Annekatrin Puhle

Mit Goethe durch die Welt der Geister

Band 1

REICHL VERLAG Mit Goethe durch die Welt der Geister

MIT GOETHE DURCH DIE WELT DER GEISTER

2 3 Mit Goethe durch die Welt der Geister

Annekatrin Puhle

Mit Goethe durch die Welt der Geister

Geisterbegegnungen aus vielen Jahrhunderten

Band I

Mit einem Geleitwort von David Fontana

– Gesamtausgabe – in 4 Bänden

MMXIV

REICHL VERLAG • DER LEUCHTER • ST. GOAR 4 5 Mit Goethe durch die Welt der Geister

Der Körper folgt dem allgewaltigen Tod, Meinen Eltern (†) das Abbild des Lebenden aber bleibt lebendig, in Liebe und Dankbarkeit denn dies allein stammt von den Göttern. Es schlummert aber, während die Glieder aktiv sind, doch den Schlafenden zeigt es in vielen Träumen den Ausgang der erfreulichen wie schrecklichen Dinge der nahenden Zukunft.

(Pindar, 6./5.Jh.v.Chr., Fragment 131b)



O gibt es Geister in der Luft, Die zwischen Erd’ und Himmel herrschend weben, So steiget nieder aus dem goldnen Duft Und führt mich weg, zu neuem buntem Leben.

(Johann Wolfgang von Goethe, 18./19.Jh., Faust I, Vor dem Tor, 1118ff., Faust)



Die Freude kommt nicht von außen; sie ist in uns, was immer uns geschieht. Das Licht kommt nicht von außen; es ist in uns, selbst wenn wir keine Augen haben.

(Jacques Lusseyran, Das wiedergefundene Licht, 2002, S. 241)

6 7 Mit Goethe durch die Welt der Geister

Umschlagabbildungen der Bände: „Der Morgen“, Caspar David Friedrich „Elfentanz“, Moritz von Schwind INHALT „Nebelmond“, Johann Heinrich von Goethe „Der Abend“, Caspar David Friedrich Geleitwort von David Fontana ...... 15

Vorwort ...... 19 Erstellung des Gesamtregisters und Übersetzung Dank ...... 33 des Geleitwortes von David Fontana: Einleitung ...... 39 Hans-Henning Mey I. Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte . . . . . 65

1 Die historischen Schriften über Geister ...... 66 2 Luther ...... 89 3 Agrippa von Nettesheim ...... 90 4 Paracelsus ...... 96 5 Melanchthon ...... 100 6 Lavater ...... 102 7 Franciscus ...... 108 8 Goldschmid ...... 110 9 Thomasius ...... 113 10 Hauber ...... 114 11 Mesmer ...... 116 12 Jung-Stilling ...... 118 13 Goethe ...... 124 1. Auflage, 1 Tsd. 14 Eckartshausen ...... 132 15 Moritz ...... 134 16 Schiller ...... 137 17 Horst ...... 139 © 2014 by Reichl Verlag, D-56329 St. Goar 18 Novalis ...... 143 Satzerstellung: Reichl Verlag 19 Görres ...... 145 Lektorat: Sylvia Luetjohann und Klaus-Jürgen Grundner 20 Brentano ...... 147 Gesamtherstellung: CPI, Leck 21 Schubert ...... 149 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier 22 Arnim ...... 151 23 Kerner ...... 153 ISBN 978-3-87667-269-4

8 9 Mit Goethe durch die Welt der Geister

24 Schopenhauer ...... 156 3 Engel und Lichtwesen ...... 48 25 Droste-Hülshoff ...... 158 4 Schutzgeister ...... 78 26 Heine ...... 162 5 Weiße Geister ...... 84 27 Daumer ...... 164 6 Die Weiße Frau ...... 88 28 Fechner ...... 166 7 Der Dresdner Mönch ...... 109 29 Mörike ...... 169 8 Geister als Schatten und neblige, wolkenartige Wesen . . 111 30 Perty ...... 170 9 Geister bei Sterbenden ...... 116 31 Storm ...... 172 10 Geister von Sterbenden ...... 121 32 Fontane ...... 173 11 Geister von Verstorbenen ...... 133 33 Du Prel ...... 175 12 Geister von Lebenden ...... 184 34 Hesse ...... 177 13 Doppelgänger ...... 191 35 Jung ...... 179 14 Der eigene Doppelgänger ...... 203 36 Rosenberger ...... 181 15 Spiritus vitalis – der Lebensgeist ...... 218 37 Moser ...... 182 16 Spiritus nervosus – der Nervengeist ...... 220 38 Jaffé ...... 183 17 Geister von Unbekannten ...... 222 39 Avenarius ...... 185 18 Geisterfragmente ...... 234 19 Geistergesellschaften ...... 237 II. Wahrnehmung von Geistern ...... 189 20 Verabredungen mit Geistern ...... 246

1 Spontanes Wahrnehmen von Geistern ...... 190 21 Hausgeister – Vom fröhlichen Klopfer 2 Das Sehen von Geistern und das Zweite Gesicht ...... 199 zum Mistfinken ...... 248 3 Das Hören von Geistern ...... 231 22 Drachen (f)liegen in der Luft ...... 267 4 Das Riechen von Geistern ...... 245 23 Drei berühmte Kobold-Persönlichkeiten ...... 274 5 Das Fühlen von Geistern ...... 257 24 Poltergeister – viel Lärm um nichts? ...... 293 6 Ahnungen ...... 263 25 Spiritus familiaris – der vertrauliche Geist ...... 340 7 Der innere Sinn ...... 312 26 Naturgeister – Geister in ihrem Element ...... 354 8 Projektion und Kreation von Geistern ...... 323 27 Pflanzengeister ...... 399 9 Prüfung von Geistern ...... 329 28 Alraune ...... 429 10 Realität und Echtheit von Geistern ...... 339 29 Tiergeister und Geistertiere ...... 443 Anmerkungen ...... 349 30 Werwölfe und Vampire ...... 458 31 Dämonen und Fabelwesen ...... 466 Band II 32 Geister in Menschen ...... 486 33 Geister auf die Reihe gekriegt – eine kleine Geisterklassifikation ...... 490 III. Geister – wie sie uns erscheinen ...... 9 Anmerkungen ...... 496 1 Was ist denn nun ein Gespenst? ...... 10 2 Ein Fall für die Aufklärung: Nicolais Geister ...... 29

10 11 Mit Goethe durch die Welt der Geister

Band III 14 Polen ...... 423 15 Litauen ...... 425 IV. Astralgeister oder Die Reise aus dem Körper ...... 9 16 Tschechien ...... 427 17 Sibirien ...... 480 V. Geisterseherinnen und Geisterseher ...... 42 18 Amerika ...... 432 1 Hildegard von Bingen ...... 55 Anmerkungen ...... 438 2 Anna Katharina Emmerich ...... 61 3 Pfarrer Oberlin ...... 64 4 Die Seherin von Prevorst – Friederike Hauffe ...... 66 Band IV 5 Heinrich Lysius ...... 132 6 Kälber-Gerhard ...... 135 IX. Was sagt die Forschung heute über Geister? ...... 9 7 Die Seherin von Wien: Anna Maria Weiß ...... 138 1 Kernfragen ...... 18 8 Geistersehende Tiere ...... 157 2 Geist der Forschung ...... 40 3 Wert der historischen Forschung ...... 46 VI. Geisterorte ...... 161 4 Poltergeister – Blickfang der Forschung ...... 52 1 Spukorte ...... 162 5 Interpretationswandel ...... 56 2 Spukhäuser ...... 177 6 Doppelgänger und das Fühlen einer Gegenwart . . . . . 70 3 Spukschlösser ...... 201 7 Außerkörperliche Erlebnisse, Nahtoderfahrungen und noch mehr ...... 72 VII. Schutz vor Geistern und deren Erlösung ...... 213 X. Geistererlebnisse als praktische Lebenshilfe ...... 118

VIII. Andere Länder – andere Geister? ...... 231 1 Geister nur so zum Spaß? ...... 121 2 Vom Schauer zur Freundschaft ...... 124 1 Griechische und römische Antike ...... 234 3 Geister im holistischen Weltbild ...... 130 2 Italien ...... 281 4 Erkenntnis durch Geister ...... 138 3 Spanien ...... 291 5 Krisenbewältigung: Geister als Medikament ...... 140 4 Frankreich ...... 294 6 Sinnfindung ...... 148 5 Holland ...... 306 7 Geister aus ethischer Perspektive ...... 156 6 Irland ...... 311 Nachwort ...... 165 7 England ...... 324 Nachwort von Pater Andreas Resch ...... 166 8 Cornwall und Wales ...... 346 Anmerkungen ...... 167 9 Schottland und die Hebriden ...... 352 Glossar ...... 174 10 Island ...... 366 11 Norwegen und Faröer Inseln ...... 369 12 Dänemark ...... 377 Verzeichnis der Geisterliteratur im Überblick 13 Schweden ...... 387 Literatur vor 1000 ...... 180

12 13 Mit Goethe durch die Welt der Geister

Literatur von 1000 bis 1500 ...... 181 Literatur aus dem 16. Jahrhundert ...... 182 Literatur aus dem 17. Jahrhundert ...... 188 GELEITWORT Literatur aus dem 18. Jahrhundert ...... 198 Literatur aus dem 19. Jahrhundert ...... 235 Als Psychologe muß ich zugeben, daß das Denken ein Literatur aus dem 20. Jahrhundert ...... 274 Geheimnis bleibt. In einem Augenblick scheint der Verstand Literatur aus dem 21. Jahrhundert ...... 322 leer zu sein, im nächsten Augenblick kommt einem ein Gedan- ke, gleichsam vorfabriziert, in den Sinn. Hier gibt es zwei Verzeichnis der zitierten Literatur ...... 331 große Fragen. Erstens, wie stellt das elektrochemische Arbeiten Abbildungsverzeichnis des materiellen Gehirns etwas Immaterielles wie einen Gedan- Schwarzweißabbildungen ...... 387 Abbildungsverzeichnis ken her? Und zweitens, woher entsteht der Gedanke? Die erste Farbtafeln ...... 407 dieser beiden Fragen müssen wir beiseite lassen, weil sie das Personenregister ...... 415 vertrackte Problem der Beziehung zwischen Gehirn und Geist Sachregister ...... 442 aufwirft und so weitgehend außerhalb des Sachgebiets von Ortsregister ...... 468 Annekatrin Puhles Werk liegt, aber die zweite Frage ist für ihr Zur Autorin ...... 477 Thema von entscheidender Bedeutung. Wenn der Ursprung der Gedanken ein Geheimnis ist, dann ist der Ursprung jener ganz besonderen Gedanken, die wir Inspiration nennen, doppelt rätselhaft. Mit Inspiration meine ich jene seltenen Einsichten, die wir mit Genialität gleichsetzen und die die Grenzen unseres Denkens auf neue und oft uner- wartete Weise erweitern. Die gängige psychologische Erklärung für Inspiration ist, daß das unbewußte Denken ständig Aspekte der Lebenserfahrung überprüft, bearbeitet und austauscht, und wenn es plötzlich auf eine Vertauschung trifft, die ihm beson- ders originell und aufregend vorkommt, so stößt es sie hinauf ins Bewußtsein. Das Problem mit dieser Erklärung ist, daß sie ein Rätsel durch ein anderes zu ersetzen sucht. Der Aus- druck „unbewußt“ ist einfach ein Etikett für jenen umfang- reichen geistigen Bereich, der unterhalb der Schwelle des normalen Bewußtseins liegt. Mit diesem Ausdruck sind wir so vertraut, daß wir meinen, er bezöge sich auf etwas ebenso Objektives wie der physische Leib, während es tatsächlich ein abstrakter Ausdruck für eine abstrakte Wirklichkeit ist, über die 14 15 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geleitwort uns die Wissenschaft bislang sehr weniges sagen kann, was nicht Bewußtsein selbst ist – nicht das gewöhnliche Bewußtsein, reine Spekulation ist. sondern ein durch Praktiken wie Meditation, Beobachtung und Doch ein Ansatz, um mehr über die Quelle der Inspiration Vergegenwärtigung entwickeltes Bewußtsein. Sein Umgang mit herauszufinden – ein von der modernen Psychologie viel zu solchen Praktiken zusammen mit seinem äußerst scharfen Intel- häufig vernachlässigter Ansatz –, besteht darin, zu erforschen, lekt und einer angeborenen geistigen Fähigkeit, über die wir nur was uns wahrhaft inspirierte Personen über die betreffenden Vermutungen anstellen können, befähigte ihn zu der Erkennt- inneren Erfahrungen zu sagen haben. Wenn wir dies erforschen, nis, daß die Quelle, der sein Werk entsprang, universal und so entdecken wir eine Menge potentiell aufschlußreichen Mate- archetypisch war, ein Schatzfund an schöpferischer, geistiger rials, das uns gleichermaßen von großen Künstlern und großen Energie, die unser aller Geburtsrecht und mit C. G. Jungs kol- Wissenschaftlern mitgeteilt wurde, und genau dies hat Anne- lektivem Unbewußten verwandt ist. Gleich Platon erkannte katrin Puhle getan. Was mich nun zu Goethe führt, der sowohl Goethe durch eigene unmittelbare Erfahrung, daß die gesamte Künstler als auch Wissenschaftler war, ein Genie, dessen Leben Wirklichkeit die Offenbarwerdung einer universalen „Idee“ ist und Leistungen uns soviel über das außerordentliche Potential und daß alle materiellen Formen Ausdruck reiner „Formen“ des menschlichen Geistes lehren. Alle großen Künstler und sind, die aus dieser Idee hervorgehen. Um dies in die heutige Wissenschaftler sind im Innersten Mystiker, denn sie fühlen sich Sprache zu übersetzen, können wir sagen, daß er die verei- von dem tiefen Geheimnis ihrer eigenen schöpferischen Kraft nende geistige Wirklichkeit erfuhr, die der Erscheinungswelt berührt. Goethe war nicht nur Mystiker, er war ein Mystiker, zugrunde liegt. Diese Erfahrung brachte überdies nicht nur dessen intuitives Bewußtsein auch tiefes Verständnis für seine mystische Einsichten mit sich, sondern auch übersinnliche eigene seltene Begabung aufbrachte. Welchen Geeigneteren könn- Begegnungen. Wie Shakespeare vor ihm erkannte Goethe, daß ten wir folglich studieren, wenn wir über die Quelle der Genia- die geistige Welt der materiellen Wirklichkeit zugrunde liegt, lität mehr erfahren wollen? Und welch besseren Ort gibt es, um sie durchdringt und hierbei Erscheinungen, Vorahnungen und diese Seite Goethes kennenzulernen, als Annekatrin Puhles tiefe, lebensverändernde Erfahrungen hervorruft. Werk? Sie hat uns einen großen Gefallen getan, daß sie ihre Die Lektüre von Annekatrin Puhles Werk kann ebenfalls eine Forschungen über die Mystik, die seinem Werk zugrunde liegt, lebensverändernde Erfahrung sein, denn indem uns die Autorin für uns zugänglich machte, und alle, die ihr Buch lesen, werden hilft, einige tiefere Aspekte von Goethes Genius zu verstehen, sich veranlaßt fühlen, selber wieder sich Goethes Werk zuzu- hilft sie uns auch, etwas mehr von unserem eigenen Potential wenden und zu erkennen, in welchem Maß unsere Vertrautheit als geistige Wesen zu erfassen. Ihr Geschenk an uns kann ich mit diesem Giganten des menschlichen Geistes unser eigenes nicht hoch genug loben, und ich empfehle ihre Bemühungen Selbstverständnis vergrößert. jedem, der das Glück hat, ein Exemplar dieses Werkes in Hän- Goethe ist einer der sehr wenigen Menschen, die die mystische den zu halten. Die Lektüre wird sowohl jene, die mit Goethe Schau einerseits mit der objektiven Herangehensweise des Wis- bereits vertraut sind, als auch diejenigen, die seinem einzigar- senschaftlers andererseits verbunden haben. Dies ermöglichte tigen Genius auf diesen Seiten zum ersten Mal begegnen, ihm zu verstehen, daß das stärkste und empfindlichste Instru- begeistern und ihren Geist erhellen. ment zur Wahrnehmung der Wirklichkeit das menschliche Prof. Dr. David Fontana

16 17 Mit Goethe durch die Welt der Geister

Goethes Werke sind, sofern nicht anders angegeben, nach der Münchner Ausgabe (MA) zitiert, ebenso Eckermanns „Gespräche mit Goethe“, während alle anderen Gespräche sowie die Bilder und Vorwort Tagebücher dem Wortlaut der Weimarer Ausgabe (WA) folgen. Sämtliche Angaben in eckigen Klammern [ ] sind von A. Puhle.

Eh nun, Du bleibst zu Hause Wichtigstes zu thun. Entfalte du die alten Pergamente, Nach Vorschrift sammle Lebens-Elemente Und füge sie mit Vorsicht eins ans andre. Das Was bedenke, mehr bedenke Wie . Indessen ich ein Stückchen Welt durchwandre, Entdeck’ ich wohl das Tüpfchen auf das I. Dann ist der große Zweck erreicht [...].

(Goethe, Faust II, 2. Akt, 6987ff., Homunkulus zu Wagner)

Angelika Kauffmann (1741- 1807): Johann Wolfgang Goethe (1749 - 1832), 1787/88.

18 19 Mit Goethe durch die Welt der Geister Vorwort

Geister sind alt, uralt. In diesem Sinne kann dieses Buch Universitäten, Instituten, Schlössern und Klöstern ans Tages- Ihnen gar nichts Neues bieten, und Sie könnten es getrost gleich licht. „Es ist bald kein altes Schloß in Baiern, wo nicht ein wieder beiseite legen. Der Geister- und Gespensterglaube ist so Poltergeist, ein Gespenst logieren muß“, behauptet ein Geister- alt wie die Menschheit. Ebenso alt ist aber auch die Frage, was Autor aus dem 18. Jahrhundert (Mayer 1768, S. 142). es denn damit tatsächlich auf sich hat. Nur ist diese Frage heu- Während jedoch heute in Großbritannien die Bücherregale te peinlicher denn je, zeigt sie doch, daß alle Aufklärung und von Werken über Geister, seriösen wie billigen, nur so strot- technischer Fortschritt umsonst, jedenfalls nicht wirkungsvoll zen, ist dieses Thema in Deutschland, wenn überhaupt, der waren und nicht tief genug bis zu den Wurzeln greifen konn- esoterischen Ecke im dritten Stock eines Buchladens zugeord- ten. Die letzte wissenschaftliche Antwort auf die Geisterfrage net. Daneben ist kaum etwas zu finden, was einen denkenden steht immer noch aus. Daher können Sie das Buch nun wieder und unabhängigen „Geist“ zufriedenstellen könnte. Zu diesem getrost in Ihre Hände nehmen, um selbst darin nachzulesen, daß „kaum Etwas“ gehören z. B. die mittlerweile zu Klassikern die Existenz von Geistern durchaus als möglich oder sogar als gewordenen Bücher des Arztes, Psychologen und Romanisten erwiesen angesehen werden kann – wie, warum und in welcher Hans Bender (5.2.1907–7. 5.1991), der seit Mitte des 20. Jahr- Hinsicht, das werden Sie sehen. hunderts die akademische Erforschung paranormaler Phänomene in Deutschland ins Rollen brachte. Poltergeister wurden wieder Spukschlösser in Schottland, haunted houses in England und ernstgenommen, sozusagen salonfähig. Stiefkind der deutschen Feen in Irland – Großbritannien erscheint aus deutscher Per- Forschung blieben all die anderen Arten von Geistern und spektive als das Eldorado für Geister, hinter dem sich die Köl- ganz besonders die Geschichte der Geistererscheinungen. Auf ner Heinzelmännchen nur verstecken können. Dieser kleine, diese wissenschaftliche Markt- freundliche Hausgeist, der „Heinz“, ist allerdings nicht alles, lücke machte bei einer Tagung im was Deutschland an Geistern zu bieten hat und jemals hatte. Herbst 1995, dem jährlichen Prominent unter den deutschen Geistern ist z. B. auch eine Workshop der „Wissenschaftli- Frau, die Weiße nämlich von den Hohenzollern – sie erscheint, chen Gesellschaft zur Förderung wenn im hochherrschaftlichen Hause jemandem der Tod bevor- der Parapsychologie“ in Offen- steht. Sofern es noch einen weiteren Star unter den deutschen burg, der Psychologe und lang- Geistern gibt, der von sich reden gemacht hat, dann ist das jährige Mitarbeiter Hans Benders, zweifellos der Poltergeist – ein Begriff, der schon in der Mitte Eberhard Bauer, aufmerksam. des 19. Jahrhunderts ins Englische (Crowe 1849) und damit Spontan entstand in mir der auch in den amerikanischen Sprachbereich übernommen wurde. Wunsch, diese Kulturlücke schlie- Daß es jedoch in Deutschland Geister in Hülle und Fülle gab ßen zu helfen. Im Herbst 1996 und daß man sie in allen möglichen Arten und feinsten machte ich mich auf den Weg, Schattierungen erlebte und diskutierte, kam nun nach einer vier- und die Reise in die Welt der Gei- jährigen Reise durch den historischen Buchbestand deutscher, ster-Literatur ging los. Was sich österreichischer, englischer und schwedischer Bibliotheken von Hans Bender (5.2.1907 - 7.5.1991). mir auftat, war ein unschätzbarer

20 21 Mit Goethe durch die Welt der Geister Vorwort

Reichtum an ernst zu nehmenden Büchern, die teilweise seit Herzog August (10.4. 1579– 17. 9.1666) die größte europäische Jahrhunderten noch nicht einmal aufgeschnitten waren. Wäh- Bibliothek nördlich der Alpen war und von Persönlichkeiten rend meiner Beschäftigung mit dem geisterhaften Stoff wuchs wie dem Mathematiker und Philosophen Gottfried Wilhelm in mir immer mehr der Wunsch, die faszinierenden Berichte Leibniz (1. 7.1646 –14. 11.1716) und dem Schriftsteller und Auf- aus vergangenen Jahrhunderten nicht wieder dem Staub der klärer Gotthold Ephraim Archive und Magazine zu überlassen, sondern sie vielmehr Lessing (22.1.1729 – 15. 2. einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Geister gehen 1781) geleitet wurde. Die nämlich alle etwas an. Sie erscheinen, wann und wem sie Ausgangsfrage lautete: Was wollen. ist an historischer deutscher Das Zustandekommen des Forschungsprojektes, aus dem das Literatur zum Thema „Gei- vorliegende Buch hervorgegangen ist, erscheint mir ebenso ster“ vorhanden? Ist über- ungewöhnlich wie vielleicht vielen Menschen die hier behan- haupt etwas vorhanden? Ist delte Thematik. Ich empfinde es als ein besonderes Glück, daß so viel vorhanden, daß sich das von Prof. Dr. Hans Bender 1950 in Freiburg im Breisgau ein Projekt daraus machen gegründete „Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psy- ließe? Und genau das war chohygiene e.V.“ (IGPP) meine Projektarbeit vier Jahre lang der Fall. Mehrere hundert finanziell unterstützen konnte. Ich fügte weitere zwei Jahre für die Ausarbeitung des gehaltvollen Stoffs hinzu und erhielt schließlich noch von der „Stiftung Weimarer Klassik“ und der englischen Society for Psychical Research (SPR) weitere Unter- stützung. Das Projekt wurde unter der Leitung von Eberhard Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716), nach dem Gemälde eines Unbekannten Bauer, dem besten Kenner der Materie und Leiter der Abtei- in der Preußischen Akademie der Wis- lung „Archiv, Beratung und Öffentlichkeitsarbeit“ am IGPP, senschaften, Berlin. durchgeführt. Das Thema „Kulturhistorische Aspekte von Gei- stererscheinungen und Poltergeistern im deutschsprachigen Raum in der Goethezeit“ sollte dabei ursprünglich die Zeit von Titel verbargen sich bereits dort etwa der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in der Abteilung „Magie und abdecken. Es fand sich jedoch so viel Material, weit über die Aberglauben“, von denen sich Goethezeit hinaus, daß hier in diesem Buch ein Eindruck von die meisten vollständig oder der ungeheuren Fülle der Literatur gegeben werden soll. doch wenigstens teilweise mit der Geister-Thematik befassen. Im September 1996 startete ich zunächst ein dreimonatiges Das Hauptprojekt konnte damit Gotthold Ephraim Lessing Pilotprojekt an der historisch orientierten Herzog-August- in die Wege geleitet werden (1729 - 1781), nach einem Gemälde Bibliothek in Wolfenbüttel, die im 17. Jahrhundert unter und im Januar 1997 ins Rollen von Anton Graff, 1771.

22 23 Mit Goethe durch die Welt der Geister Vorwort kommen. Nach insgesamt siebenmonatigem Aufenthalt in Wol- entziffern sind. Allerdings stand dieser Katalog zur betref- fenbüttel boten sich nun Schritt für Schritt weitere Bibliotheken fenden Zeit nicht der öffentlichen Benutzung zur Verfügung, als Forschungsorte an. so daß ich mich sehr über die mir erteilte Sondergenehmigung So führte mich die Geisterbü- freute. cherjagd zunächst für ein halbes Nun ging meine Reise wei- Jahr weiter nach Weimar, wo ja ter zu kleineren, aber vielver- Goethe (s. Kap. I.13) 35 Jahre lang sprechenden Bibliotheken wie bis zu seinem Tod 1832 als Leiter denen der Bischöflichen Prie- der Bibliothek gewirkt hatte, und sterseminare in Speyer und das offensichtlich sehr fruchtbar; Trier, in Trier auch zur Stadt- denn die heute nach der Herzogin bibliothek. In Speyer ließ man Anna Amalia (24. 10. 1739 – 10. 4. mich großzügigerweise direkt 1807) benannte Bibliothek – die im Magazin arbeiten, während Nichte Friedrichs des Großen hat- ich im Bischöflichen Priester- te der Weimarer Klassik Tür und seminar in Trier Einblick in

Tor geöffnet – führt nicht nur jede Anna Amalia (1739 - 1807), den sogenannten „Giftschrank“ Menge geistreicher Bücher, sondern Scherenschnitt, wahrscheinlich nehmen durfte, in dem sich auch ungewöhnlich viele klassische Anfang der neunziger Jahre des allerlei Raritäten, einst verbo- 18. Jh. gefertigt. Schriften über Geister. Der ganz tene und heute unerwünschte hervorragende Schlagwortkatalog ermöglicht eine sehr angeneh- Bücher befinden, wie etwa me und äußerst ergiebige Arbeit. eine Dokumentation (Krechel Eine echte Orchideenbibliothek befindet sich im thüringi- 1987) über die Mystikerin schen Schloß Oberwiederstedt, dem Geburtshaus von Novalis, Maria Adams (26. 5. 1889 – 25. Der großzügige Treppenaufgang in mit einem derzeitigen Buchbestand von 4000 Bänden. Die noch der Bayerischen Staatsbibliothek in 4. 1970). im Aufbau befindliche Bibliothek gehört zur „Forschungsstätte München. Lithographie nach F. v. Der Weg führte weiter zur Frühromantik“ mit dem Schwerpunkt „Novalis“ und soll eines Gärtner, 1844. Leopold-Sophien-Bibliothek Tages die gesamte imaginäre Bibliothek des Novalis repräsen- nach Überlingen am Bodensee, wo sich u. a. die Buchbestände tieren (s. Kap. I.18). von Franz Sales Wocheler und Franz Xaver Baron von Sonnen- Die nächste Station war München. In der Bayerischen Staats- thal mit Werken zum Thema „Dämonologie“ befinden und mit bibliothek kann der alte, noch handgeschriebene Realkatalog Hilfe des Otto Kunzer Katalogs von 1898 recherchiert werden allein zum Thema „Magie und Aberglauben“ einen Bestand von konnten. schätzungsweise 3000 Büchern vorweisen. Die Titel sind gut Besonders erwähnenswert erscheint mir der historische Gei- aufgeschlüsselt und nach Unterkategorien sortiert, wenn auch sterbücher-Bestand im 1075 gegründeten Augustinerstift, dem die alten Handschriften auf den Karteikarten nur mühsam zu heutigen Benediktinerkloster Beuron, einem geradezu idealen

24 25 Mit Goethe durch die Welt der Geister Vorwort

Studienort im weltabgeschiedenen, wildromantischen Donautal, Entdeckungsreise zu gehen, und das völlig ungestört. Es war zu dem ich anschließend reiste. Hier gelang es jedoch nur auf wie in einem Film: Der stattliche alte Holztisch, an dem ich Umwegen, Einsicht in die Bibliothek des Männern vorbehalte- arbeiten konnte, war dick mit Staub überzogen, als wäre er jahr- nen Klosters zu nehmen. Ich brauchte ganz einfach einen Mann, hundertelang in Vergessenheit geraten. Auf abenteuerlich der für mich die relevanten Katalogkarten kopierte, während schwankenden Leitern erkundete ich die Bücherreihen, vor man mir in einem Vorzimmer einen schönen Arbeitsplatz zur allem die versteckten, die sich noch hinter den wohlgeordneten Verfügung stellte. Vorderreihen verbargen. Besonders spannend, wenn auch enttäu- Auch Österreich stand auf meiner Reiseliste. Die erste Sta- schend, waren die Momente, in denen ich zuversichtlich nach tion war die Bibliothek des Theologen und Klinischen Psycho- einem bestimmten, im Katalog verzeichneten Buch im Regal logen Prof. Dr. Dr. Pater Andreas Resch in Innsbruck, die mit suchte, doch nichts als eine Lücke anstelle des erwarteten 10 000 Titeln umfangreichste österreichische Kollektion zum Buches vorfand, das Werk mit anderen Worten, da nicht verlie- Bereich der „Paranormologie“ – ein 1969 von Resch geprägter hen, also verschwunden war – wo war denn dann etwa die ganz Begriff – der über die Parapsychologie hinaus auch die Para- alte Ausgabe des „Hexenhammers“ geblieben? physik, Parabiologie und Parapneumatik einbezieht. In dem Der Kreis schließt sich nun wieder. Natürlich durften bei 1978 von ihm gegründeten „Institut für Grenzgebiete der Wis- meinen Recherchen die Bibliotheken in Freiburg, dem Aus- senschaft“ (IGW) befindet sich auch eine sehr umfangreiche, gangsort des Projektes, und in Berlin, meiner Heimatstadt, historisch orientierte Bibliographie von Schriften aus dem weiten nicht in Vergessenheit geraten. In Freiburg ist die stattliche, Feld der paranormalen Phänomene, die Prof. Ferdinand Zahl- 40 000 Monographien umfassende Bibliothek des IGPP, deren ner, Pater am niederösterreichischen Redemptoristen-Kolleg in größter Teil in der Universitätsbibliothek untergebracht ist, am Katzelsdorf, erstellt hat. wichtigsten für das Thema, während in Berlin vor allem die Nun folgten viele Monate Studien in Wien. Die Österreichi- Staatsbibliotheken in West und Ost als enorme, noch längst sche Nationalbibliothek ist überaus reich an historischer Lite- nicht ausgeschöpfte Fundgruben hervorzuheben sind – haben ratur zum Geister-Thema und dank eines ausgezeichneten letztere doch gemeinsam nach der Maueröffnung München den Schlagwortkataloges auch sehr gut benutzbar. Hier kam man Rang Nummer eins als größter deutscher Bibliothek abgelau- mir wieder einmal hilfreich mit den mir schon vertrauten Son- fen. dergenehmigungen entgegen, etwa statt 10 Büchern 30 Bände Kurze Abstecher wurden noch in einige andere Städte mit gleichzeitig bestellen zu dürfen – was dem Wachstum meiner bedeutenden Bibliotheken unternommen, wie Göttingen, Jena Bibliographie durchaus zugute kam. und Halle. Auf einen Besuch der Universitätsbibliothek in Der mehrtägige Aufenthalt in der Klosterbibliothek des Leipzig wurde wegen des nicht vorhandenen Sachkataloges ver- würdevollen, seit 1089 die Donau überblickenden Benediktiner- zichtet, während die vermutlich ebenfalls „gehaltvolle“ Deut- stifts Melk, nicht weit von Wien, stand unter einem besonders sche Bibliothek in Frankfurt am Main aufgrund eines Umbaus guten Stern. Hier erhielt ich die Erlaubnis, beliebig lange in zur gegebenen Zeit nicht zugänglich war. dem außerordentlich beeindruckenden Magazinsaal zwischen Weit über das gesteckte Thema hinaus konnte ich mich auch all den kostbaren, viele Jahrhunderte alten Prachtbänden auf noch im Heimatland der Geister nach Literatur umsehen und

26 27 Mit Goethe durch die Welt der Geister Vorwort einen Blick in die bei Geisterkennern beliebte Am Rande ist noch zu bemerken, daß meine Reisen in die Library im British Museum in London werfen, die nicht nur historische Geister-Bücherwelt von zwei ganz verschiedenen mit englischen Geister-Werken glänzt, sondern auch historische Nebenwirkungen begleitet waren, d. h. sie führten erstens zu deutschsprachige Literatur vorzuweisen hat. Ferner inspizierte Begegnungen mit seltener Flora und Fauna in den verstaubten, ich die literarischen Schätze – sprich 7000 Bände – der SPR, z. T. noch nicht einmal aufgeschnittenen Buchseiten, mit einer den neueren Teil davon im Londoner SPR-Büro und den Variation von Chemikalien und vor allem auch mit Radioak- äußerst attraktiven Altbestand in der University of Cambridge. tivität in manch kostspielig restaurierten Büchern. Zweitens Auch das Institute for Psychic Studies im Herzen Londons, in führten die Reisen zum Glück aber auch zu Begegnungen mit Kensington, hat einen viele Tausende Bücher umfassenden, Menschen verschiedenster Art, die mir wertvolle Berichte sehenswerten, mehr esoterisch orientierten Buchbestand, der ver- selbsterfahrener oder aus erster Hand erhaltener Geistererleb- gangene Jahrhunderte einbezieht. nisse anvertrauten. Last but not least konnte ich auf den Reisen Und ganz zum Schluß führte mich meine Reise noch fast wie auch Stoff für mein eigenes paranormales Tagebuch sammeln. zum Spaß – Goethe hätte es vielleicht einen Wink von Dämo- Es wäre allemal genug Material vorhanden für ein „Parabuch“, nen genannt – nach Schweden, in ein Land, dem Goethe erst in eine Art Neben-Buch, das nur die begleitenden, paranormal seinem „späteren“ Leben einen Besuch abstattete (s. Kap. III. anmutenden Umstände beschreiben würde. In jedem Fall wurden 11). Mit Goethe fing alles an, und in Göteborg findet alles sei- dadurch die historischen Berichte und Darstellungen meiner nen Abschluß. Hier im geisterreichen Norden entdeckte ich trockenen bis staubigen Bücherwelt auf wunderbare Weise sowohl an der Universitetsbibliotek Göteborg wie auch in der belebt, und ihr Realitätspotential konnte einmal mehr die Kru- Bücherei der Sällskap för Parapsykologisk Forskning (SPF), der ste der Vergangenheit aufbrechen. Schwedischen Gesellschaft für Parapsychologie in Stockholm, hochinteressante deutsche Geister-Klassiker. Das Projekt begann wie eine Detektivarbeit – und es endete Insgesamt führte mich meine Geister-Reise an 20 verschie- auch so: Ein Vierteljahr vor dem geplanten Abschluß, als das dene Orte in Deutschland, Österreich, England und Schweden Schreiben des vorliegenden Buches schon in Gang gekommen und eröffnete mir Einblicke in weit mehr als 2000 Schriften. und die umfangreiche Bibliographie fast vollständig geschrie- ben war, wurde mein Laptop samt allen dazugehörigen Sicher- Aus der anfänglich wie eine Detektivarbeit anmutenden heitsdisketten aus meinem Haus in Göteborg gestohlen. Trotz Aufgabenstellung des Projektes – gibt es überhaupt Literatur, größtem Einsatz und Aufwand – es wurden Detektive, Polizei, wo befindet sie sich und wie komme ich an sie heran? – ent- Zeitung, Fernsehen, Sozialamt, zwei CIA-Mediums, David wickelte sich eine fließend ineinander übergehende Arbeit, von Morehouse und Joe McMoneagle, sowie eine lappländische Entdeckung zu Entdeckung, von Empfehlung zu Empfehlung Schamanin eingeschaltet – gelang es uns nicht, das Material und von Ort zu Ort. Sie hätte beliebig fortgesetzt werden kön- wiederzubekommen. Um so erfreulicher ist die Tatsache, daß nen. So wären viele weitere Kloster- und Schloßbibliotheken, trotz dieses einschneidenden Ereignisses die Arbeit doch noch mit denen ich Kontakt aufgenommen hatte, ferner eine Reise zum Abschluß gebracht und auf diese Weise nun als eine neue, wert gewesen. gedanklich überarbeitete und verbesserte Auflage angesehen

28 29 Mit Goethe durch die Welt der Geister Vorwort werden kann. Das vorliegende Buch ist nicht nur eine Sammlung worden. Dies verführt die Leser an einigen Stellen zum genaue- und Wiederbelebung des alten Materials, sondern aus einem ren Hinschauen und bietet ihnen die größtmögliche Echtheit, frischen Impuls heraus geschrieben, der das Wesentliche klarer was dem ohnehin sehr luftigen Stoff – Geister sind nun einmal ins Licht rücken möge. flüchtig – nur zugute kommen kann. Da nun die aus verschiedenen Jahrhunderten angeführten Fall- Zum Schluß sei noch eine technische Anmerkung gegeben: beispiele bis auf die deutschen Übersetzungen einiger englischer Da das vorliegende Buch viele ausgesprochen lange Passagen Texte alle im Originalton gehalten sind, variieren sie auch ent- aus historischen Schriften wiedergibt, sind diese eingerückt und sprechend stark in ihrem Stil. Ferner stammen die einzelnen kursiv geschrieben, während die kürzeren Zitate im Lauftext Berichte aus den Händen ganz unterschiedlicher Menschen mit sowie die Buchtitel in Anführungszeichen gesetzt sind. Ferner ganz unterschiedlichem Hintergrund. So ist daraus eine Antho- war es aus praktischen Gründen nicht möglich, alle erwähnte logie von Dokumenten gewachsen, die von einfachen Darstel- historische Literatur auch immer gleichzeitig zur Verfügung zu lungen über präzise Analysen bis hin zu poetischen Wortma- haben. So werden in Ausnahmefällen historische Autoren aus lereien reicht. Die Berichte sind außerdem sehr unterschiedlich der mir in diesem Moment verfügbaren historischen Sekundär- in ihrer Länge. In sich abgerundete Erzählungen sind in der literatur zitiert oder angeführt. In dieser Hinsicht hat sich etwa Regel nicht auseinandergeschnitten worden, sondern nur, wenn Horsts Deuteroskopie von 1830 als eine reine Fundgrube für es sich um monographische Einzelfall-Darstellungen wie etwa noch weitere aus seiner Zeit stammende oder auch ältere Kerners fast 500 Seiten fassenden Bericht über die Seherin von Literatur über Geister erwiesen. Prevorst handelt. Das vorliegende Werk enthält daher neben Um einen ersten unmittelbaren Zugang zu den bis ins 8. vor- einer reichen Auswahl von historischen Zitaten vor allem viele christliche Jahrhundert zurückreichenden Schriften zu ermög- in sich abgerundete, eigenständige Geschichten. lichen und eine solide Studiengrundlage zu bieten, werden die Die Goethezeit war nicht nur die historischen Berichte wortgetreu, das bedeutet auch fehler- der Ausgangspunkt, sondern auch getreu, wiedergegeben. Die zitierten Texte sind also alle in die inspirierende Quelle für die ihrem originalen Wortlaut und in der alten Orthographie belas- gesamte Arbeit. Nicht nur Goethes sen worden, sie sind authentisch. Das schließt notgedrungen Werk, sondern auch sein Leben ist Inkonsequenzen in der Schreibweise eines Wortes innerhalb ein durch und durch verwoben mit und desselben Textes sowie das für den heutigen Geschmack so paranormalen Erlebnissen, die im ungewohnte, gelegentliche Weglassen und das absatzweise bzw. laufenden Text in die entsprech- zeilenweise Wiederholen von Anführungszeichen bei Zitaten enden Kapitel eingeflochten sind mit ein. In Texten mit Kürzeln, wie etwa in Paracelsus’ Schrift (Kap. III. 12, 13, 14, 17 u.v.a.). So über die Naturgeister (Kap. III.26), sind diese ausgeschrieben schreibt Goethe aus Venedig an und die hochgestellten Buchstaben bei Umlauten durch Doppel- seinen Gönner und engen Freund, punkte ersetzt worden. Die Interpunktion durch Schrägstriche, den Herzog Carl August (s. Kap. Johann Ernst Heinsius: Herzog vor allem in Texten aus dem 17. Jahrhundert, ist beibehalten I.13) in Weimar: Carl August (1757- 1828), 1781.

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Alles dieses läßt mich abergläubischen Menschen die wunder- lichsten Erscheinungen sehn. (Goethe, Briefe. An den Herzog Carl August, [Venedig] 14. Dank October 1786 1)  Goethes tiefe Einblicke in das weite Feld des Paranormalen spiegeln sich in tausendfacher Form in seinen poetischen Wor- Die guten Geister begleiten Sie. ten und Werken. Mögen einige seiner schönsten und tiefsten (Goethe, Briefe. An den Herzog Carl August, Gedanken auf diesem Gebiet das vorliegende Buch durchziehen, 18. Januar 17813) zum Nachsinnen anregen und Sie auf Ihrer Reise durch die Welt der Geister in den verschiedenen Jahrhunderten begleiten.  Nur daß ich mit diesem Blatt Ihnen um so viel näher rücken kann, nehme ich die Feder; Mein herzlichster Dank für die Ermöglichung und Bereiche- sonst wäre es besser meine Geister ruhen zu lassen. rung meiner Arbeit geht zuerst nach Freiburg im Breisgau und gilt hier Prof. Dr. Johannes Mischo (†), dem damaligen Leiter (Goethe, Briefe aus der Schweiz, 1779 2) des Freiburger IGPP, sowie meinem Projektleiter, Eberhard Bauer, der dem Projekt nicht nur den ersten Impuls gegeben, Doch keine Angst, ich werde Ihnen selbstverständlich nicht sondern es auch mit Inspiration großzügig begleitet und berei- zu nahe treten, nur einladen möchte ich Sie, Anteil zu nehmen chert hat. Vielen Mitarbeitern wie ehemaligen Mitarbeitern des an der „Entfaltung der alten Pergamente“. Institutes gilt ebenfalls mein Dank für ihre Anregungen, so Dr. Friederike Schriever (Marburg), Raffaela Deflorin, Markus Göteborg, 28.8.2003 Annekatrin Puhle Binder, Emil Boller, Dr. Fiona Steinkamp (Edinburgh) sowie Andreas Fischer und Dr. Maria Wittmer-Butsch (Zürich). Auch Dr. Dr. Walter von Lucadou von der Parapsychologischen Be- ratungsstelle in Freiburg sei herzlichst gedankt sowie Monika Lauinger-Wendering (Wittnau) und Barbara Frey (Freiburg). Ebenso gilt mein ganz herzlicher Dank dem Komitee des Tate Fund der englischen SPR in London und hier vor allem Prof. Dr. David Fontana (Wales). In Weimar ist mein herzlichster Dank an Prof. Dr. Lothar Ehrlich, Leiter der „Stiftung Weimarer Klassik“, gerichtet, an Dr. Michael Knoche, Dr. Jürgen Weber, Katrin Lehmann, Doris Mattheis, Angelika Barthel, Sibylle Hesse, Petra Graupe,

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Petra Schneider und noch viele andere. Auch Dr. Marie-Luise In Überlingen sind es Guntram Brummer und Roswitha Haase, Friederike Schaible, Gabriele Mayer, Beate Hakel und Lambertz, denen ich meinen besten Dank sagen möchte. dem Ehepaar Irmgard und Richard Rudolph sei hier herzlichst Besonders herzlicher Dank geht nach Innsbruck zu Prof. Dr. gedankt. Dr. Pater Andreas Resch und zu Magister Priska Kapferer, Hinsichtlich der Wolfenbütteler Zeit gilt mein Dank Prof. ferner zu Pater Zeller und zu Angelika Lentner sowie zu Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer, Dr. Gillian Bepler, Dr. Sabine Pater Ferdinand Zahlner (Innsbruck und Katzelsbach). Solf, Theodor Thiel, dem Ehepaar Prof. Dr. Louise (†) und Für die Wiener Zeit richtet sich mein Dank vor allem an Dr. Prof. Dr. Winfried Schleiner (USA), Dr. habil. Thomas Rütten, Anna Plattner, Heinz Koukal und Wolfgang Körner sowie an Prof. Dr. Rudolf Schlögl (Konstanz) sowie Prof. Dr. Gerhild Mag. Karlheinz Bauer, Dr. Peter Mulacz und andere. Auch Scholz-Williams (St. Louis, Missouri), Frau Dr. habil. Susanne Edith Weiss, deren Bilder das Buch durchziehen, und dem Ehe- Heiler (Heidelberg), Dr. habil. Olga Fejtová (Prag), Dr. Elisa- paar Karin und Heinz Rinklack sei hier ganz herzlich gedankt. beth Emter-Staley (USA), Dr. Barbara Potthast (Heidelberg), Pater Severin und Pater Gottfried im Kloster Melk möchte Grazyna und Leszek Teusz (Posen, Polen) und noch vielen ich meinen tiefsten Dank für ihre großzügige Unterstützung anderen, die in unzähligen Gesprächen meine Projektarbeit und ihr Vertrauen ausdrücken. bereicherten. Für die Recherchen im westfälischen Nettelstedt und in Für die ausgezeichnete Beratung an der Göttinger Universi- Hüllhorst möchte ich ganz besonders Hanna Wilde und Erich tätsbibliothek bedanke ich mich herzlich bei Michael Reuter. Holzmüller, Emmi Simon sowie meinen Verwandten Brigitte Im Schloß Oberwiederstedt danke ich Dr. Gabriele Rommel Schnepel und Helmut Milas meinen herzlichsten Dank sagen. und Monika Pokorny für ihre Hilfsbereitschaft und die Unter- Dr. Johanna Loehr und Dr. Heinz Scheible von der Melan- stützung meiner Arbeit. chthon-Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissen- Prof. Dr. Gerhard R. Kaiser in Jena danke ich ebenfalls für schaften sei hier ebenfalls mein Dank ausgesprochen. seine Anregungen und zur Verfügung gestelltes Material. Mein herzlicher Dank geht weiter zu Prof. Dr. Dr. Heinz Für die Zeit in München richte ich meinen Dank an Dr. Ingrid Schott (Bonn), an Prof. Dr. Klaus E. Müller (Frankfurt), an Dr. Rückert und Dr. Norbert Borrmann. Auch meiner Freundin Alan Gauld (Nottingham, England), Jezz Fox (Manchester, Irmgard Trinkerl sei hier ebenfalls herzlichst gedankt. England), Dr. William G. Roll (USA), Prof. Dr. Erlendur In Speyer geht mein aufrichtiger Dank an Dr. Herbert Haraldsson (Reykjavik, Island), Dr. Hans Wendt (St. Paul, Pohl, der mir neben wertvollem Material auch ausgezeichnete USA), Evelyn Elsaesser Valarino (Genf, Schweiz), Dr. Dagmar Arbeitsbedingungen bot. Linhart (Würzburg), Gabi Fischer (Bad Ems), Prof. Ernst Mein besonderer Dank für die Zeit in Trier sei hiermit Dr. Senkowski (Mainz), an Susanne Haderer (Dietring, Niederbay- Michael Embach, Dr. Gunther Franz, Dr. Nils Freytag, Dr. ern), Sylvie Ley-Kieffer (Luxemburg) und ganz besonders auch Herbert Eiden sowie Karin Flohr ausgesprochen. an Dr. Wilhelm Avenarius (Marksburg in Braubach). Für die Ermöglichung der Arbeit im Kloster Beuron danke An Dr. Christina Hardt beim Insel Verlag, Frankfurt a. M. ich ganz besonders Pater Theodor und Bruder Petrus. und Leipzig, richtet sich mein aufrichtigster Dank, da mir die freundliche Genehmigung zur Verwendung der Zitate aus

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Theodor Storms Gespenstergeschichten-Sammlung (Storm 1991) Nur der enthusiastische Einsatz von Matthias Dräger, erteilt wurde. Sylvia Luetjohann und Gabriele Hitzel hat die Publikation In meiner Heimatstadt Berlin bedanke ich mich vor allem des umfangreichen Manuskriptes ermöglicht, und ich möchte bei Pfarrer Paul-Gerhard Fränkle, der mich in Verbindung mit meinen aufrichtigsten Dank gegenüber dem Reichl Verlag Der seinem Bruder, Pfarrer Traugott Fränkle (Schwarzwald), brach- Leuchter, der seinen Sitz an keinem weniger bezaubernden te, bei Ulrich Röhrich, der entscheidendes Material aus der wie kraftvollen Ort als St. Goar am Rhein – gleich gegenüber antiken Literatur beigetragen hat, Klaus-Jürgen Grundner, Dr. dem Loreley-Felsen – hat, mit einem Goethe-Wort verbinden, Martin Kollewijn, Dipl.-Ing. Ralph Einhorn und bei Dr. Renate dem ich nur zustimmen kann: Fritsch. Weiter möchte ich meinen Dank nach Berlin schicken [...] und ich wünsche nur, indem ich die Namen Rheinfels und zu Elke Mercier, Sabine Ben Selem, Bettina Funk, Carla St. Goar, Bacharach, Bingen, Elfeld und Biberich ausspreche, Diederichs, Gabriele Nau und besonders auch zu Jürgen Trott- daß jeder meiner Leser im Stande sei, sich diese Gegenden in Tschepe, der nicht nur mit einigen Gedichten den Text berei- der Erinnerung hervorzurufen. chert. Meinen beiden Schwestern, Cornelia Puhle-Schnepel und 4 Marianne Samarellis, danke ich herzlichst für ihre unermüd- (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit ) liche Unterstützung meiner Arbeit in vielerlei Hinsicht, ebenso meinem Schwager Gerhard Schnepel und meiner Nichte Lia Samarellis. Besonders inniger Dank gilt Dr. Martin Kindscher (Berlin und Mainz). Auch in Skandinavien fühle ich mich vielen Menschen in herzlichem Dank verbunden, so in Norwegen Hege Næss (Oslo) und Kjell Arne Lie (Høuik, Oslo) und in Schweden Karin Borgkvist, Dr. Nils-Olof Jacobson (alle Stockholm), Viveka Nordström und Robert Sjögren (Rydöbruk), Lena und Kjell Gustafsson (Kungsbacka), dann dem sehr hilfsbereiten Lesesaal-Team der Göteborger Universitätsbibliothek, ein- schließlich Ingemar Andersson vom Magazin, ferner Anita und Prof. Dr. Göran Holmén (Göteborg) sowie Anhild Haller, Mozhgan Kheirullahi, Dr. Torbjörn Johansson, David Lund- borg und Conny Åquist (alle Göteborg). Mein herzlichster Dank gebührt besonders Dr. Adrian Parker (Göteborg), der die Entwicklung der Arbeit in unermüd- lichen Gesprächen bereichert und inspiriert hat. Schließlich danke ich natürlich all den guten Geistern, die ferner an diesem Buch mitgewirkt haben.

36 37 Mit Goethe durch die Welt der Geister

Einleitung



Und mich ergreift ein längst entwöhntes Sehnen Nach jenem stillen, ernsten Geisterreich [...]. (Goethe, Faust I, Zueignung, 25f.)



„Kann ein vernünftiger Mann Geister- oder Gespensterer- scheinungen glauben?“ Dieser von Pfarrer Stützing gewählte Buchtitel von 1764 ist immer noch eine brennende Frage, nur daß wir heute das weibliche Geschlecht davon nicht mehr aus- klammern würden. Stützing gehört zu der Gruppe von Gei- ster-Autoren, die zwar keine eigenen Erfahrungen auf diesem Gebiet vorzuweisen haben, doch ohne Kopfzerbrechen die Unzulänglichkeit des Schlusses „Was ich nicht selbst erfahren habe, das kann nicht sein“ erkennen können. Und er wünscht schon damals, daß seine Kollegen doch bitte nicht so sehr aus lauter Angst mit ihren persönlichen Erlebnissen hinterm Berg halten mögen, damit die Sache vorangehen könne. Der Glaube an Geister und Gespenster ist so alt wie die Menschheit selbst. Er ist an keine Kultur und keine Zeit gebun- den. Er ist außerdem untrennbar mit dem Glauben an ein Über- leben des physischen Todes und an die Unsterblichkeit der Seele verbunden. Die Vorstellung einer vom Körper unabhängi- gen geistig-seelischen Wesenheit ist darin enthalten. Geister nehmen in der Geschichte der Menschheit einen festen Platz ein, aber sie haben keinen bestimmten Ort. Der Mensch erlebt sie überall, draußen in der Natur wie auch innen

38 39 Mit Goethe durch die Welt der Geister Einleitung im häuslichen Bereich oder sogar im Menschen selbst in Form Irreales, Rationales und Irrationales, Unbewußtes und Bewuß- von Besessenheit. Auch Geister, die etwa in Bäumen ihr Wesen tes. So runden sie unsere beschränkte dreidimensionale Welt – treiben, werden im Laufe der Geschichte ganz unterschiedlich das „Kistchen-System“, wie der Schweizer Psychologe und erlebt: mal sind sie fest mit ihrem Baum verwachsen, mal kön- Psychiater C. G. Jung es auf den Punkt brachte (Jung 1985, S. nen sie aus ihren Bäumen heraustreten und ihr Wesen anders- 296) – sinnvoll ab. Die Sehnsucht nach Sinn und Ganzheit, nach wo treiben; oder sie leben ganz und gar außerhalb der ihnen einer heilen Welt – „heil“ bedeutet ursprünglich „ganz“ –, das zugeordneten Pflanzen und umhegen und pflegen sie nur. Verlangen nach Einheit ist so alt wie die Menschheit selbst. So Auch in puncto Zeit lassen sich Geister nicht auf den Punkt geht z. B. die in Dänemark entstandene Gestaltpsychologie bringen, erscheinen und verschwinden sie doch, wann immer es davon aus, daß die menschliche Wahrnehmung zuerst auf ein ihnen beliebt, ob um Mitternacht oder am hellichten Tage spielt Ganzes, eine Gestalt, gerichtet ist, bevor sie Details erkennt. dabei gar keine Rolle. Die meisten Geister kommen nur ein ein- Das Wissen, daß alles, auch das Verborgene, lateinisch occultum, ziges Mal zum Vorschein, so etwa in der Todesstunde, wo der oder modern gesprochen das Paranormale, das neben dem Nor- Sterbende einem nahestehenden Menschen noch einmal bildlich malen besteht, zum Leben und zur Welt dazugehört, ist dem vor Augen tritt. Doch tauchen auch etwas hartnäckigere Gei- Menschen immanent, so sehr er sich auch bisweilen intellektuell ster im großen Archiv der Menschheitserfahrungen auf, die sich dagegen auflehnen mag. Hier läßt sich eine Parallele zwischen wieder und wieder an einem Ort ihrer Wahl einfinden und den der Entwicklung der Menschheit und des einzelnen Menschen sich dort aufhaltenden Menschen einen ungeheuren, wenn auch ziehen: Phylogenetisch wie ontogenetisch ist der Mensch oft unnötigen Schrecken einzujagen pflegen. Geister zum Ver- ursprünglich ein ganzheitlich lebendes Wesen. Er erlebt die lieben sind nicht die Regel. Welt als ein einheitliches, zusammenhängendes Ganzes, in das Letzteres aber mag sich ändern, wenn wir die vielen farbigen er eingebunden ist, dem er sich verbunden fühlt. So ist die Ver- Facetten der keineswegs nur grauenhaften Geistererscheinungen, bindung des Menschen mit der Natur und der ihn umgebenden die dieses Buch vorstellt, mit in Rechnung stellen. Ja, Geister Welt anfangs noch ungebrochen, wie wir aus ältester Folklore können eine recht nützliche, hilfreiche und echt inspirierende wissen, und auch vom kleinen Kind ist das Urvertrauen zu Seite an den Tag legen. seiner Umwelt sowie sein ganzheitliches Erfassen der Welt bekannt. Am Beginn eines neuen Buches zum Thema „Geister“ im Jahr 2002 möchte ich dort anknüpfen, wo Aniela Jaffé, die gro- Wo Kinder sind, da ist ein goldenes Zeitalter. ße Kollegin Carl Gustav Jungs, in ihrem erstmals 1958 erschie- (Novalis, Blüthenstaub, Fragment 96) nenen Buch Geistererscheinungen und Vorzeichen abschloß: Phänomene wie Geistererscheinungen, auch Wahrträume und Die Poesie kennt nicht erst seit der Romantik das Goldene Vorzeichen, vermitteln „die Ahnung einer Einheit des Seins“ Zeitalter: (Jaffé 1995, S. 290). Diese Phänomene verbinden symbolisch Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo, Jenseits und Diesseits, Unsichtbares und Sichtbares, Materielles sponte sua, sine lege fidem rectumque collebat, und Nichtmaterielles, Synchrones und Asynchrones, Reales und

40 41 Mit Goethe durch die Welt der Geister Einleitung

heißt es schon bei Ovid (43 v.Chr. – 17 Nestle (16.4.1865–18.4.1959) aufzugreifen (Nestle 1940). Für n.Chr.), der seinerseits auf Hesiod den Bruch mit der Einheit ist es geradezu nebensächlich, ob es (etwa 7. Jh. v. Chr.) zurückgreift, und er sich um ein hochintellektuelles, abstraktes Analysieren der nennt es „das erste goldene Zeitalter, in Natur oder schlicht um ein einfaches, konkretes Auseinander- dem es keinen Richter gibt und das frei- nehmen eines Spielzeugs handelt. Es ist nicht mehr genug, daß willig, ohne Gesetz, die Treue und das die Früchte von den Bäumen fallen, es muß erforscht werden, Rechte pflegt“ (Metamorphosen 5). warum und wie sie das tun, und genausowenig reicht es nicht Das Wissen um diese harmonische mehr aus, ein schönes Spielzeug zu haben, es muß vielmehr in Urverbindung mit dem Weltganzen seine Bausteine zerlegt werden. Die Trennung der bestehenden und die Urverbindlichkeit als Grund- Einheit kommt in beiden Fällen dem Verlust der Ganzheit, ja gefühl des menschlichen Lebens klingt ihrer Zerstörung gleich. Die Einzelteile anschließend wieder zu auch schön in einem englischen Gedicht einem funktionsfähigen Ganzen zusammenzufügen, ist ein lang- Hesiod (?) (ca. 7. Jh.v.Chr.), Claudische Kopie nach einer neuerer Zeit an: wieriger und schwieriger Prozeß. Bronzestatue um 200 v.Chr. Der Mensch setzt sich also nach einer anfänglichen Periode ungebrochenen Seins There was a time when meadow, grove and stream, quasi dialektisch in Opposition zu dem, The earth and every common sight was ihn umgibt. Die Grundidee, daß sich To me did seem Leben in der Form eines dialektischen Apparelled in celestial light, Vorgangs entwickelt, ist uralt und schrift- The glory and the freshness of a dream ... lich im abendländischen Kulturkreis schon (William Wordsworth, 1803, Ode: Intimations of vor Sokrates (469 – 399 v. Chr.) von dem Immortality, Str. 1) griechischen Philosophen Heraklit (um 500 v. Chr.) festgehalten worden. Von dem Nach diesem Anfangsstadium der Einheit mit Gott und der Vorsokratiker aus Ephesos, der den Bei- Welt erlebt der Mensch wie auch die Menschheit generell im namen „der Dunkle“ (ó) trägt, Laufe der Zeit eine Entzweiung mit dem ihn Umgebenden. sagte kein Geringerer als Hegel (27. 8. Machen kleine Kinder noch nicht so viele Unterschiede, ziehen 1770 –14.11.1831), selbst Meister der Dia- noch nicht so scharfe Trennlinien und sehen insgesamt die Welt lektik, gut 3000 Jahre später in seiner ganzheitlicher, indem sie die Außenwelt noch mehr in ihr Logik, es gebe keinen Satz des Heraklit, Leben einbeziehen, so charakterisiert das ältere Kind dagegen den er nicht in seine Logik aufgenommen schon ein unwiderstehliches Interesse, Einheitliches zu trennen Heraklit, „der Dunkle“, habe. Das Sich-Entzweien mit der Welt und haarklein in seine Einzelteile zu zerlegen. Übertragen auf von Ephesos (um 500 führt zur Entfremdung. Dieses zweite die Geschichte der Menschheit entspricht das der Wende „Vom v.Chr.), Kopie um 200 n. Chr. große Stadium der Menschheit geht vor Mythos zum Logos“, um den Titel des Klassikers von Wilhelm allem mit einer einseitigen Entwicklung

42 43 Mit Goethe durch die Welt der Geister Einleitung des Intellekts einher. Das Wissen a priori, durch das der Mensch Auch diese Wiederzusammen- sich anfangs mit dem Weltganzen noch harmonisch verbunden setzung und Heilung des gebro- wußte, gerät darüber in Vergessen- chenen Ganzen spielt sich in heit. Ferner schlägt das dem Menschen verschiedenen Größenordnungen innewohnende tiefe Interesse an der ab, so im Großen der Mensch- Welt und an dem, „was sie im Inner- heit wie im Kleinen des Einzel- sten zusammenhält“ (Goethe), immer lebens. Romantisch gesprochen mehr in ungesunde Neu-Gier um, in leuchtet die Erinnerung an die ein überstarkes Verlangen, alles zu Goldene Zeit wieder auf, und hinterfragen und anzuzweifeln. Zerle- der Kreis kann sich schließen. gung des als Welt Erfahrenen, Ana- Die Ursehnsucht und das intui- lyse des kleinsten Details und völlige tive Wissen um die Möglichkeit Zersplitterung des Weltganzen, in das einer Erlösung in einem dritten auch der Mensch selbst gehört, sind Jakob Schlesinger: Stadium wachsen mehr und mehr Cusanus, eigentlich Nikolaus von die konsequenten Folgen menschlichen Georg Wilhelm Friedrich und bahnen der Wiederherstel- Kues (1401-1464), Altarbild Hegel (1770 -1831). St.-Nikolaus-Hospital Verhaltens. lung der verlorenen Einheit den Bernkastel-Kues, 1475. Menschheitsgeschichtlich gesehen befinden wir uns zur Zeit Weg. Das „Schlüssel-Gedicht“ wohl in einem fortgeschrittenen Stadium des Bruchs mit der Friedrich von Hardenbergs, der sich Novalis, einen Neuland Einheit, einer Zeit der Entzweiung und Zerteilung, der Zerstö- Rodenden, nannte, bringt dies vortrefflich zum Ausdruck: rung der Natur und eines Abschieds von Gott und seiner Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren himmlischen Welt. Der Scherbenhaufen liegt offen vor unseren Sind Schlüssel aller Kreaturen Augen. Ein Leben unter genmanipulierten Schweinen läßt von Wenn die so singen, oder küssen, einem Paradies, wenn überhaupt, nur noch träumen. Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Doch das dialektische Prinzip vollzieht noch einen dritten Wenn sich die Welt ins freye Leben Schritt. These und Antithese, das Gesetzte und Entgegen- Und in die „freie“ Welt wird zurückbegeben, gesetzte, die Einheit und Zweiheit verlangen nach „Aufhebung“ Wenn dann sich wieder Licht und Schatten – ein Terminus Hegels – im dreifachen Sinne des Wortes: Auf- Zu ächter Klarheit wieder gatten, hebung als Ungültigmachen, als Aufbewahren und als Hinauf- Und man in Mährchen und Gedichten heben auf eine höhere Ebene. Die Synthese ist zu erwarten, Erkennt die wahren Weltgeschichten, früher oder später. Wir kennen die Idee einer alle Gegensätze Dann fliegt vor einem geheimen Wort überwindenden Einheit schon aus dem 15. Jahrhundert, von Das ganze verkehrte Wesen fort. 6 dem weisen Kirchenpolitiker Cusanus (Nikolaus von Kues, 1401 – 1464), der sie mit dem lateinischen Begriff der coinciden- tia oppositorum aussprach.

44 45 Mit Goethe durch die Welt der Geister Einleitung

Wie es der Menschheit in Zukunft ergehen mag, bleibt offen, heute unter Realität verstanden wird. Da Realität ursprünglich doch aus den Biographien einzelner Menschen wissen wir, daß Wirklichkeit bedeutet, lateinisch realitas, lautet die Frage eigent- die Wiederherstellung der Verbundenheit mit allem, mit dem lich: Was ist wirklich? Wir könnten hier nun eine Liste auf- „All“, möglich ist – man denke nur etwa an den Frieden, den stellen mit dem, was wir für wirklich oder unwirklich halten. ein alter weiser Mensch ausstrahlt, ja der manchmal sogar aus Diese Liste dürfte von Individuum zu Individuum durchaus dem Lächeln eines soeben Verstorbenen herausströmen kann. variieren, doch wird sie bei den Industrievölkern, die ihre Tra- Wir können diese uralte Verbindung in der Stille unseres Inne- dition kaum pflegen, im harten Kern übereinstimmen. Dieser ren, während wir vielleicht meditieren, noch intuitiv erfassen Kern ist ganz klar die Entscheidung für die Tageswelt als die oder doch wenigstens erahnen. Doch ist dieser Einklang oft einzig wirkliche. Alles Unsichtbare, Unerklärliche, Unberechen- nicht so leicht wiederzufinden. Der Weg zur Rückverbindung, bare und Unwiederholbare, etwa Träume, Visionen und Phan- zu echter „Religion“, und damit schließlich zu einem ganzheit- tasien, und allen voran natürlich Geister, sind Kandidaten für lichen Sein, kann durch intensives Studium der Geschichte und die Rubrik „unwirklich“. Das trifft auch für die Sichtweise anderer Kulturen – der beiden großen Achsen der Wissens- manch eines Wissenschaftlers zu, einschließlich einiger Parapsy- orientierung – und noch leichter und schneller durch Besinn- chologen, die mit wissenschaftlichen Kriterien allein das Feld lichkeit, Versenkung und Meditation wieder geöffnet werden. der Wirklichkeit abstecken wollen. Der aktuelle Trend deckt sich noch immer nicht mit den Worten, die Kathleen Raine im Doch zurück zu den Geistern. Sie ragen wie Schatten aus Vorwort zu Evans Wentz’ The Fairy-Faith in Celtic Countries einer nachtschwarzen Anderswelt in unsere taghelle Welt hin- vor einem Vierteljahrhundert, 1976, aussprach: ein. Oder sind sie vielmehr wie Lichtblitze in unserer trüben Wissenschaftliche Untersuchungen des „Para“-normalen haben Realität, die ihres Gegenparts beraubt worden ist? Je nach- für immer die alte Gleichsetzung des „Realen“ mit dem durch dem, für manch einen sind sie düster und beängstigend, für die Sinne Wahrnehmbaren und hinsichtlich der Quantität einen anderen ein reiner Hoffnungsschimmer am Horizont. Messbaren verbannt. Wenn uns ein Geist erschiene, so würden wir uns sogleich uns- (Evans Wentz 1999 7) rer eignen Geistigkeit bemächtigen – wir würden inspirirt seyn, durch uns und den Geist zugleich – Ohne Inspiration Ist das Wort „Geist“ im philosophischen Sinn mit der Kul- keine Geistererscheinung. Inspiration ist Erscheinung und turgeschichte Deutschlands untrennbar verbunden, so wird der Gegenerscheinung, Zueignung und Mittheilung zugleich. Geist als spukhaftes Phänomen doch keineswegs mit der deut- (Novalis, Blüthenstaub, Fragment 32) schen Geistesgeschichte assoziiert, ja man schämt sich vielmehr der Geistererscheinungen, wie der berühmte Arzt Jung-Stilling Und hier drängt sich die Kardinalfrage auf: Sind Geister real schon 1808 feststellen mußte (Jung-Stilling 1808, S. 220). Ein oder nicht, existieren sie wirklich? Zur Behandlung dieser bren- spukender Geist erscheint wie ein akademisches Tabu, allenfalls nenden, von Akademikern so ungern in den Mund genomme- geeignet zur Unterhaltung an langen, dunklen Winterabenden nen Kernfrage muß zunächst klargestellt werden, was eigentlich oder als Faszinationsobjekt für Kinder. Es existiert aber in der

46 47 Mit Goethe durch die Welt der Geister Einleitung

Tat ein enormes Korpus an historischer Literatur aus akademi- Dieses Buch befaßt sich ausschließlich mit „Spontanfällen“. schen Kreisen verschiedenster Couleur, wie ich bei meinen jah- Die durch den Arzt Franz Anton Mesmer im 18. Jahrhundert relangen, intensiven Recherchen vor Ort, d.h. in einschlägigen aufgekommene Mode des Mesmerisierens, einer magnetischen Bibliotheken, herausfand. Heilweise und ersten Variante des Hypnotisierens, bei der Zum Thema „Geister“ gibt und gab es schon immer extrem gezielt geisterhafte Phänomene erzeugt werden, fällt daher aus divergierende Standpunkte, wie sich auch generell auf dem wei- dem Themenbereich heraus. Sie wird nur am Rande gestreift, ten Feld der paranormalen Phänomene nachweislich Schafe und dann nämlich, wenn sich provozierte Phänomene mit sponta- Ziegen, sheep and goats, m.a.W. dumme Gläubige und ewige nen vermischen, wie etwa im Fall der Seherin von Prevorst. Meckerer unverständig anblicken. Es existiert keineswegs – folgt Ebenso wird hier die in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem man der historischen Literatur durch die Jahrhunderte hindurch skandalösen Spuk um die amerikanischen Schwestern Margaret – eine kontinuierlich sich mehr und mehr aufklärende Geister- und Kate Fox einsetzende Periode von Experimenten und geschichte, die schon eine klare Antwort auf all die Fragen Medien-Sitzungen ausgeklammert. Das Buch orientiert sich an geben könnte, etwa daß es keine Geister gäbe und daß alle gei- Fällen, die direkt aus dem Leben gegriffen sind. Der Sprung sterhaften Erscheinungen eine normale und natürliche Erklä- von einer Forschung, die das vorhandene Material an Spontan- rung, eine Auf-Lösung gefunden hätten. Es ist ebensowenig ein fällen untersucht, zur Erforschung der in einer „Sitzung“ oder Grund vorhanden, heute stolz zu sein auf eine kritische Haltung in einem Labor erzeugten Phänomene ist tiefgreifend. Labor- Geistern gegenüber oder auf die Fähigkeit, sie zu ignorieren. versuche haben für den wissenschaftlich interessierten Men- Beides gab es nämlich schon immer, genauso wie deren Gegen- schen im Laufe der Zeit immer mehr an Bedeutung gewonnen, teil, die Leicht- oder Blindgläubigkeit. Zwischen den extremen während sich parallel dazu eine Geringschätzung des Einzelfalls, Sichtweisen von sheep and goats lassen sich allerdings bei der nicht kontrolliert und beliebig wiederholt werden kann und genauerer Nachforschung noch viele weitere Varianten ent- sich damit dem Maßstab der Exaktheit entzieht, mehr und mehr decken (vgl. Schriever 2000). ausbreitete. Spontanfälle sind eben spontan, sie lassen sich per Geisterberichte aus verschiedenen Jahrhunderten und Epo- definitionem nicht gerne einfangen. Sie entspringen unmittelbar chen sprechen natürlich aus einem unterschiedlichen Zeitgeist der natürlichen Situation, und es bleibt nicht viel übrig, wenn heraus. Doch das Interessante daran ist: Wir finden in allen man sie mit Gewalt durch den Filter der menschlichen Ver- Zeiten Berichte von ein und denselben Erfahrungen. Das genau nunftkategorien preßt. Der Experimentalbereich hat sich dage- ist es, was hier aufgezeigt werden kann: das Gemeinsame, Ver- gen inzwischen zu einem weiten Bereich ausgedehnt, der sich bindende, Allgemeingültige und Bleibende, kurz das Zeitlose kontinuierlich weiterentwickelt und heute auch den Trend der von Geisterbegegnungen. Zeitspezifische Moden und Varianten „Parapsychologie“ – der Begriff wurde 1889 von dem Berliner umkleiden lediglich den harten Kern des Erlebnisses. Die Be- Philosophen und Psychologen Max Dessoir (8. 2.1867 – 19. 4. gegnung mit dem Geisterhaften und die Tatsache, daß sie uns 1947) ins Leben gerufen – ausmacht. für einen Moment die Tür unseres Raum-Zeit-Gefängnisses öffnet, bleibt von Jahrhundert zu Jahrhundert und von Kultur zu Für viele Leser steht sicher die Frage nach der Glaubwürdig- Kultur gleich. keit und Echtheit der vorgestellten Fälle an erster Stelle, und

48 49 Mit Goethe durch die Welt der Geister Einleitung sie ist zweifellos auch die schwierigste. Das vorliegende Buch Blick auch noch so abwegig klingen. So wurde dies ja in der bietet eine sorgfältige Auswahl von Fallbeispielen, deren Un- Geschichte der Parapsychologie von Anfang an gehandhabt, glaubwürdigkeit im Sinne von Betrug und Täuschung nicht und ohne eine solche Sorgfalt wäre die Parapsychologie als offensichtlich ist und durch keine mir bekannten Fakten aus den Wissenschaft nie geboren worden. Der spontane Einzelfall ist Quellen oder der Sekundärliteratur gestützt werden kann. das Ausgangsmaterial, sozusagen der Urstoff, das erste und Ihre Unglaubwürdigkeit liegt in dem beschriebenen Sachverhalt ursprüngliche Forschungsobjekt in der Geschichte der Erfor- und Phänomen selbst, bleibt also ein theoretisches Problem, da schung der paranormalen Phänomene. man sich das Phänomen praktisch nicht vorstellen, nicht vor Die hier zusammengestellten individuellen Spontanfälle unter- Augen halten kann. Das ist etwa der Fall, wenn von einem in scheiden sich allerdings ganz erheblich voneinander, und zwar der Luft herumfliegenden Drachen die Rede ist, was im 18. sowohl in der Qualität und Quantität ihrer Dokumentation Jahrhundert durchaus keine Seltenheit war. Natürlich wird durch die Betroffenen als auch hinsichtlich ihrer Zeugen. Fer- heutzutage kein Mensch ernsthaft die Existenz solcher Drachen ner hat sich die Vorstellung von der Glaubwürdigkeit eines als meßbarer Flugobjekte, quasi als IFOs, identified flying Zeugen im Laufe der Jahrhunderte stark gewandelt. So wird in objects, in Betracht ziehen; doch wer weiß, welches Muster sich Texten des 16. und 17. Jahrhunderts nahezu jeder als zuverläs- hinter dieser Wahrnehmung, diesem Bild des Drachens verbirgt siger Zeuge beschrieben. Wir sind also genötigt, unseren eige- und welche geistige Struktur es tatsächlich abbildet. Warum nen Maßstab anzulegen. Nach heutigen Kriterien gelten drei sah man damals vorzugsweise Drachen, während heute unun- Goldene Regeln für einen gut belegten Einzelfall: terbrochen UFOs gesichtet werden? Hier möchte ich an die Erstens sollte er so unmittelbar wie möglich, also ohne Bemerkung Fanny Mosers erinnern, „daß eine Halluzination wesentlichen Zeitverlust, dokumentiert werden; unmittelbar in keiner – ich wiederhole: in keiner Weise von zweitens sollte er möglichst exakt, d.h. ausführlich und einer objektiven Realität zu unterscheiden ist“ (Moser 1950, detailliert aufgezeichnet und bestenfalls noch mit technischen S. 18). Subjektive und objektive Realität verschwimmen bis- Mitteln wie Kameras eingefangen werden, und weilen und können nur indirekt, im nachhinein, auseinander- drittens sollten der eine oder besser noch die mindestens zwei gehalten werden, etwa durch das Zeugnis anderer, sofern diese bis drei Zeugen so glaubhaft wie möglich sein – glaubhaft im nicht selbst in eine kollektive Halluzination verwoben waren. Sinne von aufrichtig, selbstkritisch und verantwortungsbewußt Klammern wir nun z. B. solche absonderlichen Drachen-Fälle (vgl. Parker 1975, S. 37). von vornherein aus und integrieren nur diejenigen Beispiele in Abgesehen von den modernen technischen Mitteln der Doku- die Forschung, die unseren bereits vorhandenen Vorstellungs- mentation kann ein historischer Fall prinzipiell diese modernen modellen Genüge leisten und einem schon gefundenen Muster Evidenzansprüche erfüllen. Zu den am besten bezeugten Fällen oder Schema entsprechen, dann sperren wir uns selbst in ein unter den hier angebotenen Beispielen gehören etwa Kerners Gedankengefängnis ein und kommen aus ihm auch nicht einen Seherin von Prevorst (passim, bes. Kap. II. 2; III. 3, 4; IV; V. 4), einzigen kleinen Schritt weit hinaus. Aus diesem Grund erscheint der Gerstmann-Fall (Kap. II.8, 26; VII; IX.5) und der Fall es mir gerechtfertigt und wichtig, auch Fallmaterial vorzustel- Joller (Kap. III.24). len, das ganz einzigartig ist, mag es bisweilen auf den ersten

