Zum Gedenken an für die Mitwirkenden der Zweiten Demokratiekonferenz in Singen am 18. April 2018

1 Matthias Erzbergers zielführende Friedenspolitik von Dr. rer. soc. Heinz Kapp zur 2. Demokratiekonferenz in Singen/Hohentwiel

2 Matthias Erzbergers zielführende Friedenspolitik

Wenn überhaupt, so wird der von ehemaligen Marineoffizieren ermordete, erste Reichsfinanzminister der Weimarer Republik, nur als Opfer erinnert – in wenigen Städten ist eine Straße nach ihm benannt. Die DEUTSCHE BIOGRAFIE behielt auch noch 1959 Charakterisierungen seiner Feinde bei: „E. war gewiß charakterlich keine durchaus erfreuliche Erscheinung, aber er gehörte sicherlich zu den Politikern, die sich durch rasche Auffassungsgabe und regen politischen Instinkt auszeichneten. Sein Optimismus und seine Verantwortungsbereitschaft ließen ihn auch vor den schwierigsten Aufgaben nicht zurück- schrecken. E. schadete jedoch seinem Ruf durch seine ungewöhnliche Wendigkeit, seine rücksichtslose Kampfweise sowie seine naive Unbekümmertheit in Geldsachen, so daß an seiner persönlichen Ehrenhaftigkeit Zweifel – obwohl unberechtigt – aufkommen konnten.“1 Erzberger wurde am 20.9.1875 in Buttenhausen* (Württemberg) geboren, seine Ermordung am 26.8.1921 in Bad Griesbach markiert einen Wendepunkt der Weimarer Republik. Er hatte wie kein anderer Politiker Konsequenzen aus dem ersten Weltkrieg gezogen, er hat dem Kaiser und seinen Feldherren die Schuld an der Verzögerung des Waffenstillstands zugesprochen und eine Finanzpolitik gesetzlich verankert, welche die Vorbereitung eines weiteren Weltkriegs wesentlich erschwert, wenn nicht unmöglich, gemacht hätte. Durch seine Kriegsgewinnabgabe legte er die Finanzzuflüsse für die Profiteure der Hochrüstung trocken. Damit wollte er verhindern – zusammen mit Gesetzen gegen die Kapitalflucht – dass Waffenproduktion und Waffenhandel erneut zur Quelle privater Profite werden können. Erst durch das schmale Bändchen Mord Erzberger!2, auf welches ich bei Recherchen über den Völkermord an Sinti und Roma stieß3, wurde ich auf die skandalöse Kampagne gegen Erzberger aufmerksam. Der Jugendbuchautor Michail Krausnick hatte zusammen mit Günter Randecker 2005 aufgedeckt, welche wichtigen Impulse Matthias Erzberger für eine friedenspolitische Entwicklung der Weimarer Republik gegeben hatte. Erzberger hatte eine friedenspolitische Strategie entwickelt, welche unsere Zeit wieder aufnehmen sollte.

Die Industrie des Todes ächten

Zu den am stärksten verdrängten Reden von Papst Franziskus gehört seine Ächtung der Rüstungspolitik: „Viele Regierungen leben vom Krieg, in vielen Gesellschaften führen die Herrschenden Kriege, um Geld zu verdienen“. Papst Franziskus hat ungewöhnlich scharfe Kritik am moralischen Verfall der Politik geäußert: Bei einer Veranstaltung mit Jugendlichen in Rom sagte der Papst am Montag laut Radio Vatikan: "Warum wollen so viele Regierenden nicht den Frieden? Weil sie vom Krieg leben! Es ist die Waffenindustrie - das ist schwerwiegend! Einige Mächtige verdienen mit der ,Fabrik der Waffen', verkaufen Waffen an verfeindete Länder. Das ist die Industrie des Todes." 4 Die frühere Bischöfin der Evangelischen Kirche in Deutschland, Dr. Margot Käßmann, verhalf als Schirmherrin der Aktion AUFSCHREI mit der Parole: „Es ist ein Skandal, dass Waffenproduktion und Waffenhandel eine Quelle wirtschaftlichen Reichtums sind“ unserem Bodensee-Kirchentag zu großer öffentlicher Resonanz. Dies gab den Anstoß zur Gründung unseres Vereins „KeineWaffenvomBodensee e.V.“5

1 https://www.deutsche-biographie.de/search?name=Matthias+Erzberger NDB 4 (1959) * Buttenhausen beherbergte bis zu 25 jüdische Familien, vgl. www.Wikipedia.org: Buttenhausen 2 Michael Krausnick/Günter Randecker: Mord Erzberger! Neckargemünd 2005 3 www.sintiroma.org 4 vgl. google: Landgraeber - Vom Töten leben - Mediathek 5 www.keinewaffenvombodensee.com 3 Die Forderungen der Aktion Aufschrei nach einem vollständigen Verbot von Rüstungsexporten6 konnten wir damals noch nicht vergleichen mit Erzbergers zielführender Friedenspolitik. So wie er hatte seitdem kaum noch ein Politiker die Kriegsmacher frontal mit ihren Verbrechen konfrontiert. 1959 – also nach dem Koreakrieg (1950-53) und vor der Eskalation in Vietnam (seit 1964) - hatte der amerikanische Soziologe C. W. Mills eindringlich vor einem dritten Weltkrieg gewarnt: „Vom Frieden zu reden, ohne die Mittel des Krieges zu erwähnen, ist reiner Schwachsinn. Ein wirklicher Angriff auf die Kriegsmacher ist notgedrungen ein Angriff auf das private Wirtschaftsmonopol, auf die Vorherrschaft des Militärs, auf die Bindungen zwischen beiden.“7 Erzberger hatte einen solchen Angriff gewagt. Nach seiner Ermordung wurde jedoch weder seine Anklage gegen die Kriegsmacher weiter aufrechterhalten noch seine Steuerpolitik konsequent umgesetzt. Danach konnten die Kriegsmacher durch die Inflation die Kriegsverschuldung wieder dem Volk aufbürden und Hindenburg als Reichspräsidenten präsentieren. All dies wäre kaum möglich gewesen, wenn Erzbergers Kampf weitergeführt worden wäre.

Die Wahrheit über die Kriegsschuld

Freitag, 25. Juli 1919 (66. Sitzung) Es spricht der Abgeordnete des Zentrums, Reichsfinanzminister Matthias Erzberger: „Meine Damen und Herren, wir nehmen den Kampf auf ..., weil wir von der Überzeugung durchdrungen sind, dass die Wiederkehr der Elemente, die sich in der Deutschnationalen Partei organisiert haben, den vollendeten Ruin unseres Vaterlands bedeuten würde. ... Ich sage ein zweites Wort in aller Offenheit: Daß es so gekommen ist, ist zu einem ganz erheblichen Teil auch die Schuld des Kaisers und der Bundesfürsten selbst. ... Denn wie haben diese Herren sich am 9. November benommen? War da denn Mut? War da denn Selbstachtung? War da ein Stehen zum Volk in dieser Not? Deutschland hatte ja vier Jahre – das können wir heute offen aussprechen – überhaupt keine politische Regierung sondern eine Militärdiktatur. ... Das ist das Unglück des deutschen Volkes, dass es die Militärs allein herrschen und die Politik der ruhigen Vernunft und der sachlichen Erwägung nicht zu Worte kommen ließ ...“ „... allmählich wuchs aus dieser drolligen Gestalt die furchtbarste Anklage hervor, die ... schlecht gesprochenen Sätze brachten Tatsache auf Tatsache, schlossen sich zu Reihen und Bataillonen zusammen, fielen wie Kolbenschläge auf die Rechte, die ganz klein und in sich zusammengeduckt in ihrer Ecke saß ...8 „...Im Juli 1917 hat der Führer der konservativen Partei mit einem harten Nein einen Frieden abgelehnt, der die alten Grenzen des Reiches aufrechterhalten sollte, ... der Deutschland keine Kriegslasten auferlegen sollte, der uns die Kolonien gelassen hätte, der uns die wirtschaftliche Gleichberechtigung gewährleistet hätte. Das hat Graf Westarp abgelehnt. ... Die ganze konservative Fraktion hat das abgelehnt. ... Was von da an begangen worden ist, das sind keine Illusionen mehr, sondern das sind Verbrechen am ganzen deutschen Volk.“ Erneute lebhafte Zustimmung bei den Mehrheitsparteien. Erzberger verlas nun das im August 1917 vom Vatikan vermittelte Friedensangebot Großbritanniens und Frankreichs. Daraufhin kam es zu lebhaften Tumulten unter den Abgeordneten, über die Harry Graf Kessler geschrieben hat.

