ÖGfE Policy Brief 05’2021

25 Thesen zu „100 Jahre österreichische Europa- und Integrationspolitik“ 1919-2020

Von Michael Gehler Wien, 22. April 2021 ISSN 2305-2635

Handlungsempfehlungen

1. Österreich konnte sich seit seiner EU-Mitgliedschaft handels-, investitions-, wirtschafts- und währungspolitisch bestens integrieren. Davon ausgehend und als Nettozahler kann es selbstbewusster und stärker auftreten sowie eine über seine eigene Interessenlage hinausgehende weit pro-aktivere, noch mehr auf Vertiefung ausgerichtete, europäische Einigungspolitik praktizieren.

2. Als Land der Mitte Europas kann Österreich seine geopolitisch und -ökonomisch günstige Lage, seine daraus erwachsenden Potentiale weit mehr nutzen und gewinnbringender für die EU- Mitglieder in Ost und West, letztlich auch für sich selbst wie für die gesamte Union einbringen, um Diffusions- und Separierungstendenzen abzuschwächen oder gar aufzuhalten. Das würde Anliegen wie die Bekämpfung des Klimawandels, Sicherung von Umweltstandards, Ablehnung von Fremdenfeindlichkeit, Beseitigung von Korruption und Wahrung von Rechtsstaatlichkeit berühren, bei denen Österreich selbst mit gutem, ja besserem Beispiel vorangehen könnte.

3. Geschichts- und politikwissenschaftliche Europa- und Integrationsforschungen an Bildungsinstitutionen und Universitäten sind stärker zu fördern und damit ihre Ergebnisse für breitere Kreise der Bevölkerung so ausgewogen und eingehend wie möglich zu vermitteln. Europa und seine Einigung sollten noch viel mehr als Forschungs- und Bildungsauftrag begriffen werden. Dabei gilt es auch Formate wie die „Europäische Rundschau“ nicht einzustellen, sondern zu reaktivieren und auf ein breiteres publikumswirksameres Format auszurichten.

Zusammenfassung

Das aus der Konkursmasse der zerfallenden Habsbur- Initiativen für Europa, die über das österreichische Eigen- germonarchie hervorgegangene Österreich verfügte nur interesse hinausgingen, weitgehend mangelte. über geringen Handlungsspielraum. Es bewegte sich Im Großen und Ganzen war das offizielle Österreich zwischen wenig aussichtsreichen Paneuropa-Ideen und grundsätzlich pro-europäisch ausgerichtet, d. h. in einem Mitteleuropa-Konzeptionen sowie einer NS-„Anschluss“- breiteren und viel umfassenderen Sinne als die EWG und Politik, die 1938 zum Ende des Staates führte. Nach 1945 die EU. Dies drückte sich auch in der aktiven Mitglied- ging es der wiedererrichteten Republik um Balanceakte schaft im Europarat und in der EFTA sowie in der Zu- zwischen Staatseinheit und Westorientierung. Öster- stimmung zu allen integrationsgeschichtlichen Entschei- reich war v. a. an der wirtschaftlichen Integration inter- dungen, von den Römischen Verträgen über Maastricht, essiert. Lange dominierten Staatsvertrag und Neutralität Amsterdam, Nizza bis zum Vertrag von Lissabon aus. als Referenzpunkte, was sich erst nach 1989 allmählich Trotz aller Einwände, Hindernisse und Widerstände war änderte. Österreich trat 1995 relativ problemlos der EU Österreich stets bemüht, sich von den gemeinsamen und 1999/2002 der Eurozone bei, da es bereits seit den Entscheidungen nicht auszuschließen, sondern so weit 1970er Jahren an das Europäische Währungssystem wie möglich daran teilzunehmen und davon zu profitie- gekoppelt war. Militärische Optionen blieben ausgeklam- ren. Der lange Weg von Saint-Germain-en-Laye (1919) mert. Auf supranationale Projekte reagierte Österreich nach Lissabon (2009) und darüber hinaus kann ausge- rezeptiv. Agiert wurde, wenn es primär um nationale Be- hend von den österreichischen Interessen als eine Er- lange ging, was zur Folge hatte, dass es an Impulsen und folgsgeschichte für das Land geschrieben werden.

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ÖGfE Policy Brief 05’2021 Europa- und Integrationspolitik“ 1919-2020