50 51 Mit Goethe durch die Welt der Geister Einleitung

Es seien noch zwei Randbemerkungen über das Fallmaterial Geistererlebnis zu verzeichnen haben, verschlossen, wenn sich und die Dokumentation gestattet: Erstens gibt es eine Dunkel- auch die Türschwellen inzwischen leichter überwinden lassen. ziffer von überhaupt nicht dokumentierten Fällen. Das gilt für Abschließend ist zum Thema Dokumentation ganz besonders moderne Verhältnisse, aber um so mehr für Zeiten, in denen zu betonen, daß nicht jeder Fall, der durch die Maschen des Schreiben noch ein Privileg und der Buchdruck eine Besonder- wissenschaftlichen Fangnetzes fällt, zwangsläufig auch unecht heit war. Zweitens gibt es Fälle, die auf dem langen Weg bis sein muß. Auch aus der großen Menge der vage und schwach zur Veröffentlichung irgendwo steckengeblieben sind. Dieser dokumentierten Erlebnisse lassen sich immerhin typische Muster mühselige Weg zur öffentlichen Dokumentation sieht folgen- herauslesen, die im Vergleich mit den gut bezeugten Fällen den dermaßen aus: harten Kern herauszuschälen helfen. Nehmen wir einmal an, es ereignet sich etwas, was überhaupt Wenn hier von Echtheit die Rede ist, so klingt darin die nicht in unser bestehendes Weltbild hineinzupassen scheint, so uralte Überzeugung der Objektivität von Geistern an, einer Art ist die innere Haltung des Erlebenden eine entscheidende Vor- äußerer, vom Betrachter unabhängigen Existenz der Geister, die aussetzung dafür, ob der Vorfall ans Tageslicht kommt und vor der Aufklärung noch ungeniert ausgesprochen wurde, doch bekannt werden kann. Offenheit dem Neuen gegenüber ist die dann zunehmend intellektuell transformiert werden mußte. erste Bedingung für Erkenntnis. Menschen, die eine starke Ten- Während im 19. Jahrhundert der Theologe Georg Conrad Horst denz zur Verdrängung haben, werden ein paranormales Erlebnis alle Untersuchungen über Geister als von unserem Geist unab- so lange wie möglich, unter Umständen sogar lebenslang unter- hängige Potenzen nur noch als „metaphysische Denkübungen“ drücken und vergessen. Gesteht sich ein Mensch ein, etwas betrachtete (Horst 1830, Bd. 1, S. 14), so sah im 20. Jahrhundert Unnormales, vollkommen aus dem Rahmen Fallendes erlebt zu die Biologin Fanny Moser immerhin „die Möglichkeit zur Ent- haben, so ist die erste Tür geöffnet. Das Weitergeben einer sol- scheidung der Frage nach der Wirklichkeit, der Objektivität chen Erfahrung an andere bedeutet die Überwindung einer zwei- des Spuks“, d. h. eines geisterhaften Vorganges oder einer Gei- ten Türschwelle. Ein dritter Schritt wäre, dieses Ereignis auch stererscheinung „als einer Realität sui generis außerhalb des noch schriftlich zu dokumentieren. Nicht jeder hatte den Mut Menschen“ (Moser 1950, S. 25). oder auch nur die Möglichkeit, dies zu tun und im besten Fall Die meisten Menschen stellen heute einen ausgesprochen noch eine Publikation durchzubringen. Die Offenheit des Ver- hohen Anspruch an die menschliche Intelligenz. Objektive Er- legers dem Themenkreis gegenüber ist eine vierte Tür, die es kenntnis gilt vielen als oberstes Ziel und höchster Wert. Eine aufzustoßen gilt. Es gab und gibt in der Geschichte außerdem allgemeine und immer gültige Welt, auf die man bauen kann, immer wieder Bücherverbote (s. Kap. I.1), allemal im Bereich bietet vordergründig Sicherheit und Kontinuität, sie ist eben von Geistererscheinungen, vollkommen unabhängig von der gei- allgemeingültig. Man kann sich auf die in ihr herrschenden stigen Flexibilität des Verlegers. Es bleibt nun der Phantasie des Regeln verlassen und nach ihnen leben. Das Allgemeine als Wert, einzelnen überlassen, zu erwägen, welche Fülle an paranorma- an dem es sich zu orientieren gilt, ist jedoch keine Erfindung len Erlebnissen es gegeben haben mag, deren Kenntnis niemals der Neuzeit. Es hatte schon in der Antike für die Griechen ans Licht der Öffentlichkeit gelangen konnte. Einige der vier allergrößte Gültigkeit. Erst in einem Jahrhunderte währenden Türen bleiben sicher auch noch heute für viele, die ein eigenes Prozeß in der Geschichte des abendländischen Denkens konnte

52 53 Mit Goethe durch die Welt der Geister Einleitung sich das Individuelle und damit auch der individuelle Mensch Wie die Geschichtsmächtigkeit bei ihrer Bewußtwerdung mit von dem verbindlichen Muster des Allgemeinen und einer vor- Stolz empfunden zu werden pflegt, so umgekehrt die Ge- schreibenden, allgemeingültigen Moral schichtsabhängigkeit als Demütigung, ja als eine der großen langsam wieder loslösen. Der Wert des Demütigungen neben der Kopernikanischen, Darwinistischen Einzelnen, Einmaligen und Individuel- und Freudischen: das für absolut und ewig Gehaltene der len kam ans Licht. Dieser Durchbruch eigenen Sitte und Wertung ist „nur geschichtlich“, durch vollzog sich vor allem in der Renais- zufällige Realität bedingt, selbst zufällig und gleich ihr dem sance, wurde aber schon viel früher vor- Wandel des Irdischen unterworfen! bereitet, ja bereits in der Antike lehrte (Landmann, Michael, 1972, S. 248) der stoische Philosoph Panaitios (ca. 185 – ca. 110 v.Chr.) eine der Persönlichkeit des einzelnen angemessene, individuelle Ethik (Puhle 1987). Inzwischen hat nun Michael Landmann (1913-1984). jedoch das Individuum seine Blüten längst wieder fallengelassen, wie der Philosoph und Anthropologe Michael Landmann (16. 12. 1913 – 25. 1. 1984), der „sich den Blick auf das Gesamt nicht rauben läßt“ (Landmann, Michael, 1974, S. 274), in seinem Buch Das Ende des Individuums aufzeigt (Landmann, Michael, 1971). Das Nikolaus Kopernikus All- gemeine steht nun wieder im Vordergrund und appelliert Charles Darwin (Koppernigk) Sigmund Freud (1809-1882). an die menschliche Vernunft. Das heute von der Wissenschaft (1473-1543). (1856-1939). gewünschte Wissen soll allgemein gültig, objektiv, nachvollzieh- bar, kalkulierbar, meßbar, beliebig abrufbar, ja gewissermaßen Kehren wir am Ende zurück zum Anfang: Wozu Geister- „handy“ sein, handfest, umgänglich, nützlich und greifbar. Das berichte? Und wozu historische? Es gibt zwei triftige Gründe, Einmalige fällt gnadenlos durch die Maschen des wissenschaft- einen theoretischen und einen praktischen: lichen Fangnetzes. Und diese Tatsache ist nur der eine der gro- Der theoretische Grund bezieht sich auf die wissenschaftliche ßen Steine auf dem Weg der Parapsychologie in die Wissen- Forschung, und zwar in doppelter Hinsicht. Die historischen schaft: Paranormale Phänomene sind aufgrund ihrer äußerst Dokumentationen können die aktuelle parapsychologische For- spontanen, originellen und kurzlebigen Natur nur schwer zu schung ganz wesentlich bereichern, indem sie den harten Kern packen, ja sie beleidigen geradezu unseren gesunden Menschen- von Geistererscheinungen, das Grundmuster, herauszuschälen verstand und reihen sich damit in die Geschichte der großen helfen, das sich beim Vergleich mit aktuellen Fallbeispielen Kränkungen der Menschheit ein, auf die Michael Landmann, sowie mit Berichten aus anderen Kulturen herauskristallisiert. seinerzeit Professor für Philosophie an der Freien Universität Auf der anderen Seite wird damit nicht nur die Parapsycho- Berlin, hinweist: logie gefördert, sondern auch die wissenschaftliche Forschung

54 55 Mit Goethe durch die Welt der Geister Einleitung generell um eine wichtige Dimension erweitert, vor der man jemandem anzuvertrauen? Und es hilft vielleicht auch dem, der lange genug die Augen verschlossen hielt. zwar so mutig ist und darüber spricht, aber bisher noch keine Doch ganz gleich, wie theoretisch, geschichtlich und wissen- befriedigende Antwort erhalten konnte, weil es die anderen schaftlich dieses Thema behandelt wird, es hat immer auch eine eben auch nicht besser wußten. Auf der anderen Seite hat sich emotional-persönliche Dimension, und eine totale Trennung der auch ein Wissen, doch eben ein Halbwissen, unter Jugendlichen beiden Bereiche ist realiter nicht möglich. Der praktische Grund verbreitet, das zu abenteuerlichen und gefährlichen Praktiken für die Arbeit mit alten wie neuen Geisterberichten ist aller- verführt. Jugendokkultismus ist in unserer Zeit zu einem gro- dings der dringendere, denn die Diskussion der hier beschrie- ßen Problem geworden. benen Erlebnisse ist nicht nur Gymnastik für den Verstand, Es gibt ein einfaches und wirksames Rezept zur Hilfe in sondern sie kann tatsächlich ein gutes Stück Lebenshilfe leisten. schwierigen Lebenssituationen, das jeder ohne therapeutische Die Frage, was ein Geist ist, ist die Frage nach uns selbst. Es ist Ausbildung anwenden kann: Es ist die Distanzierung. Man stel- die Frage nach unserer Seele, nach einem unvergänglichen und le sich das eigene Leben als ein Theaterstück vor und mische wertvollen Kern in uns selbst. Diese Frage spiegelt unsere Welt- sich entspannt unters Publikum, freue sich auf das Glas Sekt auffassung, unser Wissen und unseren Glauben ebenso wie oder Orangensaft in der Pause und verfolge das Spiel aus Wunsere Wünsche und Bedürfnisse wider. Sie berührt die letz- gebührendem Abstand. Alle Probleme können nun getrost auf te Frage, die nach dem Sinn des Lebens und der Möglichkeit der Bühne vor unseren Augen vorbeiziehen, und deren Lösung eines Weiterlebens nach dem Tode Ausschau hält. kann den Schauspielern überlassen werden. Die eigene Person Menschen, denen Geister begegnet sind, haben oft Antwor- kann nun wieder tief durchatmen und wird frei. Diese schon ten auf alle diese Fragen gefunden. Ihre Antworten bieten Wege seit der Antike beliebte Sicht des Lebens als einer Bühne, auf und Auswege für Menschen in Krisensituationen, etwa nach der wir lediglich eine Rolle spielen, hat eine gesunde Entla- schweren Unfällen oder in der Konfrontation mit lebensbedro- stungsfunktion. Person und Leben verlieren ihren tödlichen henden Krankheiten, für Menschen in verzweifelten, scheinbar Ernst, ihre Strenge, gewinnen etwas Spielerisches, und der Kno- aussichtslosen Lebenslagen, für Menschen, denen der Sinn ihres ten kann sich lösen. Der Blick auf uns und unser Leben aus der Lebens abhanden gekommen ist, für Selbstmordgefährdete und Ferne zeigt andere Relationen und läßt uns die Lage überschau- natürlich auch für alle diejenigen, die ähnliche Erlebnisse hat- en. Eine neue Perspektive, ein Überblick wird gewonnen, und ten, doch damit nichts anzufangen wissen oder sich sogar von das Verrückte kann wieder zurechtgerückt werden. Nichts ihnen bedroht fühlen. anderes geschieht im Grunde bei der im Moment so beliebten Hilfreich kann ein Buch über Geister wohl auch sein für alle Familienaufstellungstherapie: Man tritt zurück in den Hinter- Eltern und Großeltern, für Onkel und Tanten, für Erzieher und grund und läßt andere auf der Bühne die Rollen der eigenen Lehrer, für alle Menschen, die mit Kindern oder Jugendlichen Familienmitglieder übernehmen. Der Abstand öffnet die Augen, arbeiten oder auf andere Weise zu tun haben. Was wird in und man kriegt das Stück wieder in den Griff. Und um nun einem jungen Menschen vor sich gehen, der plötzlich mit etwas wieder auf die Geister zurückzukommen: genau das geschieht so Unpassendem und Unheimlichem wie einem Geist konfron- bei außerkörperlichen Erlebnissen, wenn jemand sich selbst tiert wird und nicht wagt, sich mit diesem peinlichen Problem von außen sieht, wobei dann die Frage entsteht: Wer ist hier

56 57 Mit Goethe durch die Welt der Geister Einleitung eigentlich der Geist – das neue Ich, das die alte Schale abge- Angebot von historischen und auch einigen neueren Erlebnisbe- worfen hat, oder der zurückgebliebene, „leere“ Körper? Nach richten. Es ist das längste Kapitel und könnte beliebig weit einem solchen Erlebnis sind viele Menschen vollkommen ver- ausgedehnt werden. Das Kunterbunt von Geistern ist hier einem wandelt, sie sehen den tiefen Sinn ihres Leben und fühlen sich vorsichtigen ersten Ordnungsversuch unterzogen worden, wel- wieder erfüllt und glücklich. cher als provisorisch angesehen werden darf und keinerlei Anspruch auf eine Systematisierung im Sinne Linnés erhebt. Es Um nun das Buch erfolgreich durchwandern zu können, sei ist ein weiterer großer Schritt, die unzähligen Feinheiten und hier der rote Faden durch seine zehn Kapitel gezogen: Schattierungen aller dieser geisterhaften Wesen scharf vonein- ander abzugrenzen, und man könnte über jede einzelne Nuan- Kap. I: Es beginnt mit einer Reise in die Vielfalt der keines- cierung ein eigenes Buch schreiben. So verschwimmen Feen, wegs einfältigen Geister-Literatur. Einige der wichtigsten Werke Kobolde, Drachen, Heinzelmännchen, Alraunen, Poltergeister über Geister und deren Autoren werden aus der ungeheuren und viele andere geisterhafte Wesen miteinander – nicht nur im Materialfülle herausgehoben, wobei verschiedene grundsätzliche Verlauf der Jahrhunderte, auch in ein und derselben Zeit – in Gedanken über die Dokumentation des flüchtigen Gegenstan- einem Meer von Namen, Erlebnissen und Phänomenen, aus des „Geister“ angesprochen werden. Zwischendurch folgt zur dem sie nur mit größter Sorgfalt wieder herauszufischen sind. Erfrischung ein Sprung in die konkrete Realität: eine Geister- Die hier gegebene erste Einteilung folgt den in der Literatur erscheinung aus Theodor Storms schöner Sammlung. Abge- am häufigsten angesprochenen Topoi, welche sowohl am reinen schlossen wird das Kapitel mit einem Spaziergang durch die Phänomen, wie etwa der Weißen Frau, als auch an der Inter- Jahrhunderte, bei dem wir einigen der wichtigsten Autoren zum pretation der Erscheinung, z. B. im Fall der Geister von Ver- Thema „Geister“ einen Besuch abstatten werden. Von Martin storbenen, orientiert sind. Zum Trost für die ordnungslieben- Luther bis in die Gegenwart zu Wilhelm Avenarius werden 38 den Geister unter uns ist im letzten Teil des Kapitels Persönlichkeiten und ihre Beziehung zum Bereich der Geister ansatzweise der Versuch einer systematischen Klassifizierung chronologisch in Kurzportraits vorgestellt. gemacht worden, der möglicherweise die Grundlage für eine spe- zifischere Einteilung der schlüpfrigen, luftigen Wesen bilden Kap. II: In diesem Teil wird die Wahrnehmung von Geistern kann. unter die Lupe genommen. Sinnlich oder übersinnlich, das ist hier die Frage. Oder kann ein Geist auch außersinnlich, d. h. Kap. IV: Hier wird eine Perspektivenverschiebung vorgenom- durch einen sechsten oder einen inneren Sinn wahrgenommen men: Es geht jetzt nicht um Dokumentation, Wahrnehmung und werden? Es wird hier eine Auswahl an Möglichkeiten der Wahr- Begegnung mit den tausendfachen Erscheinungsformen von nehmung von Geistern zusammengestellt, die in der historischen Geistern, sondern um die merkwürdige Erfahrung, sich selbst wie modernen Literatur beschrieben werden. als eine Art Geist außerhalb des eigenen Körpers wiederzufin- den. Solche außerkörperlichen Erlebnisse werden vor allem von Kap. III: Dieses Kapitel ist zwar nicht das Herz, aber das Menschen, die dem Tod schon einmal ins Angesicht geblickt materialreichste Stück des Buches, beinhaltet es doch ein großes haben, berichtet.

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Kap. V: Nun wird die Aufmerksamkeit vom Objekt des solch ungeladenen Gästen wie Poltergeistern auseinanderzu- Interesses auf das Subjekt gelenkt, auf den Erlebenden, den setzen hatten, waren geplagt bis aufs Blut. Der Spaß hat auch Geisterseher und die Geisterseherin, auf Menschen, die oft so mit Geistern irgendwann mal ein Ende. Geister wollen einfach sensibel sind, daß sie nicht nur Geister sehen können, sondern respektiert werden. mitunter auch den Geist der Dinge, etwa der Metalle, der Pflan- zen, der Menschen und Tiere, ja die elektrische Materie (Kerner Kap. VIII: Als Bereicherung und quasi Kontrollgruppen 1892, S. 40) fühlen. Es ist ein Kapitel, das ebenfalls weit aus- dienen die Geisterberichte aus anderen europäischen Ländern gedehnt werden könnte. In unserem Buch gilt aber das Augen- sowie aus Amerika und Sibirien, auf die in diesem Kapitel ein- merk zuerst dem Geist als solchem, und so tritt dieses Kapitel gegangen wird. Die ältesten angeführten Beispiele stammen über die Sensitiven, die Geister wahrnehmen, von der Länge her aus der klassischen Antike. Neben der Geschichte bilden, wie automatisch an die zweite Stelle nach Kap. III. schon gesagt wurde, die verschiedenen Kulturen bzw. Länder die zweite der beiden großen Achsen, auf denen das Wissen der Kap. VI: Aus dem Kapitel über den ortsgebundenen Spuk Menschheit zu finden ist. Einerseits ist es inspirierend, die wäre wohl das Hauptkapitel des ganzen Buches geworden, ginge unterschiedlichen Färbungen in den Berichten über Geister- es um die Britischen Inseln, wo über die unzähligen Spuk- erlebnisse zu entdecken, denn in jedem Land werden andere häuser und -schlösser schon unzählige Bücher verfaßt worden Elemente beleuchtet; andererseits dient es der Wahrheitsfindung, sind. Im deutschsprachigen Raum mangelt es zwar nicht an die Gemeinsamkeiten des weltweit vorhandenen Fallmaterials derartigen Gebäuden, wohl aber an derartigen Dokumentatio- immer klarer herauszulesen. Auch zu diesem Kapitel muß wie nen. Ortsgebundener Spuk ist nun mal ein Lieblingsthema im zu einigen anderen angemerkt werden, daß es sich zu vielen Nordwesten Europas, während in den deutschsprachigen Schrif- Büchern ausbauen ließe, erst recht, wenn man seine Fühler in die ten bevorzugt Poltergeister rumoren und nicht nur aus Lust Bereiche jenseits der Industriestaaten ausstreckt. Der Abschnitt und Übermut Objekte um sich werfen (s. Kap. III.24 und IX.4). über Sibirien bietet nur einen Hauch von Vorgeschmack all Trotzdem kann auch Deutschland mit einer stattlichen Zahl von dessen, was hierzu gesagt werden könnte. Geisterorten aufwarten, nur ist die Suche nach den historischen Belegen hier vergleichsweise schwierig. In Deutschland sind die Kap. IX: Das vorletzte Kapitel beleuchtet das weitläufige Namen von Spukorten in niemandes Munde. Daher führt die- Geister-Thema aus allerneuester wissenschaftlicher Sicht. Wenn ses Kapitel die Leser an einige solcher berüchtigten Stätten, die Geister zwar die Stiefkinder der Forschung par excellence sind, aus der historischen Literatur identifiziert werden konnten. so gibt es dennoch weltweit ernsthafte Ansätze, sich diesem unhandlichen und wenig griffigen, ja flüchtigen Forschungsobjekt Kap. VII: Ein leicht zu unterschätzendes Thema kommt hier zu nähern. Hier werden die neuesten Trends in der Wissenschaft auf den Tisch: Wie schützt man sich vor Geistern, und wie vorgestellt, wie auch der Wert der historischen Forschung für wird man sie wieder los? Es handelt sich dabei um ein durch- die heutige Wissenschaft ins rechte Licht gerückt wird. Zum aus ernstzunehmendes Kapitel, das von dem traditionellen Ausklang des Kapitels wird das brandaktuelle Thema der Nah- Umgang mit Geistern berichtet. Manche Familien, die sich mit toderfahrungen behandelt.*

60 61 Mit Goethe durch die Welt der Geister Einleitung

Kap. X: Was darf man aus all den Geisterberichten schließen? dann geht es in chronologischer Reihenfolge weiter durch die Sind sie zu irgend etwas gut? Schließlich und endlich berühren Jahrhunderte hindurch und in neuere Zeiten hinein. Halten wir Geister die Kernfrage der Menschheit, die Urfrage der Philoso- uns nun nicht mehr länger bei dem bloßen Vorgeschmack von phen, nämlich die Frage nach dem Sinn des Lebens, die ferner Geistern auf, sondern lassen wir uns – von Goethes Worten die Frage nach dem Tod und die nach einem Leben nach dem geleitet – in seine Jahrhunderte und in noch entlegenere Zeiten Tod einbezieht. Auch die fast vergessene Schlüsselfrage der Psy- und Gefilde entführen! Doch keine Angst, Sie werden sich nicht chologie, die Frage nach der Seele des Menschen, wird hier in diese Geisterwelt verlieren, denn ich erlaube mir, Sie zwi- angesprochen, wobei die Einheit von Seelenheil und Sinnfin- schendurch immer wieder sanft in die greifbare, doch trotzdem dung thematisiert wird. Können Berichte über Begegnungen mit „geistvolle“ Gegenwart zurückzuholen. Geistern, aus welchem Jahrhundert auch immer, deutschspra- chig oder aus anderen Kulturen, Impulse geben für die Suche nach dem Sinn des Lebens? Ändern sie den Blickwinkel, aus dem wir das Leben betrachten? Können sie helfen, Krisen zu bewältigen und das eigene Leben aus einer neuen Perspektive  wahrzunehmen? Oder sind Geister doch nur Spaßmacher oder Alleinunterhalter, die wie Hofnarren nach getaner Arbeit wie- der abtreten können? Fragen über Fragen, zu denen Antworten angeboten werden, die ein helleres Licht auf das Leben werfen * Etliche Forschungsergebnisse und Werke sind nach Abschluß und frische Lebenskraft und Lebensfreude bringen mögen. des Manuskriptes veröffentlicht worden (siehe Literaturver- Am Ende dieses Geister-Buches werden zur besseren Hand- zeichnis, Bd. 4, Seite 328 bis 330) und konnten inhaltlich nicht habung des Textes ein Namen-, Sach-, Orts- und Literaturver- mehr in den vorliegenden Text integriert werden. Einige der zeichnis, ein Glossar der wichtigsten Begriffe sowie vor allem Forscher und Autoren auf diesem Gebiet sind inzwischen ver- ein Verzeichnis der weiterführenden Literatur über Geisterer- storben: scheinungen gegeben, das eine repräsentative Auswahl der von Anthony D. Cornell (1924-2010) mir recherchierten gut 2000 Titel bietet. Hier sind sowohl die Arthur J. Ellison (1920-2000) relevanten der im vorliegenden Buch benutzten Titel sowie auch Hilary Evans (1929-2011) neue, unerwähnte Titel zusammengestellt. David G. J. Fontana (1934-2010) Maurice Grosse (1919-2006) Was nun den Zeitraum der angeführten Geisterberichte Montague Keen (1924-2004) betrifft, so ließ sich der Bogen im Laufe der Arbeit viel weiter Elisabeth Kübler-Ross (1926-2004) spannen als ursprünglich geahnt. Die Goethezeit ist zwar eine Robert L. Morris (1942-2004) Art Kernzeit geblieben, doch gewinnen wir Einblicke in viel William G. Roll (1926-2012) weiter zurückliegende Jahrhunderte. Die ältesten Dokumente Ian Stevenson (1918-2007) sind generell an den Anfang eines jeden Kapitels gesetzt, und

62 63 Mit Goethe durch die Welt der Geister

I

Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte

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Und laß dir raten, habe Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne; Komm, folge mir ins dunkle Reich hinab! (Goethe, Iphigenie auf Tauris, 3. Aufzug, 1. Auftritt, 1232ff., Orest zu Iphigenie)



Folgen Sie mir nun getrost durch das nebulöse Geisterreich, in die weite und noch weitere Welt hinein und durch andere, fernere Zeiten hindurch. Nehmen wir uns Zeit und Muße, uns dort gründlich umzuschauen – neue Räume wer- den sich auftun und Zeiträume sich verschieben oder ineinander verschmelzen. Doch bitte sehen Sie sich nicht zu lange darin um, blei- ben Sie nicht stehen, sondern gehen Sie immer wieder weiter; dann wird sich der Nebelschleier end- Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751-1829): Iphigenie und Orest, lich ein Stück weit heben, und das 1788. Licht, das hinter ihm vorscheint,

64 65 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte kann unseren weiteren Weg erhellen. Goethe schrieb 1781 an Anblick, wir sahen den greisen Mann als jugendfrischen Studenten, Charlotte von Stein: wie er Hand in Hand mit einem Dichter, welcher uns bereits wie ein Halbgott aus grauer Sagenzeit erschien, durch die Gassen von Ich bete daß es mir auf der Bahn des Lebens die Götter nie Jena wandelte. verduncklen mögen.1 Ohne sich lange bitten zu lassen, begann der Geheimrat: Es war zu einer Zeit, da Goethe sich vorübergehend in Jena auf- Vielleicht gewinnen wir letzten Endes mit Goethes Hilfe – hielt, um ungestört im chemischen Laboratorium arbeiten zu oder besser mit Gottes Hilfe – einen guten Überblick über die können. Durch gute Empfehlung meines Professors gelangte ich Geisterszene, und die Sicht wird klar: zu der Auszeichnung, ihm kleine Handlangerdienste thun zu Panoramic ability schreibt mir ein englischer Kritiker zu, dürfen, und weil das Glück mir immer hold war, fand der gro- wofür ich allerschönstens zu danken habe. ße Meister so viel Wohlgefallen an mir, daß ich ihn sogar auf (Goethe, Maximen und Reflexionen 2) seinen Spaziergängen begleiten durfte. Mit ganz besonderem Interesse lenkte er seine Schritte nach dem Schlachtfeld. Mit Vor- liebe gegen Abend, so daß uns oft die Dunkelheit überraschte. Dann stand er plötzlich in still, geheimnisvollem Lauschen, den I.1 scharfen Adlerblick durchdringend in das Dunkel gerichtet. DIE HISTORISCHEN SCHRIFTEN ÜBER GEISTER „Hören Sie nichts? sehen Sie nichts?“ fragte er oft flüsternd, „Roßgestampf und Waffengeklirr, Todesseufzer und Jammer-  geschrei?“ – Ich verneinte überrascht. Dem Pergament alsbald vertrau ich wohlgemuth, [...] „Man sagt, es soll hier spuken –,“ fuhr Goethe lebhaft fort (Goethe, Faust II, 4. Akt, Des Gegenkaisers Zelt, [nach Rosenberger 1952, S. 42, hat Goethe dies von fünf Augen- 10971ff., Erzkanzler) zeugen gehört], „und ich möchte für mein Leben gern einmal etwas Außergewöhnliches erleben! Da zieht es mich wie mit  übermächtigen Gewalten hierher. Es liegt eine schauerliche Poesie in diesen weiten, einsamen, blutgetränkten Feldern! Wie manch „Abenteuer mit Goethe? – Thatsächlich als wahr verbürgte Er- ein Herz mag hier, unversöhnt mit seinem Gott, gebrochen sein! lebnisse?!“ klang es schier atemlos vor Interesse aus dem Kreise. Und solche Geister, sagt man, sind gebannt an die Erde. – Ich Der alte Herr [Geheimrat August Klemm] nickte. Sein schönes, interessiere mich gewaltig für dieses Thema, ich lechze danach, regelmäßiges, bartloses Antlitz neigte sich wie in momentanem nur einen einzigen kurzen Blick durch die geheimnisvolle Thüre, Sinnen etwas zurück, – das matte Lampenlicht glänzte auf den welche das ‚Dort vom Hier‘ scheidet, zu werfen! Aber ich erlebe silberweißen Haaren, wie ein Heiligenschein wallten sie um die nichts. Eine Person – eine durchaus achtbare Frau, welche bei ehrwürdige Stirn. Hof in Weimar viel Vertrauen genießt, hat mir ein sonderbares Wie ein Gefühl scheuer Andacht überkam es uns bei dem Erlebnis mitgeteilt, verbürgt durch vier weitere Augenzeugen.

66 67 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte

Die Dame hatte sich in Jena durch irgend welche Zwischen- An ihnen vorüber sauste ein vierspänniger schwarzer Wagen, fälle verspätet und war gezwungen, noch in der Nacht zu ein französischer Bagagewagen, und auf demselben standen Wagen nach Hause zurückzukehren. dichtgedrängt französische Soldaten, anstatt der Köpfe weiß Ihr Weg führte über das Schlachtfeld. grinsende Totenschädel unter den Käppis. – Halb ohnmäch- Eine köstlich warme, mondhelle Sommernacht. Man lacht und tig vor Entsetzen sanken die Damen zurück, der Kutscher plaudert in der offenen Kalesche, die beiden Töchter beginnen drückte die Arme vor das Gesicht und der junge Herr stand zu singen und der Schwiegersohn begleitet sie mit gefälliger wie gelähmt vor Grauen und starrte lautlos über das Brach- Stimme. Da klingen Glockenschläge fern her durch die Stille, – feld und der schwarze Wagen verschwand schließlich in dem Mitternacht. nebelndem Mondschein, ohne daß die scharfen Augen des Spä- Gleicherzeit wendet der Kutscher besorgt den Kopf: „Möge henden sahen, wo er blieb.“ sich die gnädige Herrschaft nicht erschrecken, uns entgegen Goethe machte hochaufatmend eine Pause und fuhr dann kommt in wilder Jagd ein Wagen, an dem die Rosse durchzu- leiser fort: „Diese wundersame Begebenheit hat fünf Augen- gehen scheinen!“ zeugen, deren Wort mir volle Bürgschaft für die Wahrheit des- Richtig, ein dumpfes Rollen, Dröhnen und Hufgeknatter selben ist! Ich kenne seit der Zeit keinen höheren Wunsch, als schallt ihnen entgegen. einmal Ähnliches zu erleben, denn erst dann, wenn wir mit „Halten Sie!“ ruft der Schwiegersohn meiner Gewährsmän- eigenen Augen schauten, sind wir völlig überzeugt!“ nin dem Kutscher zu. „Ich will absteigen und unsere Braunen Geheimrat K. blickte einen Augenblick schweigend in die am Zügel nehmen! Sie sind auch Durchgänger und böses Bei- dunkle Herbstnacht hinaus, welche noch immer Sturm und spiel verdirbt oft gute Sitten!“ Regen gegen das Fenster trieb; er wartete, bis sich unsere Erre- Er sprang herab und stellte sich neben die Pferde, dieweil die gung über das Gehörte etwas gelegt hatte, dann fuhr er lebhaft, Damen in verzeihlicher Neugierde sich aus dem Wagen bogen, wie er meist von seinen Erinnerungen sprach, fort: Ich hatte das eigentümliche, so wild daherstürmende Gefährt zu sehen. bei diesem Gespräch die Empfindung, als ließe der große Mei- Seltsam, zuerst hatte man ein dumpfes Rollen und Hufschlag ster mich in selber Stunde tiefer in sein Inneres schauen, als je vernommen, jetzt mit einemmal flogen Roß und Wagen lautlos, einen andern Menschen. Es reizte mich auf das höchste, ihm zur schier geisterhaft daher. Erfüllung seines Wunsches behilflich zu sein. „Es sind vier schwarze Rosse!“ sagte der Kutscher. „Aber sie „Excellenz,“ sagte ich mit blitzenden Augen, „es ließe sich scheinen mager wie Skelette zu sein!“ fügte der junge Herr wohl ermöglichen, einen Spuk auf dem Schlachtfeld zu schauen! hinzu. Ich kenne persönlich etliche glaubhafte Personen in Jena, wel- „Warum hört man keinen Laut mehr von dem Gefährt?“ che die ‚Schildwacht‘ auf dem Felde schon mehr denn einmal fragte der Schwiegersohn erstaunt. gesehen, ja, die ganze Stadt weiß davon, und ich bin überzeugt, Da sauste es auch schon schattenhaft heran. auch wir werden sie sehen. Dazu aber müßten wir bei mond- Gleichzeitig ein Schrei des Entsetzens, welchen der Kutscher heller Nacht zur elften Stunde hinaus wandern!“ ausstieß, und welcher bei den Damen ein markerschütterndes Goethe sah mich schweigend mit seinen schönen großen Echo fand. – Augen an. Es lag beinah etwas mißtrauisch Forschendes in

68 69 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte seinem Blick, welcher mich zu durchdringen schien. „Von einer Wir blieben stehen. „Da bewegte sich etwas!“ – Ich schärfte spukenden Schildwacht habe ich noch nichts gehört,“ entgegnete die Blicke. Richtig, eine Gestalt, noch fern und undeutlich, er ernst, „würde mich aber sehr freuen, sie kennen zu lernen. schritt langsam dort auf und nieder. Sie werden mich doch begleiten?“ Jetzt blitzte etwas an ihr auf. Das Bajonett oder die Kopf- „Wenn mich Ew. Excellenz der Ehre würdigen wollen, ohne bedeckung. Frage!“ rief ich freimütig, „ich stehe allem Übernatürlichen sehr Eine fieberhafte Erregung bemächtigte sich unserer. Goethe zweifelnd gegenüber und würde mich aufs höchste begeistern, schob die Pfeife in die Tasche und faßte die Pistole mit krampf- eine eventuelle Mystifikation entlarven zu können!“ haftem Druck. „Gut, gehen wir, mein junger Freund! Meine Pistolen sollen „Sind Sie auch bewaffnet?“ raunte er mir zu. Sie bei diesem Entlarven unterstützen.“ „Ich habe meinen Schläger, Excellenz.“ Goethe hatte den Argwohn, daß ich ihm zu Gefallen ein klei- „Gut, dann vorwärts!“ – nes Possenspiel in Scene setzen werde, darüber herrschte kein Leise, aber so eilig wie möglich schritten wir auf dem wei- Zweifel. chen Boden weiter. Immer näher kamen wir der seltsamen Und thatsächlich bestand der alte Herr darauf, schon am Erscheinung. nächsten Abend, obwohl der Himmel bedeckt war, den nächt- Goethes Atem ging schwer. „Wahrlich – ein französischer lichen Spaziergang zu unternehmen. Er kündete mir den Ent- Soldat!“ murmelte er. schluß erst an, als er bereits marschfertig vor mir stand. So Wir waren ganz nah, bis auf zwanzig Schritte wohl herange- glaubte er wohl die etwaige Vorbereitung eines Studentenscher- kommen. zes am besten vereiteln zu können und ich sah daraus, wie ernst Vor uns, auf dem freien Feld schritt die Gestalt ruhig und es dem bedeutenden Mann mit dem Wissenseifer war. gleichmäßig auf und nieder. Wir erkannten sie genau, die hohen Wohl ausgerüstet wanderten wir hinaus. Die Stelle, an wel- Stiefel, weißen Beinkleider, den Waffenrock mit Bandelier und cher der gespenstische Posten sich zeigen sollte, hatte ich mir die hohe Mütze. Das Gewehr im Arm wandelte Napoleons alter genau angeben lassen. Sie war nicht zu verfehlen, da sie unmit- Gardist auf kleiner Strecke hin und her. telbar am Weg, am Fuß eines kleinen Hügels lag, unter welchem „Erkennen Sie das Gesicht?“ man ein französisches Massengrab mutmaßte. „Mich deucht so, Excellenz, aber seltsamerweise nicht so deut- Unter ernsten Gesprächen schritten wir dahin. Der Himmel lich wie alles andere, es scheint mir von phosphorescierender war wolkig, aber die Nacht nicht dunkel. Wir gewöhnten uns Weiße!“ – an den Dämmerschein und unterschieden bald jeglichen Gegen- „Wir wollen ihn anrufen, – kommen Sie näher.“ stand in voller Deutlichkeit, – ja, als wir die Hälfte des Weges Abermals näherten wir uns um drei bis vier Schritte. Dann hinter uns hatten, trat sogar der Mond zeitweilig hervor und blieb Goethe stehen. – tauchte das Schlachtfeld und die Berge in silbernen Glanz. „Heda! – Wer geht dort?“ klang seine Stimme unheimlich Goethe rauchte eine kleine Pfeife, er nahm sie plötzlich aus laut über das stille Feld. dem Mund und deutete mit leisem, kurz hervorgestoßenem Die Schildwacht wandelte ruhig weiter. „Da!“ geradeaus nach dem Hügel. „Qui vive?!“

70 71 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte

Keine Regung der Gestalt, sie schritt ganz wie zuvor mario- Himmel und sprach aus tiefster Brust heraus: „Also doch!“ – nettenhaft hin und her. Und ein andermal sagte er: „Welch eine erhabene, schauerlich „Antwort, Gesell, oder ich schieße!“ schöne Poesie lag in dieser gespenstischen Schildwacht! Ein Ge- Dasselbe Resultat. treuer der Garde, welcher keine Ruhe im Grabe findet, welcher Ich sah, wie Goethe die Zähne zusammenbiß. „Eine freche auf seinen Kaiser wartet, die zersetzten Siegesbanner aufs neue Persiflage!“ knirschte er. „Der Bursch verdient einen Denkzet- aus dem Staub zu heben! – Das wäre eine Ballade! Beim Him- tel!“ mel – mir klingen schon die Reime wie Marseillaisenton im Er hob die Pistole, zielte und schoß. Herzen!“ – Der Pulverdampf verflog – und die Schildwacht schritt ruhig Ich bin überzeugt, daß Goethe sich ernsthaft mit dem Plan wie zuvor auf und nieder. getragen hat, die tote ‚Schildwacht‘ in einer Dichtung zu ver- Einen Augenblick standen wir regungslos, wie erstarrt. ewigen, warum er es nicht gethan? – Es kamen damals jähe Dann warf Goethe wie ein gereizter Löwe das Haupt in den Ereignisse, welche seinen Besuch in Jena abkürzten und die Nacken. „Nun wollen wir den Spuk mit den Händen greifen!“ Erinnerung an jene Spuknacht auf dem Schlachtfeld wohl in keuchte er. Vergessen war sein weißes Haar, wie ein Jüngling den Hintergrund drängten. Später erzählte mir ein Weimarer stürmte er mir voran – und plötzlich standen wir und starrten Freund, Goethe habe doch zum öfteren noch über seinen Plan, uns aufs höchste betroffen an. „Wo blieb der Posten“ – Still, ‚die tote Schildwacht‘ gesprochen; ja er behauptete mit Bestimmt- einsam lag die weite Ebene vor uns. Kein Mensch nah und fern heit, diese Idee zu einer Ballade sei auch zu den Ohren Heinrich zu erblicken; keine Fußspur im Sande, wo eben noch der alte Heines gedrungen und habe die Entstehung der ‚Drei Grena- Grenadier auf und ab geschritten war. – diere‘ zur Folge gehabt. Mit krampfhaftem Druck umspannte Goethe meinen Arm. „So will ich liegen und warten still „Wo ist er hin, K.? wo ist er hin?!“ Ich schüttelte den Kopf wie eine Schildwacht im Grabe –“ und stotterte konfuses Zeug. Ich schäme mich nicht, zu beken- Inwieweit diese Mutmaßung Beachtung verdient, ja ob sie nen, daß mir ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. „Ist überhaupt glaublich ist, möchte ich sehr dahingestellt sein las- ein Graben da, in den er gesprungen sein könnte?“ sen. Ich bezweifle es, daß Goethe sich vielen Menschen über Nichts dergleichen weit und breit. Wir stampften sogar im unser mysteriöses Erlebnis anvertraut hat, er sprach auch mit mir Umkreis die Erde ab, ob vielleicht ein hohler Klang eine Höhle wenig darüber und ermahnte mich, nicht solch ernste Gespräche offenbare, – nichts, absolut nichts zu finden. am Biertisch zu entweihen. Im hellen Mondschein lag die Haide, und die tauschweren „Die Welt ist leichtfertig im Urteil“, sagte er, „ich habe es zu Halme und Rispen zitterten im Nachtwind. viel erlebt, daß man ehrenwerte Leute durch Spott und Zweifel Goethe strich langsam über die Stirn. „Lassen Sie uns heim- kränkte.“ – kehren!“ sagte er leise. Ich begriff ihn, sein spröder, leicht gereizter Sinn hätte einen Und wir gingen zurück. Schweigsam, in tiefe Gedanken Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit nicht ertragen. 3 verloren. Nur einmal blieb Goethe stehen, hob das wunderbar feierliche, schöne, greise Antlitz mit leuchtenden Augen zum

72 73 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte

Historische Berichte über Geister – alles nur Spuk? Ja und Springen wir in medias res und lesen eine typische Gespen- nein. Ja, denn hier geht es tatsächlich um Spukgeschichten, und stergeschichte, die sich einst wirklich zugetragen haben soll: zwar aller Art und aus allen möglichen Quellen. Nein, denn es dreht sich um echte Spukgeschichten, die hier berichtet werden. Die Pfarre Echt bedeutet, es handelt sich um Geschichten, die den Anspruch haben, wahr zu sein, also nicht auf eine andere Realitätsebene, Zum Geistlichen erzogen, erhielt ich von König Friedrich d. h. ins Reich des Irrealen, verschoben werden wollen. Die Wilhelm I. [Soldatenkönig, 14. 8.1688 – 31. 5. 1740] eine kleine berichteten Ereignisse wurden von glaubwürdigen Personen Pfründe im Innern des Landes, ziemlich weit südlich von erlebt und bezeugt und so unmittelbar und genau wie möglich Königsberg. Ich ging dahin, meine Pfarre in Besitz zu nehmen, beschrieben. Autoren und Betroffene sind dabei nicht selten in und fand ein sehr nettes Pfarrhaus, wo ich die Nacht im Schlaf- einer Person vereint; wenn nicht, dann steht der Autor oft in zimmer meines Vorgängers zubrachte. Es war in den längsten einem engen, unmittelbaren Verhältnis zum Erlebenden und Sommertagen, und am folgenden Morgen, der ein Sonntagmor- wird bisweilen selbst Zeuge der Ereignisse, ganz gemäß dem gen war, als ich erwachte, bei aufgezogenen Bettvorhängen und Goetheschen Wort: vollem Tageslichte da lag, sah ich die Gestalt eines Mannes in einer Art leichten Nachtkleides an einem Lesetisch stehen, wor- Wer kann sagen er erfahre was wenn er nicht ein Erfahren- auf ein großes Buch lag, dessen Blätter er zuweilen umzuwen- der ist. den schien. Ihm zu beiden Seiten standen zwei kleine Knaben, 4 (Goethe, Maximen und Reflexionen ) denen er von Zeit zu Zeit gar ernst ins Gesicht blickte, und, wie er sie anblickte, schien er jedesmal tief zu seufzen. Sein bleiches, In der Einleitung wurde bereits auf die Kriterien einer guten trostloses Gesicht verriet einen tiefen Gram. Ich sah das alles Falldokumentation hingewiesen und ebenso auf den Nutzen, vollkommen deutlich; nur, weil ich zu erschrocken und furcht- auch weniger ausführlich recherchierte Beispiele miteinzube- sam war, aufzustehen, oder mich selbst an die Erscheinungen ziehen. vor mir zu wenden, blieb ich, einige Minuten schweigend, atem- Wir dürfen uns übrigens glücklich schätzen, daß wir unge- loser Zuschauer, ohne nur im mindesten mich zu rühren. End- niert Einblick in solche im wahrsten Sinne des Wortes zwielich- lich machte der Mann das Buch zu, nahm die beiden Kinder, an tige Literatur nehmen können – vorausgesetzt allerdings, wir sind jede Hand eines, und führte sie langsam durch das Zimmer; in der Lage, die Spreu vom Weizen zu trennen. Das war nicht meine Augen folgten ihm ängstlich, bis die drei Gestalten all- immer so, wie wir aus der Geschichte wissen, vergegenwärtigt mählich verschwanden, oder sich hinter einem eisernen Ofen man sich etwa die von Acxtelmeier angeführte achtpunktige verloren, der in der fernsten Ecke des Zimmers stand. Schwarze Liste „Von denen Büchern / welche zu drucken inson- So tief und furchtbar ich von diesem Auftritte erschüttert, und derheit verbotten sind“ aus dem Jahr 1707, in der auf Platz eins so wenig ich mir ihn zu erklären imstande war, war ich „Alle Zauber=Bücher und Schwartz=Künste“ und auf Platz vier doch meines Geistes mächtig genug, um aufzustehen, kleidete „Die Bücher/welche neue ungereimte Lehren in Glaubens-Sachen mich schnell an, und verließ das Haus. Die Sonne war schon auf die Bahn/bringen“ stehen (Acxtelmeier 1707, S. 153). hoch herauf, ich ging nach der Kirche und fand sie offen; aber

74 75 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte der Kirchner hatte sie verlassen, und, als ich die Kanzel betrat, ihnen geworden, wissen wir alle nicht. Ebenfalls gewiß ist, war mein Gemüt und meine Einbildungskraft so von dem eben daß die Vermutungen und ungünstigen Meinungen über diese erlebten Auftritt eingenommen, daß ich mich durch Betrachtung geheimnisvolle Angelegenheit, die ihm notwendig zu Ohren der umgebenden Gegenstände zu zerstreuen suchte. Fast in allen gekommen sein mußten, die Krankheit, woran er starb, wo nicht lutherischen Kirchen Preußens ist es herkömmlich, an den Wän- herbeiführte, doch beschleunigte; aber er ist nun hingegangen den die Bildnisse der Geistlichen oder Pfarrherren aufzuhängen. zur Rechenschaft, und wir müssen christlich von dem Geschie- In einem der Gänge hingen mehrere solcher schlecht gemalten denen denken.“ Bildnisse. Kaum aber hatte ich meine Augen auf das letzte in Ich brauche wohl nicht zu sagen, wie bewegt ich diese der Reihe, das Bild meines Vorgängers, geheftet, als sie darauf Erzählung anhörte, welche mir alles, was ich gesehen hatte, vor gebannt waren, und ich sogleich das Gesicht erkannte, das ich die Einbildungskraft zurückrief, und Beweis zu werden schien. in meinem Schlafzimmer gesehen, wiewohl hier nicht mit jenem Unwillig aber, mein Gemüt länger von Phantomen gefesselt tiefen Ausdruck von Gram. zu sehen, welche Täuschung oder Irrtum gewesen sein konnten, Der Kirchner trat ein, und ich betrachtete den anziehenden teilte ich dem Kirchner den eben erlebten Vorfall nicht mit, Kopf noch immer. Nun fing ich an, über die Vorgänger mit ihm verließ aber auch das Zimmer nicht, wo er mir begegnet war. zu sprechen, und endlich auch über den letzten, nach dessen Ich wohnte stets darin, ohne doch wieder eine ähnliche Erschei- Geschichte ich mich gar sorgfältig erkundigte. „Wir betrachten nung zu sehen; und sogar die Erinnerung ward mit dem zu- ihn“, sagte der Kirchner, „als einen der gelehrtesten und liebe- nehmenden Herbst immer mehr verwischt. Als der Winter im vollsten Männer, die unter uns gelebt haben. Seine Huld und Anzug war, und Feuerung nötig machte, ließ ich den eisernen sein Wohlwollen machten ihn allen seinen Pfarrkindern wert, Ofen in der Stube, hinter welchem die drei Gestalten ver- die auch seinen Verlust wohl lange beklagen werden. Er ward schwunden waren, heizen. Es kostete etwas Mühe, da der Ofen aber in der Mitte seines Lebens von einer abzehrenden Krank- nicht nur unausstehlich rauchte, sondern auch einen höchst heit weggerafft, was denn zu manchen unerfreulichen Ge- üblen Geruch verbreitete. Als ich nun nach einem Grobschmid schichten Anlaß gegeben hat, und worüber noch allerlei gemut- sendete, den Ofen zu besichtigen und auszubessern, entdeckte maßt wird. Gemeiniglich aber glaubt man, er sei an Herzeleid er inwendig, tief am äußersten Ende, die Knochen von zwei gestorben.“ Da meine Neugier hiermit nur stärker aufgeregt kleinen menschlichen Körpern, welche an Größe den vom war, so drang ich in ihn, mir doch alles mitzuteilen, was er über Kirchner auf der Pfarre gesehenen Knaben glichen. Dieser letzte die Sache wüßte, oder gehört habe. „Darüber“, sagte er, „ist Umstand vollendete mein Erstaunen, und schien eine Erschei- nichts bekannt; aber die Lästerung hat ausgebreitet, er habe eine nung, die außerdem für Sinnentrug hätte gelten können, zur unerlaubte Verbindung mit einem jungen Weibe in der Nach- wirklichen zu machen. Ich gab die Pfarre auf, verließ den Ort barschaft gehabt, von welchem er auch, wie man behauptet, und kehrte nach Königsberg zurück – aber es hat auf mein zwei Söhne haben sollte. Zum Erweis dieser Angabe weiß ich Gemüt den tiefsten Eindruck gemacht. freilich gewiß, daß zwei Knaben von vier bis fünf Jahren auf (Storm 1991, Nr. 2 5) der Pfarre waren. Aber sie verschwanden einige Zeit, ehe ihr angeblicher Vater starb, plötzlich; wohin aber, und was aus

76 77 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte

Diese Gespenstergeschichte hat Theodor Storm bevorzugt Wenn hier nun von historischen Werken zum Thema „Gei- seinen Kindern erzählt. Er hat sie selbst nach einer Erzählung ster“ die Rede ist, dann klingt das, als könne man in eine Biblio- von einem Professor in Königsberg aufgeschrieben, und sie gehör- thek gehen und aus dem vollen schöpfen. Doch Geisterbücher te zur Manuskriptsammlung für sein Neues Gespensterbuch, das lassen sich dort – ironischerweise ihrer Natur entsprechend – erst postum veröffentlicht wurde. Sie enthält alle Momente, die nicht ganz so einfach aufspüren. Sie haben in den Bibliotheken eine Gespenstergeschichte klassisch werden lassen: keinen festen Platz, haben sich nicht richtig etabliert und gei- stern regelrecht in den verschiedensten Rubriken und Regalen • eine bei klarem Licht gesehene Erscheinung einer Gestalt, herum. Man findet sie nicht unter ihrem eigentlichen Namen, hier sogar dreier Gestalten, die sich schließlich in nichts sondern sie verbergen sich vielmehr hinter Begriffen wie „Aber- auflösen; glaube“, „Magie“ und „Okkultismus“, drei Begriffen, die von • dann die Wiedererkennung der geisterhaften Gestalt; einem modern denkenden Menschen ohne tieferes Nachdenken • die naheliegende Identifizierung weiterer Geistergestalten; dem Bereich des Irrealen zugeordnet werden. Geister entziehen • die um den Geist sich rankende tragische Geschichte; sich auch als literarischer Stoff dem direkten, handfesten Zu- • und schließlich sogar noch der Fund von Leichen am Er- griff. Nach heutiger Kenntnis müßten sich Geister in einer scheinungsort, wodurch die Idee des Überlebens des Todes Bibliothek eigentlich, wenn schon nicht unter dem von Andreas aufleuchtet. Resch vorgeschlagenen Begriff „Parapneumatologie“, der wört- Der Sinn der Untersuchung historischer Geistererscheinun- lich „Nebengeistlehre“ bedeutet, so doch unter dem von dem gen liegt zunächst einmal darin, zu verdeutlichen, daß es sich Berliner Philosophen Max Dessoir 1882 eingeführten üblichen hier um mehr als um ein bloßes Unterhaltungsspiel im auf- Terminus „Parapsychologie“ finden lassen; dieser bezeichnet gehenden Wassermann-Zeitalter handelt. Begegnungen mit Gei- die Lehre von Phänomenen, die neben (griechisch £, pará) stern gab und gibt es überall und ironischerweise eben auch im den aus der Psychologie bekannten Erscheinungen auftreten, Zeitalter der Aufklärung. Geister sind Weltbürger, wie der also wörtlich „Nebenseelenlehre“ meint. In England wurde zu Experte Bill Roll es einmal von einer Spezies, dem Poltergeist, derselben Zeit, auch 1882, von hochkarätigen Wissenschaftlern sagte. Sie sind genaugenommen Bewohner zweier Reiche, pen- wie Edmund Gurney, und Frederic Myers die deln sie doch zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Welt Society for Psychical Research gegründet, um diese psychischen und Anderswelt hin und her, sofern wir ihnen ein eigenes Gei- Randphänomene zu erforschen (s. a. Gurney, Podmore and sterreich zugestehen. Geister sind transkulturell, sie tauchen in Myers 1886). Doch möge aus diesem Buch hervorgehen, daß allen Kulturen in reicher Variationsbreite auf. Sie sind auch deren wissenschaftliche Erforschung im Sinne von exakter zeitlos, und das im doppelten Sinne: Einerseits haben sie sich Dokumentation sowie von Hypothesen- und Theorienbildung bereits unseren Vorfahren schon vor Jahrhunderten und Jahr- schon lange vor dem Ende des 19. Jahrhunderts begonnen hatte. tausenden präsentiert, andererseits erscheinen sie auch gelegent- Es ist ja ohnehin eine Frage der zeitlichen Perspektive: Blickt lich heute noch in Kleidern längst vergangener Zeiten – in Klei- man in die Vergangenheit, so erscheint das alte Wissen mit dern, die sie schon damals zu ihren vermeintlichen Lebzeiten zunehmenden Maße unwissenschaftlicher; schaut man dagegen trugen. Geister sind im zweifachen Sinne alt. in die Zukunft, so wird die Relativität der augenblicklichen

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Wissenschaft deutlich. Was aus heutiger Sicht unwissenschaft- wenn es auch etwas mühsam und aufwendig ist. Georg Conrad lich erscheint, entsprach einst dem letzten Erkenntnisstand der Horst, der Autor der berühmten Zauber-Bibliothek, aus der wir Dinge, oder, wie Franz Strunz es treffend formulierte: noch viel zu hören bekommen werden, sagt: „Aus dem Dunkel des Aberglaubens geht oft das Licht der Wahrheit hervor, und Aller Aberglaube ist alte Wissenschaft, alle Wissenschaft neuer dessen Unterlage beruht häufiger, als wir glauben, auf dem Aberglaube [...] Was heute Aberglaube ist, war einst Wissen- untergegangenen früheren Rechtsglauben“, und er zitiert die schaft. poetischen Worte des Sängers der Urania: (Strunz 1909, S. 1). Der Aberglauben selbst ist ein Schatten, Hier stoßen wir auf einen großen Stolperstein auf dem Weg Den innre Wahrheit auf das Leben warf – der Geschichte der Erforschung paranormaler Phänomene: Der (Horst 1830, Bd. 1, S. 8). Bereich des Aberglaubens erscheint spontan als ein Stein des Anstoßes für einen kritischen, wissenschaftsorientierten Geist. Neben der Überlieferung von Geisterberichten in akademi- Und dieser Stein, oder eher sogar Felsbrocken, läßt sich nicht schen Kreisen rankt sich ein zweiter Strang von Überzeugungen so einfach aus dem Wege räumen, was Goethe uns bestätigen um diese transparenten Wesen durch die Jahrhunderte hindurch, kann: die volkskundliche Tradition. Sie ist allerdings nicht gleich- zusetzen mit mündlicher Überlieferung, da auch die Werke, Der Aberglaube gehört zum Wesen des Menschen und flüch- die diese mündliche Kunde schriftlich festhalten wollten, „dem tet sich, wenn man ihn ganz und gar zu verdrängen denkt in schriftlich überlieferten Material verpflichtet“ waren – ein die wunderlichsten Ecken und Winkel, von wo er auf einmal, scheinbares Paradox (Daxelmüller in HdA 8). Aus diesem unend- wenn er einigermaßen sicher zu sein glaubt, wieder hervor- lich reichen Gebiet sind vor allem zwei große Standardwerke tritt. hervorzuheben: Jacob Grimms dreibändige Deutsche Mytho- (Goethe, Maximen und Reflexionen 6) logie aus dem 19. Jahrhundert (Grimm 1835/1992) und das Handbuch des deutschen Aberglaubens vom Anfang des 20. Aberglaube gehört nicht nur zum menschlichen Wesen, son- Jahrhunderts (1927/1987), „das mit zehn Bänden bis heute im- dern ebenso zum menschlichen Leben, zumindest zu dem des mer noch umfangreichste Nachschlagewerk der deutschsprachi- künstlerisch Begabten und Begeisterten: gen Volkskunde“, wie Christoph Daxelmüller im Vorwort des Nachdrucks betont (HdA 9). Der Begriff „Aberglaube“, der seit Der Aberglaube ist die Poesie des Lebens, deswegen schadet’s dem 13. Jahrhundert belegt ist und vermutlich ursprünglich dem Dichter nicht abergläubisch zu sein. „Gegenglaube“ bedeutete (HdA 10), wird im Handwörterbuch (Goethe, Maximen und Reflexionen 7) selbst erklärt als „der Glaube an die Wirkung und Wahrneh- mung naturgesetzlich unerklärter Kräfte, soweit diese nicht in Doch auf dem unendlich weiten Feld des Aberglaubens lassen der Religionslehre selbst begründet sind“ (HdA11). Was natur- sich viele Früchte ernten und wertvolle Kerne herausschälen, gesetzlich unerklärt ist, ist nicht notwendig auch unerklärbar,

80 81 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte es folgt vielmehr dem sich stets verändernden Stand der Wis- les apparitions des esprits von Augustine Calmet, Diss. De Spec- senschaft. Wissen formt sich, Wissen ist wandelbar. Daher tris von Wedel und unter demselben Titel auch von Michaelis finden sich in diesem Wörterbuch viele Beschreibungen von Alberti, Diss. de Jure Spectrorum von J.S. Stryck, Diss. de Mor- geisterhaften Phänomenen, deren reale Existenz inzwischen zu- bis etc. von Gehres, De Existentia Spectrorum von Romanus; mindest anerkannt, wenn auch deshalb noch nicht befriedigend und nun folgen endlich auch einige deutsche Titel: Juristische erklärt ist. Entscheidung der Frage. Ob einer einem andern / wegen Furcht Vor Gespenstern die Haus-Miethe wieder auffsagen könne? von „Der Deutsche schrieb von jeher sehr fleißig“, stellt Georg Thomasius (1711), Gedancken von Gespenstern von Meier und Conrad Horst in seiner Zauber-Bibliothek fest 12. Im Jahr 1821 auch dessen Sammlung von Gespenstergeschichten (Nürnberg wird der erste von sechs Bänden der Zauberbibliothek veröf- 1753), Schrifftmäßige Und Vernünfftige Gedancken Von Ge- fentlicht, die zusammen mit Justinus Kerners fünfbändigem spenstern von Carl Böhm (bzw. Magikon (1840–1853) die wichtigsten kritischen Fallsammlun- Carolus Bohemus), Gedanken gen paranormaler Ereignisse des 19. Jahrhunderts darstellt. von der Erscheinung der Geister Horst schreibt: von Zeibich, Die ungegründete Leugnung der Gespenster von Wir Neueren haben seit ungefähr 1780 nur zum Hohn in M.J.C.N. Schwarze und Die unseren Volksaufklärungsschriften vom Gespensterglauben ge- Verbindung des Teufels mit den handelt. [...] Und so haben wir ernster historischer oder Gespenstern [...] von Köster psychologisch=philosophischer Berücksichtigungen des gleich- (Horst14). Schließlich gibt Horst wol unter Hohen und Niedrigen immer noch nicht ausgerot- noch den Hinweis auf einige teten Aberglaubens, wie man sich vom Gespensterglauben Autoren, deren Schriften zu sei- ausdrückt, in der neueren Zeit fast gänzlich ermangelt. ner Zeit gelesen wurden, wie (Horst 1821 –1826, Bd. 1, S. 240f.) Tharsander (Pseudonym; s. Thar- sander 1736), Bahrdt, womit er Als rühmliche Ausnahmen erwähnt Horst Jung-Stilling, wohl den heißdiskutierten Auf- Eckartshausen, Köster und Schwarze, die es wagten, „in einer klärer und vielseitigen Theolo- vom Modeton abweichenden Ansicht von der Sache zu schrei- gen Karl Friedrich Bahrdt (25. 13 ben“ und entsprechend verschrieen waren (Horst ). Weiter 8.1741– 23. 4.1792) meint; den bietet der Geisterspezialist den Literaturfreunden eine Liste von Titelseite von Carl Böhms Schrift „Gedancken von Theologen, Philosophen und Gespensterbüchern an, um zu zeigen, wie wichtig dieses Thema Gespenstern [...]“, 1731. Juristen Justus Christian Hen- auch noch nach der Reformation tatsächlich war: De Spectris nings (20.3.1731 – Nacht v. 29./ von Scherzius, Spectrologia von Decker, De Apparitionibus Spi- 30. 8. 1815; s. Hennings 1777), der anstelle von Kant den Lehr- rituum von Heidegger, De Spectris et Lemuribus von Lavater, stuhl für Philosophie in Jena erhielt; dann Reichhardt, wobei er Lib. De Apparationibus Spirituum von Jak. de Chusa, Diss. sur vermutlich an den Schulmann und Schriftsteller aus Quedlinburg,

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Elias Kaspar Reichard (4. 11. 1714 – 18. 9. 1791; s. Reichard 1781) zu identifizieren (Capelle 1889), und ebensowenig entspricht die denkt; weiter den Professor für evangelische Theologie in Art der Stellenangabe der seit mehreren hundert Jahren gebräuch- Halle, Johann Salomo Semler (18.12.1725 –14.3.1791; s. Semler lichen. Wir könnten hier Goethe kommentieren hören: 1760); sowie einen gewissen Farmer, hinter dem sich vermut- Gewissen Geistern muß man ihre Idiotismen lassen. lich der englische unabhängige Minister und politische Schrift- 17 steller Hugh Farmer (20.1.1714–5. 2.1787; s. Farmer 1775/1776) (Goethe, Maximen und Reflexionen ) verbirgt (Horst 15). Auch die Physica curiosa (1662/1667) des in Würzburg Mathematik und Theologie lehrenden Jesuiten Cas- Diesen aus der Perspektive Horsts gegebenen Überblick über par Schott oder Schottus (1608–22. 5.1666), eines bedeutenden die schon seinerzeit als historisch anzusehende Geisterliteratur Schülers des Universalgenies Athanasius Kircher (s. Kap. III.14), möchte ich nun um einige aus heutiger Sicht historische Titel bleibt nicht unerwähnt, ebensowenig Der höllische Proteus von ergänzen, d. h. entweder Titel, die Franciscus (1695/1708). Aber auf das wegen seiner ausgezeich- bei Horst schlichtweg unerwähnt neten Bibliographie zweifellos spektakulärste Werk kommt er blieben oder die erst nach seiner erst zum Schluß zu sprechen: IIII. LIVRES des Spectres ou Zauber-Bibliothek veröffentlicht Apparations et Visions d’Esprits, Anges et Démons se monstrans wurden. Horst hat auch selbst sensiblement aux hommes [Vier Bücher über Gespenster oder noch andere einschlägige Bücher Erscheinungen und Visionen von Geistern, Engeln und Dämo- zur Geister-Thematik im weiteren nen, die sich spürbar den Menschen zeigen], Angers 1586. Der Sinne verfaßt (s. Kap. I. 17). Ich ungemein gelehrte Verfasser Loyer, der gleichzeitig Dichter ist, erwähnte ferner schon den Arzt hat für sein Buch bereits im 16. Jahrhundert sage und schreibe und Dichter , 459 Schriften über Gespenster benutzt! Horst bemerkt beiläu- der nicht nur wegen seiner Fall- fig, wie verstiegen Loyers Gedanken waren, glaubte dieser doch sammlung Magikon, die nach allen Ernstes, der ganze Homer sei eigentlich eine Weissagung Horsts Zauberbibliothek erschien, auf ihn und nur Verrückte oder Dummköpfe könnten daran besondere Aufmerksamkeit ver- zweifeln. In fünf bis sechs Worten käme alles Wesentliche vor dient (s. Kap. I.23). Ein dritter, (Odyssee B. II., V. 183): ebenfalls schon erwähnter Name muß noch aus der beachtlichen PštroV, LwšrioV, ’AndšngkaoV, G£lloV, ‘Ule…h Menge ernst zu nehmender Auto- Titelblatt von Horsts (Petros, Loerios, Andengkaos, Gallos, Yleie bzw. Hyleie) „Zauber-Bibliothek“, ren herausgehoben werden: Es ist 1821- 1826, Bd. 5, 1825. der Arzt Johann Heinrich Jung- Diese Worte übersetzt dann Loyer mit „Peter le Loyer aus Stilling, dessen Werk aus dem Jahr 1808, die Theorie der Gei- 16 Angewin, ein Gallier, von Huille“ (Horst ). Merkwürdig ist ster-Kunde, zum vielzitierten, aber auch heißdiskutierten wie jedenfalls, daß diese Stelle sich bei Homer überhaupt nicht fin- heftig kritisierten Geister-Klassiker aufstieg (s. Kap. I.12). Die- den läßt, keiner der Namen ist in dem Homer-Standardlexikon ses „bedeutungsvolle Buch“ mußte „durch seine innige ernste

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Arnims Bemerkung trifft ironischerweise auch heute noch bis ins letzte und allerkleinste Detail auf manch einen native critic der Geisterszene zu. In Deutschland braucht sich allerdings niemand solch einer heimlichen Furcht zu schämen, befindet er sich doch zumindest in zahlreicher Gesellschaft: 37% der Bevölkerung über 16 Jahren fürchten sich nämlich manchmal vor Gespenstern und bösen Geistern, wie eine Umfrage Ende 2001 ergab (Institut für Demoskopie Allensbach 2002, S. 3).

Im 19. Jahrhundert sind in Westfalen, dem Land des Zweiten Gesichts, von dem Pastor Wilhelm Redeker (1789 – 1859) aus Gehlenbeck alte heimische Sagen aus Westfalen gesammelt wor- den. Zusätzlich hat Redeker eine Chronik der Gemeinden Gehlenbeck und Nettelstedt erstellt (Teil I: NNB 1996, Nr. 27). Etwas später hat außerdem der Pfarrer Theodor Gieseler Titelblatt von Kerners „Magikon“, Titelblatt von Jung-Stillings 1840-1853, Bd. 5, 1853. „Theorie der Geisterkunde“, 1808. (1832 – 1884) aus Hüllhorst, das wie Gehlenbeck und Nettel- stedt in der Nähe des westfälischen Städtchens Lübbecke liegt, heimatgeschichtliche Dokumente in seinem Hermannskalen- Überzeugung notwendig alle Flatterminen des unbestimmten der festgehalten, dessen Veröffentlichung mit der Einweihung Meinens gegen sich aufsprengen“ (Arnim 1992, S. 540f.). Was des Hermannsdenkmals im Teutoburger Wald im Jahr 1875 Achim von Arnim zur Verteidigung dieses nur „leerem Wider- zusammenfiel. stand“ ausgesetzten Buches anführt, kann stellvertretend für Beide Sammler, Redeker wie Gieseler, waren „Erweckungspre- viele andere Geisterbücher gelten: diger“ und von Grund auf gegen alles Unchristliche, Vorchrist- liche, Abergläubische und damit auch gegen alles vermeintlich [...] dennoch bleibt das Buch historisch auch dem wichtig, Paranormale eingestellt. Redeker ließ z. B. alle alten germani- der an Geister gar nicht glaubt, aber aufrichtig und wahr schen Symbole von den Häusern entfernen (handschriftl. von die Welt betrachtet. Wo diese Aufrichtigkeit fehlt, wird auch Wilde in NNB 1990, Nr. 15). Doch in der Geschichte der Para- das Wahrste zum Aberglauben und ich gestehe, daß ich bei psychologie ist es gar nicht befremdend, daß interessantes den meisten Gegnern des Buches statt aller belebenden Wahr- Fallmaterial gerade von Kritikern zusammengetragen wird, ja heitsliebe nichts als hypochondrischen Wahn und Reflexion ironischerweise sind scharfe Kritiker oft die besten Bewahrer gefunden habe, wozu auch die heimliche Gespensterfurcht des von ihnen verachteten und verhaßten Objekts, das sie bis gehört. ins kleinste Detail fasziniert. Doch Sagensammlungen sind nur (Arnim 1992, S. 541) ein Symptom für einen unschätzbaren Verlust: In Westfalen ist wie an so vielen Orten ein großer Teil von dem alten, an

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Germanisches anrührenden Glauben bzw. Wissen, in dem man etwa noch einen weissagenden Vogel oder heilige Bäume kann- te, nicht nur verlorengegangen, sondern auch ganz absichtlich I.2 von kirchlicher Seite ausgerottet worden. LUTHER (1483–1546)

Im Anschluß folgt nun eine Reihe von Portraits wichtiger  Autoren, die sich mit dem Thema „Geister“ befaßt haben und die hier kurz und knapp, mehr oder weniger biographisch, Wir Menschen führen uns nicht selbst, vorgestellt werden sollen. Dabei werden nur jeweils einige bösen Geistern ist Macht über uns gelassen, für die Thematik relevante Aspekte aus ihrem Leben und Schaf- daß sie ihren höllischen Mutwillen an unserm Verderben üben. fen angesprochen. Berühmte Persönlichkeiten wie Luther und (Goethe, Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, Goethe, deren Biographien jedem leicht zugänglich sind, werden 5. Akt, Weislingens Schloß, Weislingen) nur mit wenigen Sätzen eingeführt. Die überragende Mehrheit der Autoren muß allerdings unerwähnt bleiben – es gibt ein-  fach viel zu viele –, und die hier ausgewählten Personen über- nehmen daher lediglich repräsentative Funktion. Ein Großteil Über das Leben des großen deutschen ihrer Werke ist jedoch in der Übersichtsbibliographie festge- Theologen und Reformators Martin Luther, halten (s. Verzeichnis der Geisterliteratur im Überblick). geboren in Eisleben am 10.11.1483, wur- Gar nicht berücksichtigt werden in dieser kleinen Autoren- de viel veröffentlicht, so daß hier nur auf Biographie die vielen, vielen bedeutenden Verfasser aus ande- seine ganz besondere Stellung in der Gei- ren Ländern, wie etwa der englische Geologe John bzw. Iohann sterthematik hingewiesen werden soll: Beaumont (s. Kap. VIII.9), der in Stone-Easton in Somerset Anscheinend – so ist der letzte Stand der ein zurückgezogenes Leben führte und sich später ganz der Forschung – finden wir in Luthers Schrif- Theologie und dem Spiritualismus widmete, der lothringische ten die ersten Angaben über Poltergeist-

Benediktiner-Mönch Augustine Calmet (s. Kap. VIII. 4), die Martin Luther (1483- fälle aus dem deutschsprachigen Raum, die englische Sachbuch- und Romanautorin Catherine Crowe (ca. 1546), nach einem als solche bezeichnet wurden, und diese 1800 –1876) aus Borough Green in Kent (s. Kap. VIII.8) und Kupferstich von Lucas Berichte stammen aus erster Hand, da er Cranach d. Ä., 1520. der schwedische Naturwissenschaftler (s. nur Fälle berichtet, die ihm direkt ange- Kap. VIII. 13) – sie werden jedoch im Kapitel über die Geister tragen wurden oder mit denen er selbst in Berührung gekom- in den verschiedenen Ländern (Kap. VIII) zu Worte kommen. men ist. Tatsächlich ist unserem heutigen Wissen nach Luther Die Persönlichkeiten aus dem deutschsprachigen Bereich der erste, der das Wort Poltergeist, das mittlerweile in aller werden nun in chronologischer Reihenfolge vorgestellt: Welt herumgeistert, nicht nur in den Mund genommen, son- dern auch aufgeschrieben hat (s. Kap.VII). Der Sache nach gab es offensichtlich schon frühere Fälle, wie man aus noch älteren

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Werken ersehen kann (Puhle 1999b, S. 27). Martin Luther starb Agrippas Leben war äußerst be- am 18. Februar 1546. Er hinterließ auch für die parapsycholo- wegt und führte den abenteuer- gische Forschung wertvolles Material. lustigen Weltbürger nach Paris, Dôle, London, Metz, Genf, Fri- bourg, Antwerpen, Mecheln, Pisa, Pavia, Turin, Rom, Würzburg, I.3 Bonn und zwischendurch immer AGRIPPA VON NETTESHEIM (1486–1535) wieder nach Köln. Im Alter von 20 Jahren gründete Agrippa in Paris  eine Gesellschaft zum Studium und zur Anwendung der geheimen Wir reden wieder über das Dämonische. Wissenschaften, die auch in ‚Es wirft sich gern an bedeutende Figuren, sagte Deutschland Anhänger fand. Seine Goethe, auch wählt es sich gerne etwas dunkle Zei- beruflichen Positionen reichten vom ten. In einer klaren prosaischen Stadt, wie Berlin, Universitätslehrer in Dôle (1509) fände es kaum Gelegenheit sich zu manifestieren.‘ Agrippa von Nettesheim sowie in Pavia (1512), Syndicus der (Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in (1486-1535). Freien Reichsstadt Metz (1518–20), den letzten Jahren seines Lebens 18) Stadtarzt in Genf (1521 – 23) und Fribourg (1523 – 24), Leibarzt von Louise von Savoyen, der  Mutter des französischen Königs, in Lyon (1524) und Seuchen- arzt in Antwerpen (1528) bis hin zum kaiserlichen Historio- Heinrich Agrippa von Nettesheim, eigentlich Heinrich graphen am Hof Margaretes von Österreich im niederländischen Cornelius genannt, wurde am 14. 9. 1486 in Köln geboren. Er Mecheln (1529). Angriffe und Verfolgung kennzeichnen weiter führte ein, man könnte sagen, dem heutigen Zeitgeist entspre- das Leben des gern als Magier bezeichneten Denkers. Spekta- chendes interessantes und sehr unruhiges Leben, das ihn stän- kulär war sein erfolgreicher Einsatz in der Verteidigung einiger dig zwischen verschiedenen Ländern hin- und herreisen ließ: als Hexen beschuldigter Frauen in Metz, woraufhin er selbst Deutschland, Italien, England und Frankreich waren die Län- der Hexerei angeklagt wurde und seine Stellung aufgeben und der seiner Wahl. In Frankreich, in Grenoble, verstarb er dann die Stadt verlassen mußte. Später zwang ihn die theologische auch am 18. 2.1535. Er war ein großer Gelehrter, nach seinen Fakultät Löwen, seinen Posten in Mecheln schon nach einem eigenen Angaben Doktor der Rechte und der Medizin, Kultur- Jahr zu beenden. Agrippa zog es daraufhin 1532 nach Köln und historiker, Theologe, Astrologe und Philosoph, und er betätigte Bonn in die Umgebung des Erzbischofs Herrmann von Wied. sich auch schriftstellerisch. 1512 wurde er in Italien zum Ritter 1535 wurde er auf einer Frankreichreise in Lyon inhaftiert und geschlagen. verstarb kurz darauf, wohl noch im selben Jahr, in Grenoble. Agrippa war dreimal verheiratet und hatte 7 Kinder.