6 Thomas Carl Schwoerer als Bundessprecher der DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte Kriegs- dienstgegnerInnen, gegründet 1892) www.dfg-vk.de 7 C. Wright Mills: Die Konsequenz-Politik ohne Verantwortung (The CAUSES of WORLD WAR THREE), München 1959, S. 167 8 Harry Graf Kessler über ERZBERGERs Rede nach Krausnick/ Randegger: Mord ERZBERGER! aaO., S. 29 4 Die Kriegsherren ächten!

Als Erzberger das Pacellische Telegramm verlas, da stieg uns allen das Blut in die Augen ... Ein Zentrumsabgeordneter rief mit unterdrückter Stimme, die wie ein Seufzer klang, in die lautlose Stille: „Und danach ist mein Bub gefallen!“ Dann ging es wie ein Gemurmel und dann wie Meerestosen durch das Haus. Die ganze Linke, drei Viertel des Hauses war auf den Beinen und gegen die kleine, vor Wut bebende und blasse Rechte gewendet. Man schrie: „Mörder! Mörder!“ Es sah aus, als ob sich der ganze Block der Linken zusammengeballt auf die Rechten stürzen und sie in ihren Sitzen erwürgen würde. ... Das ungeheure Pathos der Situation – ein Volk, das zum ersten Mal die Wahrheit sieht – wuchs gigantich über die Äußerungen der Erregung empor ... Etwas weniger, und ich glaube, es wäre wirklich Blut geflossen. „... Es war eine Möglichkeit zum Friedensschluss da. Der Frieden musste geschlossen werden, um die Einheit des Reiches zu retten. ... Sie haben mit Ihren Agitationen und Machtmitteln ... den Krieg verloren, weil sie den Frieden ... leichtsinnig weggeworfen ..., zu Boden gestampft haben, den Frieden, den Ausgleich, der die alten Grenzen des Reiches aufrechterhalten sollte, abgelehnt haben. ... Dadurch dass wir Ihren Waffenstillstand und Ihren Frieden unterzeichnen mussten, haben wir für Ihre Schuld gebüßt. Diese Schuld werden Sie niemals los, und wenn sie hundertmal Ihre Hände in Unschuld waschen wollen. Sie werden diese Schuld nicht los, weder vor uns noch vor der Geschichte noch vor Ihrem eigenen Gewissen“!9 Aber die Weimarer Koalition aus Zentrum, Sozialdemokraten und Deutsch-Demokraten ließ die starken Waffen, die sie in der Kriegsschuldfrage gegen das alte System besaß, ungenutzt. Sie hätte – so Carl von Ossietzky nach der Ermordung Erzbergers – die Dokumente, die Hindenburgs und Ludendorffs Rolle beim Waffenstillstand belegten, Woche für Woche, Tag für Tag durch Maueranschlag verbreiten lassen und damit einer Geschichtslüge den Garaus machen sollen, deren Folgen wir noch nach Jahrzehnten spüren werden.10 Diese Geschichtslüge war so wirksam, dass Erzberger nicht nur als führender Politiker der Weimarer Republik und Reichsfinanzminister, sondern sogar als Kriegsgegner aus dem Gedächtnis der deutschen Friedensbewegung verschwand. Das Hermes Handlexikon über die Friedensbewegung erwähnt ihn mit keinem Wort.11 Zuerst war der junge Abgeordnete Erzberger durch seine Kritik am Kolonialkrieg gegen die Hottentotten aufgefallen. In Deutschland gab es 1907 massive Kritik am Vorgehen der Kolonialverwaltung unter Gouverneur Leutwein und der Schutztruppe unter Generalleutnant von Trotha. ... „Da sich nicht nur die Sozialdemokraten, die Welfen, Elsaß-Lothringer und Polen gegen die Bewilligung zusätzlicher Mittel für die Schutztruppe in Deutsch-Südwest aussprachen, sondern, unter dem Einfluss seines linken Flügels um den württembergischen Abgeordneten Matthias Erzberger, auch das Zentrum, kam eine knappe Mehrheit gegen die Vorlage zustande“.12

Erzbergers Verwandlung zum Friedenspolitiker

Schon im Vorfeld des 1. Weltkriegs wußte Erzberger, dass das pathetische kaiserliche Gerede von vaterländischer Verteidigung nicht stimmte, dass es um nichts anderes als um wirtschaftliche Interessen und imperiale Vorherrschaft ging: um Seemacht, Kohlegruben und Kolonien.

9 Matthias ERZBERGER: Reichstagsrede nach Krausnick/ Randegger: Mord ERZBERGER! aaO., S. 33 10 Carl von Ossietzky nach Krausnick/ Randegger: Mord ERZBERGER! aaO., S. 34 11 Die Friedensbewegung – Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz, hrsg. von Helmut Donat und Karl Holl, Düsseldorf 1983 12 vgl. Karl Friedrich Winkler: Geschichte des Westens München 2013, S. 1043 5 „Er saß an der Quelle. Als Aufsichtsrat der Firma Thyssen hatte er die Kriegsgewinne und Annexionsziele mit berechnet und stand dafür mit 40.000 Reichsmark auf der Gehaltsliste. Das war Erzbergers Sündenfall. ... Millionenfache Todesmeldungen von der Front und die Not der Zivilbevölkerung brachten ihn zum Umdenken. ... Und er sah, wie weltweit der Hass auf das Reich, den großmäuligen Kaiser und seine beutegierigen Heerführer wuchs. Matthias Erzberger wechselte das Lager und verzichtete auf seine Bezüge als Aufsichtsrat bei Thyssen. Die Friedensresolution des Reichstages von 1917 ging vor allem auf seine Initiative zurück und wurde zum Grundstein der Weimarer Republik. ... Seine Schrift: „Der Völkerbund. Der Weg zum Weltfrieden“, die im Sommer 1918 erschien, wurde sogleich ins Französische, Englische und Dänische übersetzt. Matthias Erzberger war dabei, nicht nur deutsche, sondern auch Weltpolitik zu machen. Erzberger beschwor einen neuen Geist der Gemeinschaft der Völker, die ewige Idee von der Solidarität der Menschheit.“ 13

Wie eine Kriegslüge entsteht

Als es für einen Verständigungsfrieden längst zu spät geworden war, wollte Ludendorff zumindest die Schuld für die Niederlage auf die Opposition abschieben. „In seiner Berichterstattung an den Kaiser wünschte Ludendorff, „... jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es zu verdanken haben, dass wir so weit gekommen sind. (...) Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben.“