Österreichs Europa- und Integrationspolitik ist nicht populärer. „Paneuropa“ blieb ein Wunsch- nur in einem größeren Kontext zu verstehen. Es gab traum, während Mitteleuropa-Projekte realistischer wiederholt Abhängigkeiten von Nachbarn (Deut- wirkten, jedoch im Spannungsfeld zwischen der sches Reich, Bundesrepublik und Italien) wie den Abhängigkeit vom Völkerbund und eingeschränk- Siegermächten (Frankreich, Großbritannien, Sow- ter Souveränität mit Blick auf das faschistische Ita- jetunion und USA) und internationalen Organisatio- lien und NS-Deutschland in den 1930er Jahren zum nen, Determinanten von außen wie innen. Das be- Scheitern verurteilt waren. gann mit der Kontrolle durch den Völkerbund seit 1922 bis in die 1930er Jahre und setzte sich fort mit (2) Verlust der Mitteleuropa-Idee und Europa Bestrebungen zur Satellisierung durch das „Dritte als untergeordnetes Thema im Exil 1931/32- Reich“, was 1938 zu „Finis Austriae“ führte. Hürden- 1945 reich gestaltete sich der spät gewählte Weg zum gemeinschaftlichen Europa für den wiedererrichte- Mit Kanzler Ignaz Seipels Abgang von der poli- ten Staat nach 1945. tischen Bühne 1931 war auch der Verlust der Mit- teleuropa-Idee verbunden, der – bemerkenswert (1) Imperialer Verlust und das Deutsche Reich genug – mit dem von verfoch- als Zukunftsraum 1918-1932 tenen deutsch-österreichischen Zollunionsprojekt korrespondierte. Wien blieb unentschlossen und Von 1918 bis 1922 waren vier europäische Groß- schwankte, bis eine publizistische Indiskretion in- reiche zerfallen: das russische Zarenreich, das deut- ternationale Ablehnung provozierte. Frankreich und sche Kaiserreich, die Habsburgermonarchie und die Tschechoslowakei legten sofort Protest gegen das Osmanische Reich. Die gesellschaftlichen, öko- die Zollunion ein. Nachdem das Europa-Projekt von nomischen und psychologischen Folgen für jene Aristide Briand von Deutschland und Österreich Generationen, die über Jahrhunderte in diesen Im- 1930 abgelehnt worden war, kam der neuerliche perien gelebt hatten, waren katastrophal. Das traf französische Plan von André Tardieu zur Bildung besonders für das Donaureich zu. Die „Paneuropa einer Konföderation aller Donau-Anrainer-Staaten Union“, die Richard N. Coudenhove-Kalergi initiiert 1932 zu spät, um noch eine Verwirklichungschan- hatte, fiel nicht zufällig in Wien auf fruchtbaren Bo- ce zu haben. Österreich war schon zu sehr an die den, wo das Ende des Habsburgerreichs besonders Schutzmachtpolitik Mussolinis gebunden, um dann zu spüren war. Hinzu kam der von den Siegermäch- konsequenter Weise mit den „Römer Protokollen“ ten erzwungene Friedensvertrag von Saint Germain 1934 bereit zu sein, eine Allianz sowohl mit dem (1919) als verhinderter Staatsvertrag, den man als faschistischen Italien als auch mit dem revisionis- Resultat der Konkursmasse des Donaureiches emp- tischen Ungarn einzugehen. Der italienische Abes- finden musste. Die neue Republik war eine Staats- sinien-Krieg ab 1935 brachte Österreich schließlich gründung wider Willen. Nicht „Europa“, sondern das vollends in die Defensive und das Juli-Abkommen Deutsche Reich galt als Zukunftsraum, was sich mit NS-Deutschland 1936 machte es zu einem Sa- in der Anschlussbewegung der 1920er Jahre aus- telliten mit begrenzter Lebensdauer. Das österrei- drückte. Diese Tendenzen versuchten die Sieger- chische Exil in Brüssel, Paris, Moskau, London und mächte sowohl mit der Genfer (1922) als auch mit New York förderte nur wenig Ideen für ein zukünftig der Lausanner Anleihe (1932) des Völkerbundes zu gemeinsam und neu zu gestaltendes Nachkriegs- konterkarieren. Beide bedeuteten Anschluss-Verbot. europa ans Tageslicht. Es ging v. a. um das Ob und Der „Europa“-Gedanke wurde dadurch in Österreich

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Wie der Wiederherstellung Österreichs nach dem auf der einen und supranationaler Integration auf Krieg. der anderen Seite.

(3) Verhinderter Kalter Krieg in Österreich und Die Entscheidung für die Neutralität war 1955 ein eingeschränkte Integration 1945-1955 geeignetes Mittel zum erwünschten Zweck der Be- freiung von der alliierten, v. a. der sowjetischen Be- Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte die militä- satzungsmacht. Neutralität wurde zur Absicherung rische Besetzung durch die Vier Mächte, die be- nach außen und zur Rückversicherung in Moskau obachteten, kontrollierten und intervenierten. Zwi- als Bundesverfassungsgesetz verankert und in Fol- schen 1945 und 1955 gelang es aber Österreich, ge so stark ausgeprägt, dass eine österreichische den Kalten Krieg im eigenen Land nicht zu stark auf- EWG-Mitgliedschaft ausgeschlossen werden konn- kommen und eskalieren zu lassen. Das war die ei- te, ja musste. Während die europafreudigere ÖVP- gentliche Leistung der politischen Eliten der Zweiten Führung damit zu leben hatte, war die stärker inter- Republik, zumal dies den Zusammenhalt des Lan- national ausgerichtete SPÖ-Spitze damit zufrieden. des sicherte. Vom Europäischen Wiederaufbaupro- gramm des Marshall-Plans profitierte Österreich in (5) Außen- und nachbarschaftspolitische der OEEC seit 1948. Dem Europarat trat es 1956 als Hindernisse gegen eine EWG-Assoziierung aktives Mitglied bei. Österreich definierte sich nun 1956-1967 als weitgehend überzeugt von der Idee „Europa“ und ihren Möglichkeiten einer einigenden Gestal- Während die österreichische Neutralitätspolitik im tung des Kontinents. Der Staatsvertrag mit dem An- Zeichen der Ungarnaufstände im Herbst 1956 noch schluss-Verbot an Deutschland, sei es ökonomisch unerprobt war, ging man mit ihr 1968 anlässlich der oder gar politisch, und die „immerwährende“ Neu- „Tschechenkrise“ schon bewusster und vertrauter tralität des Bundesverfassungsgesetzes von 1955 um, wenngleich manches sicherheits- und verteidi- verhinderten jedoch den Wunsch nach voller Ein- gungspolitische Verhalten der Regierung inkonse- bindung in das westeuropäische Integrationsprojekt quent und fragwürdig blieb. Die Neutralität wurde bis zum Ende des Kalten Krieges (1987-1990). von ÖVP-Seite zunehmend als lästiges Hindernis empfunden, zumal diese sich in Folge so stark aus- (4) Loslösung von Deutschland mit Unverein- prägte, dass in den 1960er Jahren maximal eine barkeit von Integration und Neutralität 1955/56 österreichische EWG-Assoziierung denkbar er- schien, doch scheiterte dieses Vorhaben an außen-, Die Entwicklungen der Jahre 1955 und 1956 sind innenpolitischen und gemeinschaftlichen Wider- im Unterschied zur bisherigen Forschung in einem ständen. Österreich erlebte 1967/68 mit der Eskala- stärkeren Zusammenhang zu sehen, einerseits in tion der Südtirolfrage und der „Tschechenkrise“ die souveränitäts- und integrationspolitischer Hinsicht, Grenzen ambitionierterer EG-Integrationspolitik und andererseits aber auch hinsichtlich ihrer Folgen für aktiver Nachbarschaftspolitik. Aufgrund vorgehalte- die Deutschland- und Ungarnfrage. 1955 war nicht ner und vorgetäuschter Bombenanschläge im „Alto nur ein Akt der Emanzipation von den Besatzungs- Adige“ beendete das Veto Italiens in Brüssel und mächten, sondern auch ein Ausdruck der Unabhän- Luxemburg die bereits praktisch vereinbarte Quasi- gigkeit Österreichs von der deutschen Frage. 1956 Assoziierung Österreichs mit der EWG und der sah die erste eigenständige außen- und nachbar- EGKS, gegen die sich auch Frankreich als Gemein- schaftspolitische Aktion mit der humanitären Hilfe schaftsgründungsmitglied und Staatsvertragssig- für das aufständische Ungarn. Dieses Jahr markier- natar stellte. te zudem auch klare Grenzen zwischen „immer- währender“ Neutralität und nationaler Souveränität

Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | [email protected] | oegfe.at | +43 1 533 4999 3 (6) Entspannungspolitik als Voraussetzung für ren Annäherung an die EG nicht aus, eine Vollmit- EG-Annäherungspragmatik unter Beibhaltung gliedschaft in Brüssel kam für Kreisky aber nicht in ÖGfE Policy Brief 05’2021 der EFTA-Mitgliedschaft und Überhöhung der Frage. Die SPÖ-FPÖ-Koalition (1983-1986) unter Neutralität 1969-1979 und hielt diese Kon- tinuität im Wesentlichen aufrecht, obwohl das seit Bundeskanzler legte 1971 in ei- 1985 von Brüssel lancierte EG-Binnenmarktprojekt ner Rede vor dem Europarat seine außenpolitischen den Druck auf sie erhöhte. Ziele dar. Die Entspannung in Europa hatte Vorrang vor der westeuropäischen Integration als Vorausset- (8) Das integrationspolitische Wen- zung für weitergehende Beziehungen zur EG. Wie dejahr 1985 erzeugt Handlungs- sein Vorgänger wollte auch Kreisky ein bedarf vertraglich bindendes Verhältnis. Im Gegensatz zur Politik von Bundeskanzler Klaus (1964-1970) war „Österreich erkannte als erstes neutrales Kreisky für Österreich wichtig, mit der seit 1960 EFTA-Land die neuen Chancen und großen bestehenden EFTA und ihren Staaten gemeinsam Herausforderungen des geplanten EG-Bin- vorzugehen. Er gab sich mit den 1973 in Kraft ge- nenmarkts sowie die erweiterten Handlungs- tretenen EG-Zoll- und Handelsverträgen zufrieden, spielräume aufgrund des zu Ende gehenden die auch eine Evolutivklausel enthielten. Die UdSSR Kalten Krieges.“ reagierte moderat, forderte aber gleiche Handels- rechte. In der Ära Kreisky (1970-1983), unterstützt Erst mit der Reformpolitik in der Sowjet- von drei absoluten Mehrheiten für eine SPÖ-Allein- union unter KPdSU-Generalsekretär Michail S. Gor- regierung (1971, 1975, 1979), erfuhr die Neutrali- batschow ab 1985 wurde ein EG-Beitritt denkba- tätspolitik eine Überhöhung, die Integrationspolitik rer. Bei getrennten Besuchen von Bundeskanzler nachrangig erscheinen ließ. Zoll- und Handelsab- und Außenminister in kommen mit EWG und EGKS waren pragmatische Moskau 1988 konnte dieses Anliegen ohne größe- Antworten, die Österreichs Integrationspolitik bis ren Widerspruch sondiert werden, nachdem EG- zum Antrag auf EG-Mitgliedschaft und dem in Kraft Kommissionspräsident Jacques Delors 1985 das getretenen EWR-Vertrag (1989-1994) bestimmten. für Österreichs Wirtschaft äußerst reizvolle Binnen- markt-Projekt anvisiert hatte. Die reaktivierte Große (7) Integrationspolitischer Status quo im Koalition verband von 1987 bis 1990 ihre Mitteleu- Zeichen des verschärften Kalten Kriegs ropa- und Deutschlandpolitik mit einer zunehmend 1979-1983 forcierten EG-Beitrittsoption. Österreich begrüßte und förderte die Liberalisierungs- und Öffnungs- Im Zeichen verstärkter Konfrontationspotentiale bestrebungen in Polen und Ungarn nach Kräften, im Zuge der sowjetischen Afghanistan-Intervention während es auf die umwälzenden Entwicklungen in (1979), dem (mehr oder weniger starken) westlichen der DDR 1989 zurückhaltend reagierte, aber letzt- Boykott der olympischen Sommerspiele in Moskau lich die deutsche Einigung 1990 auch befürwortete. (1980) und der Polenkrise (1981-1983) wahrte Öster- Österreich erkannte als erstes neutrales EFTA-Land reich seine Neutralitätspolitik auf nicht immer ganz die neuen Chancen und großen Herausforderungen unproblematische Weise. Solange antagonistische des geplanten EG-Binnenmarkts sowie die erwei- Systeme in Europa existierten, galt der integrations- terten Handlungsspielräume aufgrund des zu Ende politische Status quo für Kreisky nur mit leichten gehenden Kalten Krieges. Die deutsche „Wieder- Nuancierungen. Der Position Österreichs zwischen vereinigung“ und der Maastrichter Unionsvertrag als den Blöcken sollte durch eine Politik der „akti- Antwort auf die deutsche Frage minderten jedoch ven Neutralität“ Rechnung getragen werden. Das zunächst Österreichs Möglichkeiten, früher in Ver- schloss langfristige Überlegungen zu einer stärke- handlungen mit den Gemeinschaften einzutreten.