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Agrippa berichtet von sich selbst Studien 1878, Nr. V, S. 119) den Beginn der deutschen spiri- sowie von seinem Lehrer, dem Bene- tualistischen Literatur im 15. Jahrhundert, in dem auch der diktiner und Humanisten Johannes Hexenhammer (Malleus maleficarum, 1487) von den Domini- Trithemius bzw. Treittenheim [Trit- kanern und Inquisitoren Jakob Sprenger aus Basel (um 1436/ tenheim] (1. 2. 1462 – 13. 12. 1516), 38 – 6. 12.1495) und Heinrich Institoris (eigentlich Krämer) aus telepathische Erlebnisse. „Imagina- (vermutlich) Schlettstadt (um 1430–1505) erschien, mit Agrippa tion und denkende Kraft“ können von Nettesheim an. nach Agrippa bei einigen Menschen Das Hauptwerk Agrippas, De occulta philosophia (Über die so stark ausgeprägt sein, daß sie verborgene Philosophie), war Trithemius gewidmet und erschien andere Personen über ihre Gedanken zuerst 1510, dann in überarbeiteter Ausgabe 1531. Es ist das und Wünsche sogar auf große Ent- erste systematische Werk über die abendländische Magie über- fernung unterrichten können. Die haupt. Grundlagen für dieses kompilatorische Werk sind die Johannes Trithemius (1462- Anerkennung von Hellsehen und Prä- Physik des Aristoteles (384 – 323 v. 1516), nach einer Zeichnung von kognition als Tatsachen übernimmt Chr.), die Astronomie des Ptolemäus Hans Burgkmair. Agrippa von dem Neuplatoniker sowie die Lehren des Christentums, Synesios von Kyrene (um 370 – um 413), Dichter, Philosoph und Neuplatonismus, der Hermetik, Alche- Bischof, dem auch ein Buch Über die Träume zu verdanken ist. mie, Astrologie, Zahlenmystik und Auch psychokinetische Effekte sind in den Augen Agrippas eine Kabbala, alles zu einer einheitlichen Tatsache, wenn er zugesteht: „Der Körper ist der Bewirkung Kosmologie miteinander verwoben, durch eine fremde Seele nicht minder unterworfen als der durch die das christliche Gedankengut im- einen fremden Körper“ (De occ. phil. I c 66). Nach Agrippa mer wieder durchscheinen läßt. Man entstehen Spuk und Geistererscheinungen durch Gedankenkon- könnte fast meinen, Goethe wäre hier zentration, und ferner können auch die ruhelosen Seelen schlech- am Werke gewesen oder umgekehrt: Aristoteles (384- 323 v.Chr.) ter Menschen – hier klingt Platon (s. Kap. VIII.1) an – als ido- Claudische Kopie nach einem Agrippa leuchte in Goethe wieder auf, lum, als Bild erscheinen. Werk aus dem 4. Jh. v.Chr. sagt letzterer doch: Agrippas Philosophie ist weitgehend neuplatonisch und hat aus heutiger Sicht auch theosophische Züge, wobei sie immer Der neue Platonismus lag zum Grunde; das Hermetische, wissenschaftsskeptisch und gegen die scholastische Philosophie Mystische, Kabbalistische gab auch seinen Beitrag her, und so gerichtet ist. Sie kreist ganz wesentlich um das weite Feld der erbaute ich mir eine Welt, die seltsam genug aussah. Magie und befaßt sich vor allem mit den jüdischen und ägyp- (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit 19) tisch-griechischen Geheimtraditionen. Überzeugt von der Idee der Offenbarung, war er doch kritisch gegenüber der Kirche Agrippa geht von einer dreifachen Welt, mundus triplex, aus, eingestellt und vollzog nicht den Anschluß an die Reformation. d. h. einer elementar-irdischen (Welt der Elemente), einer Dr. Beta setzt in seinem Beitrag „Geist und Geister“ (Psychische

92 93 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte astral-himmlischen (Welt der Gestirne) und einer alles umfas- Auch wenn Agrippas Werk über die okkulte Philosophie von senden göttlich-intelligiblen Welt (Welt der Engel bzw. Geister). seiner Leserschaft immer wieder als eine Art Kompendium der Alle drei Weltenbereiche sind durchdrungen von wirkenden Magie verstanden wurde, muß betont werden, daß es sich hier Kräften, virtutes, die in Physik, Mathematik und Theologie nicht um eine Anleitung zu seinerzeit verbotenen schwarzmagi- wissenschaftlich erfaßt werden können. Dieses Kräftespiel ent- schen Praktiken handelt. Ein Magus sei eben nicht ein Hexer spricht den drei Bereichen der Magie, auf unterster Ebene der oder Abergläubischer, sondern ein Priester und Prophet, ja ein natürlichen Magie, im mittleren Bereich der himmlischen und Weiser, erklärt Agrippa in seinem Vorwort. De occulta philoso- auf höchstem Niveau der religiösen Magie. Das diese Kräfte in phia ist mit Absicht teilweise verschlüsselt gehalten – scheinbar ihren Bereichen verbindende Band ist auf der irdischen Ebene im Gegensatz zu der Forderung, die magischen Praktiken nicht die Weltseele, in himmlischer Sphäre der Weltgeist, während länger geheimzuhalten. Auf diese Weise sollen jedenfalls gewis- Gott über allem steht. Nach Agrippa beruhen alle magischen se Geheimnisse dem schlechten und ungläubigen Leser verbor- Wirkungen auf zwei Gesetzen: gen bleiben, die der Kluge und Verständige jedoch herauslesen könne. 1. Höheres und Niederes beeinflussen sich gegenseitig, wobei Sein zweites bedeutendes Werk informiert Über die Unsicher- das Höhere stärkere Wirkung ausübt. heit und Eitelkeit der Wissenschaften und Künste und zeigt die 2. Auf gleicher Stufe Stehendes beeinflußt sich ebenfalls Unstimmigkeiten der etablierten wissenschaftlichen Lehrmei- wechselseitig und zieht sich gegenseitig an. nungen auf, auch die der Alchemie. Es erschien 1530 unter dem lateinischen Titel De incertitudine et vanitate scientiarum atque Die Aufgabe des Magiers bzw. Magus ist es nun, die Kräfte artium declamatio invectiva (1526). Es gilt als Summe seiner der unterschiedlichen Ebenen miteinander zu verbinden. Wei- Lebenserfahrungen (Müller-Jahncke 1998, S. 18), steht jedoch ter fordert er: im krassen Gegensatz zu seinem Erstwerk. Das von Skepti- Die magischen Handlungen sollten keine geheimen Künste zismus und Agnostizismus geprägte Werk verweist auf einen sein, sondern natürliche Anwendungen jener [obengenannten] religiösen Positivismus, der Gottes Wort als den einzigen Weg Wissenschaften. zur Wahrheit aufzeigt. Seinen Okkul- (Lehmann 1990, S. 202) tismus versteht Agrippa wohl als christ- lichen Humanismus (Goldammer 1978, In einem Brief an Aurelius Aquapendente hebt Agrippa her- S. 120f.). vor, daß wir die Ursachen der magischen Wirkungen niemals Ein berühmter Schüler Agrippas ist im Außen suchen sollen: der deutsche Arzt Johannes Wierus (Weier, Weyer) (1515–1588), ein großer In uns ist das wirkende Wesen, welches alles ohne Beleidi- Feind der Hexenverfolgung. Auch für gung Gottes und der Religion erkennt und vollbringt [...]. Ich den italienischen Philosophen Giordano sage: in uns ist der Urheber jener Wunderdinge. Johannes Wierus Bruno (1548 – 17. 2.1600), der von der (Lehmann 1990, S. 425) (1515 -1588). Weltseele lehrte und den die Inquisition

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mit dem Tod durch Verbrennen aus- Theophrast Bombast von Hohenheim, kurz genannt Paracelsus, löschen wollte, war Agrippa, vor als Sohn eines Arztes und einer Hörigen eines Klosters gebo- allem durch sein Werk De occulta ren. Er studierte in Deutschland, Italien und Frankreich und philosophia, ein bedeutender Lehrer. schloß in Ferrara seine Doktorprüfung ab. Der bedeutende Ebenso war Goethe mit seinen Arzt, Naturforscher und Philosoph, der seine Künste wie Schriften vertraut. Die Persönlich- Agrippa von Nettesheim von dem Benediktiner Johannes keit Agrippas hat bei dem Entwurf Trithemius (s.o.) lernte, zeichnete sich durch ein von der des Magiers im Faust offenbar Pate Schulmedizin unabhängiges Denken und Handeln aus, was gestanden, und auch der dort erwähn- sich u. a. darin äußerte, daß er an der Universität Basel zum te Pudel findet seinen Vorläufer in Entsetzen seiner Kollegen Vorlesungen in Deutsch und nicht Giordano Bruno (1548-1600). dem Agrippa von Paul Jovius zuge- in Latein anbot. Paracelsus löste sich von medizinischen Auto- schriebenen schwarzen Pudel, einer Art bösartigem Familiar- ritäten wie dem Perser Ibn Sina, bekannt unter dem lateini- geist, den Agrippa für sein ganzes Unglück verantwortlich zu schen Namen Avicenna (um machen pflegte (Biedermann 1998). 980 –1037), und dem Grie- chen Claudius Galenos (129 – ca. 216), doch nicht von Galenos’ Vorbild, Hippo- I.4 krates (ca. 460 – 380 v.Chr.). PARACELSUS (1493–1541) Seine medizinischen Kennt- nisse basierten nicht allein  auf Experimenten und exak- ter Beobachtung, sondern Wir wendeten uns an die Werke des Theophrastus Paracelsus auch auf unmittelbaren Er- und Basilius Valentinus; nicht weniger an Helmont, Starkey, fahrungen der Leiden der und andere, deren mehr oder weniger auf Natur und Einbil- Menschen, die er auf seinen aus- dung beruhende Lehren und Vorschriften wir einzusehen und gedehnten Reisen, seiner le- zu befolgen suchten. 20 benslangen Wanderung durch Europa kennengelernt hatte. (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit 21) Philosophisch gesehen stand  Paracelsus dem florentini- schen Neuplatonismus nahe, Paracelsus (1493-1541), 1540. (Bildnis des Aureol und er verstand den Men- Am 11. 11.(?)1493 wurde in einem Haus an der Teufelsbrücke Theophrast von Hohenheim schen als einen Mikrokos- im Alter von 47 Jahren.) in der Umgebung von Einsiedeln in der Schweiz Philipp Aureol mos, der wiederum im engen

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Zusammenhang mit dem Ganzen, mit gegebene Körper, so ist allein dem Menschen noch ein dritter dem Makrokosmos zu sehen ist. Alles Wesensbestandteil von Gott verliehen, und das ist die Seele (vgl. ist beseelt von einer anima mundi, Kap. IV). Sie hat ihren Sitz mitten im Menschen, im Herzen, ja einer Weltseele. sie ist das „Centrum des Menschen“ und ein „Haus der Geister, Paracelsus starb am 24. 9.1541 in die dem Menschen, gute und böse, gegeben werden“ (Paracel- Salzburg und gab seiner Nachwelt das sus, Philosophia sagax 23). Die beiden natürlichen Teile des Men- Heilmittel der Wahl mit auf den Weg: schen, irdischer und siderischer Leib, sind nun vergänglich, „Die höchste Arznei ist die Liebe“. sterblich, „denn nichts Natürliches ist ewig, es ist alles dem Es blieb attraktiv bis in unsere Tage Tod überliefert und mit dem Tod umfangen“. (Paracelsus, Phi- und wurde etwa zum Leitspruch des losophia sagax 24) deutschen Arztes Prof. Dr. Max Otto Der griechische Arzt Hippo- krates, „Vater der Medizin“ Bruker (1909–2001), der in Lahnstein Was aber bleibt, das ist die Seele, der von Gott, dem Ewigen (um 460- 380 v.Chr.). ein ganzheitliches Zentrum für Ge- verliehene Geist. Die Seele eines jeden Menschen ist „neu und sundheitsberatung (GGB e.V. Lahn- zuvor nie gewesen, aber bleiblich und ewig ist sie“, und nach stein) gründete (Jung 1992). Die Kraft der Paracelsischen Worte dem Tod geht jeder Teil des Menschen dorthin zurück, wo er wurde im Wirken Brukers trotz aller Anfechtungen von seiten hergekommen ist, „der natürliche Leib in die Natur und wird der Schulmedizin, der Pharma- und Nahrungsmittelindustrie verzehrt, der von Gott zu Gott“ (Paracelsus, Philosophia durch den Erfolg bestätigt (Bruker 1986ff., 22 Bde.; Puhle 2001a; sagax 25). Besonders interessant für unseren Geister-Kontext vgl. a. Paracelsus 2002). ist nun, was Paracelsus über den siderischen Leib bzw. Geist zu Zum Thema „Geister“ hat Paracelsus unzählige Beiträge sagen hat. Dieser nämlich sei aus einem „subtilen Fleisch“ ge- geleistet, von denen in unserem Buch an verschiedenen Stellen macht, dem buchstäblich Tür und Tor offenstehen. Das subtile ein erster Eindruck vermittelt werden soll. In seiner Vorrede Fleisch ist nicht aus Erde gemacht und daher auch nicht so zu der berühmten Philosophia sagax (1537/1538) bezeichnet sich „grob“ und „kompakt“ wie diese, kurzum: ihm weicht alles Paracelsus ausdrücklich als Christ und macht klar, daß er „kein Gemäuer: Zauberer, kein Heid, kein Zigeuner geheißen werden will“ Dieselben Fleische bedürfen keiner Tür, keines Lochs, sondern (Paracelsus 22). gehen durch ganze Mauern und Wände und zerbrechen nichts. Grundsätzlich ist hervorzuheben, daß nach Paracelsus alle 26 Lebewesen neben einem irdischen, elementischen, von der Erde (Paracelsus, Liber de nymphis ) stammenden Körper auch noch einen siderischen oder astralen, von den Gestirnen kommenden Körper oder Geist haben. Der Zum Schluß noch eine kleine Bemerkung am Rande: Da Para- irdische Leib, aus Wasser und Erde zusammengesetzt, ist sicht- celsus bei seiner Lehre vom siderischen Leib auf die Gestirne bar, während der siderische Leib, der Astralgeist, aus Feuer und zurückgreift, betont er: Luft gebildet, unsichtbar bleibt. Sind nun der irdische Körper und der siderische Geist-Körper natürliche, von der Natur

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Drum so versteht mich allein natürlich und nicht überna- verbunden war, fühlte wie dieser eine besondere Liebe zum türlich. Wort Gottes, und die Gefahr, die er für die protestierende (Paracelsus, Philosophia sagax 27) Kirche sah, vor allem nach dem Augsburgischen Reichstag, stimmte ihn traurig. Luther mußte Paracelsus’ Schriften über die Geister der Verstorbenen sowie ihn immer wieder aufrichten. über die Elementargeister werden weiter unten (Kap. III. 11 und Melanchthon starb am 19. 4.1560 26) vollständig und im originalen Wortlaut angeführt. in Wittenberg und hinterließ sowohl ein enormes literarisches Werk als auch einen nicht weniger umfangreichen Briefwechsel. Seine Stellungnahme zum Thema „Gei- I.5 ster“ ist alles andere als erschlos- MELANCHTHON (1497–1560) sen, dürfte aber bedeutend sein. Auch von eigenen Erlebnissen soll  er in seinem Liber de anima (1595) gesprochen haben (Daumer 1867, Denn von den Teufeln kann ich ja Albrecht Dürer (1471- 1528): Philipp Melanchthon (1497- Bd. 1, S. 22f.), und Justinus Kerner Auf gute Geister schließen. 1560), 1526. schreibt über ihn: (Goethe, Faust I, Walpurgisnachtstraum oder Oberons und Auch Melanchthon war der vollen Ueberzeugung, daß Ver- Titanias goldne Hochzeit, 4356f., Supernaturalist) storbene sich noch Lebenden zu offenbaren vermögen, wovon  er aus seiner eigenen Familie ein auffallendes Beispiel (nament- lich von der Schwester seines Vaters, der ihr Mann nach dem Der Pfälzer Humanist und Reformator Philipp Melanchthon, Tode erschien, und sie flehentlich bat, für ihn zu beten) dessen Name ursprünglich und wörtlich übersetzt „Schwarz- anführt. erde“ lautet, wurde am 16.2.1497 in Bretten geboren. Der viel- (Kerner 1892, S. 289) seitig Gebildete wurde bereits mit 14 Jahren Baccalaureus in Heidelberg, und man vertraute ihm schon jetzt die Erziehung Von der Heidelberger Melanchthon-Forschungsstelle wurde zweier junger Grafen von Löwenstein an. Drei Jahre später auf drei Stellen im lateinisch gehaltenen Corpus Reformatorum 28 wurde er Magister in Tübingen. Schon in jungen Jahren ver- hingewiesen, in dem sich relevante Textpassagen zur Geister- faßte er eine griechische Grammatik. Auch als Leiter einer thematik befinden könnten (Loehr 2000). Buchdruckerei betätigte er sich eine Zeitlang. Später in Witten- berg waren seine Vorlesungen so populär, daß er z.T. 2500 Zuhörer hatte. Melanchthon, der Martin Luther freundschaftlich

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Bekannter in unserer Zeit ist allerdings der Theologe, Phi- I.6 losoph und Schriftsteller Johann Kaspar Lavater, der vom LAVATER (1527–1586 UND 1741–1801) 15.11.1741 bis zum 2.1.1801 in Zürich lebte und dort als Pfarrer tätig war. Seine Schriften zur Physiognomik greifen ein  Thema auf, dem sich in früheren Jahrhunderten vor allem der Physiker und Dramatiker Giovanni Battista Della Porta aus Mit den zartesten sittlichen Anlagen geboren, bestimmte Neapel (1535 – 4.2.1615), der Autor des 20bändigen Standard- er sich zum Geistlichen. werks über die natürliche Magie, Magia naturalis (1558), mit (Goethe über Johann Kaspar Lavater, in: Goethe, Aus seiner Schrift über die menschliche Physiognomie, De humana meinem Leben, Dichtung und Wahrheit 29) physiognomia (1586), gewidmet hatte. Seine Lehre von der Phy- siognomie ist berühmt geworden und einzigartig geblieben,  wenn auch nicht vollständig vergessen und verloren, lebt sie doch in der Psychophysiodiagnostik Carl Huters, die heute Lavater ist der Name eines etwa von Wilma Castrian in Schmedenstedt bei Oldenburg berühmten, aus Rheinau bei gelehrt wird, weiter. Lavater, dessen „Auge klar und fromm, Schaffhausen stammenden und unter sehr breiten Augenliedern“ hervorschaute und dessen seit dem 15. Jahrhundert in Zü- „Stirnknochen von den sanftesten braunen Haarbogen eingefaßt rich eingebürgerten Geschlechts, erschien“ (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahr- aus dem viele Ärzte, Apotheker, heit 30), war ein Freund Goethes und Herders. Goethes erstes Physiker und Geistliche hervor- Zusammentreffen mit diesem „merkwürdigen Mann“, mit dem gegangen sind. Zwei Mitglieder er in lebhaftem Briefwechsel stand, zeichnet ein klares Bild von dieser Familie sollen für unseren dessen Persönlichkeit: Johann Kaspar Lavater (1741- 1801). Zusammenhang hervorgehoben Unser erstes Begegnen war herzlich; wir umarmten uns aufs werden. Der Verfasser des Werkes Von gespänsten, vaghüren, freundlichste, und ich fand ihn gleich wie mir ihn so manche fälen [...] (1569), das auch in französischer (1571), englischer Bilder schon überliefert hatten. Ein Individuum, einzig, aus- (1572), lateinischer (De spectris, lemuribus variisqu. praesagitio- gezeichnet, wie man es nicht gesehn hat und nicht wieder nibus tractatus vere aureus, 1575) und holländischer Fassung sehn wird, sah ich lebendig und wirksam vor mir. Er hinge- (1681) erschien, ist der Theologe, Prediger und Schriftsteller gen verriet im ersten Augenblick durch einige sonderbare Ludovicus Lavaterus bzw. Ludwig Lavater. Er wurde am 1.3. Ausrufungen, daß er mich anders erwartet habe. Ich versi- 1527 auf Schloß Kiburg geboren, studierte nach dem Besuch der cherte ihm dagegen, nach meinem angeborenen und ausgebil- Klosterschule in Kappel und des Carolinums in Zürich Theologie deten Realismus, daß, da es Gott und der Natur nun einmal in Straßburg, Paris und Lausanne, wurde Prediger und Schrift- gefallen habe, mich so zu machen, wir es auch dabei wollten steller in Zürich, wo er dann frühzeitig am 15.8.1586 einer bewenden lassen. [...] plötzlichen Krankheit erlag.

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Wir andern, wenn wir uns über Angelegenheiten des Geistes zu den wenigen glücklichen Menschen, deren äußerer Beruf und Herzens unterhalten wollten, pflegten uns von der Men- mit dem innern vollkommen übereinstimmt, und deren frü- ge, ja von der Gesellschaft zu entfernen, weil es, bei der viel- heste Bildung, stetig zusammenhängend mit der späteren, ihre fachen Denkweise und den verschiedenen Bildungsstufen, Fähigkeiten naturgemäß entwickelt. schon schwer fällt sich auch nur mit wenigen zu verständigen. (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit 29) Allein Lavater war ganz anders gesinnt; er liebte seine Wirkungen in’s Weite und Breite auszudehnen, ihm ward Vielleicht können die folgenden Worte Goethes über Lavater nicht wohl als in der Gemeine, für deren Belehrung und am schönsten den geistigen Gehalt von dessen Denken und Unterhaltung er ein besonderes Talent besaß, welches auf Wirken auf den Punkt bringen: jener großen physiognomischen Gabe ruhte. Ihm war eine richtige Unterscheidung der Personen und Geister verliehen, Als ein edler guter Mensch, fühlt er in sich einen herrlichen so daß er einem Jeden geschwind ansah, wie ihm allenfalls zu Begriff von der Menschheit, und was diesem allenfalls in Mute sein möchte. [...] der Erfahrung widerspricht, alle die unleugbaren Mängel, die Was ihm dagegen die größte Pein verursachte, war die Ge- einen Jeden von der Vollkommenheit ablenken, sollen ausge- genwart solcher Personen, deren äußere Häßlichkeit sie zu glichen werden durch den Begriff der Gottheit, die sich, in entschiedenen Feinden jener Lehre von der Bedeutsamkeit der Mitte der Zeiten, in die menschliche Natur herabgesenkt, der Gestalten unwiderruflich stempeln mußte. Sie wendeten um ihr früheres Ebenbild vollkommen wiederherzustellen. gewöhnlich einen hinreichenden Menschenverstand, ja son- (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit 33) stige Gaben und Talente, leidenschaftlich mißwollend und kleinlich zweifelnd an, um eine Lehre zu entkräften, die für Goethe genoß den Kontakt mit einem so außergewöhnlichen ihre Persönlickeit beleidigend schien: denn es fand sich nicht wie bedeutenden Menschen wie Lavater, mit dem er „oft brü- leicht Jemand so großdenkend wie Socrates, der gerade seine derlich zusammen in einem und demselbigen Bette geschlafen“ faunische Hülle zu Gunsten einer erworbenen Sittlichkeit (Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jah- gedeutet hätte. ren seines Lebens 34), anfangs sichtlich: (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit 31) Für mich war der Umgang mit Lavatern höchst wichtig und lehrreich: denn seine dringenden Anregungen brachten mein Den so „geist- als herzvollen Mann“ charakterisiert Goethe ruhiges künstlerisch beschauliches Wesen in Umtrieb; freilich weiter: nicht zu meinem augenblicklichen Vorteil, indem die Zer- Lavater hatte eine unglaubliche Geduld, Beharrlichkeit, Aus- streuung die mich schon ergriffen hatte, sich nur vermehrte; dauer; er war seiner Lehre gewiß, und bei dem entschiedenen allein es war so viel unter uns zur Sprache gekommen, daß in Vorsatz, seine Überzeugung in der Welt auszubreiten, ließ er mir die größte Sehnsucht entstand, diese Unterhaltung fort- sich’s gefallen, was nicht durch Kraft geschehen konnte, durch zusetzen. Abwarten und Milde durchzuführen. Überhaupt gehörte er (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit 31)

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Allein der positive Eindruck Lava- den auch Goethe wenn zwar nicht zu Gesicht, so aber doch in ters auf Goethe war nicht von unbe- Buchform in die Hände bekommen hat: grenzter Dauer, und Goethe kam Arbeiten und Zerstreuungen haben mich abgehalten dir für schließlich zu der Ansicht, daß die den überschickten Gablidon zu danken, welcher mir eine „ganz strenge Wahrheit“ nicht Lava- wunderbare Erscheinung gewesen ist. ters Sache sei, sah er doch in dem als 35 Betrüger entlarvten Geisterbeschwö- (Goethe, Briefe. An J. K. Lavater ) rer Cagliostro (8.6.1743–26.8.1795) noch immer eine andere, bessere Seite, die er „eine heilige Person“ nannte. Goethe hingegen behauptet in bezug auf Cagliostro: Glaube mir, das Unterirdische geht

so natürlich zu als das Überirdi- Cagliostro (alias Giuseppe sche, und wer bei Tage und unter Balsamo, 1743- 1795) – freyem Himmel nicht Geister bannt, Geisterbeschwörer? Stich von Charles Guérin. ruft sie um Mitternacht in keinem Gewölbe.

(Goethe, Briefe. An J. K. Lavater 36) Aus Lavaters Physiognomischen Johann Wolfgang von Goethe: Fragmenten: Portrait Johann Portrait Johann Kaspar Lava- Wolfgang Goethes, 1777. ters, Bleistiftzeichnung 1774/75. Die letzte Begegnung Goethes mit Lavater fand in Zürich statt, und Goethe erinnert sich: Goethe hält das Buch über den Familiengeist Gablidone Verkleidet ging ich in einer Allee, ich sah ihn auf mich zukom- offenbar für so interessant, daß er es gleich an den Schriftsteller men, ich bog außerhalb, er ging an mir vorüber und kannte Carl Ludwig von Knebel (30.11.1744 - 23.2.1834) weiterschickt: mich nicht. Sein Gang war wie der eines Kranichs, weswegen er auf dem Blocksberg als Kranich vorkommt. [...] hier ist Gablidon. Lies ihn und zeige dies Wunder, wem (Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten du denckst. Jahren seines Lebens 37) (Goethe, Briefe. An C. von Knebel 39)

Unter den Schriften Johann Kaspar Lavaters befindet sich Lavaters Protokoll über den Spiritus Familiaris Gablidone eine für unseren Zusammenhang sehr wichtige Abhandlung über (1787) wird daher weiter unten vollständig wiedergegeben (Kap. einen sonderbaren allwissenden Familiargeist namens Gablidone, III. 25).

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Schatzkammer des Gespensterglaubens, aus der man zwar schöpfen kann, aber nicht, ohne auch sorgfältig auszusieben. I.7 Unser Gespensterspezialist Horst schreibt über diesen berühm- FRANCISCUS (1627–1694) testen aller Autoren in Sachen Geister, den das 17. Jahrhundert vorweisen kann und dessen vernünftiges Urteil zum Thema  „Hexenprozeß“ er durchaus schätzt: Im Gespensterglauben aber war er ganz befangen, und sobald Je höher ein Mensch, sagte Goethe, desto mehr steht er er hierauf kommt, kann er alles hören, sehen, glauben, was er unter dem Einfluß der Dämonen, und er muß nur nur will und was ihm seine Phantasie vorspiegelt und sein immer aufpasssen, daß sein leitender Wille nicht auf Verstand hört auf. Abwege gerate. (Horst 1821, Bd. 2, S. 325) (Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 40) Entsprechend dem damaligen Zeitgeschmack sind Gespenster für  Franciscus nicht die Erscheinun- gen guter oder böser Seelen, son- Erasmus Franciscus war der Wieland dern Dämonen und Repräsenta- des 17. Jahrhunderts, wie Horst ihn nennt, tionen des Teufels. Grundsätzlich und unter Geister-Insidern war seine untersucht er alle Erscheinungen „wohlaufgeputzte und curiose Feder“ auf ihren teuflischen oder „engli- berühmt-berüchtigt (Horst 1821, Bd. 2 41). schen“, d. h. engelhaften Charakter Franciscus, eigentlich Finx, wurde am hin, wobei es dem „christlichver- 19.11.1627 in Lübeck geboren. Er stu- nünftigen“ Leser häufig überlassen dierte Jura, reiste als Hofmeister adeliger bleibt, die Entscheidung darüber Herren in Europa umher und erhielt 1688 selbst zu fällen. den Titel eines hohenloheschen Gehei- Franciscus verstarb am 20.10. men Rates, nachdem er die Stelle eines 1694 in Nürnberg, der Stadt, in fürstlichen Sekretärs und die Würde eines Erasmus Franciscus: „Höllischer Proteus der er sich nach seiner Reisezeit brandenburgischen Rates abgelehnt hatte. [...]“, 1695, Titelbild. niedergelassen hatte. Franciscus, dessen Pseudonym „Ehren- Aus dem Proteus von Franciscus reich“ war, galt als erster deutscher Berufsschriftsteller und 1695: „Vorbericht / Und Behand- beeinflußte vor allem Goethe. Sein über 1000 Seiten umfassen- lung der Frage / Ob die Gespenster der einflußreicher Höllischer Proteus [...] (1690) gleicht einer nur in blosser Einbildung bestehn?“

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denen sich seiner Meinung nach der höllische Morpheus äußert, enthält auch Berichte eigener Erfahrungen mit Geistern. Es ist I.8 ausdrücklich gegen Bekkers Bezauberte Welt gerichtet, die GOLDSCHMID (1662 –1713) berühmte und sogleich in andere Sprachen übersetzte Gegen- schrift 43 zum Teufels- und Gespensterglauben und vor allem zu  den Hexenprozessen, eine Schrift, die aber im Eifer des Ge- fechts gegen allen Aberglauben das Kind mit dem Bade aus- Auch ich entsage nun dem alten Trutz, schüttet. Goldschmid hält also an den bestehenden Meinungen Was ich verheimlicht sei dem Volk zum Nutz. seiner Zeit fest: Geister existieren, sie erscheinen auch, und (Goethe, Die Ersten Erzeugnisse der Stotternheimer Saline „welche mir allhier widerstehen/ und Krafft ihres Naturalismi, begleitet von dichterischem Dialog zwischen dem Gnomen, und Atheismi leugnen wollen/ daß Geister gefunden werden“, der Geognosie und der Technik 42) so Goldschmid, gehören in die „Menge der Irrenden“ (Gold- schmid 1698, S. 5). In diese unglückselige Menge gehören nach  Goldschmid die Sadduzäer, die nicht nur die Unsterblichkeit der Seele leugnen, sondern auch Petrus Goldschmid wurde 1662 in Husum geboren und wirk- alles Immaterielle schlechthin. Zu te als Pfarrer und Prediger in Güstrow, Sterup und anderen den Geisterleugnern zählt er wei- Orten. Von 1709 bis 1711 war er Superintendent in Parchim ter den ägyptisch-griechischen Ken- bei Schwerin. Auch Goldschmid, ein Gegner des holländi- ner der Mysterienweisheit Hermes schen reformierten Theologen Balthasar Bekker (s. Kap. VIII.5) und des ebenfalls den Geisterglauben bekämpfenden Christian Thomasius (s.u.), stand wie Erasmus Franciscus in mehrerlei Hinsicht auf der Seite der Gläubigkeit, und er beklagt, „daß die heutige Welt gerne rede von den wichtigsten Religions-Fragen/ aber das wenigste davon glaube“ (Goldschmid 1698, S. 1). In seinem Werk Höllischer Morpheus richtet er die ersten Worte an den „geneigten Leser“: „Zeit und Menschen werden immer böser. Je länger hinaus/ je grösser die Gottlosigkeit. Solte die Welt durch etliche Tausend Jahre ein noch graueres alter errei- chen; würde zweiffelsfrey die Gottesfurcht bey den Menschen ganz veralten. [...] Satans Unkraut wächset häuffiger auff/ als Gottes Weitzen“ (Goldschmid 1698, Vorwort). Goldschmids sehr gelehrtes Werk über Gespenster und Poltergeister, in Petrus Goldschmid: „Höllischer Epikur (342/1 v.Chr. - 271/0), Morpheus [...]“, 1698, Titelbild. um 50 v.Chr.

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Trismegistos – eine fiktive Person, erfunden von einem Autoren- kollektiv –, die griechischen Philosophen Demokrit (2. Hälfte des 5.Jh. v.Chr.) und Epikur (342/1 v.Chr. bis 271/0) sowie den I.9 griechischen Schriftsteller Lukian (zwischen 115 und 125 n.Chr. THOMASIUS (1655–1728) bis Ende der 180er oder Anfang der 190er Jahre). 

Was für ein Geist regierte Dich? (Goethe, Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, 1773, 2. Akt, Bamberg, Bischof)



Christian Thomasius stammte aus einer protestantischen Gelehr- tenfamilie und wurde am 1.1.1655 in Leipzig geboren. Der Jurist Hermes Trismegistos, ägyptisch-griechischer Träger und Philosoph lehrte als einer der der Mysterienweisheit. ersten in deutscher Sprache, erst an der Universität Leipzig, später 23 Historien machen den harten Kern von Goldschmids in Halle. Thomasius, der auf alles Werk aus. Er hat die Berichte Manuskripten „aus der Bibliothec das „natürliche Licht der Vernunft“ eines Weltbekannten Holsteinschen von Adels“ entnommen und fallen lassen wollte, war ein ent- ganz bewußt nur die ausgewählt, „welche die Gespenste deut- Christian Thomasius schiedener Aufklärer und sehr lich behaupten“ (Goldschmid 1698, S. 162). 15 der von ihm (1655 - 1728). engagierter Rechtsgelehrter, der abgeschriebenen Historien (2 – 9, 11, 17 – 21 und 23) werden sich vehement und erfolgreich weiter unten in den jeweils relevanten Abschnitten (Kap. III) gegen die Hexenverfolgung und die Verwendung der Folter ein- zitiert. Pfarrer Goldschmids Resümee über den Wert dieser setzte. Von ihm sind am Ende des 17. sowie am Anfang des 18. historischen Berichte ist eindeutig: Jahrhunderts viele Schriften über Hexerei und Zauberkunst ver- faßt worden, alle ursprünglich lateinisch, wie etwa seine Gelehr- Es bleibet dabey! Was von so vielen glaubwürdigen Schrift- te Streitschrift von dem Verbrechen der Zauber= und Hexerey stellern bekräfftiget wird/ leugnet derselbe nur/ der der aller- (1701) oder sein Buch Kurtze Lehr=Sätze von dem Laster der unverschämteste ist unter allen Menschen. Zauberey (1703 –1704) und schließlich die Schrift Thomasissche (Goldschmid 1698, S. 208f.) Gedanken über Hexenprocesse (1723).

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Mit seiner schon kurz erwähnten Diskussion Juristische Ent- mit 14 Jahren die Universität Tübingen. Er studierte evangelische scheidung der Frage. Ob einer einem andern/ wegen Furcht Vor Theologie und befaßte sich viel mit Geographie und Kartogra- Gespenstern die Haus-Miethe wieder auffsagen könne?, die 1711 phie. Noch bevor er im Jahr 1728 seinen Doktor der Theologie in dieser deutschen Fassung erschien, wirft er ein interessan- erwarb, wurde er im Jahr 1725 als Superintendent, Konsisto- tes Licht auf das Problem des Spuks. Das Problem ist alt und rialrat und Oberprediger nach Stadthagen in die Grafschaft modern gleichzeitig: „Muß man für ein Spukhaus den vollen Schaumburg berufen. 1746 folgte er einem weiteren Ruf an die Preis bezahlen?“ fragt BILD seine Leser und schildert unter deutsche Petrus-Gemeinde nach Kopenhagen, wo er mit der der Überschrift „Solche Prozesse gibt es nur in England“ den Gräfinwitwe ein Waisenhaus nach dem Vorbild der Francke- Fall des Tischlers Andrew Smith aus Upper Mayfield, der die schen Stiftungen in Halle gründete. Am 15. 2.1765 verstarb er letzte Rate für sein neu erworbenes Haus, in dem es ordentlich in Kopenhagen. spukte, nicht mehr zahlen wollte (BILD, 6. 3. 1998, S. 16). Wir Haubers Magische Bibliothek wissen es bereits aus der Antike, daß keiner freiwillig in einem ist eine der wichtigsten Quellen Spukhaus wohnen will, weshalb sich solche Häuser schwer für die Geschichte der paranor- vermieten lassen und auffallend billig sind (vgl. C. G. Jungs malen Phänomene, ihr voller Erfahrung in Kap. II.4 sowie Plinius’ Bericht von dem Athener Titel lautet: „Bibliotheca, Acta Spukhaus in Kap. VIII.1). Et Scripta Magica. Gründliche Christian Thomasius verstarb am 23. 9.1728 in Halle. Nachrichten und Urtheile Von solchen Büchern und Handlun- gen, Welche Die Macht des Teufels in leiblichen Dingen I.10 betreffen. Zur Ehre Gottes, und HAUBER (1695–1765) dem Dienst der Menschen her- aus gegeben von D. Eberhard  David Hauber, Hochgräfl. Schau- enburg= und Lippischen Super- Mit Hexen-Fexen, mit Gespenst-Gespinnsten, intendenten, der Kayserlichen Kielkröpfigen Zwergen steh ich gleich zu Diensten; Leopold-Carolinischen Acade- (Goethe, Faust II, 1. Akt, Kaiserliche Pfalz, Finstere Galerie, mie und der Königl. Preussis. 6199f., Mephistopheles) Gesellschafft der Wissenschaff- ten Mit=Genossen“ (36 Stücke,  Eberhard David Hauber: „Bibliotheca, 2. Aufl. 1739 – 1745). acta et scripta magica“, Titelseite des „ersten Stückes“, 2. Aufl. 1739. Eberhard David Hauber wurde am 27.5.1695 in Hohenhas- lach bei Bietigheim in Württemberg geboren und besuchte schon

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ein ausgezeichneter Kenner der Magie war. Vor allem ist Mesmer I.11 ein Vorläufer, wenn nicht sogar MESMER (1734–1815) der Begründer der hypnotischen Therapie. Nach seiner Promotion  mit dem Thema De influxu pla- netarum, „Über den Einfluß der Wir haben alle etwas von elektrischen und magnetischen Planeten“, praktizierte er 12 Jah- Kräften in uns und üben wie der Magnet selber eine anzie- re lang in Wien und behandelte hende und abstoßende Gewalt aus, je nachdem wir mit seine Patienten mit „magneti- etwas Gleichem oder Ungleichem in Berührung kommen. schen Curen“, bis er dann 1778 (Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten nach Paris ging. Mesmer führte Jahren seines Lebens 44) den „Magnetismus animalis“, oft irreführend als „thierischer Ma-  gnetismus“ übersetzt, ein, der vor Franz Anton Mesmer (1734- 1815), allem in den Jahren zwischen Kupferstich von Louis-Claude Legrand nach einer Zeichnung Der berühmt-berüchtigte Arzt Dr. Franz Anton Mesmer 1820 und 1850 populär war. Die von Jean Pajou. wurde am 23.5.1734 in Iznang bei Konstanz geboren. Obwohl Wirkung seiner Behandlungen in unserem Sortiment von Geisterberichten das Gewicht auf sah Mesmer in der Übertragung eines universalen Fluidums Spontanerlebnisse gelegt wird, soll Mesmer hier als Vorläufer durch Magnete bzw. magnetisierte Gegenstände auf den Kran- der modernen Parapsychologie (Beloff 1993, S. 17) erwähnt wer- ken, das den gestörten Fluß des Nervenfluidums im Patienten den. Mesmer hat vor allem durch eine neue Behandlungsweise, wieder in Gang bringen konnte. Auch Handauflegen und Striche, die den Patienten in einen sogenannten magnetischen Schlaf franz. passes, gehörten zu seinen Techniken. Marie Antoinette versetzte, auf sich aufmerksam gemacht. Seine neue Methode beauftragte ihn, eine Klinik zu eröffnen, was jedoch von der wurde viel angewandt, wie z. B. von dem Arzt Justinus Kerner Ärzteschaft verhindert wurde. Der Mesmerismus erfreute sich in seinem berühmt gewordenen Fall der Seherin von Prevorst allerdings noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts großer auf deren ausdrücklichen Wunsch hin (Kap. V. 4), und ihr Beliebtheit und wurde auch von der romantischen Naturphi- Effekt rückte oft in die Nähe von spontanen, natürlichen losophie begeistert aufgenommen. Sogar heute noch wird gele- Phänomenen. Für die Geschichte der Parapsychologie spielt gentlich „mesmerisieren“ für hypnotisieren gesagt, wenn auch Mesmer in jedem Fall eine entscheidende Rolle. In die Reihe die Begriffe nicht exakt dieselben Vorgänge beschreiben. seiner geistigen Väter gehören Ärzte wie Paracelsus (s. o.), der Franz Anton Mesmer verstarb am 5. 3. 1815 in Meersburg. Engländer Robert Fludd (1574 –1637) und der Flame Johann Baptista van Helmont (12.1.1579– 30.12.1644) aus Brüssel, der wie auch sein Sohn Franciscus Mercurius Helmont (1614–1699)

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veralteten Kleidungsart, hatte, bei einer gewissen Derbheit, etwas Zartes. Eine Haarbeutel-Perücke entstellte nicht sein bedeuten- I.12 des und gefälliges Gesicht. Seine Stimme war sanft, ohne weich JUNG-STILLING (1740 –1817) und schwach zu sein, ja sie wurde wohltönend und stark, sobald er in Eifer geriet, welches sehr leicht geschah. Wenn man ihn  näher kennen lernte, so fand man an ihm einen gesunden Men- schenverstand, der auf dem Gemüt ruhte, und sich deswegen Zutrauen und Liebe verband mich aufs herzlichste mit von Neigungen und Leidenschaften bestimmen ließ, und aus Stilling; ich hatte doch auch gut und glücklich auf seinen eben diesem Gemüt entsprang ein Enthusiasmus für das Gute, Lebensgang eingewirkt und es war ganz seiner Natur Wahre, Rechte in möglichster Reinheit. Denn der Lebensgang gemäß alles was für ihn geschah in einem dankbaren dieses Mannes war sehr einfach gewesen und doch gedrängt an feinen Herzen zu behalten. Begebenheiten und mannigfacher Tätigkeit. Das Element seiner Energie war ein unverwüstlicher Glaube an Gott und an eine (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit 45) unmittelbar von daher fließende Hülfe, die sich in einer unun-  terbrochenen Vorsorge und in einer unfehlbaren Rettung aus aller Not, von jedem Übel augenscheinlich bestätigte. Jung hat- te dergleichen Erfahrungen in seinem Leben so viele gemacht, Johann Heinrich Jung-Stilling wurde am 12. 9.1740 in Grund sie hatten sich selbst in der neuern Zeit, in Straßburg, öfters geboren und wuchs als Sohn eines Schneiders und Dorfschul- wiederholt, so daß er mit der größten Freudigkeit ein zwar meisters in pietistischen Verhältnissen mäßiges aber doch sorgloses Leben führte und seinen Studien auf. Bevor sich Heinrich Jung seinem aufs ernstlichste oblag, wiewohl er auf kein sicheres Auskommen Medizinstudium widmen konnte, wur- von einem Vierteljahre zum andern rechnen konnte. In seiner de er zunächst Schneidergeselle und Jugend, auf dem Wege Kohlenbrenner zu werden, ergriff er das Hauslehrer. Schon mit 14 Jahren arbei- Schneiderhandwerk, und nachdem er sich nebenher von höhe- tete er auch als Dorfschullehrer. Nach ren Dingen selbst belehrt, so trieb ihn sein lehrlustiger Sinn zu dem Medizinstudium machte er sich einer Schulmeisterstelle. Dieser Versuch mißlang, und er kehrte vor allem als ausgezeichneter Augen- zum Handwerk zurück, von dem er jedoch zu wiederholten arzt und „Starstecher“ einen Namen. Malen, weil Jedermann für ihn leicht Zutrauen und Neigung Goethe erinnert sich an Jung, dem er Hugo Bürkner: Johann faßte, abgerufen ward, um abermals eine Stelle als Hauslehrer Heinrich Jung-Stilling zuerst in Straßburg begegnete: (1740- 1817). zu übernehmen. Seine innerlichste und eigentlichste Bildung Unter den neuen Ankömmlingen befand aber hatte er jener ausgebreiteten Menschenart zu danken, wel- sich ein Mann, der mich besonders interessierte; er hieß che auf ihre eigne Hand ihr Heil suchten, und indem sie sich Jung, und ist derselbe, der nachher unter dem Namen Stilling durch Lesung der Schrift und wohlgemeinter Bücher, durch zuerst bekannnt geworden. Seine Gestalt, ungeachtet einer wechselseitiges Ermahnen und Bekennen zu erbauen trachteten,

118 119 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte dadurch einen Grad von Kultur erhielten, der Bewunderung finden. Die Richtung seines Geistes war mir angenehm und erregen mußte. Denn indem das Interesse, das sie stets beglei- seinen Wunderglauben, der ihm so wohl zu Statten kam, ließ tete und das sie in Gesellschaft unterhielt, auf dem einfachsten ich unangetastet. Auch Salzmann betrug sich schonend gegen Grunde der Sittlichkeit, des Wohlwollens und Wohltuns ruhte, ihn; schonend, sage ich, weil Salzmann, seinem Charakter, auch die Abweichungen, welche bei Menschen von so beschränk- Wesen, Alter und Zuständen nach, auf der Seite der vernünf- ten Zuständen vorkommen können, von geringer Bedeutung sind, tigen, oder vielmehr verständigen Christen stehen und halten und daher ihr Gewissen meistens rein und ihr Geist gewöhnlich mußte, deren Religion eigentlich auf der Rechtschaffenheit heiter blieb: so entstand keine künstliche, sondern eine wahrhaft des Charakters und auf einer männlichen Selbständigkeit natürliche Kultur, die noch darin vor andern den Vorzug hatte, beruhte, und die sich daher nicht gern mit Empfindungen, die daß sie allen Altern und Ständen gemäß und ihrer Natur nach sie leicht ins Trübe, und Schwärmerei, die sie bald ins Dunk- allgemein gesellig war; deshalb auch diese Personen, in ihrem le hätte führen können, abgaben und vermengten. Auch diese Kreise, wirklich beredt und fähig waren, über alle Herzensan- Klasse war respektabel und zahlreich; alle ehrliche tüchtigen gelegenheiten, die zartesten und tüchtigsten, sich gehörig und Leute verstanden sich und waren von gleicher Überzeugung gefällig auszudrücken. In demselben Falle nun war der gute so wie von gleichem Lebensgang. Jung. Unter wenigen, wenn auch nicht gerade Gleichgesinnten, (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit 46) doch solchen, die sich seiner Denkweise nicht abgeneigt erklär- ten, fand man ihn nicht allein redselig, sondern beredt; beson- Anfang 1775 meldete sich Jung-Stilling einmal bei Goethe in ders erzählte er seine Lebensgeschichte auf das anmutigste, und Frankfurt zu Besuch an, wo er im Hause von dessen Eltern wußte dem Zuhörer alle Zustände deutlich und lebendig zu wohnen konnte. Goethe erinnert sich: vergegenwärtigen. Ich trieb ihn, solche aufzuschreiben, und er versprach’s. Weil er aber in seiner Art sich zu äußern einem Nun hatte Jung seit einigen Jahren mit gutem Mut und from- Nachtwandler glich, den man nicht anrufen darf, wenn er nicht mer Dreistigkeit viele Staroperationen am Niederrhein voll- von seiner Höhe herabfallen, einem sanften Strom, dem man bracht und sich dadurch einen ausgebreiteten Ruf erworben, nichts entgegenstellen darf, wenn er nicht brausen soll; so mußte Redlichkeit seiner Seele, Zuverlässigkeit des Charakters und er sich in größerer Gesellschaft oft unbehaglich fühlen. Sein reine Gottesfurcht bewirkten ihm ein allgemeines Zutrauen, Glaube duldete keinen Zweifel und seine Überzeugung keinen dieser verbreitete sich stromaufwärts auf dem Wege vielfacher Spott. Und wenn er in freundlicher Mitteilung unerschöpflich Handelsverbindungen. war; so stockte gleich alles bei ihm, wenn er Widerspruch erlitt. (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit 47) Ich half ihm in solchen Fällen gewöhnlich über, wofür er mich mit aufrichtiger Neigung belohnte. Da mir seine Sinnesweise Im Jahr 1787 wurde Jung-Stilling Professor für Kameral- nichts Fremdes war und ich dieselbe vielmehr an meinen besten wissenschaften in Marburg und Heidelberg, und 1806 stieg er Freunden und Freundinnen schon genau hatte kennen lernen, in Karlsruhe zum Hofrat auf, wobei er nun auch als freier sie mir auch in ihrer Natürlichkeit und Naivetät überhaupt Schriftsteller arbeitete. Seine Romantetralogie Heimweh (1794– wohl zusagte; so konnte er sich mit mir durchaus am besten 97) wurde ein Bestseller und sogar ins Arabische übersetzt.

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Jung-Stillings freundschaftliches Verhältnis zu Goethe bewirk- übereilt oder vernachlässigt, schlimme schwer zu übertra- te, daß dieser 1777 Heinrich Stillings Jugend herausgab, eine gende Folgen hat; gleichfalls für eine göttliche Pädagogik zu biographische Schrift, zu der Goethe ihn schon bei der ersten halten wollte mir auch nicht in den Sinn. Ich konnte also den Begegnung ermuntert hatte und die ihm nun von Jung-Stilling guten Freund nur anhören, ihm aber nichts Erfreuliches erwi- zur Veröffentlichung überlassen wurde. Vor allem aber ist dern; doch ließ ich ihn, wie so viele andere, gern gewähren neben den Scenen aus dem Geisterreiche (1797 –1801) Jung- und schützte ihn später wie früher, wenn man, gar zu welt- Stillings Theorie der Geisterkunde (1808) eine sehr wichtige lich gesinnt, sein zartes Wesen zu verletzen sich nicht scheute. Schrift, die man heute als Klassiker der historischen Parapsy- Daher ich ihm auch den Einfall eines schalkischen Mannes chologie, genauer gesagt der Parapneumatologie betrachten nicht zu Ohren kommen ließ, der einmal ganz ernsthaft aus- muß. Das Werk erregte seinerzeit viel Aufsehen, stand es doch rief: Nein! fürwahr wenn ich mit Gott so gut stünde wie Jung, ganz im Gegensatz zur tonangebenden protestantischen Theo- so würde ich das höchste Wesen nicht um Geld bitten, son- logie, die der Zeit der Wunder ein Ende setzen wollte und dern um Weisheit und guten Rat, damit ich nicht so viel Gottes Willen als mit den Naturgesetzen identisch ansah. So dumme Streiche machte, die Geld kosten und elende Schul- wurde im Elsaß sowie im Königreich Württemberg Jung- denjahre nach sich ziehen. Stillings bedeutendes Werk verboten. Den Mitgliedern der (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit 48) Herrenhuter Brüdergemeinde untersagte man das Lesen des Buches, und die Basler Landeskirchenbehörde veröffentlichte Trotz all dieser Bedenken gesteht Goethe seinem Freund ein Gutachten gegen das auch dort verbotene Buch. Jung- einen hohen ethischen Status zu: Stilling reagierte darauf mit einer Apologie der Theorie der Geisterkunde. Für die meisten war Jung-Stilling ein Schwärmer Stilling lebte in einem sittlich religiösen Liebesgefühl; ohne oder Geisterseher, doch manche warfen ihm auch genau das Mitteilung, ohne guten Gegenwillen konnte er nicht existie- Gegenteil, das „Wegdeuteln“ von übernatürlichen Erscheinun- ren, er forderte wechselseitige Neigung; wo man ihn nicht gen vor (Landmann, Martin, 1995, S. 12). Auch Goethe sieht kannte, war er still, wo man den Bekannten nicht liebte, war ihn mit zweierlei Augen und läßt den o. g. überschwenglichen er traurig; deswegen befand er sich am besten mit solchen Worten seine Bedenken folgen: wohlgesinnten Menschen [...] Diesen gelingt nun wohl die Eitelkeit abzutun, dem Bestreben [...] aber sein Umgang war mir in meinem damaligen Lebens- nach äußerer Ehre zu entsagen, Behutsamkeit im Sprechen gange weder erfreulich noch förderlich. Zwar überließ ich sich anzueignen, gegen Genossen und Nachbarn ein freundli- gern einem jeden wie er sich das Rätsel seiner Tage zurecht- ches gleiches Betragen auszuüben. legen und ausbilden wollte, aber die Art auf einem abenteu- 49 erlichen Lebensgange alles, was uns vernünftigerweise Gutes (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit ) begegnet, einer unmittelbaren göttlichen Einwirkung zuzu- schreiben schien mir doch zu anmaßlich so wie die Vorstel- Am 2. 4.1817 verstarb Johann Heinrich Jung-Stilling in lungsart, daß Alles was aus unserm Leichtsinn und Dünkel, Karlsruhe.

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Geschwistern überlebte als einzige Cornelia (7.12.1750 – 8. 6.1777), mit I.13 der er eine harmonische Kindheit GOETHE (1749–1832) teilte. Seiner überwiegend von Haus- lehrern übernommenen Erziehung  folgten ein Studium der Rechtswis- senschaft in Leipzig (1765–1768) und Es kann die Spur von meinen Erdentagen ein einjähriger Aufenthalt in Straß- nicht in Aeonen untergehn. – burg (1770 – 1771) mit dem Abschluß (Goethe, Faust II. 5. Akt, Großer Vorhof des Palasts, seiner Studien durch die Promotion. 11583f., Faust) Johann Heinrich Wilhelm Der entscheidende Sprung nach Wei- Tischbein (1751- 1829) zugeschrieben: Goethe, mar geschah im Jahr 1775, einer  unbekannte Ölminiatur. Einladung des soeben volljährig gewordenen Herzogs Carl August Johann Wolfgang von Goethe (3. 9. 1757–14. 6. 1828) folgend, den der Werther so beeindruckt wurde am 28. 8. 1749 in Frank- hatte, daß er den anonymen Autor des Werkes in Frankfurt furt am Main geboren. Seine sogleich ausfindig gemacht hatte. Eltern waren Johann Caspar Aus den unendlich vielen, überall nachzulesenden biographi- Goethe (31.7.1710–25.3.1782), schen Angaben über Goethes „äuße- ein Doktor der Rechtswissen- res“ Wirken und Schaffen sei hier nur schaft, dessen Familie – sein noch die Tatsache herausgegriffen, Vater Friedrich Georg Goethe daß der 1782 Geadelte und mit vielen war Schneidermeister und Bür- Ämtern und Titeln Geehrte, dessen ger, verheiratet mit Cornelia 250. Geburtstag im Jahr 1999 in der Schellhorn, geb. Walther – im „Kulturstadt Europas“, in Weimar, Jahr 1687 aus dem Mansfeldischen festlich begangen wurde, über drei- nach Frankfurt gezogen war, ßig Jahre lang bis zu seinem Tod und Katharina Elisabeth Textor die dortige Herzogin-Anna-Amalia- (Frau Rat bzw. Frau Aja, 19.2. Bibliothek leitete, in der man bis 1731–13. 9.1808), die Tochter Moritz von Schwind (1804-1871): heute aus einem überaus reichen Die Geburt Goethes, 1844. des Juristen Johann Wolfgang Schatz an Quellen-Literatur zum The- Georg Oswald May: Textor (11. 12. 1693 – 6. 2. 1771), eines hochgestellten Mannes im ma „Geister“ schöpfen kann – als Catharina Elisabeth Goethe, geb. Textor (1731-1808), 1776. Frankfurter Rat (s. Kap. V), und seiner Frau Anna Margareta wehte immer noch der Geist von (Goethes Mutter, auch Frau geb. Lindheimer (31. 7.1711–18. 4.1783). Von Goethes acht Goethe und Schiller über der Stadt. Rat oder Frau Aja genannt)

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Zu seiner paranormalen Biographie sei an dieser Stelle vor- erst soviel gesagt, daß Goethe schon bei der Betrachtung seines Geburtstages weit über die banale, beschränkte, aus jedem höheren kosmischen Zusammenhang gerissene Alltagswelt hin- auszublicken wagte, wie man aus seiner Beschreibung dieses Tages leicht ablesen kann: Am 28. August, 1749, Mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstella- tion war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sich freundlich an, Merkur nicht Goethes Gartenhaus in Weimar. widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig, nur Goethes Werk ist ganz und gar durchdrungen von Gedanken der Mond, der so eben voll über das Geisterreich und enthält neben philosophischen und ward, übte die Kraft seines poetischen Gedanken über Geister Gegenscheins um so mehr, als sowohl viele von ihm selbst erlebte zugleich seine Planetenstunde Goethes einzige ihm eingetreten war. Er widersetz- verbliebene Schwester, Cornelia als auch von anderen berichtete para- Goethe (1750- 1777). normale Erlebnisse. In seiner Auto- te sich daher meiner Geburt, biographie bekennt er: die nicht eher erfolgen konn- te, als bis diese Stunde vorübergegangen. Von diesen höheren Betrachtungen, Diese guten Aspekte, welche mir die Astrologen in der kehre ich wieder in mein kleines Folgezeit sehr hoch anzurechen wußten, mögen wohl Ursache Leben zurück, dem aber doch auch an meiner Erhaltung gewesen sein: denn durch Ungeschick- seltsame Ereignisse, wenigstens mit lichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt, und nur einem dämonischen Schein beklei- durch vielfache Bemühungen brachte man es dahin, daß ich det, bevorstanden. das Licht erblickte. (Goethe, Aus meinem Leben, Dich- Goethes Vater, Johann (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit 51) tung und Wahrheit 50) Caspar Goethe (1710 -1782).

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Helsingfors, dem späteren Helsinki, wirkte, weist in seiner bio- graphischen Schrift die ganze Bandbreite paranormaler Aspekte auf, die in Goethes Leben und Werk zum Ausdruck kommt (s.a. Streika 1980 und Gahr 2001). In die vorliegende Antho- logie wurden neben dem berühm- ten „Drusenheimer Gesicht“ (Kap. III.14) noch weitere para- normale Beispiele aus Goethes Leben eingeflochten, wie u. a. die Erscheinung des Doppelgän- gers eines Freundes (Kap. III.13) und der Spuk in seinem Garten Goethes Horoskop Der „Stein des guten Glücks“ im Gar- (Kap. III.17). ten von Goethes Gartenhaus in Weimar. Foto: Toma Babovic. Und auch in seinem Gedicht Daimon, Dämon sieht er das Goethe sah die Welt und das Leben der Menschen von Gei- irdische Menschleben in weitgeknüpftem Zusammenhang: stern durchdrungen, wie er im Egmont bekennt: Wie an dem Tag, der Dich der Welt verliehen, Ich sehe Geister vor mir die still und sinnend auf schwarzen Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Schalen das Geschick der Fürsten und vieler tausende wägen. Bist alsobald und fort und fort gediehen, 53 Nach dem Gesetz wonach Du angetreten. (Goethe, Egmont ) So mußt Du sein, Dir kannst Du nicht entfliehen, Und er schließt seinen Lebensbericht mit den Worten Eg- So sagten schon Sibyllen, so Propheten; monts: Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form die lebend sich entwickelt. 52 Kind, Kind, nicht weiter! Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schick- Kurz gesagt, paranormalen „Stoff“, biographischen wie poe- sals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts, als mutig tischen, finden wir bei Goethe zur Genüge, und Seilings muti- gefaßt, die Zügel festzuhalten, und bald rechts, bald links, gem Buch Goethe als Okkultist (1919), das später unter dem vom Steine hier, vom Sturze da die Räder abzulenken. Wohin nicht weniger umstrittenen Titel Goethe als Esoteriker (1988) es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er erschien, könnten und müßten noch viele weitere Bücher an die kam. Seite gestellt werden. Max Seiling (1852 – 1928), ein klardenken- (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit; fast der Geist, der als Professor für mechanische Technologie in wortgetreu auch in: Egmont 54)

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Der Tod hatte für Goethe eine durchaus erstrebenswerte Töne und feine Melodien aus den Eigenschaft – zumindest in dem Augenblick, als er seiner gelieb- Wänden erklingen. Auch das grund- ten Charlotte von Stein verkündet: lose Erlöschen von Kerzen wurde Ich sehne mich recht von hier weg, die Geister der alten als Vorzeichen von Goethes Tod Zeiten lassen mir hier keine frohe Stunde, ich habe keinen gedeutet (Rosenberger 1952, S. 43f.). Berg besteigen mögen, die unangenehmen Erinnerungen hal- Von Goethes Kindern, die aus ten alles befleckt. Wie gut ists daß der Mensch sterbe um nur der Verbindung mit Christiane die Eindrücke auszulöschen und gebadet wiederzukommen. Vulpius (1.6.1765–6.6.1816) her- vorgingen, mit der er seit 1788 55 (Goethe, Briefe ) zusammenlebte und seit 1806 auch ehelich verbunden war, überlebte Der Dichterfürst verstarb am 22.3.1832 in seiner Wahlheimat, nur August (25.12.1789–27.10.1830 der Stadt der Klassik. s. Kap. III.11), und auch ihn mußte Johann Wolfgang von Goethe: Frau Christiane, geb. Vulpius sein Vater überleben. (1765- 1816), um 1788/89. So stand es denn im Buche des Schicksals auf meinem Blatte geschrieben [...] Goethes Worte am Eingang der Kapitel und Abschnitte in (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit 56) diesem Buch, die teils im alltäglichen, teils im poetischen Sinne wahr sind, mögen einen Eindruck davon vermitteln, in welchem Mehrere von Goethes Freunden bezeugten, daß der 22. März Umfang und in welcher Intensität die Geisterthematik für sein dem Dichter und Denker als ein besonders einflußreicher Tag Leben und Werk bedeutsam war. erschien, und „er glaubte, daß der übrige Teil des Jahres sich glücklich für ihn gestalten werde, sobald dieser Tag gut vor- Goethes Haus am Frauenplan in Weimar. übergegangen war“ (Rosenberger 1952, S. 43; vgl. Bode 1909, Bd. IV, S. 202f.). Seinem Tod sind nach Rothe, dem Hauslehrer von Goethes Enkeln, mehrere Zeichen vorausgegangen; so hörte man vor Goethes Haus am Frauenplan unerklärliche Geräusche wie das Spalten und Sägen von Holz oder als ob Holzscheite eine Treppe hinunterkullerten, ferner Klopftöne unter der Remise von Goethes Arbeitszimmer. Die Geräusche verstummten allerdings, sobald jemand nachschauen ging, und fingen sofort wieder an, wenn sich der Betreffende entfernte. Frau von Pogwisch, die Mutter seiner Schwiegertochter Ottilie, ver- nahm eine geisterhafte Musik aus einer Wand in der Nähe Goe- thes, und schließlich hörten auch andere Hausbewohner leise

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In seiner wichtigsten Schrift, Aufschlüsse zur Magie [...], I.14 drückt er in dem Kapitel „Vorhersehungen, Vorhersagungen ECKARTSHAUSEN (1752–1803) [...]“ Gedanken aus (1792, S. 123–132), die hier sein Werk cha- rakterisieren mögen. Georg Conrad Horst faßt diese zusammen:  Zeit und Raum sind die Attributen der Körperwelt: der Gei- Die einen faßt des Lebens holder Lauf, sterwelt ist alles Mögliche immer gegenwärtig [...]. Die andern sucht der kühne Magier auf; Je allgemeinere und größere Uebersicht der Dinge ein Mensch In reicher Spende läßt er, voll Vertrauen, sonach hat, desto mehr weiß er von der Zukunft etc. [...]. Was jeder wünscht, das Wunderwürdige schauen. Je vollkommener deshalb ein Mensch wird, desto mehr erhebt er sich zur Gottheit, und desto tiefer kann er in die Zukunft (Goethe, Faust II, 1. Akt, Kaiserliche Pfalz, Rittersaal, eindringen etc. etc. [...]. 6435ff., Faust) Es gibt Menschen, die in dem Auge eines Andern die Annä- herung des Todes einer Person vorhersagen. Dieß ist nicht  Einbildung, es ist anatomische Kenntniß – [...]. Der Trieb zur Aehnlichwerdung, zur steigenden Vervoll- Franz Karl von Eckartshausen wurde kommnung liegt in der Natur des Menschen. Je mehr sich am 28.6.1752 in Schloß Haimhausen daher der Mensch – der Gottheit assimilirt, desto höher bei München als Sohn des Grafen von werden seine Einsichten, desto tiefer kann er in die Zukunft Haimhausen geboren. Er studierte in dringen etc. [...]. München und Ingolstadt Philosophie, Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit! Mathematik und Jura und begann 1774 eine Gerichtspraxis als Richter in (Horst 1830, Bd. 2, S. 58f.) München, wo er zwei Jahre später auch Hofrat und 1799 geheimer Archivar Das erinnert nach Horst an die Neuplatoniker und deren Karl Theodors (dem Kurfürsten von Assimilationstheorie sowie an die christliche Gnostik; dem läßt Bayern) wurde. Eckartshausen war sich noch hinzufügen, daß es sich auch mit der Philosophie tra- nicht nur Mitglied der Bayerischen ditioneller westlicher wie östlicher Meditationslehren bestens Akademie der Wissenschaften, sondern vereinbaren läßt. Karl von Eckartshausen Karl von Eckartshausen, der Lehrer des katholischen Philo- auch des Illuminatenordens der Frei- (1752 -1803). maurer und beschäftigte sich mit alche- sophen und Theologen Franz Xaver von Baader (27. 3.1765 – mistischen, mystischen und physikalischen Themen sowie mit 23. 5.1841) und Freund Jung-Stillings (s. o.), des Münchener paranormalen Phänomenen. Somnambulismus, Magnetismus Schriftstellers Graf Joseph August von Törring (1.12.1753 – und Zauberei waren die vorrangigen Stichwörter seines Inter- 9.4.1826) und auch des Schriftstellers und Theaterintendanten esses. Josef Marius von Babo (14.1. 1756 – 5. 2.1822), beeinflußte mit

132 133 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte seinen Schriften die Dichter und Philosophen Novalis (s.u.), Carl Philipp Moritz, am 15.9.1756 in Hameln geboren, hält Friedrich von Schelling (27.1.1775– 20.8.1854) und Friedrich seine Jugendjahre in seinem Roman Anton Reiser (4 Teile, 1785, Hölderlin (20. 3.1770 – 7. 6. 1843). 1786, 1787, 1790), einem „psychologischen Roman“, fest. Die Verhältnisse, denen er entstammte, waren einfach und die äuße- Karl von Eckartshausen verstarb am 13.5.1803 in München. ren Umstände alles andere als rosig. Die ihm zugedachte Hutmacherlehre in Braunschweig trieb ihn an den Rand der Ver- zweiflung und geradewegs in den – mißglückten – Selbstmord. Daraufhin holten ihn seine Eltern nach Hannover und versuchten es mit einem Dorfschullehrersemi- nar, in dem er sich ausgesprochen gut bewährte. Dank der Unter- stützung einiger wohlhabender Personen in seinem Umfeld konn- te er schließlich das Gymnasium Friedrich von Schelling (1775 - Franz Karl Hiemer (1768- 1822): besuchen und sich auf das Studi- 1854), nach einem Gemälde im Friedrich Hölderlin (1770 -1843), Anonymer Kupferstich: Carl Besitz der Familie. 1792. Philipp Moritz (1756- 1793). um der Theologie vorbereiten. Zu der mystischen Literatur, mit der er bereits als Kind vertraut gemacht worden war, kam nun die ganze Fülle der Literatur auf ihn zu, und Goethes Werther zog I.15 ihn so an, daß er am liebsten gleich nach Weimar gezogen wäre. MORITZ (1756–1793) Er entwickelte nebenbei eine Leidenschaft für die Schauspie- lerei, die ihn zwang, sein Theologiestudium vorerst an den  Nagel zu hängen, da es ihm als Theologiestudenten verboten war, mit seiner Theatergruppe aufzutreten. 1777 griff Moritz in Der Conflict des Individuums mit der unmittelba- Wittenberg dann erneut das Theologiestudium auf, hoffte 1778 ren Erfahrung und der mittelbaren Überlieferung, ist vergeblich, als der Krieg ausbrach, Feldprediger werden zu kön- eigentlich die Geschichte der Wissenschaften. nen, und kam schließlich nach Berlin in den Schuldienst, wo er (Goethe, Maximen und Reflexionen 57) 1780 am „Grauen Kloster“ Konrektor des Gymnasiums und 1784 Professor wurde. In Berlin begann auch seine schriftstelle-  rische Laufbahn. Als erstes veröffentlichte er Kleine Schriften, die deutsche Sprache betreffend (1781–1783), dann erschienen

134 135 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte seine Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre (1782), und es folgten die gleich dreimal aufgelegten Beiträge zur Philosophie des Lebens (1781ff.). I.16 In die Reihe der Autoren zur Thematik geisterhafter Erleb- SCHILLER (1759–1805) nisse gehört Moritz aber vor allem durch das von ihm heraus- gegebene zehnbändige Magazin zur Erfahrungsseelenkunde  (1783 –1793), das er ein „Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte“ nannte und in dem auch parapsychische Phänomene berücksich- So waltete bei meiner Bekanntschaft mit Schillern durch- tigt werden. Moritz hatte selbst ein außerkörperliches Erlebnis, aus etwas Dämonisches ob; wir konnten früher, wir konn- das er in seinem Buch Fragmente aus dem Tagebuche eines Gei- ten später zusammengeführt werden; aber daß wir es grade stersehers (1787) beschreibt (s. Kap. IV) – ein Buch, das sich sei- in der Epoche wurden, wo ich die italienische Reise hinter nerzeit besonders in der Damenwelt großer Beliebtheit erfreute. mir hatte, und Schiller der philosophischen Spekulationen Wie Goethe zog es auch Moritz nach Italien, an den heiligen müde zu werden anfing, war von Bedeutung und für Beide Ort und in die „ewige Stadt“ Rom. Bei seiner Rückreise fuhr er von größtem Erfolg. nicht gleich durch nach Berlin, sondern machte zwei Monate (Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Station in Weimar (4.12.1788 –1.2.1789), wo er mit Goethe, Jahren seines Lebens 58) Schiller, Knebel, Charlotte von Stein, Charlotte von Kalb (25. 7.1761–12. 5.1843), Caroline Herder – Herder selbst weilte  in Italien – und den Lengefelds, d. h. den Schwestern Charlotte von Lengefeld (22.11.1766–9.7.1826), die später Schiller heira- Johann Christoph Friedrich von tete, und Caroline von Lengefeld (3. 2.1763 –11.1.1847), der Schiller wurde am 10.11.1759 in Mar- späteren Freifrau von Wolzogen, freundschaftlich verkehrte. bach geboren. Es ist hier nicht der Ort, Wie schon für Goethe, so sorgte Herzog Carl August auch für um in die Tiefen der Biographie eines Moritz und vermittelte ihm eine Stellung in Berlin: Moritz so vielbeschriebenen Dichters einzutau- wurde Professor der schönen Künste und der Altertumskunde chen, sondern vielmehr, um einige Hin- sowie Mitglied des Senats der Akademie der bildenden Künste. weise auf das Paranormale, das sich in Seine Vorlesungen vor dem Künstlernachwuchs galten als anre- seinem Leben und Werk entdecken läßt, gend und waren heiß begehrt. zu geben. So hatte Schiller selbst einmal Carl Philipp Moritz, inzwischen als Hofrat und Mitglied der ein denkwürdiges Erlebnis, als er sich Akademie der Wissenschaften zu höheren Ehren gekommen und Jakob Friedrich Weckher- vom Winter 1782/83 an für ein halbes lin: Friedrich von Schiller, seit August 1792 mit Friderike Matzdorf verheiratet, erkrankte um 1780. Jahr in ein einsames Waldtal auf das auf einer Reise nach Dresden und erlag diesem Lungenleiden am Gut Bauerbach, das der Frau von Wol- 26. 6.1793 in Berlin. zogen gehörte, zurückgezogen hatte. Caroline von Wolzogen berichtet:

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Mit dem Verwalter des Gutes spielte Schiller Schach, und ihm begegnet sei und äußert, es ahne ihm, daß entweder er machte oft Spaziergänge mit ihm. Auf einer dieser Wande- oder Schiller in diesem Jahr scheiden werde. 61 rungen durch die Wälder hatte er eine sonderbare Ahnung, die ihm immer merkwürdig blieb. Auf dem unwegsamen Bestätigt wird dieser Vorfall von Dr. Freudenberg, der mit Pfade durch den Tannenwald, zwischen wildem Gestein, aufwendigen Recherchen nachwies, daß Goethe zu diesem Zeit- ergriff ihn das Gefühl, daß hier ein Toter begraben liege. punkt – er war 55 – überhaupt keine Veranlassung hatte, an Nach wenigen Momenten fing der ihm folgende Verwalter die seinen eigenen Tod und schon gar nicht an den des zehn Jahre Erzählung von einer Mordtat an, die auf diesem Platze vor jüngeren Dichterfreundes zu denken (Seiling 1988, S. 18f.). Jahren an einem reisenden Fuhrmann verübt worden, dessen Leichnam hier eingescharrt sei.59

Aus Schillers Werken sei vorrangig Der Geisterseher (1787/ I.17 88) erwähnt, bei dem u.a. die schillernde Figur des italienischen HORST (1769–1832) Grafen, Geisterbeschwörers und Wunderheilers Alessandro Graf von Cagliostro alias Giuseppe Balsamo, der sein Leben im  Gefängnis beschließen mußte, Pate gestanden hat 60. Wenn Schiller, der Goethe an Körpergröße weit überragte, in In die Traum- und Zaubersphäre seiner Bedeutung im Schatten Goethes steht, so liegt das sicher Sind wir, scheint es, eingegangen. zu einem wesentlichen Teil an der Kürze seines Lebens, die ihn (Goethe, Faust I, Walpurgisnacht, 3871f., Faust, von weiterem Schaffen und Schreiben abhielt. Schiller verstarb Mephistopheles, Irrlicht [im Wechselgesang]) am 9. 5.1805 in Weimar. Mit seinem Tod ist ein paranormaler Lapsus verknüpft, der Goethe entschlüpfte. Aus einem Bericht  vom 12. 8.1806 von dem Schriftsteller Heinrich Voß (20. 2.1751– 29. 3. 1826) an Christian Niemeyer wissen wir: Der evangelische Pfarrer Georg Conrad Horst wurde 1769 Am Morgen des letzten Neujahrstages, den Schiller erlebte, in Lindheim in der Wetterau geboren. Er studierte Theologie, schreibt Goethe ihm ein Gratulationsbillet. Als er es aber erlangte den Doktorgrad und wurde hessisch-darmstädtischer durchliest, findet er, daß er darin geschrieben hatte: ‚Der Kirchenrat und Großherzoglich-Hessischer geistlicher Geheim- letzte Neujahrstag‘ statt ‚erneute‘ oder ‚wiedergekehrte‘ oder rat. dergleichen. Voll Schrecken zerreißt er es und beginnt ein Zusammen mit den Ärzten Johann Georg Jung-Stilling (s. o.) neues. Als er an die ominöse Stelle kommt, kann er sich und Justinus Kerner (s. u.) gehört Horst zu den wichtigsten wiederum nur mit Mühe zurückhalten, etwas vom ‚letzten‘ Autoren in der Geschichte der Erforschung der paranormalen Neujahrstage zu schreiben. So drängte ihn die Ahnung! Den- Phänomene. Vor allem ist seine sechsbändige Zauber-Bibliothek selben Tag besuchte er die Frau von Stein, erzählt ihr, was [...] von ganz unschätzbarem Wert, wurde sie doch vor dem

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Hintergrund nicht nur zeitgenössischer, sondern auch histo- in dem er auch detailliert auf die Beschreibung des Hexenturms rischer Berichte geschrieben und diskutiert geisterhafte wie in seiner Heimatstadt eingeht. „zauberhafte“ Phänomene der verschiedensten Art. Zum Thema Es ist immer wieder eine Überraschung, wenn man in Wer- „Geistererscheinungen“ schreibt er im ersten Band der Zauber- ken längst verflossener Jahrhunderte Worte entdeckt, die exakt Bibliothek: auch auf die gegenwärtige Situation zutreffen. In seinem von Quellenmaterial nur so spru- Und ich weiß deren, wie delnden Buch über das Zwei- ich hinzuzufügen wage, te Gesicht, der zweibändigen ziemlich viele und die zum Deuteroskopie (1830), spricht Theil auffallend genug er die verschiedenen Parteien lauten, unter anderem aus an, die sich in seiner Zeit den mündlichen Erzäh- gerade auf dem „pneumatolo- lungen meines verewigten gischen Kampfplatz“ tummeln Vaters, der in den drei- – die einen, die „leicht zu viel ßiger Jahren des verwi- glauben“, und die anderen, chenen Jahrhunderts zwei die „leicht zu viel zweifeln“, Jahre als jüdischer Missio- und schließlich die Wissen- när mit dem berühmten den, denen bekannt ist, „daß M. Wiedemann, einem hal- wir im Gebiet der Seelen= ben Swedenborg, auf Rei- und Geisterlehre bis jetzt sen gewesen ist, und von überall noch wenig oder nichts diesem mit vielem Vertrau- wissen“. Er sieht den Zweck en beehrt ward. Aus eige- seines Buches schon erfüllt, ner Erfahrung, dieß muß wenn er seinen Inhalt ihnen ich zugleich hinzu setzen, Georg Conrad Horst: „Zauber-Bibliothek allen „lebhaft vor die Augen“ [...]“, Bd. 1, 1821, Aus dem Inhalt. weiß ich durchaus nichts Titelblatt von Horsts „Deuteroskopie“, bringen könnte, und er ist 1830. aus dem Gespensterreich davon überzeugt, „daß wir zu berichten. wohlthun würden, wenn wir weniger kämpften, und dafür mehr (Horst 1821–1826, Bd. 1, 1821, S. 244) immer weiter und weiter forschten“ (Horst 1830, Bd. 1, S. Vf.).

Noch vor der Veröffentlichung dieser breitgefächerten Fall- Die zwei Bände von Horsts Deuteroskopie sind überaus reich sammlung schrieb Horst ein nicht weniger umfangreiches zwei- an Fallmaterial aus dem großen Gebiet des „anderen“ oder bändiges Werk mit dem Titel Dämonomagie, oder Geschichte „zweiten“ Sehens, und er kann damit so manchen Zweifel über des Glaubens an Zauberei und dämonische Wunder [...] (1818), die Realität dieser Phänomene beseitigen.

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Ich bin dabei in Zeiten, da man es bei Manchen mit einem fahrlosen Wörtchen verderben kann, so guthmüthig, meinen Lesern zuzutrauen, daß sie mich deshalb weder für gespen- I.18 sterglaubig, noch für aberglaubisch, noch überhaupt in pneu- NOVALIS (1772–1801) matologischen Schwärmereien für befangen halten werden. Einem Manne, der auf seinem philosophischen Standpunct  alle und jede transcendente Hypothesen zur Erklärung von Sachen, von denen man nun einmal ihrem inneren Wesen Hier ist die Aussicht frey, nach nichts wissen kann, zurückweis’t, und der mit innerer Der Geist erhoben. Ueberzeugung bekennt, daß man davon nichts wissen könne (Goethe, Faust II, 5. Akt, Bergschluchten, 11989f., Doctor Marianus) – einem solchen Manne vermag man ohne Ungerechtigkeit dergleichen Vorwürfe wirklich nicht zu machen, und es muß  ihm erlaubt seyn über das Faktische und Historische der Gegenstände, wovon er handelt, nach seiner freien besten Wenn einer der deutschen Dichter Zutritt zu höheren Sphä- Ansicht und Ueberzeugung zu urtheilen. Aber fast thut es in ren hatte, so war es sicher der Dichter der blauen Blume, der der Gegenwart wieder noth, auch das rein Factische und sich Novalis, d. h. einen „Neuland Rodenden“ nannte – „wel- Historische, das nicht zu vorgefaßten Ansichten paßt, aller cher Name ein alter Geschlechtsname von mir ist und nicht Erfahrung und allen Sinnorganen zum Trotz weg zu leug- ganz unpassend“ (Notiz vom 24.2.1798 63). Der scharfsinnige nen, um dem Verdacht des Geisterglaubens auszuweichen und Philosoph mit dem Taufnamen Georg Philipp Friedrich von fast ist die redliche Erklärung: Ich weiß dieß nicht! Ich ver- Hardenberg wurde im stehe jenes nicht! schon verfänglich. Schloß Oberwiederstedt, (Horst 1830, Bd. 1, S. 168) Kreis Hettstedt, am 2. 5.1772 geboren. Seine Georg Conrad Horst verstarb am 20. Januar 1832, rund zwei Philosophie und Dich- Monate vor Goethes Tod, doch 20 Jahre jünger als er 62. tung ist durchzogen von seinem „magischen Idealismus“, und das Wissen um eine Geister- welt klingt darin immer wieder an, wenn auch das Thema „Geister“ Schloß Oberwiederstedt, Geburtsort von Novalis. nirgendwo explizit im Vordergrund steht. Die kostbaren Blüten, mit denen Novalis das Geister-Thema bereichern kann – so etwa mit seinem

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Blüthenstaub (1797/98) –, kommen vor allem aus der Poesie, vollständig wie möglich den ursprünglichen Buchbestand umfas- aus seinem „inneren Reich“, nicht aus der konkreten Welt der sen soll, der Novalis einstmals zur Verfügung stand. Diese „äußeren“ Fallbeispiele (s. Novalis-Porträt im Farbteil). Bibliothek, die ich 1997 durchsah, bietet viele bekannte Werke Doch Novalis verband seine Poesie und Philosophie immer aus der Geschichte der Parapsychologie. auch mit ganz Handfestem und Praktischem, wie man aus sei- nem Werk und Leben leicht ablesen kann. So hat er z. B. die Hauptfigur seines phantasievollen, tiefgründigen und in vieler- lei Hinsicht traumhaften Romans Heinrich von Ofterdingen I.19 einer Person nachgedichtet, über die er in den Archivakten sei- GÖRRES (1776–1848) nes Onkels Angaben entdeckt hatte. Auch aus biographischer Sicht spricht seine berufliche höhere Position im Bergbau für  die Verbindung von Hochgeistigem mit ganz Irdischem. Der frühromantische Dichter, der So kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß keine 29 Jahre alt wurde, kam einmal die Dämonen, um die Menschheit zu necken und zum persönlich mit Goethe in Berührung, Besten zu haben, mitunter einzelne Figuren hinstellen, dessen Wilhelm Meister allerdings seine die so anlockend sind, daß jeder nach ihnen strebt, und so Kritik herausgefordert hatte, und zwar groß, daß niemand sie erreicht. begab er sich zusammen mit seinem Und während Goethe bei diesen Worten Raffael, Mozart Freund August Wilhelm von Schlegel und Napoleon im Sinn hat, schließt sein Gesprächspart- (8.9.1767–12.5.1845) am 29.3.1798 ner Eckermann aus ihnen: zu dem Altmeister der Klassik, um [...] bei mir selbst aber dachte ich im Stillen, daß auch mit anschließend den Abend bei Schiller Goethe die Dämonen so etwas möchten im Sinne haben, in Jena zu verbringen. indem auch er eine Figur sei, zu anlockend, um ihm nicht August Wilhelm Schlegel Novalis, der seinen Tod fast exakt nachzustreben, und zu groß, um ihn zu erreichen. (1767-1845). vorausberechnet hatte – er fiel bei- (Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten nahe auf den Tag genau mit dem vierjährigen Todestag seiner Jahren seines Lebens 65) so innig geliebten Verlobten Sophie von Kühn (17.3.1782 – 19. 3.1797) zusammen –, starb in Weißenfels am 25. 3.1801, im  Einklang mit seiner Hoffnung, durch seinen eigenen Tod der Menschheit eine Treue bis in den Tod vorzuführen (Notiz vom Der Publizist, Historiker und Philosoph, Anatom und Phy- 19. 5. 1797 64). siologe Joseph von Görres wurde am 25.1.1776 in Koblenz In seinem Geburtsschlößchen hat man jetzt eine zur Zeit geboren. Dem jungen Feuerkopf sei Kant (s. Kap. VIII.13) kein 4 000 Bücher umfassende Bibliothek eingerichtet („Novalis. Hindernis und Fichte (19.5.1762–29.1.1814) ein mächtiger Forschungsstätte Frühromantik“), die eines Tages auch so Anstoß gewesen, beschreibt der Görres-Herausgeber Joseph

144 145 1. Carl Joseph Stieler (1781- 1858): Johann Wolfgang von Goethe. 2. Johannes Heinrich Wilhelm von Tischbein (1751-1829): Goethe in der römischen Campagna, 1786/88.

3. Johann Wolfgang von Goethe (1749 -1832): Parklichtung, Juni 1787. 4b. Schottisches Spukschloß: Eilean Dunan, Highland. Hier soll vor allem der Geist eines Spaniers umgehen, der 1719 bei der Besetzung der Burg sein Leben verlor (vgl. Brooks 1995, S. 251).

