Die Territoriale Neugliederung Bayerns Durch Die Gebietsreform
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Die territoriale Neugliederung Bayerns durch die Gebietsreform der 1970 er Jahre als Antwort auf die Herausforderungen der Moderne* Eine grundsätzliche Bewertung dieser säkularen Reform und ihre Bedeutung für die Einleitung 1 Vierzig Jahre Landkreis Neumarkt Der Landkreis Neumarkt i.d.OPf. hat die Gebiets- reform anlässlich von runden Jahrestagen immer Alle Festredner zum Jahrestag der Landkreisreform wieder gefeiert, und heute feiert er den 40. Jahrestag haben stets zu Recht betont, dass mit den neuen dieses einschneidenden Ereignisses. Während bei den territorialen Strukturen der Gebietsreform die posi- früheren Festveranstaltungen Redner aus dem Land- tive Entwicklung in dieser Region beginnt. Populär kreis sprachen und der Landkreis Neumarkt dabei ausgedrückt: Dank der Gebietsrefom wird aus der im Zentrum stand, spricht heute ein Auswärtiger zu armen „Stoapfalz“ eine moderne, attraktive Wirt- Ihnen, weshalb die Zielsetzung dieses Festvortrages schaftsregion. in eine etwas andere Richtung geht: Die zeitgenössischen Dokumente sprechen die Die Gebietsreform ist erstens inzwischen so lange damaligen Probleme dieser Region sehr deutlich an: her, dass der jüngeren Generation die Ergebnisse Das „Landesentwicklungsprogamm Bayern“ von völlig selbstverständlich geworden sind und dass sie 1976 formuliert für Neumarkt: gar nicht mehr versteht, was damals warum verändert Beim Mittelzentrum Neumarkt ist „…die Beseiti- wurde. Deshalb wird im ersten Teil dargestellt, welches gung städtebaulicher und funktionaler Mängel sowie die inhaltlichen Leitideen der Gebietsreform waren die Stärkung des Arbeitsplatzangebotes“ prioritär und wie sie im Raum Neumarkt – Parsberg konkret (LEP 1976: 865), und der Landkreis ist geprägt durch umgesetzt wurden. Dies ist sehr wichtig zum besseren eine ausgeprägte Strukturschwäche, nämlich „…einen Verständnis unserer Gegenwart. geringen Industriebesatz, ein niedriges Niveau der Im zweiten Teil geht es dann um die Zukunft: Löhne, eine sehr geringe Bevölkerungsdichte, sowie Unsere heutige globalisierte Welt unterscheidet sich einen geringen Tertiärbesatz“ (LEP 1976: 877). An stark von der Welt vor vierzig Jahren. Nur wenn wir anderer Stelle wird festgestellt, dass der Anteil der die Leitidee der damaligen Gebietsreform und deren Gymnasiasten 1972 deutlich unter dem bayerischen Umsetzung kennen, können wir angemessen darüber Durchschnitt liege (RPR 1975: 59), und dass die nachdenken, ob die damals gescha!enen territorialen Kaufkraft im alten Landkreis Neumarkt vor der Strukturen für unsere heutige globalisierte Welt noch Gebietsreform an vorletzter Stelle in Deutschland nützlich sind oder nicht. Diese Frage ist heute von gelegen habe (NM 2012: 3). Damit herrscht eine besonderer Bedeutung. schlechte und schwierige Ausgangssituation bei Be- ginn der Gebietsreform vor. Anschließend jedoch entwickelt sich der Land- kreis schnell positiv und steht heute bei zahlreichen * Bei diesem Text handelt es sich um die verschriftlichte Indikatoren ausgesprochen gut da, sei dies die Pro- Fassung des Festvortrages anlässlich der Festaktes „40 Kopf-Verschuldung, die Arbeitslosenquote, die kom- Jahre Landkreis Neumarkt i.d.OPf.