Jahrbuch 1999

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Jahrbuch 1999 l okume~tationsa:rchiv e o te re1chisc _ . DOW - Bibliothek 1. Handbibliothek JAHRBUCH Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes JIHRBUCH Redaktion: Siegwald Ganglmair INHALT HELMUT SCHÜLLER Festvortrag, Jahresversammlung des DÖW, Altes Rathaus, Wien, 12. März 1998 5 MILODOR Die Renaissance des Faschismus 10 WILLIAM E. SEIDELMAN From the Danube to the Spree: Deception, Truth and Morality in Medicine 15 WOLFGANG SCHÜTZ Vertreibung der Hochschullehrer aus der Medizinischen Fakultät - Betrachtungen aus zeitlicher Distanz 33 CASPAR EINEM Hartheim 1998 -Auf der Suche nach dem menschlichen Maßstab 39 GUSTAV SPANN Untersuchungen zur anatomischen Wissenschaft in Wien 1938-1945. Senatsprojekt der Universität Wien. Eine Zusammenfassung 43 HERWIG CZECH Dr. Heinrich Gross - Die wissenschaftliche Verwertung © 1999 by Dokumentationsarchiv des österreichischen der NS-Euthanasie in Österreich 53 Widerstandes (DÖW), Wien Printed in Austria WOLFGANG NEUGEBAUER Umschlaggestaltung: Atelier Fuhrherr, Wien Unser Gewissen verbietet uns, in dieser Aktion mitzuwirken. Redaktionelle Mitarbeit: Christine Kanzler Der NS-Massenmord an geistig und körperlich Layout: Christa Mehany-Mitterrutzner Behinderten und der Widerstand der Hersteller: Plöchl-Druck Ges.m.b.H., 4240 Freistadt SR. Anna Bertha Königsegg 71 ISBN 3-901142-41-X HELMUT SCHÜLLER FESTVORTRAG, JAHRESVERSAMMLUNG DES DÖW, ALTES RATHAUS, WIEN, 12. MÄRZ 1998 PETER SCHWARZ Der Gerichtsakt Georg Renno als Quelle für das Projekt Hartheim 80 Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mit einer persönlichen Vorbemerkung beginnen. Es ist für mich be­ ERICH H. LOEWY sonders bedeutsam, heute hier zu stehen, weil ein Mann, der Ihnen, glaube ich, Brauchen wir eine neue medizinische Ethik? 93 bestens bekannt ist, mich jahrelang über die Arbeit des Dokumentationsarchivs informiert hat. Es handelt sich um Monsignore Josef Pinzenöhler, jenen Priester, PETER STEINBACH der zuletzt in St. Stephan gewirkt hat, dessen Zimmernachbar ich im Churhaus Bereit zur Verantwortung - Fähig zur Schuld St. Stephan sechs Jahre lang war und dessen Wissen und Zeugenschaft ich in un­ Kurt Gerstein: als Regimegegner beteiligt am Völkermord 108 zähligen Gesprächen ausschöpfen durfte. Er hat mir immer vom Archiv erzählt, und deshalb ist es für mich auch eine besonders berührende Situation. HANS SCHAFRANEK Ich gehöre einer Generation an, die alles, was es über diese furchtbare Zeit Am Beispiel der Moskauer Hitler-Jugend (1938) des Dritten Reiches zu sagen und zu wissen gibt, dem Zeugnis anderer verdankt. Mechanismen des Terrors der stalinistischen Nicht zuletzt auch Ihrer Institution, aber natürlich auch den vielen Berichten und Geheimpolizei NKWD 124 Erzählungen und all dem, was an Dokumentationen aufgeboten worden ist. Ich bin einer des Geburtsjahrgangs 1952. Das bedeutet, daß in diesem Jahr das Ende DOKUMENTATIONSARCHIV DES ÖSTERREICHISCHEN des Krieges schon oder erst sieben Jahre zurücklag. „Was sind heute sieben J ah­ WIDERSTANDES re ?",habe ich mir oft gedacht. Ich gehöre jener Generation an, die mit Erwach­ Tätigkeitsbericht 1998 161 senen aufgewachsen ist, die von sich selber sagen konnten