4a. Spukhaus in England: White Horse in St. Neots, Cambridgeshire. Der Spuk betrifft u.a. den Geist einer jungen Dame, die im 18. Jh. in diesem 5. Mary Barker (28.6. 1895 -1973), London: Haus ihre Hochzeitsnacht – allein – verbringen mußte und sich daraufhin das The Hawthorn Fairy (Die Weißdornfee). Leben nahm. 6. Caspar David Friedrich (5. 9. 1774 - 7. 5. 1840): 7. Caspar David Friedrich (5. 9. 1774 - 7. 5. 1840): Riesengebirgslandschaft mit aufsteigendem Nebel, um 1819/20. Nebel im Elbtal, um 1821. Der Nebel verschleiert noch die Sicht auf eine höhere, paradiesische Welt. 8. Edith Weiss, Wien: Epochen formen sich. Kulturräume. 1998. Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte

Bernhart den ungewöhnlichen Denker, der Anliegen. Aus christlichem Blickwinkel zeigt Görres in seiner außerdem im Gefolge des französisch- Mystik die zwei großen Wege auf, die der Mensch in seinem schweizerischen Philosophen Jean-Jacques Leben begehen kann: den Weg der hohen Mystik, der ihn zu Rousseau (28.6.1712–2.7.1778) und des Gott aufsteigen läßt, oder den Weg der pervertierten Mystik, der französischen Mathematikers, Politikers und den Menschen in die dämonische Welt hinabführt. Philosophen Marquis de Antoine Condorcet Joseph von Görres starb am 29.1.1848 in München, wo er seit (17. 9. 1743 – 29. 3. 1794), vor allem aber auch 1827 als Professor für Geschichte lehrte. Für die Spätromantik des Theologen und Philosophen Johann und die katholische Publizistik wurde Görres wegweisend. Joseph von Görres Gottfried von Herder (25.8.1744– 18.12.1803) (1776- 1848). schreitet (Görres 1927, S. 11). Die Aufklä- rung provozierte ihn zu einer Spottschrift, die er gemeinsam mit Brentano (s.u.) verfaßte. Seit 1814 war Görres Herausgeber I.20 des berühmten Rheinischen Merkur. Für die historische Litera- BRENTANO (1778–1842) tur über die paranormalen Phänomene spielt jedoch seine vier- bändige, 3000 Seiten starke und nicht ohne weiteres verständli-  che Christliche Mystik (1836–1842) die wichtigste Rolle, enthält sie doch in Görres’ Augen eine „unwiderstehliche Masse von Man braucht nicht alles selbst gesehen noch erlebt zu Tatsachen“ über außergewöhnliche Phänomene wie Wunder, haben; willst du aber dem andern und seinen Darstel- Ekstasen und Besessenheit, über Dämonentreiben, Vampirismus lungen vertrauen, so denke, daß du es nun mit dreien und Hexenwesen. Die Frage nach den Rätseln des mystischen zu tun hast, mit dem Gegenstand und zwei Subjekten. Menschen war Görres, der auch stigmatisierte Frauen wie Anna (Goethe, Maximen und Reflexionen 66) Katharina Emmerich (s. Kap. V.2) aufgesucht hatte, ein tiefes 

Clemens Brentano wurde in Ehrenbreit- stein in der Nähe von Koblenz am 9.9. 1778 geboren. Väterlicherseits aus einer wohlhabenden mailändischen Kaufmanns- familie stammend, sollte er beruflich der Tradition der Familie folgen, was jedoch gänzlich mißglückte. Statt dessen führte Jean-Jacques Rousseau Friedrich Bury Immanuel Kant (1724- Brentanos Weg nach dem Tod seines Vaters (1712- 1778), (1763- 1823): 1804), Stich nach einem nach einem Gemälde Johann Gottlieb Gemälde von Gottlieb von de Latour. Fichte (1762- 1814). Doeppler, 1791. Clemens Brentano (1778- 1842).

146 147 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte im Jahr 1797 geradewegs nach Jena, in die Kreise der Romantiker, zu Friedrich von Schlegel (10.3.1772–12.1.1829) und Ludwig I.21 Tieck (31.5.1773– 28. 4.1853), und hier fing SCHUBERT (1780–1860) er sogleich mit der Schriftstellerei an. Die finanzielle Situation erlaubte es Brentano, nach  der Auflösung des Jenaer Kreises beliebig zu reisen und ganz seinen literarischen Interes- Friedrich v. Schlegel Wir mögen die Welt kennen lernen wie wir wollen, sen nachzugehen. 1808 entschied er sich für (1772-1829). sie wird immer eine Tag- und eine Nachtseite behalten. Heidelberg als neuen Wohnort, und hier kam (Goethe, Maximen und Reflexionen 67) er auch mit Achim von Arnim in Verbindung, mit dem zusammen er Des Knaben Wunder-  horn herausgab (3 Bde., 1805–1808) und der 1811 seine Schwester Bettine, eigentlich Elisa- Der Naturforscher und Philosoph Gotthilf Heinrich von beth Catharina (4. 4.1785– 20.1.1859), Schrift- Schubert wurde am 26.4.1780 in Hohenstein im Erzgebirge als stellerin, Dichterin und Frauenrechtlerin, Sohn eines Pastors geboren. Seine bemerkenswerten Charakter- heiratete. Später wurden auch Berlin, Prag züge kamen schon in jungen Jahren zum Ludwig Tieck und Wien die Orte seiner Wahl. (1773-1853). Ausdruck, als er nämlich als 17jähriger Abgesehen von seinem Schaffen als Dich- Schüler eines Gymnasiums in Weimar einen ter hat Brentano auch für die Parapsychologie einen Beitrag armen begabten Jungen namens Würzner, besonderer Art geleistet, und zwar begründet durch seinen Sohn eines Webers, bei sich aufnahm und Kontakt zu der stigmatisierten Augustinerin Anna Katharina mit ihm das wenige Geld, das ihm selbst Emmerich (s. Kap. V. 2), an deren Krankenbett er die letzten zur Verfügung stand, teilte. Von allen sechs Jahre ihres Lebens im westfälischen Dülmen verweilte großen Geistern in Weimar war Johann (1818–1824). Die Eindrücke aus dieser Zeit flossen in Brentanos Gottfried von Herder, der oberste Leiter dichterisches Schaffen ein, und so beschrieb er ihr Leben, ihre des Gymnasiums, Schubert am liebsten, Gotthilf Heinrich von Schubert (1780- 1860). Offenbarungen und Visionen, die er in einem 14bändigen Tage- und Herder wiederum erkannte die Grö- buch festgehalten hatte, in seinem Werk Das bittere Leiden unse- ße Schuberts, führte ihn in seinen Familienkreis ein und ließ res Herrn Jesu Christi. Nach den Betrachtungen der Gottseligen ihn am Privatunterricht teilnehmen, den er seinem Sohn Emil Anna Katharina Emmerich, Augustinerin des Klosters Agnetenberg erteilte. Der Kontakt mit Herder brachte Schubert auch mit zu Dülmen nebst dem Lebensumriß dieser Begnadigten (1833). dem Dichter Jean Paul bzw. Johann Paul Friedrich Richter (21. 3. 1763 –14. 11. 1825) zusammen. Clemens Brentano starb am 28. 7.1842 im Hause seines Bru- Schubert studierte zunächst Theologie und Medizin in ders Christian in Aschaffenburg. Leipzig und Jena und kam dabei mit Schelling und dessen

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Naturphilosophie in Berührung. Die Naturwissenschaften übten Schubert vertrat eine Natur- und Geschichtsphilosophie im überhaupt die größte Anziehungskraft auf Schubert aus, der Sinne von Friedrich von Schelling und Franz von Baader, die sich schon als Junge viel mit der Natur beschäftigt und eine von universalen Gesetzen eines harmonischen und organischen Sammlung von Steinen, Pflanzen und Vogelfüßen angelegt Weltganzen ausging. Auch die erst später von dem Berliner hatte. 1803 erlangte er den Doktorgrad in Medizin und prakti- Philosophen Eduard von Hartmann (23. 2.1843– 5. 6.1906) aus- zierte fortan mit Begeisterung, nahm jedoch aus Menschenliebe gesprochene und von Sigmund Freud (6. 5.1856 – 23. 9.1939) in von den finanziell schlechter gestellten Patienten kein Geld, die Psychologie eingeführte Idee des Unbewußten klingt hier weder für seine Behandlung noch für die Medizin. Dies sollte schon an. Schuberts Philosophie ging in die Romantik ein. sich wiederum auf andere Weise auszahlen, denn die darauf Gotthilf Heinrich von Schubert starb am 30. 6.1860 in folgende finanzielle Not zwang ihn dazu, sich schriftstellerisch Laufzorn. zu betätigen. Schuberts Interesse an den Naturwissenschaften führte ihn 1805 weiter an die Bergakademie in Freiberg, wo er die berühm- ten Vorlesungen Abraham Gottlob Werners (25. 9.1749 – 30. I.22 6.1817) über Geognosie und Mineralogie hörte. Im Anschluß ARNIM (1781–1831) daran ging er zwecks weiterer Studien nach Dresden und wurde hier beauftragt, öffentliche Vorlesungen für die höheren Stände  abzuhalten, die in ihrer Thematik genau dem Zeitgeschmack entsprachen und den tierischen Magnetismus, Hellsehen, Wer sich mit Wissenschaften abgibt, leidet erst durch Träume und vieles andere betrafen. In diesem Zusammenhang Retardationen, und dann durch Präoccupationen. Die entstand sein Werk Ansichten von der Nachtseite der Naturwis- erste Zeit wollen die Menschen dem keinen Wert zuge- senschaften (1808), das gleich mehrfach aufgelegt wurde. Es ist stehen, was wir ihnen überliefern; und dann gebärden bis heute ein Klassiker in der historischen Literatur über das sie sich, als wenn ihnen alles schon bekannt wäre, was Paranormale. Es folgte seine ebenfalls in diesem Zusammenhang wir ihnen überliefern könnten. bedeutende Schrift Symbolik des Traumes (1814), deren dritte (Goethe, Maximen und Reflexionen 68) Auflage Berichte eines Geistersehers über den Zustand der Seele nach dem Tod enthält.  1819 wurde Schubert Professor für Allgemeine Naturge- schichte in Erlangen, 1827 in München; letztere Stellung ermög- Der Dichter, Publizist und Naturwissenschaftler Achim von lichte ihm eine einjährige Orientreise (September 1836 –1837) Arnim, eigentlich Ludwig Joachim von Arnim, wurde am in Begleitung seiner Frau Henriette, geborene Martin, auf der 26.1.1781 in Berlin als Sohn eines preußischen Gesandten geboren. er die Reise des Volkes Israel unter Moses in das Gelobte Land Da er seine Mutter bei seiner Geburt verloren hatte, wurde nachvollzog. Seine Lehrtätigkeit endete 1853, in welchem Jahr seine Erziehung von seiner Großmutter Caroline von Labes er auch den Titel Geheimrat erhielt.

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übernommen. Schon in seiner Studien- in einer Rezension von Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde, zeit kam er mit Goethe, mit dem er sich in der er dessen Bemühen, „dieses gefürchtete Reich mit dem aber 1811 zerstritt, und Clemens Bren- übrigen Menschenleben würdig zu verknüpfen“, lobend hervor- tano, mit dem sich eine innige Freund- hebt (Arnim 1992, S. 541; s. Kap. II. 7 und X. 2). schaft entspann und dessen Schwester Achim von Arnim, dessen Nachlaß sich im Weimarer Schloß Bettine (s. Kap. I.20) er 1811 heiratete, befindet, starb am 21.1.1831 auf seinem Landsitz im südlich von in Kontakt. Berlin gelegenen Wiepersdorf, wo er sich seit 1814 mit seiner Der Romantiker, der von Hause aus großen Familie – sie hatten sieben Kinder – zeitweise aufhielt. Rechtswissenschaftler und Mathemati- Heute hat man in Wiepersdorf ein Museum und Künstlerzen- Achim von Arnim ker war, bildete zusammen mit Joseph trum eingerichtet. (1781-1831). Görres (s.o.) in Heidelberg das Zen- trum der jüngeren Romantik. Arnim, der mit Brentano die berühmte Volks- I.23 liedsammlung Des Knaben Wunderhorn KERNER (1786–1862) (s.o. Kap. I.20), an der auch die Brüder Eichendorff mitwirkten (s. Kap. VI.6),  herausgab, hat in seinem Werk immer wieder paranormale Phänomene ange- Leider besteht der ganze Hintergrund der Geschichte sprochen. Seine Schriften daraufhin im der Wissenschaften bis auf den heutigen Tag aus lauter Detail zu untersuchen, wäre sicherlich solchen beweglichen in einander fließenden und sich doch Bettine von Arnim lohnenswert. Hier sei zunächst auf einen nicht vereinigenden Gespenstern, die den Blick dergestalt (4.4.1785 - 20.1.1859). Titel in der Novellensammlung von verwirren, daß man die hervortretenden, wahrhaft wür- 1812 hingewiesen, Melück Maria Blain- digen Gestalten kaum recht scharf ins Auge fassen kann. ville, die Hausprophetin aus Arabien. (Goethe, Maximen und Reflexionen 69) Eine Anekdote, hinter dem sich die  Erzählung von einer arabischen Zaube- rin verbirgt, die neben Voraussagen der Seiner Persönlichkeit nach ist Kerner, wohl Zukunft vor allem ihre magischen Kün- allen Erwartungen, die man sich von dem ste anhand einer Puppe demonstriert, ‚Geisterseher‘ macht, zuwider, ein großer, die zum Symbol ihrer Macht über Men- starker Mann, der derb und sicher einher- schenleben wird (Arnim 1990, Bd. 3). schreitet, menschenfreundlich und doch zei- Arnim hat sich aber auch konkret und gend, daß ihm das Treiben der Menschen Moritz von Schwind: Des Knaben Wunderhorn, um ganz ohne dichterische Freiheit über 1848. Geistererscheinungen geäußert, nämlich Justinus Kerner (1786- 1862).

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gleichgültig ist, eine Erscheinung, die den Eindruck eines wei- Verwandten Uhland sowie mit dem Stuttgarter Schriftsteller sen Mannes macht. Der etwas fett gewordene Kopf hat zarte Gustav Schwab (19. 6.1792 – 4.11. 1850), mit denen er die schwä- und geistreiche Grundlinien, die Hand ist fein und zierlich und bische Dichterschule begründete. seine braunen Augen sehen ganz danach aus, zwar nicht Nach Abschluß seiner Studien lebte er länger u. a. in Wien Geister zu sehen, wohl aber in stillem Sinnen sich unter den und Berlin und sammelte hier verschiedene Erfahrungen, die Bildern einer Geisterwelt zu verlieren. Er spricht gewöhnlich in sein dichterisches Hauptwerk, Reiseschatten von dem Schat- wenig, ergreift ihn aber einmal die Laune, so ist er, besonders tenspieler Lux (1811), einflossen. In Kerners Dichtung klingt in der humoristischen Erzählung, unübertrefflich. Schmerz als der Grundton der Natur an: (Kerner o.J., S. 9) Die wehmütige Sehnsucht seiner Lieder schwankt zwischen Himmel und Erde; sie weiß nicht recht zu sagen, was sie ver- Mit diesen Worten wird in einer loren und was sie suche, und doch fühlt sie, daß ihr etwas alten Biographie der Dichter und Arzt fehlt, dessen Bild ihr in den Blüthen der Erde und in den Andreas Justinus Christian Kerner vor- Sternen des Himmels vorgespiegelt wird. gestellt, eine der großen Persönlich- (Kerner o.J., S. 8). keiten, wenn nicht die Schlüsselfigur überhaupt im Rahmen der Geschich- Später machte sich Kerner auch einen Namen als Arzt, arbei- te der Erforschung der paranormalen tete zuerst als Badearzt in Wildbad und wurde anschließend Phänomene. Oberarzt in Weinsberg. Er betreute u.a. den kranken Hölderlin. Am 18. 9.1786 wurde Kerner in Sein am meisten ins Detail gehender Ludwigsburg geboren, mütterlicher- und umfangreichster Bericht paranorma- seits mit dem Theologen, Schriftstel- ler Phänomene liegt mit seinem zweitei- ler und Märchendichter (Mährchen- ligen Meisterwerk Die Seherin von Pre- Almanach, 3 Bde. 1826 – 28) Wilhelm vorst (1829) vor, das neben bedeutenden Hauff (29.11. 1802 –18. 11. 1827) und Wilhelm Hauff (1802 -1827). Werken wie der Geschichte des Mädchens von Orlach (1834), Eine Erscheinung aus dem Nachtgebiete der Natur (1836) und väterlicherseits um einige Ecken mit vor allem auch neben den 12 Bänden der dem Schriftsteller Ludwig Uhland (26. Blätter aus Prevorst (1831 –1839) sowie 4.1787 –13.11.1862) verwandt. Schon seinem fünfbändigem Magikon (1840 – in jungen Jahren entwickelte er seine 1853) steht. Liebe zur Poesie. Während seiner Kerner hatte selbst schon als Junge im Studienzeit in Tübingen kam er dann Alter von neun Jahren ein außerkörper- auch in näheren Kontakt mit seinem Friederike Hauffe Ludwig Uhland (1787-1862). (1801- 1829). liches Erlebnis.

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Marie Niethammer, seine Tochter, schreibt über ihren Vater: führt, kann von paranormalen Phäno- menen begleitet sein. Vier Schriften [...] sehr im Irrthum sind diejenigen, die glauben mein Vater sind vor allem für diesen Zusammen- habe seine Forschungen auf diesem Gebiete phantastisch betrie- hang relevant: Der Aufsatz „Anima- ben und sich und Andere gesteigert. Es sind reine Thatsachen, die lischer Magnetismus und Magie“ in er niederschrieb, die mit klaren Blicken beobachtet wurden, nicht dem Werk Über den Willen in der nur von ihm, sondern von Männern jedes Standes und Alters. Natur (1836) und die drei Aufsätze (Niethammer 1877, S. 187) in Parerga und Paralipomena (1851), nämlich „Zur Lehre von der Unzerstör- Am 21.2. 1862 starb Justinus Kerner an dem Ort, an dem er barkeit unseres wahren Wesens durch seit über 40 Jahren, seit 1819, als Oberamtsarzt tätig war, in den Tod“, „Transzendentale Speku- Weinsberg. lation über die anscheinende Absicht- Julius Lincke-Schulz: Arthur lichkeit im Schicksal des Einzelnen“ Schopenhauer (1788-1860). und der „Versuch über Geistersehn I.24 und was damit zusammenhängt“. SCHOPENHAUER (1788–1860) Letztere Abhandlung beginnt mit den Worten: Die in dem superklugen, verflossenen Jahrhundert, allen  früheren zum Trotz, überall, wenn auch nicht gebannten, doch geächteten Gespenster sind, wie schon vorher die Magie, Man kann in den Naturwissenschaften über manche während dieser letzten 25 Jahre, in Deutschland rehabilitiert Probleme nicht gehörig sprechen, wenn man die Meta- worden. Vielleicht nicht mit Unrecht. [...] Denn eigentlich physik nicht zu Hülfe ruft; aber nicht jene Schul- und liegt schon im Begriff eines Geistes, daß seine Gegenwart uns Wort-Weisheit; es ist dasjenige was vor mit und nach auf ganz anderm Wege kund wird. der Physik war, ist und sein wird. (Schopenhauer 1851, S. 215) (Goethe, Maximen und Reflexionen 70) Nach Schopenhauer sehen wir Geister mit anderen Augen, es  ist ein anderes Sehen, ähnlich dem Sehen von Bildern im Traume, die uns das allwissende „Traumorgan“, wie er es nennt, vorführt. Dem deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer (22. 2. Ist dieses Organ im Wachzustand aktiv, was gelegentlich vor- 1788 – 21. 9. 1860) haben wir mehrere Stellungnahmen zu para- kommen kann, dann können wir Dinge auf außersinnliche Weise normalen Phänomenen zu verdanken. Derartige Erlebnisse wahrnehmen. Auch das Einwirken Verstorbener auf unser hiesi- waren in seinen Augen die Bestätigung seiner Theorie, die den ges Leben ist im Rahmen von Schopenhauers Philosophie des „Willen“ oder Lebenstrieb als letzten Grund aller Erscheinungen Willens, der als Lebensprinzip dem Tod übergeordnet ist, mög- annimmt. Das Erfahren dieses Willens, das zur Welterkenntnis lich. Den Spiritismus lehnt Schopenhauer jedoch ab. 156 157 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte

Es gibt verschiedene paranormale Erlebnisse im Leben Die große deutsche Dichterin aus Schopenhauers, von denen vor allem die Tintenfleck-Geschich- dem Münsterland, Anna Elisabeth, te immer wieder erzählt wird. Als er nämlich einmal Tinte genannt Annette, Freiin von Droste- vergoß, da berichtete ihm die zu Hilfe gerufene Magd, sie hätte Hülshoff, Tochter der Therese geb. in der vergangenen Nacht geträumt, genau an derselben Stelle von Haxthausen und des Clemens Tinte aufgewischt zu haben. Ein andermal war Schopenhauer August Freiherrn von Droste-Hüls- selbst der außersinnlich Wahrnehmende: Er erriet zwei von drei hoff, wurde am 10. Januar 1797 auf Losnummern, nach denen ihn seine Wirtin in Mailand gefragt dem Gut Hülshoff, dem nicht weit hatte, die dritte Nummer jedoch nicht mehr, wohl weil er über von Münster entfernten Stammsitz die ersten beiden Treffer stutzig geworden war (Schopenhauer ihrer Familie, geboren. Durch schwe- 1961, S. 131). re Krankheit im Alter von 18 Jahren lebenslang geprägt, liegt eine Melan- cholie über dem Leben der ungewöhn- Annette von Droste-Hülshoff, 1838. lich gebildeten, in Mathematik wie in I.25 alten Sprachen bewanderten und ganz besonders auch musika- DROSTE-HÜLSHOFF (1797–1848) lisch begabten Poetin, die sich so sehr mit der Natur verbunden fühlte, daß sie oft stundenlang und sogar tagelang in den stillen  Wäldern Westfalens umherstreifte. Sie liebte und bevorzugte die Einsamkeit, doch sie pflegte ebenso Kontakte zu anderen Ein wundersamer Zustand bei hehrem Mondenschein Schriftstellern, so etwa seit 1813 zum Bökendorfer Kreis (hes- brachte mir das Lied: sische Romantik), dem auch die Brüder Grimm angehörten, zu Um Mitternacht, welches mir desto lieber und werter ist, da August Wilhelm von Schlegel (5.9.1767–12. 5.1845), Levin ich nicht sagen könnte, woher es kam und wohin es wollte. Schücking (6.9.1814 – 31. 8. 1883), Ludwig Uhland und Gustav (Goethe, Annalen 71) Schwab (s. Kap. I.23) sowie zu Schrifstelle- Bis dann zuletzt des vollen Mondes Helle rinnen wie der Freifrau So klar und deutlich mir ins Finstere drang, Elise von Hohenhausen Auch der Gedanke willig, sinnig, schnelle (4.11.1789 – 2.12.1857) Sich ums Vergangene wie ums Künftige schlang; und deren Tochter, Um Mitternacht. Freifrau Elise von Rü- (Goethe, letzte Strophe aus dem Gedicht „Um Mitternacht“72) diger (7.3.1812 – 31.1. 1899), die u. a. etwas  Gustav (Benjamin) Levin Schücking „Aus Goethes Herzens- Schwab (1792- 1850). (1814 -1883). leben“ veröffentlichte

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(1884), zu Johanna Schopenhauer (9.7.1766 –17. 4.1838), der Es sind nun mehrere Fälle ausdrücklich bezeugt, daß Annette Mutter Arthur Schopenhauers, die in Weimar einen literarischen zur Abkürzung des Weges einfach über das Wasser zu der Salon führte, und besonders zu deren Tochter Adele (12.6. Insel ging und auch wirklich heil und trocken überkam. 1797 – 25. 8.1849), die nach dem Tod ihrer Mutter deren Werke (Droste zu Hülshoff 1927) herausgab und sich auch selbst mit Büchern wie den Haus-, Wald- und Feldmärchen (1844) hervortat. Diese Besonderheit scheint in ihrem Gedicht „Brennende Liebe“ anzuklingen: „Wie der Westfale von Natur zu stillem, träumerischen Auch weiß ich eine Gestalt, Grübeln neigt, wie seine Phantasie eine ausgesprochene Vorlie- So leicht und kräftig zugleich, be für das Düstere, Geheimnisvolle, Mystische besitzt, so auch Die schreitet vor mir im Wald Annette“ (Riehmann in Droste-Hülshoff 1912, S. 6). Zu den Und gleitet über den Teich ... schönsten Kostproben ihres Schaffens in diesem geheimnisum- wobenen, geisterhaften Zwischenreich gehören die Balladen So manches paranormale Ereignis im Leben der Dichterin „Der Knabe im Moor“ (1841), „Vorgeschichte“ (s. Kap. II.2), wird jedoch für immer im Dunkel bleiben, auch die Ankün-di- „Das Fräulein von Rodenschild“ (s. Kap. III.14) und „Der gung, die sie in einem Brief an Elise Rüdiger in Münster vom 8. Schloßelf“ (s. Kap. VI.3) sowie ihr Gedicht „Meister Gerhard August 1840 macht: von Cöln. Ein Notturno“ (s. Kap. VI.1). Sie hatte wie viele Es hat hier in der vorigen Nacht gespuckt, so daß ich mich ihrer Familienmitglieder die Gabe des Zweiten Gesichts, was für wirklich erschreckt habe, ich erzähle ihnen das mündlich. sie eine große Belastung bedeutete (s. Kap. II.2), „und jene Ge- 73 stalten des Volksglaubens, die nach ihrem Tode noch bestimmt (Droste-Hülshoff 1985–1993ff. ) sind, sich selbst zur schrecklichen Qual, auf Erden umzugehen, Annette von Droste-Hülshoff, die allem mystischen Erleben treten des öfteren auch in ihren Werken auf“ (Riehmann in und Verdichten zum Trotz „zu den bedeutenden Realisten“ Droste-Hülshoff 1912, S. 6). Darüber hinaus war die Dichterin (Droste-Hülshoff 1982, S. XXXV) des 19. Jahrhunderts zählt, noch mit anderen paranormalen Fähigkeiten begabt, und man verstarb am 24. Mai 1848 in Meersburg am Bodensee, sanft, sagt ihr Bilokation, die gleichzeitige körperliche Anwesenheit doch nach jahrelangem Leiden. an zwei Orten, sowie psychokinetische Phänomene, wie etwa das Wassergehen, nach. Zu der Wasserburg Hülshoff gehörte nämlich ein Teich mit einer Insel, zu der eine kleine Holz- brücke führte; auf dem Weg zu dieser Insel, d. h. direkt auf dem Wasser, wurde sie wiederholt bei der Ausübung letzterer selte- nen Gabe beobachtet. Ihr Großneffe Heinrich Freiherr Droste zu Hülshoff berichtet:

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Ein weiterer Markstein in Heines Leben und Karriere ist der Abschied I.26 vom unterdrückten Deutschland zu- HEINE (1797–1856) gunsten des vom Revolutionsgeist erfaßten Frankreich, m. a. W. sein  Umzug nach Paris im Jahr 1831. Hier sollten nun zwei Drittel seines Am besten geschäh’ dir gesamten schrifstellerischen Werkes Du legtest dich nieder entstehen. Erholtest im Kühlen Heinrich Heine (1797-1856). Auch bei dem ironisierenden Spät- Ermüdete Glieder, romantiker, der seinen jüdischen Genössest der immer Glauben aufgab, um mit dem Eintritt in die evangelische Kir- Dich meidenden Ruh; che ein „Entréebillett zur europäischen Kultur“ zu gewinnen, Wir säuseln, wir rieseln, findet man Worte, die in den weiten Bereich des Paranormalen Wir flüstern dir zu. führen. So hat er sich z. B. in einem 70seitigen Werk über ein (Goethe, Faust II, 2. Akt, Walpurgisnacht, Thema geäußert, das in den Zusammenhang von Geisterer- Peneios umgeben von Gewässern und scheinungen gehört und einen faszinierenden Blick in die alte Nymphen, 7263ff., Nymphen zu Faust) germanische Kulturgeschichte und Erlebenswelt werfen läßt. Diese von Gedichten durchzogene und inspirierende Schrift  trägt den Titel „Elementargeister“ (s. a. Kap. II. 2 und VIII. 6). Heine schöpft hier aus vielfältigen Quellen ausgesprochen ori- Christian Johann Heinrich (bis zu seiner christlichen Taufe ginelles Material. Harry) Heine wurde am 13.12.1797 als Sohn eines jüdischen Heinrich Heine verstarb am 17.2.1856 in Paris. Tuchhändlers in Düsseldorf geboren. Die Pläne seiner Mutter, aus ihm einen Bankkaufmann zu machen, schlugen fehl. Anstelle dessen wandte sich Heine dem Jurastudium in Bonn, Göttingen und Berlin zu, das er dann 1825 mit der Promotion abschloß. Der Durchbruch als Dichter gelang Heine in Berlin, wo er in den literarischen Salons von Rahel Varnhagen (19. 5.1771– 7.3. 1833), Friederike Robert und Elise von Hohenhausen – letztere war bekannt für ihre „ästhetischen Teeabende“ – ein- und aus- ging. Elise von Hohenhausen (Kap. I. 25) war es auch, die Heine den „deutschen Byron“ nannte.

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des Lebens“, die ihm zunächst unvereinbar mit dem für sein Empfinden lebensfeindlichen christlichen Glauben schien, dann I.27 aber auch den Gedanken des von Gott geschaffenen höheren DAUMER (1800–1875) Menschen, der im Einklang mit dem Christentum stand. Daumers Dichtungen, unter denen sich auch Übertragungen  orientalischer Lyrik befanden, wurden z.T. von Johannes Brahms vertont. Nebelnd um Felsenhöh Daumer hat eine Zeitlang Kaspar Hauser, über den viele tau- Spür ich so eben, send Bücher geschrieben wurden, in seinem Haus beherbergt, Regend sich in der Näh, und er war während dieser Zeit auch sein Erzieher. Zwei Ein Geister-Leben. Bücher resultieren aus dieser Zeit, Enthüllungen über Kaspar Die Wölkchen werden klar, Hauser (1859) und Kaspar Hauser. Sein Wesen und seine Un- Ich seh bewegte Schaar schuld (1873). Kaspar Hauser, der als Findelkind 1828 in Seliger Knaben, Nürnberg auftauchte, behauptete, er sei am 30. 4.1812 in Ansbach Los von der Erde Druck, geboren und in einem dunklen Im Kreis gesellt, Raum aufgewachsen. Vielleicht Die sich erlaben war er ein Erbprinz von Baden, Am neuen Lenz und Schmuck dem man seine Erbschaft miß- Der obern Welt. gönnte. Kaspar Hauser wurden (Goethe, Faust II, 5. Akt, Bergschluchten, 11966ff., die Sehergabe und andere parapsy- Die jüngeren Engel) chische Fähigkeiten nachgesagt. Am 17.12.1833 starb er ebenso  rätselhaft, wie seine Herkunft war, durch eine Stichwunde. In Der Theologe, Philosoph und Dichter Rudolf Steiners Augen war Kas- Georg Friedrich Daumer, auch unter dem par Hausers Leben entscheidend Pseudonym Eusebius Emmeran bekannt, dafür, daß der Kontakt zwischen wurde am 5. 3. 1800 in Nürnberg geboren, der geistigen Welt und der Erde wo er später als Gymnasiallehrer tätig nicht unterbrochen wurde. war. Seine Einstellung zum Christentum Das zweibändige Werk Das Gei- war einem philosophischen Wandel unter- sterreich in Glauben, Vorstellung, worfen und führte ihn letztendlich zur Sage und Wirklichkeit (1867) von

Georg Friedrich Daumer katholischen Kirche, zu der er 1858 kon- Daumer gehört zu den wichtig- Titelblatt von Daumers „Das (1800 -1875). vertierte. Er hatte die Idee einer „Religion sten historischen Fallsammlungen. Geisterreich [...]“, 1867.

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Viele spätere Sammlungen, wie etwa die Schriften von Maximi- der Experimentalpsychologie bezeichnet lian Perty (s.u.), greifen darauf zurück. (Thomson 1968, S. 61). Die 30er Jahre Georg Friedrich Daumer verstarb am 13.12.1875 in Würzburg. waren für Fechner eine brillante intellek- tuelle Blütezeit, während er sich in den 40er Jahren für drei Jahre vollständig zurückzog und wie ein Eremit in einem I.28 abgedunkelten Zimmer lebte. Beide Sei- FECHNER (1801–1887) ten, nüchterne, scharfe Intelligenz sowie tiefes, mystisches Erfassen, kennzeichnen  sein Wesen. Fechner verstarb am 18.11.1887 in Gustav Theodor Fechner Ich denke mir die Erde mit ihrem Dunstkreise Leipzig. (1801- 1887), im weisen Alter. gleichnisweise als ein großes lebendiges Wesen, das im ewigen Ein- und Aus-Atmen begriffen ist. Zu seinen wichtigsten wissenschaftlichen Werken gehören (Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten vor allem die Schriften Elemente der Psychophysik (2 Bde. 1860) Jahren seines Lebens 75) und Ueber die physikalische und philosophische Atomenlehre (2. Aufl. 1864). Von Natur aus ist Fechner aber mehr noch  Philosoph, überzeugt von der Idee, daß jegliche Formen von Materialismus schlecht seien und daher widerlegt werden müs- Gustav Theodor Fechner, auch sen. unter dem Pseudonym „Dr. Mises“ Von seinen sechs weltanschaulichen Schriften, wie etwa bekannt, wurde am 19. 4.1801 in Zend-Avesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits. Groß-Särchen bei Muskau geboren. Vom Standpunkt der Naturbetrachtung (1851) oder Ueber die Nach abgeschlossenem Medizinstu- Seelenfrage, ein Gang durch die sichtbare Welt, um die unsicht- dium studierte er in Leipzig noch bare zu finden (1861), sei für unseren Zusammenhang ganz Physik und Mathematik. Vor allem besonders Das Büchlein vom Leben nach dem Tode (1. Auflage als Physiker – er war Professor in 1836) herausgehoben. Hierin geht er von der Idee aus, daß Physik – und als Psychophysiker „die Geister der Verstorbenen als Individuen in den Lebenden wurde er bis über Deutschlands fortexistieren“ (Fechner 1866, S. 76), einer Idee, die Fechner Grenzen hinaus bekannt und ge- von einem in Leipzig und später in Halle lebenden befreunde- schätzt. Seine Lehre von der Erde Gustav Theodor Fechner ten Professor B. übernahm. Fechners Büchlein ist ein rein theo- als einem lebendigen Organismus (1801-1887), als Junge. retisches Werk und nicht mit Beispielen illustriert. Da Fechner (vgl. Lehner 2002) hören wir auch aus den oben zitierten Goethe- einen sehr ungewöhnlichen Standpunkt im Rahmen der Geister- Worten heraus. Fechner wird außerdem auch als Begründer diskussion einnimmt, soll dieser hier grob umrissen werden und

166 167 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte später dann in den einzelnen Kapiteln (bes. Kap. VII) in Form von Textausschnitten wiedergegeben werden. I.29 Seine Philosophie geht davon aus, daß der Mensch auf dieser MÖRIKE (1804 –1875) Erde nicht nur einmal lebt, sondern dreimal: Seine erste Lebensstufe ist ein steter Schlaf, die zweite eine  Abwechselung zwischen Schlaf und Wachen, die dritte ein ewiges Wachen. Verzeih, o Herr, das sind die Spuren Auf der ersten Stufe lebt der Mensch einsam im Dunkel; auf Verschollener geistiger Naturen der zweiten lebt er gesellig aber gesondert neben und zwi- (Goethe, Faust II, 4. Akt, Auf dem Vorgebirg, 10598f., Faust) schen Andern in einem Lichte, das ihm die Oberfläche abspiegelt; auf der dritten verflicht sich sein Leben mit dem  von andern Geistern zu einem höhern Leben in dem höch- sten Geiste, und schaut er in das Wesen der endlichen Dinge. Der Dichter und evangelische [...] Der Uebergang von der ersten zur zweiten Lebensstufe Geistliche Eduard Mörike wurde am heißt Geburt; der Uebergang von der zweiten zur dritten 8. September 1804 als siebentes von heißt Tod. dreizehn Kindern geboren, und zwar (Fechner 1866, S. 1f.) wie Justinus Kerner in Ludwigsburg. Sein Vater Dr. Karl Friedrich Mörike Nicht vergessen werden darf Fechners Buch Nanna, oder war Landvogtei- und Oberamtsarzt über das Seelenleben der Pflanzen (1846), in dem er feinsinnig und dessen Vater Hofmedikus in Lud- wie tiefgründig weit über die damals wie heute konventionellen wigsburg. Sein Großvater mütterlicher- herrschenden Denkschemata hinausgreift (vgl. Kap. III. 27). seits war Pfarrer in Beuren (Oberamt Nürtingen). Nach dem Tod seines Vaters (1817) ging Mörike zunächst Eduard Mörike (1804-1875). zu seinem Onkel, der eine geistliche Erziehung für ihn vorgesehen hatte, nach Stuttgart und besuch- te dort ein Gymnasium. Ein Jahr später wurde er in die Klo- sterschule in Aarach aufgenommen. 1822 begann er mit dem Studium an der Universität Tübingen, wo er unter anderem bei Professor Carl August Eschenmayer (4. 7.1768 –17.11.1852), dem Arzt, Psychologen und Philosophen, der auch wichtige Beiträge zur Parapsychologie geliefert hat (Eschenmayer 1830 und 1837), Vorlesungen besuchte. Im Herbst 1826 übernahm

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Mörike dann das Vikariat in Oberboihingen bei Nürtingen. Es Arbeit über unbekannte Käferarten. 1834 wurde er o. Professor folgten nun mehrere Stellungen als Pfarramtsverweser an den für Zoologie und vergleichende Anatomie an der Universität in verschiedensten Orten, bis er im Sommer 1834 die Pfarrei Bern. Ab 1840 wandte er sich neben anthropologischen und Cleversulzbach in der Nähe von Heilbronn übernehmen konn- ethnologischen Studien auch der Erforschung des Übersinnli- te. Das dortige Pfarrhaus, in dem einst auch Schillers Mutter, chen zu. Er eroberte sich innerhalb der Geschichte der Erfor- Elisabeth Dorothea Schiller, geb. Kodweis (1732 –1802), und schung und Dokumentation paranormaler Phänomene schließ- eine von Schillers Schwestern gelebt hatten, war ein schon seit lich einen festen Platz, doch sein Engagement für die Realität Generationen verrufenes Spukhaus; wir haben Mörike einen dieser Phänomene brachte ihm scharfe Kritik von seiten der detaillierten Bericht – er wird später vollständig angeführt (Kap. Naturwissenschaftler ein. In seinem Buch Die mystischen Er- VI. 2) – über die Vorfälle im Hause, die sich während seiner scheinungen der menschlichen Natur (1861) spricht er von der Zeit dort ereigneten, zu verdanken. Existenz sogenannter Planetengeister (Geodämonen, Heliodä- Mörike verstarb am 8.9. 1875 in Stuttgart. monen), während er in seinem Band Blicke in das verborgene Leben des Menschengeistes von 1869 wich- tiges Material aus der Geschichte der Para- psychologie zusammenstellt: Er schöpft viel I.30 aus der Literatur, etwa aus den Schriften von PERTY (1804 –1884) Horst und Daumer, bietet aber auch eigene Fallbeispiele aus dem Geisterbereich, d. h.  Berichte, die er aus erster Hand bekommen hat. Paranormale Phänomene gehören nach

Vor den Urphänomenen, wenn sie unseren Sinnen ent- Maximilian Perty Perty zu den Urphänomenen menschlichen hüllt erscheinen, fühlen wir eine Art Scheu, bis zur Angst. (1804- 1884). Lebens: Die sinnlichen Menschen retten sich bis in’s Erstaunen, Aber diese beiden [moralische Weltordnung und Religion] sind geschwind aber kommt der tätige Kuppler-Verstand und nach meiner Ansicht nur secundäre Erzeugnisse des Geistes will auf seine Weise das Edelste mit dem Gemeinsten ver- der Menschheit und die Ansichten und Begriffe hievon wech- mitteln. seln nach Zeit und Umständen. Viele religiöse Vorstellungen (Goethe, Maximen und Reflexionen 76) sind eben entstanden, nachdem die Menschen magische Dinge erfahren haben. Ich bin geneigt, auf dieselben als Realitäten  und Urphänomene ein sehr großes Gewicht zu legen, wenn es sich um die Fragen über Natur und Bestimmung des Joseph Anton Maximilian Perty, von einer ungarischen Fami- Menschen handelt. lie abstammend, wurde am 17.9.1804 in Ornbau bei Feucht- (Perty 1869, S. 145, Anm.) wangen in Franken geboren. Er erhielt 1826 den Doktortitel in Medizin und 1828 den Dr. phil. mit einer naturwissenschaftlichen Am 8. 8.1884 verstarb Maximilian Perty in Bern.

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Tatsachenbericht, der – ohne Poetisierung und ohne Perspektiv- I.31 kunst – eine merkwürdige oder unheimliche Geschichte so STORM (1817–1888) wahrheitsgetreu wie möglich vorträgt“, wobei Zeugen genannt werden, die sich für die buchstäbliche Wahrheit der Geschichte  verbürgen (Storm 1991, S. 212). Das Gespensterbuch versteht sich also als Sammlung „wahrer“ Spukgeschichten, die „inhalt- [...] ich erzählte sehr leicht und bequem alle Märchen, lich und volkskundlich interessante Zeugnisse“ sind, frei von Novellen, Gespenster- und Wundergeschichten, und wuß- allen literarischen Eitelkeiten. In diesem Sinne kann es – mit te manche Vorfälle des Lebens aus dem Stehgreife in den Worten des Herausgebers – tatsächlich einen „Beitrag zur einer solchen Form darzustellen. Geschichte des Spuks“ liefern (Storm 1991, S. 212). Von den neu entdeckten 60 Gespenstergeschichten Storms wird hier – (Goethe, Aus meinem Leben 77) dank der freundlichen Genehmigung des Insel-Verlags – eine  gezielte Auswahl in den jeweils relevanten Abschnitten, teilwei- se auch im Kapitel über andere Kulturen (VIII), vorgestellt. Theodor Storm verstarb am 4. Juli 1888 in Hademarschen. Theodor Storm wurde am 14. September 1817 wie Petrus Goldschmid in der Stadt am großen, grauen Meer geboren, in Husum. Seine Faszination durch das Paranormale I.32 klingt schon in seiner berühmten Novelle FONTANE (1819–1898) Der Schimmelreiter an, der er eine Spuk- geschichte zugrunde gelegt hat. Sein Neues  Gespensterbuch, dessen Entstehung wahrschein- lich bis in die Jahre 1842/1843 zurückreicht Theodor Storm Was dir die zarten Geister singen, (Storm 1991, S. 185) und dessen Manuskrip- (1817- 1888). Die schönen Bilder die sie bringen, te erst 100 Jahre nach Storms Tod dank der Sind nicht ein leeres Zauberspiel. Arbeit Karl Ernst Laages veröffentlicht wurden, verrät schon im Untertitel „Beiträge zur Geschichte des Spuks“, worum es (Goethe, Faust I, Studierzimmer, 1439ff., Mephistopheles) geht: „Es sind ‚wirkliche‘ Spukgeschichten“, keine literarischen  Möglichkeiten, sondern „überlieferte, erinnerte oder selbst erleb- te unheimliche Geschichten, die kritischem Zweifel standhalten Der Dichter, Schriftsteller und Journalist Henri Théodore und die Existenz einer jenseitigen Welt belegen können“, Fontane, der seinen Namen – entsprechend seiner Herkunft schreibt der Herausgeber Karl Ernst Laage (Storm 1991, S. 192). von Hugenotten, die 1685 von Frankreich nach Berlin gekom- Nach Laage ist Storms „Gespenstergeschichte“ ein „nüchterner men waren – französisch und zweisilbig aussprach, wurde am

172 173 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte

30. 12.1819 in Neuruppin als Sohn eines Apothekers geboren. Theodor Fontane, der vier Kinder mit seiner Frau Emilie Auch Fontane, dessen Interesse von Anfang an der Literatur Rouanet-Kummer hatte, starb an einem Schlaganfall am 20. 9. gehörte, machte 1847 in Berlin zunächst sein Staatsexamen als 1898 in Berlin. Apotheker, doch er versuchte schon zwei Jahre später, sich als Schriftsteller selbständig zu machen. Der Weg seines Er- folges führte jedoch keineswegs gerade nach oben, sondern kontinuierlich voran über eine Anstellung als Journalist bei der I.33 preußischen Regierung, als preußischer Presse-Beauftragter in DU PREL (1839–1899) England, Redakteur der Neuen Preußischen Zeitung und Thea- terkritiker bei der Vossischen Zeitung, wo er sich für den nor-  wegischen Dramatiker Henrik Ibsen (20. 3.1828 – 23. 5.1906) und den deutschen Dichter Gerhart Hauptmann (15.11.1862 – Tief und ernstlich denkende Menschen haben gegen das 6. 6. 1946) einsetzte. Erst 1876, nachdem er seine neue Stelle als Publikum einen bösen Stand. Sekretär bei der Akademie der Künste in Berlin schon nach (Goethe, Maximen und Reflexionen 78) einigen Wochen wieder gekündigt hatte, wurde er schrifstelle- risch produktiv. Als seine Meisterstücke dürfen sicher Effi  Briest (1896), ein sofortiger Erfolg, und sein letzter Roman Der Stechlin (1899), der erst heute richtig geschätzt wird, angese- Carl Du Prel wurde am 3. 4.1839 in hen werden, während sich nach der Berliner Maueröffnung seine Landshut geboren. Der aus einer katho- Wanderungen durch die Mark Brandenburg (5 Bde., 1862 – lischen Adelsfamilie stammende Philo- 1889) wie ein Lauffeuer verbreite- soph und Astronom, der mit dem Arzt ten. In letzterem Werk aus seiner und Schrifsteller Theobald Kerner mittleren Schaffensperiode legt uns (14. 6. 1817–11. 8. 1907), dem Sohn des Fontane einen Bericht vor, der für bekannten Arztes und Dichters Justi- den Zusammenhang mit Geister- nus Kerner (s. o.), befreundet war, ist erscheinungen interessant ist und aus der Geschichte der Erforschung der daher später (Kap. III. 21) im Origi- paranormalen Phänomene nicht wegzu- naltext wiedergegeben wird. Dieser denken. Text vom „Allerhühnchen“ stellt in

der kaum faßbaren Fülle von Berich- Die Sonderstellung Du Prels in der Carl Du Prel ten über Kobolde, zu denen ja auch Geschichte der Parapsychologie ergibt (1839- 1899). die Spezies „Poltergeister“ gehört, sich u.a. aus seinen fundierten Kennt- Théodore Fontane einen Beitrag ganz besonderer Art nissen der alten Urkunden des Mesmerismus und Somnam- (1819-1898), 1883. dar. bulismus, seinem Einsatz für die Integration des Hypnotismus

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und Spiritismus ins Gefüge wissenschaftlicher Disziplinen Odlehre zu rehabilitieren scheint, an welcher DU PREL und nicht zuletzt der Konfrontation mit EDUARD VON stark festhielt. HARTMANN, dem großen Philosophen des Unbewußten (Sommer 2000, S. 49) und Kritiker des Spiritismus. (Sommer 2000, S. 36) Freiherr Carl Du Prel verstarb am 5. August 1899, auf den Tag genau 70 Jahre nach der Seherin von Prevorst, Christina Andreas Sommer, Herausgeber zweier neuer Zeitschriften, Friederike Hauffe (1801– 5.8.1829), der wohl ungewöhnlichsten Psychische Studien und Human Nature, beschreibt in einem Patientin von Justinus Kerner (s. bes. Kap. V.4). jüngst erschienenen Aufsatz Du Prels Leben und Werk und ver- sucht am Ende, Du Prel in die gegenwärtige Forschungssituation einzubinden (Sommer 2000). Dadurch wird ein ungewöhnlich lebendiges Bild der Forscherpersönlichkeit gezeichnet. Sommer I.34 spekuliert: HESSE (1877–1962) Würde der Münchner Philosoph heute leben und wirken, so  wären ihm wahrscheinlich vor allem die Arbeiten von IAN STEVENSON zur Reinkarnationsfrage unter spezieller Berücksichtigung der Geburtsmale willkommener Stoff zur Überlieferung fremder Erfahrung, frem- Ergänzung seines philosophischen Systems. STEVENSON den Urteils sind bei so großen Bedürfnis- verwendet ja ebenfalls den Begriff Monoideismus, und zwar sen der eingeschränkten Menschheit höchst zur Erklärung der Entstehung von religiös und hysterisch willkommen. bedingten Stigmen, Fällen von „Versehen“, d. h. Vorstellungs- (Goethe, Maximen und Reflexionen 79) inhalte von Schwangeren, die sich auf das Ungeborene körper- lich zu übertragen scheinen, und schließlich Fälle, in denen  Geburtsmale von Personen mit Reinkarnationserinnerungen mit meist tödlichen Wunden einer angeblich früheren Persön- Hermann Hesse, dessen Pseudonym lichkeit korrespondieren. Vermutlich würde DU PREL auch Emil Sinclair lautete, wurde am 2.7.1877 die Erfahrungen mancher Personen anführen, welche z.B. in Hermann Hesse in Calw im Nordschwarzwald geboren (1877- 1962). Todesnähe über Außerkörperliche Erfahrungen berichten, über und wuchs in pietistischen Verhältnissen Begegnungen mit verstorbenen Angehörigen sowie über eine auf. Er verbrachte ein Jahr auf einem evangelisch-theologischen ethisch bewertete Lebensrückschau. SHELDRAKES umstrit- Seminar, wurde zunächst Buchhändler und Antiquar, bis er tene morphogenetische Felder würden ihn außerdem genau- schließlich als freier Schriftsteller wirken konnte. 1946 erhielt so interessieren wie die Biophotonenforschung von FRITZ er den Nobelpreis für Literatur. Neben dem Verfassen seiner ALBERT POPP, die auf den ersten Blick REICHENBACHS allseits berühmten Werke, in die er immer wieder indische

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Weisheit einfließen ließ, hat er sich auch mit dem Spukhaften befaßt. Als Quelle stand ihm der mehr als 30 Bände umfassen- de Rheinische Antiquarius zur Verfügung, der in der Mitte des I.35 19. Jahrhunderts mit 39 Bänden in Koblenz erschienen war JUNG (1875 –1961) (1845ff.), und hieraus wählte er einige historische, zum Teil bis ins Mittelalter zurückreichende Spukgeschichten aus. In den  Jahren 1924/1925 hatte er sie schon zur Herausgabe vorbereitet, doch erst 1986 wurden sie unter dem Titel Spuk- und Hexen- [...] allein ich muß demohngeachtet wieder zu jenem geschichten aus dem Rheinischen Antiquarius veröffentlicht Interesse zurückkehren, das mir die übersinnlichen (Hesse 1986). Dinge eingeflößt hatten, von denen ich ein für allemal, Christian von Stramberg (*13.10. 1785), Historiker und Her- in sofern es möglich wäre, mir einen Begriff zu bilden ausgeber des Antiquarius, der während der Arbeit am 14. Band unternahm. verstarb und dessen Monumentalwerk zunächst fortgesetzt (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit 80) wurde, doch insgesamt unvollständig blieb, ist den Augen von Hesse eines der letzten Beispiele der „interessanten Spezies“  „Polyhistor“ oder „Alleswisser“ (Hesse 1986, S. 153). „Die Gelehrsamkeit unsrer Zeit beruht durchaus auf dem Der Schweizer Psychiater Carl Gustav Spezialistentum, sie verdankt ihm ihre Höchstleistungen sowohl Jung, geboren am 26. 7.1875 in Küs- wie ihre beginnende Versandung.“ Man tausche „beginnende“ nacht als Sohn eines Pfarrers, zeichnete mit „fortgeschrittene“ aus, und der Satz aus Hesses Nachwort als 83jähriger seine Lebensgeschichte zu seinem Spukbuch (Hesse 1986, S. 153) klingt hochaktuell. auf (Jaffé 1962/1985), die er als „die Einige wenige der von Hesse aus dem Antiquarius ausgesuch- Geschichte einer Selbstverwirklichung ten Beispiele werden in den nachfolgenden Kapiteln angeführt. des Unbewußten“ verstand (Jaffé 1985, Hermann Hesse verstarb am 9. 8.1962 in Montagnola in der S. 10). Das Paranormale spielt in Jungs Schweiz. Leben eine ganz entscheidende Rolle und wird von ihm in seiner Autobio- graphie, deren Entstehung der Initiative Aniela Jaffés zu verdanken ist, sowohl Carl Gustav Jung (1875- 1961). theoretisch behandelt wie auch anhand von vielen eigenen Erlebnissen illustriert (vgl. Simons 2002). Jung war es Ernst mit den paranormalen Phänomenen, und so pflegte er Kontakte zu den entsprechenden Persönlichkeiten – er besuchte u. a. ein Seminar von Hans Bender in Freiburg – und Gesellschaften wie der englischen SPR.

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Carl Gustav Jung (1875- 1961), seine Frau Emma, geb. Rauschenbach (1882- 1955), und vier ihrer fünf Kinder. I.36 ROSENBERGER



Rede nur, erzähl’ erzähle was sich Wunderlichs begeben, Hören möchten wir am liebsten was wir gar nicht glauben können. Jung fühlte sich in ganz besonderer Weise Goethe verbunden, (Goethe, Faust II, 3. Akt, Schattiger Hain, 9582f., Chor) und das nicht nur, weil die Familienlegende besagt, daß sein Großvater väterlicherseits ein Bastard von Goethe gewesen sei  (Noll in Nordin 1998, S. 6; vgl. Noll 1997). Bei seinem Vortrag Jung and his cousins auf der fünften Ludwig Rosenberger gehört ebenfalls in diese Autoren-Reihe, ökumenischen Tagung für christliche Parapsychologie (The fifth da aus seiner Hand eine relativ neue Sammlung historischer Ecumenical Conference on Christian Parapsychology) im Sep- Dokumente über Geisterbegeg- tember 2000 in Canterbury eröffnete Geoffrey West, daß C. G. nungen stammt. Unter dem Jung, der für uns u.a. die „Archetypen“, das „kollektive Unbe- Titel Geisterseher veröffentlichte wußte“, das Prinzip der „Individuation“ und das Phänomen der er 1952 viele seltsame und para- „Synchronizität“ ans Licht geholt hat, einen beträchtlichen Teil normale Erlebnisse berühmter seines Wissens von seinem verstorbenen Großvater durch ein Persönlichkeiten, die zum Teil Medium, seine Cousine Helly Preiswerk, erhalten habe (West, von den Betroffenen selbst auf- Geoffrey, 2001). geschrieben worden sind, aber Nicht nur Jungs Leben war kontinuierlich von den merk- auch aus zweiter Hand stam- würdigsten Ereignissen begleitet, auch sein Tod am 6. 6.1961 men. Sein Buch ist allein schon bildete eine bemerkenswerte Koinzidenz mit dem Einschlagen wegen seiner Einzigartigkeit eine eines Blitzes in einen stattlichen alten Baum, der im Garten sei- wichtige Quelle für das Studium nes Hauses stand. Wir werden an vielen Stellen im Laufe dieses spontaner Geisterbegegnungen. Buches von den paranormalen Begebenheiten aus dem Leben des Tiefenpsychologen und Begründers der Analytischen Psy- chologie – eines „Propheten“, wie Simons ihn nannte (Simons Umschlagbild des Buches von Ludwig 2002, S. 81) – berichten. Rosenberger „Geisterseher“, 1952.

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auch zu bedeutenden Persönlichkeiten wie der Schwester des I.37 Geschichtsphilosophen Oswald Spengler und zu der Dichterin MOSER (1872–1953) Ricarda Huch (18.7.1864 – 17.11.1947). 1903 hatte Fanny Moser ihr erstes eigenes parapsychologi-  sches Schlüsselerlebnis: Sie wurde Zeugin der Levitation eines Tisches in der Wohnung eines Berliner Mediums. Das gab den Das Kleid laß es nicht los. Da zupfen schon letzten Anstoß zu ihrem Engagement in der Parapsychologie. Dämonen an den Zipfeln, möchten gern Heute kann Fanny Moser als eine Pionierforscherin im deutsch- Zur Unterwelt es reißen. Halte fest! sprachigen Raum auf dem Feld der paranormalen Phänomene angesehen werden. So hat sie unter dem Motto „Nur der Narr (Goethe, Faust II, 3. Akt, Schattiger Hain, 9946ff., Phorkyas lacht, der Weise sinnt und forscht“ eine detailliert recherchier- zu Faust) te, bestechende Materialsammlung zum Thema „Spuk“ (1950)  vorgelegt. Ein zweiter Band war vorgesehen – die Materialien und Manuskripte dafür befinden sich im Archiv des IGPP –, doch konnte sie ihn nicht mehr fertigstellen. Neben ihrem Buch Fanny Moser stammt aus einer über den Spuk existiert noch ein weiterer, diesmal tatsächlich Schweizer Familie – ihr Vater war ein zweibändiger Klassiker von ihr mit dem Titel Das große Buch berühmter Ingenieur – und wurde am des Okkultismus (1935). 27.5.1872 in Badenweiler geboren. Sie Fanny Moser verstarb am 24. 2.1953 in Zürich. Ihr Ver- studierte Medizin und Biologie, pro- mögen stellte sie dem Freiburger IGPP, das drei Jahre vorher movierte mit einem Thema aus der gerade von Hans Bender eröffnet worden war, zur Verfügung. Zoologie 1902 in München und erhielt für eine Publikation aus dem Bereich der Meeresforschung eine Auszeichnung der Preußischen Akademie der Wissen- schaften (1921). I.38 Fanny Moser (1872-1953). Schon in jungen Jahren wurde Fanny JAFFÉ (1903–1991) Mosers Interesse für die paranormalen Phänomene geweckt, denn über ihre Mutter hatte sie Kontakt zu dem Arzt und Begründer  der Psychoanalyse Sigmund Freud (s. Kap. I.21), zu Otto Georg Wetterstrand, dem Stockholmer Arzt und „Magier“ der Hyp- Die Frage: ob einer seine eigene Biographie schreiben nose (14. 9.1845 – 11. 7.1907), der in Schweden die suggestive dürfe, ist höchst ungeschickt. Ich halte den, der es tut, Psychotherapie eingeführt hatte, schließlich zu dem Schweizer für den höflichsten aller Menschen. Wenn sich einer nur Psychiater Eugen Bleuler (30. 4. 1857 –15. 7. 1939) und außerdem mitteilt, so ist es ganz einerlei, aus was für Motiven er es

182 183 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte

tut. Es ist gar nicht nötig, daß einer untadelhaft sei, oder um real existierende Wesen handle, tritt bei ihr zugunsten einer das Vortrefflichste u(nd) Tadelloseste tue; sondern nur, anderen bedeutenden Frage zurück: Weisen die Phänomene daß etwas geschehe, was dem andern nutzen, oder ihn etwa einen archetypischen Charakter im Sinne Jungs auf? Um freuen kann. einen Zusammenhang zwischen Geistererscheinungen und den (Goethe, Aus meinem Leben, Fragmentarisches 81) Urbildern – so nannte Jung anfänglich seine Archetypen – des „kollektiven Unbewußten“ aufzuzeigen, greift sie auf Mythen,  Mystik und alchemistische Weisheiten zurück. Ihr Buch ist für die moderne Forschung auf dem Gebiet der Geistererscheinun- Die Psychoanalytikerin Aniela Jaffé, geboren am 20.2.1903 gen im deutschsprachigen Raum, aber natürlich auch für Ver- in Berlin, war langjährige Mitarbeiterin C. G. Jungs in Zürich. gleichszwecke darüber hinaus von einzigartigem Wert. Ihrer Initiative als Herausgeberin haben wir es zu verdanken, Aniela Jaffé verstarb Anfang 1991. daß von Jung heute eine Autobiographie vorliegt, die uns einen Einblick in sein von paranormalen Phänomenen durchwobenes Leben gewährt. Aniela Jaffé hat neben zahlreichen Veröffent- lichungen auch zum Thema „Geister“ mit ihrem Buch Geistererscheinungen und Vor- I.39 zeichen (1958/1978/1995) einen Klassiker AVENARIUS hinterlassen. Die Zeitschrift Schweizeri- scher Beobachter hatte im Anschluß an eine  Artikelserie über Phänomene wie Wahr- träume, sinnvolle Zufälle, Vorahnungen, Pflicht des Historikers das Wahre vom Falschen, das Geistererscheinungen usw. eine Enquete Gewisse vom Ungewissen, das Zweifelhafte vom Ver- unternommen, d. h. es wurde die Frage an werflichen zu unterscheiden. die Leser gerichtet, ob sie schon einmal (Goethe, Maximen und Reflexionen 82) Aniela Jaffé (1903-1991). selbst etwas Ähnliches erlebt hätten. Dar- aufhin wurden in 1200 Briefen 1500 Erleb-  nisse geschildert, die dann zur Auswertung zunächst C. G. Jung überlassen wurden, der diese Aufgabe wiederum wegen Zeitnot Aus traditionsreicher Familie, zu der Persönlichkeiten wie an Aniela Jaffé weiterleitete. In diesem Buch stellt Aniela Jaffé der Philosoph Richard Avenarius (1843 –96) und der Dichter ein buntgefächertes Repertoire von Geistererscheinungen vor, und Schriftsteller Ferdinand Avenarius (1856–1923) gehören, ausgewählt aus dem eingesandten Briefmaterial und geordnet stammt der deutsche Historiker Dr. Wilhelm Avenarius. Er nach Erscheinungstypen. Einige Geistertypen sind dabei klas- wurde am 25.1.1927 in Goethes Heimatstadt, in Frankfurt sisch und international, andere typisch schweizerisch. Die bren- am Main, geboren und studierte dort Philosophie, Geschichte nende Frage allerdings, ob es sich bei den gesehenen Geistern und Latein. Nach der Promotion und dem Staatsexamen wirkte

184 185 Mit Goethe durch die Welt der Geister Geisterberichte – ein Gang durch die Jahrhunderte er in verschiedenen Bereichen, so im Lehramt, am Rheinischen Zum Schluß dieses Teiles über die wichtigsten Schriften über Landesmuseum Bonn, bei Ausgrabungen römischer Lager in Geister und ihre Autoren im Laufe der letzten Jahrhunderte, Neuss, beim C. A. Starke-Verlag den man beliebig weit vertiefen könnte, sei zum Trost Melanch- und schließlich von 1968 bis 1992 thons offenes Bekenntnis erwähnt, das Daumer am Eingang in der Burgen-Spezialbibliothek seines eigenen Buches über Geister zitiert (Daumer 1867, Bd. 1, der Deutschen Burgenvereinigung S. 22f.): e.V. auf der Marksburg. Wilhelm Die heidnischen Autoren sagen ausdrücklich, sie fänden sich Avenarius ist jedoch vor allem zu dem Glauben an eine Fortdauer der Seele nach dem Tode auch in den Fachgebieten Burgen- bewogen, weil es ganz unzweifelhaft sei, daß viele Abgeschie- kunde und Parapsychologie schrift- dene umgingen, oft gehört und gesehen würden, auch mit den stellerisch tätig. So stellte er etwa Menschen sprächen. Es sollen aber nicht blos Bücher citirt eine Sammlung von Texten über werden; ich selbst habe Geister gesehen und kenne viel glaub- historische Geistererscheinungen Wilhelm Avenarius würdige Männer, welche behaupten, sie hätten nicht nur sol- aus dem deutschen Sprach- und Foto: Annekatrin Puhle. che gesehen, sondern auch lange Gespräche mit ihnen geführt. Kulturgebiet zusammen, die u. a. auch auf Burgen und Schlös- sern stattgefunden haben. Sein Geister-Buch Rund um die (Melanchthon, Liber de anima, Wittenberg 1595) Weiße Frau (1984, 1987, 2001) führt im wesentlichen wie Lud- wig Rosenbergers Geisterseher Beispiele an, die mit berühmten Auch in dieser Anthologie sollen nicht nur Bücher zitiert Persönlichkeiten verknüpft sind. Es ist systematisch nach sach- werden, sondern hier und da auch Erlebnisberichte eingefügt lichen Kriterien sortiert, sehr übersichtlich und wird dem werden, die mir aus erster Hand erzählt wurden und die etwas Untertitel seiner Erstausgabe, „Ein Geister-Handbuch“, durch- frischen Wind durch den Staub der Bücherwelt wehen lassen aus gerecht. Wilhelm Avenarius, der viel in den Archiven mögen. deutscher Schlösser und Burgen recherchiert hat, arbeitet heute im Herzen von Deutschlands gespensterträchtigster Burgen-  landschaft, im Archiv der Marksburg bei Braubach am Rhein und auf Burg Lahneck bei Lahnstein, ganz nah bei Koblenz und nur einen Katzensprung entfernt von Oberlahnstein, von dem Goethe bei einer Kahnfahrt auf der Lahn den treffenden Eindruck gewann: „Da eröffnete sich mir der alte Rhein, die schöne Lage von Oberlahnstein entzückte mich“ (Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit 83).



186 187 Mit Goethe durch die Welt der Geister

II

Wahrnehmung von Geistern

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Warum kann ich nicht [...] sogleich mich wie jene Schwe- denborgischen Geister, die sich manchmal die Erlaubniß ausbaten, in die Sinneswerkzeuge ihres Meisters hineinzu- steigen und durch deren Vermittelung die Welt zu sehen, auf kurze Zeit in Ihr Wesen versenken [...]. (Goethe, Briefe. An Friedrich August Wolf 1)



Auch wenn Geister nicht immer und nicht von jedem für etwas Wahres gehalten werden, so werden sie doch immerhin von vielen wahrgenommen. Aber wie? Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, einem Geist zu begegnen, und man muß dazu nicht unbedingt von Sinnen oder von allen guten Geistern verlassen sein. Inwieweit ist ein Geist sinnlich erfahrbar, oder sind Geister eben doch nur ersonnen? Halten sich Geister außerhalb oder über der sinnlichen Wahrnehmungsgrenze auf, sind sie außer- oder übersinnlich? In diesem Kapitel werden die wichtigsten Varianten der Wahrnehmung von Geistern vorge- stellt, so daß jeder im Anschluß daran selbst darüber nachsin- nen kann, wie es um die Sensibilität beim Zusammentreffen mit Geistern bestellt ist. Ob Geister darüber hinaus nur leere, sinn- lose Gestalten sind oder ob ihr Erscheinen auch sinnvoll sein kann, wird ganz am Schluß (Kap. X.6) zur Sprache kommen.

188 189 Mit Goethe durch die Welt der Geister Wahrnehmung von Geistern

darin, daß manche Menschen Geister sehen; und manche neh- men sie auf andere Weise wahr, sie hören, riechen, fühlen, II.1 ahnen sie oder sind sich der Anwesenheit von Geistern in der SPONTANES WAHRNEHMEN VON GEISTERN Art einer inneren Gewißheit sicher. Wieder andere nehmen ungewöhnliche Phänomene, die sie sich nicht erklären können,  als Effekte unsichtbar wirkender, geisterhafter Kräfte wahr. Im Unterschied zu der sich ständig verändernden Sichtbarkeit Zaudert nicht länger, liebliche Geister! Zeigt euch mir! des Mondes kennen wir jedoch die Bedingungen für die Sicht- Erscheinet, freundliche Gestalten! barkeit oder Unsichtbarkeit von Geistern nicht – noch nicht, (Goethe, Lila, Ein Festspiel mit Gesang und Tanz 2) vorausgesetzt natürlich, daß es Geister überhaupt gibt.

 Solon aus Athen (ca. 640 – 561), der wohl bekannteste der Sieben Weisen aus antiker Zeit (7. und 6. Jh. v.Chr.), gibt den „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, lautet eine alt- Rat: bekannte Volksweisheit. Und was ich nicht sehe, das macht Das Unsichtbare erschließe dir aus dem Sichtbaren! mich nicht weis’, könnte man weiterreimen. M.a.W.: Was ich (t£ ¢fanÁ ts‹j faner‹j tekma…`rou) nicht sehe, das gibt es nicht. Oder doch? Goethe behauptet: (Kranz 1939, Alte Spruchweisheit, Solon von Athen) Wir sind von einer Atmosphäre umgeben, von der wir noch gar nicht wissen, was sich Alles in ihr regt und wie es mit Springen wir nun am besten in unserm Geiste in Verbindung steht. medias res und versuchen, den Din- (Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten gen auf den Grund zu gehen. Dazu Jahren seines Lebens 3) werfen wir zuerst einen Blick auf die Sinneswahrnehmung: Was ist grund- An der Existenz eines Unsichtbaren besteht kein Zweifel. sätzlich über die Vorgänge des Sehens Vieles ist dem menschlichen Auge verborgen, und Sichtbarkeit und Hörens zu sagen? ist kein Kriterium für Existenz. So sehen wir den Mond nur in Zunächst sollen einige Bemerkun- klaren Vollmondnächten in seiner abgerundeten Ganzheit und gen über das Sehen gemacht wer- wissen doch zur Zeit des schwarzen Neumonds, daß er trotz- den, das unter all den verschiedenen Wahrnehmungsmöglichkeiten bei der dem am Himmel steht. Er ist eben nur unter bestimmten Solon aus Athen (?) Bedingungen sichtbar. Geistern wiederum haftet der paradoxe (ca. 640- 561), einer der Mehrheit der Menschen eine dominan- Ruf an, unsichtbar und sichtbar zugleich zu sein. Wären sie Sieben Weisen. Flavische te Stellung einnimmt, zumal in einer Kopie nach einem Vorbild Zeit, in der man sich penetranten visu- wirklich unsichtbar, wie sollte jemand sie jemals gesehen haben um 330 v.Chr. können? Dieses scheinbare Paradox hat seinen einfachen Grund ellen Beeinflussungen nur noch schwer

190 191 Mit Goethe durch die Welt der Geister Wahrnehmung von Geistern entziehen kann. Beim Sehen entstehen Schwingungen elek- So entspricht einem einzelnen klaren Ton auch eine Wellen- tromagnetischer Natur, wobei elektromagnetische Felder als bewegung, während etwa zu einem Waldesrauschen unendlich Übertragungsmedium für das Auge dienen. Das Sehen ist nicht viele Wellenbewegungen gehören. Das Hören von unterschied- an Moleküle gebunden und unterscheidet sich dadurch grund- lich hohen Tönen kommt nun durch die Änderung der Wellen- sätzlich vom Hören. Im Auge ist eine Empfindlichkeit für länge, der Frequenz, zustande. Um einen Ton hören zu können, bestimmte Frequenzen vorhanden, und je nach der Veränderung müssen die Moleküle auf das Trommelfell stoßen, wodurch dann dieser Frequenzen können unterschiedliche Farben gesehen die Nervenzellen im Ohr angeregt werden; und diese Ner- werden. venzellen geben schließlich elektrische Impulse an das Gehirn Das gesamte elektromagnetische Spektrum erstreckt sich von weiter. unendlich langen bis zu unendlich kurzen Wellenlängen oder Auch dem menschlichen Hören sind Grenzen gesetzt, die aber Frequenzen, wobei alle elektromagnetischen Wellen in allen in einem gewissen Rahmen individuell variieren können. Meß- Frequenzen meßbar sind. Vom menschlichen Auge kann jedoch geräte, die Ultraschall und Infraschall registrieren können, wä- lediglich ein Ausschnitt dieses gesamten Spektrums wahrgenom- ren hier die wissenschaftlichen Instrumente der Wahl, um Spuk- men werden, dem sich im höheren Bereich das ultraviolette orte akustisch genauer zu untersuchen (s. Kap. IX.2). Licht und im tieferen Bereich das infrarote Licht anschließen, Die Vorgänge des Sehens und Hörens entsprechen also meß- unter dem dann die Radiowellen liegen. baren Schwingungen elektromagnetischer und mechanischer Wenn es etwas außerhalb des für unsere Augen sichtbaren Art. Theoretisch müßte demnach ein Geist, wenn er denn tat- Spektrums gibt, oder anders ausgedrückt: falls sich Geister- sächlich als sinnliche Erscheinung in Erwägung gezogen wird, erscheinungen tastsächlich im infraroten oder ultravioletten also mit den physischen Augen und Ohren wahrgenommen wird, Frequenzbereich abspielen sollten, so müßte das mit einem spe- dementsprechend in Bild und Ton zu dokumentieren sein. Be- ziellen Fotoapparat einzufangen sein, d. h. mit einer den infra- finden sich Geister jedoch außerhalb des vom menschlichen roten und ultravioletten Bereich erfassenden Kamera. Auge und Ohr Wahrnehmbaren, dann bleiben die oben genannten Es gibt ja bekanntlich eine Rot-Grün-Blindheit, bei der speziellen Meßinstrumente als eine weitere Möglichkeit, Geister offenbar manche Frequenzen nicht sichtbar sind; aber alle Seh- zu registrieren. störungen, die man etwa mit einer Brille beheben kann, haben Dem unmittelbaren Messen und Dokumentieren von erschei- nichts mit dem Sehen bestimmter Frequenzen zu tun. nenden Geistern stehen vier wesentliche Punkte entgegen: Was läßt sich nun über das Hören aussagen? Hier handelt es sich um Schwingungen ganz anderer, nämlich mechanischer 1. die ungeheure, unberechenbare Spontaneität der Geister, Natur. Beim Hörvorgang fungieren mechanische Teilchen als 2. die Kürze ihrer Besuche, Übertragungsmedium für das Ohr. Ein Ton entsteht durch die 3. ihre Flüchtigkeit bzw. Evasivität, wenn sie beobachtet Bewegung von Luftmolekülen, und diese Bewegung ist dann in werden, und einem bestimmten Bereich für das menschliche Ohr hörbar. 4. die Tatsache, daß man die geeignete technische Ausstat- Die Bewegung ist in der Regel eine Wellenbewegung, und tung nicht ständig zur Hand hat. ihre Geschwindigkeit wird durch die Frequenz beschrieben.

192 193 Mit Goethe durch die Welt der Geister Wahrnehmung von Geistern

Fragen über Fragen werden aufgeworfen: Nehmen wir Gei- Wechsel unsrer übrigen Zustände verbunden ist. Je mehr wir ster vielleicht mit anderen Augen, anderen Ohren, anderen uns aber dieses Zustands bewußt zu sein vermögen, desto Wahrnehmungsorganen wahr? Bevor wir nun näher auf die lebendiger, mächtiger, genügender ist die Überzeugung, die einzelnen Sinneswahrnehmungen eingehen, sollen noch einige daraus entsteht – der Glaube an ächte Offenbarungen des allgemeine Standpunkte zur Wahrnehmung von Geistern aus Geistes. Es ist kein Schauen – Hören – Fühlen – es ist aus der historischen Literatur herausgegriffen werden. allen dreyen zusammengesetzt – mehr, als alles Dreyes – eine Fangen wir mit den christlichen Gnostikern an: Sie sollen bei Empfindung unmittelbarer Gewisheit – eine Ansicht meines ihren Meditationen Geister und Seelen gesehen und nach Farbe wahrhaftesten, eigensten Lebens – die Gedanken verwandeln und Gestalt unterschieden haben, fast wie Friederike Hauffe, sich in Gesetze – die Wünsche in Erfüllungen. Für den Schwa- die Seherin von Prevorst, meint Georg Conrad Horst (Horst chen ist das Factum dieses Moments ein Glaubensartickel. 1830, Bd. 2, S. 28). (Novalis, Blüthenstaub 5) Aus der Zeit des Übergangs vom 17. zum 18. Jahrhundert erhalten wir via G. C. Horst eine knappe Geisterbeschreibung Nicht viel später, 1808, lesen wir in der Theorie der Geister- von Christian Thomasius: Gespenster sind „unkörperliche Sub- kunde und der anschließenden Verteidigungsschrift von Jung- stanzen, die als gesehene oder gehörte, oder durch’s Gefühl Stilling eine genaue Definition von Geistererscheinungen, hier empfundene Wesen dem Menschen – Schrecken einjagen“ (Horst in der Zusammenfassung aus einem neueren Werk von Martin 1821–1826, Bd. 1, 1821, S. 237). Landmann (1995) wiedergegeben:

Rund 100 Jahre später hören wir Novalis sagen: Geistererscheinungen Den Inbegriff dessen, was uns rührt, nennt man die Natur, und also steht die Natur in einer unmittelbaren Beziehung 1) Unter Geistererscheinung ist die wirkliche und daher im auf die Gliedmaßen unsers Körpers, die wir Sinne nennen. Wachzustand sinnlich voll erfahrbare Anwesenheit einer nicht- irdischen Persönlichkeit hier auf Erden zu verstehen („Theorie“ (Novalis, Die Lehrlinge zu Sais 4) 223). Als Beispiel ist der Engel genannt, welcher Paulus im Gefängnis durch einen Rippenstoß aus dem Schlaf weckt, ihm An anderer Stelle sagt er: sich anzukleiden befiehlt, mit ihm durch die Doppelwache Das willkührlichste Vorurtheil ist, daß dem Menschen das schreitet und ihm schließlich das Stadt-Tor von Jerusalem öffnet Vermögen außer sich zu seyn, mit Bewußtseyn jenseits der (Apg. 12, 7–11). Sinne zu seyn, versagt sey. Der Mensch vermag in jedem a) Die Wirklichkeit und Tatsächlichkeit wird durch die volle Augenblicke ein übersinnliches Wesen zu seyn. Ohne dies sinnliche Erfahrung begründet. Eine Geistererscheinung kann wär er nicht Weltbürger – er wäre ein Thier. Freylich ist die man demnach mit allen Sinnen erfahren, nämlich sehen, hören, Besonnenheit in diesem Zustande, die Sich Selbst Findung – riechen und betasten. Die untrügliche Anwesenheit ist dann sehr schwer, da er so unaufhörlich, so nothwendig mit dem nicht anzunehmen, wenn eine Geistererscheinung nur mittelbar

194 195 Mit Goethe durch die Welt der Geister Wahrnehmung von Geistern erfahren wird; etwa über Tonbandaufzeichnungen, Spuren im Gut 50 Jahre später schreibt der Apotheker, Schriftsteller und Schnee, ungewöhnliches Verhalten von Tieren usw. Kritiker Ernst Krause (22. 11. 1839 – 24. 8. 1903), der seine Schrif- b) Anwesenheit meint lediglich Vorhandensein, Besuch. Nicht ten unter dem Pseudonym Carus Sterne zu veröffentlichen notwendig ist zusätzlich auch ein Wirken, ein Tätigsein, wie pflegte: etwa die Übermittlung von Botschaften. Der Gesunde in ruhender Körperlage weiß nichts von dem c) Die Geistererscheinung muß zumindest von einem Beob- Vorhandensein seines Körpers, er athmet immerfort, sein Herz achter zweifelsfrei wahrgenommen werden („Theorie“ 223). In schlägt unverdrossen, aber er weiß nichts davon; denn was der Regel läßt sich ein sicheres Urteil über die Tatsächlichkeit man immer fühlt, fühlt man gar nicht mehr, es kommt näm- einer Geistererscheinung nur dann fällen, wenn sie sich mehreren lich nicht mehr zu unserem Bewußtsein (Anm.: Darum höre oder gar vielen Menschen zeigt („Theorie“ 256). So sahen unzäh- man auch, sagten die Pythagoräer, nichts von der Sphären- lige Bewohner Jerusalems am Todestag Christi Verstorbene durch harmonie, weil sie immer andauert, wie Leute, die in der die Stadt schreiten (Mt 27, 52f.). Nähe eines Wasserfalls wohnen, zuletzt das Geräusch gar nicht d) Nichtirdische Persönlichkeit meint entweder bereits ver- mehr wahrnehmen, und selbst nicht wissen, daß sie lauter als storbene Menschen oder gute und böse Geister. Es ist bisher andere Leute sprechen, um den Lärm zu überschreien, eine nicht nachgewiesen, daß auch erst in Zukunft geborene Menschen Gewohnheit, die man auch bei Müllern, Maschinenarbeitern erschienen sind. [Vgl. den Bericht der Droste über das Zweite etc. findet.) [...] Gesicht in Kap. II.2; mir selbst erzählte eine ehemalige Studien- Die ausgestreckt ruhende Körperlage ist also der Verstärkung kommilitonin in Berlin, sie habe ihren Sohn noch während der der Phantasiebilder schon dadurch günstig, daß sie die Kör- Schwangerschaft in einem Traum bereits gesehen; das Entspre- pergefühle vermindert und eben dahin wirkt Absperrung chende hörte ich auch von einer guten Bekannten aus Amster- jedes Geräusches. Die Einsamkeit der stillen Wüste ist des- dam bezüglich ihrer beiden Kinder.] halb dem stillen Vorhaben des Visionärs sehr günstig, und 2) Die gegebene Definition schließt aus, daß lediglich im nichts kann mehr dahin wirken, die Ekstase zu befördern. Traum erschaute überirdische Wesen den Geistererscheinungen Seit Johannes wählten die meisten Heiligen, denen die stille zugerechnet werden; etwa der Engel, der Paulus hinsichtlich Klosterzelle nicht ausgereicht hatte, stets die Wüste zu ihrem seiner sicheren Ankunft an Land Mitteilung macht (Apg. 27, Aufenthalt, und die Zahl derer, die dort zum Theil durch ihre 23f.). Nicht im Wachzustand erlebte Geistererscheinungen sind Visionen berühmt geworden sind, ist Legion. in jedem Falle den Visionen beizuzählen. Die langen Vorbereitungen durch Fasten sind ebenfalls nicht 3) Das zum Begriff Geistererscheinung gehörende Bestim- unwesentlich und keineswegs bloße Ceremonie. Es kommt mungsmerkmal „volle sinnliche Wahrnehmung“ ist wesentlicher darauf an, die Verdauungswerkzeuge in Unordnung zu brin- Bestandteil der Definition. Damit sind Schreibgeister, Signal- gen, um auch dadurch die Denkfunktion zu stören. Während geister und Stimmgeister ausgeschieden. Geistesvorstellungen niemals eine besondere Schärfe bei über- (Landmann, Martin, 1995, S. 85f.) fülltem Magen und während der Verdauung erhalten, schei- nen die Phantasiebilder dadurch gestärkt zu werden. [...]