“, den der Landkreis munalen Finanzen und andere. Neumarkt am 12. Juli 2012 im Saal des Landratsamtes durchführte. Dieser Text, der den Duktus der mündlichen Eindrucksvoll ist die Entwicklung der Erwerbs- Rede bewusst beibehält, wurde zuerst in der vom Landkreis tätigen am Arbeitsort von 1970–1987: Während der herausgegebenen Broschüre „40 Jahre Landkreis Neumarkt bayerische Durchschnitt in diesem Zeitraum +3,1 % i.d.OPf.“ (Neumarkt i.d.OPf. 2012) publiziert; er wurde beträgt, ist er im Landkreis Neumarkt mit +5,9 % fast dann für diese Verö!entlichung noch einmal durchgesehen doppelt so hoch (BLSD 1987). Und während die Be- und leicht aktualisiert. Zur Vorbereitung dieses Vortrages schäftigten am Arbeitsort zwischen 1995 und 2010 in wurden zahlreiche Dokumente und Publikationen aus den 1970er Jahren ausgewertet und sieben Experteninterviews Bayern um 7,3 % wachsen, wachsen sie im Landkreis geführt, zum größten Teil mit Personen, die damals diese Neumarkt um +9,6 %, also um ein Drittel stärker als Reform miterlebt und aktiv mitgestaltet hatten. der bayerische Durchschnitt (B"#$%&' 2012). Mitteilungen der Fränkischen Geographischen Gesellschaft Band 59 (2014): 151–164 152 Werner Bätzing Der eindrücklichste Indikator aber ist die Bevölke- die für die überörtlichen Aufgaben (Krankenhaus, wei- rungsentwicklung: Zwischen 1840 und 1970 wuchs terführende Schulen usw.) zuständig waren. Während der Landkreis Neumarkt (gebietsstandsbereinigt, also die Gemeindestrukturen bis zur Gebietsreform 1969 der Landkreis in seiner heutigen Struktur) um +68 %, nahezu unverändert blieben, gab es bei den Landkreisen aber das bayerische Wachstum lag gleichzeitig bei im Laufe der Zeit verschiedene kleinere Änderungen, +175 % – der Landkreis blieb also sehr stark hinter bei denen jedoch die Strukturen der alten Landge- dem bayerischen Durchschnitt zurück. Zwischen 1970 richte stets eine wichtige Rolle spielten (bis hin zur und 2010 dagegen gibt es die genau entgegengesetzte Gebietsreform der 1970er Jahre, siehe Abschnitt 3.1). Entwicklung: Der Landkreis Neumarkt wächst jetzt Mit diesen neuen Strukturen war Bayern im 19. um +38 %, während ganz Bayern nur um +19 % wächst Jahrhundert gut vorbereitet, um den großen Wandel (BLSD 1991 und 2011) ! der Industrialisierung produktiv zu gestalten. Aber Wieso kann die Gebietsreform eine solche Ände- nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten diese Strukturen rung auslösen? Dazu sehen wir uns jetzt die Leitidee schnell in eine fundamentale Krise: Denn die weitere der Gebietsreform etwas näher an. Entwicklung führte – zu einem explosionsförmigen Wachstum der grö- ßeren und großen Städte, 2 Die Leitideen der Gebietsreform – zum Aufbrechen der geschlossenen Lebensgemein- schaften auf dem Lande und zur Entwertung des der 1970er Jahre in Bayern Landes, – zum räumlichen Auseinanderfallen von Wohnen 2.1 Die traditionellen politischen Strukturen und Arbeiten, in Bayern und die Herausforderungen – zu zahlreichen Spezialisierungen in allen Lebens- durch den industriellen Wandel bereichen (Krankenhaus statt Allgemeinarzt und Hebamme, starker Ausbau des Bildungs- und des Die Strukturen, die durch die Gebietsreform der Sozialwesens