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(9) Abwarten, Balkan-Engagement und Herab- fall bedrohten Jugoslawien legten Analogien und senkung der Neutralität 1991-1992 Präzedenzfälle für Südtirol nahe. Italiens politisches System, jahrzehntelang von der Democrazia Cristi- Die Jahre 1991-92 zeigten österreichisches En- ana (DC) dominiert, drohte durch das Ende des Kal- gagement zur Überwindung der Jugoslawien-Krise ten Krieges in einem tiefen Korruptionssumpf von durch Aktivierung der KSZE-Mechanismen und das Amtsmissbrauch, Bestechungsskandalen, illegaler Eintreten für die Unabhängigkeit Sloweniens und Parteienfinanzierung und kriminellen Verflechtungen Kroatiens. Die Hauptmotivation war ursprünglich („Tangentopoli“, „Mani pulite“) zu versinken, nicht eine ganz andere, nämlich den EG-Beitrittsprozess mehr zu überleben und sollte folglich auch zusam- voranzutreiben, der jedoch mit einer dreieinhalb- menbrechen. Gerade noch rechtzeitig konnte die jährigen Verzögerung nach dem „Fall der Berliner Erklärung über das Ende des Streits im Beisein von Mauer“ und dem Abschluss des Maastrichter Uni- UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali in New onsvertrages (1989-1993) verbunden war. In dieser York (1992) abgegeben werden. Damit wurde der Zeit des Wartens auf Verhandlungen wurde das Weg für EU-Beitrittsverhandlungen Österreichs mit Engagement auf dem Balkan dazu benutzt, um zu Brüssel und Italien geebnet. Die Südtirolfrage wurde demonstrieren, dass es sich hier um einen europäi- im EU-Beitrittsvertrag nicht erwähnt. Sie galt zwi- schen Verantwortungsraum ersten Ranges handel- schen Wien und Rom als politisch gelöst. te, den es zu stabilisieren galt. In Übereinstimmung mit Deutschland und dessen Unterstützung expo- (11) Trotz „annus mirabilis“ 1989 Priorität für nierte sich Österreich als Vorkämpfer für die Unab- fortgesetzte Westorientierung unter formeller hängigkeit der jugoslawischen Teilrepubliken, ohne Wahrung der Neutralität die Folgen dieser politischen Entscheidung ab- schätzen zu können. Mit dieser Parteinahme hatte „Österreich ist trotz der Umbrüche von 1989 sich Österreich bereits auf halbem Wege von seiner in der Mitte und im Osten politisch mehr west- Neutralitätspolitik verabschiedet. Zudem hatte es als als mittelosteuropäisch orientiert geblieben.“ nicht-ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates 1991/92 bereits dem Transit von US-Kriegsmaterial Österreich ist trotz der Umbrüche von 1989 in zugestimmt, als es um die „Polizeiaktion“ gegen den der Mitte und im Osten politisch mehr west- als Irak von Saddam Hussein nach dessen Besetzung mittelosteuropäisch orientiert geblieben. Die Jah- von Kuwait ging. In weiterer Folge war Österreich re 1993/94 waren geprägt von der völligen Kon- durch seine Balkan-Expertise zur Befriedung und zentration auf den EU-Beitritt, der nach erfolgtem Stabilisierung dieser Region, u. a. mit , Referendum mit 66 % Zustimmung (12. Juni 1994) Valentin Inzko, Gerhard Jandl, Wolfgang Petritsch schließlich am 1. Jänner 1995 nach mehr oder weni- und Albert Rohan immer wieder gefragt. ger gelungenen Regelungen für die Agrarwirtschaft, den Alpentransit, die Umweltstandards und Zweit- (10) Streitbeilegung in der Südtirolfrage 1992 wohnsitze gelingen sollte, aber nicht dazu diente, als Voraussetzung für EU-Beitrittsverhand- die politischen Beziehungen zu den mittel- und ost- lungen europäischen Nachbarn zu stärken oder gar zu ver- bessern, die mit ihrem EU-Beitritt bis 2004 warten Ohne ein Ende des noch offenen Streits über mussten. Die diplomatisch-politischen Beziehungen die Autonomie Südtirols vor den Vereinten Natio- zu ihnen blieben ambivalent, während die österrei- nen hätte Österreich kaum in die EU aufgenommen chische Wirtschaft in der Mitte und im Osten Eu- werden können, zumal die Zustimmung Italiens da- ropas neue Chancen und Möglichkeiten erkannte von abhängig war. Es war daher kein Zufall, dass und der Politik voraus war. Eine österreichische Mit- Wien Rom Einlenken signalisierte. Die Zeit dräng- gliedschaft in der mitteleuropäischen Freihandels- te: Tendenzen zur Selbstbestimmung im vom Zer- zone (CEFTA) der Viségrad-Länder, Polen, Tsche-

Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | [email protected] | oegfe.at | +43 1 533 4999 5 chien, Slowakei und Ungarn („V4“), war weder für Bevölkerung und die fehlende Zweidrittelmehrheit im diese Staaten noch für Wien eine Option, obwohl Nationalrat, eine Mehrheit, die für die Revision des ÖGfE Policy Brief 05’2021 eine solche aus geographischen und wirtschaftli- Verfassungsgesetzes notwendig gewesen wäre. Der chen Gründen naheliegend war. Im Gegensatz zu fortbestehende sicherheitspolitische Dissens in der allen „V4“, die der NATO beitraten, blieb Österreich Großen Koalition (SPÖ-ÖVP) fand seinen Ausdruck formell „neutral“. Die EU-Mitgliedschaft konnte die im Scheitern eines gemeinsamen Optionenberichts Regierung nicht dazu zwingen, die Kernelemente 1998. Die NATO-Variante war damit ausgeschlossen der verfassungsrechtlich verankerten Neutralität an- worden, was bis heute gilt. zutasten: Österreich gehört bis heute keinem Mili- tärbündnis an, beteiligt sich an keinem Krieg und (13) Klare Prioritäten in der EU erlaubt keine Stationierung ausländischer Militärba- sen oder Truppen auf seinem Territorium. Diese drei „Österreich war von Anfang an primär an Kernbestände blieben unumstößlich, so sehr von der wirtschaftlichen Integration Europas Kritikern der Neutralität von „Mozartkugeln“, „Reali- interessiert.“ tätsverweigerung“, einem „Mythos“ und sicherheits- politischem „Trittbrettfahren“ die Rede war. Mozart- Die ersten Jahre der Mitgliedschaft Österreichs in kugeln schmecken übrigens weiter gut und Mythen der EU bewegten sich ganz auf der Kontinuitätslinie des können zählebige Realitäten sein. Beitrittsantrags von 1989 und der bis dahin verfolgten Europapolitik. Handels-, wirtschafts- und währungs- (12) Keine öffentliche Debatte über den au- politisch gab es volle Integrationsbereitschaft, militär- ßenpolitischen Status und das Scheitern und sicherheitspolitisch hielt Wien sich aufgrund seiner des sicherheitspolitischen Optionenberichts Neutralität zurück. Österreich war von Anfang an primär 1989-1998 an der wirtschaftlichen Integration Europas interessiert. Daher schloss es sich auch problemlos dem Euro an, Mit dem von Außenminister Alois Mock einge- nachdem der Schilling schon seit den 1970er Jahren brachten Antrag auf EG-Mitgliedschaft vom 14. an das Europäische Währungssystem (EWS) gekop- Juli 1989 schien eine Debatte über den außenpo- pelt war. An der Bildung der bargeldlosen Einheitswäh- litischen Status Österreichs zu beginnen. Doch die rung (1999) und der Vorbereitung der Einführung der Diskussion fand nicht statt, zumal die im Entstehen Realwährung (2002) nahm Österreich voll und ganz teil. begriffene EU selbst noch keine rechtlich verbindli- che Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ent- Im Rahmen der Westeuropäischen Union (WEU) wickelt hatte, die durch Mehrheitsentscheidungen hatte Österreich bis zur Auflösung dieser Orga- beschlossen werden sollte. Daher wurde ab Eintritt nisation (2011) nur einen Beobachterposten. Es in die EU ein gestärkter österreichischer National- schloss sich der NATO-„Partnerschaft für den Frie- staat zur Sicherung seiner handels- und wirtschafts- den“ (PfP) zwar an, blieb aber dem integrierten Mi- politischen Interessen vor dem Hintergrund einer litärbündnis fern. Der Spagat zwischen Wahrung verstärkten Globalisierung vorrangig. Führende Ver- des sicherheitspolitischen Eigenbestands und treter der ÖVP (Außenminister Wolfgang Schüssel der Teilhabe an der wirtschafts- und währungs- und Verteidigungsminister Werner Fasslabend) und politischen Entwicklung der EU sollte gelingen. Mit sogar Bundespräsident Thomas Klestil versuchten Franz Fischler stellte Österreich einen profilstarken jedoch in den Jahren nach dem EU-Beitritt, die Neu- EU-Kommissar für Landwirtschaft und Fische- tralitätspolitik einzuschläfern, indem sie eine NATO- reiwesen (1995-2004) unter Jacques Santer und Mitgliedschaft forcierten. Es sollte jedoch misslin- Romano Prodi. gen, weil die SPÖ-Führung um Franz Vranitzky und Heinz Fischer dies zu verhindern verstand. Ihre Po- sition war gedeckt durch den Mehrheitswillen der