196 197 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Sehen von Geistern

Von allen Sinnesorganen schafft aber keines so umfassende, so sondern nach der Ansicht Vieler allein die Ursache desselben immerfort mächtige Geisteseindrücke als das Auge, welches ist, womit für sie die Annahme von Geister unnöthig erscheint. die innen aufkeimenden Bilder sofort und unaufhörlich nie- Diese berufen sich auf Fälle, wo mit dem Aufhören von derdrückt und stört, so daß Demokrit vielleicht nicht Unrecht Krankheiten oder dem Verzicht auf die Anwendung gewisser hatte, sich des Augenlichts zu berauben, um besser denken zu Mittel auch das Geistersehen aufhörte, wie z. B. Reclam (Geist können; wie man die Finken blendet, um besser schlagen zu und Körper in ihrer Wechselbeziehung, S. 69) behauptet, eine können. Es ist überhaupt vielen Menschen Gewohnheit, bei Kranke, welcher allnächtlich der Geist ihrer Mutter erschien, tiefem Nachsinnen die Augen zu schließen, und aus demsel- dadurch von dieser Erscheinung befreit zu haben, daß er das ben Grunde ist die Dämmerung und die Nacht der Entste- Mädchen Abends nur Wasser statt des gewohnten Kaffees trin- hung von Phantasiebildern günstiger als der helle Tag. ken und für tägliche Stuhlöffnung sorgen ließ. (Sterne 1863, S. 398f.) (Perty 1869, S. 158)

II.2 DAS SEHEN VON GEISTERN UND DAS ZWEITE GESICHT

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Du siehst Geister. (Goethe, Die Geschwister, ein Schauspiel in einem Akt, Wilhelm 6)

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Moritz von Schwind (1804- 1871): Erscheinung im Walde, um 1858. Geister können sich sehen lassen. Sie sind ein echtes Phäno- men, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie erschei- nen dem Auge des überraschten Betrachters. Das griechische Und Maximilian Perty zeigt sechs Jahre danach, daß man eben Wort fainÒmenon (phainómenon) bedeutet nämlich wörtlich denselben Sachverhalt auch in umgekehrter Weise auswerten übersetzt „sinnliche Wahrnehmung“, „sichtbarer Vorgang“ sowie kann: etwas „Erscheinendes“, und so machen Geister ihrem Namen Es ist unzweifelhaft, daß eine gewisse körperliche Disposition alle Ehre. Doch erscheinen sie tatsächlich dem normalen Auge, nicht etwa nur das Geistersehen begünstigt und möglich macht, dem physischen Auge, oder gibt es da noch ein anderes Gesicht?

198 199 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Sehen von Geistern

Westfalen und das Zweite Gesicht bilden eine unzertrennli- che Einheit, und das schon seit Jahrhunderten. Fragt man heute ältere Einheimische in den Dörfern, so trifft man zwar noch auf die Kenntnis von dieser besonderen Begabung. Nur liegt teilweise immer noch eine Peinlichkeit, ein Tabu auf dieser unerklärlichen Gabe, denn derartige Eigenschaften in einem sogenannten „Erweckungsgebiet“ wurden als finsterster Aber- glaube und Teufelskram unterdrückt. Wer damit in Berührung kam, galt als unrein, ließ sich auch besser nicht mehr in der Kirche blicken. Man ging solchen Personen aus dem Weg. Das hat sich bis auf den heutigen Tag noch nicht grundsätzlich geändert. Fragt man beispielsweise vor Ort nach ganz konkreten Menschen, die solche Fähigkeiten haben bzw. hatten, erfährt man bestenfalls etwas, sofern man irgendwie dazugehört oder den Bann sonstwie brechen kann, möglichst Plattdeutsch spricht. Moritz von Schwind (1804-1871): Die Erscheinung im Walde, um 1823. Aber auch dann sind weitere Rücksichten zu nehmen, wie z. B. Versetzen wir uns zu diesem Thema erst einmal an den rechten auf die heute noch lebenden Nachkommen eines vermeintlichen Ort und in die richtige Stimmung und lassen uns von Heinrich „Schichters“, wie diese besonderen Seher ebenfalls hießen. Es Heine in eine Region Deutschlands entführen, die sich ganz dem handelt sich also um ein sehr weites, doch für die Feldforschung Geheimen verschrieben hat und die er im Herbst 1820 mehrere nicht ganz leicht zugängliches Gebiet. Der Moorkönig ist ein Wochen lang bereiste: neuer Roman der Historikerin Eva Maser aus Münster über einen Jungen mit dem Zweiten Gesicht; dieser hat tatsächlich in Wie man behauptet, gibt es greise Menschen in Westfalen, die der Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen Bremen und Hamburg noch immer wissen, wo die alten Götterbilder verborgen lie- gelebt und das Zweite Gesicht in hohem Grade, nicht nur auf gen; auf ihrem Sterbebette sagen sie es dem jüngsten Enkel, die Vorausschau von Todesfällen begrenzt, repräsentiert (Maser und der trägt dann das teure Geheimnis in dem verschwie- 1999). genen Sachsenherz. In Westfalen, dem ehemaligen Sachsen, ist nicht alles tot, was begraben ist. Wenn man dort durch die Das Zweite Gesicht ist nun einerseits ein ganz spezieller Ter- alten Eichenhaine wandelt, hört man noch die Stimmen der minus für eine bestimmte Art des Voraussehens der Zukunft, Vorzeit, da hört man noch den Nachhall jener tiefsinnigen das nicht nur in Westfalen, sondern in noch anderen Gegenden Zaubersprüche, worin mehr Lebensfülle quillt, als in der in Europa verbreitet ist und das auch erblich sein soll (s. Kap. ganzen Literatur der Mark Brandenburg. VIII. 9). Auf der anderen Seite ist natürlich diese alternative (Heine o.J., S. 3) Art zu sehen ein generelles Phänomen, das von dem Sehen mit den physischen Augen abweicht. So ist das Wahrnehmen der

200 201 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Sehen von Geistern

Zukunft oder eines gleichzeitig an einem entfernten Ort statt- Ein klassisches Beispiel für ein Zweites Gesicht, das aus der findenden Vorgangs mit einem inneren Auge, mit einem Zwei- Mitte des 17. Jh.s stammt, berichtet uns Erasmus Franciscus: ten Gesicht oder einem, wie manche es auch nennen, Dritten Vor ungefähr 30 und etlichen Jahren/ hat/ in eines Professors Auge oder dem Auge des Shiva, ein weltweites und seit ältester Hause/ auf der Hohen Schul zu Helmstädt/ der Famulus, Zeit berichtetes Phänomen. Der aus Alt-Seidenberg bei Görlitz im Gesichte/ gesehen einen Sarg/ darein man einen jungen/ aus einer armen Bauernfamilie stammende Schuhmacher, der ihm unbekandten/ Herrn legte. Solches zeiget er/ deß andren einer der weisesten deutschen Philosophen und Mystiker wer- Tages/ dem Professoren/ und Andren im Hause/ an. Welche den sollte und Geister wie Hegel, Novalis, Tieck, Jung-Stilling ihn aber damit auslachen; in Meynung/ es habe ihn entweder u.v.a. als „philosophus teutonicus“ tief beeindruckte (Floeck ein Traum/ oder eine falsche Einbildung/ mit solchem ver- 1909, S. 3), Jakob Böhme (1575– 17.11.1624), ein Mensch von meyntem Gesicht/ bethöret. Wiewol er dennoch/ bey seinem „guter und geistsamer Natur“ (Böhme 1730/1988, Bd. 10, S. 8; Vorgehen/ steiff und fest beharret hat. Uber acht Tage vgl. auch Tesch 1971), „sah“ in der folgenden Weise, wie wir hernach/ kommt ein junger von Justinus Kerner erfahren: Herr von Reussen= Plauen/ zu ‚Durch den jähen Anblick eines zinnernen Gefäßes kam Helmstädt/ an/ und legt sich an Jakob Böhme in den Zustand, wo er zu dem innersten Grun- deß Professors Tisch. Wie der de oder Zentrum der geheimen Natur eingeführt wurde, und Famulus desselben ansichtig wird; allen Geschöpfen gleichsam in das Herz und in die innerste zeigt er dem Professor an/ die- Natur hineinsehen konnte.‘ (A. V. sem jungen Herrn habe der- Frankenbachs Leben Böhms.) ‚Sol- selbige gantz gleich gesehn/ den che Erkenntnis‘, sagt Böhme, ‚sehe man in den Sarg gelegt. Der ich nicht mit fleischlichen Augen, Professor bindet ihm hart ein/ sondern mit denen Augen, wo sich er soll solches sonst Niemandem das Leben in mir gebäret; in ihm sagen. Allein bemeldten jungen stehet mir des Himmels und der Herrn hat/ über wenig Tage Hölle Pforten offen, und spekulie- hernach/ eine Kranckheit ins ret der neue Mensch inmitten der Bette geworffen/ und so gar siderischen Geburt und stehet ihm überwältigt/ daß er/ in kurtzer die innere und äußere Pforte offen.‘ Zeit/ auch dem Sarg und Grabe unterwürffig worden. (Kerner 1892, S. 90; vgl. Kap. III. 27; IV) (Franciscus 1695, S. 1046f.) P. Gunst (17. Jh.): Jakob Böhme Erasmus Franciscus: „Der Höllische (1575- 1624), deutscher Philosoph Proteus oder Tausendkünstige Verstel- und Mystiker. Kupferstich. ler [...]“ (1695), Titelseite.

202 203 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Sehen von Geistern

Kerner beschreibt dann das Zweite Gesicht generell: Das andere Gesicht – second sight – auch das zweite oder das doppelte Gesicht genannt, besteht in dem Vermögen, Es ist bekannt, daß die Gabe des zweiten Gesichts sich an Begebenheiten und Thatsachen, welche sich entweder in der mehreren Orten endemisch zeigt, wie z. E. unter den schot- nächsten Gegenwart, oder in der Zukunft ereignen werden, tischen Inselbewohnern und in Dänemark. In Schottland vermittelst der Organe des natürlichen Gesichts auf eine haben die Menschen, die diese Gabe besitzen, den sogenann- symbolische Weise wahrzunehmen, und zwar also, daß das ten Stechblick. Es ist dieß der eigenthümliche Blick, wo alles Abwesende und Zukünftige, als dabei vor den Augen gegen- Geistige im Menschen wie auf ein Pünktchen im Auge con- wärtig erscheint, und in sinnbildlichen Repräsentationen centrirt ist, das dann wie verlängert und leuchtend heraus- angeschaut wird [...]. Daß übrigens Gesichte der Art immer tritt, ein Blick, den ich an Frau H. in Momenten, wo sie sich zugleich auch einen divinatorischen Charakter haben müssen, selbst, oder wo sie Geister sah, oft beobachtete. Der schotti- ergibt sich von selbst hieraus, daher diejenigen, welche die sche Seher (* S. Archiv für den thierischen Magnetismus) ist Gabe, solche Gesichte zu sehen, besitzen, Deuteroskopen oder im Augenblicke des Gesichtes starr, mit aufgerissenen Augen- schlechthin Seher genannt werden. lidern, er sieht und hört (wie auch Frau H. beim Selbstsehen) nicht anders. Berührt der Seher im Augenblicke des Gesichtes (Horst 1830, Bd. 1, S. 9) einen Andern, so entsteht dasselbe Gesicht auch in diesem, ja selbst in Thieren, die der Seher oder die Seherin in diesem Georg Conrad Horst bezieht sich dann zunächst auch auf das Augenblick berührt. Zweite Gesicht in Hochschottland und auf den westlichen Inseln, das dort nur selten bei Frauen vorkam (Horst 1830, (Kerner 1892, S. 103) Bd. 1, S. 21, Anm.), und betont, daß „es im wachenden Zustand und bei Bewußtseyn statt findet“ (Horst 1830, Bd. 1, S. 10). Kerner weist nun noch auf den vielzitierten Klassiker über Horst überlegt: die Westschottischen Inseln hin, auf Martin Martins A Descrip- tion of the Western Islands of Scotland (1703), von dem ihm die Nur welches das Auge sey, wodurch das andere Gesicht seine Ausgabe 1716 vorlag und in dem ein ganzes Kapitel dem Zwei- Gesichte sieht –: dieß ist die Aufgabe, die man gern in’s Klare ten Gesicht gewidmet ist: „An Account of the Second Sight, in gebracht sähe. Irish called Taish“. In diesem Zusammenhang verweist er auch (Horst 1830, Bd. 1, S. 111) auf einen Fall aus Westfalen: Ich gesteh’s – unter allen möglichen natürlichen Erklärungs- Ueber diese schottischen Seher ist in dem Werke: 171 eine versuchen von dergleichen Deuteroskopien räume ich den, ausführliche Nachricht zu finden. von der Imagination hergenommenen, noch immer die meiste Auch eine Predigersfrau zu Nienburg an der Weser hatte diese Wichtigkeit ein. unglückliche Gabe, eine Erbschaft des Vaters, und es könnten von ihr die auffallendsten Beispiele angeführt werden. (Horst 1830, Bd. 2, S. 155) (Kerner 1892, S. 104)

204 205 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Sehen von Geistern

[...] man würde sich indeß sehr irren, wenn man die Gabe, Mathias Droste (1792 –1864) war im Sauerland bekannt wegen doppelt zu sehen, das heißt, Gesichte und Erscheinungen seines hervorragenden Schichtvermögens. In der Nähe von eines Auges zu haben, für das der rechte Name noch nicht Paderborn, im Dorf Elsen, lebte zeitlich direkt nach Schlinkert aufgefunden ist, nur auf diese Länder [England und Schott- ein einäugiger Bauer, der das Zweite Gesicht hatte, der „Junge land] und die westlichen Inseln beschränken wollte, und so von Elsen“. Der Patriarch unter den westfälischen Vorgeschich- finden wir dieselbe Sache im Geisterglauben aller Völker und tern, wie man die mit dem Zweiten Gesicht Begabten auch Himmelsstriche, d. h. den allgemeinen Völkerglauben an nennt, ist Wessel Dietrich Eilert, „der alte Jasper“ (1764 – 1833). Visionen und Vorzeichen, an ein Vorhersehen, an innerliche Seine Gesichte wurden 1848 von Burg und Kutscheit veröffent- Intuitionen, welche sich äußerlich in Gesichten und Erschei- licht (Zur Bonsen 1907, S. 26). nungen der mannigfachen Gattung darstellen usw. (Horst 1830, Bd. 1, S. 125) Das berühmteste Beispiel für die Gabe des Zweiten Gesichts in Deutschland finden wir wohl in Annette von Droste-Hülshoff. Horsts zweibändige Deuteroskopie aus dem Jahr 1830 ist die Voll männlicher Kraft, allem Weichlichen abhold, liebt sie es beste mir bekannte historische Quelle für das Zweite Gesicht überhaupt, die Dinge mit ihrem wahren Namen zu nennen, in Deutschland, neben den etwas neueren Quellen wie den Wer- und darum sind einzelne ihrer Schilderungen von einer fast ken von Zur Bonsen (1907 und 1920) und Schmeing (1954). Sie derb zu nennenden Realistik. ist in den Augen ihres Autors ein Beweis dafür, „daß eine (Riehmann in Droste-Hülshoff, Annette von, 1912, S. 6) natürliche Anlage zu mantischen, oder divinatorischen symbo- lischen Gesichten im tiefsten Inneren des menschlichen Geistes Allerdings war die Dichterin nicht allzu glücklich über diese überhaupt und an sich verschlossen liegen müsse“ (Horst 1830, Eigenschaft, die sie z. B. in ihrer Ballade „Vorgeschichte“ als Bd. 2, S. 84). große Last beschreibt (s.u.). In Deutschland galten diese Gesichte ebenso wie in Schott- Auch Horst kann die Bürde dieser Gabe nicht beschönigen: land als symbolisch und doch konkret. So kündete in Schott- „Eine in einer Welt, wie die unsrige ist, wahrlich nicht sehr land und auf den Hebriden das Sehen eines Totentuches etwa zu beneidende Geistes=Eigenthümlichkeit“ (Horst 1830, Bd. 1, einen bevorstehenden Tod an, während man in Deutschland S. 213). Man hält diese fast jedem zehnten gegebene Gabe (Zur einen Sarg oder eine Totenbahre vor dem entsprechenden Haus Bonsen 1907, S. 20) daher auch besser geheim, erklärt die oder in der Nähe des betroffenen Menschen sah und in Hol- bedeutende Dichterin aus dem Münsterland, und beschreibt sie land ein Rauch um das Gesicht des Todeskandidaten bzw. um detailliert in ihrer Erzählung „Bilder aus Westfalen“: dessen Torso hing (Horst 1830, Bd. 1, S. 125). Unter den sauerländischen Schichtern, den Menschen mit Größere Aufmerksamkeit [...] verdient das sogenannte „Vor- dem Zweiten Gesicht, ist wohl Peter Schlinkert (geb. 1730) gesicht“, ein bis zum Schauen oder mindestens deutlichem am bemerkenswertesten. Er lebte auf dem Mühlenschulzenhof Hören gesteigertes Ahnungsvermögen, ganz dem Second sight in Stockum im Möhnetal (Zur Bonsen 1907, S. 26f.). Auch der Hochschotten ähnlich und hier so gewöhnlich, daß, obwohl

206 207 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Sehen von Geistern die Gabe als eine höchst unglückliche eher geheimgehalten wird, (ein üblicher Ausdruck für kleine knollige Rosse) über Hecken man doch überall auf notorisch damit Behaftete trifft und im und Zäune fliege, in der Hand eine lange Stange mit eisernem Grunde fast kein Eingeborner sich gänzlich davon freisprechen Stachel daran. – Ein längst verstorbener Gutsbesitzer hat viele dürfte. Der Vorschauer (Vorkieker) im höheren Grade ist auch dieser Gesichte verzeichnet, und es ist höchst anziehend, sie mit äußerlich kenntlich an seinem hellblonden Haare, dem geister- manchem späterem entsprechenden Begebnisse zu vergleichen. – haften Blitze der wasserblauen Augen und einer blassen oder Der Minderbegabte und nicht bis zum Schauen Gesteigerte überzarten Gesichtsfarbe; übrigens ist er meistens gesund und „hört“ – er hört den dumpfen Hammerschlag auf dem Sarg- im gewöhnlichen Leben häufig beschränkt und ohne eine Spur deckel und das Rollen des Leichenwagens, hört den Waffenlärm, von Überspannung. Seine Gabe überkommt ihn zu jeder Tages- das Wirbeln der Trommeln, das Trappeln der Rosse und den zeit, am häufigsten jedoch in Mondnächten, wo er plötzlich gleichförmigen Tritt der marschierenden Kolonnen. Er hört das erwacht und von fieberischer Unruhe ins Freie oder ans Fenster Geschrei der Verunglückten und an Tür oder Fensterladen das getrieben wird; dieser Drang ist so stark, daß ihm kaum jemand Anpochen desjenigen, der ihn oder seinen Nachfolger zur Hilfe widersteht, obwohl jeder weiß, daß das Übel durch Nachgeben auffordern wird. Der Nichtbegabte steht neben dem Vorschauer bis zum Unerträglichen, zum völligen Entbehren der Nacht- und ahnt nichts, während die Pferde im Stalle ängstlich schnau- ruhe gesteigert wird; wogegen fortgesetzter Widerstand es ben und schlagen und der Hund, jämmerlich heulend, mit ein- allmählich abnehmen und endlich gänzlich verschwinden läßt. geklemmtem Schweife seinem Herrn zwischen die Beine kriecht. Der Vorschauer sieht Leichenzüge, lange Heereskolonnen und Die Gabe soll sich jedoch übertragen, wenn ein Nebenstehender Kämpfe, er sieht deutlich den Pulverrauch und die Bewegungen dem Vorkieker über die linke Schulter sieht, wo er zwar für der Fechtenden, beschreibt genau ihre fremden Uniformen und dieses Mal nichts bemerkt, fortan aber für den andern die nächt- Waffen, hört sogar Worte in fremder Sprache, die er verstüm- liche Schau halten muß. Wir sagen dies fast ungern, da dieser melt wiedergibt und die vielleicht erst lange nach seinem Tode Zusatz einem unleugbaren und höchst merkwürdigen Phänomen auf demselben Flecke wirklich gesprochen werden. Auch unbe- den Stempel des Lächerlichen aufdrückt. – Wir haben den Mün- deutende Begebenheiten muß der Vorschauer unter gleicher sterländer früher furchtsam genannt, dennoch erträgt er den Beängstigung sehen, zum Beispiel einen Erntewagen, der nach eben berührten Verkehr mit der übersinnlichen Welt mit vieler vielleicht zwanzig Jahren auf diesem Hofe umfallen wird; er Ruhe, wie überall seine Furchtsamkeit sich nicht auf passive beschreibt genau die Gestalt und die Kleidung der jetzt noch Zustände erstreckt. Gänzlich abgeneigt, sich ungesetzlichen Hand- ungebornen Dienstboten, die ihn aufzurichten suchen; die Ab- lungen anzuschließen, kommt ihm doch an Mut, ja Hartnäckig- zeichen des Fohlens oder Kalbes, das erschreckt zur Seite springt keit des Duldens für das, was ihm recht scheint, keiner gleich, und in eine jetzt noch nicht vorhandene Lehmgrube fällt, usw. und ein geistreicher Mann verglich dieses Volk einmal mit den Napoleon grollte noch in der Kriegsschule zu Brienne mit sei- Hindus, die, als man ihnen ihre religiösen und bürgerlichen nem beengten Geschicke, als das Volk schon von „silbernen Rei- Rechte schmälern wollte, sich zu vielen Tausenden versammel- tern“ sprach, mit „silbernen Kugeln auf den Köpfen, von denen ten und, auf den Grund gehockt, mit verhüllten Häuptern ein langer schwarzer Pferdeschweif“ flatterte, sowie von wun- standhaft den Hungertod erwarteten. Dieser Vergleich hat sich derlich aufgeputztem Gesindel, was auf „Pferden wie Katzen“ mitunter als sehr treffend erwiesen.

208 209 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Sehen von Geistern

[...] – Müssen wir noch hinzufügen, daß alles bisher Gesagte Nun zuckt er auf – ob ihn geträumt, nur das Landvolk angeht? Ich glaube, nein; Städter sind sich nicht kann er sich dessen entsinnen – ja überall gleich, Kleinstädter wie Großstädter. – Oder, daß ihn fröstelt, fröstelt, ob’s drinnen schäumt alle diese Zustände am Verlöschen sind und nach vierzig wie Fluthen zum Strudel rinnen; Jahren vielleicht wenig mehr davon anzutreffen sein möchte? was ihn geängstet, er weiß es auch: – Auch leider nein, es geht ja überall so! Es war des Mondes giftiger Hauch. (Droste-Hülshoff 1982, S. 356–359) O Fluch der Haide, gleich Ahasver Annette von Droste-Hülshoff bringt diese Phänomene viel- unter’m Nachtgestirne zu kreisen! fach in ihren Balladen zum Ausdruck, so etwa in der Ballade Wenn seiner Strahlen züngelndes Meer „Vorgeschichte“, wo ein Freiherr nachts am Bett seines kranken aufbohret der Seele Schleusen, Sohnes wacht: und der Prophet, ein verzweifelnd Wild, kämpft gegen das mählig steigende Bild. Vorgeschichte (Second sight)

Kennst du die Blassen im Haideland, Im Mantel schaudernd mißt das Parquet mit blonden flächsenen Haaren? der Freiherr die Läng’ und die Breite, Mit Augen so klar wie an Weihers Rand und wo am Boden ein Schimmer steht, die Blitze der Welle fahren? weitaus er beuget zur Seite, O sprich ein Gebet, inbrünstig, ächt, er hat einen Willen und hat eine Kraft, für die Seher der Nacht, das gequälte Geschlecht. die sollen nicht liegen in Blutes Haft.

So klar die Lüfte, am Aether rein Es will ihn krallen, es saugt ihn an, träumt nicht die zarteste Flocke, wo Glanz die Scheiben umgleitet, der Vollmond lagert den blauen Schein doch langsam weichend, Spann’ um Spann’, auf des schlafenden Freiherrn Locke, wie ein wunder Edelhirsch schreitet, hernieder bohrend in kalter Kraft in immer engerem Kreis gehetzt, die Vampyrzunge, des Strahles Schaft. des Lagers Pfosten ergreift er zuletzt.

Der Schläfer stöhnt, ein Traum voll Noth Da steht er keuchend, sinnt und sinnt, scheint seine Sinne zu quälen, die müde Seele zu laben, es zuckt die Wimper, ein leises Roth denkt an sein liebes einziges Kind, will über die Wange sich stehlen; seinen zarten, schwächlichen Knaben, schau, wie er woget und rudert und fährt, ob dessen Leben des Vaters Gebet wie Einer so gegen den Strom sich wehrt. wie eine zitternde Flamme steht.

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Hat er des Kleinen Stammbaum doch Hei! eine Fackel! sie tanzt umher, gestellt an des Lagers Ende, sich neigend, steigend in Bogen, nach dem Abendkusse und Segen noch und nickend, zündend, ein Flammenheer darüber brünstig zu falten die Hände; hat den weiten Estrich umzogen. Im Monde flimmernd das Pergament All’ schwarze Gestalten im Trauerflor zeigt Schild an Schilder, schier ohne End’. die Fackeln schwingen und halten empor.

Rechtsab des eigenen Blutes Gezweig, Und alle gereihet am Mauerrand, die alten freiherrlichen Wappen, der Freiherr kennet sie Alle; drei Rosen im Silberfelde bleich, Der hat ihm so oft die Büchse gespannt, zwei Wölfe schildhaltende Knappen, der pflegte die Ross’ im Stalle, wo Ros’ an Rose sich breitet und blüht, und der so lustig die Flasche leert, wie über’m Fürsten der Baldachin glüht. den hat er siebenzehn Jahre genährt.

Und links der milden Mutter Geschlecht, Nun auch der würdige Kastellan, der Frommen in Grabeszellen, die breite Pleureuse am Hute, wo Pfeil’ an Pfeile, wie im Gefecht, den sieht er langsam schlurfend nahn, durch blaue Lüfte sich schnellen. wie eine gebrochene Ruthe; Der Freiherr seufzt, die Stirn gesenkt, Noch deckt das Pflaster die dürre Hand, und – steht am Fenster, bevor er’s denkt. versengt erst gestern an Heerdes Brand.

Gefangen! gefangen im kalten Stral! Ha, nun das Roß! aus des Stalles Thür, In dem Nebelnetze gefangen! in schwarzem Behang und Flore; Und fest gedrückt an der Scheib’ Oval, O, ist's Achill, das getreue Thier? wie Tropfen am Glase hangen, Oder ist’s seines Knaben Medore? verfallen sein klares Nixenaug’, Er starret, starrt und sieht nun auch, der Haidequal in des Mondes Hauch. wie es hinkt, vernagelt nach altem Brauch.

Welch ein Gewimmel! – er muß es sehn, Entlang der Mauer das Musikchor, ein Gemurmel! – er muß es hören, in Krepp gehüllt die Posaunen, wie eine Säule, so muß er stehn, haucht prüfend leise Cadenzen hervor, kann er sich nicht regen noch kehren. wie träumende Winde raunen; Es summt im Hofe ein dunkler Hauf, Dann Alles still. O Angst! o Qual! und einzelne Laute dringen hinauf. Es tritt der Sarg aus des Schlosses Portal.

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Wie prahlen die Wappen, farbig grell Bei Horst finden wir nun einige Beispiele, in denen die Grenz- am schwarzen Sammet der Decke. linie zwischen Zweitem Gesicht und Traum so fein gezeich- Ha! Ros’ an Rose, der Todesquell net ist, daß dort von den Träumen oder Gesichten des Dr. hat gespritzet blutige Flecke! Heinrich Lysius die Rede ist (vgl. Kap. V.5). Lysius selbst Der Freiherr klammert das Gitter an: spricht von einem „Traumgesicht“, als er einmal, in einen „Die andere Seite!“ stöhnet er dann. Gewissenskonflikt verwickelt, ob er der Theologie treu bleiben sollte, diverse Kirchen sah: Da langsam wenden die Träger, blank Nach Vorstellung der Löbenicht’schen Kirche sah ich auch in mit dem Monde die Schilder kosen. eben dem Traumgesichte, wie aus gedachter Kirche ein kleiner „O“, seufzt der Freiherr – „Gott sey Dank! Mann an eine Kirche gesandt wurde, die hinter der andern, Kein Pfeil, kein Pfeil, nur Rosen!“ mir im Gesicht gezeigten Kirche lag, welches ich nachmals Dann hat er die Lampe still entfacht, ebenfalls genau erfüllt erkannte usw. und schreibt sein Testament in der Nacht. (Horst 1830, Bd. 1, S. 192) (Droste-Hülshoff 1985–1993ff. 7) Der aus einer im Geistersehen sehr begabten Familie stam- In einem anderem Zusammenhang (Kap. III. 14) werden wir mende Heinrich Lysius berichtet folgenden Vorfall: noch die Ballade „Das Fräulein von Rodenschild“ hören, eben- falls ein Zweites Gesicht, das die Dichterin einst selbst erlebt Als ich einst im Jahr 1696 [die Jahreszahl erscheint unstimmig, hat. vgl. Kap. V.5] gegen Ende des Winters zu Tische kam, sagte meine dritte Schwester: Die Ähnlichkeit des Zweiten Gesichts, das häufig im Wahr- „Eine gewisse, uns Allen wohl bekannte ehrbare Frau, welche nehmen und Deuten symbolischer Bilder besteht, mit den Bild- in unserem Hause oft aus= und einging, habe ihr mit großer eindrücken in Träumen liegt auf der Hand, wenigstens mit den Theilnahme so eben mündlich eröffnet: sie wäre gewohnt und symbolischen Träumen. hätte die Gabe, künftige Dinge deutlich in Gesichten zum Voraus zu sehen, und hätte also, Kraft dieses ihr beiwohnen- Der symbolische Traum ist überhaupt seinem inneren Wesen den Vermögens, im Geist gesehen, daß in kurzer Zeit – sieben und Grundcharakter nach nahe verwandt, oder vielleicht eins Leichen aus unserem Hause würden heraus getragen werden. und dasselbe mit dem anderen Gesicht. Und wenn dieselben würden heraus getragen seyn, so würde einige Zeit darauf eine – Braut ins Haus hinein kommen.“ (Horst 1830, Bd. 2, S. 77f.) (Horst 1830, Bd. 1, S. 199) Jean Paul (s. Kap. I.21) nennt es einen „Bund des Traumes mit dem Wachen“, wenn ein Traum wahr wird8. Im Anschluß an diese Botschaft der Seherin erinnerte die betreffende Schwester ihren Bruder noch an die Worte ihrer

214 215 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Sehen von Geistern ebenfalls seherisch begabten Mutter, die diese beim Einzug in müsse, zu Folge deren er unter gewissen Umständen von das neue Haus ausgesprochen hatte: „Hier lasset Alle uns nie- äußerlichen symbolisch=schöpferischen Intuitionen und Gesich- derlegen und sterben!“ Heinrich Lysius deutete das allerdings ten afficirt werden, und so auf divinatorische Weise Zukünf- nicht als einen Orakelspruch, da sie sich alle noch recht jung tiges in der Gegenwart anticipiren könne. 9 und munter fühlten (Horst 1830 ). „Doch noch im selben Jahr (Horst 1830, Bd. 1, S. 212f.). starben sieben Personen.“ „Und so war denn“, schließt Horst das Kapitel über Lysius ab, „das wunder= seltsame Gesicht nach Hören wir nun noch drei Geschichten vom Zweiten Gesicht seinem ganzen Inhalt, bis auf die Braut [einschließlich der Braut], aus dem Nachlaß des Dichters Theodor Storm: die in’s Haus kommen würde, wann die sieben Leichen heraus 10 getragen wären, buchstäblich genau erfüllt“ (Horst 1830 ). Die Das kranke Kind sieben Leichen waren alle diejenigen, die in eben dem Augen- blick, als die Mutter die schicksalsträchtigen Worte sprach, Der kleine Ferdinand, Sohn des Kaufmanns M., litt an star- anwesend waren. Lysius selbst „suchte sich eine brave Jungfrau kem Schnupfen, und klagte dabei über etwas Schmerz im zur Braut aus“, nachdem seine Familie nun so arg reduziert war, Halse; ängstlich fragte die Mutter den Vater, ob sie ihn nicht doch „mehr in Todes= als in Freiersgedanken“ (Horst 1830 11). lieber zu einem Arzt schicken solle. – Mach dich doch nicht lächerlich, sagte der Mann, solche Jun- Horst, der insgesamt drei Klassen des anderen Gesichts gens können sich wohl einmal erkälten, wenn man darum gleich unterscheidet (Horst 1830 12), gelangt in seinem historisch-kriti- den Arzt holen wollte, da hätte man was zu tun. Muttersorge schen Werk über das Zweite Gesicht zu dem Fazit: war indes nicht so leicht zur Ruhe gesprochen; sie schickte ins Geheim zu einem alten Freunde ihres Mannes, der in seiner Ist nun aber „Ein“ Beispiel von Deuteroskopie als evident Jugend Medizin studiert hatte, und ließ ihn bitten, wie von und unzweifelbar bewiesen, so ist damit die Möglichkeit und ohngefähr bei ihnen vorbeizukommen; ihr Ferdinand sei so Wirklichkeit der Sache überhaupt an sich dargethan. Denn sehr erkältet, und der Vater wolle noch nicht gern zum Arzt was Ein Mal ist, oder statt haben kann, kann unendlich oft schicken. seyn oder statt finden. G. kam und ging deswegen in die bekannte Kinderstube, wo Da ich nun die zum schottischen second sight hier angeführ- er die Mutter traf, aber nicht den Knaben; Na! sagte er, als er ten Parallelen weder physisch=pneumatologisch, noch patho- sich vergebens nach ihm umgesehen, wo haben wir denn unsern logisch auf eine genügende Art zu erklären vermag, ihre Kranken? Doch nicht auf der Straße? O nein! Lieber Herr G., historische Wahrheit und Glaubwürdigkeit aber aus kritischen sagte Madame M., er liegt oben auf dem Sopha! Damit meinte Gründen annehmen muß: so bleibt mir in der That nichts sie die Wohnstube, zu welcher einige Treppen aus der Kinder- übrig, als zu glauben, daß im menschlichen Geist selbst eine stube hinauf gingen. So wie sie sprach, ging er zur Treppe, wie gewisse geheime intellectuelle, oder magische, oder sympa- er aber den Fuß auf die erste Stufe setzen wollte, trat er erschreckt thetisch=magnetisch=mantische Anlage oder Fähigkeit, oder zurück und an die Seite, hielt auch die Frau dahin zurück, die Kraft, oder welches andere Wort hier das rechte ist, liegen ihn fragend ansah, und über seine Blässe erschrak.

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Was ist Ihnen? sagte sie. Er stotterte einige unverständliche Küche gehe, und die Hoftür aufmache, kommt mir plötzlich Entschuldigungen, und ging hinauf, sagte auch so gleichgültig, euer Mietsmann entgegen, eingehüllt in ein Leichentuch, schrei- wie ihm möglich war, man habe doch wohl besser einen Arzt tet still an mir vorbei und geht in seine Kammer. Drei Tage zu fragen, da er einiges Fieber verspüre. – Ach bester Herr G.! drauf war der Mietsmann tot und die Leiche stand in derselben Es hat doch keine Gefahr? fragte die Mutter. – Bewahre! Kammer, wohinein mein Onkel die Erscheinung hatte gehen Bewahre! Es ist nur zur Beruhigung, antwortete G. – Acht Tage sehen. darauf kam dieser leise ins Haus, und ging ebenso leise nach (Storm 1991, Nr. 24, aufgeschrieben von Constanze Storm, der Kinderstube. Als er die Treppe hinauf gehen wollte, kam der Frau Theodor Storms, nach einer Erzählung von Frl. D.) man ihm mit der Leiche des kleinen F. entgegen, gerade wie er es damals gesehen, als er zurücktrat, und die Frau auch Das Gesicht des Nachtwächters zurückhielt. – Dicht hinter ihm stand die weinende Mutter. – In dem Städtchen O... hatte sich eines Nachts im Herbste, (Storm 1991, Nr. 23, erzählt von der Rendsburger Leihbüche- als der Wind gar zu kalt durch die Gassen fegte, der Nacht- reibesitzerin Doris Stamp) wächter in ein leer stehendes Schilderhaus geflüchtet und war dort sanft entschlummert. Grade gegenüber wohnten dicht Ein anderes Zweites Gesicht neben einander zwei Ärzte. Der Nachtwächter mochte eine Zeitlang geschlafen haben, als es ihm vorkam, er höre den Bei meinen Eltern, so erzählte mir unsere Dienstmagd, Gesang eines Totenliedes, womit der Küster und seine Schule pflegte in der Dämmerstunde nach beendigter Arbeit oft mein bei Begräbnissen den Leichenzug zu begleiten pflegte. Er hörte Onkel zu kommen um ein wenig zu plaudern; er hatte weder es anfangs halb im Traum, dann aber immer deutlicher, und Frau noch Kind und auf diese Stunde freute er sich den gan- als er endlich die Augen öffnete und vor sich nach den beiden zen Tag. Eines Abends, nachdem er wieder ein Stündchen bei vor ihm liegenden Häusern hinüberblickte, sah er aus jeder uns verplaudert, nahm er seine Mütze, fragte meinen Vater, Haustür einen Leichenzug mit großem Gefolge herauskom- ob die Hoftür offen sei und ging. Es währte aber nur einige men. Er erkannte fast alle Personen des Gefolges, und sah die Minuten, so kam er wieder zurück, legte seine Mütze auf den Stadtschule dabeistehen und fortwährend den ihm wohlbe- Tisch und setzte sich. Mein Vater sah ihn erstaunt an, und fragte kannten Choral absingen. Der Nachtwächter, der im Gesang- nach der Ursache seines Benehmens. O! Es ist nichts, sagte er buch wohl bewandert war und alle Melodien inne hatte, auch zerstreut, aber – ihr werdet bald eine Leiche im Hause haben. jeden Sonntag Morgens und Nachmittags in der Kirche ein Drauf entfernte er sich. – Als er den anderen Abend zur gewaltiger Sänger war, konnte der Versuchung nicht wider- gewöhnlichen Stunde sich wieder einfand, umringten wir stehen, er stimmte mit ein, und begleitete mit lauter Stimme den Kinder ihn neugierig und fragten, was er denn gestern Abend Gesang bis zu Ende aus. Darüber wurden die anwohnenden schon wieder gehabt. Ja, sagte er, heute Abend darf ich’s Euch Bürger aus dem Schlafe und aus den Betten geschreckt, rissen wohl sagen; hätte ich’s aber gestern gesagt, würde ich die ganze die Fenster auf und blickten auf die Straße hinab. Da sie aber Nacht kein Auge zugetan haben. Als ich gestern so durch die nicht, wie der Nachtwächter, die Leichenzüge sahen und den

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Gesang der Schule hören konnten, so mußten sie natürlich sehr hatten, darunter auch ein Vorgesicht oder Zweites Gesicht. Die erstaunt sein, die wohlbekannte Stimme ihres Nachtwächters aus Nettelstedter Großmutter kann ich heute leider nicht mehr dem Schilderhause mit lautem andächtigen Vortrage einen Lei- danach fragen – sie ist schon vor vielen Jahren verstorben –, chengesang singen zu hören. – Indes war das Lied zu Ende, die doch in dem Gedichtband Dat lüttje Dorp – gemeint ist Nettel- Fenster wurden zugeklappt, die beunruhigten Bürger und ihr stedt – ist eine Ballade von Martin Simon enthalten, die er nach treuer Nachtwächter schliefen glücklich wieder ein. Auskunft seiner Witwe Emmi Simon zwischen 1934 und 1936 verfaßt haben muß. Das Gedicht spielt in dem Husen, einem Die Sache war jedoch zu Vielen bekannt geworden, und Ortsteil von Nettelstedt: die Polizei hielt es für nötig, den Nachtwächter wegen seines frommen Gesanges in Verhör zu nehmen; dieser zog es nun Der Spökenkieker freilich vor, der hohen Behörde über seine Beweggründe keine Ballade von Martin Simon näheren Erläuterungen mitzuteilen; erzählte dagegen allen andern die Geschichte desto bereitwilliger, daß sie gar bald in Jan Poll, der war bei Grothues Knecht, Jedermanns Ohren war. – Kaum waren die vier Wochen ver- vor Jahren, als dem Hillebrecht gangen, so starben wenige Tage nacheinander die beiden Ärzte, vom Husen dreizehn Rinder und aus den Häusern kamen die Leichenzüge mit Gefolge und im Moor versoffen. Gott, die Zeit! Gesang, wie der Nachtwächter es im Spiegel des Gesichtes Das ist bald eine Ewigkeit. gesehen hatte. Wir waren damals Kinder. (Storm 1991, Nr. 41, erzählt von Frl. Ch. Sch., aufgeschrie- ben von Storm selbst) Der Knecht, der schaffte wie ein Pferd. Jungens, der war drei Knechte wert! Kehren wir zum Schluß zurück nach Westfalen, in das Land Sein Bauer durfte lachen. der „tiefsinnigen Zaubersprüche“: Ich erinnere mich noch gut, Stark war der Kerl. Jan nahm den Stier wie wir einmal in den 1970er Jahren im familiären Kreis in dem so bei den Hörnern zum Plaisier. westfälischen Dorf Nettelstedt eines Abends beim Kaminfeuer Das Vieh konnt nichts mehr machen. zusammensaßen und eine der beiden Großmütter, die in ihrer traditionellen Tracht und mit ihrem schön geflochtenen weißen Jan trank auch nicht. Er war gewohnt, Haar ein Bild längst vergangener Zeiten war, anfing, „Spök- daß man das Geld im Beutel schont, geschichten“ zu erzählen, natürlich auf Plattdeutsch. Sie sprach sein Strumpf war voll von Scheinen. mit todernster Miene, und ich spüre noch, als wäre es heute, Nur wenn in Blasheim Viehmarkt war, die feierliche, aber doch unheimliche und schicksalsgeladene – Ihr wißt, das ist einmal im Jahr! – Stimmung, die uns umgab. Es waren keine erdachten Geschich- dann nahm er sich wohl einen. ten, sondern Ereignisse, die sich in ihrer Umgebung abgespielt

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Doch eine schwere Lebenslast, Schwer öffnet Jan die Niendür. die trug er, dreißig Jahre fast, Ihn friert, als ob ihn wer anrühr. der Knecht, von Gott beladen. Rings von den frischen Balken Jan sah sie sterben, eh der Tod des Fachwerks starrt es kühl und karg, den Menschen sich zur Speise bot. vom Flett ab steht der Eichensarg Jan war wie ohne Gnaden. unter dem siebenten Balken.

Und das geschah, wenn alles schlief. Wer ist’s, der da im Sarge ruht? Wenn ihn die dunkle Stimme rief, Der Knecht stiert hin. Ihm stockt das Blut. vom Bett sich zu erheben, Er kann ihn nicht erkennen. ging draußen stumm der Leichenzug. Jan sinnt und sinnt. Jan weiß es nicht. Er sah, wen man zu Grabe trug, Über dem bleichen Angesicht und kennt ihn noch im Leben. die weißen Haare brennen.

Im Dorfe die Bauern wagten nicht Da zieht der Knecht, wie in Gefahr, zu fragen nach dem Vorgesicht. traumschwer sein Messer, und vom Haar Das war, als ob er Tore über den toten Augen verriegle, die ein Graun betrat. trennt er drei Büschel. Jan, o Jan, Er wühlte dann von früh bis spät, will dir der unbekannte Mann stach meistens Torf im Moore. das Blut vom Herzen saugen?

Da, einmal, kommt er abends spät Jäh lischt der Spuk. Im Stalle frißt – das ganze Dorf ist schon zu Bett – und scharrt das Vieh. Jan lauscht, es ist vom Viehmarkt. In der Ferne die Stute mit dem Fohlen. hockt zaubrisch, tief am Bergesfuß, Warm von den Raufen strömt es her. ein Kiepenkerl, der alte Klus. Jan tappt zu seiner Kammer schwer. Die Nacht ist ohne Sterne. Wen will der Dunkle holen?

Der Knecht erschrickt. Auf Grothues Deel Jan Poll schläft dumpf und träumelos. flammt noch ein Licht. Gott gnad der Seel! Doch immer wieder aus dem Schoß Wem mag das Licht gedeihen? der Nächte blühn die Stunden Es ist schon weit nach Mitternacht, des Lichts. Kaum kräht im Dorf ein Hahn, da hält man sonst nur Totenwacht. da zieht der Knecht die Hosen an. Vom First die Käuze schreien. Sein Kopf dröhnt wie zerschunden.

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Er taucht ins Wasser, das wie Eis, O aller Dinge Herregott, die Stirn. Mein Gott! Was wirst du weiß, der aus dir vorgeschaut den Tod, Jan Poll, und starrst zum Spiegel? wollest ihn gnädig halten, Wer schnitt dir vorn ins weiße Haar, genaden ihm die schwere Seel! das gestern noch ganz dunkel war, Jan Poll lag abends auf der Deel sein stummes Totensiegel? unter dem siebten Balken. (Ballade aus den Jahren 1934– 36; Wilde 1989, S. 37f.) Aufschreit der Knecht mit irrem Laut. Dem Seher vor sich selber graut. Martin Simon (1909 –1942), der aus Wuppertal stammende Vor Gott kann niemand bleiben. Dichter dieser Ballade, lebte später selbst in Nettelstedt. Nach Ob ihn der Bauer auch beschwört, seinem Germanistik- und Musikstudium wurde er Lehrer und Jan keines seiner Worte hört. freier Schriftsteller. Für seine Werke verwandte er dokumenta- Vom Hof muß es ihn treiben. risches Material und schöpfte dabei häufig aus Adelsarchiven. Martin Simon fiel 1942 als Soldat in Rußland. Nun flieht Jan Poll, der starke Jan, Welche Fakten verbergen sich hinter dem Gedicht vom vor Gott und seinem Sensemann Spökenkieker? Einen Knecht namens Jan Poll gab es nicht, so ins Nachbardorf. Verschlossen viel ist sicher. Doch die Familie Grothues bzw. Grothe lebte und grau wie Stein ist Jan, der Knecht. bis zum Zweiten Weltkrieg tatsächlich in Nettelstedt, auf dem Er schafft für dreie recht und schlecht. Sieben Wochen sind verflossen.

Da fährt er morgens in die Stadt. Bauholz der Knecht geladen hat. Graudunstig hängt der Himmel. Den Brink hinauf hat Jan viel Müh, hinunter aber jagen sie, die beiden Apfelschimmel.

Weiß Gott! Bei Grothues Schoppen bricht ein Rad. Den Knecht schiebt das Gewicht des Holzes zwischen Wagen und Pferd. Er stürzt. Ein dumpfer Schrei! Die Nachbarn eilen rings herbei. Ins Haus Jan Poll sie tragen. Blick in den Dübelsmühlensiek vom Hünenbrink aus, 1934.

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Mühlenhof bei einem Steilabhang des Wiehengebirges, und Knechte hatten sie natürlich auch. Die Grothues waren Bauern und Müller, hat- ten eine Ölmühle, die heute noch steht. Aber sie waren auch drei Ge- nerationen lang gefragte Heilpraktiker in dieser Gegend – man kam von weit her mit der Kutsche zur Behandlung angereist, sogar von Bremen (Wilde 2000). Überhaupt galten damals Müller und deren Knechte häufig als Men- Blick in das Wiehengebirge: Dübelsmüh- schen, die mit dem Teu- lensiek, oberhalb von Grothues’ Mühle. H. Richter: „Up de Burstie“, am Hang des Wiehengebirges in Nettelstedt. fel im Bunde waren, und das galt ferner auch für Personen, die einfach nur die Einsam- keit suchten, so wie etwa Schäfer (Brief von Hanna Wilde an Annekatrin Puhle vom 26.10.2000). Doch wer war nun Jan Poll? Martin Simons Frau, Emmi Simon, die heute in Lemgo lebt, konnte mir den wirklichen Namen des Knechtes nicht sagen, wohl aber, daß die Ballade generell auf Tatsachen beruhe. Bei einem Besuch bei der Bäue- rin, Webmeisterin und Dichterin Elisabeth Vieker aus Hartum, die heute im benachbarten Nettelstedt lebt, hörte ich Martin Simons Ballade vom Spökenkieker einmal sehr eindrucksvoll aus ihrem Mund und erhielt von ihr selbst die Bestätigung, daß dieses Gedicht vollkommen auf Tatsachen beruhe. Doch leider könne sie keinen Namen nennen, bedauerte Frau Vieker – schwebt vielleicht immer noch ein leises Tabu um die Namens- nennung eines Geistersehers? Schäfer aus Nettelstedt Schäfer mit dem Zweiten Gesicht (1896- 1960). (ca. 1870- 1940), Nettelstedt.

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Aus der an späterer Stelle erwähnten Spukgeschichten-Samm- Von meinem Vater hörte ich auch so eine Geschichte. Mein lung von 1938 aus der Nettelstedter Gemeindeschule (s. Kap. III. Urgroßvater, der damals in der Landwehr wohnte, wollte des 17 und 26) werden hier als kleiner Vorgeschmack vier Geschich- abends noch ins Dorf mit seinem Freunde. Als sie so mitten ten vorweggenommen, da sie vom Zweiten Gesicht berichten. im Felde waren, geht sein Freund an die Seite und sagte: Die ersten beiden davon gehören in den Zusammenhang mit der „Komm hier hin“. Als er erst nicht wollte, riß er ihn an die Ballade vom Spökenkieker. Erwin Mörschler erzählt: Seite. Der Freund nahm die Mütze ab, und er nahm sie auch ab. Nach ein paar Tagen ist da ein Leichenzug hergekommen. Ein Mann kam eines Abends die Diele hinauf, da sah er in Also muß sein Freund doch vorher schon den Leichenzug der Mitte einen Sarg stehen. Halt, denkt er, den willst du doch gesehen haben. kennen und schnitt dem Toten ein Topp Haare ab. Als er am andern Morgen sich kämmen will, fehlten ihm die Haare. (Gnade 1964, S. 108) Kurz danach lag er auch im Sarge, auf derselben Stelle, wo er den Toten gesehen hatte. Also hatte er sich selbst im Grabe Ein weiteres Vorgesicht wird von Elfriede Schütte berichtet: gesehen. Das Vorgesicht von einer neuen Eisenbahn (Gnade 1964, S. 108) Diese Geschichte hat mir meine Großmutter erzählt. Mein Urgroßvater war in Lübbecke Tischler. Er mußte den Weg Die zweite Geschichte wurde von Frieda Lange aufgeschrie- von Lübbecke jeden abend zu Fuß nach Nettelstedt machen. ben: Nun war er eines Abends im Eilhauser-Felde auf dem Wege Das zweite Gesicht nach Hause. Mit einem Male hörte er das Getöse eines Zuges. Meine Mutter erzählte mir folgende Sage. Ein junger Mann Er dachte nun, du kannst hier doch keinen Zug hören, denn kam abends spät nach Hause. Wie er auf die Dele kommt, hier in der ganzen Gegend ist ja keine Eisenbahn. Mit ein- sieht er einen Sarg vor sich stehen. Er denkt, wer kann das mal sieht er nach dem Berg, und in der Nähe der Hochspan- wohl sein, nimmt die Schere und schneidet dem Mann ein nung, etwas hinter Östreichs sah er deutlich eine Eisenbahn Topp Haare ab. Als er sich am folgenden Morgen im Spiegel fahren. Er sah die einzelnen Wagen und auch Lichter in den besieht, hat er sich selbst ein Topp Haare abgeschnitten. Er Wagen. Auch eine Frau Möhlmann hat an demselben Abend denkt, aus diesem Hause willst du nicht begraben werden und die Eisenbahn bei Pohlmanns Busch gesehen. [Pohlmanns geht nach Amerika. Als er einmal zu Besuch nach Hause Busch, heute Siedlung, lag unterhalb des Berges etwa 200 kommt, stirbt er und wird aus dem Hause begraben, wo er Meter östlich von Östreich; die Bahn fuhr dann später dort den Sarg gesehen hat. Diese Sage stammt aus Nettelstedt. tatsächlich] (Gnade 1964, S. 109) (Gnade 1964, S. 108)

Das Zweite Gesicht oder das andere Gesicht ist kein Kapitel In dieselbe Kategorie des Zweiten Gesichtes gehört die näch- der Vergangenheit, es gehört nicht in eine andere Zeit. Es lebt ste Episode aus Nettelstedt (ohne Namensangabe):

228 229 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Hören von Geistern weiter und treibt nach wie vor sein Spiel mit uns. Es taucht Doch erst zur rechten Zeit uns in andere Zeiten ein und ist doch gleichzeitig in der Gegen- ist alles bereit, wart da. Es schaut in die Zukunft und ist trotzdem ganz nah. zu entlarven Lassen wir unsere Gedanken beflügeln von der Poesie des pflan- das Alltagskleid. zenkundigen Dichters Jürgen Trott-Tschepe (s. a. die Poesien (Jürgen Trott-Tschepe, Duftpoesie, Februar 2003) Kap. III.27), den der Duft der Litsea-Beere (Litsea cubeba) in die Geheimnisse dieses anderen Gesichtes eingeweiht hat:

Litsea-Beere (Litsea cubeba) II.3 Das andere Gesicht DAS HÖREN VON GEISTERN Ich bin dein anderes Gesicht,  anderes Gesicht, Gesicht; weißt du von mir? du kennst mich nicht, Und nun erkennt ein Geister-Meister Stück! mich nicht? So wie sie wandeln machen sie Musick. Aus luftgen Tönen quillt ein Weisnichtwie, Ich treibe Maskenspiel, Indem sie ziehn wird alles Melodie. Mummenschanz, (Goethe, Faust II, 1. Akt, Kaiserliche Pfalz, Rittersaal, Hexentanz; 6443ff., Astrolog) in solchen Maskeraden ahnst nur im Traume  eher Nutzen denn Schaden. Geister können sich nicht nur sehen lassen – ab und zu las- Ich bin die Larve der Gegenwart, sen sie sich gerne auch einmal hören (s.a. Kap. VIII.4). Dies tun in der sich das Morgen schon regt, sie traditionellerweise am liebsten mit Klopfen und Pochen, in die Zukunft dein Heute bewegt, späteren Jahrhunderten immer energischer mit Poltern und Lär- tief im Geiste men. Zuständig für diesen akustischen Bereich sind die Klopf- deiner Erinnerung harrt. und Poltergeister (s. Kap. III.21, 24; vgl. Puhle 2001b, 2001c). Auf ihrem Repertoire stehen auch sogenannte Mimikry-Geräu- Im andern Gesicht kommt dir ein Licht sche, das Imitieren von Geräuschen verschiedenster Art, von von zeitlosem Wesen, Menschen wie von Tieren. Es hört sich etwa an, als würfe man darin magst du lesen, mit Sand oder Kies, als ginge jemand auf Socken oder schlürfe was als Schmetterling du weißt. mit Pantoffeln, als rollte man mit einer Kugel, als raschele man

230 231 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Hören von Geistern mit Papier usw. usf. (Kerner 1892, S. 256, S. 271). Das akusti- nahe dabey gelegenen Dörfgen, Kleinroda genannt, begraben sche Auftreten von Geistern stiftet nicht weniger Verwirrung wurden. Wenn nun bei einem Klosterbegräbnis, eine Leichen- und Verwunderung als eine echte, d. h. als Bild wahrgenom- predigt oder Sermon gehalten wurde; so mußte der Pfarrer zu mene, visuelle, eine er-scheinende Geistererscheinung. Wie im Dondorf solche in unserer Schulstube verrichten. Es wurde vorausgehenden Abschnitt schon angedeutet wurde, gibt es in unsre Schultafel von ihrer ordentlichen Stelle der Stubenthür Westfalen auch eine Art Zweites Gehör, sozusagen ein Vor- gegenüber gerücket, mit einem schwarzen Tuche und wieder mit gehör: Der dumpfe Hammerschlag auf den Sargdeckel und das einem weisen bedecket, ein besonderes Pult in die Mitte der Rollen des Leichenwagens verkünden dem „Hörer“ unmißver- Tafel darauf gesetzet, so auch mit einem schwarzen Tuche ständlich ein in der Regel bevorstehendes schicksalhaftes Ereig- bedecket wurde, hinter welches der Pfarrer trat, wenn er die nis (vgl. Kap. VIII. 9). Leichenpredigt oder den Sermon hielte. Auch wurde unser Spei- setisch, der auch mit in der Schulstube stund, in einen Winckel Und trügt mich nicht, was ich an ihm bemerkt; geschoben, damit die Leichenbegleiter Platz hatten und sich auf So weiß er mehr, als andre Menschen wissen. die dem Pfarrer gegen über gestellten Stühle und Bänke setzen Sein ungetrübtes freies Auge schaut konnten. So oft nun jemand auf dem Kloster oder in dem Die Ferne klar, die uns im Nebel liegt. benannten Dörfgen, der mit einer Leichenpredigt oder Sermon Die Melodie des Schicksals, die um uns begraben werden sollte starb, geschahe uns in der Klosterschule In tausend Kreisen klingend sich bewegt, wohnenden, entweder in der Nacht, in welcher der Verstorbene Vernimmt sein Ohr; und wir erhaschen kaum abgeschieden war, oder wenn er am Tage gestorben war, in der Nur abgebrochne Töne hier und da. darauf folgenden Nacht allezeit folgende Anzeige. Es verrich- tete in der Nacht gemeiniglich zwischen 11 und 12 Uhr alle die (Goethe, Erwin und Elmire 13) Handlungen, die am Tage des Begräbnisses in der Schulstube zur Vorbereitung auf die Leichenrede angestellet wurden, es Wie phantasievoll sich Geister auf akustischem Weg bemerk- ruckte die Tafel, schob den Speisetisch, setzte die Bänke und bar machen können, zeigt die im Jahr 1779 von M. Johann Stühle, schlug die Schulstubenthür auf und zu, kam die Treppe Christoph Jonas Schwarze mitgeteilte eigene Begegnung mit wie wir Knaben herauf, wenn wir unsere Schulbücher von der einem solchen nächtlichen Besucher: Tafel herauf in unsere Zellen trugen und machte ein Getrapple Ich habe in den Jahren 1736 bis 1741. fast 5. Jahr, auf der im Hause, der Stube und auf der Treppe. Der Rektor, (welcher Bergschule zu Kloster=Dondorf studiret. Wir hatten damals damahls Seibich hieß) wohnete gerade über der Schulstube noch keine Kirche auf dem Kloster, sondern mußten unsern mit seinem Famulus (denn er war zu der Zeit noch nicht ver- Gottesdienst in der Dorfkirche zu Dondorf, welches eine heyrathet) hörete nicht nur diesem Lärm, sondern auch wir starke viertel Stunde unter dem Berge in dem reizenden zwölf Knaben in unsern 6. Zellen konnten solchen deutlich Thale der sogenannten güldenen Aue lag, abwarten. Doch hören. Unten im Hause der Schulstube gegen über wohneten hatten die Klostereinwohner einen eigenen Gottesacker, auf ein paar alte 70. jährige Eheleute, die das Einheitzen, Betten welchen ihre Toden, wie auch die Verstorbenen aus einem und Reinigen unserer Schulwohnung verrichten musten, und

232 233 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Hören von Geistern sonst niemand mehr. Ich und ein anderer Knabe mit Namen hätte, daß jemand auf dem Kloster krank gewesen wäre. Nach- Eißfeld, der vor einigen Jahren als Diakonus in Schloß Held- mittage desselben Tages, wurde es uns durch den Totengräber, rungen verstorben ist, bewohneten die erstere Zelle. Einstmals der es allezeit auf der Schule anzeigen muste, gemeldet, daß in begab es sich, daß, als es eine Zeitlang des Nachts, in der Schul- Kleinroda der Musicante N. (ich habe den Namen vergessen, stube, den vorbeschriebenen Lärm gemacht hatte, ich und mein weil es etliche 30 Jahre sind, da er verstorben ist,) in der abge- bekannter Zellgeselle höreten, daß etwas auf dem Saale herge- wichenen Nacht gestorben sey. Ich und Eißfeld waren nun beyde schlurfet kam. Er eröfnete unsere Zelle. Wir meinten es wäre musikalisch, und wir machten beide in der Kirche zu Dondorf der Rektor, der visitiren wolte; doch weil er, wie gewöhnlich, mit diesem Musikanten die Musik, besonders spielte Eißfeld mit kein Licht bey sich hatte, ruften wir beyde, wer da? – keine solchem die Violine. Antwort – sondern es schlurfte wie jemand der in Latschen Und wie wollen Sie denn nun, mein lieber Herr Hofrath! gehet vor unsern Betten vorbey. Wir wiederholten das Wer da? dieses Ereignis natürlichen Ursachen beymessen. Die Geschichte Statt der Antwort wurde Eißfelds Violine, die an der Wand ganz hat ihre vollkommene Richtigkeit, ich habe sie nicht erst jetzo frey hieng, dreymal nach einander, auf allen vier Saiten, als, erdichten können, sondern Ihnen solche, wie ich glaube, wohl daß sie von der Quinte nach einander ihren ordentlichen Ton vor zwanzig Jahren, nach allen angezeigten Umständen schon angaben, berühret oder geschnippet, wie es die Violin=Spieler erzehlet, wenn wir in unsern Unterredungen auf diese Materie machen, wenn sie stimmen wollen. Wir meinten des Rektors gekommen sind. Alle die mit mir zu gleicher Zeit auf dieser Famulus, welcher Quenzel hieß, habe den Capitalschlüssel Klosterschule studiret haben, oder auch nach der Zeit, ehe die genommen, und wolte uns zu fürchten machen, und fiengen an Kirche gebauet worden, auf solcher gewesen sind, werden diese zu schimpfen. Es gieng darauf wieder zur Zelle hinaus, schlug Anzeigungen bezeugen müssen. Die alten Eheleute die unten in die Thüre derb zu, begab sich wieder die Treppe hinunter, lärm- dem Schulhause wohneten, konnten die würkende Ursache nicht te noch einmal in der Schulstube und dann war es stille. Unsere seyn, was hätten sie vor Absichten dabey gehabt? wie konnten Nachbarn in der zweyten Zelle, hatten unser Rufen, auch das sie allezeit vorher wissen, wer an diesem Tage, oder in dieser Berühren der Violine und das Auf= und Zumachen unserer Nacht sterben würde, von den Kloster oder Dorfeinwohnern, Zellthür gehöret, und fragten uns sogleich in der Nacht (denn die auf den Kloster Gottesacker, und zwar mit einer Predigt wir konnten wegen einer dünnen Blechwand mit einander oder Sermone begraben wurden? Denn bey solchen Leichen reden,) was es in unserer Zelle gegeben hätte? Und wir erzehl- die blos mit dem Segen begraben wurden, und wo man nicht ten ihnen die ganze Begebenheit. Als wir des Morgens in die in die Schul kam, als kleine Kinder, oder sehr arme Leute, Lektion kamen, sagte der Rektor: Kinder, habet ihr diese Nacht geschahe die nächtliche Anzeigung in der Schule nicht. Auch kei- das Lärmen gehöret, wir bekommen eine Leiche. Wir erzählten ner von den Knaben deren ordentlich nur zwölfe von vierzehn ihm unsere besondere Begebenheit in der Zelle, und wie wir den bis siebenzehn, höchstens achtzehn Jahren alt waren, konnten Famulus in Verdacht, uns zu foppen, gehabt hätten. Er ver- diesen Betrug spielen, aus einerley Grunde des nicht Vorherwis- sicherte: daß solcher nicht aus seiner Schlafkammer gekommen sens, und weil die meisten, überdies, sehr furchtsam waren. Die sey, und daß er mit solchen, währenden Lärmen darüber gespro- Schule wurde des Nachts wohl verschlossen. chen, wer doch gestorben seyn möchte, da man nicht gehöret

234 235 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Hören von Geistern

Und wie läßt sich der Vorfall mit der Violine erklären? Gern Das Gelächter möcht ich meinem werthesten Gönner sich herauszuwickeln Ein alter Dorfprediger im Herzogtum H... saß eines Winter- Vorschub leisten. abends nach dem Vesperbrode mit seiner ebenso betagten Ehe- Es ist wahr! ganze Heerden von Ratten und Mäusen waren frau im traulichen Gespräche, das sich um den Besuch ihres in unsern Zellen des Nachts und bey Tage unsere Mitgesel- einzigen Sohnes drehte. Dieser hatte erst vor Kurzem ein junges len; aber die Violine hieng an der Wand, frey, damit die Mädchen aus einer entfernten Stadt geheiratet und wollte nun Ratten und Mäuse die Saiten nicht zerbeisen und berühren zum ersten Male die junge Frau seinen bejahrten Eltern vor- konnten. Wir waren auch in der Schulwohnung in allen stellen, welche wegen der Entfernung und ihres hohen Alters Stuben, Kammern und Zellen mit schwarzen Kornwürmern bei der Hochzeit selbst nicht hatten gegenwärtig sein können. – geplagt, die an allen Wänden, Fußböden und Decken sehr In diesem freundlichen Gespräche wurden die beiden Alten häufig krochen, weil über unserer Schulwohnung die Schütte- plötzlich durch ein schallendes Gelächter gestört, das aus dem böden des Klosters waren. Diese Kornwürmer, fielen sehr oft anstoßenden größern Zimmer, dem sogenannten Saale, herzu- herab von der Decke; aber wie schwer ist es zu gedenken, dringen schien, welcher bei Visitationen und bei sonstigen feier- daß von alle diesem Ungeziefer, das so ordentliche Berühren lichen Gelegenheiten das Gesellschaftszimmer der Pfarre abgab. derer Saiten auf der Violine, dreymal nach einander bewirket – Das Gespräch der beiden Eheleute verstummte, beide horch- worden sey. – Konnten sie auch das Auf= und Zumachen der ten nach jener Seite hin; denn es ging keine Tür in den Saal, als verschlossenen Zell Thür und das Schlurfen in der Zell Thür die aus dem Wohnzimmer, worin sie eben saßen und sie konnten bewirken? sich nicht denken, daß jemand drinnen sei. Der alte Mann nahm (Schwarze 1779, S. 27– 33) stillschweigend das Licht und ging in den Saal hinein; aber es war wirklich Niemand da. – Dies seltsame und unheimliche Wenn Geister sich Gehör verschaffen wollen, so gibt es kein Geräusch wurde, eben wie an diesem, noch an den beiden Entrinnen. Und will unser Ohr nicht richtig hören, so muß das darauffolgenden Abenden von dem Prediger und seiner Frau Zweite Ohr einspringen. Die Seherin von Prevorst behauptet: gehört, ohne daß sie einer Ursache desselben hätten auf die Spur So höre ich sie [die Geister] auch oft bei verstopften Ohren kommen können. sprechen. Endlich war die Zeit des ersehnten Besuches herangekommen, der Sohn mit seiner jungen Frau auf das zärtlichste empfan- (Kerner 1892, S. 256) gen und Alles voller Freude. Nach einigen Tagen war ihnen zu Ehren eine muntre Gesellschaft in dem Saale versammelt. Als Nun folgt aus Storms Geistergeschichten-Schatzkiste aus dem das Abendessen eingenommen war und die Unterhaltung wie- anschließenden Jahrhundert unter dem Titel „Das Gelächter“ der freiern Raum gewann, mußte auf den Vorschlag Eines aus ein weiterer Bericht von einem Geist, der sich hören ließ – nur der Gesellschaft Jeder der Reihe nach eine komische Geschichte ist er allerdings weder lustig noch lächerlich: erzählen. Einer überbot dabei noch immer den Andern; die Geschichten wurden immer toller, so daß sogar der alte Pastor

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in die ausgelassene Heiterkeit miteinstimmte. Keiner aber sogar als ein Zeichen, daß es etwas lachte mehr als der Sohn desselben, er konnte gar nicht Gutes sein könne, was ihm begegnet wieder aufhören, als schon die andern alle zur gesetzten Ruhe sei (Platon, Apologie 16). zurückgekehrt waren; man wußte nicht, was man aus diesem Das ist’s, was Sokrates sagt. Doch unauslöschlichen Gelächter machen sollte, das zuletzt krampf- die Spätantike legt ihm gerne noch haft, grauenvoll wurde. Plötzlich hörte es auf; der junge viel mehr in den Mund; so lesen wir Mann stürzte tot von seinem Stuhle. etwa bei Plutarch, Apuleius, Maximos (Storm 199114) von Tyros, Proclos u.v.a. Autoren von Sokrates’ Schutzgeist, Schutzengel, Wenn Geister lachen können, müßten sie eigentlich auch Dämon oder Genius, der ihm inne- sprechen können. Und in der Tat sind Geister keine wortlo- wohnte und ihn führte (Dodds 1971, sen Geschöpfe, auch wenn sie den meisten von uns sprachlos S. 221). „erscheinen“, ganz abgesehen davon, daß sie uns sprachlos Sokrates aus Athen machen. Sie rufen etwa mitten in der Nacht laut unseren Namen, Geisterstimmen melden sich zuhauf (469- 399). Römische Kopie – quer durch die Geschichte der nach einem Werk des mal ohne ersichtlichen Grund, mal mit triftigem Grund, und 4.Jh.s v.Chr. bleiben dabei unsichtbar oder können sogar gleichzeitig gese- Menschheit. Doch wie so oft liegt hen werden – Fälle, die auch heute noch vorkommen. auch hier die Kunst in der Beschränkung, und wir greifen aus Sprechende Geister sind ein Kapitel für sich – oder genauer der üppigen Materialfülle einige Beispiele zur Veranschauli- gesagt mehrere Kapitel für sich, denn schon das Beispiel des chung heraus. Meistens sind es nur einzelne Wörter, die dem weisen Sokrates zeigt, wie schwer es ist, die gehörten Geister- Geistermund entschlüpfen. Der Königsberger Theologieprofes- stimmen in die richtige Kategorie einzusortieren: sor Heinrich Lysius aus der bereits vorgestellten Geisterseher- Familie hat ein entsprechendes akustisches Erlebnis seiner Frau Mir aber ist dieses von meiner Kindheit an geschehen, eine Gertrude aufgeschrieben: Stimme nämlich, welche jedesmal, wenn sie sich hören läßt, mir von etwas abredet, was ich tun will, zugeredet aber hat „Wir waren“, sagt Lysius, „schon eine geraume Zeit in sie mir nie. Königsberg gewesen, als solche einst des Nachts mit großem Schrecken aus dem Schlafe auffuhr und fragte: Wer ihr geru- (Platon, Apologie, St 31 D 15) fen hätte? – Ich erwachte darüber, und erkundigte mich nach der Ursache ihrer Bestürzung. Sie antwortete: Es hätte Für Sokrates ist der Fall ganz klar, daß ihm nämlich „etwas Jemand mit starker Stimme zweimal Gertrude! Gertrude! Göttliches und Dämonisches widerfährt“, wenn diese Stimme gerufen, worüber sie als etwas Ungewöhnliches allerdings zu ihm spricht. Sie hilft ihm oft in unwesentlichen Kleinigkei- sehr bestürzt wäre, weil Niemand in Königsberg sie also so ten und gilt ihm gleichwohl bei den größten Dingen viel. Daß zu nennen, oder anzureden pflegte. Sie kam daher auf die sie ihn nicht bei seiner Apologie, seiner Verteidigungsrede vor Gedanken, ihre Mutter müsse etwan sehr krank, oder gar dem Todesgericht, vom Reden abhält, versteht er andersherum

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gestorben seyn. Der Ausgang aber zeigte, daß ihre Schwester, hören zu können? Es mag sich mit dem Gehör ähnlich wie mit mit der sie jederzeit am vertraulichsten gelebt hatte, um eben dem Gesichtssinn verhalten; wie man ein Zweites Gesicht benö- dieselbe Zeit Todes verblichen war.“ tigt, so bedarf es wohl eines Zweiten Gehörs, um mit Geistern (Horst 1830, Bd. 1, S. 185, Anm.) ins Gespräch zu kommen und Worte richtig wechseln und nicht nur einseitig in den Raum werfen zu können. Von der Seherin Ein genau entsprechender Fall, der sich in der ersten Hälfte von Prevorst, Friederike Hauffe, hören wir, wie eine Kommuni- des 20. Jahrhunderts in Stettin abgespielt hat, ist mir aus erster kation mit Geistern aussehen kann. Sie berichtet von sprechenden Hand von der betroffenen Person berichtet worden. Hier rief Geistern: der Geist nachts nicht nur zweimal den Kosenamen der Schla- Ihre Sprache ist so verschieden wie bei den Menschen, jedoch fenden, sondern er wurde gleichzeitig auch von der über das der Ton der Stimmen immer gleich, wie ein Hauchen. Bei bösern Rufen inzwischen aufgewachten Person als Lichterscheinung in ist der Ton der Stimme stärker als bei bessern. Sie bewegen der geschlossenen Zimmertür wahrgenommen. Die mit dem dabei wie Menschen den Mund. Geist assoziierte Großmutter und Zweitmutter der Schlafenden Mit ihnen reden, was ich will, kann ich nicht, auch können war zur selben Zeit in einem anderen Zimmer verschieden. sie mir nicht alles beantworten, was ich will. Bösere Geister Im Sommer 1998 erzählte mir eine damals in der Mainzer würden dies mehr thun; [...] Altstadt lebende Bekannte von einem eindringlichen Erlebnis, Oft sogen Geister, besonders dunklere, sprach ich religiöse das sie vor kurzem in ihrer Dachgeschoßwohnung in einem der Worte, dieselben wie in sich ein, und ich sah sie dadurch wie prachtvollsten Mainzer Fachwerkhäuser aus dem 15. Jahrhun- heller und leichter werden, wodurch ich aber sehr geschwächt dert in einer warmen Sommernacht hatte: Sie war allein zu wurde. Das Erscheinen seliger, lichter Geister stärkt mich Hause – es war um Mitternacht – und gerade vom Balkon in und gibt mir eine ganz andere Empfindung als das unseli- die Wohnung zurückgegangen, da hörte sie, wie jemand ganz ger. [Von einer entsprechenden Erfahrung berichtet etwa deutlich ihren Namen rief, weiter nichts, doch genug für sie, auch Ania Teillard: Nach dem Erblicken von Verstorbenen um hellhörig zu werden. Von einem schicksalhaften oder beson- war sie ermüdet, nach dem Sehen von überirdischen Wesen deren Ereignis, das in diesem Zusammenhang stattgefunden fühlte sie sich dagegen erfrischt (Teillard 1994, S. 28).] Oft haben könnte, berichtete sie nichts – das ließe sich noch hinter- fühlt’ ich, daß bessern Geistern auch daher schwer fällt, irdi- fragen. Viele Menschen machen solche Geister-Erfahrungen, die sche Fragen zu beantworten, weil sie im Irdischen so gar nicht unaufgelöst bleiben – mitunter, weil sie ihnen nicht die gebüh- mehr sind, ihnen dieses so ganz fremd ist, wie es bösern Gei- rende Aufmerksamkeit schenken und einfach noch unbeholfen stern schwer fällt, vom Himmlischen zu reden, ja, wie sie im Umgang mit derartigen Phänomenen sind. dieses gar nicht fähig sind zu thun, weil sie von solchem so weit stehen. Mit höhern, seligen Geistern bin ich nicht im Geister sind von Natur aus eher schweigsame Wesen, und die stande zu sprechen, höchstens kann ich an sie nur eine kurze meisten unter den spontan erscheinenden Geistern verschwin- Frage machen. den wortlos. Wortkargheit ist ein Geister-Charakteristikum, oder ist es eher typisch menschlich, die Sprache der Geister nicht (Kerner 1892, S. 257)

240 241 9. Das gespenstische Moor bei Nettelstedt: Helmut Milas, 2002. 10. Jenny Freifrau von Laßberg (Schwester Annettes): Annette von Droste Hülshoff, wahrscheinlich um 1820.

11. Burg Hülshoff heute, Geburtstort von Annette von Droste Hülshoff (1797-1848). 12. Friedrich Schiller. Christian Xeller nach einem Gemälde 13. Franz Gareis (28. 6. 1775 - 31. 5.1803): von Anton Graff; Original 1786/91. Novalis (einzig überliefertes Porträt). 14. Caspar David Friedrich (5. 9. 1774 -7. 5. 1840): Der Morgen, um 1820.