Die bedingungslose Kapitulation versuchte die Regierung formal zu vermeiden: „Um weiteres Blutvergiessen zu vermeiden, ersucht die deutsche Regierung, den sofortigen Abschluss eines Waffenstillstands zu Lande, zu Wasser und in der Luft herbeizuführen.“14 Die Härte der Waffenstillstandsbedingungen übertraf alle Befürchtungen: Rückzug der Armee hinter den Rhein, Räumung von Belgien, Frankreich und Elsaß-Lothringen, Besetzung des linken Rheinufers, Auslieferung der U-Boote, von Kriegs- und Transportmaterial. ... Hindenburg, der von Erzberger durch Funkspruch unterrichtet worden war, telegraphierte, es müsse dennoch versucht werden, mildere Bedingungen, vor allem Verlängerung der Räumungsfrist und Aufhebung der Blockade, zu erreichen: „Gelingt dies nicht, so wäre trotzdem abzuschließen.“ 15 (fett: H. K.) Obwohl Erzberger das falsche Spiel von Ludendorff und Hindenburg durchschaut hatte, stimmte er sich als Chefunterhändler in Versailles bis zum Schluss mit der Generalität ab.

Erzbergers Motivation zur Versailler Vertrags-Annahme

Der Führer der Deutschen Demokratischen Partei, Friedrich Naumann, sagte zu ihm unmittelbar vor der Abstimmung über die umstrittene Annahme des Versailler Vertrags im Reichstag: „Heute brauchen wir Sie notwendig, aber in wenigen Monaten, wenn die Situation anders ist, werfen wir Sie weg.“ Darauf erklärte Erzberger: „Mir genügt, dass ich heute, in der schwersten Stunde unseres Vaterlandes, diesem meine Person opfere.“ 16 Diese obligatorische Handlungsweise war vergleichbar der des Gegenreformators Friedrich von Spee, der mit seiner Kritik an der Hexenverfolgung einer päpstlichen Bulle entgegenhandelte, wissend, dass er sein Leben riskiert. Spee hatte seinen Widerstand mit den Worten begründet: „Denn der hasst seinen Nächsten, liebt ihn nicht, der eine ihm drohende Gefahr fürchtet und doch schweigt.

13 vgl. Michael Krausnick/Günter Randecker: Mord Erzberger! Neckargemünd 2005, S. 21f. 14 Krummacher nach H. von Hammerstein (Hg.): Der Waffenstillstand 1918-1919, Berlin 1928, Bd. I, S. 11 15 F.A. Krummacher in: Die Weimarer Republik, Hannover 1962, S. 51, 55f., 65 16 vgl. Reiner Haehling von Lanzenauer: Der Mord an Matthias ERZBERGER, Karlsruhe 2008, S. 40 6 Es kann sein, daß ich etwas fürchte, das nicht vorhanden ist, ich kann mich irren. Solange ich aber die Furcht hege, noch nichts von meinem Irrtum weiß und mir Erfolg verspreche, solange darf ich nicht schweigen.“17 Dass Spee anständig gehandelt hatte, ist nicht mehr umstritten. Zusammen mit humanistischen Ärzten und Anwälten entwickelte er Solidarität mit den Verfolgten: These 1: (1) Der Jesuit Spee führte durch seine obligatorische Beziehung zu den Opfern des Hexenwahns die gewaltfreie Veränderung einer Zwangskultur in Mitteleuropa herbei. (2) Die von Max Weber idealtypisch formulierten Orientierungen sozialen Handelns erklären Spees Handlungsweise nicht hinreichend. (3) Für die Überwindung dieser Zwangskultur war obligatorisches Handeln unentbehrlich.18 Erzberger fürchtete die Wiederkehr der Elemente, welche die Militärdiktatur errichtet hatten. Dieser Gefahr wollte er vorbeugen. Er entwickelte sich zum revolutionären Charakter. Erich Fromm definierte den „revolutionären“ im Vergleich zum „autoritären“ Charakter: „Das grundlegende Merkmal des ‚revolutionären Charakters‘ besteht darin, dass er unabhängig – dass er frei ist. Es ist leicht zu erkennen, dass Unabhängigkeit das Gegenteil der symbiotischen Bindung an die Mächtigen oben und an die Machtlosen unten ist, wie das beim autoritären Charakter zu beobachten ist.“ (Fromm, Band IX, 1963b: 346) Aus symbiotischen Bindungen kann ein Teufelskreis entstehen. „Es ist ein schreckliches Paradoxon, dass gerade die Auflösung von Herrschaftsstrukturen, was Freiheit, Kreativität und Spontaneität eigentlich fördert, jene unter uns bedroht, die mehr als andere für ihren Persönlichkeitszusammenhang autoritäre Strukturen benötigen. Aus diesem Grunde wird jede Gesellschaft, die mehr Demokratie anstrebt, in ihrer Existenz bedroht.“ (Gruen 2003: 215f.) 19 Wie schon die Revolutionäre von 1848/49 hatte Erzberger beim Versuch, eine Zwangskultur aufzulösen, ungeahnt und ungewollt überwältigende Gegenkräfte mobilisiert.

Wie findet eine Geschichtslüge ihre Gläubigen?

Evangelische Theologen hatten im Oktober 1918 als erste die „Dolchstoßlegende“ gegen das Kabinett Max von Baden formuliert und als Versagen der Heimat gegenüber der kämpfenden Front deklariert.20 Am 18. November 1919 sagte Hindenburg vor dem Parlamentarischen Untersuchungs- ausschuss aus, der die Ursachen des Zusammenbruchs erforschen sollte. Anstatt die gestellten Fragen zu beantworten, verlas er eine vorbereitete Erklärung, die in den Worten gipfelte: „Ein englischer General sagte mit Recht: Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden. Wo die Schuld liegt, ist klar erwiesen.“ 21 Als wäre Erzbergers Rede vom 25. Juli 1919 allen Ausschussmitgliedern aus dem Gedächtnis entfallen, wurde Hindenburg in keiner Weise mit der Wahrheit über die Kriegsschuld konfrontiert. Die gesamte Politik des mächtigsten Finanzzentrums der Weimarer Republik und der Präsidialkabinette zielte auf eine Revision des Versailler Vertrags. Die förderte alles, was der militärischen und rüstungswirtschaftlichen Vorbereitung diente, damit der Zweite Griff Deutschlands nach der Weltmacht von Bestand wäre. ... Die Deutsche Bank sorgte dafür, dass Daimler-Benz das seit dem Ende des Ersten Weltkriegs eingemottete Rüstungspotential und brachliegende Know-how seiner Flugzeug-, Panzer- und Schiffsmotorenkonstrukteure über die Jahre des Rüstungsverbots hinüberretten konnte. ...

