & Humblot ³1955 Ders.: Der Mensch als Mitmensch, Bern/München: Dalp 1964 Wieser, Friedrich von: Das Gesetz der Macht, Wien, Julius Springer 1926 Wildenmann, Rudolf: Eliten in der Bundesrepublik, Mannheim: Selbst- verlag 1968 Willems, Helmut: Gewalt und Fremdenfeindlichkeit, in Hans-Uwe Ot- to/Roland Merten (Hrsg.): Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland, Opladen: Leske + Budrich 1993, S. 88 ff. Willgerodt, Hans: Grenzmoral und Wirtschaftsordnung, in J. Broer- mann/Philipp Herder-Dorneich (Hrsg.): Soziale Verantwortung. Festschrift für Goetz Briefs zum 80. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot 1968, S. 141 ff. Willke, Helmut: Ironie des Staates. Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992 Ders.: Konstruktivismus und Sachhaltigkeit soziologischer Erkenntnis: Wirklichkeit als imaginäre Institution, Sociologica Internationalis 31 (1992), S. 83 ff. Ders.: Die Steuerungsfunktion des Staates aus systemtheoretischer Sicht, in: Dieter Grimm (Hrsg.): Staatsaufgaben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 685 ff. 675

Ders.: Supervision des Staates, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 Wilson, Robert: The Dispossessed, London: Picador 1992. Wilson, W. Daniel: Geheimräte gegen Geheimbünde, Stuttgart: Mertz- ler 1991 Winock, Michel: Le siècle des intellectuels, Paris: Seuil 1997 Winstanley, Gerrard: The Law of Freedom and other Writings, Hrsg. Christopher Hill, Harmondsworth: Pelican 1973 Winter, Ellen: Hochbegabte. Mythen und Realitäten von außergewöhn- lichen Kindern, Stuttgart: Klett-Cotta 1998 Winter, Georg: Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Leipzig: Hen- del 1934 Winter, Martin: Politikum Polizei, Münster/Hamburg: Lit 1998 Wirth, Heike: Bildung, Klassenlage und Partnerwahl, Opladen: Leske + Budrich 2000 Witjes, Claus Winfried: Gewerkschaftliche Führungsgruppen, Berlin: Duncker & Humblot 1976 Woessner, Mark: Medientechnologien und wirtschaftliche Entwicklung, Internationale Politik 8 (1998), S. 1 ff. Wolfe, Alan: The Seamy Side of Democracy, New York: McKay 1973 Wolfe, Tom: The Bonfire of the Vanities, New York: Bantam 1987 Ders.: A man in Full, London: Jonathan Cape 1998 Wolff, Christian: Vernünftige Gedanken vom gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinsamen Wesen, Frankfurt am Main/Leipzig 6 1747 Wuketits, Franz: Naturkatastrophe Mensch, Düsseldorf: Patmos 1998 Wunder, Bernd: Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986 Wurzer, Jörg: Pioniere, Gründer, High-Tech-Unternehmer, Stuttgart: DVA 1999 Wuttke, Heinrich: Die deutschen Zeitschriften und die öffentliche Mei- nung, Leipzig: Krüger 3 1875 Yeats, William Butler: Selected Poetry, Hrsg. A. N. Jeffares, London: Macmillan 1990 Young, Michael: Es lebe die Ungleichheit. Auf dem Wege zur Meri- tokratie, Düsseldorf: Econ 1961 Zach, Manfred: Die manipulierte Öffentlichkeit. Politik und Medien im Beziehungsdickicht, Asendorf: Mut 1995 Ders.: Monrepos oder die Kälte der Macht, Reinbek: Rowohlt 1997 Zahn, Theodor: Skizzen aus dem Leben der alten Kirche, Leipzig: Deichert ³1908 Zakaria, Farred: Aufstieg der illiberalen Demokratie?, Europäische Rundschau, 26. Jg. (1998)/Nr. 1, S. 3 ff. 676

Zapf, Wolfgang: Wandlungen der deutschen Elite, München: Piper 1965 Zévaès, Alexandre: Jean Jaurès, Paris: Hachette 1934 Zeys, Richard: Adam Smith und der Eigennutz, Tübingen: Laupp’ sche Buchhandlung 1889 Ziegler, Jean: Les seigneurs du crime. Les nouvelles mafias contre la démocratie, Paris: Seuil ²1999 Ziehe, Thomas: Die gegenwärtige Motivationskrise Jugendlicher, Ge- werkschaftliche Monatshefte 31 (1980)/Nr. 6, S. 369 ff. Zoepfl, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte, Stuttgart: Adolph Krab- be 3 1858 Zolo, Danilo: Die demokratische Fürstenherrschaft, Göttingen: Steidl 1997 Zürn, Michael: Regieren jenseits des Nationalstaates, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998 Zweigenhaft, Richard L./G. William Domhoff: Diversity in the Power Elite, New Haven/London: Yale UP 1998 Zwing, Karl: Geschichte der deutschen freien Gewerkschaften, Jena: Zwing 1928