15. Mary Barker (28. 6. 1895 -1973), London: The Queen of the Meadow Fairy (Wiesenköniginfee). 16. Edith Weiss, Wien: In Stein gemeißelt. 1997. Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Hören von Geistern

Friederike Hauffes Aussagen treffen nun jedoch nicht für die macht sich dem etwas weniger sensiblen Menschen bemerkbar, echten Spukgeister zu, die sich vielmehr durch merkwürdige während der sprechende Geist empfindsamere Naturen bevor- Geräusche zu erkennen geben. An anderer Stelle erläutert sie dies: zugt. Doch wie wir oben schon hörten, unterscheiden sich auch die sprechenden Geister voneinander: Je höher ein Geist ent- Töne, außer der Sprache, bringen sie verschiedener Art zuwe- wickelt ist, desto weniger spricht er über irdische Dinge. Über ge, um die Aufmerksamkeit, besonders von solchen auf sich zu den sprachlichen Umgang mit einem solchen fortgeschrittenen richten, die sie nicht zu sehen fähig sind, und was noch schwe- Geist sagt die Seherin: rer zu sein scheint, die ihre Sprache nicht vernehmen können. Diese Töne bestehen hauptsächlich in Klopfen, in Tönen, als Man sagte mir zwar, daß ich mit meiner Führerin, auch einem würfe man mit Kies oder Sand, im Rauschen wie mit Papier, seligen Geiste, schon oft im schlafwachen Zustande gespro- in Tönen, als rollte man mit einer Kugel, in Schlürfen wie in chen, was ich nicht weiß; ist dem aber so, so konnte dies nur Socken und Pantoffeln, in Seufzen u.s.w. mein Geist allein, in Momenten, wo er von der Seele getrennt Neben diesem sind sie auch im stande, selbst schwere Gegen- war. Ist meine Seele mit dem Geiste vereint, kann ich mit stände zu bewegen, sie zu werfen, die Thüren hörbar auf und seligern Geistern nicht so sprechen. zu zu machen. (Kerner 1892, S. 257) Letzteres geschieht sehr oft, und auch von solchen, die wohl, ohne eine Thüre zu eröffnen, durch sie oder durch die Wand Und umgekehrt gilt nach Ansicht der Seherin: kommen könnten. Ich beobachtete, daß je dunkler ein Geist ist, desto stärkere (Kerner 1892, S. 256) Töne er hervorzubringen und desto mehr spukähnliche Dinge er zu treiben vermag. Und sie schränkt noch ein: (Kerner 1892, S. 257) Nie sah ich einen Geist in der gleichen Zeit, in der er irgend ein Geräusch machte, so daß ich glaube, daß sie sich nicht Die Bösen sind also die Spukgeister, die lärmenden und sichtbar und hörbar zugleich (das Sprechen ausgenommen) rumorenden Geister – so das Fazit der Seherin. Während die machen können. So sehe ich auch keinen Geist, während helleren Geister schwebend einhergehen, müssen die schlechten er die Thüre auf= und zumacht, sondern immer nur gleich schwer auftreten und ihre Geisterschritte durch die Häuser nachher. dröhnen lassen. (Kerner 1892, S. 257) Selige Geister [...] können sich nicht hörbar machen, spuken Hier muß der grundsätzliche Unterschied festgehalten wer- nicht. den, der zwischen dem Hören von Geistern im Sinne von Her- (Kerner 1892, S. 188) umspuken nach Poltergeistmanier – die Seherin spricht von den „Tönen“ der Geister – und dem bloßen Vernehmen ihrer Geister hören und Geister hören ist durchaus zweierlei – wir Sprache besteht. Mit einfachen Worten: Der laute Spukgeist begegnen den Geistern offenbar nicht nur in verschiedener 242 243 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Riechen von Geistern

Weise, sondern treffen auch auf Geister verschiedenster Art. Ein weiteres schlagendes Beispiel dafür, daß das Hören von Und zum Ausklang dieses Abschnittes über die akustischen Geistern nicht nur eine interessante Variante unserer akustischen Geister hören wir noch ein erfreuliches Beispiel aus dem inzwi- Möglichkeiten ist, sondern eine wichtige soziale Funktion erfüllen schen auch Geschichte gewordenen 20. Jahrhundert, das der kann, wird noch an anderer Stelle vorgestellt – in diesem hochak- Betroffene selbst wohl unter die Rubriken „Schutzgeister“ oder tuellen Fall meldet sich eine Geisterstimme anläßlich eines Mor- „Geister von Verstorbenen“ eingeordnet hätte (vgl. den Fall des zu Worte und hat ganz schön viel dazu zu sagen ... (VIII.6). Mozhgan Kheirullahi in Kap. VIII.13): Schließlich gibt es im üppigen Sortiment der tausend Arten Es war im Osten 1916, hinter Baranowitschi. Mein Kamerad von vernehmbaren Geistern auch den berühmten Geisterhauch. Xaver Schell aus Leutkirch im Allgäu hatte eben seine Grau- Goethe läßt ihn z. B. dem Mund der weisen Sphinx entströmen pensuppe ausgelöffelt und sich im Unterstand auf seinen und weist uns damit auf noch ganz andere Möglichkeiten der Schragen gelegt, um ein wenig zu „dösen“. Ich zog vor, drau- geistigen Wesen hin: ßen im Graben im warmen Sonnenschein zu bleiben. Etwa zwanzig Minuten mochten verstrichen sein, da stürzt Freund Wir hauchen unsre Geistertöne Schell plötzlich aus dem Unterstand, blickt mit merkwürdig Und ihr verkörpert sie alsdann. suchenden Augen im Graben auf und ab und fragt, ob ich (Goethe, Faust II, 2. Akt, Walpurgisnacht, „Xaverl“ gerufen hätte. Ich verneinte, denn wir Badener Pharsalische Felder, 7114f., Sphinx) nannten ihn nie „Xaverl“, sondern Xaver oder Xaveri. Darauf sagte er: Ganz bestimmt hat jemand „Xaverl“ geru- fen! Wäre mein Bruder nicht vor sechs Wochen gefallen, so würde ich sicher glauben, er sei es gewesen. II.4 Im selben Augenblick lösten sich drüben beim Russen zwei DAS RIECHEN VON GEISTERN Abschüsse. Gurgelnd und fauchend kamen zwei schwere Brocken angebraust, und die eine schlug krachend in unseren  Unterstand, in dem Freund Xaver vor wenigen Sekunden noch schlafend lag. Mit welchen sonderbaren Eigenheiten sind wir Als wir uns aus Dreck und Qualm erhoben, war unser Unter- doch geboren! stand nur noch ein rauchender Trichter. (Goethe, Briefe aus der Schweiz 17) Und es war doch mein gefallener Bruder, der mich rief, sagte Xaver.  Wir steckten eine Pfeife an und fragten uns, ob das nun ein Traum, Zufall oder Gottes Fügung war. Ein Geist kann wohl oder übel auch riechen, und zwar wohl Ant. Buggle, Freiburg i.Br. oder übel. Genauer gesagt: Geister können mitunter gerochen (Schauwecker 1936, S. 34f.) werden und stellen somit ebenfalls eine Herausforderung an

244 245 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Riechen von Geistern unsere Nase, an unsere olfaktorischen Sinnesorgane dar. Nicht oder auch nicht. Pflanzen duften aufgrund ihrer Natur, Men- selten wird eine Geistererscheinung von einem unangenehmen schen aufgrund ihrer Kultur. Abgesehen davon hat natürlich Geruch begleitet, doch gibt es dagegen auch unzählige Berichte jeder, auch der sauberste Mensch, seinen höchst individuellen von dem Wohlgeruch, der besondere Menschen, etwa Heilige Eigengeruch. Auf subtiler Ebene riechen wir alle weit mehr, umgibt. als wir ahnen, und es kommt durchaus vor, daß jemand einen anderen „nicht riechen kann“ und er oder sie am liebsten möch- Eigenthümlich ist es, daß die Erscheinungen von Engeln und te, daß diese Person „verduftet“. Auch eine Situation kann Heiligen gewöhnlich von einem besondern lieblichen Geruch einem „stinken“, und man hat bisweilen „die Nase voll“ von begleitet waren, – daher rührt wahrscheinlich der Ausdruck: etwas. Einem Geruch wohnt eine nicht zu unterschätzende „Geruch der Heiligkeit“ – während dagegen die Teufel und Zauber-Kraft inne, die magisch anziehend oder extrem abstoßend bösen Geister einen höchst unliebenswürdigen, widrigen Duft wirken kann; es lassen sich, wie man sieht, leichter Redewen- hinterließen. dungen für die negative Variante finden als für die angenehme. Gerüche prägen uns seit frühester Kindheit, so wie das Riech- (Colquhoun 1853, S. 269) hirn den geschichtlich ältesten Teil des menschlichen Gehirns darstellt, und sie begleiten uns durchs ganze Leben, rufen stän- Zurück in die Alltagswelt: Vor allem von Pflanzen wie Rosen dig alte wie neue Erinnerungen in uns wach. Und so, wie wir und Jasmin, aber auch von Wurzeln wie der kostbaren Veil- eine von manchen Menschen wahrgenommene visuelle Aura um chenwurzel wissen wir, daß sie einen intensiven Duft, einen uns verbreiten, so strömen wir auch einen bestimmten Duft um herrlichen Wohlgeruch ausströmen. Menschen benutzten die uns herum aus. Das griechische Wort aúra heißt wörtlich über- betörenden himmlischen Düfte von Pflanzen seit Menschen- setzt eigentlich „Hauch“, „Luftzug“ und auch „günstiger Fahrt- gedenken als Parfüm, ursprünglich, um den Göttern einen wind“. Wir können daher nicht nur unseren Atem aushauchen, Gefallen zu erweisen, weshalb man heilige Rauchwolken gen sondern sozusagen auch unsere Aura. Diese olfaktorische Aura Himmel sandte; heute hat man dagegen die kostbaren Essenzen wird von uns in ganz unterschiedlichen Graden des Bewußtseins wieder auf die Erde heruntergeholt, damit sie in irdischen wahrgenommen. So erscheint es folgerichtig, daß der „Geist“eines Gefilden Wohlbehagen verbreiten und profanen Zwecken dienen Menschen nicht nur gesehen, sondern auch gerochen werden können, wie etwa den menschlichen Eigengeruch zu überspie- kann. Und wir müssen sogar noch einen Schritt weiter gehen und len und zu verbessern. Vom ehemals Heiligen im Wohlgeruch zur Kenntnis nehmen, daß uns ein Geruch nicht nur über die läßt jedoch das Heilen mit Düften, das Heilmachen, wörtlich Schwelle des Sichtbaren hinauslocken kann und als Begleiter Ganzmachen, noch ahnen (Faure 1990, Fischer-Rizzi 1989, eines Geistes auftritt, sondern ebenso Vorbote sein kann, Vorbote Trott-Tschepe 1993; vgl. Kap. III.27). Pflanzen riechen niemals eines künftigen Geschehens etwa. Es gibt nämlich analog zum schlecht, nur mag die eine oder andere Pflanze für die eine Zweiten Gesicht auch noch einen anderen, einen Zweiten Geruch. oder andere menschliche Nase angenehmer oder selten auch mal Dabei wird Zukünftiges über den Geruchssinn wahrgenommen. weniger wohlriechend sein. Bei Menschen ist das anders, weil sie Wir werden uns später bei einem Abstecher auf die Hebriden die Freiheit haben, sich dem Kult der Körperpflege zu widmen noch Näheres darüber „unter die Nase reiben“ (Kap. VIII. 9).

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Ein beeindruckendes Exempel für einen beeinträchtigenden ging gegen Westen, das andere gegen Osten. Linker Hand von Geruch, der sich in Verbindung mit einer Geistererscheinung der Türe (auf der Westseite) stand ein Bett, gegenüber an der breitmachte, finden wir in einem autobiographischen Bericht Stirnseite (Norden) befand sich eine große altertümliche Kom- von Carl Gustav Jung: mode, rechter Hand (Osten) ein Schrank und ein Tisch. Zusam- men mit einigen Stühlen war dies das ganze Ameublement. Das Im Sommer 1920 befand ich mich in London, wo ich auf war mein Zimmer. Zu beiden Seiten des Korridors befanden sich Einladung von Dr. X. arbeitete und Vorlesungen gab. Mein eine Reihe von Schlafzimmern, die von Dr. X. und den jewei- Kollege erzählte mir, daß er, in der Erwartung meiner ligen Gästen benützt wurden. Ankunft, für diesen Sommer einen passenden Weekendort In der ersten Nacht, ermüdet von der anstrengenden Arbeit gefunden habe. Es sei nicht so einfach gewesen, meinte er, ein der Woche, schlief ich ausgezeichnet. Den nächsten Tag ver- zusagendes Haus zu finden, da auf die Sommerferien hin ent- brachten wir mit Spaziergängen und Gesprächen. Am Abend der weder alles schon vermietet oder dann so exorbitant teuer zweiten Nacht ging ich, ziemlich müde, um 11 Uhr zu Bette, oder dermaßen unattraktiv gewesen sei, daß er den Plan bei- aber ich kam über den Punkt des Einschlafens nicht hinweg. nahe aufgegeben habe. Schließlich hätte er aber – und das sei Ich verfiel nur in eine Art von Erstarrung, die darum peinlich ein wahrer Glücksfall gewesen – ein reizendes Cottage gefun- war, weil es mir schien, daß ich mich nicht bewegen könne. den, für unsere Zwecke gerade richtig, und zwar zu einem Auch schien es mir, die Luft im Zimmer sei dumpf und es herr- lächerlich niederen Preise. – Es war, wie es sich herausstellte, sche ein undefinierbarer, unangenehmer Geruch im Zimmer. Ich in der Tat ein höchst anziehendes altes Farmhaus in Bucking- dachte, ich hätte vergessen die Fenster zu öffnen. Das veran- hamshire, wohin wir uns am Ende der ersten Arbeitswoche laßte mich dann schließlich, trotz meiner Erstarrung, Licht zu (das heißt am Freitag Abend) begaben. Für die Bedienung machen (d. h. eine Kerze anzuzünden): beide Fenster standen hatte Dr. X. ein Mädchen aus dem benachbarten Dorfe ange- offen und ein leiser Nachtwind zog durch das Zimmer und stellt, zu der sich im Laufe des Nachmittags jeweils eine erfüllte es mit dem hochsommerlichen Wohlgeruch blühender Freundin als freiwillige Helferin gesellte. Wir waren einfach, Wiesen. Von üblem Geruch war keine Spur zu entdecken. Ich aber komfortabel untergebracht. Das Haus war geräumig, blieb halbwach in meinem merkwürdigen Zustand, bis ich durch zweistöckig und in einem rechten Winkel gebaut. Es hatte also das östliche Fenster den ersten blassen Schimmer des kommen- zwei Flügel, von denen uns der eine vollauf genügte. Im Erd- den Tages erblickte. In diesem Moment wich wie ein Zauber geschoss befand sich ein Gartenraum mit angebautem Con- die Erstarrung von mir, und ich fiel sofort in tiefen Schlaf, aus servatory mit einer Tür, die direkt in den Garten führte, dem ich erst gegen 9 Uhr erwachte. sodann in die Küche, ein Eßzimmer und einen Drawingroom. Am Sonntagabend bemerkte ich beiläufig zu Dr. X., daß ich Im ersten Stock befand sich ebenfalls ein Korridor, der durch die Nacht vorher merkwürdig schlecht geschlafen hätte. Er riet die Mitte des Hauses, von der Treppe beim Gartenzimmer mir, eine Flasche Ale zu trinken, was ich dann auch tat. Aber es her, zu einem großen Schlafzimmer führte, welches die ganze ging mir in dieser dritten Nacht wie vorher: ich kam nicht Stirnseite des Flügels einnahm. Es hatte an den Seiten je ein weiter als bis zum Punkte des Einschlafens. Die beiden Fenster Fenster und an der Stirnseite einen Kamin. Das eine Fenster standen offen. Anfangs war die Luft frisch, aber nach etwa

248 249 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Riechen von Geistern einer halben Stunde schien es sich zu verschlechtern; sie wurde Erst um 3 Uhr beim ersten Tagesschimmer fiel ich in tiefen dumpf und muffig, und schließlich irgendwie widerwärtig. Es Schlaf. Ich habe Holzwürmer gehört. Aber ihr Ticken ist schär- war mir schwierig, den Geruch zu identifizieren, trotzdem ich fer. Dies war ein mehr dumpfes Geräusch, genau wie es ein von mich bemühte, dessen Natur festzustellen. Es kam mir nur in der Decke fallender Wassertropfen erzeugen würde. den Sinn, er habe etwas Krankhaftes an sich. Ich ging dieser Ich war ärgerlich und nicht gerade erfrischt von diesem Spur nach durch alle Geruchserinnerungen, die man während Weekend. Ich sagte aber nichts zu Dr. X. Am nächsten Week- 8 Jahren praktischer Tätigkeit an einer psychiatrischen Klinik end nach einer inhalts- und ereignisreichen Woche dachte ich an sammeln kann. Plötzlich stieß ich auf das Erinnerungsbild einer mein voriges Erlebnis gar nicht mehr. Als ich aber etwa eine alten Frau, die an einem offenen Carcinom litt. Das war unmiß- halbe Stunde im Bett war, da war alles, wie zuvor, wieder da, verständlich der krankhafte Geruch, den ich in ihrem Kranken- die Erstarrung und der widerwärtige Geruch, und dazu kam zimmer so oft wahrgenommen hatte. Als Psychologe wunderte nun etwas Neues: etwas streifte an den Wänden entlang, wie ich mich nun, was der Grund zu dieser eigentümlichen Geruchs- knisterndes Papier, die Möbel krachten hie und da, es rauschte halluzination sein könnte. Es gelang mir aber nicht, irgendeine sonderbar, bald in der einen, bald in der andern Ecke. Es war überzeugende Beziehung zwischen meinem Bewußtseinszustand eine seltsame Unruhe in der Luft. Ich dachte, es sei der Wind, und der Halluzination aufzufinden. Ich fühlte mich nur sehr machte Licht und wollte die Fenster schließen. Die Nacht war unbehaglich und kam mir in meiner Erstarrung wie gelähmt aber ruhig und es war keine Spur von Wind. Solange das Licht vor. Ich konnte schließlich auch nichts mehr denken, sondern brannte, war die Luft frisch und kein Geräusch hörbar. Kaum verfiel in einen halbwachen Torpor. Plötzlich hörte ich etwas hatte ich gelöscht, so trat langsam die Erstarrung wieder ein, regelmäßig tropfen. „Habe ich den Wasserhahn nicht recht zuge- die Luft wurde stickig, und das Rauschen und Knistern begann dreht?“ dachte ich. „Aber es gibt ja gar kein fließendes Wasser wieder. Ich dachte, ich hätte Ohrgeräusche. Sie hörten aber so im Zimmer – dann muß es offenbar regnen – es war doch heute um 3 Uhr morgens wieder prompt auf. so schön.“ Unterdessen ging das Tropfen regelmäßig weiter im Am Abend der zweiten Nacht versuchte ich es wieder mit Tempo von einem Tropfen in zwei Sekunden. Ich stelle mir links einer Flasche Ale. Ich hatte nämlich in London stets gut geschla- von meinem Bette in der Nähe der Kommode eine kleine Was- fen und vermochte mir gar nicht vorzustellen, was ausgerechnet serlache vor. „Dann muß aber das Dach irgendwo lecken“, an diesem stillen und friedlichen Ort mir Schlaflosigkeit ver- dachte ich mir. Schließlich, mit heroischer Anstrengung, wie es ursachen könnte. In dieser Nacht wiederholten sich die selben mir schien, machte ich Licht und ging zur Kommode. Es war Phänomene, aber in gesteigerter Form. Erst jetzt kam mir der kein Wasser auf dem Boden, und an der gegipsten Decke war Gedanke, daß es sich um etwas Parapsychisches handeln könnte. kein Wasserfleck. Erst dann blickte ich zum Fenster hinaus; es Ich wußte, daß gewisse Probleme der Hausbewohner, die ihnen war eine klare Sternennacht. Unterdessen ging das Tropfen unbewußt sind, zu derartigen Exteriorisationen Anlaß geben ruhig weiter. Ich konnte eine Stelle auf dem Fußboden, etwa könnten; denn konstellierte unbewußte Inhalte haben oft eine einen halben Meter vor der Kommode, ermitteln, woher das Tendenz, sich irgendwie äußerlich zu manifestieren. Nun kann- Tropfgeräusch kam. Ich hätte sie mit der Hand berühren kön- te ich die Probleme der damaligen Bewohner sehr gut, und nen. Plötzlich hörte das Geräusch auf und kam nicht wieder. ich konnte gar nichts entdecken, was diese Exteriorisationen zu

250 251 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Riechen von Geistern erklären imstande gewesen wäre. Andern Tags erkundigte ich nichts aus ihr herauszubekommen. Ihre Freundin bestätigte sie mich aber doch vorsichtshalber bei allen, wie sie geschlafen mit Emphase. hätten. Alle rühmten ihren guten Schlaf. Ich konnte als Gast begreiflicherweise keine näheren Nach- In der dritten Nacht wurde es noch schlimmer. Es traten forschungen im Dorf anstellen. Mein Gastgeber war skeptisch, sogar Klopflaute auf, und ich hatte den Eindruck, es husche ein aber gewillt, das ganze Haus einmal gründlich zu untersuchen. Tier in der Größe eines mittleren Hundes im Zimmer herum, Wir fanden gar nichts Bemerkenswertes, bis wir auf den Estrich wie in einer Panik. Wie gewöhnlich hörte der Spuk schlagartig kamen. Dort fanden wir nämlich zwischen den beiden Flügeln mit dem ersten Lichtstreifen im Osten auf. eine Brandmauer, darin eine relativ neue, zirka 4 cm dicke Türe Im Laufe des nächsten dritten Weekends steigerten sich die mit einem schweren Schloß und zwei mächtigen Riegeln, welche Phänomene. Das Rauschen wurde zu einem Brausen und Sau- den unbewohnten Flügel von dem unsrigen abschloß. Den Mäd- sen wie das eines Sturmes. Die Klopflaute kamen auch von chen war die Existenz der Türe unbekannt. außen in Form dumpfer Schläge, wie wenn jemand mit einem Diese Türe ist insofern rätselhaft, als das Erdgeschoß sowohl umwickelten Schmiedehammer von außen auf die Backstein- wie der erste Stock in den beiden Flügeln offen kommunizierten. mauern schlüge (im ersten Stock!). Mehrfach mußte ich mich Im Dachraum waren keine Zimmer und auch keine abschließ- vergewissern, daß kein Sturm herrschte und niemand von drau- baren Gelasse. Auch fanden sich keine Spuren von irgendwelcher ßen an die Mauer schlagen konnte. Benützung. Ich habe keine Erklärung gefunden. Beim vierten Weekend machte ich meinem Gastgeber einige Das fünfte Weekend war dermaßen unerträglich, daß ich vorsichtige Andeutungen: das Haus sei vielleicht „haunted“, und meinen Gastgeber bitten mußte, mir ein anderes Zimmer zu das könnte der Grund für den überraschend niederen Mietpreis geben. Es hatte sich nämlich folgendes ereignet: es war eine sein? Er lachte mich natürlich aus, trotzdem er sich meine schöne, windstille Mondnacht. Im Zimmer rauschte, klopfte und Schlaflosigkeit so wenig wie ich erklären konnte. Es war mir knisterte es; von außen tönten Schläge an die Mauern. Ich hatte aber aufgefallen, wie schnell die beiden Mädchen jeden Abend das Gefühl, es sei etwas in der Nähe. Ich öffnete mit Mühe die nach dem Dinner aufräumten und lange vor Sonnenuntergang Augen. Da sah ich neben mir auf dem Kopfkissen den Kopf jeweils das Haus verließen. Um 8 Uhr war kein Mädchen mehr einer alten Frau, das rechte Auge, weit aufgerissen, mich anstar- zu sehen. Ich bemerkte scherzhaft zu unserer Köchin, sie habe rend. Die linke Gesichtshälfte fehlte bis zum Auge. Das kam so wohl Angst vor uns, daß sie sich jeden Abend von ihrer Freun- plötzlich und unerwartet, daß ich mit einem Satz aus dem Bett din abholen lasse und es dann immer so eilig habe, heimzu- flog, Licht machte und bei Kerzenschimmer in einem Lehnstuhl gehen. Sie lachte und sagte: „Ich habe keine Angst vor den den Rest der Nacht verbrachte. Anderntags siedelte ich ins Herrschaften, aber ich würde keinen Augenblick allein oder gar Nebenzimmer über, wo ich dann glänzend schlief und während nach Sonnenuntergang in diesem Haus bleiben.“ „Ja, was ist diesem und dem nächsten Weekend nicht mehr im Geringsten denn los hier?“ fragte ich sie. „Why, this house here is haunted, gestört wurde. didn’t you know it? Das ist der Grund, warum sie es so billig Ich drückte meinem Gastgeber meine Ueberzeugung aus, bekamen. Niemand hat es hier ausgehalten.“ Das sei so, solange dass ich das Haus in der Tat für „haunted“ hielte, welche Er- sie sich erinnern könne. Ueber den Ursprung des Gerüchtes war klärung er mit lächelnder Skeptis quittierte. Diese Haltung, so

252 253 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Riechen von Geistern begreiflich sie war, ärgerte mich doch einigermaßen. Ich konnte Blache bedeckt. So habe er dann friedlich geschlafen. Aber mir nämlich nicht verhehlen, daß meine Gesundheit unter Nichts in der Welt hätte ihn veranlassen können, wieder im diesen Erlebnissen gelitten hatte. Ich fühlte mich unnatürlich Gartenzimmer zu schlafen. Er habe nun das Haus aufge- erschöpft, wie ich mich nie zuvor gefühlt hatte. Ich forderte geben. Etwas später vernahm ich dann durch Dr. X., daß darum Dr. X. heraus, es selber einmal mit dem „haunted room“ der Eigentümer das Haus abgerissen habe, da es unverkäuf- zu versuchen. Er ging darauf ein und gab mir sein Ehrenwort, lich war und in kürzester Zeit alle Mieter verscheuchte. Lei- mir ehrlich und genau seine Beobachtungen mitzuteilen. Er wer- der habe ich das Original des Briefes nicht mehr. Aber sein de allein in das Haus gehen und dort das Weekend verbringen, Inhalt ist mir unauslöschlich eingeprägt, weil er mir eine ganz um mir „fair chance“ zu geben. Ich verreiste darauf. Etwa zehn besondere Genugtuung bedeutete, nachdem mich mein Kol- Tage später erhielt ich einen Brief von Dr. X. Er sei allein ins lege so ausgiebig wegen meiner Gespensterfurcht ausgelacht Weekend gegangen. Am Abend sei es sehr still gewesen, und er hatte. habe gedacht, es sei ja nicht unbedingt nötig, in den oberen Stock (Moser 1950, S. 253 – 258) zu gehen! Der Spuk könne sich ja nötigenfalls überall im Haus manifestieren, wenn es überhaupt einen gebe! So habe er sein Soweit lautet Jungs Bericht über die Vorfälle in dem alten ein- Feldbett im Gartenraum aufgeschlagen, und da das Haus doch samen Farmhaus in England, das seiner Ansicht nach aus dem 17. recht einsam stehe, habe er eine geladene Jagdflinte mit sich ins oder 18. Jahrhundert stammte und etwa eine Viertelstunde vom Bett genommen. Es sei alles totenstill gewesen. Er habe sich nicht nächsten Dorf entfernt stand. Aus Jungs anschließendem Kom- gerade „comfortable“ gefühlt, sei aber dann nach einiger Zeit mentar zu den geisterhaften Ereignissen greifen wir den für den doch beinahe eingeschlafen. Da habe es ihm plötzlich geschienen, merkwürdigen Geruch relevanten Teil heraus: als ob er leise Schritte im Korridor höre. Er habe sofort Licht gemacht und die Türe aufgerissen, aber da sei gar nichts gewesen. Was nun die Geruchshalluzination betrifft, so hatte ich den Er habe sich darauf ärgerlich zu Bett gelegt und gedacht, ich sei Eindruck, als ob meine Gegenwart im Zimmer irgendwie ein „fool“. Aber es sei nicht lange gegangen, da habe er die Schrit- etwas allmählich belebte, was gewissermaßen an den Wänden te wieder gehört und zu seinem Mißvergnügen entdeckt, daß dem haftete. Es kam mir vor, als ob jener Hund, der in panischer Türschloß der Schlüssel fehlte. Er habe dann einen Stuhl mit der Angst herumhuschte, meine Intuition (die ja bekanntlich mit Lehne unter das Schloß geklemmt und sei darauf wieder zu Bett der Nase verknüpft wird – eine „gute Nase“) dargestellt hätte. gegangen. Bald darauf hätte er die Schritte wieder gehört, die Ich habe etwas „gewittert“. Wenn der menschliche Olfactorius gerade vor der Tür anhielten; der Stuhl habe geächzt, wie wenn nicht so hoffnungslos degeneriert, sondern so entwickelt wäre, jemand vom Korridor her gegen die Türe drücke. Er habe darauf wie etwa bei einem Hunde, so hätte ich wohl eine deutlichere sein Bett in den Garten hinausgestellt und dort sehr gut geschla- Vorstellung von den Personen bekommen, welche früher das fen. In der nächsten Nacht habe er das Bett wieder in den Garten Zimmer bewohnt hatten. Primitive Medizinmänner können gestellt. Um 1 Uhr nachts aber habe es zu regnen angefangen, nicht nur einen Dieb, sondern auch „Geister“ riechen. da habe er das Kopfende des Bettes unter das Vordach des Con- Die eigentümliche hypnoide Katalepsie, mit der die Phänomene servatory geschoben und das Fußende mit einer wasserdichten jeweils verknüpft waren, hat die Bedeutung einer intensiven

254 255 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Riechen von Geistern

Konzentration, deren Gegenstand eine subliminale und daher erregenden psychischen Situation herausstellen können. So hat „faszinierende“ Geruchswahrnehmung war, etwas ähnlich dem mir z. B. ein Verwandter erzählt, daß er im Ausland auf psychischen Zustand eines Vorstehhundes (Pointer), der Witte- einer Reise in einem Hotel abgestiegen sei. In der Nacht hatte rung gefaßt hat. er einen wilden Angsttraum, daß in seinem Zimmer eine Frau Das faszinierende Agens nun scheint mir allerdings von einer ermordet werde. Tags darauf erfuhr er, daß in der Nacht vor besonderen Beschaffenheit zu sein, welche durch die Annahme seiner Ankunft in seinem Zimmer tatsächlich eine Frau umge- einer gerucherzeugenden Substanz nicht hinlänglich erklärt ist; bracht worden war. es sei denn, daß der Geruch auch eine psychische Situation von (Moser 1950, S. 259f.) erregender Natur veranschaulicht und auf den Perzipienten überträgt. Das ist keineswegs undenkbar, wenn man an die außerordentliche Bedeutung, die der Geruchssinn bei den Tie- ren hat, denkt. Es ist auch gar nicht unmöglich, daß gerade die II.5 Intuition beim Menschen die Stelle der ihm mit dem Abbau des DAS FÜHLEN VON GEISTERN Olfactorius verlorengegangenen Geruchswelt eingenommen hat. Aehnlich ist ja auch die Wirkung der Intuition auf den Men-  schen, wie die schlagartige Faszination der Geruchswahrneh- mung für das Tier. Ich habe selber eine Reihe von Erfahrungen Ich fühl’s, du schwebst um mich, erflehter Geist. gemacht, wo „psychische“ Gerüche, d. h. Geruchshalluzinationen, Enthülle dich! subliminale Intuitionen bedeuteten, wie ich nachträglich jeweils (Goethe, Faust I, Nacht, 475f., Faust) verifizieren konnte. Mit dieser Hypothese sollen nun selbstverständlich nicht alle  Spukphänomene erklärt sein, sondern höchstens eine gewisse Kategorie derselben. Ich habe eine gewisse Anzahl von Geister- Und Goethe fügt noch hinzu, daß unserer Seele „ein Vor- geschichten gehört und gelesen. Darunter befanden sich einige, gefühl, ja auch ein wirklicher Blick in die nächste Zukunft die sehr wohl auf die angedeutete Art erklärt werden könnten, gestattet ist“. Wir verfügen demnach über eine Art Wahr- z.B. solche, wo in einem Zimmer, in welchem ein Mord gesche- nehmung, die über die Raum/Zeit-Grenzen herausreicht. Eine hen, sich ein Spuk entwickelte. In einem Fall waren, unter einem solche außersinnliche Wahrnehmung (ASW) wird nun in der Teppich verborgen, noch Blutspuren sichtbar. Ein Hund hätte allgemeinen parapsychologischen Forschung in drei Fällen das Blut sicherlich gerochen und vielleicht sogar das Menschen- angenommen: blut erkannt und, wenn er die menschliche Phantasie besäße, so hätte er auch die Gewalttat mehr oder weniger rekonstruieren 1. wenn psychische Inhalte von einer Person auf eine an- können. Das menschliche Unbewußte mit seiner sehr viel feine- dere auf bisher unbekannten Kommunikationswegen ren Perceptions- und Rekonstruktionsfähigkeit, als das Bewußt- übertragen werden (Telepathie); sein sie besitzt, hätte dasselbe leisten und ein visionäres Bild der

256 257 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Fühlen von Geistern

2. wenn objektive Sachverhalte erfaßt werden, die sonst im Das Denken ist nur ein Traum des Fühlens, ein erstorbenes Augenblick niemand weiß (Hellsehen); und Füh[l]en, ein blaßgraues, schwaches Leben. 3. wenn wie in dem von Goethe ausgesprochenen Satz ein (Novalis 1977, Bd. 1, S. 96) Einblick in die Zukunft genommen wird, der mehr als einfache Vorausberechnung oder Erwartung ist (Prä- Seien wir uns immer dann dieser Worte bewußt, wenn wir in kognition) (vgl. Bauer, Eberhard, 1995, S. 124). Versuchung geraten, dem bloßen Fühlen seinen Realitätswert abzusprechen! Die Ziele, engl. targets, dieser anderen Art von Wahrnehmung Und wenn uns jemand auf die Schulter tippt, der eigentlich liegen nun innerhalb der „normalen“ Welt, der objektiven Wirk- gar nicht anwesend sein dürfte, dann sollten wir uns lieber mit lichkeit, der sogenannten Realität, d. h. es sind ganz normale unserem Urteil zurückhalten, bis wir die ganze Sache besser Gegenstände oder Inhalte aus der uns vertrauten Umwelt, die durchschauen können. Denn es kann durchaus einmal vorkom- hier erfaßt werden. Man muß noch einen Schritt weiter gehen men, daß die Geisterhand, die uns berührt, nicht so ganz ohne zum außersinnlichen Wahrnehmen eines außerhalb der Raum/ „Substanz“ ist, wie es uns auf den ersten Blick erscheinen mag. Zeit-Kategorien existierenden Objekts, und solch ein irreal Von einem Geistermann auf die Schulter geklopft wurde etwa anmutendes Objekt oder Subjekt ist nun einmal ein Geist. Auf einer amerikanischen Krankenschwester, die eines Morgens tod- den ersten Blick scheint sich damit die ganze Angelegenheit vor müde von ihrer Arbeit nach Hause kam und schlafen ging: dem Auge des vernünftigen Betrachters in Luft aufzulösen, wären da nicht die unzähligen Berichte, in denen Geister etwas Es war genau 1.15 Uhr, ich lag im Bett, und ich glaube, ich für das ganz konkrete, reale Leben auszusagen haben. Beispiele habe geschlafen. Ich schlief auf der linken Seite und fühlte, dafür finden sich durchgehend in diesem Buch. wie mir jemand auf meine rechte Schulter klopfte – und zwar Die gegenwärtige Forschung hat sich an dieses heikle Thema sehr energisch. Ich machte die Augen auf, und da stand dieser bereits herangewagt und spricht von dem „Fühlen einer Gegen- junge Mann [ein Patient von ihr] an meinem Bett, mit einem wart“, engl. feeling of a presence (FOP). Sie beschreibt diverse ganz intensiven Ausdruck auf seinem Gesicht. Er sagte kein Möglichkeiten, die Gegenwart eines Geistes innerlich zu fühlen Wort, sah mich einfach nur an. Und er – ich hatte den Ein- (s. Kap. IX.6). Dabei muß durchaus gar nichts Ungewöhnliches druck, er hatte wieder große Probleme. Dann schloß ich mei- in der Außenwelt passieren. Diese rein gefühlsmäßige Gewiß- ne Augen, und – war auf der Stelle, mit einem Fingerschnips, heit von der Anwesenheit eines Geistwesens bleibt natürlich in seinem Zimmer im Krankenhaus [...]. auch für den open-minded Forscher eine der größten Heraus- (Morris und Knafle 2003, S. 157; Übersetzung von A. Puhle) forderungen, mit denen uns die Welt des Paranormalen konfron- tiert. Die Krankenschwester beschreibt nun, wie sie jedes Detail, jeden Vorgang im Krankenzimmer genau sehen konnte und mit- Novalis, der wie Platon (s. Kap. III. 25 und VIII. 1) gerne erlebte. Und, wie sie am nächsten Morgen von ihren erstaunten Licht und Schatten in eine neue Perspektive setzt, bemerkt: Kolleginnen und Kollegen erfuhr, die bei diesem Vorfall am Krankenbett anwesend waren, ihr Patient schwebte tatsächlich

258 259 Mit Goethe durch die Welt der Geister Das Fühlen von Geistern in eben jener Minute, um 1.15 Uhr, in höchster Lebensgefahr, Treffer auch wirklich einen Treffer verstehen sollen oder ob es und die Meßgeräte zeigten Herzstillstand an. sich nicht vielmehr um einen Fehlschlag handelt, d. h. ob das Von geisterhaften Berührungen der handfesten Art lesen wir tatsächliche Treffen eines Menschen nur sozusagen ein Fehl- immer wieder, auch wenn wir uns in die Geschichte zurück- schlagen des üblichen Fehlschlags ist. versetzen und etwa Fanny Moser bei der Erforschung eines ihrer besten Fälle begleiten, dem Spuk im Hause Melchior Ein ausgedehntes Feld des Jollers (s. Kap. III.24). unmittelbaren Fühlens von Gei- stern – direkt auf der Haut – Das Fühlen von Geistern ist allein schon sprachbedingt ein bilden die Stigmata, am Körper recht komplexes Thema. Das Gefühl, es könnte ein Geist in der erscheinende Wundmale Jesu, die Nähe sein, ist etwas völlig anderes als das Spüren einer Geister- in der Regel auch bluten. Man hand auf der Haut. Dieses hautnahe Fühlen eines Geistes dokumentierte sie im Laufe der gehört zu den typischen Phänomenen, die in Spukfällen oft im Kirchengeschichte bei Hunder- Zusammenhang mit einer ganzen Spukszenerie erlebt werden. ten von Menschen, meist Frau- Die kalte Geisterhand ist klassisch. Auch der berühmte eiskalte en, wie etwa der Augustinerin Hauch weht häufig, wenn ein Geist in der Nähe ist, eben dort, Anna Katharina Emmerich (s. wo es spukt. Weniger bekannt mag sein, daß auch Sterbende Kap. V.2) und der Seherin von eisige Kälte im Raum verbreiten können, die sich auf keine Konnersreuth, der Schneider- bekannten Ursachen zurückführen läßt – hier ist von cold spots tochter Therese Neumann (1898 die Rede, von kalten Punkten, die etwa Krankenschwestern –1962). Zuerst traten Stigmata häufig wahrnehmen können (Morris und Knafle 2003, S. 158). allerdings bei einem Mann auf, Aber ein Hauch von Geist ist noch relativ harmlos, verglichen dem Beschützer und Fürsprecher mit den Attacken von aggressiven Geistern, die in manchen Pol- der Tiere, dem heiligen Franz tergeistfällen wüten. Das Werfen ist eine Lieblingsbeschäftigung von Assisi (vgl. Kap. II.7). Eine von Poltergeistern, vor allem das Daneben-Werfen, ganz nach weitere männliche Ausnahme ist dem volkstümlichen Motto „dicht daneben ist auch vorbei“. der Pater Pio alias Franz For- Franz von Assisi (1181/82-1226). Wir haben viele Zeugnisse von um sich werfenden Geistern, gione aus Pietralcino (s. Kap. wobei die Gegenstände zwar blind ausgewählt erscheinen, tat- VIII.2). sächlich aber keineswegs blind, sondern vielmehr gezielt Perso- Wahrnehmung von Geistern – dieses unerschöpfte und uner- nen nachgeworfen werden, um sie schließlich ebenso gezielt zu schöpfliche Thema zielt, wie wir in diesem Kapitel hier sehen verfehlen. Doch in seltenen Ausnahmefällen kriegt es der Ver- können, immer auch gleichzeitig auf die Frage nach einer alter- folgte schon einmal knallhart zu spüren, wenn sich nämlich nativen, einer außersinnlichen Wahrnehmung: Sehen und Zwei- unter den geschickten Fehltreffern gelegentlich ein Volltreffer tes Sehen, Hören und Zweites Hören, Riechen und Zweites befindet. Dann bleibt zu fragen, ob wir unter einem solchen Riechen – also auch Fühlen und Zweites Fühlen? Gibt es neben

260 261 Mit Goethe durch die Welt der Geister Ahnungen dem rein physischen hautnahen Fühlen eines Geistes noch eine Art außersinnliche, nur scheinbar taktile Erfahrung, die wir mit einem Geist machen können? Ja, doch nicht ganz in Analogie II.6 zum Zweiten Sehen oder Hören, denn das alternative Fühlen AHNUNGEN findet nicht „quasi“ auf der Haut, am Körper, statt; das Sehen mit den inneren Augen wird immerhin noch als ein Sehen emp-  funden, doch diese zweite Art des Fühlens geht sozusagen unter die Haut, sie macht sich im Innern des Menschen bemerk- Warum gabst du uns die Tiefen Blicke bar, ist ein verinnerlichtes Fühlen, ein Gefühl. Moderne Begriffe, Unsre Zukunft ahndungsvoll zu schaun [...] doch Stiefkinder der Forschung, wie „Imagination“ und „Intui- (Goethe, Anfang eines Gedichtes an Charlotte von Stein, 1776) tion“ weisen in diese Richtung.  Die Seherin von Prevorst wußte, was damit gemeint ist, wenn sie erklärt: Was sind Ahnungen? Lassen wir zunächst den Dichter ant- Mit geschlossenen Augen sehe ich sie [die Geister] nicht (auch worten. Novalis eröffnet sein episches Werk Die Lehrlinge zu nicht, wenn ich mich nicht nach ihnen umschaue), aber ich Sais mit Gedanken über die Ahnung oder, um das ältere Wort fühle ihre Gegenwart so genau, daß ich den Standpunkt, wo zu gebrauchen, über die Ahndung: sie stehen, mit geschlossenen Augen, oder nicht nach ihnen Mannichfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt schauend, angeben kann. [...] Stehen sie sehr nahe an mir, so und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; kann ich sie nicht ertragen, sie schwächen mich. Manche Figuren, die zu jener großen Chiffrenschrift zu gehören schei- Menschen, die sie nicht sehen, fühlen sie, wenn sie in meiner nen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, Nähe sind, durch ein besonderes Gefühl auf der Herzgrube, im Schnee, in Krystallen und in Steinbildungen, auf gefrie- Beengung; Anwandlung von Ohnmacht. Sie machen wie renden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der einen Gegendruck auf die Nerven. Auch Tiere fühlen ihre Pflanzen, der Thiere, der Menschen, in den Lichtern des Nähe. Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech (Kerner 1892, S. 255f.) und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und son- derbaren Conjuncturen des Zufalls, erblickt. In ihnen ahndet man den Schlüssel dieser Wunderschrift, die Sprachlehre derselben; allein die Ahndung will sich selbst in keine feste Formen fügen, und scheint kein höherer Schlüssel werden zu wollen. Ein Alcahest scheint über die Sinne der Menschen ausgegossen zu seyn. Nur augenblicklich scheinen ihre Wün- sche, ihre Gedanken sich zu verdichten. So entstehen ihre

262 263 Mit Goethe durch die Welt der Geister Ahnungen

Ahndungen, aber nach kurzen Zeiten schwimmt alles wieder, Die Thüringer Schrifstellerin Johanna Isabella Eleonora von wie vorher, vor ihren Blicken. Wallenrodt (1740–1819), deren Tochter Auguste Freifrau von (Novalis 1977, Bd. 1, S. 79) Goldstein sich ebenfalls für den Weg der Poesie entschied, bringt in ihrem Buch Geistererscheinungen und Weissagungen Ahnungen werden allgemein als eine Art von Vorwissen ver- besonders für unsere Zeiten merkwürdig ein sehr ausführliches standen, als eine Vorstufe von Wissen, als vage Ideen von etwas Beispiel einer Ahnung, oder Ahndung, wie sie es nennt. Isabella noch nicht Gewußtem oder Bewußtem. Dieses Vorausahnen von Wallenrodt steht auf dem Standpunkt, daß die meisten kann sich sowohl auf zukünftige Ereignisse beziehen sowie auf Erscheinungen von Geistern frei erfunden werden oder der noch nicht erkannte Zusammenhänge, ist unabhängig von Raum Phantasie entspringen, doch „es läßt sich nicht behaupten, und Zeit. Eine Ahnung kann sich aber nicht nur auf etwas noch daß ganz keine Geistererscheinungen möglich, noch weniger, nicht Geschehenes beziehen, sondern auch auf etwas noch nicht daß nie ein Mensch Offenbarungen gehabt, und wichtige Ver- Gesehenes bzw. Nicht-zu-Sehendes. Im Kontext mit Geistern änderungen vorher verkündigt hätte“ (Wallenrodt 1796, S. 1). kann es sich dabei schlichtweg um ein Gefühl, ein dumpfes Der schulphilosophischen Behauptung, daß Geistererscheinun- Wissen von der Anwesenheit eines nicht begreifbaren Wesens, gen nicht möglich seien, weil nichts Unkörperliches gesehen eines Geistes oder höherer Geistwesen handeln. Die unzählba- werden könne, hält sie die Frage entgegen: ren Berichte von Engelerlebnissen, deren Präsenz gespürt wird, [...] ob es nicht außer uns Geschöpfe geben könnte, die einen geben beste Beispiele dafür ab (vgl. Kap. III.3). so subtilen Körper haben, daß man ihn nach dem Bau unsers Auges natürlicherweise nicht sehen kann, daß aber wohl Ahnungen spiegeln ein inneres Wissen wider, das sich im dieser luftige Körper fähig seyn möchte, sich zuweilen mehr nachhinein als richtig oder berechtigt herausstellt. Sie werden Consistenz zu geben, wobey er gesehen werden könne? [...] mit mehr oder weniger Gewißheit vernommen und mit unter- Kennet Ihr alle Kräfte der Natur, und der tausend und aber- schiedlicher Intensität empfunden. Ahnungen deuten etwas an, mal tausend verschiedenen Wesen, die sie enthält? sind erste innere Anzeichen, sind wie der unvollkommene (Wallenrodt 1796, S. 2) Anfang eines Ganzen. Im praktischen Leben können Ahnungen, wenn der Umgang mit ihnen gelernt wird, durchaus ganz kon- Isabella von Wallenrodts Beispiel einer Ahnung schildert krete Handlungsimpulse setzen. einen Fall, der trotz verkürzter Darstellung den Hauptteil ihres Dem anbrechenden 19. Jahrhundert galten Ahnungen als 1796 anonym veröffentlichten Buches ausmacht, nämlich ganze Fakt: 137 Seiten. Dem Fall liegen Briefe mit dem Anspruch auf Wir meinen aber, daß überhaupt wohl keine der neueren in Wahrheitsgehalt zugrunde, die man der Autorin zukommen Deutschland gelehrten Philosophien gegen Ahnungen und ließ. Es handelt sich nicht um ein Beispiel für eine Ahnung von Voraussagen etwas einzuwenden habe, sie sind ihnen notwen- der Anwesenheit eines unsichtbaren Geistes, wie sie oben (Kap. dig zur Ergänzung. II.5) und noch an späterer Stelle (Kap. IX. 6) beschrieben wird, (Arnim 1992, S. 545) sondern hier wird die intensive Ahnung eines zukünftigen

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Geschehens mit vielen damit in Zusammenhang auftretenden Männern, die auf eine Aussteuer sehen müssen, nicht gesucht Geistererscheinungen verknüpft: werden; aber sie ist hübsch und gefällt dem andern Geschlecht, also könnte es doch wohl kommen, daß einer oder der andere die Im Fränkischen Kreis lebte in den dreißiger Jahren dieses Augen auf sie würfe. In dieser Gegend ist das nun wohl nicht Jahrhunderts eine adeliche Familie, die anfangs aus mehrern zu fürchten. Aber Sie können das Mädchen ja nicht immer bei Mitgliedern bestand, endlich aber bis auf eine Witwe und eine sich behalten, Sie müssen suchen dieselbe als Wirthschafts= oder einzige Tochter ausstarb. Die Mutter mußte das Guth, weil es Gesellschafts=Fräulein unterzubringen, und es könnten ihr dann nach dem Tod ihres letzten Söhnchens, als Mannslehn, an einen Gelegenheiten aufstoßen. O Freund! Henriette hat mir verspro- Verwandten fiel, räumen, und lebte von ihrem sehr kleinen chen, Sie, wenn solch ein Fall eintreten sollte, zu Rathe zu zie- Witwengehalt mit ihrer Tochter in einem kleinen Städtchen, wo hen, ich weiß, sie wird Wort halten. Versprechen Sie mir nun sie dieser eine möglichst gute Erziehung, und selbst das beste auch, alsdann eine Reise zu wagen, um genaue Erkundigung Beispiel einer Gottesfurcht und ungeheuchelten Tugend gab. Als nach dem Manne, der sie heirathen will, einzuziehen.“ dieses, auch seiner Schönheit wegen, liebenswürdige Mädchen Der Prediger versprach es, und die gute Mutter war einiger- achtzehn Jahre alt war, starb die gute Mutter. Ihre in dieser maßen beruhigt; doch wenige Stunden vor ihrem Tode äußerte Welt ausgestandene Leiden hatten auf diese weiche und fast zu sie nochmals diese ängstliche Sorge um Henrietten, und wünsch- sehr empfindliche Seele zu stark gewirkt, als daß sie nicht einen te, sie mit in jene Welt nehmen zu können. fortdauernden Tiefsinn hätten zurücklassen, und ihre Sorge Untröstlich über den Verlust ihrer Mutter, wäre auch Fräulein schwächen sollen. Die Sorge um ihre verlaßne Tochter vermehr- Henriette ihr gern ins Grab gefolgt, als diese theure Mutter nun te ihren Gram. Sie hatte die letzten Jahre ihres Lebens eine dahin war. Ihr Schmerz war grenzenlos, und nur der so liebreiche Ahndung, welche sie nicht loswerden konnte, und nach welcher als vernünftige Zuspruch ihres jetzigen Beschützers, des erwähn- diese Tochter durch Heirath unglücklich werden würde. Oft ten Predigers, war vermögend, sie einigermaßen zu beruhigen. sprach sie mit ihr davon und beschwur sie, wo sie sich auch Sie brachte beinahe ein Jahr bei diesem redlichen Manne zu, aufhalten würde, und welche gute Aussichten und Hofnungen er sowohl als seine Frau hätten gewünscht, sie immer bei sich ihr auch irgend eine junge Mannsperson zeigen möchte, sich nie behalten zu können, da sie aber selbst eine zahlreiche Familie ohne die sorgfältigste Prüfung, ohne den Rath ihres Freundes – hatten, und es auch der Vernunft gemäß war, Henrietten in eine eines Predigers, dem sie anvertraut werden sollte – in eine Laufbahn zu bringen, wo sie vielleicht auf Lebenslang Versor- Verbindung einzulassen. Einige Tage vor ihrem Tode, als der gung fände, so war der Prediger darauf bedacht, und gab allen Prediger sie besuchte, sagte sie: „Einziger Freund! lassen Sie sich seinen Bekannten von Wichtigkeit Aufträge sie zu empfehlen. Henriettens Herz empfohlen seyn, bewahren Sie dasselbe so Seine Absicht war, sie an einen kleinen Hof, oder wenigsten lange sie bei Ihnen ist. Sie ist tugendhaft, ich darf mich darauf in ein großes Haus zu bringen. Es giebt im Reiche öfter Gele- verlassen, aber ihr Herz hängt sich leicht an, es schaudert mir genheit zu Erreichung einer solchen Absicht, und der Pastor war vor dem Gedanken, daß es einem Unwürdigen zu Theil werden auch so glücklich, ein großes gräfliches Haus für seine Pflege- könnte, der sich etwa in einen Engel des Lichts verstellt, und tochter zu finden, mit welchem sie sogar verwandt war, wo sie ich fürchte es. Sie hat kein Vermögen, folglich wird sie von als Gesellschafts=Fräulein aufgenommen ward. Der Umstand,

266 267 Mit Goethe durch die Welt der Geister Ahnungen daß dieses Haus von dem Ort, wo der Pastor lebte, nicht weit geschehen konnte, hatten sich auch verschiedene Liebhaber gefun- entfernt war, beruhigte ihn und Henrietten ungemein. Nun den. Einer derselben war ein gesezter Mann, welcher ihr, wo konnten, im Fall sich etwas nach der Ahndung der Mutter nicht einen glänzenden Zustand, doch ein hinlängliches Aus- ereignete, beyde das ihr gethane Versprechen erfüllen. kommen geben konnte. Der Graf und die Gräfin baten ihn oft in ihr Haus, und bezeugten Henrietten, daß sie es sehr gerne Die Situation hatte sich für Henriette nun ganz und gar zum sehen würden, wenn dieser brave Mann, wie sie Hofnung hät- Positiven gewandelt; sie hatte in diesem hochherrschaftlichen ten, ihr seine Hand anbieten sollte. Henriette hätte sie freilich Haus ein neues Umfeld gefunden, in dem sie sich ausgespro- nicht ausschlagen dürfen; aber sie empfand nicht die geringste chen wohl fühlte. Alles schien in bester Ordnung zu sein, und Neigung für ihn, und wünschte heimlich, daß ihr Pflegevater die Zeit schien eine ganze Weile lang stillzustehen ... etwas Gefährliches an ihm entdecken möchte. Doch, da er noch keinen förmlichen Antrag gemacht hatte, wollte sie diesem Wie glücklich wäre das gute Fräulein nicht gewesen, wenn die Sache nicht zu früh melden. Ein anderes war es mit dem diese Ruhe nicht durch die Erscheinung eines jungen Edelman- Baron Ostenheim; jemehr sie ihn sahe, desto stärker ward ihr nes unterbrochen worden wäre, welcher in der dortigen Gegend Herz von ihm eingenommen, und innige Wonne machte ihr viel Aufsehen machte. Er ließ sich in einer großen Stadt, nicht die Entdeckung, daß auch er sie liebte. Diese Liebe zeigte weit von dem Orte nieder, wo die gräfliche Familie wohnte, bei Ostenheim nicht mit jener Zuversicht, wozu er als ein reicher welcher Henriette sich befand. Seine Figur, seine Sitten und sein Mann gegen ein so armes Mädchen berechtigt schien; sie war Verstand waren liebenswürdig, eine brillante Erscheinung, die von Schüchternheit und Ehrfurcht begleitet, und lange wagte er doch aber nicht von Verschwendung und allzugroßer Pracht- kein vollständiges Bekenntniß. Der Graf, die Gräfin und die liebe, vielmehr von einem gesetzten Geiste zeugte, vollendete jungen Gräfinnen bemerkten es indessen, und obwohl Baron seinen guten Ruf. Jeder schäzte sichs zur Ehre, mit dem Baron Ostenheim vielleicht auch bei den leztern nicht wäre abge- Ostenheim in Umgang zu kommen. Henriette war mit dem wiesen worden, so dachten sie doch alle zu edel, und liebten Grafen, seiner Gemahlin und Töchtern in der Stadt, wo er sich Henrietten zu sehr, um über den Vorzug, den er ihr gab, miß- aufhielt, einst auf einem Ball, und dort machte er ihre Bekannt- muthig zu seyn. Sie wünschten ihr Glück, und es war nun nicht schaft. Er selbst gab einige Tage nach diesem Ball ein Fest, mehr die Rede von jenem ehrlichen Manne, welcher das Fräu- wozu er das gräfliche Haus einlud. Henriette hatte vom ersten lein würklich liebte, aber sogleich zurücktrat, als er die Absich- Augenblick an, da er sie sah, seinen Beifall, und da auch er ten des Barons und Henriettens Neigung zu diesem bemerkte. einen noch nie gefühlten Eindruck auf ihr Herz gemacht hatte, Sobald die Bekanntschaft mit ihm bedeutend zu werden anfieng, so war sie über die Gelegenheit, ihn wiederzusehen, sehr erfreut. schien es Henrietten fast jeden Tag, wenn sie einsam war, als Er ward, wie natürlich, von der gräflichen Familie wieder gebe- ob sie die Stimme ihrer Mutter hörte: es waren immer Klage- ten, und wurde bald ein genauer Bekannter, ein geschäzter töne, welche sie vernahm. Sie schauderte jedesmal zusammen, Freund dieses Hauses. da sie aber öfter an sie dachte, und bei aller Liebe zu ihrem Seit Henriette in demselben Gelegenheit gehabt hatte, mehr Ostenheim doch immer eine innere Angst fühlte, so glaubte sie Bekanntschaften zu machen, als es in ihrer vorigen Dunkelheit sich selbst nicht, sondern hielt es entweder für Würkung ihrer

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Phantasie, oder für Schall, der von irgend einer naturlichen ein, daß sie keine Verbindung eingehen sollte, ohne daß ihr Ursache herkäme, und von ihrer Einbildung zur mütterlichen väterlicher Freund den Mann genau geprüft hätte; daß sie ihrer Stimme umgeschaffen würde. Mutter Stimme gehört, eben deswegen gehört hatte, schien ihr Ohngefähr 3 Monate hatte sie den Baron gekannt, als sie ein jetzt wahrscheinlich; sie konnte es auch nun seyn, welche sie Schreiben von ihm, und in demselben den förmlichen Heiraths- vorhin gerufen hatte. Dies alles trat plötzlich ihr ins Gedächt- antrag erhielt. Es war der Ausdruck der reinsten Tugend und niß, sie erröthete vor Schreck und Ahndung, und blieb unent- des größten Edelmuths, der unverstelltesten Aufrichtigkeit bei schlossen stehen. Es ward bemerkt, und Henriette sollte von der zärtlichsten Liebe, den sie hier vor Augen hatte. Ihr Herz diesem Betragen Rechenschaft geben. Da die edlen Mitglieder bebte vor Freuden, sie dünkte sich die glücklichste Sterbliche. dieses Hauses ihr so viel Güte und Theilnahme bewiesen, hielt Sogleich eilte sie mit diesem Briefe zu der ältesten Tochter vom es Henriette für billig, ihnen alles zu gestehen. Der Graf lachte Hause, ihrer vertrautesten Freundin. Im Davoneilen hörte sie über ihre Einbildung von der Mutter Stimme, und hielt es zwar die Stimme ihrer Mutter, die ihren Namen nannte, aber selbst für eine natürliche und billige Vorsorge der Mutter, ein junges in dem Augenblick, wo sie darüber erschrak, hielt sie es wieder und unerfahrnes Mädchen den bessern Einsichten eines bejahr- für das Rufen der jüngern Comteß und antwortete: „ich komme ten klugen Mannes zu unterwerfen, wenn es besonders einen so bald“. Die ältere Comteß freute sich mit ihr über den Brief des wichtigen Schritt, als die eheliche Verbindung auf Lebenszeit Barons, beide begaben sich nun zur Gräfin Mutter, welche ihr beträfe. „Aber“, sezte er hinzu, „Ihre Mutter konnte nicht wis- Glück wünschte, einen so würdigen Mann zum Gemahl zu sen, daß Sie in unserm Hause eine Gelegenheit, sich zu verhei- bekommen. Er hatte in seinem Briefe, ohne von großen Reich- rathen, finden würden, sonst hätte sie uns wohl auch zugetraut, thümern zu prahlen, gesagt, daß er Vermögen genug besäße, daß wir einen Mann, der sich um Sie bewürbe, prüfen könnten, um Henrietten das Leben leicht und angenehm machen zu kön- und wenn sie noch dazu unsere redliche Wohlmeinung hätte nen, und sie auch nach seinem Tode zu versorgen, und hatte voraussehen können, so würde sie nicht geglaubt haben, daß unter andern eines Guthes gedacht, welches er von einem klei- wir Ihnen etwas schlimmes rathen könnten. Aber schreiben Sie nen Theil seines Vermögens im Schwäbischen Kreise angekauft Ihrem geistlichen Vater, er kann nach R. reisen, und sich nach hätte, auf welchem Henriette, wenn sie wollte, mit ihm im dem Baron Ostenheim erkundigen; die ganze Stadt schäzt ihn. Sommer und einst als Witwe leben könnte, wenn es ihr in der Er kann ihn selbst kennen lernen, und wenn er ihn Ihrer nicht großen Welt nicht mehr gefallen sollte. würdig findet, dann ist der Herr Pastor schwer für seine Emp- fohlne zu befriedigen.“ Der Graf hatte dies leztere in ziemlich Das Angebot klang recht verlockend – nicht nur für Henriette verdrüßlichem, etwas spöttischen Tone gesagt, Henriette war selbst, sondern auch für die Gräfin und ihren Grafen. Und so besorgt, ihn beleidigt zu haben, ihr Herz widersezte sich ohne- stand einer positiven Antwort auf diesen Brief nichts mehr im hin jeder Verzögerung der Zusammenkunft mit dem Geliebten. Wege ... Aus diesem doppelten Grunde erklärte sie, daß sie auf nichts Henriette war nur allzu geneigt, dieses ohne Aufschub zu warten, sondern blos seinem und seiner Gemahlin Rathe folgen thun; allein, indem sie schon auf ihr Zimmer gehen wollte, um und sogleich schreiben wolle. Man gab ihr zu verstehen, daß sie diesen Brief zu schreiben, fiel ihr plötzlich der Wille ihrer Mutter daran wohlthun würde; sie eilte also und schrieb.

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Lange blieb sie diesen Abend im Zimmer der ältesten Toch- Geruch des Feuers wie im Traume empfunden, auch das Feuer ter vom Hause, wohin auch die jüngste kam. Es wurde von bei verschloßnen Augen durchschimmern sehen, aber nichts ihrer vorseyenden Verbindung gesprochen, und darüber auch dabei gedacht hätte. Jetzt mußte sie die Thür öfnen, und es zuweilen gescherzt. Doch nicht lange blieb Henriette ruhig wurde ein Lerm im Schloß, der die ganze noch übrige Nacht und heiter, es bemächtigte sich ihrer eine Unruhe, die bis zu dauerte. Sie fühlte sich krank, konnte sich aber erst gegen Mor- immer heftigerer Angst wurde. Sie wünschte mit ihrer Freun- gen im Zimmer ihrer Freundin zu Bette legen, welcher sie nun din Charlotte, der ältern Comteß allein zu seyn, um ihr Herz den ganzen Vorgang erzählte, um überhaupt ihr Herz wegen ausschütten zu können und vielleicht dadurch etwas Ruhe zu aller ihrer Besorgnisse, die mit der heftigen Liebe zu Ostenheim erhalten ... stritten, zu ergießen. Charlotte nahm den größten Antheil, und rieth ihr, sobald sie nur könnte, dem Prediger zu schreiben. Doch der Abend entwickelte sich anders: Die muntere jüng- ste Gräfin blieb die ganze Zeit bei ihnen, und so ergab sich Henriette konnte dem guten Rat der Freundin jedoch nicht für Henriette nicht die Gelegenheit, mit Charlotte unter vier sogleich nachkommen – die Vorfälle hatten sie zu sehr mitge- Augen zu sprechen. Kurzentschlossen ging sie in ihr Zimmer. nommen, ja sie wurde richtig krank davon, hatte mit starkem Fieber zu kämpfen. Die Angst vor der Reaktion auf das Feuer, Hier hatte sie sich eben ausgekleidet und wollte sich zu Bette vor allem von seiten des Grafen, saß ihr in den Knochen. legen, als sie ihre Mutter gegenüber stehen, und mit dem Finger drohen sahe. Sie sank auf den Stuhl und schloß die Augen. Es Charlotte, welche herzliches Mitleid mit ihr hatte, übernahm überfiel sie ein heftiges Zittern, fast war sie ihrer Sinne beraubt; es, sie zu entschuldigen so gut sie konnte, ohne der Erscheinung lange saß sie so da ohne nur eines ruhigen Gedankens fähig zu gedenken, um deren Verheimlichung Henriette bat, weil sie zu seyn. Sie hatte nicht das Herz, die Augen aufzuthun, und sich vor dem Spott des Grafen fürchtete. Charlotte billigte die würde ohne Zweifel auch so bald nicht zu sich selbst gekommen Verschweigung auch aus diesem Grunde, weil Ostenheim sie seyn, wenn nicht ein anderer Schreck sie geweckt hätte. In dem leicht für eine Schwärmerin halten, und also etwas lächerliches Augenblick, als sie den Geist erblickte, hatte sie das Licht in der an ihr finden möchte. Henriette war nun in tausendfacher Hand, um etwas am Rande des Tisches, welcher zwischen zwei Unruhe! Der Geist konnte sie, was ihr auch die Liebe zu Osten- Fenstern stand, zu suchen. Da sie nun die Erscheinung hatte, heim dagegen sagte, gewarnt haben, und doch widersezte sich warf sie das Licht aus der Hand, es fiel an den Vorhang, dieser ihr Herz dem Gedanken, daß sie ihn gefährlich finden und war nicht nur angebrannt, sondern hatte auch alles, was auf vermeiden sollte. Auch ließ sich dies ohne Entdeckung ihrer dem Tische lag und die Vorhänge links und rechts ergriffen, Zweifel nicht thun. Diese aber würde der Graf verachten und ohne daß Henriette es gewahr worden war. Aber nun wurde im Ostenheim übernehmen. Er kam noch diesen Tag, aber Hen- Hofe von dem Wächter Feuer geschrieen, sie fuhr auf, schlug riette war zu krank, um ihn sprechen zu können, doch der die Augen auf, und sah, daß es in ihrem Zimmer brannte. Sie Vorgang der Nacht entschuldigte sie völlig. Man hatte nicht ver- selbst, die ziemlich nahe am Tische saß, hätte sehr leicht können säumt, sogleich als Charlotte berichtete, wie krank sie wäre, ergriffen werden. Sie gestand nachher, daß sie den Dampf und nach einem Arzt zu schicken, welcher den ganzen Tag und die

272 273 Mit Goethe durch die Welt der Geister Ahnungen folgende Nacht bei ihr blieb. Seinen Bemühungen kam die Nach- welcher sie, schon ehe sie auf ihr Zimmer kam, befallen worden richt, die ihr Gräfin Charlotte gab, daß Ostenheim da wäre und war. Sie fieng also an alle Furcht der Gefahr, wegen der Ver- über ihre Krankheit die lebhafteste Betrübniß zeigte, unendlich bindung mit dem Baron, als Chimäre anzusehen. Gräfin Char- zu Hülfe. Sie verkündigte ihr, daß ihre Eltern ihn gebeten hätten, lotte hatte ihr den Schluß machen helfen: daß der Eindruck, den diese Nacht und überhaupt so lange, als die Krankheit dauerte, die Sorge ihrer Mutter über eine zu befürchtende unglückliche zu bleiben, weil er doch, wenn er im Hause wäre, oft Nachricht Ehe bei ihr zurückgelaßen, all die Angst und die Einbildung, von ihr haben, und sie bei der ersten leidlichen Stunde sprechen als hätte sie ihrer Mutter Stimme gehört und sie selbst gesehen, könnte. Er hatte diese Erlaubniß mit Freuden ergriffen, und verursacht habe, daß dieses, weil von einer Verbindung die Rede Charlotte hatte alle Augenblicke nach ihr gesehen, um ihm die sey, und sich ihre Gedanken neuerlich mit den Ahndungen der Nachricht zu bringen, daß der Arzt keine Gefahr befürchtete, sel. Mutter beschäftigten, um so natürlicher wäre. und daß das Fieber abnähme. Er hatte auch den Arzt selbst gefragt, sich aber auf dessen Zeugniß und auf das Zureden der Einigermaßen beruhigt stimmte Henriette nun einem Besuch ganzen Familie kaum etwas beruhigt. Dieses alles hinterbrachte des Barons zu, und am liebsten hätte sie ihm gleich ihr Jawort die gütige Charlotte ihrer Freundin, sobald sie völlig bei sich gegeben – hatte sie doch die Unterstützung des ganzen Hau- war. „Sie sehn also“, sagte sie, „wie stark Sie geliebt sind, auch ses ... hat die gesezte sanfte Art, womit er seinen Kummer zeigt, die Verlegenheit, uns andern damit unartig zu scheinen, mich und Aber Ostenheim begnügte sich in diesen wenigen Stunden alle aufs neue für ihn eingenommen.“ – „Ja“, sagte Henriette mit dem Vergnügen, sie leidlich zu finden, und die Hofnung zu mit matter Stimme, „er ist gewiß ein edler Mann, der mich nicht erhalten, daß sie bald wieder bei der Gesellschaft erscheinen betrügen wird!“ „Nein“, versezte Charlotte; „allein schreiben würde. Auch diese Bescheidenheit, welche alle an ihm rühmten, Sie doch an Ihren Pflegevater, damit Sie ruhig werden. Ich will nahm Henrietten aufs neue für ihn ein. Die Freude, welche über in Ihrem Namen schreiben. Er mag herkommen“ – „Aber was ihre Besserung aus seinen Augen glänzte, und die zärtliche wird Ihr Herr Vater sagen?“ – „Wir lassen ihn von ohngefähr Besorgniß um sie, die er so ganz ohne Affektation äußerte, lie- gekommen seyn.“ Dieser Plan ward angenommen, und beruhigte ßen sie nun an nichts mit größerer Gewißheit glauben, als an Henrietten vollkommen. Die Hofnung, daß der Prediger den das wie möglich geglaubte Glück, welches sie als Gattin eines so Baron nach der strengsten Untersuchung so vortreflich finden bezaubernden Mannes erwartete. Ihr väterlicher Freund ließ würde, als alle andere, die Freude, von diesem durchgängig nicht auf sich warten; sobald er Charlottens Brief erhalten hat- geschäzten Mann so geliebt zu seyn, ihn, den selbst so heiß te, eilte er und fragte, da er ankam, zuförderst nach der Gräfin Geliebten im Hause, und von ihrer Freundin Charlotte aufs Charlotte, welche ihm diese Behutsamkeit empfohlen hatte. Sie neue bewundert zu wissen, dies alles trug zur Minderung ihrer unterhielt sich also mit ihm von dem Glück, welches ihrer Krankheit bei. Man findet das, was man wünscht, nur zu gern Freundin bevorstände, und was ihr, die Erscheinung betreffend, wahr, daher überließ sich Henriette den Vorstellungen ihrer begegnet wäre. „Ich kenne“, sagte dieser, „Henriettens Lebhaf- Freundin, und glaubte, daß die Erscheinung ihrer Mutter wohl tigkeit in ihren Einbildungen; es kann seyn, daß blos diese hier blos Einbildung, und diese Wirkung der Angst seyn möchte, von im Spiel ist, ja ich glaube es vielmehr gewiß. Indessen wird es

274 275 Mit Goethe durch die Welt der Geister Ahnungen mir lieb seyn, ihren Geliebten kennen zu lernen; ob ich mir einer solennen Verlobung [festlichen Verlobung] erst anberaumt gleich nicht einbilde, ihn besser prüfen zu können, als Sie aller- werden, und sie an demselben einen weit kostbarern Verspre- seits, die ihn, wie sie mir sagen, so hochschätzen. Ich freue mich chungs=Ring, nebst mehrern Kostbarkeiten, erhalten sollte. Der schon im voraus, meine liebe Henriette durch ihn glücklich zu Baron sowohl als der Prediger reißten an ebendemselben Tage sehen.“ In dieser Stimmung begab er sich zu der meist herge- ab, wo sich Henriette dem erstern zugesagt hatte; er versprach stellten Patientin, und beruhigte sie immer mehr, doch versprach dem lezten, sobald es möglich wäre, einen Besuch, und dieser er ihr, mit dem Baron die möglichst genaue Bekanntschaft zu freute sich ungemein auf ihn. machen. Charlotte hatte ihn indeß bei ihren Eltern gemeldet; diese fanden es sehr begreiflich, daß der Prediger von dem Vor- Für Henriette schien nun alles in bester Ordnung zu sein. gang wegen des Feuers und von der Krankheit seiner ehemali- Sie war glücklich und zufrieden, fest davon überzeugt, daß sie gen Pflegetochter Nachricht erhalten hätte, und sie zu besuchen ganz im Sinne ihrer Mutter handle. Mit der Gräfin besprach sie kam. Sie ließen ihn einladen, der Graf stellte ihn selbst dem bereits die nötigen Vorkehrungen. Baron Ostenheim als den väterlichen Freund seiner Geliebten vor, und da dieser ihm in einer solchen Würde viel Achtung Als es zu dämmern begann, wollte sie auf ihr Zimmer gehen, bezeigte, und zuvorkommend freundschaftlich gegen ihn war, und da sie dahin einen Gang passieren mußte, so erblickte sie in so wurde der Pastor bald so sehr von ihm eingenommen, als die demselben die Gestalt ihrer Mutter, welche mit dem Ausdruck Uebrigen. Der Graf bat den Geistlichen, einige Tage bei ihnen der größten Traurigkeit die Hände wand. In diesem Augenblick, zu bleiben, und ließ ihn den folgenden Morgen in sein Cabinett da sie den Geist sah, trat ihre Freundin Charlotte aus einer bitten, wo er ihm das erzählte, was er schon von Charlotten Thür, nicht zehn Schritte von der Stelle ab, wo er stand. Sie wußte. Die Meinungen, welche der Prediger über die Sache erschrak vor Henrietten, welche todtenbleich und zitternd am überhaupt äußerte, und die wir bereits wissen, waren der Ein- Eingang stand. „Was ist Ihnen?“ sagte sie. „Sehn Sie nichts?“ sicht des Grafen gemäß, welcher aber nichts von der wirklichen versezte Henriette mit bebender Stimme. – „Nichts, Liebe, bil- Erscheinung der Mutter wußte, auch nichts vom Prediger erfuhr, den Sie sich wieder etwas ein!“ – „Nichts? nichts? Ich sehe auch weil dieser selbst nicht daran glaubte, und eben so wie Charlotte nichts mehr, kommen Sie!“ Henriette sagte die Wahrheit, sie befürchtete, Henriette möchte durch dergleichen Phantasien bei sah nichts mehr, denn der Geist war verschwunden. Charlotte dem Grafen, oder gar bei dem Baron, wenn dieser es erführe, ergrif ihre Hand und begleitete sie in ihr Zimmer, dort versi- verlieren. cherte ihr Henriette, daß sie ihre Mutter wieder gesehn hätte. Da Henriette am siebenten Tage ihrer Krankheit das Zimmer Jene suchte es ihr auszureden, und fieng an von dem Baron zu schon wieder verlassen konnte, so wurde nun die vorseyende sprechen, weil sie wußte, dies sey der Stoff, der ihren Gedanken Verbindung ernstlich besprochen, und sie gab dem Baron, wel- eine andere Richtung geben könnte. Es wollte nicht sogleich cher diese ganze Zeit das Schloß nicht verlassen hatte, unter glücken. Charlotte schalt, gab ihr Medicin, und beschloß, daß Genehmigung des Grafen, seiner Gemahlin und ihres geistlichen sie von jetzt an in ihrem Zimmer logiren und schlafen sollte. Freundes, das Wort. Einen niedlichen Ring und einige andere Einige Tage war es ruhig, dann erhielt Henriette einen Brief Geschenke von Werth erhielt sie nur vorläufig, weil der Tag von ihrem Bräutigam. Ein Mahler, den er abgeschickt hatte, ihr

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Portrait zu nehmen, brachte ihn. Freudig erbrach sie ihn, aber wollen – beruhige Dich und höre meinen Rath: schreib an den indem sie das Schreiben las, saußte es um sie her, eine unsicht- Prediger, und theile ihm die beiden lezten Vorgänge mit, bitte bare Gewalt riß den Brief ihr aus den Händen, und schleuderte ihn, daß er eile, des Barons Geschichte von ihm selbst so voll- ihn bis an die Thür. Dies war in Charlottens Zimmer, wohin ständig als möglich zu erfahren. Hätte dieser etwas zu ver- sie mit dem Briefe gelaufen war, um ihn dieser Freundin gleich bergen, oder erzählte er etwas, das er nicht beweisen könnte, mitzutheilen. Als es, wie eben erwähnt, so schaurig saußte, dann wollt ich sagen, es muß untersucht werden, ehe Du etwa erschrak Henriette schon; da ihr der Brief entrissen war, sagte unglücklich wirst; denn ich will nicht eigensinnig leugnen, es sie mit Todeskälte: „Comteß Charlottchen!“ „Was giebts denn?“ konnte Warnung seyn. Legitimirt sich Ostenheim, dann, Kind, erwiederte diese ein wenig betroffen; denn diese hatte das Sau- nehmen wir sein jetziges Betragen dazu, und nichts kann Dich sen gehört, und das Hinfliegen des Briefes gesehen. – „Sie fra- abhalten, ihm die Hand zu geben. Auf! schreib! Morgen mit gen?“ – „Es wird wo ein Fenster offen stehen.“ – „Ein Fenster?“ dem Frühesten schick’ ich einen Boten ab.“ Henriettens Herz Charlotte hob den Brief auf, und überreichte ihn Henrietten. ward leicht, sie befolgte den Rath ihrer Freundin. Dieser Brief „Ich kann nicht lesen,“ sagte diese. Charlotte las ihn vor. Der sowohl, als die Antwort des Predigers, ist nebst allen andern Baron hatte versprochen, in zwei Tagen selbst zu kommen, und Briefen, welche Henriette mit diesem, mit ihrem Geliebten, seine Braut gebeten, doch ja sogleich zu ihrem Portrait zu sitzen. und nachher mit der Gräfin Charlotte wechselte, nach dem Tode Dies wollte sie nun nicht, Charlotte mußte ihr zureden. Sie phi- der unglücklichen Henriette, von der ersten gesammelt worden. losophirte wie gewöhnlich über die Sache, und Henriette, welche Die Antworten, welche Henriette hatte, überlieferte sie wenige ihrem Ostenheim gar zu gern gefällig seyn wollte, schickte sich Stunden vor ihrem Hinscheiden. an, den andern Tag sich mahlen zu lassen. Den Inhalt des Briefes an den Pfarrer entnehmen wir sinnge- Mit der eintretenden Dunkelheit aber kam ihre Angst zurück. mäß dem Gespräch der beiden Frauen, doch die Antwort darauf Sie sprach von der zweimaligen Erscheinung ihrer Mutter, lesen wir Wort für Wort: von den kläglichen Tönen, die sie, ehe noch der Baron einen „Ich habe einen Besuch von dem Baron gehabt, und mich durch förmlichen Antrag gemacht, gehört hätte; sie erinnerte sich des alles, was er mir von seinem bisherigen Lebenslauf gesagt hat, Rufens ihres Namens mit der Mutterstimme, und des heutigen noch mehr überzeugt, daß er ein rechtschaffener Mann ist; doch Vorfalls mit dem Brief. Diesen konnte Charlotte nicht leugnen, will ich ihr Verlangen gern erfüllen, und eine Reise zu ihm thun, da sie Augenzeugin war; aber sie bemühte sich aufs neue, die ich will auf Beweise dringen, und Ihnen so viel Ueberzeugung zu Sache einer natürlichen Ursache zuzuschreiben, obgleich sie nir- verschaffen suchen, als es sich wird thun lassen. Noch immer glau- gend das geringste von Zugluft verspürt hatte. Henriette war be ich, daß alles, was Sie sehen und hören, von einer erhizten diesmal nicht zu überzeugen. Ahndung und Liebe stritten in Einbildung herrühre; indessen wollen wir das möglichste thun, ihrem Herzen. Sie weinte, und Charlotte begleitete diese Thrä- um Sie noch vor der öffentlichen Verlobung zu beruhigen etc.“ nen mit den ihrigen. „Freundin“, sagte sie, „beruhige Dich, – Henriette ließ sich diesmal nicht mahlen, Charlotte selbst gab laß uns von jetzt an durch das vertrauliche Du beweisen, daß ihr den Rath, es unter dem Vorwand, daß sie sich erst noch wir Leid und Freude einander mittheilen und tragen helfen

278 279 Mit Goethe durch die Welt der Geister Ahnungen etwas erholen wolle, aufzuschieben; weil sie von der Krankheit einen für Henrietten nachtheiligen Verdacht. Charlotte ward angeschlagen, wirklich noch ziemlich blaß war, wozu das immer zuerst vorgenommen. „Rede“, sagte der Graf, „sollte Henriette wiederkommende Schrecken ebenfalls beitrug. Ostenheim fand, vor der Bekanntschaft mit dem Baron einen Fehltritt begangen als er ankam, diesen Bewegungsgrund gültig, und wollte nun, haben, und nun die Würkung davon verspüren? Dann wär’ es daß sie selbst bestimmen möchte, wenn sich der Mahler einfin- besser, jetzt, da es noch Zeit ist, mit Ostenheim die Sache rück- den sollte. Er bemerkte das stille melancholische Betragen seiner gängig zu machen. Denn, welche Intrigue ihr zur Verheimli- Braut mit Unruhe, und fragte um die Ursache. Sie wollte ihm chung auch unter Euch verabreden möchtet, so würde sie nichts dieselbe nicht sagen, und bat ihn, mit der Versicherung ihrer helfen; und Ostenheim, der so sehr auf Ehre hält, ist gewiß der aufrichtigen Liebe zufrieden zu sein. Er verdoppelte die Bewei- Mann nicht, der bei so etwas gelassen bliebe. Wenn sich nun se der seinigen, und verließ Henrietten zärtlicher als jemals und Henriette so etwas bewußt seyn sollte, so wärs ein schrecklicher zugleich etwas beunruhigter. Die vorhabende Untersuchung Leichtsinn, daß sie sich dennoch mit ihm verspräche.“ Der Graf ihres Freundes lag ihr indessen, nachdem sie den Baron wieder- war von dieser vorgefaßten Meinung so eingenommen, daß gesehen hatte, nicht wenig auf dem Herzen. „Wenn“, sagte sie alles, was Charlotte zu ihrer Widerlegung, während er das ange- zu ihrer Freundin, „der Prediger, wie er schreibt, auf Beweise, führte sprach, vorbringen wollte, nicht von ihm gehört wurde, daß er ein ehrlicher Mann ist, dringen wird, so kann Ostenheim und er sie nicht zum Worte kommen ließ. Jetzt betheuerte sie leicht beleidigt werden.“ – „Das kann er“, erwiederte Charlotte, aufs heiligste, daß dies nicht die Ursache von Henriettens Trau- „besonders wenn er Deine Traurigkeit dazu nimmt. Indessen rigkeit sey. Er drang aber so gebieterisch darauf, ihm zu sagen, muß es doch, um Dich zu beruhigen geschehen. Ich wünsche was sie heimliches zusammen hätten, warum sie in einem Zim- nur, daß Dein Pflegevater mit Schonung und Behutsamkeit zu mer schliefen, warum Henriette so oft weinte, denn das zeige Werke gehen möge.“ – „Das ist’s eben“, versezte Henriette, ihr Gesicht, und warum denn auch sie so traurig wäre? daß „was mich beängstigt. Der brave Mann ist zuweilen etwas gera- Charlotte endlich sagte, sie wollte ihrer Freundin vorschlagen, dezu, und sein Ausdruck, Dringen, läßt mich fürchten, er werde den Grund von diesem allen selbst zu bekennen. Henriette wei- meinen Ostenheim beleidigen. Er hat meinen Tiefsinn, wie Du gerte sich nicht es zu thun, da ihr besonders Charlotte merken weißt, bemerkt, und ward dadurch selbst nachdenkend, er drang ließ, daß ihre Eltern etwas Nachtheiliges für sie argwohnten. in mich, daß ich ihm sagen sollte, was mir auf dem Herzen läge. Der Graf und die Gräfin fuhren eben aus, und erst nach ihrer Und nun, wenn der Pastor sein Examen mit ihm vornimmt, Zuhausekunft konnte Henriette in dem Zimmer der Gräfin wird er gleich wissen, daß es auf mein Geheiß geschieht, und dies Rechenschaft von ihrem Betragen ablegen. Die Gräfin ward Mißtrauen übelnehmen. Wie, wenn ich ihm schriebe, und alles nachdenkend, der Graf begann ein schallendes Gelächter; „Sie aufrichtig gestünde?“ Charlotte misbilligte diesen Gedanken sind“, sagte er, „eine kleine Phantastin, Fräulein, verzeihen Sie nicht, aber sie rieth ihr, es bis zu den Nachrichten des Predigers mir diesen Ausdruck!“ – „Aber was ich sah und hörte, indem zu verschieben. ich so sehr wünschte, es nicht zu hören und zu sehen, was Der Graf und die Gräfin hatten Henriettens Ernst wohl Charlotte mit mir sah und hörte?“ – „Ist alles Einbildung! Sie bemerkt, sie wurden aufmerksam, entdeckten, daß zwischen ihr würden wohlthun, diese Grillen fahren zu lassen, die Sie lächer- und Charlotten ein Geheimniß obwaltete, und geriethen auf lich machen müssen, und zu einer Geschichte Anlaß gäben, die

280 281 Mit Goethe durch die Welt der Geister Ahnungen ich nicht gern von meinem Hause wollte gesagt wissen. Und der Baron scheint viel auf den Menschen zu halten, er muß also denken Sie, wie nachtheilig Ihnen dergleichen Visionen bei doch gut seyn! Und was geht uns auch der Kammerdiener an. Ihrem Bräutigam seyn würden.“ Der Graf sprach dies mit so Der Baron bekommt viel Zuspruch von dem hiesigen Adel, und bestimmtem Ernst, und trug Charlotten so nachdrücklich auf, von den Vornehmsten der Stadt, die ihn alle mit besonderer ihre Freundin in dergleichen Phantasien nicht zu bestärken, daß Achtung behandeln. Man sagte mir, daß zuweilen vornehme keins von der Gesellschaft etwas einzuwenden wagte. Henriette Fremde herkommen, für welche er dann die Zeit ihres Aufent- hielt sich in diesem Augenblick für eine Thörin, und ängstigte halts meist allein zu Hause ist; doch aber giebt er ihnen einen sich über den Auftrag, den sie dem Geistlichen gegeben hatte. Tag ihrer Anwesenheit ein Fest, wozu er die vornehmsten seiner Charlotte, welche den Rath dazu gegeben, ängstigte sich mit Bekannten einladen läßt. Dies sind die wahren Nachrichten, ihr, sie sahen den Nachrichten, welche sie von diesem Manne welche ich Ihnen von dem Baron Ostenheim geben kann. Dem erhalten würden, zitternd entgegen; diese kamen in folgendem Anschein nach werden sie glücklich durch ihn. Doch wer kann Briefe: Menschenherzen prüfen, oder in die Zukunft schauen? Wir „Ich habe den Baron Ostenheim gesprochen. Als er von Ihnen schwache Menschen können nicht ergründen, warum dies oder nach Hause kam, fand er mich schon daselbst. Ich gieng mit so jenes geschieht, Gott ist ein verborgener Gott! Beten Sie, daß vieler Behutsamkeit, als möglich, zu Werke, doch schien es, als er alles zum Besten wenden möge. Ich kann nicht zu= nicht ob der Baron meine Absicht erriethe, und ziemlich betroffen abrathen, das eine in Betracht des besten Scheins nicht; und das war. Ohne mich mein Anliegen ganz entdecken zu lassen, holte andre – ich will zu Gott für Sie flehen, daß er Sie den besten er mir die Zeugnisse seines Adels, sein Taufzeugniß, (er ist ein Weg führen möge. Liefländer,) und viele Briefe, welche beweisen, daß er wirklich Der Baron, den ich wirklich liebe, drang in mich, daß ich der ist, für den er sich ausgiebt. Seine Bibliothek besteht aus ihm aufrichtig sagen möchte, ob die Untersuchung, die ich vor- den besten Schriftstellern; alle seine Beschäftigungen sind edel, genommen hätte, auf Ihren Antrieb geschehen wäre. Ich wollte und zeugen von dem geschickten und gesezten Manne. Er ist nicht geradezu leugnen, und entschuldigte mich und Sie mit dem gewiß gut und tugendhaft. Dies beweisen auch die schönen Auftrag ihrer seligen Mutter, und mit ihrer eigenen großen Handlungen, die er hier ausübt, und welche ich ohne sein Zu- Gewissenhaftigkeit, diesen Auftrag mit der größten Genauigkeit thun erfuhr. Er hat eine unglückliche Familie gerettet, und läßt befolgen zu wollen. Dies billigte er, sagte von seiner reinen Lie- einige Waisen auf seine Kosten erziehen. Immer ist seine Hand be und Achtung für Sie, schien aber, so lange ich bei ihm war, offen zu geben und mitzutheilen. Ich würde sagen, daß seine sehr nachdenkend und zerstreut. Gott walte über Sie!“ Freigebigkeit bis zur Verschwendung gienge, wenn ich ihn nach allem, was ich sehe, und aus seinen Papieren entnommen habe, Soweit der Brief. Er stiftete einigermaßen Verwirrung, und nicht für unermeßlich reich hielte. Er ist von jedermann hier die beiden Freundinnen mußten ihn gleich mehrmals lesen, was geschäzt und geliebt. Seine Bedienten, alles brave Leute, ver- die Aussage des Pfarres allerdings auch nicht klarer machte. ehren ihn. Mit dem Kammerdiener bin ich nicht zufrieden; er Was sollte aber um Himmels willen der Schluß bedeuten? hat in seinem Wesen, sogar im Betragen gegen seinen Herrn, Konnte man da nicht doch Unsicherheit zwischen den Zeilen etwas höhnisches, und ist zuweilen gegen diesen zu frei. Doch herauslesen?