17 Spee, Friedrich von: Cautio Criminalis, deutsch von J. F. Ritter, unveränderter Nachdruck der ersten vollständigen Übersetzung, Weimar 1939 - München 1986, S. 168 18 Heinz Kapp: Kultursoziologische These im Rigorosum der Universität Konstanz, Mai 2006 / Prüfer: Prof. Dr. phil. Habil. Hans-Georg Soeffner 19 vgl. Heinz Kapp: Revolutionäre jüdischer Herkunft in der Revolution 1848/49 , Konstanz 2006, S. 593f. 20 vgl. Fritz Fischer: Bündnis der Eliten, Düsseldorf 1979, S. 57 21 Guntram Prüfer/Walter Tormin: Die Weimarer Republik, s. o., S. 101 7 Emil Georg von Stauß, Aufsichtsratsvorsitzender der Daimler-Benz AG und Vorstands- mitglied der Deutschen Bank und Hitler hatten überraschend ähnliche Konzepte entwickelt, um die wirtschaftliche Depression von 1929/30 – die auch den Daimler-Konzern schwer getroffen hatte – zu überwinden: Arbeitsbeschaffung durch Motorisierung. Danach erweckte die Motorisierung nicht nur die „Lebenskraft der deutschen Wirtschaft und des deutschen Volkes“, da sie Arbeitsplätze schaffte und damit den Weg aus der Krise zeigte, sondern sie förderte die Kraftfahrzeugindustrie, weil sie im Verteidigungsfall „als lebenswichtig galt.“ Diese gemeinsamen Überzeugungen und Interessen brachten die Konzernspitze und die Naziführung früh zusammen. 22 Von den alten Machteliten hat keine so früh, so aktiv und so erfolgreich an der Zerstörung der Weimarer Demokratie gearbeitet, wie das ostelbische Junkertum. Die Enteignung der Rittergutsbesitzer wurde aber 1918/19 von keiner Seite betrieben, weder von den Volksbeauftragten noch von den Massen der Landarbeiter und Kleinbauern. Die Justiz, auch sie ein fester Rückhalt des Obrigkeitsstaates, stand in der Revolution ebensowenig zur Disposition, und dasselbe gilt von den deutschen Universitäten und Gymnasien. ... Für die meisten Deutschen, die die Zeit von 1918 bis 1930 bewußt erlebten, lag über den ersten vierzehn Jahren der ersten Republik nicht der Schatten des Kaiserreichs, sondern der von Versailles. 23

Der Feind steht rechts!

Nach den Feme-Morden an Erzberger und Rathenau würdigte Reichskanzler (Zentrum, 1879-1956) Rathenaus Verdienste und die Treue der Arbeiterschaft zur Republik: „Die Arbeiterschaft hat in bitteren, ernsten Tagen, als das Chaos über uns hinwegging, keinem, der der alten Gewalt treu geblieben ist, auch nur ein Haar gekrümmt. (...) Und von dem Tage an, wo wir unter den Fahnen der Republik aufrichtig diesem neuen Staatswesen dienen, wird ein Gift mit Millionen Geldern in unser Volk hineingepumpt. (...) Wir wollen in Demut und Geduld einen Weg der Freiheit für das eigene, unglückliche Vaterland suchen. In diesem Sinne sollen alle Hände und jeder Mund sich regen, um endlich in Deutschland diese Atmosphäre des Mordes, des Zornes, der Vergiftung zu zerstören. „Da steht der Feind, wo Mephistpo sein Gift in die Wunde eines Volkes träufelt, da steht der Feind und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts.“ 24 Die Regierung hatte nur wenig getan, um die Begründer der Republik vor ihren Feinden zu schützen. Schon am Abend der Abstimmung über den Friedensvertrag mißlang ein Attentatsversuch von Reichswehrangehörigen; wenige Tage darauf wurde das Arbeitszimmer Erzbergers im Finanzministerium beschossen und ein anderes Zimmer, wo sein Schlafzimmer vermutet worden war, durch eine Handgranate verwüstet. Das dritte Mal in Moabit fühlte sich Erzberger „durch Gottes Hand beschützt“. Oltwig von Hirschfeld hatte Erzberger auf offener Straße angeschossen und an der Schulter getroffen. Vor Gericht sprach er von der Unschädlichmachung eines Schädlings. Die Richter werteten dies als strafmildernd.25 Friedenspolitik, Waffenstillstand, Verteidigung der jungen Republik und scharfe Attacken gegen die Rechte ... eigentlich wäre das für den tödlichen Hass schon Grund genug gewesen. Doch es war noch ein weiterer hinzugekommen. Als Reichsfinanzminister nämlich hatte Matthias Erzberger auch denjenigen, die am Krieg profitiert hatten, kräftig ins Portemonnaie gegriffen, und zwar mit Steuern, die den Wiederaufbau des hochverschuldeten Reiches finanzieren sollten.

22 vgl. Angelika Ebbinghaus: Vorwort zu Das Daimler-Benz-Buch 1987, Schriften der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts (Hg.), Band 3, S. 8f. 23 vgl. Winkler: Weimar ...., aaO., S. 601f. 24 Reichskanzler Wirth am 24./25. Juni 1922 in Walter Tormin: Die Weimarer Repubik, Hessische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Hannover 1962, S. 118 25 vgl. Krausnick/Randecker: Mord ERZBERGER! AaO., S. 28 8 „Dass nunmehr auch Kaiser, König, Edelmann und ihre Günstlinge zur Kasse gebeten wurden, war unerhört und noch nie dagewesen in der deutschen Geschichte. Eine Revolution.“26 Erzbergers wichtigstes Ziel war Gerechtigkeit im gesamten Steuersystem: „Der Grundfehler der Wirtschaftspolitik im Kriege läßt sich auf die kurze Formel bringen, dass man durch die allgemeine Wehrpflicht die lebendigen Leiber mobil gemacht hat, dass aber die allgemeine Wehrpflicht Halt machte vor dem Kapital und dem Besitz. Nur das Blut, nicht auch das Gut verlangte man freiwillig und ohne Zinsen - für das Vaterland.“ In nur sechs Monaten wurden 16 Einzelgesetze verabschiedet. Natürlich war die Steuerreform, besonders für die Besitzenden und Besserverdienenden, eine bittere Pille. Mit ihr – so ... Bundesminister Wolfgang Schäuble – sei Erzberger zum Wegbereiter deutscher Demokratie geworden: „Die Finanzreform gehört unbestritten zu Erzbergers Großtaten. ... Um Kapitalabwanderung zu verhindern, musste erstmals ein Kapitalfluchtgesetz geschaffen werden ... Ohne diese völlig einmalige und unglaubliche Leistung der Erzbergerschen Finanzreform hätte die Weimarer Republik von Anfang an gar keine Chance gehabt. Inzwischen war der 45jährige Erzberger der vielleicht wichtigste Politiker in Deutschland. Als Waffenstillstandsminister, Vizekanzler und Finanzminister gehörte er den ersten Regierungen der noch jungen Demokratie an und galt als Architekt der Verfassung, Baumeister der Republik und heimlicher Reichskanzler.27

Verleumdung. Hass. Mord!