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(14) Der Beitritt als Chance zur Europäisierung Die Zeit von 1998 bis 2000 bot Höhe- und Tief- und Quelle der Renationalisierung punkte für Österreichs Europa- und Integrationspoli- tik zugleich. Die erste Ratspräsidentschaft 1998 war „Paradoxerweise waren ein neuer spezifi- sehr gut organisiert, gleichwohl die Abwahl des gro- scher Austro-Nationalismus und ein verstärk- ßen Pro-Europäers Helmut Kohl in Deutschland den ter österreichischer Patriotismus weitere Fol- Handlungsspielraum des EU-Vorsitzes einschränk- gen des EU-Beitritts.“ te. Es war ungewiss, was die neue rot-grüne Regie- rung der Berliner Republik unter Gerhard Schröder Am 1. Januar 1995 eröffnete sich für Österreich in die EU einbringen würde. Die mitgliedstaatlichen die neue Welt der noch jungen und entwicklungs- Boykottmaßnahmen der 14 EU-„Partner“ im Jahr fähigen EU mit weitreichenden Perspektiven, v. a. 2000 gegen die Bildung der schwarz-blauen ÖVP- für transnationale Unternehmen und die export- FPÖ-Regierung waren ein schwerer psychologi- orientierte Wirtschaft. Für Bürgerinnen und Bürger scher Rückschlag für alle Seiten. Sie verstärkten die boten sich nach dem Beitritt der neuen Mitglieder Vorbehalte einzelner Gründungsmitglieder gegen verbesserte Reisemöglichkeiten, v. a. durch den un- Österreich und den schwierigen Nachzügler. Von eingeschränkteren Zahlungsverkehr in den Eurolän- diesem Schockerlebnis erholte sich Österreichs Eu- dern. Es gab neue Möglichkeiten des Austausches ropa- und Integrationspolitik für längere Zeit nicht. und der Begegnung, nicht zuletzt durch Kooperati- Strategische Partnerschaften mit den mittel- und onen im Bereich der Forschung und Wissenschaft. osteuropäischen Ländern (MOEL) kamen nicht zu- Doch sind nicht nur durchwegs „positive“ Wirkun- stande. Kritik und Skepsis blieben ein nicht uner- gen feststellbar: Durch Richtlinien und Verordnun- hebliches Element in der innerösterreichischen Be- gen aus Brüssel kam auch ein Gefühl der Fremdbe- wertung der punitiven Aktionen, wovon ein bereits stimmung auf. Infolge real erlebter Enttäuschungen bestehender austro-nationaler Populismus profi- manifestierte sich durch die EU-Mitgliedschaft auch tieren konnte. Die Bezeichnung der so genannten eine verstärkte Tendenz zur Renationalisierung und „EU-Sanktionen“ von 2000 offenbarte die weit ver- Verprovinzialisierung, die ihren Ausdruck in Zuge- breitete Unkenntnis und mangelnde Vertrautheit mit winnen für die EU-kritische FPÖ unter Jörg Haider Struktur, Geschichte, Grenzen und Möglichkeiten fand. In vielen Fällen war jedoch nicht die EU die Ur- der EU, denn es handelte sich um einzelstaatliche sache von Missständen, sondern der Nationalstaat Maßnahmen. selbst. EU-Kritik und -Skepsis lassen sich daher auch weit weniger rational, sondern eher psycho- (16) Verstärkte Renationalisierung und logisch erklären. Paradoxerweise waren ein neuer die Ambivalenz der EU-„Osterweiterung“ spezifischer Austro-Nationalismus und ein verstärk- ter österreichischer Patriotismus weitere Folgen des „In der österreichischen Bevölkerung hielten EU-Beitritts. sich Sympathie und Zustimmung in Grenzen, während die Ballhausplatz-Diplomatie alles tat (15) Höhe- und Tiefpunkte österreichischer und half, das Paket der Beitrittsverhandlungen EU-Mitgliedschaftserfahrung mit den MOEL zu schnüren, wohlwissend, dass es der eigenen Wirtschaft sehr helfen würde.“ „Die mitgliedstaatlichen Boykottmaßnah- men der 14 EU-‚Partner‘ im Jahr 2000 gegen Das Jahr 2000 mit den überzogenen, unwirk- die Bildung der schwarz-blauen ÖVP-FPÖ- samen und unnötigen EU-14-Boykottmaßnahmen Regierung waren ein schwerer psychologi- und dem von vielen nationalen Meinungsverschie- scher Rückschlag für alle Seiten.“ denheiten geprägten Gipfel von Nizza läuteten eine Phase ein, in der die EU vermehrt in den Dunst- kreis von Renationalisierung und Populismus ge-

Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | [email protected] | oegfe.at | +43 1 533 4999 7 riet. Die größte Erweiterung in der Geschichte der (18) Der Ratsvorsitz 2006 als Wegbereiter für Gemeinschaften um die MOEL des Kontinents den Lissabon-Vertrag 2009 ÖGfE Policy Brief 05’2021 hatte bereits ihre Schatten vorausgeworfen. In der österreichischen Bevölkerung hielten sich Sym- Die österreichische EU-Ratspräsidentschaft im pathie und Zustimmung in Grenzen, während die Jahr 2006 übte sich in einer bewussten Abküh- Ballhausplatz-Diplomatie alles tat und half, das lungsphase und produktiven Nachdenkpause nach Paket der Beitrittsverhandlungen mit den MOEL dem Scheitern des „Verfassungsvertrags“ in Frank- zu schnüren, wohlwissend, dass es der eigenen reich und den Niederlanden, um dessen Inhalt zu Wirtschaft sehr helfen würde. Es benötigte mit Er- wahren. Die nachfolgenden Ratsvorsitze Finnlands hard Busek einen eigenen Regierungsbeauftrag- und Deutschlands erreichten dann, dass der Kern ten für die EU-„Osterweiterung“ (2000-2002), um dieser Vereinbarungen weiterbestehen und als Ver- das Thema öffentlichkeitswirksamer zu vermitteln. trag von Lissabon in die Geschichte der EU einge- hen konnte. Trotz dieses Durchbruchs entwickelte (17) Mitwirkung am Verfassungsvertrag, sich ein vor dem Hintergrund der Krise der Natio- Auslaufen des Transitvertrags und Türkei- nalstaaten immer stärker werdender austronationa- Junktim ler Populismus, der sich mit der Freiheitlichen Par- tei Österreichs (FPÖ) unter Heinz-Christian Strache Im Konvent zur Ausarbeitung einer europäischen als eine der stärksten rechtspopulistischen Parteien Verfassung arbeitete Österreich mit Reinhard Eugen Europas artikulierte, die es Jahre später wieder zur Bösch, , Johannes Farnleitner und Regierungsverantwortung (2017) bringen sollte. Johannes Voggenhuber aktiv mit. Sowohl der Bun- desrat als auch der Nationalrat ratifizierten den „Ver- (19) Im Sog von Referendumspopulismus fassungsvertrag“, der aber nicht zustande kam, weil die Bevölkerungen in Frankreich und den Nieder- Unter den SPÖ-Kanzlern landen das Dokument in Volksabstimmungen 2005 (2007-2008) und (2008-2016) folg- ablehnten. Die Erneuerung des 1992 noch vor dem te Österreichs Europapolitik dem renationalisierten EU-Beitritt mit den Europäischen Gemeinschaften Zeitgeist, die beide unisono eine Volksabstimmung geschlossenen und zeitlich befristeten Transitver- im Falle eines neuerlichen Unionsvertrags publi- trages war nicht mehr möglich, wodurch der Al- kumswirksam via Kronen Zeitung guthießen. Der pen-Schwerlastverkehr besonders Tirol weiter be- überraschende Rückzug von als lastete. In Österreich machte sich eine zunehmend letztlich durchsetzungsschwache Außenministe- skeptische Stimmung gegenüber der EU breit. Das rin (2004-2008) markierte bereits das zunehmen- hing auch mit erheblichen Vorbehalten gegenüber de Spannungsfeld eines aufkommenden EU-Refe- der Türkei als möglichem EU-Mitglied zusammen, rendumspopulismus der oppositionellen FPÖ und mit der durch ursprüngliche Zustimmung von Bun- der nur noch den integrationspolitischen Status deskanzler Schüssel (2000-2007) 2005 offiziell Ver- quo-wahrenden Haltung der ÖVP. Tschechiens Au- handlungen aufgenommen wurden. Österreich leg- ßenminister Karel Schwarzenberg kritisierte seinen te jedoch mit Außenministerin Ursula Plassnik ein Amtskollegen (2008-2013), Veto gegen die Aufnahme von Verhandlungen und sich mehr dem Österreichischen Arbeiter- und lenkte erst ein, als die österreichische Forderung, Angestelltenbund (ÖAAB) zu widmen, als bei den auch mit Kroatien über eine EU-Mitgliedschaft zu Ratstreffen in Brüssel präsent zu sein. Die traditio- verhandeln, Gehör fand. Dank der Unterstützung nell proeuropäische Volkspartei war bereits in der Wiens wurde das Land 2013 EU-Mitglied. Defensive.

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(20) Kontinuität unter Betonung österreichi- sich Wien etwas von Budapest und Warschau ab- scher Interessen setzen konnte.