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Das Resultat fiel da hinaus, daß der Geistliche als ein kurz- heben, ehe ich den Besitz Ihrer Hand verlangen kann. Der sichtiger Mensch diese Sprache führen müsse. Wie ganz anders bestimmte Tag unsrer Verlobung naht heran, vorher aber muß aber hätten die jungen Damen geurtheilt, wenn sie gewußt hät- alles berichtigt, und er lieber ausgesetzt werden, wenn Sie sich ten, daß er, wie er dies hernach gestand, vor seiner Abreise zu an den Papieren, die ich nochmals zur Untersuchung anbiete, dem Baron, Henriettens Mutter vor sich gesehn hatte, welche nicht genügen, und sich erst in eine auswärtige Correspondenz ihn flehentlich um etwas zu bitten schien. Dies aber konnten sie einlassen wollten. Theilen Sie, Geliebte, Ihre Zweifel dem Gra- nicht wissen, daher schrieb man nun jene Stellen der Besorgniß fen und seiner Gemahlin mit, thun Sie, um sich ganz zu über- des Geistlichen, nicht zu viel behaupten zu wollen, zu, und hielt zeugen, alles, was Sie wollen und Ihnen gerathen wird. Ich sich jetzt allein bei dem Lobe des Barons auf, wovon der Brief liebe Sie unaussprechlich, Fräulein, und hoffe, daß Sie an mei- so voll war, und welchem Henriette nur zu gern Glauben gab. ner Hand glücklich seyn werden. Aber sollten Sie mit innerer Der Umstand, daß der Baron ihre lezthin bezeugte Traurig- Unruhe, mit heimlichem Mißtrauen diesen Versuch machen, keit und die Erkundigung des Pastors aus einer Quelle herge- dann wollte ich lieber dem herrlichsten Schicksal, dem Besitz leitet, daß er zerstreut und nachdenkend gewesen, bekümmerte meiner Henriette entsagen, und mich, so lange ich lebe, mit dem das zärtliche Mädchen. „Er wird gewiß empfindlich darüber nagenden Gedanken schleppen, daß ich ihr entsagen mußte, weil seyn“, sagte sie, „ich weiß nicht, wie ich’s wieder gut machen sie mich ihrer unwerth hielt. Ich muß mich bis zu Ihrer Ant- soll.“ Charlotte rieth ihr, nun an ihn zu schreiben, ihm neue wort sogar des Glücks, Sie zu sehen, berauben.“ Versicherungen ihrer Liebe und vollkommenen Hochachtung zu Dieser Brief verursachte in Henriettens zärtlichem Herzen geben, und alles Vorgefallene so zu entschuldigen, wie es der eine nicht geringe Empörung. Sie bereute es, den Prediger an Geistliche schon gethan hatte. Indem sie sich dazu anschicken ihn geschickt zu haben. Sie zürnte auf dieses Mannes zu hartes wollte, lief ein Schreiben von ihm ein, welches hier folgen soll. Benehmen, und glaubte ihren Ostenheim schon verloren zu „Ihr neulicher Tiefsinn, meine innigst verehrte Henriette! haben. Charlotte theilte alle diese Empfindungen mit ihr. Beide hat sich mir durch einen Besuch Ihres Freundes, des Predigers, fürchteten sich zugleich vor dem Grafen, wenn Ostenheim erklärt. Er drang, wo nicht als ein feiner, doch als ein aufrichti- eigensinnig seyn, und darauf bestehn sollte, daß dieser die Un- ger Mann, auf umständliche Beweise, daß ich ein ehrlicher Mann tersuchung von neuen unternähme. Der Kummer, den geliebten und das wäre, wofür ich gelte. Ich habe sie ihm gegeben, und er Ostenheim beleidigt zu haben, gab diesen Sorgen das größte schien zufrieden. Dieses wird er Ihnen ohne Zweifel berichtet Gewicht. Hier war nichts nöthiger, als alles sobald als möglich haben, weiß aber nicht, ob es meine Geliebte nun auch ist. Ich wieder gut zu machen; es ward beschlossen, daß Henriette es bin aber bereit, alles, was ich dem Pastor gezeigt, Ihnen selbst geschwind in der zärtlichsten und überzeugendsten Antwort vor Augen zu legen. Er hat mir die zärtliche Sorge ihrer seligen thun, und einen eigenen Bothen, da ein aus der Stadt zurück- Mutter, den Punkt Ihrer Verheirathung und Ihr beiderseitiges gekommener Bedienter des Grafen der Ueberbringer des Briefs Versprechen betreffend, mitgetheilt. Dies entschuldigt freilich gewesen war, damit abschicken sollte. Da während der Ueber- Ihre gewissenhafte Bedenklichkeit, und Ihres Freundes gethanen legungen, die sie mit ihrer Freundin über denselben gemacht Schritt. Als ein rechtschaffener, und für die Ruhe meiner Hen- hatte, die Stunde des Abendessens herbeigekommen war, so bat riette besorgter Mann, muß ich wünschen, alle Ihre Zweifel zu sie dieselbe, ihre Entschuldigung durch das Vorgeben einer

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Unpäßlichkeit zu machen, damit sie indessen ungestört schrei- Wasser, um Henrietten Medicin zu geben. Indessen die Jungfer ben könnte. Nicht ein Gedanke an Erscheinung fiel ihr damals Wasser holte, bat Charlotte Henrietten sich so viel möglich ein. Sie hielt sogar alles Vorhergegangene für Täuschung, und zu fassen, damit diese nichts merkte, sich auskleiden zu lassen hatte nichts zum Augenmerk, als den Wunsch, sich so ausdrücken und zu Bette zu gehen. Henriette folgte in allem, aber nur aus zu können, wie es zur völligen Aussöhnung ihres Ostenheims Gefälligkeit nahm sie die Medicin. Die Gräfin Charlotte blieb nöthig wäre. bei ihr, und ließ ihren Eltern sagen, daß Henriette wirklich krank wäre. „Was ist das für eine Närrin“, sagte der Graf unge- Henriette schreibt nun an Ostenheim einen herzergreifenden duldig, jetzt, „da sie Braut ist, und die Verlobung schon Don- Brief, bittet ihn aufrichtig um Verzeihung, beteuert ihm die nerstags seyn soll, ist sie bald traurig bald krank! Ich weiß positive Einstellung des Pfarrers ihm gegenüber, der nur seine nicht, wie mir das vorkommt. Hat sie nicht etwa wieder eine Pflicht erfüllen wollte, sowie ihre eigene starke Zuneigung. Und Erscheinung gehabt? Und Charlotte tändelt ihr zu Gefallen mit. sie ist gerade mitten im Schreiben: Bald werde ich das alles überdrüßig werden.“ Die gutmüthige Gräfin gieng, um selbst nach ihr zu sehen. Sie fand Henrietten „O Innigstgeliebter! kommen Sie unverzüglich, und bringen schwach, und sie sowohl als ihre Tochter in Thränen. „Kinder“, mir selbst die Ver –“ sagte sie, „was ist das alles? Der Graf ist sehr böse.“ Henriette Während Henriette dieses schrieb, hatte sie etlichemal einen weinte heftiger, und Charlotte bat ihre Mutter, denselben zu kläglichen Laut gehört, aber im Eifer, sich zu rechtfertigen, und besänftigen. „Wenn ich das thun soll“, versezte diese, „so müßt den Baron zu beruhigen, bemerkte sie es nur obenhin. Jetzt, da ihr mir klaren Wein einschenken. Seyd aufrichtig! Was ist sie das Licht putzen wollte, und dazu aufblicken mußte, sah wieder vorgegangen?“ Charlotte fand kein Bedenken, die aber- sie ihre Mutter dem Tisch gegen über in kniender Stellung mit malige Erscheinung zu bekennen, sie gestand der Gräfin die gefaltenen Händen; sie blickte traurig und die gefaltenen Hän- Veranstaltung durch den Prediger, zeigte ihr seinen Brief, den de aufhebend nach ihr hin. Henriette ward beinahe ohnmäch- des Barons, und ließ ihr auch das lesen, was Henriette, um es tig. Und wer weiß, was aus ihr geworden wäre, wenn ihre wieder gut zu machen, dem leztern geschrieben hatte. Henriette Freundin Charlotte, welche von Ahndung getrieben vom Tische verhielt sich, während Charlotte dies alles preiß gab, leidend. aufgestanden war, um nach ihr zu sehen, nicht eben eingetreten Als aber die Gräfin, nachdem sie ihren nicht vollendeten Brief wäre. „Gott, Gott, Jettchen!“ rief sie, und eilte die wankende an den Baron gelesen hatte, nachdenkend ward, und dann in Dulderin zu halten, „was ist Dir begegnet?“ – „Ach, meine bedächtigem Ton sagte: „Und als Sie bis hieher geschrieben, hat- Mutter“, stammelte diese. – „Ich sehe nichts.“ – Henriette wies ten Sie die Erscheinung?“ legte sie die Hand auf ihr Herz und mit dem Finger auf die Stelle – „ich sehe nichts, Kind.“ – „Sie sagte; „ja, und so wahr Gott lebt, es war nicht Täuschung! O, ist wieder weg, da kniete sie und hob die gefalteten Hände daß sie es gewesen wäre!“ Die Gräfin schwieg eine Weile, dann gegen mich auf.“ Dies sagte Henriette mit leisem bebendem sagte sie: „was soll man denken, was soll ich rathen? Noch wol- Ton, und zeigte, wie der Geist die Hände aufgehoben hatte. len wir dem Grafen nichts sagen, er besteht zu sehr darauf, daß Charlotte wußte nicht, was sie denken sollte; sie redete ihr zu, es Einbildung ist, und nimmt die Sache auf eine besondere Art. und da eben ihre Jungfer kam, schickte sie diese nach frischem Aber ich will etwas vorschlagen. Wenn Sie sich morgen nur ein

286 287 Mit Goethe durch die Welt der Geister Ahnungen wenig besser befänden, und sich einigermaßen fassen könnten, Unwissende?“ antwortete Charlotte, „ich weiß hier nicht anders so wär es gut, Ihrem Bräutigam alles, auch diesen lezten Vor- zu rathen, als daß wir diesen neuen Vorfall mit dem frühesten gang zu schreiben. Dann müßte man sehen, wie er sich dabei meiner Mutter entdecken, und dann wird sie gewiß der Mei- benähme.“ Henriette hatte keine Neigung zu diesem Vorschlag. nung seyn, daß wir sogleich Deinen Pflegevater müssen rufen Nach ihrer Meinung werde es der Baron so auslegen, wie der lassen. Der Brief an den Baron kann nicht eher fort!“ Sie konn- Graf, und es diesem vielleicht sagen, und beide könnten dann ten nun kaum den Morgen erwarten, und ließen die Gräfin, aufgebracht werden, besonders könnte der Graf ihren Geliebten sobald sie aufgestanden war, ersuchen, zu ihnen zu kommen. wohl selbst mißtrauisch gegen sie machen. Charlotte bat ihre Sie ließ nicht auf sich warten, erstaunte und schickte sogleich Mutter, diese Sache morgen, wenn ihre Freundin etwas mehr nach dem Prediger, Ihr Gemahl aber durfte davon nichts gefaßt seyn würde, noch einmal mit ihnen in Ueberlegung zu wissen. Der Prediger kam gegen Abend an, stieg in einiger nehmen. Diese versprachs; ließ so viel Trostgründe, als sie geben Entfernung vom Schloß ab, und kam als von ohngefähr. Auf konnte, zurück, und überbrachte ihrem Gemahl die Nachricht, die Nachricht der zweimaligen Erscheinung des Geistes in einer daß Henriette wirklich krank sey, wozu sie aber eine vorüber- Nacht, und daß auch Charlotte die zweite gesehen, bekannte gehende Ursache anführte. er, daß er ihn gleichfalls, indem er sich zur Reise nach R. anschickte, gesehen hätte. Und nun wußte man, wohin jene dun- Charlotte verbrachte die Nacht am Bett ihrer Freundin und keln und bedeutenden Stellen seines Briefes zielten. Jezt hielt es gab sich redlich Mühe, sie zu beruhigen und in ihrem Vertrauen der Geistliche zuförderst für nöthig, dem Grafen alles zu ent- auf Gott zu bestärken. Und sie betete nun mit ihr ... decken. Er wurde demnach von allem sogleich unterrichtet. Und ob er sich gleich auch Mühe gab, in diesen Vorgängen nicht so Indem sie diese Andachtsübungen durch ein Lied aus dem viel bedeutendes zu finden, als die Uebrigen; so hielt er es doch nahe liegenden Gesangbuch fortsetzen wollte, und es aufschlug, einiger Ueberlegung werth. Sein Vorschlag war endlich, daß sagte Henriette: „Gott, schon wieder!“ Charlotte blickte auf, Charlotte an den Ostenheim schreiben, ihm Henriettens ange- und sah den Geist zu den Füßen des Bettes stehen. Mit einer fangenen Brief schicken und melden sollte, daß sich seitdem Fassung, welche bei Damen von Charlottens Alter nicht gewöhn- etwas zugetragen, welches sie zur Vollendung gänzlich unfähig lich ist, sagte sie: „Seliger Geist! ich frage Dich im Vertrauen gemacht hätte. Er möchte ohne Verzug kommen und das wei- auf Gott, was Du verlangst?“ Der Geist zeigte auf den Tisch, tere vernehmen. „Hat er“, sezte der Graf hinzu, „kein gutes wo der Brief lag, rang die Hände und verschwand. Henriette Gewissen, und vermuthet etwas Schlimmes, so kommt er nicht, war weniger erschrocken, als bei der vorigen Erscheinung, der macht sich vielleicht gar auf und davon. Kömmt er, so muß ihm Anblick ihrer Mutter begann ihr gewöhnlich zu werden. „Hast alles aufrichtig erzählt, und auf sein Verhalten dabei Achtung Du sie wirklich gesehen?“ fragte sie Charlotten, diese bejahete gegeben werden. Ein böses Gewissen muß sich bei solchen wich- es, und beschrieb ihr die Gestalt, es traf zu. „Zeigte sie nicht tigen Vorfällen auf dem Gesichte mahlen. Bleibt dies aber in nach dem Tisch?“ fragte Henriette weiter, und rang die Hän- seiner natürlichen Fassung, und er überhaupt ruhig, indem man de?“ Auch dies bestätigte Charlotte. „Und nun, meine Liebe“, ihm zu verstehn giebt: man hielte dies für Warnung vor ihm, fuhr Henriette fort, „was meinst Du?“ – „Fragst Du mich dann mögen Eure Erscheinugen bedeuten was sie wollen, nur

288 289 Mit Goethe durch die Welt der Geister Ahnungen daß Ostenheim ein schlechter Mensch ist, bedeuten sie nicht. riefen etliche Stimmen, und Ostenheim redete weiter: „Also Und sollte er noch einmal eine weitläuftige Untersuchung durch kömmt es nur darauf an, Sie völlig zu beruhigen, und hier- seine auswärtigen Correspondenten vorschlagen, so nimmt man zu thue ich aufs neue die Vorschläge, welche ich in meinem sie an, wenn Ihr nun durchaus glaubt, daß die todte Mutter lezten Briefe that. Wenn Sie mir erlauben, daß ich hier bleiben gegen ihren lebenden Schwiegersohn etwas könnte einzuwenden darf, so schick ich meinen Kammerdiener zurück, damit er mei- haben.“ Dieser Vorschlag wurde von allen gebilligt. Charlotte ne sämmtlichen Papiere hole, die der Pastor gesehn hat. Neben schrieb ohne Verzug; und am folgenden Morgen kam Ostenheim meinem Taufschein, Adelszeugnissen, Dokumenten und Wech- an. Henriette fühlte sich, da alle, auch der Graf, um das seln, werden Sie da auch Briefe von ziemlich wichtigen und Geheimniß wußten, ungemein erleichtert, auch schienen ihr die sehr honetten Leuten sehen. Sie leben alle noch; ich bitte an sie Anstalten hinreichend, um Gewißheit zu erlangen und den Geist zu schreiben.“ Kaum wollte man zulassen, daß Ostenheim den zu befriedigen. Sie befand sich, als der Baron erschien, bereit, Kammerdiener nach den Papieren abschickte, so sehr hatte er ihn im Zimmer der Gräfin, wohin man ihn gewiesen hatte, zu alle überzeugt. Aber er bestand darauf. Alles war nun aufs neue empfangen. Die ganze Gesellschaft, auch die jüngere Tochter bemüht, ihm Zutrauen und Achtung zu bezeugen. Henriette vom Hause, welche nun auch um die Sache wußte, fand sich da war äußerst zärtlich, aber doch noch etwas zurückhaltend ein, und der Graf führte das Wort, worauf die drei Personen, gegen ihn. Es wurde wieder von der Erscheinung gesprochen, welche den Geist gesehen hatten, die Wahrheit auf das theuer- und zwar fieng Ostenheim selbst davon an. „Sie gutes gequältes ste bezeugten. Der Baron war, während dies alles vorgetragen Mädchen“, begann er, „ich beklage Ihr zartes, empfindliches wurde, erst still und betroffen, dann aber verbreitete sich ein Herz! Wie sich auch die Sache verhalten mag, es muß Sie ruhiger Ernst über sein Gesicht, und mit diesem sagte er: „Die unendlich beunruhigen. Wenn wirklich der Geist Ihrer sel. Begebenheit ist außerordentlich, und für mich um so betrüben- Mutter Unglück für Sie ahndet, welches Sie an meiner Hand der, da man Argwohn auf mich daher leiten will. Ich habe, erwarten sollte, so müßte dies auch für mich äußerst niederschla- deucht mich, dem Herrn Pastor hinlänglich gezeigt, daß ich kein gend seyn. Es wäre dann ein Beweis, daß ein unvermuthetes, Betrüger bin; ich habe auch wohl meine Denkungsart, wie ich nicht vorausgesehenes trauriges Schicksal auf mich wartete, wor- mir schmeicheln kann, denen die mich kennen, nicht zu meinem an Sie dann freilich als meine Gattin Antheil nähmen.“ „Einem Nachtheil entdeckt. Fehler, freilich! könnte man an mir gefun- solchen üblen Schicksal“, fuhr er nach einigem Nachdenken fort, den haben! Ob sie nun so wichtig sind, daß Henriette durch „darf ich Sie kaum aussetzen. Ich beschwöre Sie sämmtlich, den Geist ihrer Mutter vor einer Verbindung mit mir gewarnt und besonders Sie, Herr Pastor, glauben Sie wirklich, daß die werden muß, das, muß ich gestehn, hab’ ich bisher noch nicht Erscheinungen, welche Sie alle gehabt, wahr, daß es nicht gewußt.“ Henrietten stürzten bei diesen Worten die Thränen Täuschungen sind, oder von irgend einem übelgesinnten Men- aus den Augen; sie wollte reden, aber Ostenheim fuhr fort: schen kommen könnten?“ Man versicherte, das lezte sey an den „Glauben Sie glücklich mit mir zu seyn, wenn ich der bin, verschiedenen Orten und unter den begleitenden Umständen für den Sie mich – auch dem angefangenen Briefe nach – hal- unmöglich! ten?“ – „Vollkommen“, antwortete Henriette, „und ich halte Sie (Wallenrodt 1796, S. 63–122) noch für den schätzenswerthesten Mann.“ „Dies thun wir alle“,

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Die Zeit verging und der warnende Geist von Henriettes Nebenzimmer zu einem Stuhl. Ostenheim gieng an ihrer Hand, Mutter hatte sich nicht durchsetzen können. Der Tag der Hoch- ohne Sprache und todtenblaß mit. Es wurde ein Pulver und zeit war nun gekommen ... Wasser bestellt. Ostenheim mußte sich auch setzen, um sich zu erholen. „Meine Mutter“, flüsterte Henriette, „stellte sich mir Man hatte auf Charlottens Vorstellung, daß eine zahlreiche entgegen, schrecklich war diesmal ihr Anblick; aber ich bin ent- Gesellschaft und große Lustbarkeiten sich zu der Gemüthsstim- schlossen! Haben Sie nichts gesehen, Ostenheim?“ sagte sie leise mung der Braut nicht schickten, nur die nähesten Bekannten zu diesem. Er leugnete, den Geist gesehen zu haben, und wollte, des Hauses eingeladen. Die Braut wählte zu ihrem Putz nur daß man seine Bestürzung natürlich finden sollte, da Henriette wenig von dem Schmuck, welchen Ostenheim ihr geschenkt durch das plözliche Stillstehen, das Ausrufen und Hinsinken hatte, und trug ein weißes Kleid mit wenigen Verzierungen. Tod an ihn, ihm errathen ließ, was paßirte. Die Sorge um das, was und Leben rang mit ihr, indem der Augenblick, wo sie sich die Gesellschaft davon denken würde, habe ihn vollends aus der auf ewig mit dem Baron verbinden sollte, immer mehr nahte. Fassung gebracht. Dies war glaublich. Henriette suchte ihn zu Sie hielt ihn fest bei der Hand, und suchte Ruhe in der Liebe, beruhigen, machte sich stärker, als sie war, und reichte ihm allein diese fand sie nicht. Charlotte, welche ihre Stimmung liebreich die Hand, indem sie sagte: „Kommen Sie, Lieber, die wußte, wich ihr nicht von der Seite, und flüsterte ihr zuweilen Erscheinung kömmt nicht wieder. Meine Worte haben sie abge- etwas aufmunterndes zu, obwohl ihr selbst sehr Angst war. Jetzt schreckt.“ Ostenheim stand auf und gieng mit ihr; aber nie reichte ihr Ostenheim die Hand, um sie an den Teppich zu hatte ihn Charlotte, die ihn genau beobachtete, in einer solchen führen; sie folgte wankenden aber entschloßnen Schrittes, und Stimmung gesehen, sie fieng von diesem Augenblick an viel zu indem sie bald an den Prediger gekommen war, trat der Geist fürchten, und hätte sie es hintertreiben können, so unterblieb ihrer Mutter ihr in den Weg, diesmal aber, wie sie nachher aus- die Trauung. Allein Henriette gieng mit immer leichterm Schritt sagte, mit grimmigem drohendem Blick. „Ich bin entschlossen“, an der Hand des bebenden Geliebten zur Traubank, trat auf sagte sie laut, aber mit bebender Stimme, und schmiegte sich an den Teppich, und legte frei und ungezwungen das feierliche ihren Bräutigam an. Dieser zeigte sichtbare Bestürzung, auch er Gelübde ab. Der Geist ließ sich nicht wieder sehen. hatte, wie er, als alles entdeckt war, gestand, den Geist gesehen. Er rief Charlotten, indem er seine Braut fest umfangen hatte, (Wallenrodt 1796, S. 131– 135) und auf der Stelle stehen blieb. Charlotte eilte hinzu, die Ge- sellschaft zeigte Unruhe und Aufmerksamkeit, und diejenigen, Baron Ostenheim führte nun seine geliebte Frau auf seinen welche um das Geheimnis wusten, sahen einander bedenklich Herrensitz nach R., und die nächste Zeit gestaltete sich für an. Charlotte zeigte hier ihre Gegenwart des Geistes, sie sagte Henriette wie ein einziger Traum. Wann immer sie ihre Freun- dem Geistlichen, der die Trauung verrichten sollte, und denen din Charlotte traf, sprach sie von ihrem großen Glück und lob- von der Gesellschaft, die fremd in der Geschichte waren, daß te ihren Mann in höchsten Tönen. Henriettes Stimmung war die Braut von einer Art von Ohnmacht, einem Rest ihrer erheblich gestiegen, alles Bedrückende von ihr gefallen. gehabten Krankheit, befallen wäre, welche aber bald vorüber- Noch meist so zufrieden wohnte sie der Vermählung ihrer gehen würde, und indem sie dies sagte, leitete sie Henrietten ins Freundin Charlotte bei, welche sie nebst Ostenheim alsdann

292 293 Mit Goethe durch die Welt der Geister Ahnungen einige Male begleitete, da sie ihrem Gemahl auf seine Güther hielt es für kindisch, Dich mit so etwas Unerheblichem zu folgte. Indem es aber zum Abschied mit dieser Freundin kam, unterhalten; denn ich meinte, es sey blos Bösartigkeit dieses bemächtigte sich ihrer eine lange nicht so stark gefühlte Wehmuth, Menschen, welche mein Mann, verblendet von ihm, nicht ein- welche auch Charlotten ergrif. Lange weinten sie eine an dem sähe; deswegen wollt’ ich ihm nichts davon sagen. Mehr ver- Halse der andern. Henriette erneuerte die Bitte um Charlottens droß es mich, daß er wie ich einigemal bemerkte, so ganz ohne Beistand, im Fall es ihr übelgehen sollte, und Charlotte ver- Umstände mit seinem Herrn umgieng, welches dieser nicht übel- sprach ihr gern. Sie redeten einen ununterbrochenen Briefwech- nimmt, vielmehr sehr vertraut mit ihm ist. Es läuft wider die sel mit einander ab, und versprachen einander vollkommene Bruderliebe, und zeigt einen häßlichen Stolz an, wenn Herr- Aufrichtigkeit in ihren Berichten. schaftten sich ihren Bedienten nur immer als strenge Gebieter Schon Henriettens erste Antwort auf das Schreiben, in wel- zeigen, und die tiefste Ehrfurcht verlangen. Hingegen dünkt es chem Charlotte ihre glückliche Ankunft auf den Güthern ihres mir auch nicht schicklich, mit ihnen auf dem Fuß zu seyn, wie Gemahls berichtete, beunruhigte diese treue Freundin, und sie Ostenheim mit diesem ist. Besonders wundert mich das von hatte, wie man, indem ich sie hier folgen lasse, sehen wird, wohl einem Manne, wie der meinige, der sonst so viel Würde behaup- Ursache dazu. tet. Dies alles, sag ich, befremdete mich längst, aber ich schwieg. „Ich freue mich (schrieb Henriette) Deiner glücklichen Ankunft, Ich sah, daß mein Mann oft Stunden lang mit ihm verschlossen Deines Wohlseyns und Deines ruhigen, von Zweifeln und Zwei- war, bemerkte etwas, das wie Furcht vor dem Kammerdiener deutigkeiten freien Schicksals, Gott lob! daß meine Charlotte aussah, dies beängstigte mich, aber ich schwieg. Doch wirst Du glücklich ist, wenn ichs auch nicht seyn sollte! Ach Charlotte! Dich erinnern, daß ich bei unsern beiden lezten Zusammenkünf- Ich versprach Dir alles aufrichtig zu sagen, und es ist mir Trost, ten nicht mehr so heiter war, Du fragtest mich, ob ich etwas auf Dir wie sonst mein Herz auszuschütten zu können. Vielleicht dem Herzen hätte; allein, wie gesagt, noch glaubte ich nichts vermagst Du mich zu beruhigen. Erschrick aber nicht irgend vor entdecken, und kleine Fehler, die im Innern des Hauses vorfal- einem Bekenntiß, welches meinem Gemahl nachtheilig wäre. len, auch meiner besten Freundin nicht gestehen zu dürfen – Nein, noch habe ich keine Ursache, mich der zärtlichen Liebe, Erinnere Dich auch an meine Bangigkeit beim Abschied – Und die ich für ihn fühle, zu schämen, noch bemerke ich nichts, doch, meine Charlotte! hätt’ ich Dir mein Herz aufgeschlossen, was meine Hochachtung gegen ihn verringerte. Doch etliche – aber ohne Noth wollt’ ich Dir meinen so sehr geschäzten Mann vielleicht Kleinigkeiten – haben mich unruhig gemacht. nicht verdächtig machen. Das aber, was ich Dir von ihm und Ich will Dir alles gestehen. Daß wir beide den Kammer- seinem Kammerdiener gesagt habe, erweckt doch ein wenig Ver- diener meines Mannes so verdächtig fanden, als der Pastor, wird dacht. Uebrigens bleibt mein Mann sich noch immer gleich, ich Dir erinnerlich seyn; aber ich verbarg diesem Menschen meine konnte also nichts Schlimmes vermuthen. Auch jetzt noch zeigt Abneigung, weil mein Mann so viel von ihm zu halten schien. er sich mir als der liebende, edle und tugendhafte Mann, für Sogar that ich, als bemerkte ich gewisse höhnische Mienen nicht, den ich ihn immer hielt. Aber es haben sich Dinge zugetragen, die er mir machte, wenn er glaubte ich sähe es nicht, und ein die meinen Verdacht bestärken, und mich mit schrecklicher gewisses freches Lächeln nach mir hin, so oft es auch vorfiel. Du Angst erfüllen. Etwa 8 Tage nach Deiner Abreise kamen zwei wirst wissen, daß ich Dir noch nichts davon merken ließ; ich Fremde bei uns an, mein Mann stellte mir in ihnen den Grafen

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Thurn und den Kammerherrn von Heinitz vor. Ich fand, daß wissen willst, ein allzufreies Lob Deiner Reize, und ein Wunsch, es Leute von Welt und gutem Anstand waren. Sie speißten der Dich beleidigen würde.‘ Ich schwieg; meine Neugier reuete Mittags und Abends bei uns, und in der Zwischenzeit spielten mich. Zugleich aber konnt ich mich des Gedankens nicht erweh- wir Quadrille. Sie waren beständig sehr artig, sprachen äußerst ren, daß Graf Thurn, den ich für so rechtschaffen ansah, es nicht vernünftig, und hatten ganz meinen Beifall. Als wir aber vom seyn kann, sonst würde er meinem Ehemanne nicht verbotene Spiel aufgestanden waren, und ich etwas im Zimmer herum- Wünsche auf seine Frau äußern; auch wunderte ich mich, daß schäfterte, schwiegen sie auf einmal, das heißt, sie unterbrachen er dies gegen Ostenheim konnte, wenn er ihn für tugendhaft das Gespräch, in dem sie begriffen waren. Ich sah mich um, und hielt. Wir sprachen nichts mehr von diesen Herren; ich bemerk- merkte, daß einer von ihnen meinem Mann was in die Ohren te aber, daß mein Mann sehr unruhig war, und es auch noch zischelte, indem der andere lächelnd nach mir hinsah. Ich muß- den folgenden Tag blieb. Schobern (den Kammerdiener) vermiß- te roth geworden seyn, dies fühlte ich; sie ließen ab, sobald ich te ich; schon glaubte ich, mein Mann hätte ihn entlassen, und mich umsah, und ergriffen ihr Gespräch wieder. Mein Mann ob ich mich gleich wunderte, daß er mir davon nichts gesagt machte, als der Graf Thurn ihm zuflüsterte, ein sehr ernsthaf- hatte, so war ich doch in dieser Vermuthung froh. Gegen das tes, mißbilligendes Gesicht. Dieß beruhigte mich einigermaßen. Ende des dritten Tages seiner Abwesenheit fragte ich meinen Aber bei Tische sah mich der Graf und der Kammerherr einige- Mann darum, und erfuhr, daß er Urlaub auf acht Tage genom- mal so bedeutend, ich möchte sagen, boshaft an. Dies alles hat men hätte. Es war sehr spät Abends, als er den zehnten Tag mich verdroßen. Ich sah nun, daß diese Herren so gut nicht wiederkam; ich bemerkte die zwei lezten Tage seines Ausseyns waren, als es mir anfangs schien, und daß mein Mann Geheim- eine sichtbare Unruhe, und als er nun kam, die heftigste Bewe- nisse mit ihnen hat. Am folgenden Morgen gieng mein Mann zu gung an meinem Mann. Schober kam nicht in sein Zimmer; ihnen, und erst am Abend kam er wieder nach Hause. Ich mein Mann gieng aber eine Weile nach seiner Ankunft mit brachte diese Einsamkeit in der größten Angst zu, es ließen sich anscheinender Unbefangenheit hinaus, und kam mit einem fro- etliche Damen bei mir melden; aber ich war nicht in der Stim- hen Gesicht nach ohngefähr einer Viertelstunde wieder. Am mung, sie annehmen zu können. Als mein Mann nach Hause andern Morgen, als ich angezogen war, und in meinem Zimmer kam, wagte ichs, ihm mein Misfallen an dem Betragen seiner stickte, hörte ich, daß Schober zu meinem Mann gegangen war. Freunde gegen mich zu erkennen zu geben. ‚Meine Henriette‘, Die Unterredung war heimlich, sie ward aber von Schobers Seite sagte er, ‚muß nicht gleich alles so genau nehmen, diese Männer immer lauter, er tobte, mein Mann schien ihn besänftigen zu sind oft an den Höfen, wo sie Intriguen mit Damen gewohnt wollen, ich hörte sogar Drohungen von Schobern. Mich überfiel sind; aber ich habe ihnen ein wenig die Wahrheit gesagt, denn ein heftiges Zittern, ich wollte nichts mehr hören, und lief in ich merkte wohl, daß Dich ihr Geflüster, ehe wir Abends zu das innerste meiner Besuchzimmer, wo ich mit Angst und trau- Tische giengen, und die Blicke, die sie Dir bei Tische gaben, riger Vermuthung kämpfte. Nach Verlauf einer Stunde suchte verlegen machten.‘ ‚Aber‘, fragte ich, ‚was konnte Dir Thurn mich mein Mann, ich hatte geweint. Er fragte mich nach der denn heimlich von mir sagen? Mit meinem Manne sollte er Ursach, indem er sich zu mir sezte und mir zärtlich die Hand doch nicht über mich gespöttelt haben‘ – ‚Gespöttelt!‘ ver- küßte. Ich scheute mich, ihm zu sagen, daß mich sein Streit mit sezte Ostenheim; ‚es war nicht Spott, sondern, wenn Du es nun Schobern zo bekümmerte, und doch wußte ich keine andere

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Ursach anzugeben, also gestand ich ihm, da er in mich drang, Dies ist der erste Brief, den ich ohne meines Mannes Wissen daß mich die Dreustigkeit dieses Menschen befremdete und schreibe, und so heimlich mag er auch abgehn. Ist er doch an schmerzte, und daß mich der Streit, den er mit ihm gehabt, aus meine Charlotte, an die Einzige, der ich die geheimsten meinem Zimmer getrieben hätte. Er dankte mir für meine zärt- meiner Gedanken mittheile. Ich bitte Dich, Theuerste! Um liche Theilnahme, und versicherte, daß dieser unhöfliche Kerl baldige Antwort, die Du Deiner Schwester am sichersten nicht lange mehr bei ihm bleiben sollte. Bisher hätte er ihm überschicken kannst, weil sie auf Deine Bitte so gütig seyn wegen seiner Treue viel übersehen, allein er fienge an, es zu wird, mir sie im Stillen zukommen zu lassen.“ bunt zu machen, und legte sich besonders immer mehr auf den (Wallenrodt 1796, S. 136– 150) Trunk; wenn er dann trunken wäre, raisonnirte er. Das Ver- sprechen, daß Schober fort sollte, beruhigte mich etwas, aber der Den folgenden Winter verbrachte das Ehepaar Ostenheim in Trost: er wäre aus Trunkenheit so dreust und grob, wollte nicht R., und im Frühjahr danach wurde ihr erster Sohn geboren. Das verfangen. Alles zeigt, daß mein Mann ein Geheimniß mit die- Glück schien vollkommen. Doch als es im Juli wieder aufs Land sem Menschen hat! Gott gebe, daß es kein schreckliches ist! Ich gehen sollte, sträubte sich alles in Henriette, und sie bekam muß meines Mannes Geheimnisse ehren, und wollte gerne nie schlechte Träume. dahinter kommen, wenn mich nur nicht endlich traurige Folgen davon unterrichten! Einige Tage vor ihrer Abreise schrieb sie Charlotte: Was werd’ ich nicht noch vielleicht erleben? O meine Mutter, wenn Du mich für Unglücksfällen gewarnt hättest, die Osten- „Es ist mir, als sollt’ ich vor Gericht geführt werden, allemal, heim schon verschuldet hat! Doch ich kann es ihm nicht zutrau- wenn ich an diese Reise gedenke, überläuft mich ein Todes- en! Er ist ja so gut, so sanft, so tugendhaft. Wieviel Gutes er schauer. Gewiß! gewiß steht ein Unglück bevor. Diese Nacht thut, wie thätig er immer ist, etwas Nützliches zu verrichten, war meine Mutter im Traum bei mir, es deuchte mir, als ob ich wie er mich so sorgsam mit den besten Büchern bekannt macht, einpacken half, und sie es immer verhindern wollte, ich stieg in und sie mir selbst vorließt! Und dieser Mann sollte ein Bösewicht den Wagen, sie zog mich zurück, aber mein Mann riß mich mit seyn? Ich kann es nicht glauben. Gewalt hinein. Wir fuhren vor lauter Gerichtsstätten vorbei, Den Tag nach dem ärgerlichen Auftritt mit Schobern lud meine Mutter trat allenthalben in den Weg und rang die mein Mann viel Gäste ein; es war ein großes Fest bei uns. Sein Hände. O Charlotte! Freundin! das Unglück ist nahe, aber ich Betragen bei solchen Gelegenheiten ist dann so ganz fähig, folge meinem Schicksal, meiner Pflicht, ich habe meinem Mann meine gute Meinung von ihm aufs neue zu befestigen, und mich geschworen, ihn nicht zu verlassen; er ist redlich, von ihm kann auf seinen Besiz stolz zu machen. Alles beweißt ihm aufrichtige nichts herkommen. Meine Abneigung vor dieser Reise befremdet Achtung und Beifall. Doch die Geschichten, welche ich Dir hier und ängstet ihn. Er tröstet mich mit der Versicherung, daß wir mittheile, beunruhigen mich zu sehr. Liebe! wenn Du Trost diesmal keinen Besuch von den Leuten, die ich hasse, bekom- dafür hast, wenn Du nicht so viel Verdächtiges in dem allen men werden, und verweißt mich auch auf unsre dortigen Freun- siehst, so überführe mich und weise mich zurecht. Du hast durch- de, auf die Freuden des Landlebens. Ich merke wohl, daß auch dringendere Einsichten als ich, Dir will ich folgen. ihn eine innere Angst nagt, er meint, daß eine Veränderung des

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Aufenthalts, daß Landluft seiner Gesundheit zuträglich seyn welches Ostenheim bemerkte, und aufs neue erschrak. Er sah werde; ich darf mich also nicht widersetzen. Gestern Abend traf sich schüchtern um. Die Meinung der Umstehenden ward zur ich ihn mit übereinander geschlagenen Armen in seinem Zim- Gewißheit, man rufte Gerichtspersonen. Henriette hatte sich indes- mer am Fenster stehen, und gen Himmel blicken. Die Thür stand sen etwas wieder erholt, sie reichte ihrem Gemahl die Hand, offen, er ward mich aber nicht gewahr. Auf einmal verließ er aber indem er sie ergreifen wollte, überfiel sie ein gewisser hastig das Fenster, und rufte, die Hände über den Kopf zusam- Abscheu vor ihm; sie zog die Hand zurück! Er fuhr auf, faßte menschlagend aus: ‚Fort! fort von hier, ich habe keine Ruhe sie in die Arme, und rief außer sich: „Du bist mein Weib!“ mehr!‘ Nun bemerkte er mich und schrak zusammen.“ [...] Henriette hatte Mitleiden, sie wußte nichts gewiß, glaubte ihn Charlotte hatte ebenfalls Ahndungen und Träume gehabt, die beleidigt zu haben, und drückte ihn an sich. Beide schwiegen. sie auf ihre Freundin deutete, und war verlegen, was sie ihr Die Sache ward immer verdächtiger, und nun traten Gerichts- antworten wollte. Sie zauderte, und wußte nicht gewiß, wie sie personen ein, welche sich die Personen, die man im Verdacht hat- ihr diese Antwort insgeheim schicken könnte, denn Henriette te, zeigen ließen, und dann gerade auf sie zugiengen, den Baron hatte sich darüber nicht erklärt. Aber Charlottens Sorge war aus den Armen seiner Gemahlin rissen, und ihn fragten: wer er unnöthig, denn was nun erfolgte, nöthigte sie, nach einiger Zeit wäre? Ostenheim sank, ohne Antwort zu geben, um. Henriette zum Beistand ihrer Freundin abzureisen. schrie: „ach Jesus!“ und ward ohnmächtig. Dies alles schien Der Pastor besuchte, von Angst getrieben, welche allerhand Beweis genug. Als Ostenheim und Henriette wieder zu sich selbst Vorbedeutungen in ihm erregten, die alle auf Henrietten ziel- kamen, befanden sie sich an einem andern Ort in gerichtlicher ten, dieselbe in R. Es war der Tag vor ihrer Abreise. Er betete Verwahrung, ein Arzt und ein Wundarzt waren um sie bemüht, mit ihnen, segnete sie, und empfahl sie in den Schutz Gottes. der leztere schlug dem Baron, den man entkleidet hatte, eine Die Reise war schon bald vollbracht, als sie in einem Orte, Ader, und der erste gab Henrietten Medicin. [...] „Welche wo sie abstiegen, von einigen Räubern hörten, welche in der Anzeige aber“, sagte Henriette, „konnte uns solche Beschämung Gegend von Augspurg aufgefangen, und dort eingebracht wor- zuziehen?“ Der Referendarius erzählte nun, wie man ihre den wären. Ostenheim erblaßte, seine Gemahlin, die ihn eben Bestürzung bei der Nachricht von eingezogenen Räubern für im Auge hatte, ward wegen eben dieses Erblassens wie vom Beweiß gehalten hätte, daß sie zu ihrer Gesellschaft gehörten. Blitzstrahl getroffen. Eben hatte sie ihren Säugling an der Brust, Und ihre Ohnmachten, der Schreck des Herrn Barons bei der sie ließ ihn sinken und starrte vor sich hin, fast ohne Bewußt- ersten gerichtlichen Frage, hätten es bestätigt. Der Baron hatte seyn, die Wärterin ergrif das fallende Kind; Ostenheim saß jetzt wieder Muth bekommen, und zog sich, in der Erklärung unthätig da. Man lief zu, und fragte, was Henrietten fehlte, dieser plözlichen Zufälle an sich, gut aus der Sache; seine Gemah- man sah, daß ihr Gemahl fast in dem nehmlichen Zustand lin aber entdeckte Unwahrheiten; und viel Geläufigkeit sie vor- war, beiden eilte man zu Hülfe, indeß die Wärterin das schrei- zutragen, und konnte die Bewegungen, in die sie darüber gerieth, ende Kind zu schweigen suchte. Einige Personen, die in der kaum verbergen. Stube waren, hatten bemerkt, daß die Bestürzung der beiden (Wallenrodt 1796, S. 160– 168) Eheleute in dem Augenblick eingetreten war, wo von den einge- brachten Räubern die Rede gieng. Es entstand ein Gemurmel,

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Henriette konnte sich nun nicht mehr länger zurückhalten Henriette stand ihrem Mann ganz eisern zur Seite und war und bittet ihren Mann, ihr die Wahrheit zu sagen. Durch ihr der Grund dafür, daß man ihm den Aufenthalt im Gefängnis so gemeinsames Kind wären sie beide eng miteinander verbunden, erträglich wie möglich gestaltete. Auf ihren Wunsch hin hatte und sie fühlte sich ihrer seits ihm gegenüber verpflichtet. Er man sogar Betten für sie und ihren kleinen Sohn in seiner Zelle hätte offenbar in seinem früheren Leben Fehler begangen, aufgestellt. deren Folgen noch nicht zu abzusehen wären. Doch Ostenheim reagiert ausweichend: Schon seit dem Zufall während der Reise, welcher Henrietten auf einmal die Augen öffnete, hatte sie im Sinne, Charlotten zu Ostenheim: Wahr, Theuerste! aber Gott kann und hat verge- schreiben; aber ihr schauderte vor dem Bekenntnisse, welches ben. Würdest Du es nicht auch, wenn ich Dir sie bekennte. sie dieser Freundin hätte thun müssen, weil es ihren Gatten in Henriette: O, das that ich schon längst! Aber Du fürchtest den Augen derselben völlig herabgewürdigt hätte. Jetzt aber etwas; soll mich das nicht mit besorgt machen? machte sie mit Ostenheims Bewilligung den ausführlichsten Ostenheim: Was könnte, wenn sich auch etwas ereignete, Dir Bericht von allem, was sich zugetragen hatte. Denn wenn sie widerfahren, Dir Unschuldigen? nun in ihrem Gemahl den wirklichen, nicht mehr geahndeten, Henriette: Also, Ostenheim, trennst Du doch mein Interesse Verbrecher zeigte, so konnte sie doch zugleich seine längst schon von dem Deinigen? Könnte ich glücklich oder nur ruhig seyn, gefühlte Reue und Rückkehr zur Tugend melden. Ostenheim wenn Du littest? Hab’ ich nicht geschworen, alles mitzutra- schrieb alles, was seine Gemahlin Charlotten meldete, an den gen? Prediger, und beiden schickten sie eine Abschrift des Aufsatzes Ostenheim: Edles Weib! Aber beruhig Dich! Dank Gott mit mit, dessen wir schon gedacht haben. Nachdem diese Arbeit mir, der mich Dich finden ließ. Du hast mich in der Tugend, vollbracht war, theilte Henriette ihre Zeit in die Pflege ihres zu der ich schon zurückgekehrt war, bestärkt! Was mir nun Gemahls und ihres Kindes, und las dem ersten entweder aus auch begegnen möge, so bin ich doch der Vergebung Gottes theologischen oder aus andern geistreichen Büchern vor, oder gesichert; denn ich habe mich von allem losgemacht. Er unterhielt sich, um ihn zu zerstreuen, aufzumuntern und im verachtet den reuigen Sünder nicht, und Du wirst es auch Guten zu bestärken, mit ihm. Oft hatten sie Zuspruch, jeder nicht thun. interessirte sich für den unglücklichen Ostenheim und seine vor- Nein, guter Mann! sagte Henriette, ich schätze Dich vielmehr trefliche Frau; jeder wünschte, daß ihm durchgeholfen werden als einen Helden, der seine Leidenschaften besiegte, sich von möchte, weil er jetzt ein besseres Schicksal verdiente. der Straße des Lasters entfernte, und standhaft auf dem Wege Charlottens und des Predigers Antworten waren dem leiden- der Tugend fortgieng. Ich sehe, ein Bekenntniß Deines vori- den Paar ungemein tröstlich. Die so aufrichtige Mitempfindung gen Lebens fällt Dir zu schwer, also verlange ich’s nicht! Aber ihres Elends, die Versicherung, daß man wie und wo sichs nur es ahndet mir, daß traurige Früchte Deiner Ausschweifungen thun ließe, zu helfen und beizustehen bereit sey, das Zureden auf Dich warten. Wir wollen ihnen getrost entgegen sehen, dieser edlen Seelen war Linderung des Unglücks. Charlottens uns in die Hände Gottes empfehlen. Gemahl hatte viel auswärtige Bekanntschaft; er bot diejenigen, (Wallenrodt 1796, S. 174ff.) welche es thun konnten, zu Ostenheims Rettung auf. Der Graf,

302 303 Mit Goethe durch die Welt der Geister Ahnungen in dessen Hause Henriette gewesen war, that selbst eine Reise „Theure, ewig Geliebte!“ sagte Ostenheim, „willst Du Dir nun deswegen. Sie konnten Ostenheim das beste Zeugniß, als Bestä- ungleich werden? Sieh! mich ruft unsere Mutter: zu Gott! zu tigung seines geänderten Lebenswandels geben. Aber alles dies Gott! Lebe Du für unsern Sohn!“ Sie ließ ihn los, er drückte half nichts! Er hatte einen Mord begangen, und in den damali- den lezten zärtlichen Kuß auf ihre Lippen; rief: „Dank und Lohn gen Zeiten war die Milderung der Todesstrafe durch Verwand- Dir, Engel, den Gott mir schickte“, und eilte fort. „Wohin?“ rief lung in lebenslänglichen Festungs=Arrest noch nicht möglich. sie, und wollte nach. Der Prediger und etliche andere, die im Sein Urtheil war, daß er den Kopf verlieren, dann aber ehrlich Gefängniß waren, warfen sich ihr entgegen. Sie sank; Charlotte, begraben werden sollte. Dies war das gelindeste, was man ihm welchen den Kleinen auf dem Arm hatte, und ohne Aufhören zuerkennen konnte. Die übrigen Mitglieder des strafbaren Bun- weinte, sezte das Kind auf den Boden, und eilte hinzu. Sie blieb des wurden mit Strick und Rad bestraft. ohne Bewußtseyn, man hielt sie für todt; doch der gerufene Arzt fand noch Lebenszeichen, und sie wurde nun in Charlottens Als Charlotte von Ostenheims Todesurteil erfuhr, reiste sie Logis gebracht. Nach einigen Stunden erwachte sie, sahe sich an auf der Stelle nach Augsburg, um ihrer Freundin in dieser einem fremden Ort, und fragte, warum man sie von ihrem schweren Zeit beizustehen. Sie hatte vor, Henriette unmittelbar Gemahl getrennt hätte? Charlotte wußte keine Antwort, die ihr nach der Hinrichtung ihres Mannes mit zu sich auf ihre Güter nicht eine neue Ohnmacht zugezogen hätte. Henriette wieder- zu nehmen ... holte ihre Frage. „Du bist krank, meine Liebe!“ versezte Char- lotte, „erhole Dich!“ – „Ja, ja“, antwortete Henriette langsam, Auch der Prediger kam. Und nun verließen diese Freunde „jetzt weiß ichs, man hat ihn – (heftig) – Charlotte ist er?“ – Ostenheims Gefängniß selten. Sie halfen ihm die Zeit bis zu „Bei Gott!“ fiel diese ein. Die Unglückliche schwieg einen seinem Tode durch ihr Zureden und ihre Unterhaltungen Augenblick, dann sagte sie gelassen: „bald werde ich bei ihm unvermerkt hinbringen, und freuten sich seiner innern Ruhe. seyn – bald – Du lässest mich doch neben ihn begraben? Ewig Am lezten Abend seines Lebens fuhr er auf einmal freudig in Dank und Gottes Lohn, meine einzige Freundin! nimm Dich die Höhe, „Hier“, rief er, „Deine Mutter, Henriette, sie winkt dieses Kindes –“ sie konnte dies nicht aussagen, weil sie wieder mir freundlich zu, sie hat mirs also vergeben, daß ich Dich eine Schwachheit befiel, ihr folgte Hitze und Phantasie, welche unglücklich gemacht.“ „Ja“, versezte Henriette, „sie wars, die länger als vierundzwanzig Stunden dauerten. Sie unterhielt sich gute Mutter! ich sah sie eher als Du, schwieg aber, und ergözte während derselben mit ihrem Gemahl und ihrer Mutter, die ihr mich an ihrer Freundlichkeit. Ja, sie kam Deinetwegen, ihr Blick die Krone reichte. war auf Dich gerichtet; ihr Wink galt Dir! Aber auch mich wird Endlich kam sie zu sich! Aber alle Sorgfalt des Arztes konnte sie bald rufen.“ sie nicht erhalten. Gegen Abend des zweiten Tages nach Osten- Den Morgen darauf ward er abgeholt; und nur bis hierher heims Hinrichtung entschlief sie. hatte Henriettens Standhaftigkeit ausgehalten. Sie warf sich in seine Arme, und rief: „nimm mich mit!“ Sie ließ ihn wieder los, Die Natur hatte, während Ostenheim noch lebte, bei ihr die schlang ihre Hände um seinen Leib, und sagte mit Heftigkeit: Kräfte überspannt, um ihm Muth zu machen und beizustehen. „ich geb’ ihn euch nicht, oder ihr müßt mich mit tödten.“ Jetzt ließ diese Spannung nach. Sie konnte Ostenheims Verlust

304 305 Mit Goethe durch die Welt der Geister Ahnungen nicht mehr ertragen, die Erschütterung im Augenblick, da man Namen gegeben hatten, unter denen wir sie kennen, getrunken ihn von ihr riß, war zu heftig, die erschöpften und erschlafften und gespielt. Ein junger Mensch, von gutem Hause und großem Lebensgeister erstarben, und Henriette entschlief, nachdem sie Vermögen, war in ihre Gesellschaft gerathen, und da er allein wenig Augenblicke vor ihrem Scheiden die ihr freundlich win- nüchtern war, gewann er den übrigen alles ab. Sie ergrimmten, kende Mutter wiedergesehen, und dies frohlockend verkündigt und Ostenheim am meisten. Er wurde von den übrigen ange- hatte. reizt, und schimpfte jenen Jüngling, welcher es nicht leiden wollte, und wieder auffuhr. Er stund auf, um nach Ostenheim Die treue Freundin Charlotte ließ Henriette neben ihrem zu schlagen, dieser gerieth in Wuth, und im Augenblick der Mann bestatten, am Rande des Friedhofes. Den kleinen Sohn heftigsten Leidenschaft reichte ihm Schober, der zugegen war, nahm sie wie ihren eigenen an, und er soll ein glücklicher Mann einen Dolch, welchen Ostenheim seinem Gegner in die Brust geworden sein. stieß. Er fiel! Die Nacht, die Entlegenheit des Orts, wo die Gesellschaft versammelt war, und die schnelle Anstalt derselben Besorgt, den Leser nicht zu ermüden, darf ich von Osten- machte, daß sein Schrei nicht gehört wurde. Die bösen Anführer heims Aufsatz, welcher über seine begangene Vergehungen Licht Ostenheims, welcher betäubt war, und nun nicht weiter Hand gibt, hier nur das Wesentliche anführen. Er war ein Schwede, anlegte, zerhieben den Körper. Jeder suchte einige Stücke weg- um aber seine große Familie nicht zu beschimpfen, hat er selbst zubringen. Man verwischte das Blut und theilte sein Geld, seine in dem Aufsatz an seine Gemahlin, seinen wahren Namen ver- Kostbarkeiten und einige Wechsel, welche Schober den folgen- schwiegen; oder vielleicht stand er in dem Aufsatz, und der den Tag im Namen des Ermordeten erhob. Als die That Sache wurde aus Schonung für die Familie diese Wendung gege- geschehen, und Ostenheim mehr zu sich selbst gekommen war, ben. Seine Erziehung war vortreflich, und er fühlte von Kind- verspürte er Reue, ward aber ausgelacht. Man wünschte ihm heit an Trieb zum Guten, zu edlen Handlungen, und hatte ein vielmehr Glück zu seiner ersten Heldenthat, und gab ihm das wohlwollendes Herz. Diese guten Eigenschaften wurden durch meiste von der Beute, zugleich ward ihm entdeckt, daß er nun zu vieles Feuer und Leichtsinn für lange unbrauchbar gemacht. zu ihnen gehöre, deren Handwerk und das Süße davon, wie sie Man schickte ihn auf eine deutsche Universität, wo er schon es nannten, er jetzt erst erfuhr. Schober hatte schon seit einiger ziemlich locker lebte und Schulden machte, die sein Vater nicht Zeit zu dieser Gesellschaft geschworen und versprochen, seinen mehr bezahlen wollte. Endlich that er es doch, und bestimmte Herrn auch zu überliefern. Ostenheim erschrak über das, was noch eine Summe Geldes, wovon er reisen möchte; aber die Zeit er hörte. Aber jetzt versicherte man ihm, daß er in ihrer Gewalt dazu, und das, was der Vater dazu aussezte, war längst weg, als wäre, und drohete, den Mord zu verrathen, wenn er an ihnen er in einer großen Stadt mit dem Bewußtseyn erwachte, daß er zum Verräther werden sollte. Ein sehr erzürnter Brief seines eigentlich noch keinen der Orte gesehen hätte, wo er hin sollte. Vaters, dem er Rechnung seines Haushaltes und seiner ver- Eben damals war er 22 Jahr alt, war in böse Gesellschaft gera- schwendeten Zeit geben sollte, vollendete sein Unglück! Er then, und Schober, schon sein Bedienter, der ihm wirklich von hätte gern das Geld des Getödteten angewandt, um weiter zu Hause mitgegeben worden, war sein ärgster Verführer. Einst reisen und sich mit dem Vater wieder auszusöhnen, aber Scho- hatte er mit den beiden Räubern, die sich bisher die ehrwürdigen ber unterrichtete seinen schändlichen Anhang davon, und man

306 307 Mit Goethe durch die Welt der Geister Ahnungen bemächtigte sich, unter dem Vorwande seine Baarschaft durch- erhielt Beifall. Nun bereuete er sein geführtes Leben immer zusehen, derselben. Er war nun in den Händen dieser Menschen. mehr; nahm sich vor, was es auch kostete, nicht wieder zurück- Sie betäubten durch wilden Jubel sein Gewissen, verleiteten ihn zukehren, kaufte sich die besten Bücher, besuchte die Kirchen zu neuen Unthaten, und rissen ihn so mit sich fort. Nun reißte und die anständigen Gesellschaften, und erwarb sich dadurch und raubte er mit ihnen, und brachte in 5 Jahren so viel Geld allgemeine Achtung. Der begangene Mord lag ihm freilich und Kostbarkeiten zusammen, daß er den väterlichen Segen und schwer auf dem Herzen; doch er hoffte ihn durch Wohlthaten, sein Erbteil entbehren zu können glaubte. durch Erziehung armer Waisen zu versöhnen. Wenn er dann Er wußte, daß er nun nicht mehr vor seinem Vater erschei- sich überhaupt bestrebte, ein gemeinnütziges Leben zu führen; nen durfte. Ein Rest von Delikatesse vermochte ihn, sich einen dürfte er sich, nach seiner Meinung, desselben Verlängerung andern Namen zu geben. Seine gottlosen Anführer hatten einen wünschen. Schober schüttelte zuweilen den Kopf zu seinen Herrn von Osten aus Liefland beraubt, ehe er sie kannte, ihn wohlthätigen Ausgaben, indessen machte ihn die Ueberlegung, ermordet, und unter andern auch seine Familien=Dokumente, daß es nicht von dem Seinigen gienge, endlich gleichgültig dar- nebst vielen dahin gehörigen Papieren geraubt. Dies alles ver- über. Um diesen Menchen bei Gutem zu erhalten, versprach er ehrten sie ihm, und ernannten ihn zum Baron Ostenheim. Diese jedesmal, wenn er ihn daran erinnerte, daß er nach geendigtem Endung ward zu desto mehr Sicherheit überall in Urkunden Urlaub zurückkehren wollte, hatte aber beschlossen, sich, wenn und Papieren auf eine geschickte Art beigefügt. diese Zeit herannahete, im Stillen fortzumachen, alles im Stich zu lassen, und in einem verborgenen Winkel sein Brod durch Im Laufe der Zeit hatte sich der „Baron“ beachtliche Fähigkei- seiner Hände Arbeit zu verdienen. Er sah Henrietten, und die ten im Stehlen erworben. Einen weiteren Mord hatte er jedoch Liebe bemächtigte sich seines Herzens. Die Unschuld und reine nicht begangen. Güte des Herzens, die er an ihr bemerkte, reizte ihn desto mehr zu dem Wunsch, sie zu besitzen. Er entdeckte sich Schobern; Als sein Gewissen erwachte, getraute er sich anfangs nicht, es dieser sah sie, und gab unter boshaften Absichten die Erlaub- seinen Kameraden geradezu zu gestehen. Er nahm auf ein Jahr niß, sie zu heirathen, wenn sie ihn haben wollte. Ja er versprach Urlaub, um als Kavalier in R. aufzutreten. Dies ward ihm ihm die Einwilligung aller Uebrigen, und noch auf ein Jahr gestattet, aber Schober wollte ihn in den Augen behalten, daher Urlaub. Ostenheim hielt dies für einen Wink der Vorsehung, erhielt er die Erlaubniß nur unter dieser Bedingung, daß Scho- welche ihm diese tugendhafte Person schenken wollte, damit er ber als Kammerdiener in seinen Diensten ihn überall begleitete. durch sie im Guten befestigt würde. Er fieng an zu hoffen, man Dagegen sagte er ihm die festeste Verschwiegenheit zu, wenn er würde ihn, wenn er sie einmal hätte, und auf alles, was nicht sich gehörig verhalten würde, er kaufte sich das Landgut um schon sein wäre, Verzicht leistete, auch allenfalls einen Abtrag die nehmliche Zeit. Es wurde ferner ausgemacht, daß Schober von dem, was er schon hätte, gäbe, und jenen bösen Menschen nach wie vor an der Beute, welche indeß die andern machen die größte Verschwiegenheit angelobte, mit seiner Gemahlin würden, Theil nehmen sollte. Ostenheim hingegen verlangte unter ruhig leben lassen. Schober wollte ihr Portrait haben, und zur dem Vorwande nichts davon, daß er ja keinen Beitrag liefern Gesellschaft reisen, um sie durch die Schönheit derselben zur könnte! Er richtete sich jetzt, wie wir wissen, prächtig ein und Einwilligung desto bereitwilliger zu machen. Wir wissen, durch

308 309 Mit Goethe durch die Welt der Geister Ahnungen welche Verhinderung es in Henriettens Brautstand nicht war Schober war es eben, der am heftigsten auf den Bedingungen gemahlt worden. Schober reißte also ohne dasselbe. Man hatte oder auf seinem Zurückkehren bestand. Die beiden Leute, sich an seiner Beschreibung begnügt, und die Einwilligung nebst welche da gewesen waren, hatten Achtung für Henriettens einigen kostbaren Geschenken ertheilt. Ostenheim nahm sie an, schüchterne Tugend gewonnen, und beschlossen, ihr den Mann weil sie seiner Geliebten bestimmt waren. Er glaubte sie und zu lassen. Endlich beredete ihn Schober, selbst zur Gesellschaft sein ganzes unrechtmäßiger Weise erworbenes Vermögen gehei- zu reisen, und dort ward auch Schober bewogen, ihn allein ligt zu haben, wenn er sie zur Besitzerin davon gemacht hätte. heimziehn zu lassen. Er bot noch die Hälfte seines Vermögens, Um ihre Hand zu erhalten, wagte er alles daran, machte die in der Hofnung, Henriette werde sich gern in ein kleines Ein- Finten, die wir wissen, welche während der Unruhen, die der kommen finden; aber die Räuber waren so großmüthig, dies Geist verursachte, nöthig waren; und bot dazu seinen ganzen böse Geld auszuschlagen, und wollten vielmehr sein Einkom- Verstand auf; indem er hofte, es werde nicht strafbar seyn, weil men vermehren, welches er aber nicht annahm. Ihre lezten es in einer guten Absicht geschähe, und wenn er nur diese Besuche auf dem Lande waren Ueberraschung aus Neckerei. Sie tugendhafte Person, die ihn liebte, besäße, die Vorsehung um hatten ihm den Schwur der Verschwiegenheit abgenöthigt; um ihrentwillen alles abwenden würde. Indessen hatte die von davon zu kommen, hatte er ihn leisten müssen. Er hingegen allen gesehene Erscheinung doch sein Gewissen gerührt, er woll- hatte sich nicht zusagen lassen, daß sie ihn nicht angeben te lieber entsagen, als Henrietten in sein Unglück ziehn. Daher wollten, im Fall sie verrathen und entdeckt würden. Seine war das, was er einst darüber sagte, ihm Ernst, nur daß er der Furcht also, da er von eingefangenen Räubern hörte, und ver- Sache eine andere Wendung gab. Henriettens grosmüthige Hin- muthen mußte, daß es seine ehemaligen Kammeraden wären, gebung hielt er aufs neue für Wink der Vorsehung, daher seine war natürlich und, wie wir gesehen haben, gegründet. Rührung. Als Henriette endlich seine Gemahlin war, bekam er (Wallenrodt 1796, S. 182 – 200) Besuch von dem sogenannten Thurn und Heinitz, die sie sehen wollten. Sie erweckte die Begierden dieser bösen Menschen, Wie können wir diese ergreifende Geistergeschichte anders welche Ostenheimen Anträge thaten, wovor er Abscheu hatte. abrunden als mit einem Wort von Goethe: Verschiedenemal hatte er schon Besuche erhalten, seit er in R. war. Dieses lezte mal, als Henriette seine Frau war, und sie jene Glücklich den ein leerer Traum beschäftigt! häßlichen Wünsche äußerten, beschloß er, daß er sich, was er Glücklich dem die Ahndung eitel wär! auch aufopfern müßte, von ihnen trennen wollte. Schober Jede Gegenwart und jeder Blick bekräftigt begleitete sie, um seinen Antheil an der bisherigen Beute zu Traum und Ahndung leider uns noch mehr. holen. Durch ihn sollte Ostenheim die Resolution des ganzen (Goethe, aus dem Gedicht an Charlotte von Stein: Korps auf seinen, diesen beiden schon in R. gethanen Antrag Warum gabst du uns die Tiefen Blicke, 1776) wegen der Trennung erhalten. Er kam, man hatte ihn unter Bedingungen bewilligt, über welche er mit Schobern jenen Streit hatte, der Henrietten so viel Unruhe verursachte.