Karl Helfferich, der ehemalige Reichstagskollege, Vorstand der Deutschen Bank und kaiserliche Ex-Minister war von jeher ein Intimfeind Erzbergers. 15 Jahre zuvor hatte er seinen führenden Posten im Auswärtigen Amt aufgeben müssen, nachdem Erzberger die Skandale in den deutschen Kolonien aufgedeckt hatte. Nach der Niederlage hatte Erzberger ihn als „den leichtfertigsten aller Finanzminister“ des alten Systems angegriffen, weil er den Weltkrieg auf Pump finanziert habe, für die Schulden und die daraus folgende Inflation aber nicht gerade stehen wolle. ... Als Führer der größten Rechtspartei attackierte Helfferich nicht nur die neue Steuerreform sondern auch Erzberger persönlich. ... „Überall im Lande müsse mit unwiderstehlicher Gewalt der Ruf ertönen: Fort mit Erzberger, weg mit dem Reichsverderber, Novemberverbrecher, Juden! „Am Sonntag kommt Helfferich der Erzbergertöter“ - Plakat der Bayrischen Mittelpartei, München 1920. ... Steuerhinterziehung, Meineid, Korruption – lauteten die schlimmsten Verleumdungen.28 Matthias Erzberger berichtete seinem Parteifreund Carl Diez auf einem Spaziergang, zu dem sich Diez von dem Singener Pfarrer August Ruf 29 einen Regenschirm geliehen hatte, von der Entlastung in seinem Verfahren wegen Meineids und Kapitalflucht. Diez hörte Schritte und war sicher, dass diese zwei Männer sie zuvor überholt hatten. „Ohne im Geringsten darauf vorbereitet zu sein, standen tatsächlich die beiden jungen Männer plötzlich vor uns, beide gleichzeitig die Revolver auf Erzbergers Stirn und Brust gerichtet, und eh ich mir des Vorgangs bewusst wurde, waren zwei Schüsse gefallen, von denen nach meinem Dafürhalten beide tödlich sein mussten.“ Diez selbst wurde durch zwei Schüsse schwer verletzt, die er – ohne Überlegung oder Tollkühnheit – mit dem Regenschirm abzuwehren versucht hatte. Diez bat eine Hamburger Dame namens Landsberger um ihre Begleitung nach Bad Griesbach, da er nicht wisse, wie weit er sich schleppen könne.

26 Krausnick/Randegger: Mord ERZBERGER! AaO., S. 37 27 vgl. Wolfgang Schäuble in Krausnick/ Randegger: Mord ERZBERGER! aaO., S. 37f. 28 vgl. Krausnick/Randecker: Mord ERZBERGER aaO.,S. 42f. 29 vgl. www.stolpersteine-singen.de: August Ruf 9 Ihre Antwort war: „Wie konnten Sie nur mit Erzberger spazieren,“ ging aber dennoch unwillig mit. Der Hass auf Erzberger hatte auch bei noblen, besonders prostestantischen Mitbürgern durch die Dolchstoßlegende jedes Mitgefühl abgetötet. Die Presse höhnte: „Der Weg zur Ewigkeit ist gar nicht weit, um zehn Uhr ging er fort, um 11 Uhr war er dort.“ Ein rehabilitierter Erzberger hätte allen Profiteuren der „Dolchstoß“-Legende sehr schaden können. Er sollte als „umstrittener“ Politiker erinnert werden. Nach einer weiteren Rufmord- Kampagne, an welcher sich der Abgeordnete Dr. Helfferich maßgeblich beteiligte, wurde 1922 der Aussenminister Walter Rathenau ermordet. 30

Geheime Kriegsvorbereitungen

Es dauerte nicht mehr lange, bis aus Matthias Erzbergers schlimmsten Befürchtungen über die „Wiederkehr der Elemente (schräg, H.K.), die den vollendeten Ruin unseres Vaterlands bedeuten würden, reale Vorhaben wurden. Während Adolf Hitler noch in Festungshaft in Landsberg einsaß und „Mein Kampf“ diktierte, entwickelten Generäle seit 1924 minutiöse hochverräterische Pläne für die stärkste und modernste Land- und Luftmacht des Kontinents und gegen die Weimarer Demokratie. „Voraussetzungen für die Aufnahme eines Krieges: a) die Herstellung einer starken Reichsgewalt unter Ausschaltung der krankhaften parlamentarischen Zustände b) die Einstellung aller staatlichen Organe auf die Unterstützung bei Vorbereitung eines Befreiungskrieges c) die nationale und wehrhafte Erziehung unserer Jugend in Schule und Universität. Die Erzeugung von Hass gegen den äusseren Feind d) die Erziehung unseres Volkes zum Staatsgedanken – Arbeitspflicht (System Friedrich Wilhelm III.) e) der vom Staat geführte Kampf gegen Internationale und Pazifismus, gegen alles Undeutsche, die schwersten Strafen für Landesverrat f) der Kampf für Sitte und Recht beim Einzelnen und der Volksgesamtheit. Diktatorische Gesetze, strengste Zucht, höchste Ansprüche an die Führer jeden Grades sind selbstverständlich. Opfer müssen von jedem Volksgenossen verlangt werden“. 31

Mit einem Volksbegehren zielte die Nationale Opposition 1929 auf den Sturz der Regierung Müller: Die Reichsregierung sollte den auswärtigen Mächten unverzüglich und in feierlicher Form Kenntnis davon geben, dass die erzwungene Kriegsschuldanerkenntnis des Versailler Vertrages der geschichtlichen Wahrheit widerspreche und daher völkerrechtlich unverbindlich sei. Die Reichsregierung sollte wegen Landesverrats bestraft werden, wenn sie diesen Bestimmungen nicht nachkam. Der Volksentscheid über das Gesetz gegen die Versklavung des deutschen Volkes fand am 22. Dezember 1929 statt. Um angenommen zu werden, hätten 21 Millionen Wähler dafür stimmen müssen, es stimmten nur 5,8 Millionen dafür und am Misserfolg war nicht zu deuteln. Für den Putschisten Adolf Hitler war jedoch seine Agitation im Reichsausschuß für das Volksbegehren der beste Weg, von der „guten Gesellschaft“ als Bündnispartner anerkannt zu werden: „Die etablierte Rechte rechnete mit ihm und ließ ihn an Geldmitteln teilhaben, die dem weiteren Aufstieg der NSDAP zugute kamen“. 32

30 vgl. Carl Diez: Die Lebensgeschichte eines Menschen, Konstanz 1929, S. 70-75 31 Joachim von Stülpnagel zit. in: Der Krieg der Generäle- Hitler als Werkzeug der Wehrmacht von Carl Dirks/Karl-Heinz Janßen, Berlin 1999, S. 14 + 197f. 32 vgl. Winkler: Weimar aaO., S. 354-356 10 Hatte Hitlers Partei 1928 nur 800.000 Stimmen erhalten, so verachtfachte sich im September 1930 deren Anzahl auf fast sechseinhalb Millionen. Bei der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 konnte die NSDAP ihr Ergebnis mit 13,8 Millionen sogar mehr als verdoppeln.33 Die Heeresleitung hatte nach der Panzerkreuzerdebatte erkannt, dass mit der SPD keine weitere Militarisierung möglich war.34 Hitler wurde von den Militärs wieder gebraucht, um ihre geheim gehaltenen Rüstungspläne durchsetzen und wieder die Herrschaft über den Staat gewinnen zu können. Schon 1920 war der Kapp-Lüttwitz-Putsch am Generalstreik der Gewerkschaften gescheitert.35 Die „Ausschaltung der krankhaften parlamentarischen Zustände“ war also geboten, um die seit fünf Jahren geplanten „Voraussetzungen für die Aufnahme eines Krieges“ doch noch herbeizuführen.

Wer gefährdet die Demokratie?