oder mußten, daß sie diese Zeit auf ganz verschiedene Art durchlebt haben. Ich gehöre einer Genera­ DIE AUTOREN 171 tion an, die ihren eigenen Eltern beim Diskutieren zuhört, was damals doch an­ ders hätte laufen müssen und ob man sich selbst tatsächlich richtig verhalten hat. Und ich gehöre einer Generation an, der schon das leidenschaftliche plus jamais - nie mehr wieder - im Unterricht vermittelt wurde. Als ich in die Schule ging (Anfang der sechziger Jahre bzw. Ende der fünfziger Jahre in der Volksschule begann), hatte man schon viel vorbereitet, um uns einzuführen in das, was ge­ schehen ist. Und trotzdem gehe ich immer wieder durch die Straßen dieser Stadt und durch die Dörfer dieses Landes mit dem Gedanken, daß sich das alles nicht nur spektakulär, sondern über weite Strecken auch ziemlich unmerklich einge­ schlichen haben muß - eingeschlichen in die Gehirne, in die Beziehungen, in das politische Verhalten und in die kleinen und großen Entscheidungen der Men­ schen. Und so habe ich die Vermutung, daß die Überwindung des Nationalsozia­ lismus, soweit man von einer solchen tatsächlich reden kann, nicht gleichbedeu­ tend sein muß damit, daß wir allen Totalitarismus für immer hinter uns gebracht hätten. Was sich an Neuem anbahnen kann, wird vielleicht oder vielleicht doch nicht die Kennzeichen und Farben dessen tragen, das wir hinter uns haben. Der 5 SCHÜLLER: FESTVORTRAG SCHÜLLER:FESTVORTRAG neue Totalitarismus könnte - in seinen Vorzeichen kommt er schon zum Vor­ serer Gesellschaft zehntausendfach kein anderer Ausweg gesehen wird, als ein schein - völlig farblos sein, sicher immer geschmacklos und vielleicht auch menschliches Leben an seinem Beginn schon auszulöschen. manchmal völlig unsichtbar. Meine Damen und Herren! Das Furchtbare ist, daß auch die beabsichtigte Ich möchte Ihnen an drei Gedankenkreisen meine Wahrnehmungen dazu Verhinderung all dieser Vorgänge durch ein Entgegenkommen bereits beitragen mitteilen. Der neue Totalitarismus könnte sich wieder einmal - nicht so richtig wird zum Wachsen totalitärer Strukturen. Sie wissen, wovon ich spreche: der erwartet und rechtzeitig abgeschätzt - durch das modern ausgedrückte Zitat der Versuch, dem das Wasser abzugraben, der derartige Dinge vorantreibt, indem „Sachzwänge" einschleichen. Man braucht heute keine Ideologien mehr, um man es zum mindesten teilweise so macht wie er. Ist das nicht auch schon ein Totalitarismen zu errichten. Man muß nur sehr gescheit und vor allem über• Stück von dem, das Ihnen, der älteren Generation, mehr als bekannt vorkommen trumpfend davon reden, daß das alles nun einfach so sein müsse. Die Sachzwän• müßte? · ge sind stärker, völlig unideologisch. Die Sachzwänge der Angst vor einer zu Das Diktat der Sachzwänge, meine Damen und Herren, ist nicht das einzige, großen Zuwanderung machen ganz bestimmte Qualitäten von Gesetzen nötig, es gibt auch ein Geschäft mit Unterhaltung und Empörung, das den Menschen in die Sachzwänge der internationalen Kriminalität machen ganz bestimmte Fahn­ seinem Wert tagtäglich mit Füßen tritt. Ganz locker kommt das daher, sogar un­ dungsmethoden nötig, die Sachzwänge der Budgetpolitik könnten einen ganz terhaltsam. Sie wissen, was ich meine: Man braucht Quoten durch