310 311 Mit Goethe durch die Welt der Geister Der innere Sinn

Von Friederike Hauffe, der weltberühmt gewordenen Seherin von Prevorst, sind äußerst detaillierte Angaben über das Geister- II.7 sehen gemacht worden, die ihr Arzt, Dr. Justinus Kerner, für die DER INNERE SINN Nachwelt schriftlich festgehalten hat: ‚Der sogenannte schlafwache Zustand ist das Leben oder die  Wirksamkeit des innern Menschen, und in ihm liegt ein Beweis des Fortlebens und Wiedersehens. Es ist die innere Thätigkeit Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen, des Menschen, die beim natürlichen, gesunden Menschen gleich- Allein im Innern leuchtet helles Licht. sam schläft. Hauptsächlich schläft dieses innere Leben bei sol- (Goethe, Faust II, 5. Akt, Mitternacht, 11499f., Faust) chen, die das Leben sozusagen im Gehirne haben, die nur selten von ihrem Gefühl oder ihrer inneren Stimme etwas annehmen,  welche doch, achtet man recht auf sie, der richtige Leiter im menschlichen Leben ist. Der schlafwache Zustand, der durch die Sinnlich oder übersinnlich – das ist die große Frage. Sind magnetische Bestreichung hervorgebracht wird, ist ein sicheres Geister prinzipiell sichtbar und hörbar und bleiben nur den Heilmittel, denn im Hellschlafwachen tritt der innere Mensch bloßen Sinnen, d. h. der unmittelbaren Sinneswahrnehmung ganz hervor und durchschaut den äußern, welches aber weder verschlossen? Werden sie sichtbar, wenn wir mit technischen im Schlafe noch im Traume geschieht, denn das ist das hellste Hilfsmitteln den infraroten und ultravioletten Bereich mit ein- Wachen, weil der innere geistige Mensch da ungebunden und beziehen? Werden sie hörbar, wenn wir den Frequenzbereich frei von dem Körper lebt. Daher möchte ich das Schlafwachen außerhalb des vom menschlichen Ohr Wahrnehmbaren ein- lieber Hervortreten des innern Menschen, oder des Menschen schließen? Basieren paranormale Erfahrungen auf einem ande- geistiges Wachsein nennen. Dieses geistige Wachsein findet aber ren, neuen, einem sechsten Sinn, oder befinden sie sich ganz nur in den Augenblicken statt, wo sich das Schlafende in sich und gar außerhalb jeglicher Sinnlichkeit? Alle Meinungen sind verliert, oder aus sich geht. In diesen Momenten ist alsdann der vertreten. In früheren Jahrhunderten war die Rede von einem Geist ganz frei und kann sich von der Seele und dem Leibe „inneren Sinn“. trennen und gehen, wohin er will, gleich einem Lichtstrahl. Am Quell der Freiheit sitzen wir und spähn; er ist der große Dann ist das Schlafende gewiß auch zu nichts Ungöttlichem Zauberspiegel, in dem rein und klar die ganze Schöpfung sich fähig, wäre auch seine Seele mehr oder weniger unrein, gewiß enthüllt, in ihm baden die zarten Geister und Abbilder aller kann es dann weder lügen noch täuschen. Diesen Grad möchte Naturen, und alle Kammern sehn wir hier aufgeschlossen. ich den dritten Grad des Hellsehens nennen.‘ Was brauchen wir die trübe Welt der sichtbaren Dinge müh- ‚Der zweite Grad des Schlafwachens ist ein minderer. Es ist sam zu durchwandern? Die reinere Welt liegt ja in uns, in ein Hervortreten des ganz innern Menschen von Seele und von diesem Quell. Geist zugleich, nicht von Geist allein wie im dritten Grade. (Novalis 1977, Bd. 1, S. 89) ‚Es ist aber ein niederer Grad, weil sich hier die Seele mit

312 313 Mit Goethe durch die Welt der Geister Der innere Sinn

dem Geiste wieder vereinigt, also der Mensch auch nicht mehr andere zeit- und mentalitätsgeschichtliche Bedingungen herr- in dem Grade des so rein geistigen Sehens ist, da die Seele schen. Jedoch ist dieser tiefste Zustand der einstigen Somnam- doch mehr oder weniger unrein ist: denn ganz rein möchte bulen wohl unter heutigen Umständen schwerer zu erreichen – wohl keine Seele zu finden sein. Suggestion ist kein ohne weiteres wirksames Mittel mehr. Doch ‚Den niedersten, den ersten Grad des Schlafwachens möchte ich ganz abgesehen von unterschiedlichen kulturgeschichtlichen einen gesteigerten Zustand des Nervenlebens nennen, einen Aspekten gibt es einen gemeinsamen Nenner: Die neuere For- Zustand, der doch mehr oder weniger auch im gewöhnlichen schung hat nämlich ergeben, daß der Zustand der Hypnose Leben vorkommt. Er ist dem Ahnungsvermögen gleichzustellen, günstiger für außersinnliche Wahrnehmung ist als der Wachzu- das doch gewiß viele Menschen haben. Aber bei einem Schlaf- stand (Honorton and Krippner 1969). Darüber hinaus betreten wachen tritt dieser Zustand, hauptsächlich durch die magneti- wir mit diesem Thema auch das Feld der Meditation, in der ein sche Einwirkung, stärker hervor und wird dann geregelter. geübter Mensch sein „höchstes geistiges Wachsein“, wie Friede- ‚Im ganz geregelten Zustand hat die Seele mehr ihren Sitzpunkt rike Hauffe es nannte, erreichen kann. Dieses geistige Wachsein im Gehirne, der Geist mehr auf der Herzgrube. In den magne- läßt sich etwa durch fernöstliche Meditationstechniken herbei- tischen Zuständen nähert sich der Sitzpunkt der Seele mehr oder führen, z. B. durch den Kriya-Yoga, den der bedeutende indi- weniger dem des Geistes. Die Seele hat aber bei Menschen, die sche Yogi Paramahansa Yogananda (5.1.1893– 7. 3.1952) in den nur im Aeußern leben, das Uebergewicht über den Geist. Im Westen brachte, als er 1920 nach magnetischen Zustande, und wo der Mensch mehr im Innern San Francisco kam (Yogananda lebt, ist der Geist überwiegender und freier, und wird auch die 1946). Weiter läßt sich dieses Seele ihm ähnlicher, ihm befreundeter, und gleichsam selbst Wachsein in der religiösen Ver- mehr zum Geiste; wo aber der Geist sich von der Seele, die doch senkung hervorrufen, wie sie in nie seine Reinheit völlig erlangt, ganz befreien kann, da tritt der christlichen Mystik etwa von (wie oben gesagt) des Menschen höchstes geistiges Wachsein ein.‘ Paulus (um 10 n.Chr. – nach 58/ Man wird noch später unten finden, daß zwischen einem 59), Augustinus (13.11.354 – 28. solchen Freiwerden des Geistes von der Seele im magnetischen 8. 430), Boëthius (um 475 – um Zustand und zwischen einem Freiwerden des Geistes von der 525), Hildegard von Bingen Seele im Momente des Sterbens eine große Verschiedenheit ist, (s. o.), Franz von Assisi (1181/ die ich hier noch nicht berühre. 82 – 3.10.1226) (s.a. Kap. II.5), (Kerner 1892, S. 148ff.) Mechthild von Magdeburg (um 1208 – 1282/97), Meister Eckhart (1260 –1328) sowie von den Paramahansa Yogananda Man kann den magnetischen Zustand der Somnambulen, (1893- 1952). Schülern dieses großen „Lebens- dessen dritten und höchsten Grad Friederike Hauffe als das lehrers des Abendlandes“ (Schmidt, K. O., 1925, S. 14), Johan- „Hervortreten des innern Menschen“ bezeichnet, mit dem nes Tauler (um 1300 –16. 6.1361) und Heinrich Seuse (21.3. Zustand der Hypnose vergleichen, auch wenn in beiden Fällen um 1295 – 25. 11. 1366) ausgeübt und in Werken wie z. B. der

314 315 Mit Goethe durch die Welt der Geister Der innere Sinn anonymen Schrift The Cloud Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist of Unknowing (um 1350/80) in für die Augen unsichtbar. Und der kleine Prinz begreift es Europa weitergegeben wurde. sofort: Aber die Augen sind blind. Man muß mit dem Herzen suchen ... Und Friederike Hauffes Worte über den Sitz des Geistes in (Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz18) der Herzgrube erinnern an einen dem Volksmund wohl- Ein gutes Beispiel für die Kombination von innerer Wahr- bekannten Gedanken, der auch nehmung und völligem Wachsein beschreibt Pastor Franz Splitt- in der Dichtkunst immer wie- gerber in seinem Buch Aus dem innern Leben von 1880. Er hat der seinen Ausdruck gefunden den Bericht über dieses Erlebnis aus erster Hand erhalten, und hat, etwa in den Fragmenten zwar von einem engen Freund aus seinen jüngeren Jahren, von Novalis: einem Schiffsbauer. Dieser Freund, von dem er leider nur sagt, daß er in der Nähe von St. lebt, verlor seinen ältesten, elfjähri- Das Herz ist der Schlüssel gen Sohn, der ihm ganz besonders ans Herz gewachsen war. der Welt und des Lebens. Botticelli (um 1445- 1510), Italien: Obwohl der Sohn in tiefem Frieden und mit völligem Bewußt- (Novalis 2001, S. 404) Sant Agostino nello studio (Der heilige sein des ihm unmittelbar bevorstehenden Todes verstarb, konn- Aurelius Augustinus, 354 - 430). te sein Vater den Tod nicht verwinden und in den ersten Tagen nach der Beerdigung weder tagsüber noch nachts seine innere Achim von Arnim stellt in seiner Rezension von Jung- Ruhe wiederfinden. Stillings Geister-Kunde die rhetorische Frage:

Mit allen Künsten sind wir noch nicht so weit gekommen, Da geschah Folgendes: Als er des Nachts wieder mit sehn- einem Blindgebornen, vermittelst seiner übrigen vier Sinne süchtigem Verlangen seines Kindes gedachte, und der Schmerz einen Begriff von diesem mangelnden fünften beizubringen; über den Verlust desselben von Neuem über ihn mächtig wie kann der Verstand ergrübeln, was für das Herz geschaf- wurde, stand mit einem Male der Knabe vor seinem Bett, fen ist. Was kein Auge gesehen, kein Ohr gehört hat, das nicht in der abgezehrten Gestalt, wie er sie unmittelbar kommt in des Menschen Herz und ist seine Zukunft. vor dem Tode gehabt hatte, sondern in schöner, verklärter (Arnim 1992, S. 540) Gestalt, wie ein Engel Gottes mit einem lichten Gewande bekleidet. Das Kind zeigte sich aber nicht allein dem Vater, Ja, wir können diese alte Weisheit sogar in dem Märchen sondern redete auch zu ihm. Es tröstete ihn wieder mit gar Le petit prince (1940) entdecken, von dem französischen Schrift- lieblichen Worten, sagte ihm, wie selig es jetzt bei dem Hei- steller Antoine de Saint-Exupéry (29. 6.1900 –31. 7. 1944) in land sei, und bat den Vater dringend, er möge sich doch nicht kindergerechte Worte gehüllt, die der Fuchs als ganz simples ferner über seinen Heimgang betrüben, sondern solle fest Geheimnis an den kleinen Prinzen weitergibt: glauben und hoffen, daß er ihn einst im Himmel wiedersehen

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werde. Dann verschwand die Erscheinung vor den Augen des der Betrachtung auch gleich Fragen wie: „Ist er in Wirklich- Vaters, der alsbald durch dieselbe wunderbar getröstet wurde. keit groß oder klein? Erleben Sie die Begegnung mit ihm wie Jetzt war der verzehrende Gram aus seinem Herzen ver- das leichte Kitzeln einer Fliege?“ schwunden und der Friede seines Gemüths wieder hergestellt. In Wirklichkeit ist er weder groß noch klein, er ist überhaupt So oft er aber dieses Ereignisses gedachte, versicherte er aber nicht meßbar. In Wirklichkeit ist er nicht sichtbar für die immer auf’s Neue, daß er damals nicht etwa im Schlaf Augen, nicht greifbar für die Hände. Darum ist es ihm auch gewesen und nur ein schönes Traumbild gesehen, sondern nicht möglich, mich wie eine Fliege leicht zu kitzeln, obwohl wachend die Gestalt seines Sohnes geschaut und dessen Stim- er Menschen gern neckt. me gehört habe. Allerdings sei das nicht ein äußeres Sehen (Burkhard 1996, S. 5) und Hören gewesen, sondern ein inneres Wahrnehmen, das mit den Augen und Ohren des Geistes – aber doch vollkom- Ursula Burkhard schildert dann drei verschiedene Arten von men wirklich geschehen sei! Möglichkeiten der Begegnung mit Elementarwesen, folgend (Splittgerber 1880, S. 89f.) dem Schulungsweg des Philosophen Rudolf Steiner (27. 2.1861– 30. 3.1925): Imagination, Inspiration und Intuition. Ihre subjek- Mit einer Art von inneren Sinn wird auch heute noch so tiven Erlebnisse, die ihr auf diesem Weg bisher möglich waren manch ein unbekannter Gast wahrgenommen. Ein ganz unge- – sie nennt sie erste Schritte –, erzählt sie nun, um andere zu wöhnlicher Beitrag zu diesem Bereich stammt in neuerer Zeit eigenen Erfahrungen zu ermutigen (Burkhard 1996, S. 9–14). von einer Blinden, Ursula Burkhard. Ihre Erlebnisse gehören Dann folgt etwas später das Kapitel „Durchbruch“: nicht in die Kategorie der „normalen“ Geistererscheinungen, Der Durchbruch begann, als wir in der letzten Klasse Goethes sondern es handelt sich hier vielmehr um eine innere Begeg- „Faust“ lasen. Die Bilder und Gestalten des Dramas ergriffen nung mit einem Elementarwesen (Burkhard 1996). Sie beginnt mich so sehr, daß ich eigenes Erleben nicht länger verdrän- ihren Bericht über Karlik – so nennt sie ihren kleinen Gnom – gen konnte. Kurz darauf verlor ich als Studentin religiöse mit den folgenden Worten: Bedenken und das daraus entstandene schlechte Gewissen. In Da steht er nun vor mir auf dem Tisch, greifbar als kleine Vorlesungen über altenglische Literatur lernte ich das natur- Gestalt aus Wachs. Wenn andere Menschen kommen und ihn verbundene Christentum der irischen Mönche kennen. Damit sehen, sagen sie: „Das ist ein Gnom.“ konnte ich mich verbinden. Freigesprochen fühlte ich mich Ich müßte mich eigentlich freuen darüber, daß sie erkennen, durch die Menschen und den Geist jener Zeit. [...] was ich zu formen versuchte. Die Begegnung mit einem wirk- Einmal saßen wir auf einer Wiese an einem Waldrand. Es war lichen Gnom hat mich ja dazu angeregt. Aber da ist noch im Elsaß. Aus dem Wald schritt langsam ein Zwerg. Er kam etwas Unbefriedigendes, das sich schwer in Worten sagen läßt. zu mir und schaute mich an mit erstaunten Augen, die immer Die Feststellung: „Das ist ein Gnom“, stellt das Elementar- größer wurden. Mit meinen inneren Augen schaute ich ihn wesen fest umrissen in unsere Welt hinein und macht die auch an. „Siehst du mich denn?“ fragte er. „Ja“, sagte ich. Da Wachsfigur zu etwas Endgültigem. Darum ergeben sich aus schüttelte er den Kopf, blieb eine Weile sprachlos stehen

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und ging dann nachdenklich in den Wald zurück. Ich ver- Und dann tauchte eines Tages stand: Die Gnomen haben den Kontakt mit uns Menschen Karlik auf – dieses russische auch verloren. Das ist also gegenseitig, wir müssen uns wieder Wort für Zwerg gefiel ihrem aneinander gewöhnen. neuen kleinen Geister-Freund, (Burkhard 1996, S. 17f.) der zu der Welt der Elementar- wesen gehörte. Sobald jedoch Ursula Burkhard beschreibt nun ihre immer mehr zunehmen- jemand von ihrem treuen Beglei- de Einsamkeit, die sie fühlte, wenn sie unter Menschen war, die ter erfuhr, kam ein selbstsüch- nichts von ihren Erlebnissen wissen wollten, weshalb sie sich tiges Verhalten zum Vorschein: allmählich mehr und mehr in die Welt der unsichtbaren Wesen Oft wird gefragt: „Wie kann versetzte: man diese Wesen beeinflussen, Damals konnte ich fliegen. So nannte ich die Möglichkeit, daß mehr wächst in meinem meinen Körper bei vollem Bewußtsein zu verlassen und frei Garten oder, daß der Ertrag in von ihm das Geistige zu „genießen“. Wahrscheinlich hatten der Landwirtschaft besser wird?“ „Kann ihr Zwerg ein Kraut diese Ausflüge eine gewisse Ähnlichkeit mit den „Trips“, die Helga Gebert: Der kleine Zwerg. jetzt viele junge Menschen mit Hilfe von Drogen unterneh- angeben, daß ich gesund wer- men. Treffend sagt [der ebenfalls blinde] Jacques Lusseyran de?“ „Könnten die nicht, wie in alten Märchen, unsere Arbeit in seinem Buch „Das wiedergefundene Licht“ [vgl. Kap. tun?“ Die Begegnung mit solchen Wesen soll Vorteile brin- III.3], Blindheit könne wirken wie eine Droge. Die Neigung, gen. ganz nach innen zu leben, wird verstärkt durch das Fehlen (Burkhard 1996, S. 31) der optischen Eindrücke, und man hat Mühe, das Gleich- gewicht zwischen Außen und Innen zu halten. Mir wurde klar: Wir Menschen leiden an uns selber, aber die Besonders gern besuchte ich „fliegend“ Feen und Elfen: Wie Schöpfung, alle sichtbaren und unsichtbaren Geschöpfe um sie schweben, sich ständig verändern, immer in Bewegung uns her, leiden unschuldig mit uns, für uns, durch uns. Diese sind und aus Licht herrliche, blütenartige Gebilde weben. [...] Einsicht bedrückte mich. [...] Das Fliegen, ein Lockerungszustand, hätte mich sicher krank Was sollte ich tun und wie konnte ich durchhalten? Oft gemacht, wenn nicht gerade aus der Welt der Elementarwe- stellte ich mir solche Fragen und kam nicht auf die Idee, sie sen ein Helfer gekommen wäre! Ein Wurzelmann ... [...] mit Karlik zu besprechen. Ungefragt antwortete er von sich Ich bemühte mich also, immer fester auf der Erde zu stehen. aus. „Dich freuen sollst du und Feste feiern, dann findest Das „Verwurzeln“, wie er es nannte, fällt mir schwer, es ist du den Weg.“ Für einen Menschen kommt diese Antwort auf zu einer Lebensaufgabe geworden. schwere Lebensfragen eher unerwartet. „Natürlich kann jetzt (Burkhard 1996, S. 21– 24) niemand im Paradies leben“, erklärte Karlik, „aber Feste sind Erinnerungen, Lichter vom Paradies. Sie ermöglichen

320 321 Mit Goethe durch die Welt der Geister Projektion und Kreation von Geistern

das neue Leben, das Werdende. Das Dunkle annehmen und tragen kannst du nur, wenn du immer wieder auf das Licht schaust. Vergiss das nie. Im Licht sind die Verwandlungs- II.8 kräfte.“ PROJEKTION UND KREATION VON GEISTERN (Burkhard 1996, S. 34f.)  Ahnung und innerer Sinn – zwei eng miteinander verfloch- tene Begriffe, die unter dem Stichwort „Intuition“ allmählich Müsset im Naturbetrachten Einzug in die wissenschaftliche Forschung halten, wie es etwa Immer eins wie alles achten in dem Buch The Unknown Guest von dem Iren Brian Inglis Nichts ist drinne, nichts ist drausen: beschrieben wird (Inglis 1987). Auch die „innere Stimme“ und Denn was innen das ist außen. die ganz alten Vorstellungen von einem inneren Dämon, den So ergreifet ohne Säumniß man heute „Schutzgeist“ nennen würde, sowie von einem Spiri- Heilig öffentlich Geheimniß. tus vitalis und einem Spiritus familiaris haben bei diesem Freuet euch des wahren Scheins, Thema ein Wörtchen mitzureden (s. Kap. III. 4, 15 und 25). Wir Euch des ernsten Spieles. haben ferner Anzeichen, die dafür sprechen, daß dieser so Kein Lebendges ist ein Eins, innerliche Sinn einst ein durchaus „äußerer“ war, d. h. leicht Immer ist’s ein Vieles. anzuwenden wie zu definieren, und sich im Laufe der Zeit 19 immer mehr ver-innerlicht hat: Ist das so geheimnisvolle innere (Goethe, Epirrhema, 1817 ) Wissen um einen unbekannten Sachverhalt, um ein Geschehen,  vielleicht auf unsere Nase zurückzuführen, wie Jung andeutete (s.o. Kap. II.4)? Der menschliche Geruchssinn, der mit dem ältesten Teil des Gehirns, dem Riechhirn, in Beziehung steht, Sehr interessant und wie auf den modernen Menschen zuge- war ursprünglich ein ausgezeichnetes Mittel zur Orientierung schnitten mutet die ganz alte, heute immer noch lebendige Idee und Information, wovon der Volksmund noch viele Redewen- an, daß der Mensch Geister selbst erschaffen könne (vgl. Kap. dungen bewahrt hat: Jemand steckt seine Nase in etwas, ist IX.4). Sie meint kein krankhaftes Phantasieren, sondern das nase-weis, hat eine Nase oder einen guten „Riecher“ für etwas Potential eines ganz normalen, gesunden Menschen. Diese Idee und kann eine Gefahr wittern bzw. Lunte riechen (vgl. Kap. hat einen frühen Vertreter in dem berühmten, Paracelsus-begei- III.27). Ist Intuition unser transformierter oder unscharf gewor- sterten flämischen Arzt Jan Baptist van Helmont (s. Kap. I.4 dener olfaktorischer Sinn, der uns einstmals Normales nun als und 11, IV). Er glaubt, daß wir Menschen ein Ebenbild Gottes Paranormales unter die Nase reiben will? Wir haben eine blasse seien und daß „das Ebenbild auch das Vermögen besitze, allein Ahnung davon. durch die Macht seiner Imagination, gewisse reale Vorstel- lungen oder Wesen – entities selbst zu erschaffen. Eine jede dergleichen Vorstellung oder Repräsentation kleide sich in eine

322 323 Mit Goethe durch die Welt der Geister Projektion und Kreation von Geistern von der Imagination gemachte Form, oder ihr angemessene weckt in deinem Verborgenen ein Echo und wird dir deutlich Gestalt, und bilde sich auf diese Weise zu einem wirklichen und und redet zu dir grausig, ernst oder koboldisch, wie es in dei- wirksamen, in diesem Kleide bestehenden Wesen“ (Horst 1830, nem Innern aussieht. Bd. 2, S. 158f.). Van Helmont wendet diese Idee schließlich auch Das Spuken und Gespenstern, das Klopfen und Rufen – wobei auf die Ähnlichkeit der Kinder mit ihren Eltern an (s. a. Bd. 4, Spuken und Gespenstern, Klopfen und Rufen für vielerlei Kap. IX.5). Sicht- und Hörbarkeiten steht, denn die Verwandlungsfähig- keit des Erscheinenden ist groß, und seine Möglichkeiten sind Auch der Schweizer Pfarrer und Dichter Johann Kaspar Lava- unbegrenzt – gilt allemal dir, wie es sich auch immer gegen- ter (s. Kap. I.6) hat der Imagination große Kraft zugeschrieben; über deiner Befangenheit einkleide. [...] er geht sogar noch einen Schritt weiter als van Helmont, indem Darf es da wundern, wenn das Etwas sich benimmt, wie sie er sagt, daß die Imagination auf die Seele einer anderen Person sich benehmen, wenn es tollt und kindisch tut, und der Freu- direkt einwirken könne. Dies geschehe mit solcher Intensität, de am Schabernack und am Verblüffen nachgibt, die sie sich nicht einzugestehen wagen. [...] [...] daß hiedurch eine wirkliche Vorstellung, oder eine äußer- Das Reich der Geister ist uns näher als wir eingestehen. Wir liche Anschauung von der sichtbaren Gestalt jenes Indi- meinen zuweilen, wir müßten sie rufen, aber in Wahrheit viduums hervor gebracht werde, von welcher die Wirkung rufen sie uns, und ehe wir die Hand ausstrecken, das Flüch- ausgehe; eine Anschauung, welche lebhaft genug sey, um eine tige zu fassen, hat es uns schon gefangengenommen und uns Realität zu scheinen, und die Ueberzeugung zu geben, daß verwandelt. man einen Geist gesehen habe. Eine solche Wirkung der Ima- gination könne, da sie der Raum nicht zu beschränken ver- (Prospero 1922, S. 6ff.) möge, in jeder möglichen Entfernung statt haben, denn sie sey ihrer Natur nach gänzlich unabhängig von den Gesetzen Die moderne wissenschaftliche Interpretation von Spukfällen, des Raums. sogenannten Poltergeistfällen, in denen auch häufig Geisterer- scheinungen vorkommen, ist die Projektionstheorie. Danach (Horst 1830, Bd. 2, S. 159) sind Spukvorgänge die Projektionen eines pubertierenden Jugendlichen oder einer konfliktgeladenen Familie. Projektion In einem pseudonym, unter dem Namen „Prospero“, erschie- hat eine Nähe zur Kreation. Projektion setzt jedoch etwas nenen Werk aus dem Jahr 1922 schreibt die Verfasserin bzw. Krankhaftes und Problematisches voraus, das aus der erkrank- der Verfasser ganz modern: ten Person herauskatapultiert wird, während Kreationen auch Denn es ist so: Der Spuk, der dich äfft, das Geistern, das dich einem gesunden Menschen gelingen können. schreckt, spukt und äfft aus dir. Undurchlebtes greift über dich hinaus, Verstoßenes, das, was du aus deinem Bewußt- Nicht immer gab und gibt man sich damit zufrieden, Geister sein in die Tiefen deiner Seele gestoßen hast, regt sich, wenn als ungeladene Gäste kommen und gehen zu lassen, wie sie wol- du in den Kreis trittst, der der seine ist. [...] Das Verborgene len. Die Versuchung war oft schon groß, ihrem Besuch ein biß- chen nachzuhelfen. Die Anstrengungen reichten von sanften bis

324 325 Mit Goethe durch die Welt der Geister Projektion und Kreation von Geistern drastischen, gewaltsamen Versuchen, von bloßem Wünschen bis Wie alles magische Wirken, so ist auch alles magische Schauen hin zu magischen Beschwörungsriten, denen man im Laufe der und Erkennen an gewisse Formen und Gesetze gebunden. Jahrhunderte bereits Mengen von Papier gewidmet hat. Maury (I.c.266) meint, bei den Ekstatischen fließe in Folge Schon in der Antike glaubte man, Geister bevorzugt in der Concentration auf einen Punct die ganze Nervenkraft Spiegeln wahrnehmen zu können – Gedanken, die man in jüng- zum Hirn, und citirt dabei Philips, Cours théorique et prac- ster Zeit wieder aufgriff und als Anregung zu Experimenten tique de Braidisme. (Braid war ein Arzt, der 1842 über den verstand. In einem Spukschloß in Schweden, in Engsö, nicht Hypnotismus geschrieben hat, Philips hat seine Experimente weit von Stockholm, verbrachten die amerikanischen Forscher wiederholt und erweitert dargestellt.) Aber die wahre Ekstase Raymond Moody und Dean Radin einige Zeit damit, in einem läßt sich nicht aus bloß körperlichen Vorgängen erklären, besonders berüchtigten Zimmer vor einem Spiegel auf eine Gei- wenn auch diese begleitende Erscheinungen sind. stererscheinung zu warten, was dann auch für Moody erfolg- (Perty 1869, S. 173) reich ausging (s. Kap. IX.2). Es gibt viele völlig verschiedene Wege, das Wahrnehmen von Steht es uns zu, Geistererscheinungen zu provozieren? Dingen jenseits der Raum/Zeit-Welt auf natürliche Weise zu fördern. Die wohl ältesten Methoden sind Meditation, Fasten, Die mehresten Geistererscheinungen, wo nicht gar Alle, sind besondere Lebensweise (Diät), Genuß bestimmter Pilze und Abweichungen von der göttlichen Ordnung, folglich auch sünd- Tränke, Tanz, Musik und Rhythmus, bestimmte Körperhaltun- lich. Wir sollen und dürfen keine wünschen, vielweniger veran- gen, Bewegungen und Atmungsarten (Yoga, Tai Chi, Qigong), lassen. Das Schicksal unserer lieben Abgeschiedenen soll uns ein Sprechen heiliger Worte und Gebete, Räucherungen, Kräuter- Geheimnis bleiben, und eben so auch die Maximen der gött- anwendungen, Reinigungen und keineswegs an letzter Stelle lichen Regierung nach denen sie jenseits verfährt. Was uns die spezielle Schlaf- und Traumzeremonien, allen voran der heilige Bibel, und die ungesuchten Erfahrungen davon haben kund Tempelschlaf der klassischen Antike. Diese rufen verschiedene werden lassen, und was uns noch ferner ohne vorwitziges Bewußtseinszustände wie etwa hypnopompe und hypnagogische Forschen kund wird, damit wollen wir uns begnügen lassen, Phasen, d. h. schlafeinleitende und schlafbeendende Phasen, bis wir hinüber sind. waches Träumen, und verschiedene Stufen von Ekstase hervor. Sie sind in Varianten in den verschiedensten Kulturen (Jung-Stilling 1808, S. 269) anzutreffen. Das höchste gemeinsame Ziel ist die Vereinigung mit Gott, mit dem Göttlichen, mit dem All. Das Sehen von nor- Was sind nun Geister? Die klassischen, Jahrhunderte hindurch malerweise unsichtbaren Wesen geschieht dabei auf einer der bewährten Antworten lauten: Stufen, irgendwo auf dem weiten Weg zu diesem letzten Ziel. 1. Geister sind Betrug. Geht es jedoch „bloß“ um das Sehen von Geistern, reicht u.U. 2. Geister sind Sinnestäuschungen. schon ein Kristall. Salomon soll sich z. B. eines Kristallgefäßes 3. Geister sind alte Gottheiten. bedient haben, in dem er Scharen von Geistern sah, die er beherr- 4. Geister sind Naturwesenheiten. schen wollte (Perty 1869, S. 172).

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5. Geister sind von Gott geschaffene Wesen. 6. Geister sind vom Teufel geschaffene Wesen. 7. Geister sind die Seelen verstorbener Menschen oder II.9 Tiere. PRÜFUNG VON GEISTERN 8. Geister sind die subtilen Körper von lebenden Men- schen oder Tieren.  9. Geister sind Projektionen von Menschen. 10. Geister sind Kreationen von Menschen. Hier faß ich Fuß! Hier sind es Wirklichkeiten, Von hier aus darf der Geist mit Geistern streiten, Die beiden ersten und die beiden letzten Punkte sind die Das Doppelreich, das große, sich bereiten. modernsten. Während Betrug und Sinnestäuschung mit Sicher- (Goethe, Faust II, 1. Akt, Kaiserliche Pfalz, Rittersaal, heit für einen Teil der Geistererlebnisse verantwortlich zu 6553ff., Faust) machen sind, ist die Beurteilung einer Erscheinung als Pro- jektion oder als Kreation schon wesentlich schwieriger. Der  Unterschied zwischen Projektion und Kreation liegt hauptsäch- lich darin, daß eine Projektion nur stattfinden kann, wenn Schon immer war der dringende Wunsch in der wissenschaft- schon etwas in dem projizierenden Menschen vorhanden ist, das lichen Parapsychologie vorhanden, den idealen Fall zu finden, dann lediglich, und zwar unbewußt, auf die Außenwelt über- den Paradefall, der unbezweifelbar, perfekt und hundertpro- tragen und verlagert wird. Bei einer Kreation ist ein bewußtes zentig sicher ist. Der bedeutende Psychologe und Parapsycho- Schaffen die Voraussetzung. Etwas Neues entsteht, wird kreiert, loge von der University of Edinburgh, John Beloff, sprach in nicht Altes hin- und hergeschoben – doch wissen wir denn, aus jüngster Zeit von compelling evidence, von dem zwingenden welchen Quellen der schaffende Künstler schöpft und ob er Beweis, den die Wissenschaft von den paranormalen Phänome- nicht längst Bestehendes ans Tageslicht holt? nen benötige. Ähnlich hörten wir schon Horst von dem einen unzweifelhaften Fall reden (s. Kap. II.2). Doch von Goethe Am Ende hängen wir doch ab hören wir: Von Creaturen die wir machten. Ein Phänomen, ein Versuch kann nichts beweisen, es ist das (Goethe, Faust II, 2. Akt, Laboratorium, 7003f., Glied einer großen Kette, das erst im Zusammenhang gilt. Mephistopheles ad Spectatores) Wer eine Perlenschnur verdecken und nur die schönste ein- zelne vorzeigen wollte, verlangend wir sollten ihm glauben die übrigen seien alle so, schwerlich würde sich jemand auf den Handel einlassen. (Goethe, Maximen und Reflexionen 20)

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Goethes Standpunkt befreit natürlich nicht von der Sorgfalt, Erscheinungen von geisterhaften Wesen dann auch damit auf. mit der wir den einzelnen Fall auswählen und beurteilen sollen, Die Dokumentation und Verifizierung eines personengebun- sonst haben wir am Ende keine Perlenkette, sondern eine Kie- denen Spuks ist, wie gesagt, nur „relativ“ gut möglich, denn zu selsteinschnur, mit der sich kein Staat machen läßt. dem eigenwilligen Forschungsobjekt kommt die Tatsache, daß der Spuk flüchtig ist, d. h. die Phänomene belieben zu ver- Entsprechend der Vielfalt von Interpretationsmöglichkeiten schwinden, wenn der Forscher am Ort des Geschehens eintrifft von Geistern müssen sich auch die Arten der Beweise gestalten. und sie damit der genauen und direkten Beobachtung ausgesetzt Ein Betrug läßt sich, wenn genügend Indizien vorhanden sind, sind. Doch würden wir noch Bücher über Geister schreiben, relativ einfach nachweisen. Das Überleben der Seelen zu bewei- wenn sie es nicht täten? sen erinnert unwillkürlich an Gottesbeweise und rückt auf eine völlig andere, anthropozentrische Argumentationsebene. Einen Regenbogen der eine Viertelstunde steht sieht man Neben der Aufklärung eines Betrugs steht gleich die Auf- nicht mehr an. deckung einer Sinnestäuschung. Sieht jemand in der Nacht in (Goethe, Maximen und Reflexionen 21) einer Zimmerecke einen Geist und entdeckt am nächsten Mor- gen im Tageslicht, daß es sich in Wirklichkeit um einen ganz Bei allen anderen Geisterarten sieht die Vergewisserung, daß normalen Gegenstand handelte, an den er sich bloß nicht erin- es sich um einen Geist handelt, schon wesentlich schwieriger nern konnte oder den er vorher einfach noch nicht bewußt aus. Es wird im anschließenden Abschnitt über die Realität von wahrgenommen hatte, da er sich vielleicht zum erstenmal in Geistern einiges dazu gesagt (Kap. II.10). diesem Raum aufhielt, dann ist das eine einfache, unbestreit- Eine Besonderheit und außerordentliche Bestätigung der bare Erklärung für den vermeintlichen Geist. Betrug und Sin- Anwesenheit eines Geistes ist das Zurücklassen eines Gegen- nestäuschung sind also am leichtesten zu identifizieren, wenn standes oder Zeichens von seiten des Geistes. So hinterließ der natürlich auch nicht immer unbedingt problemlos. Neben diesen Kobold Pück eine Kupferkanne und der Kobold Hütchen den beiden sozusagen unechten Geistertypen läßt sich allerdings Kessel, in dem er den aus lauter Wut und Rache zerstückelten noch eine Geistervariante relativ gut identifizieren, nämlich der Küchenjungen, der ihn beleidigt hatte, gekocht hatte (Linhart sogenannte personengebunde Spuk. Hier treten die geister- 1995, S. 67, S. 73f.; vgl. Kap. III.23). haften Phänomene häufig in Gegenwart eines pubertierenden Auch der Geist eines verstorbenen Menschen kann etwas Jugendlichen auf, doch spielen die Erscheinungen von Geistern hinterlassen. So berichtet die schweizerische Psychiaterin innerhalb eines solchen Spuk- und Poltergeistfalles allerdings Elisabeth Kübler-Ross, sie sei im Besitz von ein paar Zeilen, nur eine untergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt sind hier vielmehr die der Geist von Frau Schwarz, einer verstorbenen Patientin, geisterhafte Vorgänge wie das Herumfliegen von Gegenständen in ihrer Gegenwart geschrieben habe (s. Kap. IX.7). usw., die in dem Moment aufhören, wenn die Person, um die das spukhafte Geschehen kreist, nicht mehr anwesend ist, Wenn in einer Reihe von merkwürdigen, spukartigen Ereig- die ihr jedoch u.U. an den neuen Ort folgen. Natürlich hören nissen nur ein einziges davon aufgeklärt, d. h. dessen natürliche die im Rahmen eines solchen Falles auftretenden bildlichen

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Ursache aufgedeckt wird, so wird daraus leicht der vorschnelle in der Erzählung des Schröp- Schluß gezogen, alle anderen Ereignisse derselben Reihe müß- ferischen Unfugs hinreichend ten ebenfalls eine natürliche Ursache haben. Das erinnert an das gewiesen. Wer weiß, was für bekannte Dilemma beim Umgang mit Medien, die einmal bei natürliche Mittel – die vielen einem Betrug ertappt wurden: Nach dem Motto „Wer einmal unbekannt sind – diese und lügt, dem glaubt man nicht“, glaubt man ihnen oft dann gar jene Erscheinung zu bewir- nichts mehr. Diesem Schicksal verfiel auch Cagliostro (s. Kap. ken, fähig sind, ohne daß I.16), der schillernde „Erzzauberer“ und „Schwarzkünstler“ aus man befugt ist, auf ausser= Palermo, der Schiller Vorbild für seinen Geisterseher und Goethe und übernatürliche Ursachen für seinen Grosskophta wurde. zu schliessen. Kann man doch Auf Sinnestäuschungen und auf die berühmte Trickkiste, die vermittelst gewisser Spiegel Geister bloß vorgaukeln bzw. hervorzaubern, wird nicht etwa diese und jene Gestalten in nur in unserer Zeit mit Nachdruck hingewiesen. Schon 1777 freyer Luft präsentiren, und schreibt der generell kritisch eingestellte Autor Justus Christian daß ein Bild – auch Men- Hennings (s. Kap. I.1): schengestalt – sich auf uns zu bewege, ganz natürlich Würden wir alle Erscheinungen ohne Furcht prüfen, so dürf- bewirken. Wer aber nicht weiß, ten wenigstens die mehresten Gespenste und aussergewöhn- wie es zugehet, staunet die- lichen Visionen gar bald aus der Welt verschwinden. Denn se Bewegungen mit größter Unerschrockenheit übersiehet alle Larven [römische Geister, Titelseite von Justus Christian Hen- Verwunderung an. Was für s. Kap. VIII.1] und schäzet keine Schreckbilder, die sich sehen nings anonym veröffentlichter Schrift Kunststücke macht nicht der lassen. „Visionen vorzüglich neuerer und neue- ster Zeit“ (1781), einem Pendant zu berühmte Künstler Philadel- Es giebt auch mancherley Kunstmittel, durch welche Abbil- seinem berühmten Buch „Von den Ahn- phia, die gar vielen als Hexe- dungen von Dingen dargestellt werden können, obgleich die dungen und Visionen“ (1777). rey und Teufelswerk vorkom- Dinge selbst nicht vorhanden sind. Wem sind die optischen men, weil man diejenigen natürlichen Mittel nicht weiß, Betrügereyen unbekannt? Der berüchtigte Schröpfer [Johann deren er sich bedienet. Auch Thomas Peladine gebürtig von Georg Schröpfer, auch Schrepfer oder Schrepffer, 1739 –1774, Livorno hat solche Kunststücke gemacht, die den Zuschauer Leipziger Gastwirt, der Geister von Verstorbenen mit Hilfe in die größte Verwunderung sezten. Ungewöhnliche Schälle, von Tricks materialisieren wollte], der sich vor einigen Jah- zu welchen die ausschweifende Einbildungskraft eine falsche ren in Rosenthal zu Leipzig erschoß, hat vielleicht die Visio- und ungewöhnliche Ursache dichtet, können auch besonders nen, mit welchen er viele blendete, durch eine magische in grosser Furcht und bey einem panischen Schrecken, Gesich- Laterne, durch Spiegel, oder andere Kunstmittel hervorzu- ter – obgleich nur erdichtete – erregen, wovon ich oben bringen gewußt. Er soll Verstorbene in ihrer Bildung vorge- Beyspiele gebracht habe [Klopffleisch und Plater]. So soll stellet haben u.s.w. Herr D. Semler hat das Ungegründete Schröpfer die citirten Geister gezwungen haben, zu reden.

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Allein auch hierbey sind mancherley Betrügereyen möglich. Der allgemeine Anspruch, ein Geist müsse von allen Anwe- Man gedenke nur an die Bauchredner. senden gesehen werden können und auch fotogen bzw. filmreif Viele Visionen und Gespensteräffungen haben ihr Daseyn sein, um als ein „reales“ Wesen salonfähig zu werden, ist nur verabredeten Betrügereyen zu danken. vordergründig berechtigt, geht er doch davon aus, daß für alle (Hennings 1777, S. 482f.) Menschen dieselben Bedingungen der Wahrnehmung gelten.

Der amerikanische Soziologe und Zauberkünstler Prof. Mar- Von Prof. Richard Bentall, dem Leiter der Abteilung Clini- cello Truzzi (1935 oder 1936 – 2. 2. 2003), selbst der Sohn eines cal Psychology an der University of Liverpool, erfahren wir berühmten Zauberkünstlers, sagt, er habe oft beobachtet, wie Genaueres über Halluzinationen: Das, was bei Halluzinationen leicht sich auch zwei, drei oder mehrere Augenzeugen täuschen gesehen wird, variiert von Kultur zu Kultur ganz erheblich, und können. Gruppenvisionen, wie sie C. G. Jung mit einer Kol- auch die Einstellung gegenüber Halluzinationen ist variabel. legin in einer italienischen Kirche teilte, in deren Fenstern Die ausführlichste Forschung ist auf dem Gebiet der auditiven beide Besucher nicht die real vorhandenen Bildmotive wahrnah- Halluzinationen (Stimmenhören) gemacht worden, weil diese Art men, sondern vielmehr die am meisten unter Menschen verbreitet ist, die an Schizophrenie Geschichte der Kirche bild- leiden; doch sollten Halluzinationen nicht notwendigerweise lich dargestellt sahen (Jaffé im Zusammenhang mit Geisteskrankheit gesehen werden. So 1985), und auch Massenhyp- ist es z. B. unter den Ureinwohnern von Hawaii an der Tages- nosen sind ja bekannt. Es ist ordnung, verstorbene Vorfahren zu sehen. Generell haben zwar natürlich grundsätzlich WHO-Studien ergeben, daß visuelle Halluzinationen bei Schi- gut, wenn man mehrere Augen- zophrenen (die angeblich anzeigen, daß Symptome für Schizo- zeugen vorweisen kann, doch phrenie weltweit invariant sind) in Entwicklungsländern viel wird die Menge der Augen- häufiger berichtet werden. Bemerkenswert ist vor allem, daß zeugen immer im Bereich der wesentlich mehr Leute Halluzinationen erleben als nach psy- quantitativen Beweisführung chiatrischer Hilfe suchen, sogar in „entwickelten“ Ländern. Der steckenbleiben. Entscheiden- Maastrichter Psychiater Marius Romme hat sogar eine natio- der noch für die Glaubwür- nale Organisation gegründet nur für Holländer, die Stimmen digkeit eines Ereignisses ist hören – viele von ihnen führen ein ausgesprochen glückliches die Qualität des oder der Leben! Und noch etwas ist wichtig: Halluzinationen von Pati- betreffenden Augenzeugen. Ein enten in der Psychiatrie haben oft einen negativen und unschö- einziger kritischer Zeuge ist nen Inhalt, weshalb die Betreffenden auch in Behandlung sind. unter Umständen besser als Und Bentall kommt noch einmal zurück zum Stimmenhören: eine ganze Gruppe von Blind- Jeder normale Mensch hat und hört eine innere Stimme, inner Carl Gustav Jung, in seinem Arbeits- gläubigen. speech – darüber besteht selbst unter Psychologen und Psychia- zimmer. tern inzwischen ein Konsens. Diese innere Stimme hat die

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Funktion eines Gesprächspartners, der uns beim Nachdenken Im Unterschied zu der Halluzination fügt nun die Illusion und Treffen von Entscheidungen hilft. Sie kann allerdings auch der Realität nichts Neues hinzu, sondern verändert, verformt mit einer echten äußeren Stimme verwechselt werden. Das und verzerrt vielmehr das objektiv Vorhandene. schließt man daraus, daß sowohl beim inneren Dialog wie auch Die Annahme einer Krankheit, nicht bloß einer einmaligen beim vermeintlichen Stimmenhören „von außen“ geringe Bewe- Sinnestäuschung, als Ursache für das Sehen eines Geistes spielte gungen der Stimmbänder in einem Elektromyogramm (EMG) in der Geschichte der Geisterliteratur schon immer eine ganz registriert werden können. Es bleibt für die Forschung jedoch entscheidende Rolle. An erster Stelle machte man Melancholie, ein Fragezeichen am Ende, warum diese Verwirrung zwischen die Schwarzgallenkrankheit, dafür verantwortlich. innerer und äußerer Stimme besteht. Klar zu sein scheint aber, Was die heutigen Untersuchungen über den Zusammenhang daß Patienten, die Stimmen hören, ausgesprochen leicht darin des Geistersehens mit Krankheiten betrifft, so sei auf For- zu beeinflussen sind, wo die Quelle dafür liegt. Anders ausge- schungsergebnisse hingewiesen, die einen Zusammenhang zwi- drückt: Patienten, Schizophrene, sehen Geister, weil sie daran schen bestimmten krankhaften Zuständen des Gehirns mit den glauben. Und nun folgt das Wichtigste: Dies verhält sich ganz Doppelgänger-Phänomen aufzeigen (Brugger, Regard und Lan- anders bei gesunden Menschen. Sie sind keineswegs so einfach dis, 1996 und 1997). Wenn hier von „Zusammenhang“ die Rede suggestiv zu beeinflussen. Wenn man einen Nicht-Patienten ist, heißt das jedoch nicht zwangsläufig, daß das Gehirn damit bittet, die Augen zu schließen und in Gedanken eine bekannte zum Produzenten eines Doppelgängers geworden ist. Sachlich Melodie zu hören, so gelingt das höchst selten. Das alles soll läßt sich daraus nicht mehr und nicht weniger schließen, als daß zeigen, daß Ideen, ob bestimmte Ereignisse „real“ oder „ein- ein Doppelgänger-Erlebnis parallel zu diesen Veränderungen gebildet“ sind, in hohem Grade kulturabhängig sind, gebun- des Gehirns auftreten kann (vgl. Kap. IX.2). den an Wertbegriffe, Praktiken, Glaubensvorstellungen und Erwartungen der jeweiligen Kultur. Die mehr materialistisch Glaube oder Zweifel – das ist hier die Frage. Geistersehen ist eingestellte westliche Bevölkerung glaubt viel weniger an die eine undankbare Sache. Allein der Glaube macht noch keinen „Realität“ der fraglichen Phänomene. Soweit lesen wir es bei Geist. Auf der anderen Seite wird so mancher eingefleischte Bentall (Bentall 1998, S. 130ff.), was sich unschwer nachvoll- Zweifler plötzlich gezwungen, einen Geist zu sehen. Der von ziehen läßt. der Parapsychologie so bezeichnete sheep-goat effect, nach dem Aber auch ganz allgemein ist von Halluzinationen bekannt, nur der Gläubige, sozusagen das dumme Schaf, Geister sehen daß sie sich nicht mit so einem banalen Gegenstand wie z. B. soll, aber die meckernde Ziege nicht, trifft in der Praxis nicht dem Geist einer verstorbenen Person abgeben. Sie haben in zu. Es liegen zu viele Berichte, und zwar weit mehr als nur der Regel einen viel außergewöhnlicheren, eher sur-realen als Ausnahmen, von Menschen vor, die ganz und gar nicht mit ir-realen Inhalt, etwa einen fliegenden Elefanten in Rosé. einem Geist gerechnet haben, bis sie ihn dann wohl oder übel Nebenbei gesagt fügt eine Halluzination der Realität nicht sehen mußten. Und umgekehrt muß festgehalten werden: Wie immer nur etwas hinzu; sie kann im Gegenteil auch gerade dar- viele haben sich so sehr eine richtig schöne Geistererscheinung in bestehen, daß etwas für alle anderen Sichtbares nicht gesehen erhofft! So soll sich z. B. der Philosoph Friedrich von Schelling wird. sehnsüchtig ein solches Erlebnis gewünscht haben.

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Perty berichtet von Schellings Geistersuche: längst verstorbene Erzähler übrigens mit der Wahrheit manch- mal etwas unbarmherzig umgegangen sei, desto wahrheits- Herr Rotter schrieb am 25. Okt. 1878 von Stuttgart: „Wäh- liebender war seine Tochter, die Schreiberin jenes Briefes. rend meines ländlichen Aufenthaltes wurde mir ein Brief einer seit längeren Jahren verstorbenen Frau mitgetheilt, bei (Perty 1881, S. 183) deren Eltern der Philosoph Schelling gewohnt hatte, als er nach dem Tode seiner ersten Frau 1809 mehrere Monate in Das menschliche Denkvermögen, besonders das logische, ist Stuttgart zugebracht und dort die ‚Stuttgarter Vorlesungen‘ ein faszinierendes Werkzeug und innerhalb eines bestimmten in einem Privatkreise gehalten hatte. Er interessierte sich Rahmens auch das nützlichste, das wir besitzen. Doch sobald damals so sehr für Geistererscheinungen, daß, wie die Brief- wir das Fenster öffnen und den Kopf hinausstecken, ahnen wir, stellerin erzählt, er mehrmals mit ihrem Vater und anderen was die Mystik meint, wenn sie behauptet: Die Ratio ist ein Herren Nachts mehrere Stunden lang die etwa ½ Stunde von Gefängnis. der Stadt entlegenen Weinberge zu durchstöbern die Mühe nicht scheute, weil sich dort seit vielen Jahren bei Nacht räth- selhafte Lichter zeigten. Die Suchenden fanden aber an Ort und Stelle gar nichts. Der Vater der Schreiberin, der an Inter- II.10 esse für das Geisterreich dem großen Philosophen nicht nach- REALITÄT UND ECHTHEIT VON GEISTERN stand, hatte mir schon früher erzählt, einmal habe man um jene Zeit in dem nach dem Garten liegenden Hofe eine weib-  liche Gestalt mit einem Licht umher wandeln sehen. Der Bediente sei mit einer Laterne hinab geschickt worden, nicht Ich bin geneigter als jemand noch eine Welt außer der Sicht- weil man etwas Gespenstisches zu sehen glaubte, sondern weil baren zu glauben und ich habe Dichtungs- und Lebenskraft man sie bei ihrem Herumwandeln in einem fremden Hofe genug, sogar mein eigenes beschränktes Selbst zu einem und ihren wunderlichen Bewegungen für eine Halbwahnsin- Schwedenborgischen Geisteruniversum erweitert zu fühlen. nige gehalten, die etwa mit ihrem Licht einen Brand anregen (Goethe, Briefe. An J. K. Lavater 22) könnte. Man habe von den Fenstern den Diener der Wand- lerin nachlaufen sehen, die aber, als er ihr nahe gekommen,  plötzlich verschwunden sei. Der Bediente, ganz außer sich ins Zimmer zurückgekehrt, habe kaum sagen können, daß er Wenn jemand einen Geist sieht, hört, fühlt oder riecht, steht die Gestalt erst recht gesehen, nachdem er ganz nahe an sie er automatisch unter Beweiszwang, sofern er nicht für verrückt gekommen, die aber so gräßlich gewesen, daß er sie nicht gehalten werden möchte. Der Seher, egal ob professionell oder beschreiben könne. Weiteres war nicht aus ihm zu bringen, er laienhaft, ist sich dabei seiner Sache gewöhnlich ganz sicher, fest blieb bei diesem mehrere Jahre, so lange er noch im Hause davon überzeugt, wirklich etwas gesehen zu haben. Auch die war.“ Herr Rotter will nicht unterlassen, anzuführen, daß der Seherin von Prevorst bekräftigt das:

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Gewiß male ich mir diese Gestalten nicht selbst aus, denn ich Freuden, wenn ich zerstreut bin oder nicht, so sehe ich sie, habe nicht die mindeste Freude an ihnen; im Gegenteil, die- kurz ich kann ihnen gar nicht ausweichen. Nicht daß sie ses unglückselige Schauen ist mir ganz zuwider, auch denke immer vor mir ständen, sondern sie kommen zum Teil zu mir, ich nie an sie, außer ich sehe sie, oder man fragt mich über wie die Menschen, die mich besuchen, ich mag in einer geisti- sie, welches mir aber immer gen oder körperlichen Lage sein, in welcher ich will. Selbst leid ist; denn ich möchte so wenn ich den besten, ruhigsten Schlaf habe, so wecken sie gerne von ihnen gar nicht mich, wie, das weiß ich nicht, aber ich fühle, daß sie mich sprechen. Leider ist mein wecken, und daß ich nicht erwacht wäre, hätten sie, die nun Leben nun so beschaffen, vor meinem Bette stehen, und die ich nun mit wachen Augen daß meine Seele wie mein sehe, mich nicht erweckt. Geist in eine Geisterwelt (Kerner 1892, S. 255) schauen, die gleichsam auf unsrer Erde ist, und somit Seit ältester Zeit heftet sich die Frage nach der Existenz, sehe ich die Geister nicht Realität und Echtheit von Geistern an deren Erscheinen unter nur einzeln, sondern oft in normalen Bedingungen. Ein Geist, der mit offenen Augen bei großer Menge von ver- Tageslicht in hellwachem, vollbewußtem Zustand und am besten schiedener Art, je nachdem bei Anwesenheit mehrerer Augenzeugen gesehen wird, erreicht diese abgeschiedenen Seelen viel höhere Evidenz als ein im Schummerlicht und Dämmer- sind. Grußkarte der „Scottish Society for zustand wahrgenommenes schattenhaftes Geisterbild. Ja, über- Psychical Research“. (Kerner 1892, S. 254f.) haupt scheint ein Geist nur unter ersteren Gegebenheiten salonfähig und diskussionswürdig zu sein. Aber wie und was sieht der Seher, sieht die Seherin? Die Nun gibt es in der Tat auch eine ganze Gruppe von Geister- Prevorster Seherin geht ins Detail: sehern, die behaupten, Geister auf ganz normale Weise wahr- nehmen zu können. Andere sehen Geister nur im berüchtigten Ich sehe oft viele, mit denen ich in keine Berührung komme, Augenwinkel. Darüber hinaus gibt es auch noch Menschen, die und dann wieder solche, die sich zu mir wenden, mit denen Geister sehen und sich dabei vollkommen im klaren darüber ich rede, und die oft monatelang wie in meinem Umgange sind, daß sie etwas mit einem inneren Sinn sehen, so etwa die bleiben. Ich sehe sie zu den verschiedensten Zeiten bei Tag blinde Geisterseherin Ursula Burkhard (Burkhard 1996; s. Kap. und Nacht, ob Menschen da sind oder nicht. Ich bin jedesmal II.7). Aus anthroposophischer Sicht wird die Wahrnehmung ganz wach, fühle nicht, daß in mir etwas andres vorging, oder von Geistern als eine innere Wahrnehmung, als ein Erfassen daß dies Sehen durch irgend etwas hervorgerufen würde. Ich ohne die Sinne beschrieben. Das heißt aber nicht, daß diese sehe sie, wenn ich mich stark oder schwach fühle, wenn Wahrnehmung deshalb eine Täuschung ist – das sei der zweite ich vollblütig scheine oder Blutverlust hatte, in Schmerzen große Irrtum, betont der Berliner Philosoph und Anthroposoph und im Wohlbehagen, auch in den größten Seelenleiden oder

340 341 Mit Goethe durch die Welt der Geister Realität und Echtheit von Geistern

Martin Kollewijn (Kollewijn 2000). Natürlich verwirrt es die Die Erfahrungen aus den Reisen in andere oder innere Welten Sinne, wenn man sieht, aber die Augen dabei geschlossen hat. könnten nun als bloße Geschichten, travellers’ tales, abgetan Und noch viel verwirrender ist es, wenn man mit offenen werden, hätten sie nicht mitunter einen paranormalen Inhalt, Augen etwas sieht, was man eigentlich nicht sehen kann oder der nachprüfbar ist. So gewinnen diese Wahrnehmungen zwar soll und was womöglich auch kein anderer sieht. Man kann noch keine objektive, jedoch ihre eigene existentielle Gültigkeit allerdings umgekehrt auch innere Wahrnehmungen haben, wäh- (Parker 1975, S. 169). Den altered states of consciousness ent- rend man die Augen geöffnet hat. Es gibt eine oder mehrere spricht notwendigerweise eine altered reality, d. h. veränderte Arten von Wirklichkeiten, Realitäten, an denen wir teilhaben Bewußtseinsstadien zeigen eine veränderte Realität. können, je nachdem, in welchem Bewußtseinszustand wir uns Aus den Parawissenschaften ist bekannt, daß paranormale befinden. Neben den drei bekannten Stadien des Wachens, Phänomene häufiger in solchen veränderten Bewußtseinszustän- Schlafens und Träumens gibt es noch eine ganze Reihe anderer den wahrgenommen werden. Schon Hans Bender wies darauf Formen des Bewußtseins, von denen jedoch viele entweder hin, daß etwa die Hälfte solcher Erlebnisse in Träumen statt- krankhaft oder künstlich hervorgerufen sind, wie etwa Wahn- findet, während es sich nach zustände, Halluzinationen, epileptische Dämmerzustände, durch Louisa Rhines großer Fallsamm- Drogen erzeugte Bewußtseinsveränderungen, Trance, Hypnose lung genaugenommen um 65% und Mediumismus. Daneben gibt es ferner noch einen ganz handelt (Parker 1975, S. 77). anderen, für den heutigen, körperbewußten Menschen eher schwer vorstellbaren Bewußtseinszustand, in dem nämlich das Andere veränderte Bewußt- Ichbewußtsein erhalten bleibt – ein Zustand, von dem uns die seinsstadien sind hier noch nicht Eingeweihten aller Zeiten zu berichten wissen (Bühler 1996/ einmal mit einbezogen, auch 2001, S. 419f.). Veränderte Bewußtseinszustände wie Traum, nicht die neuesten Ergebnisse Trance, Meditation oder auch psychedelische Zustände werden der sogenannten Ganzfeld-Expe- etwa von dem amerikanischen Psychologen und ehemaligen rimente, die seit 25 Jahren im Professor am Davis Campus in Kalifornien, Charles Tart, und Gange sind (Bem und Honorton von dem englisch-schwedischen Psychologen von der Univer- 1994, Parker 2000), zur Zeit an sitet Göteborg, Adrian Parker, in ihren Klassikern, Altered mehreren Universitäten durch- Louisa Ella Rhine (9.11. 1891- 7.3.1983). States of Consciousness (Tart 1972) und States of Mind: ESP and geführt werden, z. B. von Adrian Altered States of Consciousness (Parker 1975) beschrieben. Der- Parker an der Psykologiska Institution der Universität Göte- artige Bewußtseinszustände werfen ein neues Licht auf unsere borg, und bei denen statistisch gesehen fast immer überdurch- Beziehung zur Außenwelt und bringen unter Umständen auch schnittlich häufig ASW auftritt. Bei einem Ganzfeld-Versuch, ein Wissen mit sich, das durch außersinnliche Wahrnehmung, der heute als die beste Methode gilt, high quality PSI im Labor also ASW (engl. ESP für extrasensory perception), gewonnen zu produzieren, soll gezeigt werden, ob Informationen via ASW wurde (Parker 1975, S. 15). Der externen Welt stehen in den von einem Sender zu einem sich in einem entfernten, abge- alternativen Bewußtseinsstadien interne Realitäten gegenüber. schlossenen Raum befindenden Empfänger gelangen, der sich in

342 343 Mit Goethe durch die Welt der Geister Realität und Echtheit von Geistern einem einheitlichen akustischen und visuellen Wahrnehmungs- Während ich die Geister sehe und sie mit mir sprechen, sehe feld aufhält, eben dem so bezeichneten „Ganzfeld“ – ein Ter- und höre ich auch andre Gegenstände, die sonst um mich sind, minus aus der deutschen Psychologie. Das Bewußtseinsstadium vermag auch alles andere zu denken, aber meine Augen sind des Empfängers ähnelt dabei dem Einschlafzustand, genauer doch wie an ihr Bild gebannt (fixiert), so daß es mir schwer gesagt dem hypnagogischen Zustand. Die hohe statistische fällt, mich von ihnen mit den Augen zu wenden, ob ich es Signifikanz der Ganzfeld-Daten ist in dem Buch des amerika- gleichwohl zu thun im stande bin; ich komme mit ihnen wie nischen Forschers Dean Radin, The Conscious Universe (Radin in magnetischen Rapport. 1997), das auch sonst den aktuellen Stand der Parapsychologie (Kerner 1892, S. 255) aufzeigt, zusammengefaßt. Goethe spricht das Phänomen der Gedankenübertragung im In neuerer Zeit hören wir auch von einigen Egmont an, den er keinen Zweifel an diesem Vorgang haben läßt: Medien, d. h. medial begabten Menschen wie Daß andrer Menschen Gedanken solchen Einfluß auf uns etwa Eileen Garrett (1893–1970), sowie von haben! Mir wäre es nie eingekommen, und dieser Mann trägt Sehern und Seherinnen wie der ursprünglich seine Sorglichkeit in mich herüber. – Weg! das ist ein frem- aus der Jungschen Schule kommenden Ania der Tropfen in meinem Blute. Gute Natur wirf ihn wieder Teillard (1889 –1978) von dem Überlappen von heraus! Und von meiner Stirne die sinnenden Runzeln Bewußtseinszuständen (Garrett 1938; Teillard wegzubaden, gibt es ja wohl noch ein freundlich Mittel. Eileen Garrett 1959/1994, S. 21). Letztere kann auf zahlreiche (1893 -1970). (Goethe, Egmont 23) Visionen und Erscheinungen zurückblicken und sagt von sich: Das Ver-rückte vor allem ist, daß sich alle diese unterschied- Ich habe beobachtet, daß ich im lichen Bewußtseinszustände nicht nur nacheinander ablösen Zustand der Vision bewußter war können, sondern gelegentlich sogar überlappen. Es ist also als im Alltagsleben. Ich sah kla- durchaus möglich, daß wir ganz normal unsere Arbeit am Lap- rer, ich erfaßte rascher, was ich top verrichten und uns nebenbei noch in eine andere Realitäts- sah, ich erkannte mit unerhörter ebene einklinken, ganz automatisch und ohne Absicht. Hat man Schnelligkeit gleichzeitig die Form dann in einer solchen Situation eine Erscheinung, glaubt man der Erscheinung und ihren Sinn. eventuell, sie sei real im herkömmlichen Sinn, da man sich für (Teillard 1994, S. 21) wach hält und zwar ausschließlich für wach. Man ist ja auch wach, aber offenbar nicht nur und nicht ausschließlich. Dieses Phänomen, gleichzeitig in zwei verschiedenen Bewußtseins- Es scheint also möglich zu sein, die zuständen zu sein, wird schon von der heiligen Hildegard von Erscheinung eines Geistes mit dem Bingen berichtet (s. Kap. V.1) und später auch von der Seherin inneren Auge wahrzunehmen, wäh- von Prevorst (vgl. Kap. II.3): rend die physischen Augen gleichzeitig Ania Teillard (1889- 1978).

344 345 Mit Goethe durch die Welt der Geister Realität und Echtheit von Geistern geöffnet sind. Die offenen Augen sind dann weder eine notwen- einer durchgehend irrealen Traumbilderwelt beruhen lassen. Es dige noch hinreichende Bedingung für das Sehen eines Geistes, besteht für viele offenbar keine Notwendigkeit, neben, über sondern ganz unabhängig davon; sie könnten ebensogut geschlos- oder hinter der Traumebene, auf der alles möglich ist, eine noch sen sein. So scheint es auch beim Zweiten Gesicht der Fall zu phantastischere Geister-Traumebene anzunehmen. So sehen sich sein, von dem Kerner berichtet, daß die Seherin bzw. der Seher Menschen im westlichen Kulturkreis heute überhaupt nicht in dem Moment der Wahrnehmung einen „Stechblick“ bekommt genötigt, dem Traum und dem darin auftauchenden Geist mehr (Kerner 1892, S. 103). als eine bestenfalls psychologische Realität zuzusprechen. Dies Sind mehrere Menschen bei einer Geistererscheinung zusam- ist natürlich nur deshalb möglich, da sich im Laufe der Zeit men, so entsteht immer wieder die Frage, warum nur einer oder und im Zuge der sogenannten Zivilisation ein ganz spezifisches einige von ihnen den Geist sehen können. Hier bieten sich Verständnis von Realität entwickelt hat, das keineswegs allge- unterschiedliche Bewußtseinszustände der Anwesenden als mög- meingültig ist und sich erheblich von dem der kulturgeschicht- liche Antwort an: Die einzelnen Personen befinden sich unter lichen Gesamtheit der Menschen abhebt. Von anderen Kulturen Umständen in recht verschiedenen Bewußtseinsgraden. und aus anderen Zeiten weiß man, daß Träume sehr wohl hoch Es scheint mit dem Geistersehen genau das zu passieren, was eingeschätzt wurden und werden, ja sogar völligen Realitäts- in der alten Literatur mit dem „Hereinragen einer Geisterwelt wert erreichen können, wie etwa bei den Senoi oder Zenoi, in die unsere“ – so der Untertitel der Seherin von Prevorst die im äquatorialen Regenwald auf der Malaya-Halbinsel leben (Kerner 1829) – bezeichnet wird: Je offener und wacher das (Stewart 1972, 161–170). physische Auge während einer solchen Wahrnehmung ist, desto Warum also soll ein Geist seine Realität im Normalzustand realer erscheint auch der Geist, desto mehr ist er in unsere unseres Bewußtseins unter Beweis stellen? Warum muß ein Wirklichkeit integriert, desto schwerer ist er von der normalen Geist diesseits aller altered states of consciousness wahrgenom- Tageswelt zu unterscheiden. men werden, um akzeptiert zu werden? Natürlich möchte jeder am liebsten einen Geist bei Tageslicht betrachten und mit der Schwieriger wird die Lage, wenn wir uns in das Reich der Kamera für immer und ewig festhalten, doch sollten wir hier Träume begeben. Träumen wir nämlich von einem Geist, so vielleicht etwas Toleranz zeigen und die unbequeme Tatsache wirft das bereits sprachliche Schwierigkeiten auf: Wie sollte man in Kauf nehmen, daß die hieb- und stichfeste Realität eines denn in einem Traum einen Geist von einem realen Menschen Phänomens nicht immer schwarz oder weiß aussieht. Aus der unterscheiden können, sind doch beide sowieso nur geträumt ungeheuren Menge von Spontanberichten über Geister, die sich und damit jenseits unserer vertrauten Realität. Gehen wir daher im Laufe der Jahrtausende allein schon im deutschsprachi- der Einfachheit halber einmal davon aus, wir träumen von einer gen Raum zu vielen Tausenden und Abertausenden angehäuft verstorbenen Person, so beunruhigt uns das viel weniger, ja haben, wissen wir, daß Geister allzuoft einen Bezug zum ganz manch einen überhaupt nicht, da wir den Geist im Traum, in konkreten Alltag haben. Dies tritt uns am deutlichsten vor diesem Fall den Verstorbenen, ohnehin für ein reines Phanta- Augen, wenn sie etwa parallel zum Tod eines Menschen erschei- sieprodukt halten. Wir können einen Geist im Traum leicht auf nen, die Hinterbliebenen informieren oder trösten, sie auf ein eine andere Ebene verschieben und die ganze Angelegenheit auf nicht gelöstes Problem und nicht erledigte Geschäfte oder auf

346 347 Mit Goethe durch die Welt der Geister ein geschehenes oder noch bevorstehendes Unrecht hinweisen. Wie häufig diese Art von Fällen berichtet wird, möge das nächste Buch verdeutlichen. ANMERKUNGEN Denn was ein guter Mensch erreichen kann, Ist nicht im engen Raum des Lebens zu erreichen.  Drum lebt er auch nach seinem Tode fort, Und ist so wirksam als er lebte; EINLEITUNG Die gute Tat, das schöne Wort, 1 Goethe, Briefe. An den Herzog Carl August, [Venedig] 14. October Es strebt unsterblich, wie er sterblich strebte. 1786, Brief Nr. 2514. WA, 4. Abt., Bd. 8, S. 33. So lebst auch du durch ungemeßne Zeit. 2 Goethe, Briefe aus der Schweiz, 1779. Chamouni, den 4. Nov. Genieße der Unsterblichkeit! Abends gegen Neun. MA, Bd. 2, 2, S. 608. (Goethe, Künstlers Apotheose 24) 3 Goethe, Briefe. An den Herzog Carl August, 18. Januar 1781, Brief Nr. 1097. WA, 4. Abt., 5, S. 35. 4  Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 3. Teil, 13. Buch. MA, Bd. 16, S. 597. 5 Metamorphosen, Buch 1, Verse 89 und 90. 6 Novalis 2001, S. 85. 7 Evans Wentz 1999, S. XII; übersetzt von A. Puhle.

I GEISTERBERICHTE – EIN GANG DURCH DIE JAHRHUNDERTE

1 Goethe, Briefe. An Charlotte von Stein, 22. März 1781, Brief Nr. 1168. WA, 4. Abt., Bd. 5, S. 92. 2 Goethe, Maximen und Reflexionen, Einzelnes. Aus: Über Kunst und Altertum. Fünften Bandes drittes Heft, 1826. MA, Bd. 17, S. 771, 287. 3 v. Eschstruth 1897, S. 136 –150; vgl. Rosenberger 1952, S. 42, und Piper 1922, S. 90. 4 Goethe, Maximen und Reflexionen, Aus dem Nachlaß (Über Litera- tur und Leben). MA, Bd. 17, S. 875, 890. 5 Storm 1991, Nr. 2. Alle in diesem Buch angeführten Zitate aus Storm 1991 werden mit freundlicher Genehmigung des Insel-Verlags wieder- gegeben. 6 Goethe, Maximen und Reflexionen, Betrachtungen im Sinne der Wanderer. Aus: Wilhelm Meisters Wanderjahre. 1829. MA, Bd. 17, S. 812, 500. 348 349 Mit Goethe durch die Welt der Geister Anmerkungen

7 Goethe, Maximen und Reflexionen, Eigenes und Angeeignetes in 30 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 3. Teil. 14. Sprüchen. Aus: Über Kunst und Altertum. Vierten Bandes zweites Buch. MA, Bd. 16, S. 655. Heft, 1823. MA, Bd. 17, S. 747, 171. 31 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 3. Teil. 14. 8 Daxelmüller in HdA, Bd. 1, Vorwort, S. XXV. Buch. MA, Bd. 16, S. 650f. 9 HdA 1987, Bd. 1, S. XI. 32 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 3. Teil. 14. 10 HdA 1987, Bd. 1, Sp. 64. Buch. MA, Bd. 16, S. 645. 11 HdA 1987, Bd. 1, Sp. 66. 33 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 3. Teil, 14. 12 Horst 1821–1826, Bd. 1 1821, S. 264. Buch. MA, Bd. 16, S. 649. 13 Horst 1821–1826, Bd. 1 1821, S. 241. 34 Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren sei- 14 Horst 1821–1826, Bd. 1 1821, S. 241f. nes Lebens. 3. Teil, Montag, den 18. Januar 1830. MA, Bd. 19, S. 637. 15 Horst 1821–1826, Bd. 1 1821, S. 242. 35 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 3. Teil, 14. 16 Horst 1821–1826, Bd. 1 1821, S. 243f. Buch, MA, Bd. 16, S. 652. 17 Goethe, Maximen und Reflexionen, Eigenes und Angeeignetes in 36 Goethe, Briefe. An J. K. Lavater, 22. Juni 1781, Brief Nr. 1256. WA, Sprüchen. Aus: Über Kunst und Altertum. Dritten Bandes erstes 4. Abt., Bd. 5, S. 150. Heft, 1821. MA, Bd. 17, S. 741, 125. 37 Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren 18 Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren sei- seines Lebens. 2. Teil, Dienstag, den 17. Februar 1829. MA, Bd. 19, nes Lebens. 2. Teil, Mittwoch den 30. März 1831. MA, Bd. 19, S. 446. S. 287. 19 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 2. Teil, 8. Buch. 38 Goethe, Briefe. An J. K. Lavater, 18. Januar 1781, Brief Nr. 1338. MA, Bd. 16, S. 376 – 379. WA, 4. Abt., 5, S. 214. 20 Basilius Valentinus: Benediktinermönch, Medicus und Alchemist aus 39 Goethe, Briefe. An C. von Knebel, 2. Okt. 1781, Brief Nr. 1324. dem Elsaß, Anfang des 15. Jh.s. Helmont: s. Kap. I.11, II. 8 und IV; WA, 4. Abt., 5, S. 200. Starkey: George Starkey (1606(?)–1666), englischer Arzt und Alchemist. 40 Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren sei- 21 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit, 2. Teil, 8. Buch. nes Lebens. 2. Teil, Dienstag, den 24. März 1829. MA, Bd. 19, S. 299 MA, Bd. 16, S. 366. 41 Horst 1821–1826, Bd. 2, 1821, S. 324f. 22 Paracelsus, Philosophia sagax, Vorrede; Paracelsus 1976, S. 46. 42 Überreicht zum XXX Januar, MDCCCXXIIX. mit getrostem Glück 23 Paracelsus, Philosophia sagax, II, Argumentum, 1; Paracelsus 1976, auf! C. Glenck Salinen-Director untertänigst. In: Kleinere dramatische S. 317f. Werke. MA, Bd. 18, 1, S. 101. 24 Paracelsus, Philosophia sagax, II, Argumentum, 1; Paracelsus 1976, 43 1. holländische Ausgabe Leuward 1690, dann Amsterdam 1691, deut- S. 309. sche Ausgabe Amsterdam 1693, französische und vollständigste Aus- 25 Paracelsus, Philosophia sagax, II, Argumentum, 1; Paracelsus 1976, gabe Amsterdam 1694. S. 317. 44 Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren 26 Paracelsus, Liber de nymphis, I, 2; Paracelsus 1976, S. 467; für den seines Lebens. 3. Teil, Sonntag, den 7. Oktober 1827. MA, Bd. 19, Kontext s. „Ex libro de nymphis [...]“ in Kap. III. 26. S. 589. 27 Paracelsus, Philosophia sagax, I, 1; Paracelsus 1976, S. 50. 45 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 4. Teil, 16. Buch. 28 13, 335–341; 350–354; 25, 594. MA, Bd. 16, S. 726. 29 Goethe über Johann Kaspar Lavater, in: Goethe, Aus meinem Leben, 46 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 2. Teil, 9. Buch. Dichtung und Wahrheit. 3. Teil, 14. Buch. MA, Bd. 16, S. 645. MA, Bd. 16, S. 400ff.

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47 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 4. Teil, 16. Buch. 67 Goethe, Maximen und Reflexionen, Einzelnes. Aus: Über Kunst und MA, Bd. 16, S. 723. Altertum. Fünften Bandes drittes Heft, 1826. MA, Bd. 17, S. 772, 291. 48 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 4. Teil, 16. Buch. 68 Goethe, Maximen und Reflexionen, Eigenes und Angeeignetes in MA, Bd. 16, S. 726f. Sprüchen. Aus: Über Kunst und Altertum. Vierten Bandes zweites 49 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 4. Teil, 16. Buch. Heft, 1823. MA, Bd. 17, S. 750, 189. MA, Bd. 16, S. 725. 69 Goethe, Maximen und Reflexionen, Betrachtungen. Aus: Materialien 50 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 4. Teil, 20. Buch. zur Geschichte der Farbenlehre, 1810. MA, Bd. 17, S. 731, XVI. MA, Bd. 16, S. 822. 70 Goethe, Maximen und Reflexionen, Betrachtungen im Sinne der 51 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 1. Teil, 1. Buch, Wanderer. Kunst, Ethisches, Natur. Aus: Wilhelm Meisters Wander- Anfang. MA, Bd. 16, S. 13. jahre, 1829. MA, Bd. 17, S. 819, 546. 52 Goethe, Daimon, Dämon. MA, Bd. 13.1, S. 156. 71 Goethe, Annalen , 1818. JA, Bd. 30, S. 315f. 53 Goethe, Egmont, 4. Aufzug, Silva. MA, Bd. 3,1, S. 299. 72 Goethe, letzte Strophe aus dem Gedicht „Um Mitternacht“. MA, 54 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit, 4. Teil, 20. Bd. 13, 1, S. 518. Buch. MA, Bd. 16, S. 831f.; fast wortgetreu auch in: Egmont, 2. Auf- 73 Droste-Hülshoff 1985–1993ff., IX, 1 1993, Brief Nr. 214, S. 112. zug, Egmont. MA, Bd. 3,1, S. 276. 74 Erstdruck in Heine 1837, S. 145–279; sowie in Heine 1910–1915, 55 Goethe, Briefe. An Charlotte von Stein, 2. Juli 1781, Brief Nr. 1266. Bd. 7, 1910, S. 355– 428, und in: Heine 1980, Bd. 5, S. 311– 374; als WA, 4. Abt., 5, S. 161. Einzelausgabe Leipzig o.J. 56 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. Zweite Abtei- 75 Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren sei- lung, Erster Teil, Venedig. MA, Bd. 15, S. 73. nes Lebens. 1. Teil, Mittwoch den 11. April 1827. MA, Bd. 19, S. 57 Goethe, Maximen und Reflexionen, Betrachtungen. Aus: Materialien 219. zur Geschichte der Farbenlehre, 1810. MA, Bd. 17, S. 730, XIII. 76 Goethe, Maximen und Reflexionen, Aphoristisch. Aus: Zur Morpho- 58 Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren sei- logie. Erster Band (Viertes Heft), 1822. MA, Bd. 17, S. 792, 412. nes Lebens. 2. Teil, Dienstag, den 24. März 1829. MA, Bd. 19, S. 299. 77 Goethe, Aus meinem Leben, Fragmentarisches, (Jugendepoche). MA, 59 v. Wolzogen 1845, S. 30f.; vgl. Rosenberger 1952, S. 49f. Bd. 9, S. 936. 60 s. das Nachwort von Mathias Mayer in der Reclam-Ausgabe 1996. 78 Goethe, Maximen und Reflexionen, Betrachtungen im Sinne der Wan- 61 nach Seiling 1988, S. 18; vgl. Rosenberger 1952, S. 50. derer. Kunst, Ethisches, Natur. Aus: Wilhelm Meisters Wanderjahre, 62 vgl. Kempf, Einführung in Horst 1979, Bd. 1, S. 5–10 und das Quel- 1829. MA, Bd. 17, S. 811, 498. lenmaterial von Heinrich Döring, Carl Kiesewetter und Heinrich 79 Goethe, Maximen und Reflexionen, Betrachtungen. Aus: Materialien Scriba. zur Geschichte der Farbenlehre, 1810. MA, Bd. 17, S. 729, IX. 63 Notiz vom 24.2.1798, Werke o.J., hrsg. v. Schulz, S. 583. 80 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 2. Teil, 8. Buch. 64 Notiz vom 19.5.1797, Werke o.J., hrsg. v. Schulz, S. 583. MA, Bd. 16, S. 376. 65 Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren 81 Goethe, Aus meinem Leben, Fragmentarisches, Bedeutung des Indi- seines Lebens. 2. Teil, Sonntag, den 16. Dezember 1829. MA, Bd. 19, viduellen. MA, Bd. 9, S. 935. S. 338. 82 Goethe, Maximen und Reflexionen, Einzelnes. Aus: Über Kunst und 66 Goethe, Maximen und Reflexionen, Betrachtungen im Sinne der Wan- Altertum. Fünften Bandes drittes Heft, 1826. MA, Bd. 17, S. 772, 295. derer. Kunst, Ethisches, Natur. Aus: Wilhelm Meisters Wanderjahre, 83 Goethe, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit. 3. Teil, 13. 1829. MA, Bd. 17, S. 823, 570. Buch. MA, Bd. 16, S. 591.

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II WAHRNEHMUNG VON GEISTERN 22 Egmont. 3. Aufzug, Egmont. MA, Bd. 3, 1, S. 283. 23 Goethe, Egmont, 3. Aufzug, Egmont. MA, Bd. 3, 1, S. 283. 1 Goethe, Briefe. An Friedrich August Wolf, 28. November 1806. Brief 24 Goethe, Künstlers Apotheose, 201ff., Muse; MA, Bd. 3.1, S. 424. Nr. 5288. WA, 4. Abt., Bd. 19, S. 235. 2 Goethe, Lila, Ein Festspiel mit Gesang und Tanz, II, Lila. MA, Bd. 2, 1, S. 145. 3 Goethe, Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 3. Teil, Sonntag, den 7. Oktober 1827. MA, Bd. 19, S. 588. 4 Novalis, Die Lehrlinge zu Sais , Ausgabe 1977, Bd. 1, S. 97. 5 Novalis, Blüthenstaub, Fragment 23, Ausgabe 1978, Bd. 2, S. 234. 6 Goethe, Die Geschwister, ein Schauspiel in einem Akt, Wilhelm. MA, Bd. 2, 1, S. 114. 7 Droste-Hülshoff 1985–1993ff., Bd. I, 1 1985, S. 245–248. 8 Herbstblumen, 2. Bd.chen, S. 275, nach Horst 1830, Bd. 2, S. 81. 9 Horst 1830, Bd. 1, S. 200. 10 Horst 1830, Bd. 1, S. 211. 11 Horst 1830, Bd. 1, S. 211. 12 Horst 1830, Bd. 1, S. 115. 13 Goethe, Erwin und Elmire, 2. Fassung, 2. Auftritt, 291ff., Valerio. MA, Bd. 3, 1, S. 339. 14 Storm 1991, Nr. 43, erzählt von Frl. Ch. v. K., aufgeschrieben von Storm selbst. 15 Platon, Apologie, St 31 D, Ausgabe: Grassi 1957/1958, Bd. 1, 1957. 16 Platon, Apologie, St 40 B, Ausgabe: Grassi 1957/1958, Bd. 1, 1957. 17 Goethe, Briefe aus der Schweiz, 1. Abteilung. MA, Bd. 4, 1, S. 632. 18 Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 1956ff., Kap. 21, S. 100 und Kap. 25, S. 110. 19 Goethe, Epirrhema, 1817. MA, Bd. 11, 1, 1, S. 190. 20 Goethe, Maximen und Reflexionen, Eigenes und Angeeignetes in Sprüchen. Aus: Über Kunst und Altertum. Dritten Bandes erstes Heft, 1821. MA, Bd. 17, S. 745, 156. 21 Goethe, Maximen und Reflexionen, Eigenes und Angeeignetes in Sprüchen. Aus: Über Kunst und Altertum. Dritten Bandes erstes Heft, 1821. MA, Bd. 17, S. 746, 161. 22 Goethe, Briefe. An J. K. Lavater, 14. November 1781, Brief Nr. 1338. WA, 4. Abt., Bd. 5, S. 214.

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