Als Nachfolger Spindeleggers war Außenminister (22) Eine Ratspräsidentschaft für eine EU, die (2013-2017) um eigene Profilschär- schützen soll fung bemüht. Bei den Treffen des Rates für Allge- meine Angelegenheiten und Außenbeziehungen der „Der EU-Ratsvorsitz wurde 2018 von EU war er auch nicht regelmäßig präsent. Öster- Österreich routinemäßig abgewickelt, ohne reichs OSZE-Vorsitz 2017 bewegte sich im Schat- der Union entscheidende neue Impulse zu ten seines Wahlkampfes so wie seine Europa- und geben.“ Integrationspolitik, gut beraten von Spitzendiploma- tinnen und -diplomaten am Minoritenplatz, auf der Der EU-Ratsvorsitz wurde 2018 von Österreich gleichen Linie wie unter seinem Vorgänger: kein routinemäßig abgewickelt, ohne der Union ent- substantieller Integrationsinput für die Weiterent- scheidende neue Impulse zu geben. Im Zuge des wicklung der EU unter steter Betonung der öster- sich abzeichnenden Brexits verhielt sich die Bun- reichischen Interessen. Darin manifestierte sich die desregierung leidenschaftslos zum drohenden In- Kontinuität einer Politik, die proaktiv kaum eigene, tegrationsverlust eines der zahlungsstärksten und für die EU neue Inhalte forcierte. Die nach wie vor sicherheitspolitisch wichtigsten EU-Staaten. We- im Inland sehr populäre Kern-Neutralität ließ Kurz – niger Mitglieder würden auch weniger Zuwendun- alles andere als unklug – völlig unangetastet. gen für die EU notwendig machen, lautete die Logik einer kurzschlüssigen Argumentation für ein Euro- (21) Die FPÖ als Steigbügelhalter und nationa- pa, das vorgeblich (mehr) „schützen“ sollte, die EU- ler Populismus im Zeichen der europäischen Haushaltskommissar Günther Oettinger bei seinem „Flüchtlingskrise“ Wien-Besuch erst begreifen musste. Der Eindruck von europäischer Engherzigkeit und Kleinlichkeit Ohne den Wiederaufstieg der Freiheitlichen un- konnte kaum verborgen bleiben, das Bundesminis- ter Strache und die „Flüchtlingskrise“ 2015 wäre der terium für europäische und internationale Angele- Durchbruch von Kurz zum Dominator der Innenpo- genheiten (BMEIA) aber die Desavouierung Öster- litik nicht möglich gewesen. Flüchtlingskontingente reichs gerade noch abwenden. wurden von ihm konsequent abgelehnt, dabei die Meinungsführerschaft in Europa übernommen und (23) Frugale Europapolitik und temporäre die deutsche Bundeskanzlerin wurde zum Nachge- Allianz gegen Deutschland ben gezwungen. Ein Höhepunkt des Ritts auf der Popularitätswelle war mit Propagierung der „Schlie- Als Angela Merkel und Emmanuel Macron für ßung der Balkanroute“ erreicht, die zum Erfolg bei stark Corona-geschädigte EU-Mitglieder einen ge- den Nationalratswahlen 2017 beitrug, gleichwohl meinsamen Wiederaufbaufonds anregten und die das Flüchtlingsabkommen zwischen Ankara und EU-Kommission vorrangig Mittel als Zuschüsse vor- Berlin bzw. Brüssel 2016 ungleich entscheidender schlug (2020), reihte sich Österreich mit Dänemark, für die Abwendung weiterer Zuwanderung war. Zu den Niederlanden und Schweden in die Gruppe der Emmanuel Macrons Vorschlägen für eine erneuerte „sparsamen Vier“ ein, denen sich noch Finnland und unabhängigere EU (2017-2019) gab es aus Wien anschloss. Österreich bildete damit eine Allianz ge- keine substantielle Antwort. Zu den autoritären Re- gen Deutschland und weigerte sich anfangs über- gierungen der Visegrád-Länder wie Polen und Un- wiegend zu sehr auf Zuschüsse zu setzen und „ka- garn bestand vorsichtige Distanz unter Nutzung des putte“ Systeme zu finanzieren. Gemeint war Italien, mit Tschechien und der Slowakei seit 2015 beste- ein Land, das seit Jahrzehnten großteils die Migrati- henden gemeinsamen „Austerlitz-Formats“, womit onslast für Europa gestemmt hatte, aber gleichzei-

Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | [email protected] | oegfe.at | +43 1 533 4999 9 tig durchaus auch unter fehlenden Reformen leidet. sammenhalts der Staatengemeinschaft und Re- „Frugal“ nannte Kurz die karge österreichische Eu- gierungseuropäer verfolgen primär ihre nationalen ÖGfE Policy Brief 05’2021 ropa- und Integrationspolitik. Mit einem Plädoyer Ziele. Das geht von von der Leyen, über Macron für eine „schlanke“ EU wurde das Vorurteil von der und Merkel bis zu Duda, Kurz und Orbán. Öster- „fetten“ Brüsseler Bürokratie bedient. Statt einen reichs Europapolitik folgt weiter dem Primat staat- leistungsstärkeren und moderneren EU-Haushalt licher Interessenpolitik: Binnenmarkt, Euro und zu favorisieren, stieg die Bundesregierung öffent- die Erweiterung um den „Westbalkan“ sind han- lichkeitswirksam auf die Bremse. Der „Achse Ber- dels- und wirtschaftspolitisch erwünscht. Als Sym- lin-Paris“ galt es jedoch in sicherheitspolitischer Not ptom einer schleichenden Enteuropäisierung und zu folgen. Fast zeitgleiche islamistische Anschläge fortschreitenden Verprovinzialisierung Österreichs boten Gelegenheit, „Entschlossenheit“ und „Stärke“ passt 2020 das Ende des von Paul Lendvai in Wien nach innen zu demonstrieren sowie einen Solidari- jahrzehntelang herausgegebenen publizistischen tätsbesuch bei Macron zu absolvieren. Markenzeichens „Europäische Rundschau“, das in- ternationales Renommee erworben hat. Das Bun- (24) Planlosigkeit als Ausdruck von Visionslo- desministerium für „europäische und internationale sigkeit Angelegenheiten“ ließ das geschehen. Die Zeiten von „Mister Europe“ Mock und Karlspreisträger Vra- Die Bundesregierung hat bis dato keinen öf- nitzky scheinen vorbei. Heute gilt in Wien, die EU fentlichkeitswirksamen Plan für die Weiterentwick- weiter zu nutzen, Europas Einigung aber nicht son- lung der EU als supranationales Projekt präsen- derlich aktiv zu fördern. Prominente Initiativen und tiert. Bahnbrechende und zukunftsverheißende Pläne zur Einigung Europas sind bis zuletzt nicht öf- Grundsatzreden über „Österreich in Europa“ oder fentlich bekannt geworden. zur „Entwicklung der Union 2030“ sind unbekannt. Weder trat man für ein soziales Europa, geschweige Handlungsoptionen denn eine Sozialunion, ein, noch wurde eine für die Öffentlichkeit wahrnehmbare Vision für die EU ver- Aus den 25 Thesen lassen sich drei Handlungs- mittelt, vielmehr schnelle Grenzschließungen und optionen ableiten: verstärkter EU-Außengrenzschutz propagiert. An der Neuverteilung der nationalstaatlichen Machtver- 1. Österreich konnte sich seit seiner EU-Mit- hältnisse in der EU will man teilhaben, aber weniger gliedschaft handels-, investitions-, wirt- am Ausbau der EU oder keinesfalls an der Vertei- schafts- und währungspolitisch bestens in lung von Flüchtlingen, denen – wie von Außenmi- den gemeinschaftlichen europäischen Staa- nister – die kalte Schulter tenverband integrieren. Ausgehend von die- gezeigt wird. ser gelungenen Integrationsleistung und seiner Nettozahler-Position wäre es wün- (25) Die EU benutzen, aber ihre Einigung nicht schenswert, Selbstbewusstsein und Stär- unbedingt entscheidend fördern ke abzuleiten sowie eine über seine eigene Interessenlage deutlich hinausgehende weit „Österreichs Europapolitik folgt weiter pro-aktivere, d. h. eine noch mehr auf Ver- dem Primat staatlicher Interessenpolitik: Bin- tiefung ausgerichtete Einigungspolitik für die nenmarkt, Euro und die Erweiterung um den Weiterentwicklung der Union zu leisten, um ‚Westbalkan‘ sind handels- und wirtschafts- nicht nur reaktiv und Status quo-orientiert zu politisch erwünscht.“ bleiben.