Wenn man annimmt, dass aus dem Rechtsruck in vielen Staaten Europas – zuletzt wieder in Ungarn – eine ernste Gefährdung demokratischer Bestrebungen entsteht, müssen wir fragen, ob wir jetzt besser gegen eine solche Gewaltkultur gerüstet sind, als die Weimarer Republik. Wenn, wie Seehofer und Söder dies wollen, „Gefährder“ vor allem unter Flüchtlingen und kritischen Demokraten gesucht werden, benötigen sie Gläubige einer neuen Geschichtslüge. Die 2%-Forderung der Rechten zur Stärkung der NATO, sowie Mauern und Zäune zur Einschließung der verbliebenen offenen Gesellschaften, vertilgen die Ressourcen für eine Besserstellung der Armen und die vom Grundgesetz gebotene Gleichstellung von Frauen und Männern auch bei Löhnen und Gehältern. Für die Menschen im Nahen Osten, im Gaza-Streifen, in Syrien, im Jemen und in vielen Teilen Afrikas steht der Dritte Weltkrieg nicht mehr bevor, er ist längst bittere Wirklichkeit geworden. Es ist der Krieg der Reich gegen Arm, den der Milliardär Warren Buffet in der New York Times verkündete.36 Ursprünglich wollten viele SPD-Mitglieder, dass Deutschland nicht länger an illegalen NATO-Kriegen mitwirkt, die Menschenrechte verletzt und die UNO- Charta sabotiert.37. Aber ohne die Bereitschaft der SPD, doch wieder in eine Groko einzutreten, wäre auch Mitteleuropa nahezu unregierbar geworden. Dennoch steht die EU dem Krieg der Türkei gegen die Kurden ohnmächtig gegenüber und Trump läßt die Waffenbrüder im Kampf gegen den Islamischen Staat feige im Stich. Den Kurden wurde am Ende des ersten Weltkriegs ein eigener Staat versprochen, aber immer noch sind 22 Millionen Menschen aus diesem Volk ohne staatlichen Schutz der Willkür ihrer Nachbarstaaten und der Großmächte ausgeliefert.38 Deutschland behandelt Kurden auf Wunsch Erdogans pauschal als Terroristen und ist der Türkei gegenüber immer noch gelähmt.

Schon vor der Bundestagswahl 2013 wendeten sich Almuth Berger, Volkmar Deile, Heino Falcke, Joachim Garstecki, Heiko Lietz, Ruth und Hans Misselwitz, Konrad Raiser, Gerhard Rein und Hans-Jochen Tschiche gegen die Lähmung demokratischer Politik: »Wir wenden uns mit diesem Brief an alle, die von der Politik in unserem Land enttäuscht sind, wie von einer Lähmung befallen und fast kapitulieren vor der Frage, was sie wählen und ob sie überhaupt wählen sollen. Wir wollen aber nicht länger hinnehmen, dass eine Debatte über langfristige gesellschaftliche Ziele nicht nur nicht stattfindet, sondern auch offenbar nicht gewollt ist. Mit diesem Verlust des Politischen finden wir uns nicht ab.

33 Heinrich August Winkler: Weimar 1918-1933, München 1993, S. 342 34 vgl. http://telemaik.de/kapp/kappes/ Heinz Kapp: Erinnerungen an Heinz Kappes - Oekumenischer Pfarrer, Kriegsgegner, Mystiker 35 vgl. Der Große PLOETZ, Freiburg 1998, S. 878 36 Warren Buffett zitiert von Georg Schramm in 3sat am 25.2.2012 37 vgl.Daniele Ganser: Illegale Kriege – wie die NATO-Länder die UNO sabotieren, Zürich 2016 38 vgl. Der Große PLOETZ 1998, S. 1588-1592 11 Wir weisen mit unserem Brief auf zwei für uns wesentliche Politikfelder hin. Wir wissen uns der ökumenischen Friedens- und Gerechtigkeitsarbeit verpflichtet. Wir vertrauen der Kraft der Zivilgesellschaft. Eine »marktkonforme Demokratie« wie ein scheinbar alternativloses »Weiter-so« akzeptieren wir nicht. (...) Die Beschaffung von Kampfdrohnen für die Bundeswehr verdeutlicht das fatale Zwangsgefälle, das von neuen technologischen Entwicklungen für die weltweite Rüstungsdynamik ausgeht. Wir warnen vor diesen Entwicklungen. Vor allem möchten wir erreichen, dass die Gefahren, die sich aus dieser schleichenden, kaum diskutierten Militarisierung der deutschen Politik ergeben, öffentlich bewusst gemacht werden. Nur so kann es gelingen, diesen gefährlichen Entwicklungen zu widerstehen.“ 39 Eine Debatte zu diesem Brief stand leider nicht statt. In völligem Gegensatz zur ökumenischen Friedens- und Gerechtigkeitsarbeit findet die GEMEINSAME ERKLÄRUNG der Rechten vom 15.3.2018 große öffentliche Aufmerksamkeit: Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird. Als wäre dies die Forderung einer Frauenbewegung ziert ein Bild vom „Frauenmarsch zum Kanzleramt in Berlin, 17. Februar 2018“ werbewirksam die „Solidaritätsaktion“. Ganz erschreckend hoch ist die Zahl weiblicher und männlicher Akademiker unter den Unterzeichner*Innen. Dass auch ein ehemaliger Studienkollege aus Frankfurt diesen Schwindel mitmacht, kann kein Mangel an politischer Bildung sein. Auf meinem Schreibtisch liegt ein Buch mit dem Untertitel: „Bildung entscheidet über die Zukunft der Menschheit“. In diesem Fall geht es jedoch um blanken Zynismus. Warum fürchten diese Leute die Blamage nicht, warum ist es so leicht, primitive Menschen- und Fremdenfeindlichkeit zu verkaufen? „Die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederherzustellen“ beinhaltet ja die versteckte Drohung, Gewalt gegen Kriegsflüchtlinge anzuwenden, welche ihr Menschenrecht in Anspruch nehmen wollen, Asyl zu beantragen. Von den Unterstützern der GEMEINSAMEN ERKLÄRUNG wird ihnen aber dieses Recht vonvornherein entzogen, indem sie zu Illegalen erklärt werden, die „Deutschland beschädigen“. Wenn aber Menschenrechte beachtet werden sollten, ist die Verweigerung von Asyl und eine rigorose Abschiebepraxis die tatsächliche Beschädigung des Rechtsstaates.

Eine klare Alternative

„Wenn wir annehmen, dass das Leben lebenswert ist und dass der Mensch ein Recht hat zu leben, dann müssen wir eine Alternative zum Krieg finden.“ 40 Vor nunmehr 50 Jahren konnte Martin Luther King mit diesem einfachen Satz Zehntausende bewegen. In den von Waffen überschwemmten und durch Rassisten tief gespaltenen „Vereinigten“ Staaten hätte die Erinnerung an die Gewaltlosigkeit Jesu nur müdes Lächeln hervorgerufen: damals herrschten andere Gesetze, es waren andere Zeiten. Dass aber Gewaltlosigkeit jetzt überlebenswichtig ist, hat offenbar eingeleuchtet. Der frühere Pfarrer der Leipziger Thomaskirche Christian Wolff hat in seinem Blog daran erinnert.41 Martin Luther King wurde als Bürgerrechtler und als Kriegsgegner verfolgt und ermordet. Zu seinen Mördern gehörten auch „der Regierung zugeordnete“ Institutionen, also Geheimdienste, welche wie die Erzberger-Mörder staatlich gedeckt wurden. In einem Geschworenenprozeß mit 70 Zeugen bestätigte 1999 ein amerikanisches Gericht der Witwe Coretta King die Mord-Verschwörung mit Beteiligung der Regierung.