Einschalter, bestimmten Umgang mit den pflegebedürftigen alten Menschen nötig machen. und man braucht Quoten für Werbeaufträge. Und was immer man anstellt, es Immer wird es sehr logisch und sehr rationell zugehen. Wir werden keine Ba­ steht unter dem einen Diktat: Quote muß her! Auf wessen Rücken, auf Kosten denweiler-Märsche brauchen, auch keine Fahnen schwingen müssen, wir wer­ wessen Würde, zu Ungunsten wessen immer. Da wird der Mensch zum Material, den nur einfach uns immer den Sachzwängen beugen müssen. Ich habe mich aus zum Unterhaltungsstoff, und wer wird uns davor schützen, daß wir hier noch einer gewissen Betroffenheit, und ich habe das auch schon des öfteren kundge­ viel grauslichere Dinge erleben? Nicht nur die Entgeistigung der Gesellschaft tan, am Tag der Plenardebatte über die neuen Fahndungsmethoden in unser Par­ durch eine derartige Form von Massenkommunikation wird Schlimmerem den lament begeben, und ich bin mehr als nachdenklich von der Zuschauergalerie Boden bereiten helfen, sondern auch die Tatsache, daß wir zwar in grundsätzli• heimgegangen. Die Argumente, die dort gefallen sind, waren alle in sich logisch, chen Erklärungen von der Würde des Menschen sprechen, aber dann vielleicht und dennoch hatte nicht nur ich damals das Gefühl, daß wir damit einen Schritt auch nicht Einhalt gebieten werden können, wenn etwa gekonnte Inszenierer auf einer schiefen Ebene gesetzt haben. Gott gebe es, daß ich Unrecht habe. Ich von gesellschaftlicher Empörung vielleicht auch einmal die Peitsche gegen habe in meiner Caritas-Tätigkeit über Jahre hinweg immer wieder überdacht ganze Gruppen unserer Gesellschaft zu schwingen beginnen; und der Applaus und reflektiert, was es bedeutet, wenn man aus welchen guten und noch besseren wird nicht „hörbar" sein, sondern „Quote" heißen. Gründen auch immer anfängt, bestimmten Menschen nicht das volle Recht zu Ein dritter Gedanke nach dem Diktat der Sachzwänge und dem Geschäft mit gewähren, das wir ihnen aufgrund ihrer Würde zugestehen müssen; wenn ein Unterhaltung und Empörung kommt mir, ich möchte ihn nennen: der Preis des leitender Ministerialbeamter in öffentlichen Vorträgen von der sozialen Verträg• Individualismus. Mißverstehen Sie mich nicht, ich meine nicht die Individuali­ lichkeit der Menschenrechtsverwirklichung spricht und der Großteil der Poli­ tät, die ein Grunddogma des christlichen Menschenbildes und jedes anspruchs­ tiker dieses Landes, selbst eine ganze Regierung das richtig finden. Ich bin nach­ vollen Humanismus sein wird. Ich meine den „-ismus", den Individualismus. denklich geworden, weil mir als Seelsorger in einem Altenpflegeheim, aber auch Also jene Entwicklung, die den Menschen immer mehr vergessen läßt, daß er zu als Leiter der Caritas sehr bewußt war, daß die Kosten für einen Pflegeplatz, die einem Gemeinwesen gehört, daß Solidarität angebracht, ja eingefordert ist, zu mittlerweile bei 40.000 Schilling pro Monat liegen, natürlich die Möglichkeiten einer Gesellschaft, die immer mehr aus Vereinzelten und Einzelnen besteht, die fast aller Pensionsbezieher dieses Landes übersteigen und daß daher immer eine sich notdürftig zu Interessensblöcken zusammenschließen, wenn es darum geht, große
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