Gemeinschaftseuropäer vertreten die EU-Ins- 2. Österreichs Wirtschaft antizipierte die EU- titutionen, Unionseuropäer die Stärkung des Zu- „Osterweiterung“ zeitlich vor der Politik, wäh-

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rend diese nur noch hinterherhinken konnte. Weiterführende Literatur Die weder selten beschworene noch immer realitätskonforme Position der Brücken- und Brix, Emil/Busek, Erhard, Mitteleuropa Revisited. Vermittlerfunktion Österreichs zwischen EU- Warum Europas Zukunft in Mitteleuropa ent- Mitgliedern in Ost und West muss nicht nur schieden wird, Wien 2018 (223 S.). ein Mythos sein. Als Land der europäischen Mitte kann es seine geopolitisch und geoöko- Gehler, Michael, Europas Weg. Von der Utopie zur nomisch günstige Lage sowie seine daraus Zukunft der EU, Innsbruck – Wien 2020 (375 S.). erwachsenden Potentiale weit mehr nutzen und gewinnbringender für beide Seiten (letzt- Gehler, Michael, From St. Germain to Lisbon. lich auch für sich selbst!) wie auch für die ge- ´s Long Road from Disintegrated to United samte EU produktiver einbringen, um Diffusi- Europe 1919-2009 (Österreichische Akademie ons- und Separierungstendenzen im Zeichen der Wissenschaften/Philosophisch Historische einer Ost-West-Auseinanderentwicklung in Klasse, Internationale Geschichte/International der Union abzuschwächen oder gar aufzu- History 5), Wien 2020 (1287 S.), https://austriaca. halten. Das würde Anliegen wie die Bekämp- at/8232-0inhalt?frames=yes fung des Klimawandels und die Sicherung von Umweltstandards betreffen, aber auch Hauser, Gunther, Neutralität und Bündnisfreiheit in Fragen wie die Ablehnung von Fremdenfeind- Europa. Sicherheitspolitische Herausforderun- lichkeit, die Beseitigung von Korruption und gen für neutrale und bündnisfreie Staaten in Eu- die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit berüh- ropa zu Beginn des 21. Jahrhunderts (WIFIS ak- ren, bei denen Österreich selbst mit gutem, ja tuell 52), Opladen u. a. 2015 (66 S.). besserem Beispiel vorangehen könnte. Gehler, Michael/Olechowski, Thomas/Wedrac, Ste- 3. Nicht zuletzt sind geschichts- und politikwis- fan/Ziegerhofer, Anita (Hrsg.), Der Vertrag von senschaftliche Europa- und Integrationsfor- Saint Germain im Kontext der europäischen schungen an Bildungsinstitutionen und Uni- Nachkriegsordnung (Beiträge zur Rechtsge- versitäten im Sinne einer weiteren fundierten schichte Österreichs der Österreichischen Aka- und seriösen Beschäftigung mit dem The- demie der Wissenschaften 9/2) Wien 2019 menkomplex „Österreich und die EU“ stärker (535 S.). zu fördern und damit ihre Ergebnisse nicht nur für interessiertere, sondern auch für brei- Stourzh, Gerald/Mueller, Wolfgang, Der Kampf um tere Kreise der Bevölkerung so ausgewogen den Staatsvertrag 1945-1955. Ost-West-Beset- und eingehend wie möglich zu vermitteln. zung, Staatsvertrag und Neutralität Österreichs, Europa und seine Einigung noch viel mehr 6. gründlich überarbeitete und erweiterte Neu- als Forschungs- und Bildungsauftrag zu be- auflage (Studien zu Politik und Verwaltung 62), greifen, wäre angesichts von weiter anhal- Wien – Köln – Weimar 2020 (844 S.). tendem Euro-Skeptizismus und immer wie- der aufkommenden Brüssel-Bashing sinnvoll Suppan, Arnold/Graf, Maximilian (Eds.), From the und weiterführend. Dabei gilt es auch For- Austrian Empire to Communist East Central Eu- mate wie die „Europäische Rundschau“ nicht rope (Europa Orientalis 10), 2010 (195 S.). einzustellen, sondern zu reaktivieren und auf ein breiteres publikumswirksameres Format Suppan, Arnold/Mueller, Wolfgang (Eds.), Peaceful auszurichten. Coexistence or Iron Curtain? Austria, Neutrality, and Eastern Europe in the Cold War and Détente, 1955-1989, Wien 2009 (536 S.)

Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | [email protected] | oegfe.at | +43 1 533 4999 11 Über den Autor ÖGfE Policy Brief 05’2021 Univ.-Prof. Dr. Michael Gehler, * 1962. Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Innsbruck. 1999 Habilitation und bis 2006 Außerordentlicher Professor dort- selbst. Seit 2002 Senior Fellow am Zentrum für Europäische Integrationsforschung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, seit 2006 viermaliger Jean Monnet-Chair und Leiter des Instituts für Geschichte an der Universität Hildesheim.

Kontakt: [email protected]

Über die ÖGfE

Die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) ist ein parteipolitisch unab- hängiger Verein auf sozialpartnerschaftlicher Basis. Sie informiert über die europäische Integration und steht für einen offenen Dialog über aktuelle europapolitische Fragen und deren Relevanz für Österreich. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Bezug auf die Förderung einer europäischen Debatte und agiert als Katalysator zur Verbreitung von europapolitischen Informationen.

ISSN 2305-2635 Impressum

Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck Österreichische Gesellschaft für Europapolitik kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE Rotenhausgasse 6/8-9 oder jener Organisation, für die der Autor arbeitet, überein. A-1090 Wien, Österreich

Schlüsselwörter Generalsekretär: Mag. Paul Schmidt EU-Mitgliedschaft, Österreich, Europapolitik, Integration, Renationalisierung, EU-Erweiterung, Visegrád-Länder Verantwortlich: Dr. Susan Milford-Faber

Zitation Tel.: +43 1 533 4999 Gehler, M. (2021). 25 Thesen zu „100 Jahre österreichi- E-Mail: [email protected] sche Europa- und Integrationspolitik“ 1919-2020. Wien. ÖGfE Policy Brief, 05’2021 Website - ÖGfE Policy Briefs

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