39 Britta Baas: Gegen den Verlust des Politischen, Publik-Forum 25.07.2013 40 Martin L. King zit. in Franz Schwörer 1978, a.a.O, S. 2 41 http://wolff-christian.de/vor-50-jahren-martin-luther-king-ermordet-aber-die-kraft-der-gewaltlosigkeit-lebt/ 12 „Das Urteil: 1.JA – Loyd Jowers hat an einer Verschwörung zum Schaden von Martin Luther King teilgenommen. 2.JA – Andere Institutionen, darunter der Regierung zugeordnete, waren an dieser Verschwörung beteiligt, wie der Beklagte dies zugegeben hat. 3. Der Gesamtschadenersatz zugunsten der Kläger beträgt 100 Dollar.“ 42

100 $; so schamlos gering bewertet also ein Gericht den Wert eines Menschen, der im Kampf für Frieden und Gerechtigkeit getötet wurde. Offensichtlich kam das Gericht angesichts der vielen Zeugen und dem Teilgeständnis des Beklagten um die Schuldfeststellung nicht herum. Die rassistischen Motive der Richter werden in der beleidigend niedrigen Schadenssumme versteckt. Aber grundsätzlich bleibt der Anspruch auf einen Schadenersatz bestehen. Und diesem universalen Rechtsgrundsatz hatte Matthias Erzberger Gesetzeskraft verliehen. „Das Kleid unserer Freiheit sind die Gesetze“ betonte beim Attentat auf Rudi Dutschke.43 Sie gewährleisten, dass gegen Gewaltlosigkeit nicht die willkürliche Gewaltanwendung obsiegt. Ich habe mich darauf verlassen können, als ich aus dem Algerienkrieg zurückgekehrte Fremdenlegionäre betreute und vier Jahre im Frankfurter Rockermilieu arbeitete. Darüber hinaus schützen Gesetze auch die Wahrheit, dass wir eine Alternative zum Krieg finden müssen, damit die Demokratie überleben kann.

Verhandeln statt Abschrecken

Es war wiederum C.Wright Mills, welcher den Bezugsrahmen für unsere Zukunftsfähigkeit noch während des Kalten Krieges eindeutig formulierte: 1. Die militärische Metaphysik muss über Bord geworfen werden. 2. Die Industriealisierung muss als Schlüssel des internationalen Ringens anerkannt werden. 3. Die weltweite Begegnung der nebeneinander bestehenden Wirtschaftssysteme muss sich in kulturellen, politischen und ökonomischen Formen vollziehen. ... Wenn der Friede ein Frieden der Koexistenz ist und nicht anderes sein kann, dann ist das Mittel zu seiner Erzielung das Verhandeln - es kann kein anderes geben. Die Struktur des Friedens erfordert, dass man die heute vorherrschenden militärischen Kategorien durch wirtschaftliche und kulturelle ersetzt. So aussschlaggebend sind diese ersten drei Punkte, dass sie, wenn man sie ernst und buchstäblich nimmt, automatisch zu einer Fülle von unmittelbaren Forderungen und einseitigen politischen Maßnahmen, zu Verhandlungsthemen und Vorschlägen für gemeinsame Aktionen führen. So grundlegend sind sie, dass, wenn die Politik der Vereinigten Staaten sie sich zu eigen machen wollte, binnen wenigen Monaten der Aufbau des Weltfriedens im Gange sein könnte. 44 Verlierer einer solchen Umorientierung wären hauptsächlich die Rüstungsindustrie und die Geheimen Dienste, deren Geschäft die Erfindung und Pflege von Feindbildern ist. Sie haben schon Erzbergers Friedenspolitik verhindert. Auch 1928 (siehe: Geheime Kriegsvor- bereitungen) hätte eine Phase der Abrüstung und der Koexistenz beginnen können, ebenso wie 1990 nach dem Fall der Mauer. Wie stark die Abschreckungsdoktrin der USA die Umstellung von der vorherrschenden Kriegswirtschaft zu einer Friedenswirtschaft und Steuergesetzgebung im Erzbergerschen Sinne behindert, wird auch bei der Untersuchung strategischer Spiele deutlich: „Durch diese Untersuchung kriegerischer Eskalation kommen wir zu dem vielleicht nicht sehr überraschenden, aber trotzdem beruhigenden Schluss:

42 William F. Pepper: Die Hinrichtung des Martin Luther King: Wie die amerikanische Staatsgewalt ihren Gegner zum Schweigen brachte, München 2003, S. 191 43 Christian Wolff: http://wolff-christian.de/eine-rede-die-nicht-vergessen-werden-sollte-gustav-heinemann-zum-attentat-auf- rudi-dutschke/ 44 vgl. C. Wright Mills: Die Konsequenz-Politik ohne Verantwortung, München 1959, S. 136 13 je höher die beiden Länder ihre weitere Zukunft bewerten (wobei jedes weiß, dass das andere Land einen hohen Wert auf die Zukunft legt), desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit eines Krieges, wenn jedes Land über Angriffs- und Gegenangriffswaffen verfügt. Außerdem sind die Chancen, dass sogar verhältnismäßig dumme Individuen den Grad der Gefahr einer überaggressiven Politik zu erkennen vermögen, umso größer, je mehr Wert auf die Zukunft gelegt wird.“ 45 Dagegen läuft die von Robert McNamara* entwickelte Abschreckungsdoktrin der USA stets auf diese überaggressive Politik hinaus, die aktuell zwischen den USA und Nordkorea zu gegenseitigen Vernichtungsdrohungen mit Atomraketen geführt hat. „Die zentrale These der Abschreckungsdoktin – der Logik, von der abhängt, ob die Welt den nächsten Sonnenuntergang noch erlebt – behauptet, dass sich ein atomarer Holocaust nur verhindern läßt, wenn jede Atommacht, jeder Machtblock ein atomares Zerstörungspotential bereithält, welches „glaubhaft“ mit der Vernichtung der gesamten Bevölkerung jedes Angreifers droht, sogar nachdem sie den schlimmstmöglichen Erstschlag erlitten hat.“ Robert McNamara* war unter den Präsidenten Kennedy und Johnson sieben Jahre lang US- Verteidigungsminister. 46 Obwohl ranghohe Generäle öffentlich bezweifelten, dass der von Prasident Bush jun. ausgelöste „Krieg gegen den Terror“ jemals die versprochene Sicherheit bringt, dient er der weltweiten Intervention der USA. Aber: „Jeder Zivilist, der von einer Drohne getroffen wird, erzeugt neue Terroristen. Das ist doch kein Geheimnis. General Stanley A. McChrystal hat das als einer der wenigen begriffen: Obamas weltweit betriebenes Programm erzeugt potentielle Terroristen schneller, als die USA Verdächtige töten können.“47 Zwanzig Jahre vor der Revolution in Amerika schrieb Edmund Burke: „Keine Leidenschaft beraubt den Verstand gründlicher seiner Handlungs- und Entscheidungsgewalt als die Angst. Der Präsidentschafts-Kandidat Al Gore hat dargelegt, dass diese Angst anstelle der Vernunft die US-Politik bestimmt: „... Es ist ein Armutszeugnis für unseren gegenwärtigen politischen Diskurs, dass fast drei Viertel aller Amerikaner ohne weiteres glaubten, Saddam Hussein sei persönlich für die Angriffe des 11. September verantwortlich, ...48 Wegen dieser Angst erscheint Verhandeln als eine Schwäche, die kein Präsident, der stark sein will, eingestehen will.

Woran scheitern Friedensappelle?