und von Kultur, Sport, technischer 1970er Jahren verändert wurden, waren die Struktu- Infrastruktur), wobei all diese Spezialisierungen ren, die durch Graf Montgelas in der ersten Hälfte in den Städten angesiedelt wurden, weil nur hier des 19. Jahrhunderts gescha!en worden waren (W(%)) die Nachfrage groß genug war, um diese teuren 2005). Er hatte aus dem Puzzle der sehr heterogenen, Einrichtungen e!ektiv auszulasten. meist kleinen Territorien mit unterschiedlichsten poli- Ergebnis: Die dynamischen und erfolgreichen Ge- tischen und administrativen Zuständigkeiten erstmals meinden waren städtische Gemeinden, die ein starkes eine bayernweit einheitliche Verwaltungsstruktur Wachstum verzeichneten. Diese Gemeinden stießen aufgebaut, die rationalen Prinzipien verpflichtet war. dabei aber schnell an ihre Gemeindegrenzen, wo- Im Rahmen der Gemeindereform (1808–1818) durch ihre weitere Entwicklung behindert oder gar wurden aus den mehr als 40 000 „Ortschaften“ (Städte, blockiert wurde. Dazu ein zeitgenössisches Zitat: Dörfer, Weiler) mit den dazugehörigen Gemarkungen „Der organischen Entwicklung der Städte waren oft damals gut 7 300 Gemeinden gescha!en, die als lokale einschneidende kommunale Grenzen gesetzt; nicht Selbstverwaltungsstrukturen konzipiert wurden, die selten entstanden außerhalb der Städte Siedlungen also alle Aufgaben der lokalen Daseinsvorsorge ei- und Gewerbegebiete, die nur als Annexbebauung genständig durchführen und gestalten sollten (BLSD zum Hauptort verstanden werden konnten. Um die 1991: 5–7). Abwanderung von Bürgern und Gewerbe zu verhin- Bei der Ebene der Landkreise ist es etwas schwie- dern, erschlossen Städte ungünstige Baugebiete, deren riger: Hier wurden 1802 die Landgerichte gescha!en, Besiedlung planerisch und wirtschaftlich verfehlt u.zw. 249 Landgerichte für Bayern, aber hier lagen war.“ (R(%'* et al. 1978: 14) Justiz und Verwaltung noch in einer Hand. Erst im Die ländlichen Gemeinden dagegen konnten Jahr 1862 wurden im Sinne der demokratischen Leit- ihre Aufgaben der örtlichen Daseinsvorsorge nicht idee der Gewaltentrennung die Bereiche Justiz und mehr angemessen erfüllen, weil sich diese Aufgaben Verwaltung voneinander getrennt: Neben den weiter- vervielfacht hatten und weil ihre gemeinschaftliche hin 249 Landgerichten, die jetzt allein nur noch für Bewältigung in Form der traditionellen „Hand- und die Rechtspflege zuständig waren, wurden neu sog. Spanndienste“ (dazu gehörte auch, dass der Dorf- „Bezirksämter“ (heute Landratsämter) als staatliche schullehrer die Gemeindeprotokolle führte und alle Verwaltungsstellen gescha!en, deren Gebiet sich im „Schreibereyen“ erledigte) nicht mehr möglich war Durchschnitt aus dem Gebiet von zwei Landgerichten (R(%'* et al. 1978: 14). Dies führte zur Schwächung zusammensetzte, so dass 1862 142 Landkreise entstan- der Selbstverwaltungsstruktur. Analoges galt für die den (R(%'* et al. 1978: 2–3). Diese Landkreise wurden überörtlichen Aufgaben der Daseinsvorsorge durch ebenfalls als Selbstverwaltungsstrukturen konzipiert, die Landkreise und die kreisfreien Städte. Die territoriale Neugliederung Bayerns durch die Gebietsreform der 1970 er Jahre 153 Kurz gesagt: Die neuen Strukturen der modernen Als Leitidee für die Umsetzung