Für Verhandlungen als die einzige Alternative verweist der jüdische Neutestamentler Pinchas Lapide auf eine alte jüdische Weisheit: „Auf die Frage, ob denn Frieden auf Erden überhaupt möglich sei, antwortet der TALMUD mit einer Parabel, die den Kochtopf als Vorbild für alle Friedensstifter empfiehlt. Denn der bescheidene Kochtopf vollbringt ja, ohne viel Federlesens zu machen, ein tägliches „Wunder“, das auch die Politiker und Kirchenfürsten anregen sollte: Indem sein dünner Boden zwei feindliche Elemente, nämlich Feuer und Wasser voneinander trennt, bringt er sie dennoch zu einer friedlichen und kreativen Kooperation, aus der eine schmackhafte Speise hervorgeht, die dann allen Parteien mundet.“ 49 Den Boden des Kochtopfs könnte eine Wahrheit bilden, wie sie Erzberger im deutschen Parlament ans Licht brachte. Dass Lapides Friedensappell gerade in Israel auf taube Ohren trifft, liegt an einer oft übersehenen ökonomischen Entwicklung. Offenkundig hat die israelische Wirtschaft keinen Grund mehr, Kriege zu fürchten.

45 Martin Shubik (Hg.): Spieltheorie und Sozialwissenschaften, Hamburg 1964, S. 73 46 Robert McNamara: Das Wesen der Sicherheit zit. nach Jonathan Schell, Das Schicksal der Erde, München 1982, S. 220 47 vgl. www.wikipedia: Stanley Arthur McChrystal, Vier-Sterne-General, leitete seit 2002 Anti-Terror- Operationen in Afghanistan und kommandierte dort bis 2010 alle internationalen Streitkräfte 47 Noam Chomsky im ZEIT-Interview (Nr. 26) 20. Juni 2013, S. 43f. 48 Al Gore: Angriff auf die Vernunft, München 2007, S. 37-40 49 Pinchas Lapide: Jesus, das Geld und der Weltfriede, Gütersloh 1991, S. 105 14 Im Gegensatz zu 1993, als der Kampf noch als Wachstumsbremse gesehen wurde, verzeichnete im August 2006, dem Monat des verheerenden Krieges gegen den Libanon, die Börse von Tel Aviv steigende Kurse. (...) 50 Die Exporte im Verteidigungssektor erreichten 2006 die Rekordsumme von 3,4 Milliarden Dollar (1992 waren das noch 1,6 Milliarden Dollar); somit ist Israel der viertgrößte Waffenexporteur der Welt und hat Großbritannien überholt. ... Len Rosen, ein prominenter israelischer Investmentbanker, sagte der Zeitschrift Fortune: „Sicherheit ist wichtiger als Frieden.“ In den Oslo-Jahren „wollten die Leute Frieden als Motor für Wirtschaftswachstum. Jetzt wollen sie Sicherheit, damit das Wachstum nicht durch Gewalt beeinträchtigt wird.“ ... Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Terror-Abwehrindustrie die isrealische Wirtschaft ähnlich vor dem drohenden Niedergang bewahrt hat, wie der Katastrophen-Kapitalismus- Komplex geholfen hat, die globalen Aktienmärkte zu retten. 51 In Deutschland verbietet das Grundgesetz und das Strafgesetzbuch die Vorbereitung von Angreiffskriegen: „Wer einen Angriffskrieg (Artikel 26, Abs. 1 des Grundgesetzes), an dem die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sein soll, vorbereitet und dadurch die Gefahr eines Krieges für ... Deutschland herbeiführt, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft.“52 Dass aber tatsächlich noch kein Kabinettsmitglied wegen Waffenlieferung an Kriegsparteien oder Auslandseinsätzen der Bundeswehr vor Gericht gestellt wurde, liegt an einem juristischen Trick von Franz-Josef Strauß, der schon 1961 die Verfassung ausgehebelt hat. „Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, für den Export von Waffen und Rüstungsgütern in andere Staaten sei einzig das Kriegswaffenkontrollgesetz ausschlaggebend, ist realiter das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) maßgeblich. Die Verabschiedung eines zweiten Ausführungsgesetzes zu Artikel 26 (2) des Grundgesetzes widerspricht der grundgesetzlichen Vorgabe eines Bundesgesetzes. Mit dem wirtschaftskonformen AWG öffnete Franz-Josef Strauß dem Handel mit Waffen und Rüstungsgütern – und damit auch den zivil wie militärisch einsetzbaren dual-use Gütern –Tür und Tor. 53 Sämtliche Koalitionen haben diese ins Gegenteil verkehrte Grundgesetz-Interpretation hingenommen. Dass tödliche Waffen durch ihre Umbenennung in Rüstungs-„Güter“ weniger tödlich wären, ist eine offensichtliche Lüge. Grundgesetzwidrige Gesetze können aber abgeschafft werden, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist. Auch eine Sondersteuer für Kriegswaffen, welche schnell Wirkung entfalten könnte, müßte erwogen werden.

Wie schwerwiegend die Duldung einer Geschichtslüge die Demokratie belastet, wurde am Ende der Weimarer Republik deutlich, als sich wieder eine Zwangskultur etablierte. Die Hindenburg’sche Straffreiheitsverordnung amnestierte insbesondere Straftaten, die im Kampfe für die nationale Erhebung des Deutschen Volkes ... begangen worden sind. „Eindeutig sollten damit vor allem die gewalttätigen Übergriffe, die vor und während der sogenannten Machtergreifung begangen worden waren, pauschal straffrei gestellt werden. Da der Erzberger-Mord verhältnismäßig lange zurücklag, war dieser Fall auf Weisung Hitlers ausdrücklich in die Amnestie einbezogen worden.“ 54

Völlig überraschend hat sich während Olympischen Winterspiele eine Verhandlungsoption ergeben, die kaum jemand für möglich hielt. „Noch vor wenigen Monaten hat die Welt über Kim Jong Un gespottet. Der nordkoreanische Jungdiktator sei skrupellos und brutal, zugleich aber auch größenwahnsinnig. Immerhin hat er sich mit den mächtigern USA angelegt.

50 Klein: Schock-Strategie, aaO. S. 621, S. 823 51 vgl. Len Rosen zit. in Naomi Klein: Die Schock-Strategie, aaO., S. 616 52 StGB Strafgesetzbuch, München 1977, § 80 53 Jürgen Grässlin: Schwarzbuch Waffenhandel – wie Deutschland am Krieg verdient, München 2013, S. 26f. 54 vgl. Lanzenauer: Mord an Erzberger aaO., S. 30 15 Nun könnte er schon bald als raffiniertester Staatsführer des Jahrhunderts in die Geschichte eingehen. Schon seine Charme-Offensive während der Olympischen Winterspiele war geschickt. Dann folgte Kims Ankündigung, sich Ende April mit mit Südkoreas Präsiden Moon Jae In zu treffen, wenige Tage später dann der Paukenschlag, auch mit Trump persönlich verhandeln zu wollen. Kims Peking-Reise ist nun ein weiterer genialer Zug. Die letzten Jahre war das Verhältnis wegen Nordkoreas Atomwaffenprogramm auch zwischen Peking im Pjöngjang eisig. Nun gelingt es Kim, sich mit China zu versöhnen. Wenige Wochen vor seinem Treffen mit Trump kann kann Kim mit Rückendeckung Pekings rechnen und mit noch größerem Selbstbewußtsein verhandeln.55 So könnten sich die verzweifelten und oft als aussichtslos geltenden Friedensappelle am Ende doch noch als zielführend erweisen. Zumindest sind sie ein ermutigendes Zeichen für das nächste Strategie-Treffen der Friedensbewegung, die sich unter dem Motto „Abrüsten statt Aufrüsten am 17. Juni 2018 im Frankfurter DGB-Haus trifft.56

55 Felix Lee, Peking im SÜDKURIER #74, 29. März 2018, S. 1 56 https://abruesten.jetzt/2018/04/ einladung-austausch-vernetzung-und-strategie 16